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German Pages 649 [652] Year 1997
August Bebel Ausgewählte Reden und Schriften Band 8/1
August Bebel Ausgewählte Reden und Schriften Band 7 bis 9 1899 bis 1913 Herausgegeben vom Internationalen Institut für Sozialgeschichte Amsterdam
August Bebel Ausgewählte Reden und Schriften Band 8/1 Reden und Schriften 1906 bis 1913
Bearbeitet von Anneliese Beske und Eckhard Müller
K G
Saur 1997
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Bebel, August: Ausgewählte Reden und Schriften / August Bebel. - München : Saur. Teilw. hrsg. von Gustav Seeber. - Teilw. im Dietz-Verl., Berlin Bd. 8. Reden und Schriften : 1906 bis 1913 / Bearb. von Anneliese Beske und Eckhard Müller. [Hrsg. vom Internationalen Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam], 1. - (1997) ISBN 3-598-11277-7
Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten / AU Rights Strictly Reserved K.G. Saur Verlag, München 1997 Part of Reed Elsevier Druck: Strauss Offsetdruck, Mörlenbach Binden: Buchbinderei Schaumann, Darmstadt ISBN 3-598-11277-7
Reden und Schriften
49 Neujahrsbetrachtung Artikel in der „ Gleichheit" 10. Januar 1906
Unter Donner und Blitz ist das alte Jahr zu Grabe gegangen, und unter Donner und Blitz ist das neue erstanden. Es sind die Ereignisse im Osten Europas, die gegenwärtig das Interesse aller denkenden Menschen, insbesondere aber des klassenbewußten Proletariats aller Länder in Anspruch nehmen. Auf aller Lippen ruht die Frage: Was wird das werden? Wie wird das enden? Eine große russische Revolution 1 , die das ungeheure Reich bis in seine tiefsten Tiefen aufwühlt, und wenn sie siegreich ist, nicht nur die Zustände in Rußland von Grund aus verändert, sondern auch den Anstoß zu großen Veränderungen in den ökonomisch entwickelteren Staaten gibt: wer hätte dieses vor wenig Jahren für möglich gehalten? Und obendrein eine Revolution, in der nicht das Bürgertum, wie unsere Gegner glaubten annehmen zu dürfen, sondern das klassenbewußte Proletariat die führende und leitende Rolle übernommen hat. Während wir in Mittel- und Westeuropa uns die Köpfe zerbrechen, ob das Proletariat für eine führende geschichtliche Rolle reif sei, ob es vermöge, die Staatsleitung in seine Hände zu nehmen, und über diese Frage lang und breit tiefgründige Erörterungen pflegen, hat das russische klassenbewußte Proletariat, das weder an Zahl noch an politischer Erfahrung, noch an geschlossenen Massenorganisationen es mit dem mittel- und westeuropäischen Proletariat aufzunehmen vermag, und das in einem Lande von überwiegend primitiver sozialer und kultureller Entwicklung lebt, alle Theorien und Klügeleien über den Haufen geworfen und frisch Hand ans Werk gelegt. Und siehe da, was selbst in unseren Reihen vielfach für unmöglich gehalten wurde, ist ihm gelungen. Es hat sich zum Herrn der Lage aufgeworfen. An Energie, Geschlossenheit, Einsicht und Zielbewußtheit übertrifft es unbestritten alle bürgerlichen Parteien. Sollte es vorerst sein Ziel nicht ganz erreichen, so liegt das nicht an ihm, sondern an Faktoren, die zu überwinden und zu beherrschen noch außerhalb seiner Macht liegt. Aber auf alle Fälle hat es der Entwicklung Rußlands nach vorwärts einen gewaltigen und wirkungsvollen 1 Siehe hierzu Nr. 42 und 43 in Band 7/2 dieser Ausgabe. 7
49 Neujabrsbetrachtung Anstoß gegeben. Es ist von jetzt ab der einflußreichste Faktor in der sozialen und politischen Entwicklung des Landes. Ohne das Proletariat ist ein modernes Rußland unmöglich. Und wie diese russische Revolution wider alle bisherigen programmatischen Auffassungen bürgerlicher Ideologen von dem Entstehen und der Entwicklung von Revolutionen entstand und wirkt, so sind auch die Kampfmittel entsprechend der Rolle, die das Proletariat in dieser Revolution spielt, ganz andere als alle bisherigen. Zunächst beginnt ein zäher, ausdauernder, nach kurzen Zwischenpausen sich immer wieder erneuernder passiver Widerstand durch Streiks und Massendemonstrationen, ein Widerstand, der für die Staatsgewalt ungreifbar ist und doch alles in Verwirrung und Auflösung bringt. Ein Kampfbeispiel, dem schließlich sogar ganze Kategorien staatlicher und öffentlicher Beamter und Angestellter mit Begeisterung und mit überraschender Einmütigkeit Folge leisten. Es ist zunächst, wir möchten sagen, eine stumme Revolution, in der die Masse durch die Ruhe, mit der sie handelt, wirkt und imponiert. Dieser Kampfweise steht das herrschende Regiment machtlos gegenüber. Es sieht sich von allen Seiten von zahllosen Feinden umgeben, es vermag sie aber nicht zu fassen. Und dieser stumme, passive Kampf der Massen wirkt merkwürdig ansteckend. Er greift über in die eigenen Lager der Feinde und gewinnt hier zahlreiche Bundesgenossen; er erschüttert und untergräbt so auf das wirksamste die feindliche Stellung. Streikende Arbeiter waren bisher nirgends eine Seltenheit, aber streikende Soldaten, Post-, Telegraphen- und Eisenbahnbeamte, sogar streikende Polizeiund Grenzbeamte, das ist, wenn wir von dem wenige Tage dauernden Schweizer und holländischen Eisenbahnerstreik absehen, noch nicht dagewesen. Diese Vorgänge greifen dem verstockesten Staatssünder an die Nieren. Und noch nach einer anderen Richtung erweist sich diese Revolution als höchst merkwürdig. In keinem Lande haben die Frauen bisher eine so hervorragende, auf dem Fuße der Gleichberechtigung stehende Tätigkeit entfaltet als in den verschiedenen Schichten der russischen Gesellschaft. Die russische Frau besitzt in solchem Maße die volle gesellschaftliche Gleichberechtigung und Wertschätzung, daß die Russin die anders gearteten Verhältnisse in Mittel- und Westeuropa kaum versteht und namentlich vor der Aschenbrödelrolle der deutschen Frau nichts weniger als Hochachtung empfindet. Rußland war bekanntlich das erste Land, in dem die Frauen sich mit Eifer auf die Studienfächer der Männer warfen und ihnen mit Erfolg nacheiferten2, und es waren auch die russischen Frauen, die von Beginn der revolutionären Bewegung an Hand in 2
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Siehe hierzu S. 468 ff. in Band 10/2 (Die Frau und der Sozialismus) dieser Ausgabe.
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H a n d mit den Männern gingen und kämpften und von diesen als gleichstehende und gleichwertige Kameraden angesehen und geschätzt wurden. 3 Es ist daher auch nur natürlich, daß bisher noch in keiner Revolution die Frauen einen so großen und maßgebenden Einfluß ausübten wie in der jetzigen russischen R e v o lution, und daß, w o immer die Frage nach den zu erobernden politischen R e c h t e n entstand, es als selbstverständlich angesehen wird, daß diese für M ä n n e r und Frauen nur die gleichen sein können. D i e deutsche Sozialdemokratie fordert die politische und soziale Gleichstellung der Geschlechter in ihrem Programm' 5 5 9 1 , und kein Mitglied der Partei wird wagen, diese Programmforderung zu bekämpfen. A b e r gibt es keine öffentliche Gegnerschaft in der Partei, so gibt es doch, wie jeder weiß, eine gewisse latente (verborgene) innerhalb einzelner Kreise, die sich durch Passivität für alles, was mit der Gleichberechtigung der Frau zusammenhängt, bekundet und unseren Genossinnen ihren K a m p f für die H e b u n g ihres Geschlechtes erschwert. E i n solcher Zustand ist in Rußland unmöglich, so sehr unmöglich, daß nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Bauern, die bei uns mit R e c h t als das politisch rückständigste Element angesehen werden, auf ihren Kongressen widerspruchslos eintreten für das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht der Frauen. Obgleich auch bei dem deutschen Bauern die Wirtschaft ohne die Frau nicht bestehen kann und diese sogar das Hauptlasttier in derselben ist, erscheint es ihm als eine Naturwidrigkeit, ihr auch die gleichen politischen Rechte einzuräumen, die er besitzt. E s kann also geschehen, daß die Revolution in Rußland den Frauen Rechte bringt, auf die sie bis heute in Europa, von schwachen Ansätzen in England und N o r w e g e n abgesehen, noch vergeblich warten. U n t e r diesen Umständen haben die deutschen Frauen ein ganz besonderes Interesse an dem weiteren Gange der russischen Revolution, die nicht bloß für die Arbeiterklasse, sondern auch für ihr Geschlecht bahnbrechend wirken wird. A b e r die russische Frau und Proletarierin kämpft nicht nur mit geistigen Waffen Seite an Seite mit den gleichgesinnten Männern. D e r passive Widerstand durch Massenstreiks und friedliche Demonstrationen hat sich namentlich im „heiligen" Moskau, der alten Hauptstadt des Reiches, zum aktiven Kampfe, zum Angriff gesteigert. D i e Revolution stieg auf die Straße und suchte mit der Flinte und dem Revolver zu erreichen, was ihr bisher durch den passiven Widerstand n o c h nicht zu erreichen gelang. D i e Straßenkämpfe, die das alte Moskau in den christlichen Feiertagen erlebte' 5601 , wobei Proletarierblut in Strömen flöß, gehören mit zu dem Großartigsten, was die Geschichte an dauernder, opfermutiger 3
Siehe hierzu Nr. 243 in Band 9 dieser Ausgabe.
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Hingabe für ein großes Ideal kennt. Und in diesen heroischen Kämpfen standen die russischen Frauen, wie selbst die Feinde bewundernd zugestehen, in Massen in den vordersten Reihen und schlugen ihr Leben in die Schanze, um der Revolution den Sieg zu erringen. Was bürgerliche Revolutionen früherer Perioden nur vereinzelt sahen, was aber schon in den Kämpfen der Kommune in höherem Grade sich wiederholte, - daß Frauen an den revolutionären Kämpfen mit der Waffe in der Hand tätigen Anteil nahmen - das tritt in der russischen Revolution unserer Tage als Massenerscheinung auf: Die Beteiligung der Frauen an den Straßenkämpfen wird ein Faktor von weltgeschichtlicher Bedeutung, der in den revolutionären Kämpfen der Zukunft als typische Erscheinung wiederkehren wird. Damit haben sich die russischen Frauen ihr volles Bürgerrecht erobert; sie haben sich auch dort den Männern ebenbürtig gezeigt, wo man es bisher von ihnen nicht erwartete und forderte, auf der Barrikade und in den Kämpfen der Straße. Der Gang der Dinge im Osten beeinflußt in hohem Grade auch unseren Marsch in Deutschland, wo bisher aller Fortschritt sich nur schrittchenweise vollzog, nicht selten begleitet von einem großen Rückschritt. Auch für uns und ganz Westeuropa hat die russische Revolution eine tief einschneidende Bedeutung. Haben bisher schon alle bürgerlichen Volksbewegungen über die Grenzen des Landes, in denen sie sich abspielten, einen oft sehr erheblichen Einfluß ausgeübt - die große französische Revolution erschütterte ganz Europa und wälzte es mehr oder weniger um - , so müssen Revolutionen, in denen das moderne Proletariat seine historische Rolle übernimmt, noch in weit höherem Grade internationale Wirkungen ausüben. Die Mittel für die Verbindungen und den Verkehr sind ins Riesenhafte gewachsen und haben sich über alle Länder der Erde erstreckt. Die Ideenentwicklung und die Verbindungen der gleich denkenden und gleich strebenden Geister haben sich ins Unendliche vermehrt und umfassen alle Kulturländer der Welt. Die politische Bildung und die soziale Erkenntnis des klassenbewußten Proletariats haben einen Reifegrad erreicht und sind so weit verbreitet, wie das Bürgertum niemals ähnliches im Laufe seiner Entwicklung kannte. Allerdings sind auch entsprechend den Massen, die heute in den Bewegungen stehen, die Ziele gewachsen, die sie zu erreichen haben, werden Aufgaben von einer Größe und einer Bedeutung gestellt, wie sie im Laufe geschichtlicher Entwicklung niemals einer aufstrebenden Klasse gestellt worden sind. Ist doch der Befreiungskampf des Proletariats der letzte Klassenkampf, den die Menschheit zu führen hat, um in das Reich voller menschlicher Freiheit und Gleichheit zu gelangen. Und das Proletariat findet hierbei Widerstände, wie sie früher ebenfalls niemals vorhanden waren. Das erklärt, daß der Gang der Dinge schein10
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bar ein so langsamer ist, während es sich doch nur um ein Kräftesammeln handelt, um den letzten entscheidenden Kämpfen gewachsen zu sein. Die Strahlen der Sonne im Osten bescheinen den Beginn des neuen Jahres. Daß es nicht nur für Rußland, sondern auch für uns ein gedeihliches, unserer Sache förderliches werde, liegt in erster Linie an uns. Der Frau erscheint in erhöhtem Grade die Hoffnung, daß auch für sie die Befreiungsstunde schlägt, die sie zu einer Freien und Gleichen macht, als welche sie ihr eigenes Wohl mit dem des Ganzen fördern kann. Das neue Jahr fordert neue und erhöhte Arbeit für die Befreiung der Unterdrückten aus jeglicher Fessel. Gehen wir mit dem Entschluß an diese Arbeit, daß wir siegen wollen und siegen müssen, und daß kein Opfer uns zu groß ist, unser Ziel zu erreichen. Die Gleichheit (Stuttgart), Nr. 1 vom 10. Januar 1906.
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50 Sollten und wollten wir um Marokko Krieg führen? Rede im Deutschen Reichstag zum Haushaltsetat 1906t561] 5. April 1906
Meine Herren, ich verstehe die Zurückhaltung, die heute der Herr Reichskanzler1 in bezug auf die eben geschlossene Konferenz in Algeciras [562] sich in seinen Ausführungen auferlegt hat. Aber das, was er gesagt hat, genügt doch gerade, um die Politik, die wir Marokko und speziell Frankreich gegenüber in den letzten zwei Jahren beobachtet haben, in das rechte Licht zu setzen. Der Herr Reichskanzler hob selbst hervor, im vorigen Sommer seien Wochen gewesen, wo der Gedanke an kriegerische Verwicklungen die Gemüter beunruhigt habe, und er stellte dann die Frage: sollten und wollten wir um Marokko Krieg führen? - und er antwortete: wir hatten kein direktes politisches Interesse Marokko gegenüber zu vertreten; wir haben keinerlei politische Aspirationen in bezug auf Marokko geltend zu machen. Wenn dem so war, und wenn dem so ist, so entsteht die Frage: woher kam denn der Lärm, der den ganzen vorigen Sommer die Welt beunruhigt hat? (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Gewiß, wo Rauch ist, ist Feuer dieses Wort hat hier Geltung, und ich muß hervorheben, daß es der Herr Reichskanzler selbst war, wenn ich mich recht entsinne, der im Juli v.J. einem Interviewer des „Matin" gegenüber erklärte, daß in den letzten Wochen die Situation eine außerordentlich bedenkliche und gefährliche gewesen sei. Meine Herren, ist unsere Stellung Marokko gegenüber derart, daß es sich bei dem ganzen Streit nur darum handelte, das Prinzip der offenen Tür zur Geltung zu bringen, dann verstehe ich nicht, wie dieser Marokkorummel, um mich einmal so auszudrücken, Europa in Unruhe versetzen konnte. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Es ist mir bis heute weder aus den uns vorgelegten Mitteilungen im Weißbuch noch aus den Ausführungen des Herrn Reichskanzlers im geringsten verständlich geworden, woher der scharfe Gegensatz kam, der im Frühjahr 1905 im Vergleich zu der früheren Haltung der deutschen Politik in bezug auf Marokko vorhanden war. Am 14. April 1904 - ich glaube, das war das Datum, nach dem der Vertrag zwischen England und Frankreich in bezug auf Marokko öffentlich 1 Bernhard von Bülow. 12
SO Sollten und wollten wir um Marokko Krieg führen? bekannt geworden war - erklärte der Herr Reichskanzler hier im Hause auf eine an ihn gerichtete Anfrage, daß Deutschland keine Ursache habe, dem abgeschlossenen Vertrage mißtrauisch gegenüberzustehen, daß Deutschland im Gegenteil sich freue, und dadurch alle Aussicht vorhanden sei, daß die Dinge in Marokko einen ruhigen und friedlichen Verlauf nehmen würden. Dabei würden auch die verhältnismäßig geringen materiellen und ökonomischen Interessen, die Deutschland in Marokko zu verfolgen habe, am besten gewahrt werden. Ein Jahr später lautete es ganz anders. Als ich damals den Herrn Reichskanzler interpellierte, was denn die Ursache dieses plötzlichen Umschwunges sei[563], erklärte er, darüber habe er sich nicht auszusprechen. Wenn er heute anders auftrete Frankreich gegenüber als vor einem Jahre, dann komme das daher, daß er sich selbst den Zeitpunkt zu wählen pflege, in dem er seine Ziele zu erreichen suche. Meine Herren, wir haben allezeit erklärt, daß Deutschland allerdings ein, wenn auch vorläufig nur geringes Interesse daran habe, daß ihm die offene Tür in Marokko erhalten bleibe. Durch den Vertrag vom 8. April 1904 zwischen England und Frankreich war aber dieser auf mindestens 30 Jahre hindurch stipuliert. Es wäre also nach den eigenen heutigen Ausführungen des Reichskanzlers nur die Frage gewesen, ob es nicht möglich war, damals zu erlangen, daß diese Bestimmung des Vertrages für Marokko modifiziert wurde und die Bestimmungen des Madrider Vertrages von 1880'564' an deren Stelle treten sollen. Festgehalten muß auch werden, daß von vornherein die Situation Deutschlands in dieser Angelegenheit eine ziemlich eigentümliche war. Der Vertrag vom 8. April 1904 war von Italien und Spanien gebilligt, von Rußland ebenfalls, also von drei Mächten, die an den Bestimmungen des Madrider Vertrages von 1880 aufs lebhafteste berührt wurden. Im ganzen hatten also fünf Mächte ihre Zustimmung zu dem Vertrage gegeben, und so war Deutschland von vornherein in einer isolierten Lage, wenn es mit seiner Forderung auftrat. Aber gleichwohl war es notwendig, daß Deutschland in dieser Beziehung seine Interessen geltend machte. Nun möchte ich vor allen Dingen eins ausführen. Wenn die Regierung, speziell der Herr Reichskanzler, die Notwendigkeit anerkannte, den deutschen Reichstag über diplomatische Verhandlungen mit dem Ausland in einer bestimmten Frage zu unterrichten, so mußte das auch möglichst gründlich geschehen. Ich muß gestehen, daß den Mitteilungen gegenüber, die uns in dem Weißbuch gemacht worden sind, im Vergleich zu den Mitteilungen, die der französischen Deputiertenkammer durch das Gelbbuch der französischen Regierung gemacht wurden, die Stellung des deutschen Reichstags eine klägliche genannt werden muß. Die ganze Unbedeutendheit und Einflußlosigkeit, welche der deutsche Reichstag in bezug auf die auswärtige Politik besitzt, kommt sehr klassisch und deutlich zum Ausdruck in dem Umfang und Inhalt der beiden diplomatischen 13
50 Sollten und wollten wir um Marokko Krieg führen?
Aktenstücke, die den Volksvertretungen zugestellt worden sind. Das deutsche Weißbuch, das hier vor mir liegt, hat im ganzen 39 Seiten mit 27 Aktenstücken, und dabei Aktenstücke - worauf ich später komme - , die nur auszugsweise mitgeteilt worden sind, obwohl gerade diese besondern Wert für unsere Information gehabt hätten. Demgegenüber hat das französische Gelbbuch einen Umfang von 330 Seiten und einen Inhalt von 366 Aktenstücken, also mehr als das Zwölffache dessen, was dem deutschen Reichstag in dieser Frage mitgeteilt worden ist. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) N u n wird in dem uns zugestellten Weißbuch gleich im ersten Aktenstücke darauf hingewiesen, daß insbesondere das Verhalten des französischen Gesandten 2 in Fez es gewesen sei, das die deutsche Regierung zur Intervention 1905 veranlaßt habe. Es werden hier Preßstimmen usw. mitgeteilt, aus denen hervorgeht, daß der französische Gesandte bei seinen Verhandlungen mit dem Sultan von Marokko 3 bezw. seinem Ministerium erklärt habe, daß er die Forderungen, die er stelle, im Namen Europas zu stellen habe. Zweifellos wäre, wenn eine derartige Erklärung vorgelegen hätte, das ein Moment gewesen, dem gegenüber Deutschland wohl berechtigt war, Einspruch zu erheben, insofern es in diesen ganzen Angelegenheiten nicht gefragt worden wäre. Aber wenn man näher zusieht, so bin ich, namentlich nach dem Inhalt des französischen Gelbbuchs, zu der Ansicht gekommen, daß man deutscherseits alle Ursache hatte, den Versicherungen des Sultans von Marokko mit Mißtrauen zu begegnen. (Zuruf rechts.) - Selbstverständlich, und zwar aus folgendem Grunde. Nicht allein hat der Sultan von Marokko erklärt, daß seinerzeit der französische Gesandte eine solche Erklärung abgegeben habe, sondern er hat auch wiederholt dem deutschen Gesandten 4 gegenüber auf dessen Anfrage bestritten, daß er, der Sultan, Frankreich gegenüber Zusicherungen in bezug auf die Annahme von Reformen gemacht habe. (Zuruf rechts.) - Ich glaube gar nichts, ich glaube nur, wenn ich ein Aktenstück vor mir habe, das sehr klar und deutlich das Gegenteil dessen besagt, was der Sultan von Marokko in bezug auf diesen Punkt geäußert hat. Und wenn dieses Aktenstück in seinem Auftrag von seinem eigenen Minister an den französischen Gesandten gerichtet war, so darf ich dem wohl Glauben schenken. So schreibt sein Minister Ben Sliman, und zwar unter dem 1. Juli 1904 - ich bitte, das Datum zu beachten - : Sie haben die Gründe und Erwägungen auseinandergesetzt, welche Ihre angesehene Regierung veranlaßt haben, sich mit der Herstel-
2 Taillandier. 3 Sultan Abd al Asis. 4 Ernst Langwerth von Simmern. 14
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lung des Friedens und der Ruhe durch Vermittlung des Makhzen auf marokkanischem Gebiet und besonders an der Grenze zu beschäftigen, angesichts der persönlichen Interessen, welche die beiden benachbarten Regierungen veranlassen, sich gegenseitig Vorteile zu verschaffen und die gemeinsamen Schwierigkeiten zu beseitigen. Sie haben zugleich die wohlwollenden Absichten erläutert, von denen die französische Regierung beseelt ist, um dem Lande angemessene Reformen zu verwirklichen, die erfüllt sind von fortschrittlichem Geiste, aber durchaus gemäß den Bedürfnissen und Forderungen des scherifischen Makhzen und in einer Form, die in nichts die Freiheit des Reiches, seine Unabhängigkeit, die Sitten seiner Untertanen weder in der Gegenwart noch in der Zukunft beeinträchtigt, und alles dies entsprechend den in gewissen Artikeln der in Frage stehenden Konvention niedergelegten Bestimmungen. [565] Meine Herren, das offizielle Aktenstück, auf das sich mit Fug und Recht die französische Regierung hier berufen kann, gibt klipp und klar zu und spricht offen aus, daß man ihr dankbar sei für die Reformen, die sie in Vorschlag gebracht, und daß der Sultan von Marokko seinerseits geneigt sei, diese Reformen in Kraft treten zu lassen. Ich könnte noch weitere Aktenstücke, die in der gleichen Richtung liegen, und die das eben Vorgetragene noch weiter bestätigen, ebenfalls Ihnen mitteilen. Ich verzichte darauf. Aber im Dezember 1904 machte der französische Gesandte die Beobachtung, daß bei der marokkanischen Regierung ein gewisser Widerstand in bezug auf die Reformen eingetreten war, und zwar war der französische Gesandte der Meinung, daß dieser Widerstand wesendich hervorgerufen worden sei durch die Unterstützung, die der deutsche Gesandte der sultanischen Regierung geleistet habe, die also dadurch bewogen worden sei, ihre früheren gegebenen Versprechen entweder gänzlich fallen zu lassen oder mit möglichster Reserve zu erfüllen. Das geht auch noch aus einer Unterhaltung hervor, die der französische Gesandte mit dem Sultan hatte, worin dieser auf dessen Frage schon abschwächend erwiderte: Der größte Teil der Reformen, die Sie mir erläutern, sind annehmbar und ausführbar in sehr naher Zukunft; aber einige sind sehr schwer anzunehmen. Meine Herren, damals bestand also schon, wie es scheint, bei Deutschland die Absicht, die Dinge in Marokko in ein anderes Fahrwasser zu treiben. 5 Es besteht für mich kein Zweifel, daß die moralische Unterstützung, die im Laufe der Monate, namentlich gegen Ende des Jahres 1904 und im Anfang des Jahres 1905, wo ein Wandel in der deutschen Politik eingetreten war, dem Sultan von Marokko deutscherseits gegeben wurde, dessen Haltung gegenüber Frankreich wesentlich modifizierte. 5 Siehe hierzu Nr. 46/1 in Band 7/2 dieser Ausgabe. 15
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Dazu kam nunmehr die bekannte Reise des Kaisers6 nach Tanger.'566i Meine Herren, wenn ich heute durch etwas überrascht worden bin, so durch die Mitteilungen des Herrn Reichskanzlers, die in der Hauptsache dahin gingen, daß die ganze marokkanische Angelegenheit eine ziemlich unbedeutende gewesen sei. Das behauptet er gegenüber der Tatsache, daß bei einer solchen unbedeutenden Angelegenheit der Kaiser in eigener Person, ich möchte sagen, mobil gemacht wurde, um eine Reise nach Tanger zu unternehmen. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Der Herr Reichskanzler wird mir doch nicht bestreiten, daß, wenn ein auswärtiger Staat zu einem derartigen Mittel des Druckes greift, wie es in diesem Falle seitens Deutschlands geschehen ist, das in der ganzen Welt ungeheueres Aufsehen und bei den betreffenden Staaten außerordentliche Mißstimmung erzeugen muß. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, wenn wir uns weiter vor Augen halten die Reden, die damals bei jener Gelegenheit gewechselt wurden, und die Versicherungen, die seitens des Deutschen Reichs dem Sultan oder seinem Vertreter gegenüber gegeben wurden, so begreift man, daß der Widerstand des Sultans gegenüber den französischen Forderungen auf das höchste steigen mußte. Wir wissen ja, was orientalische Despoten, die mit einer ungemeinen Phantasie begabt sind, in einem solchen Falle aus Äußerungen, wie sie damals der Deutsche Kaiser in Tanger machte, schließen. Wenn es z.B. in einer jener Reden heißt: Er besuche den Sultan als unabhängigen Herrscher und hoffe, daß unter der Herrschaft des Sultans ein freies Marokko der friedlichen Konkurrenz aller Nationen ohne Monopole und Ausschließungen eröffnet werden würde[567], so wird man zugeben, daß eine derartige Äußerung das Selbstbewußtsein des Sultans aufs höchste steigern mußte. Die Erklärung, daß er, der Kaiser, hoffe, ein freies Marokko einmal zu sehen, also unter einem orientalischen Despoten, na, das ist eine façon de parler, auf die ich kein Gewicht lege, die aber immerhin beachtlich ist für die Art und Weise unseres Auftretens in Tanger. Wenn ferner in einer späteren Rede des Kaisers erklärt wird: Sein Besuch in Tanger habe den Zweck, darzutun, daß die deutschen Interessen in Marokko geschützt und gewahrt werden sollten; über die besten Mittel, dies zu erreichen, werde er sich mit dem Sultan ins Einvernehmen setzen, den er als freien Herrscher betrachte15681, so wird auch hier wieder aus einer solchen Rede, in Verbindung gebracht mit der großen Ehre, die der Sultan von Marokko darin erblicken mußte, daß der Kaiser eines der mächtigsten Reiche der Welt eine Reise nach seinem Lande unternimmt, um ihm diese Versicherung zu machen, - ich sage, da kann es 6
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Wilhelm II.
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keinem Zweifel mehr unterliegen, daß durch ein solches Verhalten die Opposition der marokkanischen Regierung gegen noch so berechtigte und vernünftige Ansprüche aufs höchste getrieben werden mußte. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, daß ein derartiger Vorgang die auf der Gegenseite stehenden Mächte wie England und Frankreich aufs äußerste verschnupfen mußte, ist selbstverständlich. Stellen wir uns einmal die Sache anders vor, setzen wir uns in die Lage, an Stelle von Frankreich und England wäre Deutschland gewesen, und es hätte, sagen wir einmal: der König von England die Reise unter gleichen Verhältnissen nach Tanger unternommen und ähnliche Reden gehalten, was wäre der Eindruck und was wäre die Aufnahme gewesen, die ein solch demonstratives Verhalten des englischen Monarchen in Deutschland erweckt haben würde? (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Ganz abgesehen davon, meine Herren, daß es doch bis dahin noch nicht da war, daß in die diplomatischen Verhältnisse und Beratungen verschiedener Staaten zueinander ein Monarch persönlich eingreift und durch das Gewicht seiner Persönlichkeit und seiner Stellung die Dinge direkt zu beeinflussen sucht. N u n bin ich aber der Meinung, daß selbst nach diesen Vorgängen, die notwendig, ich wiederhole, in Frankreich und England äußerste Erregung hervorrufen mußten, man französischerseits es noch nicht zum äußersten kommen lassen wollte. Ich mache kein Hehl daraus, daß ich bis vor kurzem, bis ich den Inhalt des Gelbbuches und die Berichte darüber näher eingesehen habe, in bezug auf die Stellung des Herrn Delcassé eine viel ungünstigere Meinung hatte, als sie gegenwärtig bei mir besteht. Ich möchte doch folgendes konstatieren, - und damit komme ich auf das Aktenstück Nr. 6, das in dem Weißbuch nur im Auszug enthalten ist. Es heißt im französischen Gelbbuch: Am 9. April habe Herr Delcassé gerüchtweise davon gehört, daß man dem Sultan die Idee nahe legen werde oder bereits nahe gelegt habe, eine internationale Konferenz zur Regelung der marokkanischen Angelegenheitèn zu berufen.15691 Naturgemäß war, daß dies dem Minister Delcassé, der durch seinen Vertrag alles glaubte in der Tasche zu haben, sehr unangenehm berührte. Er nimmt darauf die Gelegenheit wahr, um bei einem Diner auf der deutschen Botschaft mit dem deutschen Gesandten 7 in der Angelegenheit Rücksprache zu nehmen. Das war am 13. April 1905. Am Ende des Gesprächs - ich zitiere diesen entscheidenden Satz - erklärte Herr Delcassé dem deutschen Gesandten gegenüber: Unsere Politik hat sich nicht geändert. Unsere Haltung ist ebenso klar wie unsere Erklärungen. Ich bin aber doch gezwungen, besonders auf die Zeitungs7
H u g o von Radolin. 17
ßO Sollten und wollten wir um Marokko Krieg führen ?
polemik hinzuweisen, von der ich eben sprach, und ich sehe mich veranlaßt, Ihnen diese Frage vorzulegen: könnte es tatsächlich trotz alledem noch ein Mißverständnis geben, nämlich in bezug auf den abgeschlossenen Vertrag? In diesem Falle - Sie wissen es aus meiner jüngsten Erklärung in der Kammer und ich wiederhole es Ihnen: ich bin durchaus bereit, es zu zerstreuen15701 - (hört! hört! bei den Sozialdemokraten), - also jede Aufklärung zu geben, die er geben konnte. Darauf erklärte der deutsche Gesandte Fürst Radolin, er könne die Frage nicht beantworten, er werde aber die Frage nach Berlin berichten. Zu gleicher Zeit gibt Herr Delcassé dem französischen Gesandten Herrn Bihourd hier Auftrag, auf dem Auswärtigen Amt die Angelegenheit ebenfalls zur Sprache zu bringen. Das geschah am 18. April 1905. Herr v. Mühlberg - so berichtete der französische Gesandte nach Hause - hat mich sehr aufmerksam angehört und mich gebeten, die Instruktion, die ich in meinen Händen hatte, ihm zuzustellen.'5711 Eine andere Antwort bekam er nicht. Herr v. Mühlberg erhielt den gewünschten Text am 25. April; am 28. April berichtet der französische Botschafter nach Hause: Die Kaiserliche Regierung beeilt sich nicht, auf die Fragen zu antworten, die hintereinander Eure Exzellenz in Paris und ich in Berlin ganz klar gestellt haben. Dieses Stillschweigen trifft sehr wohl zusammen mit der Politik, die der Reichskanzler im Reichstage und der Kaiser in Tanger proklamiert haben.' 572] Es folgt weiter in dieser Depesche eine Auseinandersetzung, worin dem Gedanken Ausdruck gegeben wurde, es scheine, daß Deutschland die Sache zum Kriege treiben wolle; der Kaiser sei von kriegslustigen Ratgebern umgeben, die sicherlich nicht verfehlten, zu behaupten, daß der Zweibund in der Mandschurei einen schweren Stoß erlitten habe; bei dieser Konjunktur haben sie leichtes Spiel, den gegenwärtigen Augenblick als günstig zu bezeichnen für einen Krieg mit Frankreich. Zugleich fragt der Botschafter bei Herrn Delcassé an, ob bei dieser Sachlage sich irgend welche Wege öffneten für die französische Diplomatie. Haben wir nicht Hoffnung auf Verhandlungen? - so stellt er die Frage. Sie sehen, daß also noch in diesem Moment Herr Delcassé bereit war, in Unterhandlungen einzutreten. Mittlerweile oder kurz danach hatte aber der Sultan von Marokko sich entschieden geweigert, die frühere Zusage in bezug auf Reformen zu beachten, und das machte bei Herrn Delcassé den Eindruck, daß ein Komplott zwischen Deutschland und Marokko vorhanden sei. Darauf nahm die Frage den ernsten Charakter an, den ich eingangs meiner Rede erwähnte. Jedenfalls ist so viel sicher, daß durch die Reise nach und die Reden in Tanger dem Sultan von Marokko sozusagen der Rücken gesteift wurde und damit Hoffnungen bei ihm 18
50 Sollten und wollten wir um Marokko Krieg führen ? erweckt wurden, die, wie sich eigentlich von selbst versteht, später nicht in Erfüllung gehen konnten. Ich bin überzeugt, daß von allen in Algeciras vertretenen Mächten der Sultan von Marokko wahrscheinlich derjenige sein wird, der das betrübteste Gesicht macht. Denn wenn er die Hoffnung gehabt hat, mit Hilfe und mit Unterstützung des Deutschen Reichs seine alte Unabhängigkeit und Freiheit auch im Innern des Landes bewahren zu können, so ist ihm durch die Ereignisse von Algeciras allerdings der Star gestochen worden. Es ergeht den Marokkanern heute genau so, wie 1895 den Chinesen, die damals auch glaubten, nachdem Deutschland, Rußland und Frankreich im Frieden von Shimonoseki sich auf die Seite Chinas gestellt [573] und ihm große Dienste geleistet hatten, die betreffenden Mächte würden für diese guten Dienste keine Belohnung in Anspruch nehmen. Nun, einige Jahre später, 1898, sind sie eines Besseren belehrt worden. Es kam die Pachtung von Kiautschou und alles, was wir später erlebten. Ganz ähnliche Erfahrungen hat 1896 Transvaal gemacht, wo die damals veröffentlichte Depesche an den Präsidenten der Republik Herrn Krüger [574] ebenfalls ungerechtfertigte Hoffnungen im Burenlande erweckte, die hinterher in keiner Weise in Erfüllung gingen. Ganz ähnliche Hoffnungen sind erweckt worden bei den Reisen nach Budapest, Konstantinopel, Jerusalem usw. und im letzten Jahre in Marokko. Gerade diese Art Politik den verschiedensten Nationen gegenüber, denen von deutscher Seite Hoffnungen erweckt wurden, die nachher nicht in Erfüllung gingen und nicht in Erfüllung gehen konnten, hat wesentlich dazu beigetragen, daß Deutschland in die isolierte Lage kam, die unzweifelhaft in Algeciras der ganzen Welt sichtbar vor Augen getreten ist. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Das ist das Schlimmste, was meines Erachtens die Konferenz in Algeciras für Deutschland gebracht hat. Ich bin noch heute des Glaubens man kann darüber streiten, beweisen kann man das nicht - , daß eine andere Taktik der deutschen Politik in bezug auf den Vertrag vom 8. April 1904 alles das Deutschland geschafft haben würde, was es jetzt erst mühselig und unter schweren Kämpfen durch die Konferenz von Algeciras erreicht hat. Meine Herren, ich habe bei der Debatte über den Etat schon geäußert: nach meiner Uberzeugung wäre eine Reise nach Tanger in der Weise, wie sie stattgefunden hat, unter Billigung des Fürsten Bismarck, wenn er damals Kanzler des Reichs gewesen wäre, niemals möglich gewesen, und ich behaupte heute: ein Bismarck würde auch die Konferenz von Algeciras nicht veranlaßt haben; er hätte nach seiner Weise zu erreichen gesucht, was zu erreichen war. Er hätte sich nicht der Gefahr ausgesetzt, nach monatelangen Verhandlungen vor der ganzen Welt als der isolierte Mann, als der Vertreter eines isolierten Reiches dazustehen. Der Herr Abgeordnete Freiherr v. Hertling hat im Laufe seiner Rede nacheinander die Stellung der verschiedenen Staaten zu Deutschland Revue passieren 19
50 Sollten und wollten wir um Marokko Krieg führen ? lassen, er hat auf Frankreich, England, Italien, Rußland, Nordamerika verwiesen. Ich will diesem Beispiel des Herrn v. Hertling nicht folgen; ich würde allerdings in verschiedener Beziehung zu anderen Resultaten als er kommen. Aber fest steht - und darin kann man das Resultat von Algeciras zusammenfassen - , daß sich herausgestellt hat, daß wir Frankreich, England, Spanien, Italien, Rußland gegen uns hatten und haben, daß Nordamerika sich sozusagen neutral verhielt, daß zwar Osterreich seine guten Vermittlerdienste nach Möglichkeit in Algeciras angeboten und auch ausgeübt hat; daß aber das in einer so rückhaltlosen Weise geschehen sei, wie Herr Dr. v. Hertling dargelegt hat, kann ich meinerseits durchaus nicht finden. Wenn also dieses das Resultat ist - ich fürchte, daß die Verstimmungen, die in Algeciras wiederholt hervorgetreten sind, dauernd bleiben werden, daß die internationalen Beziehungen der verschiedenen Staaten zu einander durchaus nicht besser geworden sind - , dann ist dieses Resultat im großen und ganzen ein sehr bedauerliches. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Man rühmt in den deutschen Zeitungen, es sei der Reichsregierung gelungen, die Integrität Marokkos aufrecht zu erhalten. Aber, meine Herren, die hat keinen Augenblick in Frage gestanden. Weder Frankreich, noch England, noch einer anderen Macht ist es eingefallen, den Versuch zu machen, das marokkanische Gebiet in irgend einer Richtung zu beschneiden oder Häfen des Landes zu besetzen und zwar aus sehr naheliegenden Gründen. Ich meine, die Erfahrungen, die speziell Frankreich seit Jahrzehnten in Algier gemacht hat, sind wohl die Lehre gewesen, nicht mir nichts dir nichts in ein neues Wespennest hineinzugreifen. Die offene Tür haben wir verlangt und erhalten. Weiter ist ein internationaler Polizeiinspektor für die Marokkohäfen eingesetzt auf Betreiben Deutschlands. Ich betrachte aber diesen internationalen Polizeiinspektor nur als eine Dekoration, die nach etwas aussieht, aber in Wahrheit nichts zu bedeuten hat. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Dagegen haben die reale Macht Spanien und Frankreich dadurch erlangt, daß ihnen ausschließlich die Polizei in den verschiedenen marokkanischen Häfen zugewiesen ist. Diejenigen deutschen Chauvinisten, die hofften, daß es Deutschland gelinge, an der Westküste Marokkos den Hafen Casablanca in seine Gewalt zu bekommen, was allerdings ein fetter Bissen gewesen wäre, sind durch den Gang der Dinge in Algeciras gründlich enttäuscht worden. Aber, meine Herren, darin muß ich dem Herrn Abgeordneten v. Hertling zustimmen, daß die Rolle, die Rußland in dieser Angelegenheit Deutschland gegenüber gespielt hat, höchst herausfordernd und rücksichtslos war. Die Lamsdorffsche Depeschei 575 \ die Art, wie sie übergeben, die Art, wie sie veröffentlicht wurde, wäre unter anderen Umständen nach meiner Uberzeugung ein Akt 20
50 Sollten und wollten wir um Marokko Krieg führen? gewesen, der zu sehr ernsthaften diplomatischen Verwicklungen und zu noch Schlimmerem geführt hätte. Der Affront, der russischerseits der deutschen Regierung durch diese Depesche zugefügt wurde, ist die Antwort auf alle die Liebedienerei und Gefälligkeit, die Deutschland seit Jahrzehnten und besonders in den allerletzten Jahren der russischen Regierung in reichlichstem Maße bewiesen hat. (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, wenn jemals ein Staat einem andern für eine Reihe wichtiger Dienste, ich möchte sagen erwiesener Wohlthaten mit einer moralischen Ohrfeige geantwortet hat (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten), so hat das die russische Regierung gegenüber Deutschland getan. (Sehr richtig!) Es ist nur erstaunlich, wie eine derartige Handlungsweise der russischen Regierung gegen Deutschland mit der Kaltblütigkeit aufgenommen werden konnte, die wir in den letzten Wochen seit jenem Vorgange Rußland gegenüber zu beobachten gehabt haben. Der Herr Abgeordnete v. Hertling hat angesichts dieser Haltung Rußlands gemeint, er wünsche nicht, daß das deutsche Kapital fernerweit Rußland in seinen inneren Beziehungen unterstützen möge. Es verlautet ja im Augenblick, daß Rußland, wie es selbstverständlich ist, mit dem Gedanken umgeht, neue Anleihen in Zentral- und Westeuropa aufzunehmen, und daß dabei Deutschland in erster Linie in Frage kommen soll. Deutschland hat im vorigen Jahre durch die Gefälligkeit der deutschen Regierung, ohne deren Zustimmung das nicht möglich gewesen wäre, Rußland eine Anleihe von 500 Millionen Mark gewährt. Als jenes Finanzunternehmen im Werke war, veröffentlichte der Regierungsrat Martin ein Buch, betitelt: „Die Zukunft Rußlands und Japans", in dem er die Verhältnisse Rußlands nach meiner Auffassung durchaus korrekt in der düstersten Weise darstellte und schließt, daß nach seiner Meinung das Resultat der inneren Wirren Rußlands die vollständige Zerrüttung dieses großen Reiches und in letzter Instanz der russische Staatsbankerott sein werde. Meine Herren, zu jener Zeit war man in unseren Regierungskreisen noch in der liebenswürdigsten Stimmung Rußland gegenüber. Kaum hatte der Regierungsrat Martin das eben erwähnte Buch veröffentlicht, so erschien in der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" am 3. September v.J. ein Artikel, in dem Herr Martin in scharfer Weise zurechtgesetzt wurde, weil die Schlußfolgerungen seines Buches als durchaus willkürlich angesehen werden müßten. Es hieß u.a. in jenem Artikel der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung": Es ist selbstverständlich, daß die Regierung dem Buche, das auf Grund haltloser Voraussetzungen zu abenteuerlichen Prophezeiungen über Rußland in den nächsten Jahrzehnten kommt, gänzlich fern steht. Daß das letztere zutreffe, hat man jedenfalls überall gewußt. Aber wenn man auch für notwendig hielt, zu erklären, daß das Buch ohne Wissen und Willen der 21
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Regierung veröffentlicht worden sei, so war es ein großer Fehler - und die Folgen wird die Reichsregierung auszubaden haben - , darauf auch noch zu erklären, daß die Beweisführungen und Schlußfolgerungen, die Herr Martin in seinem Buche bringe, durchaus falsche seien. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Das Buch hat in der ganzen Welt gewaltiges Aufsehen gemacht, es ist in allen Zeitungen der Kulturländer besprochen worden, meist in zustimmendem Sinne, und hat sehr große Auflagen erlebt. Neuerdings hat Herr Martin sich abermals veranlaßt gesehen, ein Buch: „Die Zukunft Rußlands" herauszugeben, in dem er weiter seine Kritik an den russischen Zuständen übt und die Schlüsse zieht, die nach seiner Meinung auf Grund der ihm bekannten Tatsachen geschlossen werden müssen. Meine Herren, ich halte es für dringend geboten, an dieser Stelle das deutsche Publikum in der nachdrücklichsten Weise zu warnen, falls mit Zustimmung der deutschen Reichsregierung abermals ein russisches Anlehen in Deutschland aufgelegt werden sollte, Rußland auch nur das geringste Vertrauen zu schenken. (Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) Alles, was Martin in seinem ersten Buche gesagt hat, ist heute vollständig eingetroffen, und ich bin überzeugt, daß die trüben Aussichten, die er in bezug auf die Gestaltung des russischen Staatswesens und die inneren Zustände Rußlands in seinem neuen Buche veröffentlicht, ebenfalls durch die Entwicklung der Dinge bestätigt werden. Wir wissen, der russische Staat ist schon heute überschuldet. Es ist in erster Linie die französische Nation, die aus bekannten Gründen allezeit dem russischen Staatskredit nach Möglichkeit entgegengekommen ist und ihre freundlichen Dienste für Rußland in diesem Augenblick mit einem Anleihegewicht von circa 10 000 Millionen Mark bezahlte. Wir Deutsche sind gegenwärtig noch etwas glücklicher daran; das Maß der russischen Schuld, das in Deutschland untergebracht sein soll, beträgt circa 2500 Millionen Mark, gerade genug, um im Falle eines russischen Bankerotts sehr große Verheerungen in der Nationalwirtschaft Deutschlands herbeizuführen. (Sehr richtig! links.) Martin führt in seinem Buche an, daß für das Jahr 1905 das russische Defizit sich auf 317 Millionen Rubel belaufen habe, der Finanzminister Schipoff gab aber im letzten Herbst selbst an, daß nach seiner Rechnung das neue Defizit des Jahres 1906 sich auf 481 Millionen Rubel belaufen werde. Martin aber ist der Meinung, daß das viel zu niedrig sei, daß das Defizit mindestens doppelt so hoch werden dürfte, d.h. 962 Millionen Rubel. (Hört! hört! links.) Des weiteren weist Martin nach, daß die russischen Eisenbahnen von 1887 bis 1904 nicht weniger als 758 Millionen Rubel gleich 1637 Millionen Mark Zuschüsse aus der Staatskasse erfordert haben, und führt an, daß zweifellos in den nächsten 10 Jahren weitere 2000 Millionen Mark an Zuschüssen für denselben Zweck erforderlich seien. Ein anderes, was er hervorhebt, ist, daß Rußland im Jahre 1906 notwendiger22
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weise Anleihen in H ö h e von circa 3000 Millionen Mark aufnehmen müsse, wenn es sich in der gegenwärtigen Verfassung erhalten wolle: 1 Milliarde zur Deckung des Defizits, 1 Milliarde des sich aus der Revolution ergebenden nicht vorgesehenen Defizits und eine dritte Milliarde zum Rückkauf der kurzfristigen 8 400 Millionen Rubel betragenden Schatzwechsel. Nehmen wir nun in Betracht, meine Herren, daß gegenwärtig das ungeheure russische Reich von einem Ende bis zum andern durch revolutionäre Zuckungen erschüttert ist, daß Handel und Verkehr daniederliegen, daß die Steuerkraft der Nation und in erster Linie der circa 80 Prozent der Bevölkerung repräsentierenden Bauernschaft auf Null gesunken ist, so wird man zugeben müssen, daß die innere Lage Rußlands eine so außerordentlich traurige ist, wie sie überhaupt nur gedacht werden kann. Es erklärt sich daher wohl mit Fug und Recht, wenn Martin die Anschauung aufstellt, daß das letzte Rettungsmittel für Rußland der Zusammenbruch der Goldwährung und der Staatsbankerott sei. (Hört! hört! links.) Tritt das letztere ein, so ist Rußland mit einem Schlage 723 Millionen Zinsen los, die es jetzt alljährlich zu zahlen hat, und von denen über 570 Millionen nach dem Auslande gehen. Soll aber weiter gewurstelt werden, so sind abermals neue Milliarden notwendig; denn es handelt sich um die Retablierung der Flotte, der Armee und der inneren Staatseinrichtungen, - kurz und gut ein Ausblick auf Ausgaben, die furchtbar genannt werden müssen. Ich hoffe und setze als selbstverständlich voraus, daß angesichts der Haltung, die bisher die russische Regierung dem deutschen Reiche gegenüber speziell auch in Algeciras eingenommen hat, die deutsche Reichsregierung alles aufbieten wird, um die Aufnahme einer neuen russischen Anleihe zu verhüten. Der Abgeordnete Freiherr v. Hertling hat gegen Schluß seiner Rede auch die Frage erörtert, woher es komme, daß Deutschland in der auswärtigen Presse mit Mißtrauen und Ungunst behandelt werde. Einer der Momente, auf die er glaubte hinweisen zu müssen, war, daß er ausführte, daß besonders der Umstand daran schuld sei, daß man im Auslande und auch in Deutschland bei gewissen Parteien des Glaubens sei, daß der Umschwung, der sich im Augenblick in Rußland vollziehe, durch den Einfluß und die Macht Deutschlands verhindert werde, und daß es die revolutionären Parteien wären, die dieses Mißtrauen gegen Deutschland schürten. Meine Herren, wir stehen gar nicht an, zu erklären - ich habe das schon wiederholt erklärt - , daß wir einen Zusammenbruch des heutigen russischen Despotismus von Herzen wünschen (Sehr richtig!) im Interesse der Kultur und der Zivilisation und in erster Linie im Interesse des russischen Volkes selbst, im weiteren aber auch im Interesse des gesamten europäischen Kulturlebens.' 57 ^ 8 Bei Bebel: kurzsichtigen. 23
50 Sollten und wollten wir um Marokko Krieg führen? E s ist selbstverständlich, daß ein mächtiger U m s c h w u n g der inneren Verhältnisse in R u ß l a n d auf die Entwicklung der Kultur, wie Freiherr v. Hertling selbst wünscht, wenn er eintritt, notwendigerweise auch auf die Geschicke der übrigen Staaten und speziell Deutschlands vom wohltuendsten Einfluß sein wird und sein muß! (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) D i e russische Revolution hat herbeigeführt, daß z.B. in Ungarn die D i n g e ein anderes Gesicht b e k o m m e n haben, daß die österreichische Regierung das allgemeine Wahlrecht gewährt hat, und so würde allerdings - das ist kein Zweifel - die Umwandlung der Dinge in R u ß l a n d von G r u n d aus auch für die deutschen Verhältnisse von sehr erheblichem Einfluß sein. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Wenn aber im übrigen Mißstimmung gegen Deutschland in der weiten Welt vorhanden ist, wie das auch Freiherr v. Hertling nicht hat bestreiten können, so ist diese Mißstimmung in erster Linie in den Ursachen zu finden, die ich vorhin anführte, in der eigentümlichen Haltung Deutschlands in einer Reihe von wichtigen Fragen in der auswärtigen Politik, wie sie sich seit zehn Jahren abgespielt haben. A u c h hat H e r r Freiherr v. Hertling unrecht, wenn er sich einbildet, daß der U m s c h w u n g der Stimmung in Italien den Ursachen zuzuschreiben sei, die er angeführt hat. Ich kann nur sagen: daß mit der Rede, die H e r r Freiherr v. Hertling in bezug auf Italien heute von dieser Stelle aus gehalten hat, er nur O l ins Feuer gegossen hat. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Ich bin überzeugt, daß diese R e d e in Italien einen außerordentlich unangenehmen Eindruck machen wird und in weiten Kreisen der italienischen bürgerlichen Parteien sowohl wie der Sozialdemokratie wieder einmal die Anschauung stützen wird, daß unter allen Mächten der Welt Deutschland diejenige sei, die am meisten der Reaktion verfallen ist. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Italien hat aber meines Erachtens auch n o c h andere G r ü n d e um die Stellung zu Deutschland einmal einer Revision zu unterziehen. Italien fängt allmählich zu begreifen an, daß der Dreibund gegebenenfalls ihm große Verlegenheiten bringen könne, die es unter keinen Umständen akzeptieren will. Italien fürchtet, daß es bei den großen Interessen, die es im Mittelmeer und in Afrika mit F r a n k reich, England und Spanien gemeinsam hat, die Gefahr nahe liege, eines Tages in einen Krieg verwickelt zu werden, der in der Hauptsache deutschen Interessen gelte. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) M i t anderen Worten - ich will gegenwärtig nicht weiter auf die Gründe eingehen - , es hat den Eindruck, daß der D r e i b u n d Italien Verpflichtungen auferlege, die gegebenenfalls mehr oder weniger mit seinen Lebensinteressen in Widerspruch stehen; das erklärt die Politik, die heute ein großer Teil der italienischen Presse Deutschland gegenüber verfolgt. Schuld an dieser Haltung ist aber vor allem auch der Z i c k z a c k kurs, den wir in Deutschland haben. In dieser Beziehung hat die M a r o k k o a n g e 24
SO Sollten und wollten wir um Marokko Krieg
führen?
legenheit den Italienern die Augen geöffnet und ihnen gezeigt, daß ihre Interessen unter Umständen weit mehr mit Frankreich, England und Spanien einig gehen als mit Deutschland. (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Aber wenn ich vorhin ausgesprochen habe, ich hoffte und wünschte, daß Deutschland Rußland gegenüber sich künftighin reservierter verhalte, dann gibt es wieder einen Punkt, von dem ich wünschte, daß Deutschland im Verein mit den übrigen internationalen Mächten es über sich gewinnen möchte, im Interesse der Kultur und Zivilisation Rußland gegenüber in gewissem Sinne zu intervenieren. Meine Herren, die Revolution, die wir in den letzten zwei Jahren in Rußland sich haben entwickeln sehen, hat selbstverständlich zur Folge gehabt, daß eine große Menge von Männern und Frauen, die bei den revolutionären Erhebungen sich beteiligten, in Prozesse verwickelt worden sind oder dem Kriegsrecht unterstellt wurden. Sie werden ihre Handlungen zum guten Teil entweder mit langjährigen Gefängnisstrafen oder mit Verbannung oder gar mit dem Leben bezahlen müssen. Viele hat dieses Schicksal schon getroffen. Ich bin der Meinung, wenn jemand sich an einer revolutionären Bewegung beteiligt, muß er auch die Konsequenzen seines Handelns tragen, und ich habe die feste Uberzeugung, daß allen Männern und Frauen Rußlands, die sich an der Revolution beteiligt haben, nichts ferner liegt, als sich den Konsequenzen ihrer Handlungen entziehen zu wollen. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Aber es ist etwas anderes, ob man Männer und Frauen, die sich bei derartigen Unternehmungen mit nach russischen Gesetzen ungesetzlichen Mitteln beteiligen, für ihre Handlungen gesetzlich verantwortlich macht und bestraft, oder wenn eine solche Regierung, die sich obendrein eine christliche nennt, zu den größten Barbareien und Grausamkeiten ihnen gegenüber greift, wo sie einzig nur mit dem Maßstabe des Gesetzes die betreffenden Personen verurteilen und bestrafen sollte. Nun lesen wir aber Tag für Tag von den furchtbaren Greueltaten, die gegen Männer und Frauen seitens der russischen Staatsorgane und seitens der Soldateska verübt werden. Es ist namentlich in der letzten Zeit ein Fall vorgekommen, der in besonderem Maße das Entsetzen der zivilisierten Welt wachgerufen hat, auf welchen ich kurz zu sprechen kommen möchte, um daran die Notwendigkeit und Gerechtigkeit der von mir verlangten diplomatischen Intervention Rußland gegenüber zu begründen. Meine Herren, vor einigen Wochen hat eine junge russische Dame, Spiridonowa mit Namen, ein Attentat auf einen russischen Gouverneur gemacht. Die Tat an sich wird mit dem Tode bestraft. Die Dame ist sich der Konsequenzen ihrer Handlungen bewußt gewesen, sie hat damit gerechnet, daß sie kurzerhand für ihre Tat mit dem Tode bestraft werden würde. Aber nun haben dieser Dame 25
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Sollten und wollten wir um Marokko Krieg führen?
gegenüber russische Offiziere sich in einer so barbarischen und bestialischen Weise benommen, daß einem die Haut schaudert, wenn man die Dinge liest. Dieses ist einer der Fälle, die meines Erachtens das gesittete Europa auffordern müßte, einem System energisch entgegenzutreten, das solcher Schandtaten und Bestialitäten fähig ist. Dieses Fräulein Spiridonowa wurde von russischen Offizieren auf der Bahn eskortiert und ist von diesen dort in der schamlosesten und barbarischsten Weise mißhandelt und geschändet worden. Das Endresultat der an diesem Mädchen verübten Greueltaten geht aus folgendem Berichte hervor, der notorisch ist; er ist einem russischen Blatte, dem „Ruß", entnommen. Es ist der Bericht eines Arztes und lautet wie folgt: Das Gesicht ist geschwollen, voll roter und blauer Narben. Beide Augen sind so furchtbar geschwollen, daß die Kranke sie nicht öffnen kann. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Ein Auge hat die Sehkraft ganz eingebüßt, das anders wird wohl geheilt werden können. Der Mund kann nicht geöffnet werden, da die Lippen geschwollen sind. (Hört! hört! links.) Uber dem linken Auge ist die Haut abgerissen in der Größe eines Markstücks, sodaß das Fleisch bloßgelegt ist; dasselbe auch rechts, am Haar mitten auf der Stirn ein eiternder Streifen, wo die Haut auch abgerissen ist. Die beiden Hände sind blau geschwollen und tragen zahlreiche Spuren von Nagaikahieben, desgleichen auch Arme und Schultern. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Die beiden Füße sind blau und geschwollen, an vielen Stellen ist die Haut abgerissen, Spuren von Nagaikahieben. Der Hals ist geschwollen, die Lungen sind stark beschädigt, infolge dessen hat Blutung stattgefunden. (Hört! hört! links.) Der betreffende Arzt wollte die Dame auch innerlich untersuchen. Das hat sie aber auf das energischste abgewehrt. Trotzdem wurde später festgestellt, daß sie mit Syphilis infiziert worden war. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Der Arzt fragte, wo sie sich die Krankheit zugezogen habe. Darauf antwortete sie, sie hätte Grund anzunehmen, daß sie vergewaltigt und angesteckt worden sei. (Hört! hört! links.) Ich will die Schilderungen, die sie von dem Verhalten der Offiziere in dieser Beziehung gibt, dem Hause nicht vortragen. Der Arzt erwiderte, ihre Vergewaltigung ließe sich nicht mehr feststellen, sie hätte gleich bei ihrer Ankunft untersucht werden müssen. Fräulein Spiridonowa antwortete, sie habe sich deshalb früher nicht untersuchen lassen, weil sie glaubte, sofort nach ihrer Ankunft hingerichtet zu werden; auch glaubte sie, die erlittenen Qualen hätten auf Befehl der Administration stattgefunden, und der Offizier hätte noch eine Belohnung empfangen. (Unruhe. - Pause infolge eines Ohnmachtsanfalls des Reichskanzlers Fürsten v. Bülow.) Vizepräsident Dr. Graf zu Stolberg-Wemigerode: Meine Herren, ich unterbre26
50 Sollten und wollten wir um Marokko Krieg führen ? che die Sitzung auf eine Viertelstunde. (Unterbrechung der Sitzung 1 Uhr 7 Minuten; Wiedereröffnung 1 Uhr 20 Minuten.) Vizepräsident Dr. Graf zu Stolberg-Wernigerode: Meine Herren, ich eröffne die unterbrochene Sitzung und bitte den Herrn Abgeordneten Bebel, fortzufahren. Abgeordneter Bebel: Meine Herren, ich werde nur noch ein paar Worte zu sagen haben. Anknüpfend an das Ereignis, was ich vorhin aus Rußland schilderte, habe ich den lebhaften Wunsch ausgesprochen, daß seitens der deutschen Regierung in Verbindung mit den anderen europäischen Mächten und auch den Vereinigten Staaten bei der russischen Regierung interveniert werden, daß die furchtbaren Grausamkeiten und Bestialitäten, die seitens ihrer Beamten und Militärs an einer Anzahl gefangener Revolutionäre und Revolutionärinnen verübt worden sind, aufhören. Ich glaube, wir können und dürfen ein solches Verlangen ebenso gut stellen, wie seinerzeit sich der Präsident der Vereinigten Staaten 9 veranlaßt gesehen hat, bei Rußland dagegen Verwahrung einzulegen, daß die furchtbaren Judenverfolgungen weiter dauerten. [577] In ähnlicher Weise hat die englische und haben andere Regierungen im Laufe der letzten Jahrzehnte es wiederholt für notwendig erachtet, bei der türkischen Regierung zu intervenieren, weil die christlichen Armenier von den mohammedanischen Bevölkerungsteilen der Türkei in grausamster Weise verfolgt wurden. Wenn der Herr Abgeordnete Freiherr v. Hertling gewünscht und gehofft hatte, daß Rußland den Weg der Zivilisation und Kultur betrete, so wird es notwendig sein, daß vor allen Dingen Grausamkeiten, wie ich sie hier geschildert habe, ihr Ende erreichen; und sie werden um so leichter ihr Ende erreichen, wenn die Regierungen von Europa in dem von mir ausgesprochenen Sinne zu Gunsten der Menschlichkeit intervenieren. (Bravo! bei den Sozialdemokraten.) Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, 11. Legislaturperiode, II. Session 1905/1906, Dritter Band, Berlin 1906, S. 2627-2633.
9 Theodore Roosevelt.
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51 Unglaublicher Polizeiwillkür entgegentreten! Aus der Rede im Deutschen Reichstag zur Massenausweisung russischer Staatsangehöriger[578) 3. Mai 1906
Meine Herren, ob die Antwort, die uns soeben im Namen des Herrn Reichskanzlers1 der Stellvertreter desselben, Herr Graf v. Posadowsky, gegeben hat, politisch klug war, das dürften die Verhandlungen des heutigen Tages zeigen. Ich meine, auf jeden Fall hätte sich der Herr Reichskanzler, ehe er den Herrn Grafen v. Posadowsky zu einer solchen Erklärung, wie wir sie gehört haben, bevollmächtigte, die Frage vorlegen sollen, warum man denn früher bei ähnlichen Gelegenheiten nicht denselben Standpunkt eingenommen hat, den man heute einzunehmen beliebt. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Ich erinnere daran, daß wir bereits am 19. Januar 1904 hier eine Interpellation der sozialdemokratischen Partei verhandelt haben, die sich ebenfalls mit Ausweisung russischer Staatsangehöriger befaßte, und zwar mit solchen, die durch die preußische Regierung bezw. das Berliner Polizeipräsidium angeordnet worden waren. Damals nahm der Herr Staatssekretär des Auswärtigen Amts2 ausdrücklich Veranlassung, in mehrfachen Reden auf die von uns gemachten Erörterungen einzugehen. Wir haben weiter in den Tagen am 27. und 29. Januar 1904, und endlich vom 15. bis 17. März 1905, also während weiterer fünf Tage, hier ebenfalls denselben Gegenstand in größter Länge und Breite behandelt3, wobei nicht allein der Herr Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, sondern auch der Herr Reichskanzler selbst Veranlassung genommen hat, in die Debatte einzugreifen, um die Maßnahmen, die damals die preußische Regierung getroffen hatte, und die von unserer Seite bekämpft wurden, zu rechtfertigen. Wie danach die Herren heute, nachdem sie bereits zu drei verschiedenen Perioden im Reichstag eine und dieselbe Angelegenheit erörtert haben, dazu kommen, die Beantwortung unserer Frage wegen Kompetenzbedenken abzulehnen, verstehe ich nicht. Dazu kommt noch ein anderes, meine Herren. Gewiß, wir werden nicht 1 2 3
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Bernhard von Bülow. Oswald Freiherr von Richthofen. Siehe hierzu Nr. 41 in Band 7/2 dieser Ausgabe.
51 Unglaublicher Polizeiwillkür
entgegentreten!
bestreiten, die Ausweisungsfrage ist zunächst eine Angelegenheit der Einzelstaaten. Sie ist geregelt durch die einzelstaatlichen Gesetze bezw. Verordnungen. A b e r es kann doch keinem Zweifel unterliegen, daß die A r t und Weise, wie die Ausweisung von Ausländern von den einzelnen deutschen Staaten behandelt wird, unter Umständen zu Konflikten mit dem Ausland führen kann und wird. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Es ist sogar selbstverständlich, daß, wenn das Ausland glaubt, in bezug auf die Behandlung seiner Staatsangehörigen durch irgend einen deutschen Staat Klage erheben zu müssen, der betreffende Staat nach der Organisation des Reichs gar nicht in der Lage ist, sich an den betreffenden Einzelstaat direkt zu wenden, im gegebenen Fall also an Preußen, sondern daß dieser fremde Staat genötigt ist, sich an die Vertretung des D e u t schen Reichs, den deutschen Reichskanzler wenden zu müssen; und, meine Herren, wenn dann der deutsche Reichskanzler in einem solchen Fall verpflichtet ist, die Handlungen der einzelstaatlichen Behörden und Regierungen zu vertreten und zu verantworten, und die Konsequenzen aus einer derartigen Handlungsweise eines Einzelstaats gegebenenfalls das Deutsche Reich zu tragen hat, dann kann kein Zweifel bestehen, daß wir als Vertreter des deutschen Volks jeden Augenblick nicht nur berechtigt sind, bezügliche Anfragen auf solche Ausweisungen zu stellen, sondern daß wir auch die Erwartung hegen dürfen, daß die verbündeten Regierungen bezw. der Reichskanzler auf derartige Anfragen aus der Mitte des Reichstags die entsprechende A n t w o r t gibt. (Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) Das ganze Verfahren des Reichskanzlers zeigt nach meiner Meinung nichts anderes als eine Geringschätzung der Stellung des Deutschen Reichstags, und wir haben alle Ursache, uns gegen eine derartige Geringschätzung zu wenden. M e i n e Herren, es kann sein, daß, wenn eine andere Partei, eine bürgerliche Partei - sagen wir, das Zentrum - eine ähnliche Interpellation gestellt hätte, sie beantwortet worden wäre. Ich bin sogar fest überzeugt, daß, wenn sie das Z e n t r u m gestellt hätte, wir die A n t w o r t nicht bekommen hätten, die wir heute gehört haben. A b e r das ist für uns gleichgültig. H i e r stehen wir als gleichberechtigte Partei im Reichstage, und diejenige Partei, die es für notwendig und angemessen hält, eine Frage wie die vorliegende an den Reichskanzler zu stellen, kann auch billigerweise verlangen und muß verlangen, daß eine sachliche und ausführliche A n t w o r t auf ihre Interpellation gegeben wird. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) M e i n e Herren, wie schon gesagt, haben die Ausweisungsfragen seitens der preußischen Behörden gegen russische Staatsangehörige uns eine ganze Reihe von Sitzungen beschäftigt, und wir werden uns heute trotz der gehörten Erklärung nicht abhalten lassen, sie abermals zur Sprache zu bringen. 29
51 Unglaublicher Polizeiwillkur entgegentreten!
Meine Herren, es ist eine bekannte Tatsache, daß die meisten Staaten, soweit nicht durch besondere Verträge das ausgeschlossen ist, - und ich will hinzufügen, daß das Deutsche Reich selbst mit einer Reihe ausländischer Staaten Verträge abgeschlossen hat, auf Grund deren die Ausweisung Deutscher in jenen fremden Staaten und der Angehörigen jener fremden Staaten in Deutschland unmöglich ist - , ich sage, es ist bekannt, daß, soweit solche Verträge nicht existieren, die Staaten sich das Recht vorbehalten, ihnen unbequem werdende Ausländer aus ihrem Staatsgebiete auszuweisen. Ich mache dagegen darauf aufmerksam, daß es z.B. in dem Vertrag mit Tonga von 1876 heißt: Den Angehörigen beider vertragschließenden Teile soll in beiden Ländern der vollständigste und immerwährende Schutz ihrer Person und ihres Eigentums zuteil werden. Sie werden in dieser Beziehung die gleichen Rechte und Vorteile genießen wie die eigenen Angehörigen.1578^ Auf Grund dieser Bestimmungen des Freundschaftsvertrages mit Tonga wäre also die Ausweisung Deutscher aus Tonga und umgekehrt die Ausweisung von Tongalen aus Deutschland unmöglich. Ganz ähnliche Verträge haben wir abgeschlossen mit Hawai, Mexiko und dem Kongostaat. So heißt es in dem Freundschafts-, Schiffahrts- und Konsularvertrag zwischen dem Deutschen Reiche und Hawai von 1879: Die Angehörigen jedes der beiden vertragschließenden Teile sollen überall in beiden Gebieten sich aufhalten und wohnen dürfen und sollen vollkommenen Schutz für ihre Person und ihr Eigentum genießen. [578bl Eine ganz ähnliche Vertragsbestimmung ist mit der Republik Guatemala abgeschlossen. Eine weitere ähnliche Bestimmung ist enthalten im Handelsvertrag mit Japan, in dem es ausdrücklich heißt: Die Angehörigen eines jeden der beiden vertragschließenden Teile sollen volle Freiheit genießen, die Gebiete des anderen vertragschließenden Teils zu betreten, zu bereisen oder sich daselbst niederzulassen. Sie sollen vollkommen uneingeschränkten Schutz für ihre Person und ihr Eigentum genießen.t578c' Tatsächlich haben wir also mit einer Reihe von Staaten Verträge abgeschlossen, auf Grund deren Ausweisungen überhaupt undenkbar und ungesetzlich wären. Es ist nun ohne weiteres zuzugeben, daß in dem Art. 1 des deutsch-russischen Handels- und Schiffahrtsvertrages[579] die von dem Herrn Staatssekretär Grafen v. Posadowsky vorgetragene Schlußbestimmung enthalten ist, wonach die beiden vertragschließenden Teile ihr gegenseitiges Einverständnis darüber aussprechen, daß durch die vorstehenden Bestimmungen die besonderen Gesetze, Erlasse und Verordnungen auf dem Gebiete des Handels, Gewerbes und der Polizei nicht berührt werden, welche in jedem der beiden vertragschließenden Länder gelten oder gelten werden und auf alle Ausländer Anwendung finden. 30
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Aber, meine Herren, der eigentliche Hauptinhalt dieses Artikels lautet folgendermaßen: Die Angehörigen eines der beiden vertragschließenden Teile, welche sich in dem Gebiet des anderen Teiles niedergelassen haben oder sich dort vorübergehend aufhalten, sollen dort im Handels- und Gewerbebetriebe die nämlichen Rechte genießen und keiner höheren oder anderen Abgabe unterworfen werden als die Inländer. Sie sollen in dem Gebiet des anderen Teils in jeder Hinsicht dieselben Rechte, Privilegien, Freiheiten, Begünstigungen und Befreiungen haben wie die Angehörigen des meist begünstigten Landes. Diese letztere Bestimmung wird alsdann durch die vorhin von mir vorgetragenen Schlußsätze allerdings in einem gewissen Sinne eingeschränkt. Aber, meine Herren, ganz zweifellos ist, daß auf Grund dieses Art. 1 des russisch-deutschen Handelsvertrags die russischen Staatsangehörigen das Recht haben, sich in Deutschland niederzulassen, sich hier dauernd oder vorübergehend aufzuhalten, Handels- und Gewerbebetrieb mit dem nämlichen Recht auszuüben, wie das bei einem Deutschen der Fall ist, wie umgekehrt deutsche Staatsangehörige das Recht haben, dieselben Rechte in Rußland ihrerseits auszuüben. Dieses Kardinalrecht besteht, und es wird auch respektiert. Nur insoweit, als man glaubt, daß die betreffenden Ausländer Individuen seien, von denen der Staat aus irgend einem Grunde nichts wissen mag, läßt man gegebenenfalls eine Ausweisung zu. Im allgemeinen, meine Herren, wird dort, wo das Recht der eventuellen Ausweisung gegenseitig zugestanden ist, die auch in dem Vertrage zwischen Deutschland und Rußland zugegeben ist, das Recht der Ausweisung in der Hauptsache ausgeübt bei einem Ausländer, der in der Lage sich befindet, öffentliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen, oder vor der Gefahr steht, in eine solche Lage zu geraten. Im weiteren werden Ausländer ausgewiesen, die sich Handlungen zu schulden kommen lassen, die nach deutschem Recht als Vergehen und Verbrechen angesehen und dementsprechend bestraft würden, auch wenn diese Vergehen und Verbrechen selbst nicht innerhalb des Deutschen Reichs in einer gewissen Zeit verübt wurden. Es ist das eine Bestimmung, die man innerhalb einer gewissen Grenze mit der Bestimmung des § 3 des Freizügigkeitsgesetzes identifiziert, wonach leider bei uns in Deutschland auch noch die Möglichkeit besteht, daß Leute, die wegen eines Vergehens oder eines Verbrechens in einem Staate bestraft wurden, aus gewissen Bezirken dieses Staats und anderen deutschen Staaten ausgewiesen werden können. Wir haben den ungeheuerlichen Zustand, z.B. in Preußen und in Sachsen, daß der eigene Staatsangehörige, wenn er, z.B. ein Preuße in Berlin, auf Grund eines Eigentumsvergehens eine bestimmte Strafe erhalten hat, er auf Grund eines Gesetzes von 1842 aus Berlin und aus jedem beliebigen anderen Orte Preußens ausgewiesen werden 31
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kann, wo die betreffende Polizeibehörde seine Anwesenheit als für die öffentliche Ordnung gefährlich erachtet. Ganz ähnliche Bestimmungen haben wir ja leider auch in Sachsen. Soweit also derartige Bestimmungen heute innerhalb des Reichs selbst gelten, wird man sich allerdings nicht wundern dürfen, daß, soweit Ausländer mit ähnlichen Verbrechen und Vergehen in Frage kommen, bei ihnen die Ausweisung ohne weiteres eintritt. - Endlich weist man Ausländer aus, die sich aus irgend einem Grunde politisch mißliebig gemacht haben. Nun hat aber in bezug auf die Ausweisungen die Polizei in den meisten Staaten leider ein außerordentlich weitgehendes Recht. Der terminus technicus in diesem Falle lautet: der betreffende Ausländer hat sich lästig gemacht. Wodurch er sich lästig gemacht hat, das ist ganz in das Ermessen der betreffenden Polizeibehörden gestellt. Sie weisen ihn nach ihrem Gutdünken aus, und wenn er, wie ich das nachher an einer Reihe von Beispielen nachweisen werde, verlangt, daß er doch mindestens die Gründe erfahren möge, die zu seiner Ausweisung Veranlassung gegeben haben, damit er zu prüfen imstande ist, ob ein Recht zu einer derartigen Handlung vorliegt, d.h. ob nicht die Polizeibehörde selbst in bezug auf die angebliche Qualifikation des Ausländers getäuscht worden sei, also einen Schritt getan habe, den sie bei näherer Kenntnis der Sachlage nicht getan haben würde, so wird in fast allen Fällen dem betreffenden Ausländer erklärt: du hast keinen Anspruch darauf, die Gründe kennen zu lernen, wir haben keine Verpflichtung, dir das zu sagen, wir halten es für gut, dich auszuweisen, und damit basta! (Hört! hört! links.) Mit anderen Worten, man kann sagen: die Polizei befindet sich noch heute mitten in unserem konstitutionellen Staatsleben in der Stellung der absoluten Könige, die seinerzeit den Wahlspruch hatten: car tel est notre plaisir - wir machens, wie es uns beliebt. Sie kann Existenzen ruinieren, sie kann den schwersten Schaden anrichten, sie kann ganze Familien ins Unglück stürzen - das ist völlig gleichgültig, da kommt weder Humanität noch Christentum noch Gerechtigkeit in Frage. Die Polizei hat die Meinung gegen die Person: dich wollen wir nicht, dich mögen wir nicht, mach daß du fort kommst! Und der Betreffende ist außerstande, sich irgendwie dagegen wehren oder auch nur verteidigen zu können. Um nun einigermaßen dieses Recht der absoluten Willkür einzudämmen, und weil man doch anerkennen muß, daß bei den ungemein verzweigten und verwickelten internationalen Beziehungen in Handel und Verkehr, namentlich auch in dem Verkehr der Menschen untereinander, es ganz undenkbar ist, daß in der Art früherer Zeiten die Grenzen des Landes gegen Ausländer abgeschlossen werden, so hat man zu dem Mittel gegriffen, auf Grund der Handels-, Schifffahrts-, Freundschaftsverträge, oder wie dieselben heißen, Bestimmungen aufzunehmen in die Verträge, wie ich ähnliche hier vorgetragen habe. 32
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N u n sind ja, wie ich schon mehrfach hervorgehoben, in besonderem M a ß e es die Angehörigen des russischen Reichs, die derartigen Verfolgungen im preußischen Staat ausgesetzt sind. Ich betone ausdrücklich: im preußischen Staat. D e n n mit denselben Gründen, mit denen die Berliner und andere preußische Polizeiorgane des preußischen Staats russische Angehörige des Landes verweisen, k ö n n t e auch eine ganze Reihe anderer deutscher Staaten zu denselben Maßregeln greifen: Sachsen, Bayern, Württemberg, Baden, Hessen, Elsaß-Lothringen usw. E s ist ja nicht zu bestreiten: wir befinden uns im Augenblick in gewissem Sinne unter einer Invasion gewisser Teile der russischen Bevölkerung nach dem Westen. Diese Invasion geht nicht allein nach Deutschland, sie geht auch nach den weiter gelegenen westlichen und südeuropäischen Staaten. Sie geht nach Ö s t e r reich-Ungarn, nach Italien, nach der Schweiz, nach Frankreich, nach Belgien, nach England, ja, wie ich aus einer ganzen Reihe persönlicher Erfahrungen weiß, sogar in h o h e m Grade nach den Vereinigten Staaten. Diese Invasion ist, wie nicht bestritten werden kann und nicht bestritten werden soll, das Werk oder die F o l g e der Ereignisse, die sich in den letzten Jahren in Rußland zugetragen haben, der kriegerischen und der revolutionären Ereignisse. Diese veranlaßten nicht nur Tausende, sondern Zehntausende russischer Staatsangehöriger aus allen Klassen der Bevölkerung, nach dem Westen zu gehen und dort vorläufig Schutz und U n t e r k u n f t zu suchen. M a n hat in den letzten Tagen wiederholt in den Zeitungen gelesen, daß sich insbesondere hier in Berlin seit etwa zwei Jahren 6- bis 7000 russische Staatsangehörige angesammelt hätten, von denen ein sehr großer Teil der jüdischen Rasse angehört. Meine Herren, wir wissen, daß bei der Stimmung, die in weiten Kreisen des deutschen Volks in bezug auf die Juden vorhanden ist, ganz besonders unangenehm die Anwesenheit dieser russischen Juden vermerkt wird. Wir haben schon neulich aus der Mitte des Reichstags heraus von einem der H e r r e n der R e c h t e n es offen aussprechen hören, es sei eine Notwendigkeit, dieses fremde Volkselement vom deutschen B o d e n fernzuhalten. 3 1 (Sehr richtig! rechts.) A m E n d e sind sie uns aber nicht fremder als die Nationalrussen, Mongolen, Japaner usw., die auch in mehr oder weniger großer Zahl bei uns wohnen und sich ihres Lebens ungeniert erfreuen. D a ß nun die J u d e n in besonderem Maße nach dem Westen gekommen sind, das hat seine sehr natürlichen Gründe. Meine Herren, Sie wissen, daß in Rußland in den verschiedensten Distrikten, in denen hauptsächlich J u d e n
wohnen,
furchtbare Judenverfolgungen ausgebrochen sind, die in bezug auf ihre Brutalität und Grausamkeit genau denen entsprechen, die wir vor vier bis sechs J a h r h u n 3a
Siehe hierzu Nr. 20/III in Band 3 dieser Ausgabe.
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derten auch in Deutschland und im ganzen übrigen Europa durchzukosten gehabt haben. (Sehr richtig! links.) In dieser Beziehung unterscheidet sich ein Teil des russischen Volkes in seiner Kultur durchaus nicht von demjenigen Kulturzustand, den wir in Deutschland und anderen europäischen Staaten vor vier bis sechs Jahrhunderten eingenommen haben. Es ist nun selbstverständlich, daß diese jüdischen Männer, Frauen, Familien, um ihr Leben und ihr Eigentum zu retten, in ihrer Verzweiflung die Flucht nach dem Westen ergriffen haben, und daß sie dabei zunächst auf dem Boden Halt machen, der ihnen über ihr eigenes Vaterland hinaus der nächste ist, der deutsche. Nun aber gehören zu diesen Personen Angehörige aller Klassen: Kaufleute, Fabrikanten, Gutsbesitzer, Gelehrte, Künstler, Studenten, Handwerker, Händler, Arbeiter, Dienstboten usw. usw.; nicht eine einzige Schicht der russischen Gesellschaft ist bei dieser Flucht unbeteiligt, samt und sonders haben sie aus den eben angedeuteten Gründen es für angemessen erachtet, nach dem Westen zu gehen. Es muß hierbei hinzugefügt werden, daß sich darunter eine unverhältnismäßig große Zahl studierender Männer und Frauen befindet, weil eben seit Jahr und Tag fast alle Hochschulen im russischen Reich infolge der inneren Unruhen geschlossen sind, und die Studierenden selbstverständlich ein Bedürfnis haben, ihre Studien an den wissenschaftlichen Anstalten Deutschlands, die außerdem durch ihren Ruf als vorzüglich bekannt sind, fortzuführen. Was speziell die russisch jüdischen Arbeiter betrifft, die besonders zahlreich z.B. hier in Berlin vertreten sind, so erklärt sich das ebenfalls sehr einfach. Einmal sind die Juden - Sie mögen sonst über sie denken, wie Sie wollen - eine intelligente Rasse, die an Kultur und Bildung auch als Arbeiter durchschnittlich dem russischen Arbeiter überlegen ist. Und ein zweites: die große Mehrzahl dieser russischen Arbeiter versteht im Gegensatz zu den eigentlichen nationalrussischen Arbeiter die deutsche Sprache; er hat also in der deutschen Sprache das Mittel, sein Fortkommen bei uns leicht zu sichern, was der ungeheuren Mehrzahl der russischen Arbeiter nicht möglich ist. Dazu kommt, daß insbesondere auch große Mengen russisch-deutscher Arbeiter aus den russischen Ostseeprovinzen hierher gekommen sind, die, wie die Herren aus dem Osten speziell wissen werden, in besonderem Maße der deutschen Sprache mächtig sind. Die eben angeführten Ursachen sind also die natürlichen Erklärungsgründe, daß diese Massen Russen und speziell russischer Juden nach Deutschland kamen. Wer nun aber glauben oder behaupten sollte, daß diese Elemente vielleicht mit wenig Ausnahmen revolutionäre Elemente seien, Elemente, die sich an der russischen Revolution in der einen oder anderen Form beteiligt hätten und aus diesem Grunde genötigt gewesen wären, ihr Heimatland zu verlassen, der irrt sich gewaltig! (Sehr richtig! links.) Ich kann Ihnen sagen: diejenigen russischen 34
51 Unglaublicher Polizeiwillkür entgegentreten! M ä n n e r und Frauen, die bei der Volksbewegung in den letzten Jahren sich beteiligt haben, wissen ganz genau, daß, wenn sie ihre Wege nach Deutschland führten, um hier irgendwie nur einigermaßen dauernd Aufenthalt zu nehmen, ihnen speziell in Preußen jede M i n u t e die Schlinge jenes traurigen russischpreußischen Ausweisungsvertrages v o m Jahre 1881 [ 5 8 0 1 am Halse sitzt. (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Diese wissen ganz genau, daß sie hier keinen Tag in Sicherheit sind. Sie sind im Gegenteil alle bestrebt, so eilig wie möglich die preußisch-deutsche G r e n z e zu verlassen, und ich mache gar kein Geheimnis daraus, daß wir Sozialdemokraten es bisher als eine unserer Hauptaufgaben betrachtet haben, M ä n n e r und Frauen dieser Art, die nach Deutschland k o m men, mit Mitteln auszustatten, um ihnen möglich zu machen, so rasch wie möglich die deutsche G r e n z e hinter sich zu bringen. Also diese A r t von russischen Staatsangehörigen ist in diesem Augenblick - darauf kann ich Ihnen mein W o r t geben - hier in Berlin und in Preußen so gut wie nicht vertreten. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) D a m i t soll freilich nicht gesagt sein, daß es nicht trotzdem zahlreiche russische M ä n n e r und Frauen gegenwärtig hier gibt, die sozialdemokratische Gesinnung haben. Aber, meine Herren, wenn das bereits genügen sollte, sobald die Polizei auf irgend einem Wege Kenntnis erlangt, jemand auszuweisen, weil er eine politische Gesinnung besitzt, die der Staatsgewalt nicht genehm ist, dann wäre das allerdings eine Handlungsweise, die mit den Begriffen eines Kulturstaats, der wir doch sein wollen, in schneidendem Widerspruch stände. (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Ich konstatiere aber zunächst, daß das Berliner Polizeipräsidium, und nicht allein dieses, sondern auch die verschiedenen Polizeibehörden in der Umgegend von Berlin, mit einer wahren Begeisterung eingetreten sind für die absolute Gleichheit in der Verhandlung der russischen Staatsangehörigen. Bankiers, F a brikanten, Kaufleute, Gutsbesitzer, Gelehrte, Studierende, Händler, D i e n s t b o ten, Arbeiter sind ohne Unterschied der sozialen Stellung, ohne Ansehen der Person ausgewiesen worden, ohne daß ihnen auch nur das geringste in bezug auf politische Betätigung oder sonst eine Handlungsweise, die den hiesigen B e h ö r den unbequem hätte sein können, nachgewiesen werden kann. J a man ist sogar so weit gegangen, daß man eine fünfundsiebzigjährige Dienstmagd, die seit mehr als zwanzig Jahren bei einer deutschen Familie das Gnadenbrot ißt, weil sie über 50 J a h r e bei ihr in Stellung war, ausgewiesen hat. ( H ö r t ! hört! bei den Sozialdemokraten. - Zuruf rechts.) -
G e w i ß , die Ausweisung wurde wieder zurückge-
n o m m e n . A b e r traurig genug, H e r r von Oldenburg, daß derartige Dinge passieren können; denn das beweist doch nur die bodenlose Leichtfertigkeit, mit der die Berliner Polizei über Leben und Existenz der Menschen verfügt. (Lebhafte 35
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Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Ich werde nachher noch andere Fälle nachweisen, die ebenfalls beweisen, mit welchem Mangel an Gewissenhaftigkeit - um mich nicht anders auszudrücken - die Berliner Polizeibehörde über die Existenz der Ausländer hier verfügt. Diese Menschen werden tatsächlich wie Nullen behandelt, als Wesen, denen in keiner Beziehung eine Berechtigung zur Existenz zusteht, die man einfach nach seinem bon plaisir ausweist, ganz wie man es für gut erachtet. Daß diese Maßnahmen in den preußischen Junkerkreisen besonderen Beifall finden, entspricht der Natur der Herren, wie sie sich seit Jahrhunderten in Deutschland und speziell in Preußen entwickelt hat. (Zustimmung links.) Weiter, meine Herren, in Schöneberg, der Nachbarstadt Berlins, ist sogar ein vielfacher russischer Millionär ausgewiesen worden, der der größte Holzhändler der Welt, wie die Zeitungen behaupten, sein soll und viele Tausende deutscher Arbeiter beschäftigt. Es ist weiter vom Β erliner Polizeipräsidium - um nur einige Beispiele anzuführen - der russische Geheime Hofrat Dr. Schwarz ausgewiesen worden, ein Mediziner von Ruf, der sich studiumshalber hier aufgehalten hat. (Hört! hört! links.) Welche soziale Bedeutung ein großer Teil der Elemente besitzt, die hier aus Rußland in Berlin sich für kurze Zeit aufhalten, mag weiter die Tatsache beweisen, daß nach Versicherungen liberaler Zeitungen die Depots der russischen Flüchtlinge in den Berliner Banken die kolossale Summe von }A Milliarden Mark, also von 750 Millionen betragen. Trotz alledem ist ein ganzer Teil dieser materiell und finanziell potenten Personen ausgewiesen worden, vor denen die bürgerliche Gesellschaft bekanntermaßen einen ganz besonderen Respekt besitzt. Diese sind ja die eigentlichen Musterbürger, welche den gefüllten Geldsack aufmachen können, - und denen ein Haar zu krümmen, hat von jeher als ganz besonderes Verbrechen gegolten; aber dieses Verbrechen hat sich die Berliner Polizei zu schulden kommen lassen. Weiter wird zum Beweise, mit welcher Leichtfertigkeit vorgegangen wird, folgendes angeführt. Vor einiger Zeit erschien ein begüterter Russe mit seiner Gattin, die in einer hiesigen Klinik sich einer Operation unterzogen hatte. Nachdem die Frau geheilt war, was einige Wochen in Anspruch nahm, reisten die Eheleute wieder nach Rußland zurück, und zwar nachdem sie, wie es in dem Blatt, aus welchem ich zitiere, heißt, hier in Berlin sehr namhafte Einkäufe gemacht hatten. Sie können sich die Überraschung vorstellen, als dieser, einer reichen russischen Familie angehörige Herr kürzlich, nachdem er aber bereits wochenlang abgereist war und wieder in seiner Heimat weilte, von seinen hiesigen Mietsleuten die Nachricht bekam, daß nachträglich eine Ausweisungsorder von der Polizei für ihn und seine Frau eingegangen sei. (Hört! hört! und Heiterkeit bei den Sozialdemokraten.) Wenn das nicht Leichtfertigkeit, ja Ge36
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wissenlosigkeit in höchster P o t e n z ist, dann weiß ich nicht, für welche Handlungen derartige Bezeichnungen erfunden sind. (Sehr richtig! links.) E s zeigt sich, daß wir in der Tat hier Zustände haben, die man in einem Kulturstaat für nicht möglich halten sollte. Ich muß eins sagen: ich wundere mich nur, wie die russische Botschaft es mit ihrer Stellung zum Schutze russischer Staatsangehöriger vereinigen kann, ein derartiges Treiben und eine derartige Handhabung der Ausweisungsbestimmungen gegen durchaus unbescholtene, nach jeder Richtung hin unangreifbare russische Staatsangehörige zu dulden. (Sehr richtig! links.) M e i n e Herren, in welchem M a ß e die Maßregeln die E m p ö r u n g selbst in sehr friedlichen Bürgerkreisen wachrufen, zeigt ein Beschluß, den vor einigen Tagen die Berliner Handelskammer gefaßt hat. Dieselbe erklärt in einer Resolution: D i e neuerdings verfügten Ausweisungen in Preußen, die namentlich viele Angehörige der russischen Nationalität betroffen haben, ziehen eine Schädigung wirtschaftlicher Interessen nach sich. -
Das ist natürlich das Böseste, was nach
Ansicht dieser K a m m e r passieren kann. - D i e K a m m e r beschließt daher, bei der Regierung dahin vorstellig zu werden, daß bei den Ausweisungen, die nicht aus politischen Rücksichten als notwendig angesehen werden, Rücksicht auf die gefährdeten Interessen von Handel und Industrie genommen werde. Ausweisungen aus politischen Rücksichten gibt man also von vornherein preis. H a t ein M a n n eine Stellung, die der Polizei aus politischen Gründen nicht behagt, - den hinauszuwerfen, dem die Existenz zu ruinieren, dagegen hat die Berliner Handelskammer nichts; aber wenn man eine große Zahl reicher Leute, Handeltreibende, Kaufleute, Fabrikanten usw. ausweist, dann erscheint das der Handelskammer Berlins außerordentlich bedenklich. In ganz ähnlicher Weise hat sich der Verein der Berliner Kaufleute und Industriellen ausgesprochen. M e i n e Herren, es erfolgen aber auch die Ausweisungen mit außerordentlichem Rigorismus. In vielen Fällen werden den Betreffenden 3 Tage, 8 Tage, 14 Tage, allenfalls auch 4 W o c h e n , in ganz außerordentlichen Ausnahmefällen auch einmal ein paar M o n a t e Frist gegeben, um ihre Verhältnisse zu ordnen; dann aber müssen sie über die Landesgrenze sich hinausmachen. D i e Folge davon ist vor allen Dingen die Zerstörung wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse in einem ganz unverhältnismäßigen Grade. D u r c h diesen Rigorismus und die Masse der Ausweisungen werden die Leute in die schwierigste Lage gebracht. An einer ganzen Reihe von Personen, deren Akten zu lesen ich Gelegenheit hatte - ich habe mehr als 4 0 verschiedene Ausweisungsakten bei einem mir befreundeten Rechtsanwalt zu lesen bekommen - , habe ich gesehen, daß unter den 4 0 verschiedenen Ausweisungsordres, die zum Teil sich auf Familien bezogen, nur drei sich befanden, bei denen der G r u n d zur Ausweisung angegeben war: in einem Falle geschah es wegen Eigentumsvergehen, in einem anderen wegen Unterschlagung, 37
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in einem dritten wegen eines Sittlichkeitsvergehens, also Fälle, in denen auch in Deutschland selbst deutsche Staatsangehörige ausgewiesen werden können. Die genannten Vergehen lagen aber eine geraume Reihe von Jahren zurück und außerdem hatten die Leute in dem Augenblick, wo sie die Ausweisung traf, in einer unbestreitbaren Weise eine soziale Existenz erlangt, die sie vor jeder Gefahr der Verarmung schützte und ihnen die Möglichkeit gab, wenn sie in derselben verblieben, wieder sich zu ehrlichen Menschen emporzuarbeiten. Ich meine, in einem solchen Falle wäre es schon Christenpflicht der Polizei, eine solche Existenz nicht zu zerstören, sondern im Gegenteil sich zu freuen, daß diesen Leuten Gelegenheit gegeben ist, sich wieder emporzuarbeiten. Haben doch selbst liberale Zeitungen in diesen Tagen anläßlich der Prozeßverhandlungen über den Raubmörder Hennig zugeben müssen, es könne nicht bestritten werden, daß dieser zweifellos intelligent veranlagte Mensch nicht zu dem Verbrecher geworden wäre, der er geworden ist, wenn nicht die sozialen Verhältnisse der Großstadt und die Art und Weise der Behandlung in den Gefängnissen usw. ihn dahin gebracht hätten. Meine Herren, ich erkläre, daß in allen den Ausweisungsakten, die ich eingesehen habe, auch nicht in einem einzigen Falle der Grund angegeben werden konnte, daß Gefahr bestehe, daß der Betreffende oder seine Familie der öffentlichen Unterstützung anheimfallen würde. Ohne Ausnahme befanden sich die Leute in Lagen, die sie in den Stand setzten, in auskömmlichem Maße entsprechend ihrer sozialen Stellung ihre materielle Existenz zu finden. Es darf daher auch nicht wundernehmen, daß das gewaltige Aufsehen, daß dieses Vorgehen der Berliner und der preußischen Behörden im Auslande und auch in Rußland hervorgerufen hat, die russische Presse veranlaßt, dafür zu agitieren, daß man die Handels- und Verkehrsbeziehungen zu Deutschland abbreche. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Es wird also mit diesen Maßnahmen das Gegenteil von dem erreicht, was der Handels- und Schiffahrtsvertrag mit Rußland erreichen soll. Wenn jemals eine Staatsbehörde durch ihre Handlungsweise bekundet hat, daß sie absolut nicht versteht, die eigenen Staatsinteressen und die der eigenen Bevölkerung zu wahren, so ist es die preußische Polizei mit ihren Maßregeln. (Lebhaftes Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Natürlich hat dieses Vorgehen lebhafte Aufregung und Proteste namentlich in allen zunächst beteiligten Kreisen hervorgerufen, und so haben besonders die Berliner jüdische Gemeinde und der deutsche Zweig der „Alliance Israélite Universelle" Veranlassung genommen, sich bei dem Minister des Innern für Preußen4 über dieses Vorgehen zu beschweren. Nun, der Herr Minister hat zwar 4 38
Theobald von Bethmann Hollweg.
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zugesagt, man werde mit möglichster Rücksicht verfahren und die Verhältnisse nach allen Seiten hin erwägen, um so wenig als möglich Schaden anzurichten; aber der ganze Inhalt seiner Ausführungen bekundet doch, daß sämtliche Russen, die sich seit 1904 hier in Berlin allmählich angesammelt haben, aus Preußen ausgewiesen werden sollen. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) E r hat sich nur bereit erklärt, er werde rechtzeitig den betreffenden Vereinigungen Mitteilungen machen, damit sie in der Lage seien, durch entsprechende materielle Hilfe die ausgewiesenen Familien in den Stand zu setzen, so gut als möglich ihre Reise unternehmen zu können. In besonderem Maße aber wendet sich der Minister gegen den Wunsch, daß die hierher zugezogenen russischen Arbeiter, auch wenn sie ausreichenden U n terhalt gefunden und einwandsfrei sich geführt haben, unter die Kategorie der hier in Betracht kommenden Personen mit aufzunehmen seien. Er will ja mit aller Vorsicht und Rücksicht vorgehen; aber hinaus müssen sie. Nun, wenn in G r o ß Berlin 6000 bis 7000 Arbeiter, meinetwegen lauter jüdische, sich angesammelt haben, so bedeutet das bei circa V4 Million Arbeitern in der Großstadt und ihrer Umgebung gar nichts. Mir ist es bis heute unmöglich gewesen, auch nur einen Fall ausfindig zu machen, in dem nachgewiesen werden konnte, daß ein russischer Arbeiter, einerlei ob Vollrusse oder Jude, sich der Lohndrückerei schuldig gemacht hätte und seine Arbeit unter Bedingungen begonnen hätte, die diejenigen eines Berliner Arbeiters verschlechtern mußte. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Das ist nicht der Fall. Solche Motive spielen natürlich auch bei der preußischen Polizei keine Rolle. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Dieselbe unterstützt es vielmehr mit aller Macht, wenn Zehntausende russischpolnischer Arbeiter im Osten alljährlich über die Grenze kommen, um unseren ostelbischen Gutsbesitzern für Hungerlöhne ihre Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. Dieselbe Polizei hat auch nicht das geringste einzuwenden, wenn die Vertreter der rheinisch-westfälischen Schlot- und Kohlenbarone ihre Agenten nach Galizien, Ungarn, Slavonien usw. schicken und von dorther Zehntausende von Arbeitern bei uns einführen mit der Absicht, sie für die deutschen Arbeiter als Lohndrücker zu benutzen (Sehr wahr! sehr richtig! bei den Sozialdemokraten), - M e n s c h e n von so außerordentlich tiefer Kulturstufe! - was natürlich nicht deren Schuld ist, sondern Schuld der Staaten, in denen sie erzogen worden sind. Die Polizei hat nichts dagegen, wenn Zehntausende dieser Menschen oft Schmutz starrend, in ihre neue preußische Heimat kommen; sie hat selbst nichts dagegen, wenn diese ekelhafte Krankheiten unter den deutschen Arbeitern verbreiten (lebhaftes Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten), wie z.B. die Wurmkrankheit. Sollte es einmal der Minister des Innern für Preußen wagen, von den Fabriken der rheinisch-westfälischen Kohlen- und Schlotbarone die ausländi39
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sehen Arbeiter in Rücksicht auf ihre Salubrität, dem Kultur- und Gesundheitszustand fernzuhalten, dann geht ein Donnerwetter auf ihn hernieder, daß er die letzte Zeit auf seinem Sessel geblieben wäre. (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Diese Kohlen- und Schlotbarone haben so viel Macht in den Händen, daß, sobald ihre Interessen in Gefahr waren, sie auch einen Ministerwechsel veranlassen können. Wir haben kein konstitutionelles System im Staate, aber ein kapitalistisches, und sobald diese kapitalistischen Interessen in Gefahr sind, kann auch ein Minister, ja, auch der K ö n i g nicht anders, als diesen Interessen gemäß zu handeln. (Sehr wahr! Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten, Widerspruch rechts.) [...] [ 5 8 , ] Ich k o m m e nun zu einem politischen Fall. Dieser betrifft den in Paris lebenden Schriftsteller - ich will hinzufügen: sozialdemokratischen Schriftsteller - Semenow. Dieser kam E n d e Januar nach hier und wollte in einer Versammlung seiner russischen Freunde einen Vortrag halten über die russische Freiheitsbewegung und die öffentliche Meinung Frankreichs. K a u m erfährt das die Polizei, so wird ihm O r d e r gegeben, binnen 24 Stunden den Staub von den Pantoffeln zu schütteln und den preußischen Staat zu verlassen. In der Ausweisungsorder heißt es: D a Sie als Ausländer ein Recht zum Aufenthalt in Preußen nicht besitzen, so werden Sie hierdurch ausgewiesen. N u n mache ich Sie mit folgendem bekannt: Semenow hatte bis dahin in Paris und zwar als sozialdemokratischer Schriftsteller gelebt; er war auch in Paris als Redner öffentlich aufgetreten. N a c h seiner Ausweisung aus dem preußischen Musterstaat ist er wieder nach Paris gegangen und lebt bis heute ungehindert dort. ( H ö r t ! hört! bei den Sozialdemokraten.) Frankreich ist bekanntlich der Bundesgenosse „Väterchens", Frankreich nimmt alle möglichen Rücksichten auf Rußland; aber, meine Herren, das ist in Frankreich, diesem „wilden L a n d e " , nicht möglich, daß dort ein Mann, weil er sich öffentlich als Sozialdemokrat bekennt, in sozialdemokratischen Versammlungen spricht und sozialdemokratische Artikel verfaßt, ausgewiesen wird. D a s kann nur im preußisch-deutschen Kulturstaate geschehen. (Sehr wahr! sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) N u r hier bringt man dergleichen fertig! Ich frage: was wäre passiert, wenn der Mann vor Russen in russischer Sprache den erwähnten Vortrag gehalten hätte, den kein deutscher Staatsangehöriger verstand, dem auch k a u m einer beigewohnt hätte? U n d daß er nicht so einfältig gewesen wäre, hier in Berlin die russische Revolution proklamieren zu wollen, darüber brauchen wir wohl nicht zu reden! Ich k o m m e nun zu einer Anzahl von Fällen, die Studierende der hiesigen Universität betreffen. Ich mache darauf aufmerksam: bei näherer Erkundigung waren die Tatsachen, die G r u n d zur Ausweisung gegeben haben sollen, zum Teil nur dadurch zu erfahren, daß bei persönlicher Vorsprache auf dem Polizeipräsi40
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dium der eine oder andere Beamte im Laufe der Unterhaltung sagte: „Hören Sie, Sie sind in einer sozialdemokratischen Versammlung gewesen, Sie waren am 21. Januar da und d a ! " Bei einem anderen war es der 18. März, daß er in einer sozialdemokratischen Versammlung gewesen sein sollte. Das hat dann genügt, um die Leute ohne weiteres auszuweisen! (Sehr richtig! rechts.) - Ja, H e r r v. O l d e n b u r g , wenn es nach Ihnen ginge, wären wir allerdings in Deutschland n o c h weit hinter Rußland zurück; Sie sind ja russischer als die Russen selbst! (Heiterkeit und sehr wahr! links.) Sie haben - das ist, was ich bei Ihnen anerkenne - aus Ihrem H e r z e n niemals eine Mördergrube gemacht; aber ein M ö r d e r wären Sie uns gegenüber, wenn Sie es sein könnten! (Heiterkeit links. Zuruf rechts.) - Das müssen Sie erst abwarten! D a sind weiter der Student Katzmann und Frau, die als lästige Ausländer E n d e April ausgewiesen wurden. D i e Ausweisung erfolgte von der Abteilung V I I , das ist diejenige, welche die politische Polizei repräsentiert. D i e Genannten waren seit einem Jahre hier; Katzmann wollte in diesem Semester in sein D o k t o r e x a m e n gehen. D e r Vater ist ein vermögender Kaufmann; er und seine Frau erhalten monatlich von elterlicher Seite 100 R u b e l Zuschuß. Ihm wurde auf Befragen nach dem G r u n d e seiner Ausweisung gesagt, er sei ein politisch tätiger Mann. E r protestiert auf das energischeste dagegen, daß er seine politische Gesinnung in irgend einer Weise bemerkbar gemacht habe. Es half nichts: er wird ausgewiesen! D a ist ferner der Student Simon Beletzki; dieser wurde am 17. April als „Politischer" ausgewiesen. A u f dem Polizeipräsidium wurde ihm gesagt, er sei vor einigen W o c h e n in einer sozialdemokratischen Versammlung gewesen. B e letzki erklärte: „das ist einfach nicht wahr; wer das sagt, der lügt; ich bin niemals in einer Versammlung in Berlin gewesen!" N a c h h e r hört er, er solle sogar in einer sozialdemokratischen Versammlung geredet haben. Darauf antwortet er: das sei ganz unmöglich, denn er verstehe so wenig deutsch, daß er auch nicht einen einzigen deutschen Satz korrekt aussprechen könne; die Beschuldigung sei nicht wahr, auch das sei gelogen, man denunziere ihn falsch. E s hat alles nichts geholfen! E r wurde ausgewiesen, obgleich er vom Unterrichtsminister 5 , v o m 10. April datiert, ausdrücklich die Aufnahme in die Technische H o c h s c h u l e zu Berlin erhielt, mit der Berechtigung zur Diplomprüfung. D e r Vater ist G r o ß grundbesitzer im Gouvernement Moskau, und dieser gab seinem Sohne, als er nach Berlin zu Studienzwecken reiste, 500 Rubel Reisegeld mit und hat in jedem M o n a t 2 0 0 M a r k Unterstützung geschickt. Meine Herren, das sind doch alles Fälle, in denen kein Mensch den leisesten G r u n d für eine Ausweisung finden wird können. (Sehr richtig! links.) 5
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Weiter ist hier der Kandidat der Medizin Kalmann Rabinowitsch; dieser erhielt am 30. März d.J. eine Strafe von 5 Mark, weil er eine Verordnung über Lustbarkeiten übertreten habe. Er hatte ein kleines Vergnügen unter seinen Landsleuten arrangiert. Dafür wurden ihm von der Polizei 5 Mark Strafe zudiktiert, und es wurde ihm weiter gesagt: nehmen Sie sich aber in acht; wenn Sie noch einmal in Konflikt mit uns oder dem Gericht kommen, werden Sie ausgewiesen. Er war nicht wieder in irgend einen Konflikt gekommen; trotz alledem erhielt er am 14. April die Ausweisungsorder für sich und seine Frau, binnen drei Tagen Berlin zu verlassen. Beide sind anderthalb Jahre hier. Rabinowitsch ist zur Zeit Famulus bei Professor Olshausen, seine Frau in gleicher Stellung bei Professor Westerhöfer; es sind also hochangesehene junge Leute, die bei ersten Männern an der Berliner Universität in Vertrauensstellungen sich befinden. Beide befinden sich auch in der Doktorarbeit. Es ist klar, daß, wenn sie die Doktorarbeit unterbrechen müssen, ihre ganzen Studien hier so gut wie zwecklos sind. (Hört! hört! links.) Wenn es nun, meine Herren, noch passiert, wie es in einer ganzen Reihe Fälle, die mir vorliegen, passiert ist, daß sie in der Matrikel der Universität gelöscht werden, und zu gleicher Zeit in das Abgangszeugnis geschrieben wird, daß sie aus Berlin ausgewiesen wurden (hört! hört! bei den Sozialdemokraten), dann können sie in ganz Deutschland vergeblich suchen, bei irgend einer Universität aufgenommen zu werden; sie können kein Examen mehr machen, ja nicht einmal eine Zulassung finden. Das ist das ganz besonders Grausame und Brutale, und derartige Fälle liegen mehrfach vor. Man hat sogar in einem Fall ohne weiteres, ehe noch die Beschwerde erledigt war, bereits seitens des Polizeipräsidiums Veranlassung genommen - und zwar trifft dies den Studenten Rappaport - , der Universitätsbehörde die Order zu geben, daß sie den Namen des Mannes in der Matrikel der Universität lösche, und daß außerdem die Tatsache der Ausweisung in sein Zeugnis geschrieben wurde. Auch im Falle Rabinowitsch war die Familie sozial durchaus sichergestellt. Der Mann hatte im Augenblick der Ausweisung die Doktorarbeit bei dem Professor Dr. v. Liszt aufgenommen. Seine Frau, die bereits 11 Semester hier Medizin studierte, war ebenfalls dabei, das Doktorexamen zu machen. Den Leuten wird also die ganze Existenz durch einen Federstrich der Polizei vernichtet, ohne daß auch nur der geringste Anlaß dazu vorliegt. Wenn solche Handlungen nicht aus Freude am Ruin, an der Vernichtung der Existenz geschehen, dann weiß ich nicht, was für ein Motiv für ein so unqualifizierbares Vorgehen vorhanden sein soll. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Ich will noch hinzufügen, daß die genannte Familie jeden Monat 200 Mark Zuschuß von zuhause bekam. Eine Frau Lemberk, geb. Lifschütz, wird am 25. April aufgefordert, binnen drei Tagen Berlin zu verlassen. Ihr Vater ist Großkaufmann in Odessa. Die Frau 42
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war seit 8 M o n a t e n hier; sie hat früher in Berlin jahrelang gelebt und ihre Studien betrieben. Ihr Mann hat in Berlin sein medizinisches Examen gemacht; er ist gegenwärtig A r z t in St. Petersburg. D i e Frau mit ihrer kranken Mutter und ihrem kleinen Kinde ist einfach von Petersburg weg in Rücksicht auf die U n r u h e n dort, sie wollen in ruhigen Verhältnissen leben, - und hier wurde sie jetzt ohne weiteres ausgewiesen. Keine dieser Personen - es sind Frauen - hat sich lästig gemacht; sie haben sich politisch nirgends betätigt. Trotz alledem fliegen sie hinaus. M e i n e H e r r e n , Sie werden mir bei aller Bereitwilligkeit, die vielleicht auch Ihnen unsympathischen Russen und namentlich russischen Juden soviel als möglich aus Deutschland herauszubringen, doch zugeben müssen, daß in all den Fällen, die ich vorgetragen habe, die auf G r u n d der Akten festgestellt sind, auch nicht ein einziger vorliegt, bei dem auch nur der Schatten einer Rechtfertigung einer Ausweisung vorhanden ist. (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) T r o t z alledem geht man wie geschildert vor. M e i n e Herren, ich bin der Ansicht: wenn es einen Staat in Europa, ja man kann sagen, in der Welt gibt, der in bezug auf die Behandlung von Ausländern mit einer gewissen Noblesse, mit einer gewissen Vornehmheit, wenigstens mit A n ständigkeit verfahren sollte, dann ist es das Deutsche Reich (lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten), dessen Angehörige zu Millionen und aber Millionen in allen Ländern der Welt die Gastfreundschaft in Anspruch nehmen. (Sehr wahr! sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, was sollte geschehen und was würden Sie sagen, wenn in ähnlichem M a ß , wie hier in Deutschland es Russen und anderen Ausländern passiert, mit unseren deutschen Staatsangehörigen im Ausland verfahren würde! Was würde da für ein Geschrei entstehen! U n d zweifellos sind mindestens so viel Gründe, wie hier in Berlin für die Ausweisung der Russen bestehen, auch für unsere deutschen Angehörigen im Ausland vorhanden, um sie aus den verschiedenen Staaten der Welt auszuweisen und ihnen zu sagen: macht, daß ihr nach Hause k o m m t ins Deutsche R e i c h ! (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Ich meine, schon diese einzige Tatsache sollte unsere Staatsmänner und ihre Untergebenen zur Besinnung bringen, was für Rücksichten sie aus Anstand Deutschland und der Welt schuldig sind. (Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) Als wir vor ein paar Jahren in den Terminen, die ich eingangs meiner R e d e erwähnte, hier die Ausweisungen erörterten, nahm der verstorbene H e r r Staatssekretär v. Richthofen am 19. Januar das W o r t und suchte die damals von uns getadelten Ausweisungen damit zu rechtfertigen, daß er erklärte, die gerügten Ausweisungen beträfen Anarchisten, und die meisten Staaten Europas seien übereingekommen, fremde Anarchisten nicht bei sich zu dulden und sie rücksichtslos auszuweisen. U n d , meine Herren, in ganz ähnlicher Weise erklärte auch 43
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Unglaublicher Polizeiwillkür
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Fürst Bülow am 29. Februar 1904 nach dem stenographischen Bericht, die moralische Pest des Anarchismus müsse bekämpft werden wie jede andere Seuche. U n d an einer anderen Stelle seiner Rede sagte er: Wir sind noch nicht so weit gekommen, daß wir uns von solchen Schnorrern und Verschwörern auf der Nase herumtanzen lassen.' 5821 N u n , meine Herren, ich habe damals erklärt, daß weder Silberfarb noch Mandelstamm noch andere Persönlichkeiten, die damals hier in Frage kamen, Anarchisten seien, daß sie teilweise Sozialdemokraten seien, daß mit nichts ihre anarchistische Gesinnung bewiesen werden könne.' 5 8 3 ' Aber man behauptete damals doch, es seien Anarchisten. N u n meine ich, freilich sollten Ausweisungen auch Anarchisten nicht betreffen, wenn sie nicht Handlungen begehen, die sie als wirklich staatsgefährlich erscheinen lassen. Aber, meine Herren, heute sind wir so weit gekommen, daß man gar nicht einmal den Versuch macht, zu behaupten, daß unter den Ausgewiesenen, die ich hier genannt habe, auch nur ein einziger Anarchist sei. (Sehr wahr! links.) Davon ist gar keine Rede. Keiner derselben hat sich politisch beteiligt. Ich wiederhole, der Besuch einer Versammlung als Zuhörer, der doch ebenso gut aus Neugierde als aus Uberzeugung stattfinden kann, kann doch unmöglich eine Ausweisung begründen. Was würde Herr v. Oldenburg sagen, wenn er mal nach Paris käme, und er hörte, daß irgendwo eine anarchistische Versammlung stattfinde, wenn er in diese Versammlung gehen würde - (Heiterkeit) so viel Interesse traue ich ihm zu - was würde er nun sagen, wenn dann die Pariser Polizei ihm erklärte: Hören Sie, Herr, Sie sind offenbar ein Anarchist, - und ihn auswiese? (Zuruf rechts.) - Ja, aber ärgern würde es Sie doch, und protestieren würden Sie auch dagegen und ganz mit Recht. Es kann ja sein — ich glaube es sogar - , daß nach dem, was seitdem bei uns passiert ist, Fürst Bülow die Rede nicht mehr halten würde, die er 1904 gehalten hat. Mittlerweile haben sich auch in bezug auf Rußland gewisse Anschauungen bei uns geändert; um so mehr aber muß ich fragen: Was haben aber diese Maßregeln für einen Zweck? Was will man damit? Will man Rußland damit ärgern? Das ist doch undenkbar. D e m offiziellen Rußland kann man höchstens mit den Ausweisungen bis zu einem gewissen Grade einen Gefallen tun. Oder will man ihm immer noch zu Gefallen sein? Ja, nach der Depesche Lamsdorffs' 5 7 5 ' und dem, was drum und dran hängt, was in und nach Algeciras' 5621 sich zugetragen hat, halte ich das für ganz unmöglich. Was bezweckt man also damit? Oder will man das Deutsche Reich vor einer Gefahr bewahren? Das wäre doch lächerlich! Was können denn die paar russischen Studenten und russischen Arbeiter dem Deutschen Reich für eine Gefahr bringen? Sie, meine Herren, haben doch außerdem Sozialdemokraten in Hülle und Fülle im Deutschen Reich, sogar millionenweise. (Heiterkeit.) 44
51 Unglaublicher Polizeiwillkür entgegentreten! D a b e i kann es doch auf die paar russischen Arbeiter und Studenten und Studentinnen ganz unmöglich ankommen. Gehen Sie einmal nach Italien, O s t e r reich, der Schweiz, Frankreich, England usw.! In keinem dieser Staaten werden Sie mir auch nur einen einzigen Fall nachweisen, w o Ausweisungen aus Gründen stattgefunden haben, wie sie hier von mir angeführt worden sind. W i e man in Osterreich über diese Frage denkt, möchte ich Ihnen aus dem offiziellen Bericht des Reichsrats v o m 26. Juni 1905 zeigen. Österreich ist mindestens so sehr wie Deutschland der Invasion der russischen Auswanderer ausgesetzt, ja, noch viel mehr. A n jenem Tage hatte mein Parteifreund Daszczynski eine Interpellation im Reichsrat eingebracht, worin er anfrug, wie das Ministerium zu den Einwanderungen der russischen Staatsangehörigen stehe. N u n bitte ich, mir zu erlauben, die kurze Rede des österreichischen Ministers des Innern Grafen B y l a n d t zu verlesen. Das ist eine Rede, die sich sehen lassen kann. Diese hat ein Ehrenmann gehalten. H u t ab vor diesem Grafen Bylandt, trotzdem er ein G r a f ist! (Heiterkeit.) D i e Rede lautet: H o h e s H a u s ! Seit zirka einem J a h r hat sich die Einwanderung aus Rußland in unsere Grenzländer, insbesondere in das Königreich Galizien, in auffallendem M a ß e vermehrt. D i e private Wohltätigkeit hat hier mit voller Kenntnis der Behörden eingegriffen, und es ist ihr gelungen, in sehr vielen Fällen den N o t s t a n d unter den Eingewanderten zu lindern und auch in den überwiegend meisten Fällen die Weiterreise der Eingewanderten möglich zu machen. 1 1 H i e r also begrüßt es ein Minister, daß man Mittel sammelte, um den A r m e n zu helfen, - bei uns werden Leute, die im Verdacht stehen, arm zu sein, hinausgeworfen. (Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) Weiter heißt es: D i e Behörden haben dort, w o sie gezwungen waren, die Fremdenpolizei und die Gesetze gegen Ausweislose anzuwenden, diese Gesetze stets in der rücksichtsvollsten Weise gehandhabt (hört! hört! bei den Sozialdemokraten) und haben in jedem einzelnen Falle auf die Bedeutung und auf das Individuelle des Falles R ü c k s i c h t genommen. E i n e Abschaffung an die russische G r e n z e hat in keinem Falle stattgefunden ( H ö r t ! hört! bei den Sozialdemokraten), und zwar schon mit Rücksicht darauf, daß das seinerzeit bestandene Deserteurkartell aufgehoben ist. Ich glaube, hier die Versicherung geben zu können, -
erklärt der H e r r Graf, - daß die Regierung und die Behörden, insbesondere
die B e h ö r d e n des Königreichs Galizien, die hier in erster Linie in Frage k o m m e n , den Einwanderern gegenüber stets mit der größten Humanität und Rücksicht vorgegangen sind ( H ö r t ! hört! bei den Sozialdemokraten), und daß sie daher einer besonderen Aufforderung, wie sie in dem hier zur Verhandlung stehenden Dringlichkeitsantrage gelegen ist, nicht bedurft hätten, 45
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um auch in Zukunft in gleicher Weise vorzugehend583^ (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Das ist die Antwort eines braven Mannes, bei dem das noblesse oblige etwas gilt. Er sagt: es sind arme Leute, wir freuen uns, wenn sie unterstützt werden, wir werden sie nicht ausweisen, wir werden jede Rücksicht gelten lassen, die wir als Menschen schuldig sind. Die Interpellation meines Parteigenossen Daszczynski hatte die Wirkung, daß, als der Präsident die Frage wegen der Besprechung an das Haus richtete, Daszczynski ausdrücklich auf das Wort verzichtete; die Interpellationsverhandlung hatte ein Ende, weil die Antwort nach jeder Richtung hin klipp und klar und zufriedenstellend ausgefallen war. Meine Herren, man vergleiche damit einmal das Verfahren bei uns! (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Hier wird nicht einmal eine Antwort erteilt auf die berechtigsten Anfragen; im österreichischen Reichsrat eine noble Erklärung des Ministers, die selbst die schärfste Oppositionspartei, die Sozialdemokratie, zufriedenstellt. Herr v. Oldenburg gehört ja auch zu den guten Christen. Herr v. Oldenburg wird, obgleich er ein Feind der Juden ist, doch das Alte Testament anerkennen. (Zuruf rechts. Heiterkeit.) - Sie sind kein Feind der Juden? Dann um so besser! Dann hören Sie mal, was im 3. Buch Mose, Kap. 19, Vers 33 und 34 steht: Wenn ein Fremdling bei euch in eurem Lande wohnen will, den sollt ihr nicht schinden, er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und sollt ihn lieben, wie ihr euch selbst liebt. Denn auch ihr seid Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der Herr, euer Gott, der so spricht. Ja, meine Herren, religiös sind die Herren von der Rechten bis auf die Knochen, und wenn einer von uns irgend einen Glaubenssatz in Frage stellt, so ist das in ihren Augen höchst unmoralisch. Aber wenn man nach der Betätigung ihrer religiösen Grundsätze im Leben und in der Praxis fragt, - ja, Bauer, dann sieht es ganz anders aus, dann stehen ihre Taten allzeit mit ihren christlichen Grundsätzen im schneidendsten, unvereinbarsten Widerspruch. (Lebhaftes Sehr wahr! Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, Sie werden uns nicht im Verdacht haben, wir seien Freunde der russischen Regierung. Also der russischen Regierung zu Liebe haben wir diese Interpellation wahrhaftig nicht gestellt; uns wäre es am liebsten, wenn noch heute der ganze russische Despotismus zusammenbräche und vernichtet würde. Aber wir sind Freunde des russischen Volkes und wollen nicht, daß zwischen dem russischen und dem deutschen Volk irgend welche Differenzpunkte vorhanden sind, die die gegenseitige Sympathie und Freundschaft abschwächen könnten. Wir haben daher das lebhafteste Interesse, daß wir den Russen, die zu uns kommen als Hilfesuchende, als geschützt sein Wollende, diesen Liebesdienst 46
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in allen Ehren und in aller Freundschaft erweisen, wie es einem anständigen Menschen und einem Kulturstaat zukommt. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Heute sind diese Männer und Frauen bei uns vogelfrei, rechtlos in jeder Beziehung. Die Polizeiwillkür entscheidet in unerhörter Weise; jeder, der eine Privatrache befriedigen will, braucht nur zu einem Polizisten zu gehen und ihm etwas zuzustecken, und er kann sicher sein, er erreicht seinen Zweck und kann einen Mann, eine Frau, eine ganze Familie unglücklich machen, indem in der gewissenlosesten Weise die Ausweisung erfolgt, ohne daß eine gewissenhafte Prüfung vorgenommen wurde. Ganz mit Recht sagte der Herr Abgeordnete Spahn am 19. Januar 1904: Der Ausländer genießt ja nicht den Schutz unserer Gesetze. Aber die Kulturanschauungen, die niedergelegt sind in unseren Verfassungen, die haben wir zu beobachten auch gegenüber dem Ausländer. (Sehr richtig! links und in der Mitte.) Wenn dieser auch keinen Rechtsanspruch gegen den Staat hat, so hat doch der Staat eine Pflicht gegen seine Ehre, sein Ansehen und gegen die allgemeinen Anschauungen. (Sehr richtig! links und in der Mitte. Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Wir sollten darüber einig sein, daß wir die feststehenden Kulturanschauungen auch dem Ausländer gegenüber zur Geltung zu bringen habend 84 ] Vollkommen richtig, meine Herren! Aber wie steht's in der Wirklichkeit! Wie? Das habe ich Ihnen gezeigt. In der Sitzung am 29. Februar 1904 sagte der Abgeordnete Schräder: Es ist eigentlich ein Stück alter Barbarei, das in unserem modernen Staatswesen existiert, daß ein Mann, der nicht zu unserer Nation gehört, hier eigentlich vogelfrei ist.'5851 (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Im weiteren hat sich der Abgeordnete Spahn am 15. März v.J. in der 164. Sitzung noch ausdrücklich auf seine verstorbenen Parteigenossen Windthorst und Lieber berufen, wie bereits der eine im Jahre 1874, der andere im Jahre 1899 hier im Hause nachdrücklich erklärten, daß sie dafür einträten, daß der Ausländer im Deutschen Reiche anständig behandelt werde. Ja, Lieber habe es geradezu als ein Naturrecht angesehen, daß der Fremde sich im Reich aufhalten könne. Meine Herren, wollen wir erreichen, daß bei uns in Deutschland der Fremde als ein Mensch behandelt wird, dann werden wir immer wieder ernsthaft die Frage anregen müssen, ob wir nicht alles aufzubieten haben, ein deutsches Fremdenrecht zu bekommen, das der Polizeiwillkür ein für allemal ein Ende setzt. (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Solange diese Sachen von der Polizei abhängen, solange die Polizei gewissermaßen die Macht hat, über Tod und Leben und über Existenzen zu entscheiden ganz nach ihrem Gutdünken, werden wir niemals zu diesem Zustande kommen, 47
51 Unglaublicher Polizeiwillkür entgegentreten! werden wir stets vor der ganzen Kulturwelt als die Blamierten, als die R ü c k s t ä n digen dastehen. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Ich habe vorhin erwähnt, daß der G r a f Bylandt im vorigen Jahre im österreichischen A b g e o r d n e tenhause erklärt habe, es sei nicht eine einzige Auslieferung vorgekommen. Meine H e r r e n , ich wollte, wir könnten dasselbe sagen. Leider nicht! Ich habe hier einen Auszug aus der „Rigaischen R u n d s c h a u " , also einem russischen Blatt, v o m 15. M ä r z d.J. D i e s e meldet, in Memel sei der Lehrer Aletzki an R u ß l a n d ausgeliefert worden. ( H ö r t ! hört! bei den Sozialdemokraten.) Aletzki stamme aus dem Flecken Sockenhausen im Hasenpotschen. Weshalb er ausgeliefert wurde, steht nicht dabei; möglicherweise hat er sich bei der Erhebung in den Ostseeprovinzen beteiligt, und ist daraufhin die Auslieferung erfolgt. Jedenfalls war das ein Schritt, dessen heute kein Kulturland mehr fähig sein sollte; und wenn wir in der Reihe der Kulturstaaten rangieren wollen, dann müssen wir dafür so rasch wie möglich sorgen, daß solch schandbare Zustände beseitigt werden. (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Aber, meine Herren, mit alledem, was ich Ihnen eben gesagt habe, ist es n o c h nicht genug. N i c h t genug, daß die Polizei leichtfertig, gewissenlos und ohne E r b a r m e n menschliche Existenzen schädigt und ruiniert, - nein, sie benutzt zugleich ihre Macht, u m friedlich hier lebende Ausländer mit dem Zwangsmittel der Ausweisung zu bedrohen und mit der Existenzvernichtung einzuschüchtern, um alsdann diese Ausländer ihren verbrecherischen Zwecken dienstbar zu machen ( H ö r t ! hört! bei den Sozialdemokraten.) um den Ausländer zu einem Verbrechen zu verleiten. (Lebhafte Rufe: H ö r t ! hört! bei den Sozialdemokraten.) D a s ist auch früher schon öfter geschehen. W i r haben unter dem Sozialistengesetz erlebt, wenn sich einer meiner Parteigenossen - es sind ja solche Fälle in j eder Partei v o r g e k o m m e n - mal ein Vergehen hatte zu Schulden k o m m e n lassen, dessen Ruchbarkeit er um jeden Preis vermeiden mußte - kein politisches, ein gemeines - , und wenn die Polizei das erfuhr, dann hat sie in Berlin, in Elberfeld und in anderen Städten diesen Umstand wahrgenommen, um den armen Teufel in die Zwickschere zu nehmen und ihn zu zwingen, ihr Dienste zu leisten, indem sie jeden Tag das Damoklesschwert der Denunziation bei der Staatsanwaltschaft über seinem Haupte hielt. Sie sagte dann: wenn du uns nicht Dienste leistest und du an deiner Partei und deinen Parteigenossen nicht zum Verräter wirst, dann melden wir dich bei der Staatsanwaltschaft. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) N u n , meine Herren, hier liegt ein Fall ähnlicher A r t vor. Ich erkläre Ihnen: die A k t e n dieses Falles stehen mir im vollsten M a ß e zur Verfügung; ich bedauere, daß von den Herren der Regierung keiner mehr am Platze ist, ich würde ihm sonst mein einwandsfreies Material auf einige Augenblicke zur Verfügung stellen. E s lebte in Schöneberg bei Berlin ein Russe, dessen N a m e n ich nicht nenne, ein 48
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Kaufmann. Derselbe kam E n d e Februar 1905 hier an und w o h n t e im H o t e l J a n s o n ; vom 15. M ä r z 1905 bis 31. M ä r z 1906 w o h n t e er in Steglitz, Zimmermannstraße 1, seitdem in Schöneberg, Hauptstraße 107. D e r M a n n zahlte 1200 M a r k Miete und hatte im Vertrauen darauf, daß er als ruhiger Bürger, der sich um nichts kümmert und keinerlei Politik treibt, ruhig hier leben könne, einen Mietsvertrag abgeschlossen, der bis 31. März 1907 läuft. D e r Mann ist, wie gesagt, Kaufmann, er hat Agenturen und Kommissionen für Großhandelshäuser hier in Berlin, er vermittelt Verkäufe und Waren nach Rußland, er ist also im Sinne der bürgerlichen Gesellschaft ein außerordentlich nützlicher Staatsbürger. Dieser M a n n - das mag für den U m f a n g seines Geschäfts sprechen - hat jährlich 3 0 0 0 M a r k Spesen, einen Privatverbrauch von 8000 Mark. E r hat eine schwerleidende Frau und einen Knaben von 9 Jahren, der die Vorschule des Steglitzer G y m n a s i u m s besuchte. A m 14. April d.J. erkundigt sich bei dem genannten Kaufmann ein Schutzmann nach seinen Verhältnissen; dem M a n n e fällt das auf, er fragt seinen Hausverwalter, der ebenfalls Schutzmann ist, was das zu bedeuten habe. D a r a u f erklärte ihm dieser, er wolle seine Personalien der Polizei übermitteln. A m anderen Tage, am 15. April, teilt er ihm mit, er habe auf der Polizei erfahren, daß seine Ausweisung in Aussicht stehe. Das war ihm schier unbegreiflich. E r hat einen Bekannten, einen Herrn v. Brockhusen, also einen der Edelsten der N a t i o n (Heiterkeit), mit dem spricht er am 17. April über den Fall. Dieser Edelste gibt an - ob es wahr ist, weiß ich nicht, weiß auch der betreffende Kaufmann nicht - , er sei ein Neffe des verstorbenen Staatssekretärs v. Richthofen und auch ein entfernter Verwandter des Staatssekretärs der Marine von Tirpitz. A u f jeden Fall war er aber ein Agent der Polizei. ( H ö r t ! hört! bei den Sozialdemokraten.) D e r Russe hat den M a n n kennen gelernt in dem Bureau der Aktiengesellschaft Wegelin und Hübner. Brockhusen versprach ihm auf G r u n d seiner ausgezeichneten Verbindungen, alles zu tun und seine Ausweisung zu verhindern. A m 18. April erhält der Russe eine polizeiliche Verfügung des Schöneberger Polizeipräsidenten, datiert vom 17. April, von demselben Tage, w o er mit B r o c k h u s e n über diesen Fall gesprochen hatte, in der es heißt: N a c h d e m Sie und Ihre Familienangehörigen hier in Schöneberg Aufenthalt genommen, wird Ihnen mitgeteilt, daß Ihre sowie Ihrer Familienangehörigen Niederlassung und Ihr und Ihrer Angehörigen dauernder Aufenthalt in Schöneberg bei Berlin und in Preußen nicht zugelassen werden kann; es wird Ihnen daher empfohlen, das Gebiet des preußischen Staates binnen längstens drei M o n a t e n zu verlassen, da sonst Ihre Ausweisung würde erfolgen müssen. ( H ö r t ! h ö r t ! links.) Gründe - nicht angegeben. A n demselben Tage erhielt sein Dienstmädchen Marianne Kudelka die Aufforderung, binnen 14 Tagen den preußischen Staat zu verlassen, da ihr als Ausländerin ein gesetzlicher 49
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Anspruch auf Gestattung des Aufenthalts im Gebiete des preußischen Staats nicht zustehe. A n demselben Tage nachmittags, am 18. April, nachdem unser Russe die eben verlesene O r d e r erhalten hatte, geht er zu v. Brockhusen und klagt dem sein Leid. Darauf nimmt ihn Brockhusen - die Sache scheint schon von Brockhusen vorher abgekartet zu sein, er nahm offenbar an, daß der Russe sicher zu ihm k o m m e n w ü r d e wegen der Ausweisung - mit nach Wilmersdorf, Kaiserplatz 5, in die Weinprobierstube. Dortselbst wird ihm der Hauptmann a.D. und Polizeikommissar Schöne vorgestellt. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) N a c h d e m Brockhusen dem betreffenden russischen Kaufmann vorher gesagt hatte, H e r r Schöne werde allerdings für seine Gefälligkeit, die Ausweisung zurückzunehmen, wohl einige Gefälligkeiten verlangen als Gegenleistung, begann die Unterhandlung. M a n kam aber an dem Tage nicht z u m Ziele, sie dauerte den 18., 19. und 20. April. A m folgenden Tage, den 19., erklärte Polizeikommissar Schöne: leider sei es ihm bis jetzt nicht möglich gewesen, die Ausweisung rückgängig zu machen; aber er habe gehört, wenn er, der Russe, sich Verdienste in staatlichen Angelegenheiten erwerben werde, so solle, so habe sein Vorgesetzter erklärt, der H e r r hier gut aufgehoben sein. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, um Ihnen das hier nicht im einzelnen auseinanderzusetzen, erkläre ich, daß die Unterhandlungen den Zweck hatten, daß der russische K a u f m a n n in seiner Zwangslage, das Damoklesschwert der Ausweisung über seinem Haupte, sich herbeilassen sollte, landesverräterische Dienste gegen sein eigenes Vaterland zu Gunsten Deutschlands zu leisten. (Lebhaftes H ö r t ! hört! bei den Sozialdemokraten. Große Bewegung.) Er wurde also zu einem Verbrechen aufgefordert! Meine Herren, Herr Schöne gilt als die geriebenste Polizeinatur hier in Berlin, der für derartige D i n g e die Hauptdienste zu leisten hat. Er hat im vorliegenden Falle eine geradezu unglaubliche Kopflosigkeit bewiesen. Man sollte es nicht für möglich halten, daß, ehe er des Mannes vollständig sicher war, dem er übrigens versprach, es werde nicht allein ein schöner Verdienst ihm zufallen, er könne jährlich auf circa 16 000 M a r k rechnen, er stellte ihm auch weiter in Aussicht, man werde ihn nachher naturalisieren, allerdings sei alsdann nötig - der Russe war nämlich J u d e - , daß er sich taufen lasse (Hört! hört! und große Heiterkeit links), er sich in dessen H ä n d e gab. Meine Herren, welch' eine feine Acquisition für die evangelische Landeskirche, die einen Landesverräter nach geleisteten Diensten als Täufling aufnehmen soll, damit wahrscheinlich durch die Taufe alle Sünden und Verbrechen abgewaschen werden. (Sehr gut! und lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, ich habe hier in meiner H a n d die Weisungen, die v o m K o m missar Schöne dem Russen übergeben wurden. In Rücksicht auf die deutschen 50
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Staatsinteressen unterlasse ich es, diese Weisung öffentlich vorzutragen; denn ich bin nicht sicher, ob nicht ähnliche Angaben an Spitzel und Polizeispione in anderen Ländern, vielleicht auch in Rußland, schon herausgegeben wurden, und daß, wenn ich jetzt diese Tatsachen hier öffentlich bekannt machte, ich Leute ins Unglück stürzen könnte. Ferner unterlasse ich die Veröffentlichung in Rücksicht auf die Regierung, von der ich sonst nichts wissen will; ich werde, um ihr die Scham zu ersparen, nicht die Einzelheiten dem Hause vortragen. Es handelt sich also, kurz gesagt, um landesverräterische Handlungen. Es sind Stichworte angegeben, unter denen der Betreffende die militärischen und sonstigen Staatsgeheimnisse, die er in Rußland ausbaldowern sollte, hierher zu melden hatte. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Aber da eine solche Spionage für ihn als russischen Untertanen nicht gut angängig war, sollte der Anschein erweckt werden, daß er ein Deutscher sei, und so, meine Herren, hat das Berliner Polizeipräsidium diesem russischen Kaufmann auf den deutschen Namen „Ernst Fiedler" einen falschen Paß ausgestellt. (Lebhaftes Hört! hört! bei den Sozialdemokraten und große Bewegung.) Ich habe hier in der Hand das Faksimile, die photographische Wiedergabe dieses Passes. Er sollte also als deutscher Geschäftsreisender Ernst Fiedler nach Rußland gehen und dort seine landesverräterischen Unternehmungen ins Werk zu setzen suchen. Da er aber zu der Reise nach Rußland nicht kommen konnte, ohne ein Visum der russischen Botschaft für den deutschen Paß zu haben, und da er obendrein als Jude in Rußland nicht zugelassen wurde, so hat das Berliner Polizeipräsidium diesem russischen Juden, also dem angeblichen Deutschen Ernst Fiedler folgende falsche Bescheinigung ausgestellt: Dem Inhaber des Passes Nr. 838 II, Geschäftsreisenden Ernst Fiedler, wird auf Grund amtlicher Feststellungen behufs Erlangung des Visums seitens des Kaiserlich russischen Konsulats hierdurch bestätigt, daß er - Christ ist. (Lebhaftes Hört! hört! bei den Sozialdemokraten und stürmische Heiterkeit.) Auf Grund dieser falschen Urkunde der Berliner Polizei, wodurch die Berliner Polizei ein Amtsverbrechen begangen hat, und auf Grund der zweiten falschen Urkunde, worin sie lügtg — (Glocke des Präsidenten. Stürmische Zurufe von den Sozialdemokraten.) Vizepräsident Dr. Graf zu Stolberg-Wernigerode: Herr Abgeordneter, Sie dürfen nicht sagen, die Berliner Polizei habe ein Verbrechen begangen. (Stürmische Zurufe von den Sozialdemokraten.) Abgeordneter Bebel: Meine Herren, auf diese Bescheinigung hin, daß der russische Kaufmann Christ sei, also ein gefälschtes Aktenstück, erlangte der Russe das Visum der russischen Botschaft, das ich im Faksimile ebenfalls vor mir habe. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Das also sind die Konsequenzen 51
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der Handlungsweise der Berliner Polizei. Es ist nicht das erste Mal, daß solche Fälle v o r k o m m e n . Ich habe bereits an meine Parteigenossen erinnert. Ich will hier weiter an den P r o z e ß L e c k e r t - L ü t z o w 6 erinnern, in dem festgestellt wurde, daß der Schriftsteller Gingold Stärck, ein Österreicher, unter ganz ähnlichen Verhältnissen von der Berliner Polizei gezwungen wurde, ihr Spitzeldienste zu leisten bei Gefahr der Ausweisung. Freilich lagen damals keine gefälschten Pässe und keine gefälschten Zeugnisse über die religiöse Abstammung vor wie im vorliegenden Falle. M e i n e Herren, ich fürchte sehr, daß nunmehr durch den russischen Kaufmann selber die russische Regierung von den Einzelheiten des Falles Kenntnis erlangte, daß sämtliche Aktenstücke, die ich hier im Faksimile vor mir habe, im Original schon heute in ihren Händen sind; denn der M a n n hat selbstverständlich nunmehr so eilig wie möglich Berlin verlassen, und es wird Sache der russischen Regierung sein, ihn für seine gute Haltung entsprechend zu belohnen. Aber, meine Herren, was soll mit einem Menschen wie dem Polizeikommissar S c h ö n e geschehen, der in solch unglaublicher Weise das R e i c h und den preußischen Staat blamierte und seine vollendete Unfähigkeit zu seinem A m t e dargetan hat? Wenn n o c h ein F u n k e n Vernunft in unserem Regierungssystem ist, so wird dieser M a n n morgen aus dem Dienst entlassen wegen vollendeter Unfähigkeit, und es m u ß außerdem der P r o z e ß gemacht werden den Behörden, die die gefälschten U r k u n d e n ausgestellt haben. M e i n e Herren, Sie werden zugeben, wir haben die größte Ursache, zu verlangen, daß diesem unglaublichen Polizeiunfug, der über Leib und Leben, über die Existenz, das Familienglück und die E h r e der Menschen verfügt, der u n u m schränkt waltet und alles selbst seinen verbrecherischen Diensten und N e i g u n gen gefügig zu machen versucht, energisch entgegengetreten wird. (Sehr wahr! Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) E s ist eine Gewissenlosigkeit sondergleichen, Männer, die sich nicht das G e ringste zu Schulden k o m m e n lassen, in eine Notlage zu bringen, um sie dadurch zu Verbrechen geneigt zu machen. Diesem Zustande m u ß ein Ende gemacht werden. W i r sind das der E h r e und dem R u f e Deutschlands schuldig. (Lebhaftes, wiederholtes Bravo bei den Sozialdemokraten.) Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, 11. Legislaturperiode, II. Session, 1905/1906, Vierter Band, Berlin 1906, S. 2868-2879.
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Siehe hierzu Nr. 51 in Band 4 dieser Ausgabe.
52 Frauenstimmrecht, politischer Massenstreik und Gewerkschaften Reden und Diskussionsbeiträge auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und der Frauenkonferenz in Mannheim[586] I
Aus der Rede zum
Frauenstimmrecht
23. September 1906
[.. .] [587] Ich bin heute aufs neue bestärkt worden in der Auffassung, daß die Frage des Frauenstimmrechts allein prinzipiell und zwar vom radikalsten Standpunkte aus behandelt werden kann und behandelt werden darf. Die Sozialdemokratie kann keine andere Politik als prinzipielle treiben. Sie darf sich auf keinem Gebiet von irgend einer anderen Partei übertrumpfen lassen (lebhafte Zustimmung), und muß stets fordern was im Programm zum Ausdruck kommt. Die Freiheit und Gleichheit alles dessen, was menschliches Antlitz trägt, muß in allen unseren Forderungen im Parlament, in der Agitation und in der Presse zum Ausdruck kommen und danach müssen wir handeln. (Erneute Zustimmung.) N u r so können wir die Massen des Volkes für uns gewinnen und einen gewaltigen D r u c k ausüben, der endlich unsern Forderungen zum Siege zu verhelfen vermag. (Vielfaches Bravo!) Gewiß tritt sehr oft im Parlament an uns die Frage heran, ob wir die prinzipiellen Forderungen in ihrem ganzen Umfange und ihrer ganzen Schärfe aufstellen sollen, obwohl wir nicht die geringste Aussicht haben sie durchzusetzen. Die opportunistische Stellungnahme findet da immer eine Wurzel. Man glaubt, wenn wir weniger fordern würden, würden wir leichter das Wenige bekommen. Aber ich habe in meinem nahezu 40jährigen parlamentarischen Leben die Entdeckung gemacht, daß auch im politischen Leben das Wort gilt, das im bürgerlichen Leben so vielfach zitiert wird: „Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr!" (Heiterkeit.) Wir können die bescheidensten Forderungen stellen, und sie werden uns nicht erfüllt, wenn nicht der Druck der Verhältnisse hinter uns steht. Hinter der prinzipiellen Forderung steht an sich der Druck, den die Gründe ausüben, die man für ein Prinzip anzuführen 53
52 Frauenstimmrecht, politischer Massenstreik und
Gewerkschaften
vermag. D a kommen uns unsere Gegner wenigstens ein Stück entgegen. Vielleicht erreichen wir, gestatten Sie den Ausdruck, mit Unverschämtheit, was wir mit Bescheidenheit nie erreicht hätten. In den letzten Wochen und Monaten ist so oft gesprochen worden von der Machtlosigkeit der Sozialdemokratie. Kein falscheres Wort als dieses. (Lebhafter Beifall.) Ich behaupte, daß im Deutschen Reich keine mächtigere Partei existiert als die unsere. Die Sozialdemokratie ist es, die unser ganzes politisches und soziales Leben im Innern und Aeußeren beherrscht. O h n e ihre Existenz würden wir weit hinter dem zurückstehen, was wir heute erreicht haben. (Beifall.) Einen Beweis für die Richtigkeit dieser Auffassung liefert gerade die Erfahrung der Frauenbewegung in den letzten 15 Jahren. Das Zentrum sträubte sich anfangs der 90er Jahre mit aller Kraft gegen die Forderung, dem weiblichen Geschlecht die ihm damals noch verschlossene Bahn geistiger Betätigungen zu öffnen. 1 Vor zwei Jahren erklärte zur allgemeinen Ueberraschung einer der konservativsten Herren des Zentrums, Freiherr v. Hertling, sich mit aller Vehemenz für die Zulassung der Frauen zu allen Studienzweigen. Einen solchen Wechsel in der Auffassung, eine solch völlige Umwandlung in den Ueberzeugungen kann nur durch den beständigen Druck erzeugt worden sein, den die Schichten ausgeübt haben, die an einer solchen Umwandlung sozial interessiert sind. Eine andere Frage ist die des Vereins- und Versammlungsrechtes. In manchtn Staaten, sogar im reaktionären Sachsen, sind Männer und Frauen in dieser Beziehung gleichgestellt. In anderen Staaten aber - und Preußen marschiert natürlich überall in der Reaktion voran - hat man den Frauen das Vereinsrecht in großem Umfange beschränkt. Einem Fortschritt auf diesem Gebiete ist auch das Zentrum stets entgegengetreten. Jetzt hat es teilweise mit unter dem Druck der bürgerlichen Frauenrechtlerinnen in wiederholten Erklärungen anerkennen müssen, daß angesichts der gewaltigen sozialen Umwandlung, die Millionen und Abermillionen von Frauen in den Existenzkampf getrieben hat, die ihnen hierfür notwendige Freiheit des Vereins- und Versammlungsrechtes und der Koalition nicht länger verweigern dürfe. Für volle politische Vereins- und Versammlungsfreiheit der Frauen kann sich das Zentrum noch nicht erklären, aber auch das wird kommen. [ U 8 ] Diese Fortschritte beweisen, in welcher Weise wir weiter arbeiten müssen, um zu einem vollen Erfolge zu gelangen. Der Frage der Einführung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechtes für die Frauen stehen bisher die bürgerlichen Parteien sehr ablehnend gegenüber. Darüber brauchen wir uns um so weniger zu wundern, als in weiten bürgerlichen Kreisen die Abneigung gegen das allgemeine, gleiche, geheime und direkte 1
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Siehe hierzu Nr. 3 in Band 3 dieser Ausgabe.
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Wahlrecht überhaupt besteht, und sehr einflußreiche Kreise bis auf den heutigen Tag daran denken, dieses Wahlrecht bei der ersten besten Gelegenheit zu beseitigen oder zu beschränken. Diese Leute sind natürlich nicht geneigt, das Wahlrecht auf die Frauen auszudehnen. Gleichwohl wage ich die Behauptung, daß wir in Deutschland Aussicht haben, weit eher das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Frauenwahlrecht zu bekommen, als daß das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht überhaupt abgeschafft wird. (Große Bewegung.) Das letztere ist wohl überhaupt nicht möglich, denn ich bin überzeugt, daß in diesem Falle alle stimmberechtigten Arbeiter ohne Unterschied der Partei, die durch die Beseitigung des Gesetzes geschädigt würden, sich zu einem Kampfe erheben würden, wie ihn Deutschland noch nicht gesehen hat. Genau so wie vor der Empörung seiner eigenen Arbeiter 1898 das Zentrum davor zurückschreckte, das Zuchthausgesetz 2 in irgend einer Form anzunehmen, so hat es noch in viel höherem Maße alle Veranlassung, am Prinzip unseres Reichstagswahlrechtes nicht zu rütteln. (Sehr wahr!) Auf der anderen Seite ist nicht ausgeschlossen, daß in dem Maße, wie die Unzufriedenheit der Masse wächst und die sozialistische Stimmenzahl sich steigert, die Idee an Boden gewinnt, es auf die Frauen auszudehnen, weil unter ihnen noch eine ungeheuere Anzahl sich befindet, die vorläufig noch den sozialdemokratischen Ideen gegnerisch gesinnt sind. Mit dieser Tatsache rechnend, die man nicht bestreiten kann, - die Frauen sind meist noch politisch indifferent und, soweit sie einer Führung folgen, folgen sie mehr der konservativen und der Geistlichkeit - , mit dieser Tatsache also rechnend, wird die Majorität durch die Einführung des Frauenstimmrechts die Sozialdemokratie auf einige Zeit zurückzudrängen in der Lage sein. Das ist unzweifelhaft richtig. Aber trotzdem wäre es der größte Fehler, wenn wir uns gegen die Ausdehnung des Wahlrechtes auf die Frauen erklären wollten. Alle die Gründe, die heute gegen das Stimmrecht der Frauen geltend gemacht werden, wurden seinerzeit auch gegen das Stimmrecht der Männer vorgebracht. Ich selbst habe mich vor 43 Jahren als Mitglied des Leipziger Arbeiterbildungsvereins gegen das allgemeine Stimmrecht ausgesprochen, weil die Arbeiter politisch noch nicht genug gebildet seien 3 , was von einem erheblichen Teil auch heute noch gilt; denn noch jetzt nach fast 40 Jahren stimmen in Deutschland iVi Millionen Wahler gegen uns. Es ist kein Zweifel, daß die Mehrheit dieser Wähler aus Arbeitern besteht, die gegen ihre eigenen Klasseninteressen stimmten. Aber das hat niemand von uns veranlaßt, sich gegen das allgemeine Stimmrecht auszusprechen, sondern wir agitieren unausgesetzt und bringen immer größere Kreise zu der Erkenntnis, in der 2 3
Siehe hierzu Nr. 63 in Band 4 dieser Ausgabe. Siehe S. 60 in Band 6 (Aus meinem Leben) dieser Ausgabe. 55
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Sozialdemokratie das Heil für ihre Zukunft zu erblicken. Schon haben wir 3 Millionen, und ich hoffe, daß wir 4, 5 und 6 Millionen und schließlich die Majorität gewinnen werden. Wenn nun die Reaktionäre als letzte Zuflucht für ihre Herrschaft die Frauen anrufen, so werden wir Männer gezwungen sein, innerhalb der Frauenwelt mit aller Macht zu agitieren, und dann wird bald der letzte Anker gebrochen, an den sich die Gesellschaft noch anklammern kann. Den Genossen in Belgien und Oesterreich ist zuzugeben, daß die kulturellen Zustände in ihren Ländern zum Teil noch tiefer sind als bei uns. Wer die Gewalt der Kirche über die Frauenwelt in den katholischen Gegenden Deutschlands kennt, wird verstehen, aus welchen Gründen die Genossen dort glaubten, daß die Ausdehnung des Wahlrechts auf die Frauen die Reaktion gewaltig stärken würde. Ich halte es für eine Täuschung, daß die Reaktion jetzt schon bereit wäre, nicht nur den Männern, sondern auch den Frauen das allgemeine Wahlrecht zu gewähren. Auf der anderen Seite aber wäre es von eminentem agitatorischen Werte gewesen, wenn die Genossen diese Forderung aufgestellt und damit die Unzufriedenheit in die gegnerischen Kreise hineingetragen hätten. U n d wenn später die Frage ernsthaft aktuell wird, konnten sie sagen: Wir sind in erster Linie für dieses Frauenrecht eingetreten. Ich will hier keine Polemik mit unsern ausländischen Genossen führen, ich habe mich nur für verpflichtet gehalten, Gründe und Gegengründe kurz anzugeben. Wir werden auf dem nächsten internationalen Kongreß, der in Stuttgart stattfinden wird, sowieso über diese Frage sprechen müssen.' 58 ^ Für mich ist es zweifellos: wenn wir Erfolge erringen wollen - und Erfolge müssen wir erringen - , so können wir sie nicht erringen, wenn wir von vornherein auf unsere prinzipiellen Forderungen verzichten und erklären, daß wir nur auf Konzessionen rechnen. Ich halte das für eine verfehlte Taktik und darum freue ich mich, daß die Frauenstimmrechtsfrage hier behandelt worden ist und bitte Sie, die vorgeschlagene Resolution 1589 ! einstimmig anzunehmen. Sie verpflichten damit auch die Partei für sie einzutreten und ihr früher oder später zum Siege zu verhelfen. (Lebhafter Beifall.) Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Mannheim vom 23. bis 29. September 1906 sowie Bericht über die 4. Frauenkonferenz am 22. u. 23. September 1906 in Mannheim, Berlin 1906, S. 457-459.
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II
Referat und Resolutionsentwurf über die Stellung zum politischen Massenstreik 26. September 1906 Als wir im vorigen Jahre in Jena auseinandergingen, hat wohl niemand geahnt, daß wir in diesem Jahre schon wieder über den politischen Massenstreik sprechen müssen. Wie das gekommen ist, ist Ihnen allen bekannt. Die Art, wie diese Diskussion provoziert wurde, muß allerdings auf das entschiedenste verurteilt werden. Sie wissen, daß auf Grund einer vertraulichen Besprechung durchaus unverbindlicher Art, die Generalkommission und Parteivorstand im Februar hatten, und über welche die Generalkommission in der kurz darauf folgenden Konferenz der Zentralvorstände berichtete, ein Protokoll aufgenommen wurde15901, das allerdings - wie ich nachweisen werde - die Verhandlungen zum Teil unrichtig wiedergibt. Durch die Indiskretion der sogenannten „Einigkeit" in Berlin' 59 ' 1 ist es dann zu großen Debatten gekommen. Ich finde, daß der Titel „Einigkeit" in diesem Falle der reinste Hohn ist. (Sehr richtig!) Wenn man loyal zu Werke gehen wollte, und wenn die betreffenden Redakteure sich als Parteigenossen betrachteten, war es ihre Pflicht und Schuldigkeit, da aus dem Protokoll klar hervorging, daß der Parteivorstand bei diesen Verhandlungen nicht vertreten war, zunächst einmal bei diesem anzufragen, ob das Protokoll in Wahrheit das wiedergibt, was in der vertraulichen Besprechung verhandelt worden war. (Sehr richtig!) Wenn sie dann mit der Antwort nicht zufrieden waren, mochten sie tun, was sie für gut hielten. Aber auch dann würde ich die Veröffentlichung als Treubruch charakterisieren müssen. (Sehr richtig!) Doch trifft vielleicht auch hier das Wort zu von der Kraft, die das Böse will und das Gute schafft. Nach einer Richtung hin muß ich meine lebhafte Verwunderung aussprechen, nämlich darüber, daß als jene tendenziöse Entstellung des Protokolls veröffentlicht wurde, ein Teil der Parteipresse ohne weiteres diese Dinge als wahr und richtig unbesehen hinnahm und sich in der schärfsten Kritik gegen Parteivorstand und speziell gegen meine Person erging. Man nahm unbesehen an, daß das, was da berichtet sei, auf Wahrheit beruht. Ich stehe nicht an, zu erklären: Wenn das wahr wäre, was damals durch die „Einigkeit" veröffentlicht wurde und was bis zu einem gewissen Grade im Protokoll der Generalkommission seine Bestätigung findet, dann gäbe es keine Verurteilung scharf genug gegen diejenigen, die sich das erlaubten. Denn dann wäre unsere Handlungsweise, speziell die meinige, nichts mehr und nichts weniger als Parteiverrat. Ich kann es mir nicht vorstellen, daß eine Behörde wenige Monate nach einem Parteitage, auf dem eine bestimmte Resolution, von ihr selbst eingebracht, angenommen wurde, die die Richtschnur 57
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für die Parteipolitik bilden soll, entgegen einer solchen sich in eine Verhandlung mit einer Körperschaft einläßt, die bezwecken soll, einen vom Parteitag gefaßten Beschluß nichtig zu machen. Man hätte doch erwarten dürfen, daß wenigstens die betreffenden Parteiblätter sich die Frage vorgelegt hätten, ob einem Manne, der ein volles Menschenalter lang für die Partei gekämpft hat, ob dem eine derartige Felonie und Niedertracht zugetraut werden kann. (Lebhafte Zustimmung.) Wenn ich auch billige, daß Mißtrauen beobachtet wird, daß man die Behörden der Partei, die eine leitende Gewalt haben, beobachtet und ich Mißtrauen für eine demokratische Tugend ansehe, so ist doch die Art, wie diesmal das Mißtrauen in der Partei zum Ausdruck gekommen ist, ein so starkes Stück, wie ich es noch nicht kennen gelernt habe. Wir im Parteivorstand waren selbstverständlich durch die Veröffentlichungen der sogenannten „Einigkeit" in eine unangenehme Lage versetzt. Die Verhandlungen hatten in einer Versammlung der Zentralvorstände der Gewerkschaften stattgefunden, man hatte diese Verhandlungen für geheim erklärt, das Protokoll war nur an eine beschränkte Zahl von Personen hinausgegeben und allen zur Pflicht gemacht worden, den Inhalt desselben streng vertraulich zu behandeln, und nun erscheint auf einmal durch die Indiskretion eines angeblichen Parteiblattes ein Teil aus diesen Verhandlungen, der sie obendrein noch in ein falsches Licht setzt. Der Parteivorstand, der der Hauptangeklagte ist, ist gezwungen, auf Grund der Tatsache, daß jene Verhandlungen für geheim erklärt worden sind, zu schweigen. Ich glaube niemals, so lange wir eine sozialdemokratische Partei in Deutschland haben, ist eine Parteileitung in einer so unangenehmen Lage gewesen, wie wir damals im Parteivorstand. (Sehr richtig!) Wir mußten damals alle Angriffe über uns ergehen lassen und mußten uns darauf beschränken, einige Richtigstellungen vorzunehmen, auf den Inhalt der Verhandlungen aber konnten wir nicht eingehen. Dabei verstand es sich von selbst, daß nachdem einmal die Indiskretion begangen war, sowohl unter den Parteigenossen, wie unter den Gewerkschaftsmitgliedern das dringende Verlangen bestand, nunmehr klar zu sehen, und genau zu wissen, was verhandelt worden sei, um ein endgültiges Urteil in der Sache zu haben und danach ihre Stellung einnehmen zu können. Es war daher selbstverständlich, daß wir uns an die Generalkommission wandten, sie möge, soweit die Verhandlungen über Partei und Gewerkschaft in Frage kämen, das Protokoll frei geben, um auf diese Weise der gesamten Partei und der Oeffentlichkeit Einblick in die Verhandlungen zu ermöglichen^592^ Die Generalkommission hat dies abgelehnt und hat sich an den Beschluß der Konferenz gebunden erachtet. Damit konnten wir uns jedoch nicht einverstanden erklären, denn die Kritik in der Presse wurde immer schärfer, die Unzufriedenheit der Genossen immer größer und in zahlreichen Zuschriften an den Parteivorstand 58
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gaben die Genossen ihrem Unwillen entschiedensten Ausdruck und verlangten unter allen Umständen, daß der Parteivorstand dafür einzutreten habe, daß das Protokoll der Oeffentlichkeit übergeben werde. Wir stellten darauf an die Generalkommission das Verlangen, sie möchte die Umfrage an die Teilnehmer der Konferenz richten, ihnen die Sachlage darlegen und sie ersuchen, die Erlaubnis zur Veröffentlichung zu geben. Das Abstimmungsresultat ist so gewesen, daß die große Mehrheit der Vertreter auf jener Gewerkschaftskonferenz diese Veröffentlichung abgelehnt hat. Wir waren dadurch in eine noch schlimmere Lage versetzt als vordem. Wir schritten schweren Herzens zu dem Vorgehen, das allen bekannt ist. Wir sind der Meinung gewesen, daß höhere Interessen auf dem Spiele stehen und daß es unmöglich sei, die Sache länger zu vertuschen, weil notwendig mit jedem Tag der Unwillen und die Unzufriedenheit in der Partei und den Gewerkschaften immer größer wurde und allen möglichen Verdächtigungen Tür und Tor geöffnet bleibe. (Lebhafte Zustimmung.) Wir verstehen, daß die Generalkommission über den Beschluß des Parteivorstandes, das Protokoll zu veröffentlichen, auf das äußerste erbittert war. Aber wir müssen doch auch bitten, daß die Mitglieder der Generalkommission sich einmal in unsere Lage versetzen und sich die Frage vorlegen, was sie getan haben würden an der Stelle des Parteivorstandes. Die Generalkommission würde in einem solchen Falle zu keiner anderen Handlungsweise gekommen sein wie der Parteivorstand. Wir haben lange über diese Frage diskutiert, wir haben alle möglichen Fälle in Erwägung gezogen, aber die Gründe für die Veröffentlichung waren so stark, daß wir glaubten, es wagen zu müssen, im Widerspruch mit der Generalkommission die Veröffentlichung vorzunehmen^593]. Und ich glaube, die Veröffentlichung hat keinen Schaden gestiftet. (Sehr richtig!) Jedenfalls wäre der Schaden, der ohne die Veröffentlichung eingetreten wäre, ein weit größerer gewesen. Auch die Generalkommission sagt in einer Erklärung, es sei durch die Veröffentlichung erwiesen, daß auf der Konferenz nichts geäußert worden sei, was die Gewerkschaftsvertreter vor den Parteigenossen zu verheimlichen hätten. Ist das der Fall, so muß um so mehr der Schritt, zu dem wir uns in der äußersten Not - von allen Seiten gedrängt entschlossen, auch auf billige Berücksichtigung von jener Seite stoßen und die Sache als unumgänglich hingenommen werden, weil auf andere Weise eine gründliche Aussprache nicht möglich gewesen wäre. (Lebhaftes Sehr richtig!) Ich habe bereits erklärt, daß diese Besprechung, die im Februar dieses Jahres zwischen Generalkommission und Parteivorstand stattgefunden hat, eine durchaus unverbindliche war, so unverbindlich, daß wir im Parteivorstand, als wir den Beschluß zu dieser Einladung gefaßt hatten, uns nicht einmal unter uns verständigt haben, was wir der Generalkommission in der Zusammenkunft sagen wollten. Wir haben es jedem einzelnen Vorstandsmitglied überlassen, welche Mittei59
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lungen, Anschauungen und Aeußerungen er in dieser vertraulichen Besprechung machen wolle. Es war von vornherein nicht beabsichtigt, nach irgend einer Richtung hin bindende Beschlüsse zu fassen. Das finden Sie auch bestätigt in dem Protokoll der Generalkommission auf Seite 6, wo Legien wiederholt erklärt, daß die am Freitag abgehaltene Besprechung über die Stellung der Generalkommission zu der Frage des politischen Massenstreiks eine durchaus unverbindliche gewesen sei - eine Abmachung, die nach keiner Richtung hin, weder nach der einen, noch nach der anderen Seite zu bestimmten Beschlüssen drängen sollte. Wir sind zu dem Beschlüsse, diese Verhandlung zu führen, gekommen, als sich gleichzeitig für uns die Notwendigkeit herausstellte, mit der Generalkommission über die oberschlesischen Partei- und Gewerkschaftsverhältnisse Rücksprache zu nehmen. Das war die erste Veranlassung zu einer Besprechung, und diese Verhandlungen haben einen Tag völlig ausgefüllt. Dann kam die zweite Verhandlung, in der wir in unverbindlicher Weise die Situation besprachen und unsererseits erklärten, daß die Lage nach unserer Auffassung derart sei, daß unter den dermaligen Verhältnissen unter keinen Umständen an einen Generalstreik zu denken sei, weil er unrettbar mit einer glänzenden Niederlage der Partei endigen würde. (Hört! hört!) Aus dem Protokoll soll auf Seite 7 und 8, wo das Referat des Genossen Silberschmidt steht, der Gedankengang hervorgehen, den ich in meiner Rede entwickelt habe.t594' Nun habe ich die erste Rede in jener vertraulichen Besprechung gehalten, und diese Rede hat nach meiner Auffassung sicherlich eine Stunde gedauert, nach der Auffassung der Genossen im Parteivorstande war sie von noch längerer Dauer. Jedenfalls war es eine Rede, die mit dem Inhalt einer Druckseite im Protokoll nicht erschöpfend wiedergegeben werden konnte. (Sehr richtig!) Also, wenn schon an sich der Rauminhalt in dem Silberschmidtschen Referate zeigt, daß unmöglich der Inhalt meiner Rede auch nur annähernd wiedergegeben sein kann, so kommt hinzu, daß die verschiedenen Gedankengänge derart ineinander und aneinander geschoben worden sind, daß sie notwendigerweise zu einem durchaus falschen Bilde führen mußten. Ich habe in der Konferenz meine Anschauung, wie ein Massenstreik zu inszenieren ist, auseinandergesetzt. Ich habe dabei ausführlich Veranlassung genommen, die ganze innere Situation, speziell die des Königreichs Preußen, einer Kritik zu unterziehen. Ich habe nachdrücklich darauf hingewiesen, daß darüber kein Zweifel besteht, daß ein Generalstreik in Deutschland beziehungsweise in Preußen etwas anderes bedeuten würde, als in irgend einem anderen Lande der Welt, daß die Gewalten und die Organisation, die uns hier gegenüberstehen - auf der einen Seite das preußische Königtum und Junkertum, auf der anderen Seite die stramm organisierten 60
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Industriebarone - , daß diese jedem Versuch eines Massenstreiks mit derartig brutalen Mitteln entgegentreten könnten, daß, wenn wir zu jenem schreiten wollten, wir weit besser organisiert sein müßten, als wir es jetzt und auf lange Zeit hinaus sein könnten. Es wäre die Unmöglichkeit vorhanden, unter diesen Umständen daran zu denken, einen derartigen Massenstreik in Szene zu setzen, es stünde vielmehr zweifellos zu erwarten, daß der Massenstreik fehlgehen würde und daß auch das Scharfmachertum sofort die Gelegenheit ergreifen werde, zu Ausnahmemaßregeln zu schreiten. Dabei sei es ganz sicher zu erwarten, daß diese Ausnahmegesetze die nötige Berücksichtigung an den maßgebenden Stellen im Reichstag und in anderen Körperschaften finden würden. (Sehr richtig!) So haben wir uns gesagt, es wäre im höchsten Maße gewissenlos, wenn wir in einer solchen Situation einen derartigen Schritt täten. Wir müssen protestieren gegen die Aeußerung einiger Parteigenossen in der Presse, wir hätten den Massenstreik riskieren müssen, selbst in der sicheren Voraussicht, dabei zu unterliegen. (Sehr richtig!) Freilich gibt es Momente im Leben der Völker, wo es heißt: „coûte que coûte" (koste es was es wolle), wo der Kampf bis zum äußersten aufgenommen werden muß, selbst in der Voraussicht einer sicheren Niederlage. Aber ich bestreite auf das entschiedenste, daß in jenem Moment die Situation in Preußen so beschaffen war, daß ein derartiger Kampf aufgenommen werden durfte. Man würde jeden General, der seine Armee in eine Schlacht führt, in der der Untergang des Heeres sicher ist, für wahnsinnig halten, ihn sofort vor ein Kriegsgericht stellen und innerhalb 24 Stunden erschießen. In einer ganz ähnlichen Situation würde sich der Parteivorstand befinden. Eine solche Aktion wäre nichts als eine Kopflosigkeit und müßte mit einer furchtbaren Niederlage enden. Ich glaube, daß gerade diejenigen, die den Vorstand jetzt heftig kritisieren, die ersten sein würden, die alsdann mit ihrer Kritik gegen uns vorgingen. (Lebhafte Zustimmung.) Die Haltung, die ein Teil der Parteipresse gegen den Parteivorstand bei dieser Gelegenheit eingenommen hat, muß mich zu diesem Urteil führen. Es ist nun aber begreiflich, daß die Gewerkschaftsführer, als ich diese Gesichtspunkte entwickelte, hierin nicht nur eine Bestärkung ihres Standpunktes erblickten, sondern mit Genugtuung auch noch weitergehende Schlüsse zogen, als sei ich überhaupt gegen jeden Massenstreik und gegen jede Massenstreikpropaganda. Daß diese meine psychologische Erklärung von der Auffassung der Gewerkschaftsführer richtig ist, geht daraus hervor, daß unmittelbar auf der Konferenz selber derartige Anschauungen zu Tage traten, so daß ich genötigt war, auf das entschiedenste zu erklären, ich stünde nach wie vor auf demselben Standpunkt 61
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wie in Jena und hätte von meiner Jenaer Rede 4 kein Wort zurückzunehmen. Es ist eine falsche Auffassung der Jenaer Resolution, als verlangte sie, daß wir bei nächster Gelegenheit ohne weiteres in einen Massenstreik eintreten sollten. Ich will nachweisen, daß diejenigen, die da sagen, den großen Worten von Jena sei keine Tat gefolgt, die Jenaer Verhandlungen, wie ich zu ihrer Ehre annehme, vergessen haben. Von ihrer Gewissenhaftigkeit hätte ich allerdings erwartet, daß sie, ehe sie ein solches Urteil fällten, das Protokoll von Jena zur Hand genommen und geprüft hätten, was Bebel und die anderen dort gesagt haben. (Sehr richtig!) Wäre das geschehen, so hätten sie in meiner ganzen Rede nicht einen Satz gefunden, der so ausgelegt werden könnte. Ich habe das Protokoll über die Verhandlung über den Massenstreik in Jena zweimal Wort für Wort durchgelesen und war überrascht, wie korrekt der Standpunkt war, den wir dort eingenommen haben. D a ß ich selbst schon auf der Konferenz mich gegen mißverständliche Aeußerungen von Mitgliedern der Generalkommission gewendet habe, erklärt Silberschmidt selbst in einer Bemerkung gegen Geyer auf Seite 47 des Protokolls der Verhandlungen der Gewerkschaftsvorstände. D o r t heißt es: Allerdings hat Bebel erklärt, daß er das, was er in Jena gesagt, auch heute noch Wort für Wort aufrecht erhält. [595] Das steht aber im schärfsten Widerspruch zu der Mitteilung Silberschmidts auf Seite 7 des Protokolls. Ich erkläre mir diesen Widerspruch, wie gesagt, aus dem angeführten psychologischen Momente heraus. Ein Blick auf die bisherige Massenstreikdebatte zeigt, daß ohne die Zustimmung der Gewerkschaftsführer und -mitglieder an die Ausführbarkeit eines Massenstreiks nicht gedacht werden kann. Die bloße Tatsache, daß die Zahl der politisch organisierten Genossen nur 400 000 beträgt, muß jeden vernünftigen Menschen überzeugen, daß die Arbeitseinstellung dieser, selbst wenn auch ein gewisser Anhang dazu gerechnet wird, wirkungslos sein muß. Es ist überhaupt undenkbar, einen Massenstreik durchzuführen, ohne daß in den breitesten Massen die Gesamtstimmung dafür vorhanden ist. (Lebhafte Zustimmung.) Das haben wir gesehen, als Mitte August d.J. die Führer der russischen Sozialdemokratie mit zwei Drittel Mehrheit den Massenstreik beschlossen. Dieser Massenstreik aber scheiterte, weil die große Mehrheit der Arbeiter und Arbeiterorganisationen erklärten, sie machten nicht mit. Das sollte eine sehr bemerkenswerte Lehre für diejenigen sein, die da glauben, in jedem Augenblick sei ein Massenstreik zu machen. (Sehr richtig!) Dabei darf aber nicht verkannt werden, daß die Situation in Rußland mit der in Deutschland nicht zu vergleichen ist. Rußland ist ein ökonomisch und poli4
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Siehe Nr. 46/11 in Band 7/2 dieser Ausgabe.
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tisch sehr rückständiges Land. 5 Rußland wird despotisch regiert, die Bevölkerung hat nicht die geringsten politischen Rechte. Was sie sich erobert hat, ist dem Zarat abgerungen, aber noch nicht gesetzlich sanktioniert. Der Kampf in R u ß land ist ein revolutionärer Kampf, bei dem es sich darum handelt, die elementarsten Grundbedingungen des modernen staatlichen Lebens erst zu erobern. (Sehr richtig!) Es ist natürlich, daß die Arbeiter, die diesen Kampf führen, dabei auch soziale Verbesserungen ihrer Lage herbeizuführen suchen. Selbstverständlich nimmt dieser Kampf Formen an, die wir bisher in keiner Revolution gekannt haben. D i e Arbeiterklasse greift natürlich zu der Waffe des Massenstreiks, weil es in Rußland die einzig mögliche Waffe für sie ist. (Sehr richtig!) In jedem revolutionären Kampfe werden stets neue Kampfmethoden angewandt, die der ökonomischen Struktur der Länder entsprechen. Aber auch in Rußland, wo der Massenstreik naturgemäß eine große Rolle in der Revolution spielen muß, scheitert er, wenn die Massen in einer gegebenen Situation keine Stimmung dazu empfinden. Das hat die russische Sozialdemokratie erfahren. In Rußland wird der Kampf um eine neue Staatsordnung geführt, bei uns aber sind seit einer längeren Reihe von Jahren die Vorbedingungen, um die man in Rußland noch kämpfen muß, bereits erkämpft. (Sehr richtig!) Deshalb ist die Situation in Deutschland nicht mit der in Rußland zu vergleichen. Soviel wir an der Ordnung der Dinge auch auszusetzen haben, niemand wird doch behaupten, daß wir in unserem Kampfe in allen Fällen zu ähnlichen Methoden zu greifen hätten wie unsere russischen Genossen. (Sehr richtig!) Wir haben im Deutschen Reiche das allgemeine Stimmrecht. Dabei will ich einfügen: Wenn Genösse Maurenbrecher gegen unsere Taktik auf den Wahlrechtskampf in Oesterreich 1596 ^ verweist, so sollte ein Mann, der auf dem Boden der materialistischen Geschichtsauffassung stehen und tiefe historische Studien gemacht haben will, doch wissen, daß die Oesterreicher um ein Wahlrecht kämpfen, das bei uns seit fast 40 Jahren verwirklicht ist. Die österreichischen Arbeiter kämpfen in diesem Augenblick um das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht für den Reichsrat, also für eine ähnliche Institution wie bei uns der Reichstag. Den Kampf um das allgemeine Wahlrecht für die Landtage mit Massenstreiks zu führen, ist den österreichischen Arbeitern nicht eingefallen. Sie sagten sich: Wir können nicht an der Spitze anfangen, ehe die Grundlage geschaffen ist. Der Vergleich mit Oesterreich trifft also in keiner Weise zu. Billigerweise sollte man erwarten, daß ein Mann, der sich als Politiker aufspielt, der Historiker sein will, diese Tatsachen kennt, um solche Vergleiche zu unterlassen. (Sehr richtig!) 5
Siehe hierzu Nr. 61 in Band 4 sowie Nr. 43 in Band 7/2 dieser Ausgabe.
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Lange .vor Rußland sind Massenstreiks von den Arbeitern in Belgien, Holland, Schweden und Italien geführt worden. Diese sind aber in ihrem Wesen und in ihrem Ziel mit dem russischen Massenstreik nicht zu vergleichen. In Rußland handelt es sich um einen großen revolutionären Kampf, der um die primitivsten staatlichen Existenzbedingungen geführt wird, auf der anderen Seite aber nur um Kämpfe, um ganz bestimmte Ziele und bestimmt abgegrenzte Zwecke. 1893 hat es sich in Belgien um die Eroberung des allgemeinen Wahlrechts gehandelt. 6 D e r Massenstreik hatte unzweifelhaft Erfolg, insofern als die Klassenwahl abgeschafft und das allgemeine Wahlrecht allerdings mit dem Pluralsystem gegeben wurde. Im Gegensatz zu früher, wo sie nicht einen Vertreter in der Kammer hatten, haben die belgischen Genossen jetzt über 30 Vertreter in der Kammer. Dagegen ist der zweite Massenstreik in Belgien im Anfang dieses Jahrhunderts gegen das Pluralsystem mißlungenJ 597 ^ Vielleicht deshalb, weil beim ersten Male die belgische Bourgeoisie überrumpelt wurde und sich ins Bockshorn jagen ließ, das zweite Mal aber nicht. (Lebhafte Zustimmung.) Ganz ähnlich liegt es mit den Massenstreiks in Holland, Schweden und Italien. In Italien z.B. waren die Massenstreiks spontane Ereignisse, die aus dem Naturell des Volkes erklärlich sind. D i e Frage liegt bei uns insofern ähnlich, als wir eventuell mit dem Massenstreik einen bestimmt umgrenzten Zweck erreichen wollen. Es handelt sich bei uns nicht um die Umgestaltung des ganzen politischen Oberbaues der bürgerlichen Gesellschaft. Zudem ist bei uns der Massenstreik, soweit es sich dabei um Eroberung eines politischen Rechtes handelt, im wesentlichen auf Norddeutschland beschränkt. Die süddeutschen Staaten sind bereits Besitzer des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts für die Landtage. Es ist also selbstverständlich, daß, wenn die Norddeutschen als letztes Mittel zur Eroberung des Landtags-Wahlrechts zum Massenstreik greifen, die Süddeutschen dabei nicht mitmachen. Sie können uns nur moralisch und materiell unterstützen. Eine Hoffnung auf einen allgemeinen Sympathiestreik der Süddeutschen wäre auf Sand gebaut. Das müssen wir uns sagen, wenn wir die Situation kalt und nüchtern betrachten. U n d gerade bei dieser Frage ist eine solche Betrachtungsweise vor allem angebracht. O b es im Falle eines Massenstreiks zu Blutvergießen kommen müßte, ist nicht meine Ansicht. Hier weichen meine Anschauungen von denen anderer ab. Jedenfalls darf man nicht sagen, weil in Rußland die Revolution mit dem Massenstreik eingesetzt hat, wird ein Massenstreik bei uns ebenfalls den Beginn einer Revolution bedeuten. Die Dinge wiederholen sich nicht nach derselben Schablone. Der wiederholt ausgesprochene Gedanke, daß ein Massenstreik die Revolution be6
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Siehe Nr. 2 0 / I V in Band 3 dieser Ausgabe.
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deute, und diese uns nicht erspart werde, hat ja neulich die Mainzer Genossen unter Führung des Genossen Dr. David veranlaßt, zu erklären, daß unter keinen Umständen an eine blutige Revolution bei uns gedacht werden dürfe.[598] Der Massenstreik könne zwar einmal als letzte Waffe dienen, aber immer nur als friedliches Kampfesmittel. Nun, Parteigenossen, welche Wirkungen von einer unzufriedenen Masse eventuell ausgehen werden, entzieht sich jeder Berechnung. Wir haben nie erklärt, daß wir eine Revolution machen wollen, wir haben immer erklärt, daß Revolutionen von oben, von den herrschenden Klassen gemacht werden, die den berechtigten Wünschen des Volkes nicht nachkommen. Diese Auffassung haben auch die alten bürgerlichen Staatsrechtslehrer allezeit vertreten und wir mit ihnen.7 Daß aber, wenn das Maß der Unzufriedenheit im Volke den höchsten Grad erreicht hat, es zu explosiven Ausbrüchen kommen kann, ist niemals ausgeschlossen. Diejenigen, die da meinen, Deutschland sei infolge des Volkscharakters der Deutschen für alle Ewigkeit gegen derartige Revolutionen gefeit, die irren sich gewaltig. (Sehr richtig!) Ich kann also nicht das Gegenteil behaupten. Das hängt von den Verhältnissen und den daraus resultierenden Stimmungen ab, die künstlich nicht gemacht werden können. Ebensowenig wie man sagen kann, es wird zur Resolution kommen, kann man sagen, es wird auf keinen Fall zu gewaltsamen Eruptionen in Deutschland kommen. (Sehr richtig!) Für uns kommen für die Anwendung des Massenstreiks bestimmte Voraussetzungen in Frage. In der Jenaer Resolution heißt es, daß es im Falle eines Anschlages auf das allgemeine, direkte, gleiche und geheime Wahlrecht oder das Koalitionsrecht Pflicht der gesamten Arbeiterklasse ist, jedes Mittel anzuwenden und als ein solches Mittel bezeichnen wir die Massen-Arbeitseinstellung. Nun stehe ich nicht an, zu erklären, daß, wenn ein Attentat auf das allgemeine Wahlrecht geplant wird, oder wenn den Arbeitern das Koalitionsrecht genommen werden soll, gar nicht mehr die Frage entstehen kann, ob wir wollen, sondern dann müssen wir. (Sehr richtig!) Rechte, die wir besitzen, lassen wir uns nicht nehmen, sonst wären wir erbärmliche, elende Kerle. (Lebhafte Zustimmung.) Hier ist der Punkt, wo es kein Feilschen und kein Besinnen mehr gibt. Alsdann haben wir allesamt ins Feuer zu gehen, und wenn wir auf der Strecke bleiben. (Erneute lebhafte Zustimmung.) Wenn die Gegner das versuchen, dann haben sie auch die Konsequenzen zu tragen. Dann sind wir als Männer und Frauen, die ihre Menschenrechte verteidigen, Rechte, ohne die kein Volk mehr existieren kann, gezwungen, alles aufzubieten, um ein solches Attentat zurückzuweisen, koste es, was es wolle. (Sehr richtig!) Ich habe die felsenfeste Ueberzeugung, daß alsdann auch weit über den Rahmen der deutschen Sozialdemo7
Siehe hierzu Nr. 27 in Band 1, Nr. 2,13, 51 in Band 2/1 und Nr. 34 in Band 3 dieser Ausgabe. 65
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kratie, weit über den Rahmen der Gewerkschaften hinaus die gesamte Arbeiterklasse, soweit sie politisch denkt und fühlt, soweit sie überhaupt eine Idee von dem Werte dieser Rechte besitzt, sich einmütig diesem Kampf anschließen wird. (Sehr richtig!) Ganz anders, wenn es sich um ein Recht handelt, das man erst erobern muß. Wir müssen uns klar machen, daß die Kraft für Eroberung von Rechten, die in den Einzelstaaten wurzeln, durch Gründung des Deutschen Reichs bedeutend geschwächt ist. Ich glaube nicht, daß ein süddeutscher Genösse behaupten will, es sei ausschließlich unserer Partei zu danken, daß sie das allgemeine Wahlrecht besitzen. Nein, das ist die Folge einer ganz anderen historischen Entwicklung, der ganz anders gearteten ökonomischen und politischen Verhältnisse in den süddeutschen Staaten, insbesondere der grundverschiedenen Stellung der verschiedenen bürgerlichen Parteien untereinander. In keinem dieser Staaten hat man das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht den Sozialdemokraten zuliebe gegeben, sondern die bürgerlichen Parteien glauben nur dadurch die Herrschaft erlangen beziehentlich sich erhalten zu können. (Sehr richtig!) Daß auch die Sozialdemokratie dadurch gewann, ist eine sehr unangenehme Beigabe für die bürgerlichen Parteien. Hätten sie das vermeiden können, dann hätten sie es getan. Man hat auch nach anderer Richtung hin merkwürdige Exkurse in der Partei gemacht; man hat die Dinge vollständig auf den Kopf gestellt, als man so tat, als wenn die Agitation Lassalles das allgemeine Reichstagswahlrecht herbeigeführt hätte. Zu einer Zeit, wo Lassalle mit seiner Forderung noch gar nicht aufgetreten war, bestand in den konservativen Kreisen Preußens, besonders in den Kreisen, die sich damals um Wagener gruppierten, die Idee, auf Grund der Erfahrungen, die die Konservativen in der Konfliktszeit mit dem Dreiklassenwahlsystem gemacht hatten, das allgemeine Wahlrecht für Preußen zu gewähren, in der Hoffnung, daß es dadurch möglich wäre, die oppositionelle Dreiklassenmajorität zu stürzen. Das ist historische Wahrheit, und von diesem Gedankengang ist auch Bismarck beeinflußt gewesen. Es gab für Bismarck bei Schaffung des Reichstages des Norddeutschen Bundes gar keine andere Möglichkeit, als die Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts. So sehr ich bereit bin, unsern Einfluß auf die öffentlichen Dinge nach jeder Richtung hin zur Geltung zu bringen, so muß ich doch auf der anderen Seite sehr nachdrücklich gegen eine derartige Geschichtsfälschung mich wenden, die die Dinge so darstellt, als wären wir damals schon wer weiß wie mächtig gewesen, und wir heute, im Vergleich zu damals, schwach. (Sehr richtig!) Nun ist zweifellos durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für den Reichstag und der dem Reichstag überwiesenen Kompetenz, zu der z.B. das große Gebiet der sozialen Gesetzgebung, der Gesetzgebung für Handel und Verkehr, Militär, Marine usw. gehört, das Interesse der Arbeiter für den Reichstag 66
52 Frauenstimmrecht, politischer Massenstreik und Gewerkschaften in Anspruch genommen worden, während sie für den Landtag kein oder doch nur geringes Interesse hatten. Sagte doch Liebknecht noch vor acht Jahren: „Was geht uns der preußische Landtag an. Lassen wir ihn verfaulen." [599] Ich selbst habe vor 13 Jahren, als Bernstein die Beteiligung an den Landtagswahlen anregte' 600 \ in Köln eine donnernde Philippika gegen die Beteiligung an den Landtagswahlen gehalten. 8 Fast 50 Jahre haben wir uns nicht um den Landtag gekümmert. Es wäre eine psychologische Ueberraschung, wenn [wir] bei der langen Tradition, die uns als eine Kugel am Beine hängt, plötzlich in den Massen große Begeisterung für den Massenstreik gegen das Dreiklassenwahlrecht erwerben wollten. Wenn sich auch die Gegner über mein Zugeständnis freuen, so muß ich doch sagen, es ist noch nicht der Moment gekommen, daß wir in den Massenstreik für das allgemeine Wahlrecht in Preußen einzutreten vermöchten. Nun ist gesagt worden: „Ihr habt früher anders geredet. In Sachsen und Preußen wurde vielfach der Massenstreik geplant." Derartige Anschauungen soll ich nach Silberschmidt auch auf jener Konferenz geäußert haben. Das ist ein arges Miß Verständnis. In Hamburg wurden zum Protest gegen die neue Wahlrechtsvorlage im Mai vorigen Jahres eine große Zahl von Protestversammlungen arrangiert, die aber zur unangenehmsten Ueberraschung der dortigen Parteileitung außerordentlich schwach besucht waren. Es war in der Hamburger Arbeiterschaft gegenüber dem Wahlrechtsattentat des Senats t60'] anfangs keine Stimmung vorhanden. Der Parteivorstand schrieb nach Hamburg, er wäre bereit, mit den Hamburger Genossen zu beraten, was in der gegebenen Situation zu tun wäre. Ich habe hier eine Richtigstellung zu machen. Ich habe in einer Polemik, die ich im Frühjahr mit dem „ E c h o " hatte [6021 , behauptet, daß damals die Anregung zu weiteren Schritten in Hamburg von Seiten des Parteivorstandes ausgegangen sei, ehe noch die Hamburger Genossen daran gedacht hätten, sich weiter ins Benehmen zu setzen, was sie nach jenem Sonntag tun sollten. Das hat sich als Irrtum herausgestellt. Am 22. Mai hatte bereits die Hamburger Parteileitung diese Frage erörtert und beschlossen, die drei sozialdemokratischen Vertreter von Hamburg im Reichstage, Metzger, Dietz und mich, nach Hamburg zu berufen, um in der Sache weitere Schritte zu beraten.' 6031 Mittlerweile war allerdings der Brief des Parteivorstandes unterwegs, traf aber erst Dienstag ein. Es gebührt also zweifellos den Hamburger Genossen der Vorrang der Initiative. Nun ist in jener Zusammenkunft allerdings auch der Massenstreik erörtert worden; aber nicht eine Stimme erklärte, sich auf denselben einlassen zu wollen. Wir waren alle überzeugt, daß es wahnsinnig sei, in diesem Moment in Hamburg an einem Massenstreik zu denken. Es kam hinzu, daß die Vorlage des Senats bekanntlich nicht beabsichtigte, den Arbeitern über-
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Siehe hierzu Nr. 2 0 in Band 3 dieser Ausgabe. 67
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haupt das Wahlrecht zu nehmen, sondern daß sie ein anderes System bezweckte, um den angeblich übermäßigen Einfluß der Sozialdemokratie unter dem alten Zensuswahlrecht nach Möglichkeit zu verhindern. Also weder damals noch später war in Hamburg vom Massenstreik die Rede. Genau dasselbe war in Sachsen der Fall. Dort ist der Parteivorstand wiederholt veranlaßt worden, Konferenzen der sächsischen Parteivertreter über den Wahlrechtskampf beizuwohnen. Ich habe aus verschiedenen Gründen an keiner dieser Konferenzen teilgenommen, kann aber auf Grund von Berichten meiner Vorstandsgenossen erklären, daß allerdings im Gegensatz zu Hamburg eine Minorität der Vertretung innerhalb der sächsischen Sozialdemokratie für die Inszenierung von Massenstreiks war, während die große Mehrheit, und darunter auch die Vertretung des Parteivorstandes, sich energisch gegen den Massenstreik unter den damaligen Verhältnissen ausgesprochen hat.'604] Wäre er dennoch eingetreten, so wäre der Parteivorstand natürlich der letzte gewesen, der öffentlich dagegen aufgetreten wäre. In einem solchen Falle ist er verpflichtet, auch gegen seine bessere Ueberzeugung dafür einzutreten. Soviel Solidaritätsgefühl müssen Sie Ihrem Parteivorstand zutrauen, sonst täten Sie am besten, ihn lieber heute als morgen zum Teufel zu jagen. (Heiterkeit und Zustimmung.) Es ist aber auch nicht wahr, daß in Preußen die Frage des Massenstreiks irgendwo in nennenswerten Kreisen erörtert worden wäre. Die gesamten 78 Abgeordneten waren damals im Reichstag versammelt. Aber von keiner Seite ist dieser Gedanke zur Debatte gebracht worden. Von der Kontrollkommission, die im Januar in Berlin versammelt war, ist ebenfalls niemand an uns herangetreten, es ist auch von keiner Organisation in Preußen ein solcher Antrag gestellt worden, nicht einmal ein Brief mit diesem Wunsche ist an den Vorstand gekommen. Ich kann weiter erklären, daß alle Schritte, die damals beraten worden sind, in voller Uebereinstimmung mit den Vertretern der Parteileitung in Berlin vereinbart wurden, denn wie Sie wissen, ist laut Beschluß des preußischen Parteitags zu Weihnachten 1904, der Parteileitung von Groß-Berlin die Leitung der Geschäfte für Preußen übertragen worden[605], sie war also an erster Stelle berufen, ein entscheidendes Wort mitzusprechen. Allerdings ist auch im Laufe der Diskussionen das Wort Massenstreik gefallen, aber ernsthaft ist von keiner Seite dieser Gedanke vertreten worden. Nun bin ich im höchsten Grade erstaunt gewesen, in einigen Preßäußerungen der letzten Wochen die Anschauung zu hören, daß in erheblichen Kreisen auch der preußischen Partei der Gedanke des Massenstreiks Wurzel gefaßt habe und daß - das hat man nicht gesagt, aber das lag darin - der elende Parteivorstand mit seiner Feigheit und Superklugheit das hintertrieben habe. So wird in einem Artikel des Genossen Stampfer in Nr.49 der „Neuen Zeit" vom 1. September „Wahlrechtsbewegung und Massenstreik" mit aller Entschie68
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denheit betont, daß in den Massen der Genossen der Gedanke des Massenstreiks tiefe Wurzel geschlagen habe, und daß es nur eines entscheidenden Schrittes von Seiten der Leitung bedurft hätte, um denselben zum Ausbruch zu bringen. Nebenbei möchte ich den Genossen doch raten, zu bedenken, daß wir eine demokratische Partei sind und nicht eine Regierung haben, die mit ihrer alles umfassenden Weisheit zu beschließen hat, während Sie nur als Schachfiguren zu betrachten sind, wollte also der Parteivorstand nicht parieren, warum hat man ihn nicht gezwungen? (Heiterkeit und Zustimmung.) Das erste muß also sein, daß wirklich in den Massen der Genossen Stimmung für den Massenstreik vorhanden ist, und diese Stimmung muß ihrerseits den Vorstand vorwärtstreiben. Von alledem haben wir nicht das geringste gemerkt. In dem Artikel Stampfers wird Bezug genommen auf die Versammlungen am 21. Januar, 18. März und 1. Mai und die vielfach darin gehaltenen Reden. Es mag sein, daß der eine oder der andere Redner in der Hitze des Gefechtes eine Drohung mit dem Massenstreik ausgesprochen hat; aber daraus kann man doch nicht schließen, daß die Masse der Genossen für den Massenstreik war. Gewiß wäre es keine Kunst, ein paar hunderttausend Mann in den Massenstreik zu bringen, aber ihre Niederlage wäre totsicher. Der Parteivorstand darf aber auf keinen Fall leichtsinnig eine Niederlage herbeiführen. Die ganze Hoffnung der Gegner geht dahin, daß wir uns leichtfertig eine Niederlage holten, um unsere Kampfesfähigkeit auf alle Zeit zu vernichten. (Lebhafte Zustimmung.) Daß man das schließlich für alle Zeit nicht fertig bringt, das weiß ich, das haben wir unter dem Sozialistengesetz bewiesen. Aber wir wären Toren und Narren, wenn wir uns zum zweiten Male eine derartige Situation und nunmehr durch eigene Schuld auf den Hals laden wollten. (Sehr richtig!) Die ganzen Darlegungen Stampfers mögen der ehrlichen Ueberzeugung des Schreibers entsprungen sein, aber es fehlt ihm vollständig der Kontakt mit der großen Mehrheit der Parteigenossen. (Lebhafte Zustimmung.) Es wurde ferner in dem Artikel Stampfers und in anderen Preßerzeugnissen bemängelt, daß wir unsere Petition an das Abgeordnetenhaus und Herrenhaus wie üblich mit „Hochachtungsvoll ergebenst" unterschrieben. (Heiterkeit.) Darüber auf jener Seite Empörung. Das war ein Haupt- und Kardinalverbrechen. Nun, wir alle sind ja schon in der Lage gewesen, an höher gestellte Personen, Korporationen usw. schreiben zu müssen und dabei die üblichen Floskeln zu gebrauchen, die mit dem inneren Gefühl sehr wenig zu tun haben. Es ist eben eine der konventionellen Lügen, an denen die bürgerliche Gesellschaft so außerordentlich reich ist. Oder meinen Sie etwa, wir hätten in der Tat diese so fürchterlich erscheinenden Gefühle gehabt. (Heiterkeit.) Ich habe manchen der Kritiker in Verdacht, daß er sogar in Briefen an einen oder den anderen Parteigenossen am Schluß eine Floskel gebraucht hat, die mit seinen inneren Gefühlen 69
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gegen denselben sehr wenig zusammen traf. (Große Heiterkeit und Sehr gut!) Daraus dem Parteivorstand einen Strick drehen zu wollen, ist lächerlich kleinlich. (Sehr wahr!) Was war der Zweck dieser Petition? Wir wollten auf diesem Wege erreichen, daß diese Körperschaften noch einmal ihr Urteil über diese Wahlrechtsfrage abgeben sollten. Freilich kam dann die sogenannte Wahlkreisreform des Ministers des Innern9, und durch deren Beratung wurde die Petition einfach für erledigt erklärt, so daß unser Zweck nicht erreicht wurde. Ein weit stärkeres Stück wie der Artikel von Stampfer ist derjenige des Genossen Maurenbrecher. Ich bedauere außerordentlich, daß ich mich mit diesem Genossen auseinandersetzen muß. Der Artikel der „Neuen Gesellschaft", Heft 34, ist betitelt: „Die nächste Aktion". Ich habe schon vorhin meine Verwunderung über eine politische Auffassung Maurenbrechers ausgesprochen. Ich persönlich habe dazu um so mehr Ursache, als ich es gewesen bin, der im Parteivorstand angeregt hat, daß Genösse Maurenbrecher in die neue Parteischule als Lehrer aufgenommen wurde und das Fach Geschichte zugewiesen bekam.[606] Ich stehe aber gar nicht an zu erklären, daß, wenn ich diesen Artikel gekannt hätte, ich wahrscheinlich anders gehandelt hätte. Nicht, daß Genösse Maurenbrecher zu dem Parteivorstand in Opposition tritt - das wäre ja Wahnsinn, wenn ein derartiges Motiv für uns maßgebend sein sollte! Er kann so scharf schreiben wie er will - aber was er schreibt, muß Hand und Fuß haben. Es müssen Gründe sein und nicht Behauptungen, von denen ich sagen muß, daß wenn ein Quartaner eine derartige historische Auffassung verrät, ich das begreife, nicht aber von einem 30jährigen Mann, der Lehrer der Geschichte werden soll. Er schreibt: „Die Kraftlosigkeit und Aktionslosigkeit der Partei kontrastiert zu stark mit den großen Worten, die wir im letzten Winter an manchen Stellen gehört haben." Und nachdem er über die angeblich vorhandene Stimmung in weiteren Parteikreisen gesprochen, fügt er hinzu: „Aber zugrunde liegt überall das Gefühl: Wir wollen endlich einmal einen Fortschritt sehen." Dann kommt er auf die historische Auffassung, die ich vorhin bereits widerlegte, und schreibt weiter: „Es muß ein Erfolg errungen werden, sonst gräbt sich die Unlust, das Gefühl der Unfruchtbarkeit, der Sackgasse, der falschen Leitung noch tiefer ein als bisher." Und an einer anderen Stelle seines Artikels heißt es: „Wir müssen das Vertrauen der Masse wieder gewinnen, indem wir ihnen Ziele zeigen, die zu erreichen heute schon möglich sind, und für die es sich lohnt, zu kämpfen." Ich fordere Sie hiermit allesamt auf, wenn einer von Ihnen aus seiner eigenen Erfahrung imstande ist zu bestätigen, daß das Bild, das hier Maurenbrecher von der Parteistimmung entwirft, richtig ist, dann will ich pater peccavi sagen. Aber es ist nicht wahr; nirgends ist das vorhanden. (Sehr 9 70
Theobald von Bethmann Hollweg.
52 Frauenstimmrecht, politischer Massenstreik und Gewerkschaften richtig!) Wie in aller Welt kann vor allem ein Historiker sagen: „Wir müssen einen Erfolg haben?"' 60 ^ Wie kann man einer Partei, die in der Minorität ist, die nicht über die Staatsgewalt verfügt - wie kann man der zumuten: Du mußt einen Erfolg haben? Ich freue mich ja über diesen Durst nach Taten, den Genösse Maurenbrecher zeigt. Er ist drei Jahre in der Partei - das soll kein Vorwurf für ihn sein - wir aber stehen in der Mehrzahl bereits vier-, fünf-, ja mehr als zehnmal länger in der Partei, und da können Sie wohl glauben, daß wir, die wir mit der Zahl der Jahre auch dem Ende unseres Lebens entgegen gehen, allesamt das dringende Verlangen haben, nicht nur einen Erfolg, sondern hundert Erfolge, ja den ganzen Erfolg zu haben. (Lebhafte Zustimmung.) Wir arbeiten alle mit Leibeskräften daran, um ihn zu erzielen; aber zu sagen: jetzt müssen wir einen Erfolg haben, oder wir sind verloren, ist einfach eine naive Auffassung von den Entwickelungsmöglichkeiten der Geschichte eines Volkes. (Lebhafte Zustimmung.) Und wo haben wir denn das Vertrauen der Massen verloren, daß wir es wiedergewinnen müssen, wo, irgend wo? - Zeigt das mangelnde Vertrauen der Massen zu uns etwa die gewaltige Zunahme der organisierten Genossen, die steigende Abonnentenzahl der Parteipresse, zeigen das unsere Erfolge bei den Landtags-, bei den Gemeindewahlen oder bei den Reichstagswahlen? Genau das Gegenteil ist der Fall. (Lebhaftes Sehr richtig!) Genösse Hilferding, der unseren preußischen Verhältnissen fernsteht, hat ein viel richtigeres Urteil über die Situation der Partei in Preußen und über den Massenstreik abgegeben als Maurenbrecher. Es denkt niemand von uns daran, die Jenenser Beschlüsse aufzuheben oder irgendwie zu beschränken. Nicht ein Wort der Jenenser Resolution entspricht der Auffassung, die die Gegner der Taktik des Vorstandes geäußert haben. Ebensowenig nehme ich ein Wort meiner damaligen Rede zurück. Ich möchte hier nur eine charakteristische Stelle hervorheben. Nachdem ich die verschiedenen Massenstreiks in den verschiedenen Ländern besprochen habe, komme ich auf Deutschland, und da sage ich: „Wir Deutschen tun nicht so leicht einen Schritt, den wir uns nicht genau überlegt haben, was uns ja den Vorwurf zugezogen hat, wir wären wie der österreichische Landsturm, der immer hinten nachhinkt. Wir sind der Meinung: Ehe wir uns in so große Kämpfe einlassen, müssen wir erst gründlich organisieren, agitieren, politische und wirtschaftliche Aufklärung schaffen, die Masse selbstbewußt und widerstandsfähig machen, sie begeistern für den Moment, wo wir ihr sagen müssen: ,Du hast Dein Alles einzusetzen, weil eine Lebensfrage für Dich als Mensch, als Familienvater, als Staatsbürger auf dem Spiele steht.' " w 10 Siehe Nr. 46/11 in Band 7 / 2 dieser Ausgabe. 71
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Wenn ich in Jena mit großer Begeisterung für den Massenstreik eingetreten bin, als eventuelles Kampfmittel, so kann man doch aus keinem Worte herausnehmen, daß ich bereits im nächsten Jahre für einen Massenstreik eingetreten sei. Gerade weil es sich für uns nach der ganzen Gestaltung der politischen Verhältnisse in Deutschland um ganz bestimmte Rechte handelt, für die der Massenstreik gegebenen Falles inszeniert werden soll, und weil wir in unser aller Interesse den Wunsch haben müssen, eine solche Demonstration vollständig in der Hand zu haben, verlangen wir, daß noch in viel höherem Maße agitiert und aufgeklärt wird, damit wir im gegebenen Moment unsere disziplinierten Massen, die die undisziplinierten fortreißen sollen, in der Hand haben, so daß keine Dummheit gemacht wird. (Sehr richtig!) Ich erkläre Ihnen im Namen des gesamten Parteivorstandes und der Kontrollkommission, die wir darüber beraten haben, wir stehen auf dem Boden, daß zwar der Massenstreik notwendig sei, aber wir lassen uns nicht wider unsere Ueberzeugung in einen Massenstreik hineinhetzen, einerlei von welcher Seite das geschieht. (Lebhafter Beifall.) Ich betrachte den Massenstreik als die ultima ratio, das letzte und zwar friedliche Mittel unserer Partei, als ein Kampfmittel, das wir mit aller Kraft und Disziplin und Selbstbeherrschung anwenden müssen, um es so zu gestalten, wie wir es im Interesse der Partei und des Volkes für notwendig halten. (Sehr richtig!) Das können wir mit unserer jetzigen Organisation noch nicht riskieren. Hier optimistisch sein zu wollen, halte ich für falsch. Wir haben nach jeder Richtung hin unsere Tätigkeit zu entfalten. Die Anregung in Jena hat bereits in der kurzen Frist von einem Jahre sehr schöne Erfolge gebracht. Aber die Agitation und Organisation muß noch ganz anders entwikkelt werden, und wenn das geschieht, wollen wir sehen, was wir weiter tun können. Mir ist in der gegnerischen Presse, zuerst in der „Frankfurter Zeitung", nachgesagt worden, daß ich hin und her geschwankt hätte in der Frage des Massenstreiks, ja, daß ich mich in Bremen gegen denselben erklärt hätte. Das ist einfach nicht wahr. In Amsterdam haben wir alle für die Massenstreik-Resolution gestimmt.'6081 In Bremen habe ich nichts weiter über den Massenstreik gesagt, als daß man bis zum nächsten Parteitag, auf dem er erörtert werden solle, ihn in der Presse und Versammlungen gründlich besprechen möge.[609] Es entsteht nun die Frage: Wie stehen unsere Gewerkschafter zum Massenstreik? Sie wissen alle, daß bei den Debatten, die wir voriges Jahr in Jena gehabt haben, vielfach auf die Kölner Resolution'6093' Bezug genommen worden ist und die Meinung vertreten wurde, daß jene Resolution mit der Jenaer im Widerspruch steht. Ich will mich hier über diese Frage nicht weiter aussprechen. Ich möchte aber doch das eine konstatieren, und zwar tue ich es mit Freuden, daß, 72
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soviel Unangenehmes in bezug auf die Partei aus den Reden einzelner Redner auf der Konferenz der Gewerkschaftsvorstände in Berlin ausgesprochen worden ist, die Verhandlung im großen und ganzen gezeigt hat, daß wir uns trotz alledem bedeutend näher gekommen sind als das noch in Jena der Fall zu sein schien. (Sehr richtig!) Darüber kann kein Zweifel bestehen. Es hat mir insbesondere eine große Genugtuung bereitet, in der Rede des Genossen Bömelburg auf jener Konferenz zu lesen, daß er die Ansicht ausspricht: wenn es sich einmal darum handele, daß das für die Arbeiter und speziell die Gewerkschaften unentbehrliche Koalitionsrecht in Frage gestellt werde, alsdann die Gewerkschaften gar nicht erst die Initiative der Partei abzuwarten hätten, sondern sie müßten dann selbst auftreten und mit dem Massenstreik ins Zeug gehen. Das ist eine erfreuliche Uebereinstimmung. Ich habe auch aus einer anderen Bemerkung in jenem Protokoll ersehen, daß ein ausgesprochener Gegner des Massenstreiks in jener Versammlung sagte: „Ich habe an mir gemerkt, daß man nach und nach anfängt, sich an den Gedanken des Massenstreiks zu gewöhnen."^ 10 ' Das beweist, daß durch die Erörterungen in Köln [61, l und Jena und nachher in der Presse doch eine große Anzahl Genossen zu tieferem Nachdenken veranlaßt worden ist und daß die Ergebnisse ihres Nachdenkens erheblich abweichen von ihrem früheren Gedankengang. Daß wir die Gewerkschaften für die Idee des Massenstreiks gewinnen müssen, erscheint mir zweifellos. Ebenso, daß der Massenstreik ohne Mitwirkung der Gewerkschaften nicht durchführbar ist. (Sehr richtig!) Auf der anderen Seite allerdings ist in den Gewerkschaftskreisen durch eine Reihe von Aeußerungen in Artikeln und Reden und namentlich auch bei den Verhandlungen der Gewerkschaftskonferenz in diesem Frühjahr der Gedanke zum Ausdruck gekommen, daß man in der sozialdemokratischen Partei geneigt wäre, mit dem Massenstreik zu spielen. Für diese Ansicht spricht z.B. auch die Niederbarnimer Resolution, die das wunderbarste leistet, was in dieser Hinsicht geleistet werden kann. Parteigenossen ! Weiß denn der Niederbarnimer Wahlkreis, der mit Mehrheit diese Resolution angenommen hat, nicht, was der Parteitag für Preußen über die Straßendemonstrationen beschlossen hat?[6121 Weiß er denn nicht, daß, wenn wir nach dem Wortlaut der Resolution Straßendemonstrationen inszenierten, das zu einem Blutbad führt, ohne daß wir die Garantie haben, aus dem Blutbad als Sieger hervorzugehen? Es wird nicht bloß von Demonstrationen gesprochen, sondern gleich in der Mehrzahl auch von Massenstreiks. Die Massenstreiks werden danach als ein alle Augenblicke anwendbares Agitationsmittel dargestellt. Heute machen wir einen Massenstreik, morgen machen wir einen und übermorgen wieder einen. Derartige Auffassungen müssen wir entschieden ablehnen. Ich kann den Parteitag nur bitten, die gesamten Resolutionen, die zu diesem Kapitel gestellt sind, abzulehnen und die Resolution anzunehmen, 73
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die wir Ihnen vorschlagen. Ich bemerke dabei, daß der übergroße Teil dieser Resolutionen schon in diesem Augenblick erledigt ist. Denn sie verlangen, man solle das Mittel des Massenstreiks nicht preisgeben. Dazu war man gekommen durch die Veröffentlichungen der „Einigkeit", die den Anschein erweckten, im Parteivorstand sei der Gedanke vorhanden, man wolle die Jenaer Resolution preisgeben. Es wird weiter verlangt, man solle eine Broschüre über den Massenstreik veröffentlichen. Das ist schon in Jena beschlossen worden und dieser Beschluß wird auch ausgeführt werden. Da aber seine Ausführung nicht sofort möglich war, veranlaßten wir, daß zunächst die gesamten Verhandlungen des Parteitages über den Massenstreik gedruckt und veröffentlicht wurden. [6,3) Es wird ferner in einer Resolution verlangt, wir sollten auch die jetzigen Verhandlungen über den Massenstreik veröffentlichen. Ich für meine Person habe nichts dagegen. Ist das aber der Fall, dann glaube ich kaum, daß noch jemand in einer Broschüre etwas Neues über den Massenstreik wird sagen können. Dann wird es sich nur um eine Broschüre für jene Kreise handeln, die bisher der Partei fernstanden, und das halte ich für nützlich. In Stettin auf dem Parteitag für Pommern hat man sich mit einer ähnlichen Resolution' 613 ^ befaßt wie in Niederbarnim. Es wurde zugunsten derselben gesagt, ich stünde im Parteivorstand allein und bedürfe einer Rückenstärkung. Ich kann Ihnen sagen: Wir sind im Parteivorstand in der Frage des Massenstreiks eins, so daß ich gar nicht notwendig hatte, irgendwie den Dränger und Schieber zu machen, ja daß sogar in einem Punkte ich für meine Kollegen zu konservativ gewesen bin. (Hört! hört!) Ich hatte nämlich in dem Entwurf meiner Resolution den Vorschlag, daß, sobald der Parteivorstand sich von der Notwendigkeit des Massenstreiks überzeugt habe, er sofort einen außerordentlichen Parteitag einberufen müsse, der darüber Beschluß zu fassen habe. Diesen Vorschlag hielt man im Parteivorstand für kaum ausführbar und so ließ ich ihn fallen. Im übrigen betone ich noch einmal, ist die Parteileitung in der Auffassung einig. Ich habe mich nun noch mit wenigen Worten gegen eine Resolution zu wenden, die die Mühlhauser Genossen gefaßt haben. Die Resolution steht unter Nummer 64 und bezieht sich darauf, daß Gefahr bestehe, daß in dem großen Befreiungskampfe Rußlands die preußische Regierung Gelüste bekommen könnte, preußische Truppen nach Rußland einrücken zu lassen, um die Revolution mit Hülfe deutschen Blutes zu ersticken. Der Genösse Maurenbrecher hat denselben Gedanken in einem Artikel geäußert.[614] Auch im Auslande war diese Meinung weit verbreitet. Aus den verschiedensten Kreisen der russischen Genossen wurden Anfragen an mich gestellt, ob es wahr sei, daß Deutschland intervenieren wolle und wie sich die deutschen Sozialdemokraten dabei verhalten würden. Darauf habe ich geantwortet: Es sei nicht daran zu denken, daß 74
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Deutschland intervenieren werde. 11 Habe man auch eine noch so schlechte Meinung von der Leitung unserer auswärtigen Politik, so müsse man doch sagen, eine solche Intervention ist undenkbar. Der Reichskanzler 12 selbst hat auch die erste Gelegenheit wahrgenommen und im Reichstag erklärt, daß diese Gerüchte unwahr seien, daß in Deutschland-Preußen kein Mensch daran denke, sich Rußlands anzunehmen. Es ist nicht zu leugnen, daß das Herz des deutschen Kaisers13, der Regierung und der Bourgeoisie auf Seiten des Zaren 14 sind. Selbstverständlich wünscht man in allen diesen Kreisen, daß es gelingen möge, die russische Revolution niederzuzwingen; aber bis zur Tat, deutsche Truppen in Rußland einmarschieren zu lassen, ist noch ein großer Schritt. (Sehr wahr.) Man exemplifizierte dabei auf das Jahr 1792. Aber damals war ganz Europa der Feind der französischen Revolution. Damals konnte eine europäische Koalition geschaffen werden, damals konnte man hoffen, die Revolution im Blute zu ersticken. Und doch ist der Versuch mißglückt. Die Situation von 1792 und 1906 ist eine total verschiedene. Heute gibt es keine europäische Koalition, die gegen Rußland mobil zu machen bereit wäre, heute steht Deutschland infolge seiner ungeschickten auswärtigen Politik isoliert da. Die österreichische Presse aller Parteien hat sofort in der energischsten Weise dagegen protestiert, daß man an ein solches Einschreiten denken könne. Das Einschreiten Deutschlands in Rußland würde einen europäischen Krieg bedeuten. (Sehr wahr!) Man wird sich also in Deutschland hüten, eine solch ungeheure Gefahr hervorzurufen. (Sehr wahr!) Was ist das, was die Mühlhauser Genossen beantragt haben, anderes, als der auf dem Züricher Kongreß durch Nieuwenhuis befürwortete Generalstreik um den Frieden im Falle des Ausbruchs eines Kriegesp[6i5] j a> Genossen, die wenigsten von Ihnen haben einen großen Krieg erlebt. Sie haben keine Ahnung von der Situation, die 1870 bei Ausbruch des Krieges bestand. Mittlerweile sind wir freilich viel stärker geworden; aber auch die Machtmittel der Gegenseite sind gewaltig gewachsen. (Sehr richtig!) Vor allem ist die militärische Rüstung ganz anders geworden. Wer glaubt denn, daß man in einem Moment, wo eine gewaltige Aufregung, ein Fieber die Massen bis in die tiefsten Tiefen aufrüttelt, wo die Gefahr eines ungeheuren Krieges mit seinem entsetzlichen Elend uns vor Augen steht, wer glaubt, daß es in solchem Augenblick möglich ist, einen Massenstreik zu inszenieren? (Sehr richtig!) Das ist eine kindliche Idee. Bei Ausbruch eines solchen Krieges marschieren vom ersten Tage 11 12 13 14
Siehe Nr. 151 in Band 9 dieser Ausgabe. Bernhard von Bülow. Wilhelm II. Nikolaus II. 75
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ab in Deutschland 5 Millionen unter den Waffen, darunter viele hunderttausend Parteigenossen. Die ganze Nation steht unter den Waffen! Furchtbares Elend, allgemeine Arbeitslosigkeit, Hunger, Stillstand der Fabriken, Sinken der Wertpapiere - glaubt man, man könne in einem solchen Moment, wo jeder nur an sich denkt, einen Massenstreik inszenieren? (Sehr gut!) Würde eine Parteileitung so kopflos sein, an einem solchen Tage einen Massenstreik zu inszenieren, so würde sofort mit der Mobilmachung der Kriegszustand über ganz Deutschland verhängt werden, und dann haben nicht mehr die Zivilgerichte, sondern die Militärgerichte zu entscheiden. Ich habe schon läuten hören, und das halte ich für wahrscheinlich, weil man in den entscheidenden Kreisen glaubt, die Sozialdemokratie könnte so töricht sein und einen solchen Beschluß fassen, daß man sich an maßgebender Stelle schon lange mit dem Gedanken trägt, allen Führern der Sozialdemokratie dasselbe Schicksal zu bereiten, wie 1870 den Mitgliedern unseres P a r t e i a u s s c h u s s e s . W e n n Sie glauben, daß in einem solchen Falle die Gegner irgend welche Nachsicht üben würden, so irren Sie sich; ich halte auch für unbegreiflich, daß man das in einem solchen Falle erwartet. Es ist eben bei uns anders, als in anderen Ländern. Deutschland ist ein Staatswesen, wie es zum zweiten Male nicht existiert. Man mag das oben als Kompliment ansehen, es ist aber Wahrheit und diese Wahrheit müssen wir uns vor Augen halten und danach unser Handeln einrichten. (Sehr richtig!) Ich kann Sie nur dringend bitten, auch die Resolution Mühlhausen abzulehnen. - Nehmen Sie die von uns vorgeschlagene Resolution an, damit ist der Weg gegeben, auf dem die Partei siegreich ihr Ziel verfolgen kann. (Stürmischer Beifall!)
[Resolutionsentwurf] I. D e r Parteitag bestätigt die Beschlüsse des Jenaer Parteitages den politischen Massenstreik betreffend. Der Parteitag empfiehlt nochmals besonders nachdrücklich die Beschlüsse zur Nachachtung, die die Stärkung und Ausbreitung der Parteiorganisation, die Verbreitung der Parteipresse und den Beitritt der Parteigenossen zu den G e werkschaften und der Gewerkschaftsmitglieder zur Parteiorganisation fordern. Sobald der Parteivorstand die Notwendigkeit eines politischen Massenstreiks für gegeben erachtet, hat derselbe sich mit der Generalkommission der Gewerkschaften in Verbindung zu setzen und alle Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich sind, um die Aktion erfolgreich durchzuführen. II. Die Gewerkschaften sind unumgänglich notwendig für die Hebung der Klassenlage der Arbeiter innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Dieselben 76
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stehen an Wichtigkeit hinter der sozialdemokratischen Partei nicht zurück, die den Kampf für die Hebung der Arbeiterklasse und ihre Gleichberechtigung mit den anderen Klassen der Gesellschaft auf politischem Gebiet zu führen hat, im weiteren aber über diese ihre nächste Aufgabe hinaus die Befreiung der Arbeiterklasse von jeder Unterdrückung und Ausbeutung durch Aufhebung des Lohnsystems und die Organisation einer auf der sozialen Gleichheit aller beruhenden Erzeugungs- und Austauschweise, also der sozialistischen Gesellschaft, erstrebt. Ein Ziel, das auch der klassenbewußte Arbeiter der Gewerkschaft notwendig erstreben muß. Beide Organisationen sind also in ihren Kämpfen auf gegenseitige Verständigung und Zusammenwirken angewiesen. U m bei Aktionen, die die Interessen der Gewerkschaften und der Partei gleichmäßig berühren, ein einheitliches Vorgehen herbeizuführen, sollen die Zentralleitungen der beiden Organisationen sich zu verständigen suchen. Ebenda, S. 227-241,131/132.
III Schlußwort
zur Debatte
über die Stellung zum politischen
Massenstreik
27. September 1906 Zu meinem Bedauern muß ich auf eine Reihe von Aeußerungen eingehen, die über meine Rede in Jena zum Ausdruck gebracht wurden. Zu meinem noch größeren Bedauern muß ich mich mit dem Anfange der Ausführungen Legiens beschäftigen, in denen er ausführlich und aggressiv namentlich gegen meine Person sich gewandt hat. Es handelt sich zunächst um die Vorgänge innerhalb der Konferenz im Februar zwischen Parteivorstand und Generalkommission und um die Erklärungen, die angesichts und infolge jener Vorgänge sowohl von Seiten des Parteivorstandes als auch der Generalkommission veröffentlicht worden sind. Legien hat gestern mit lebhafter Entrüstung hervorgehoben, daß es eigentlich eine Kühnheit von mir gewesen sei, ohne Rücksicht auf den Parteivorstand, nachdem die „Einigkeit" einzelne Teile jenes Protokolls veröffentlicht hatte, gegen die Ausführungen des Protokolls und namentlich gegen die 6 Thesen' 6181 , die Silberschmidt formuliert hatte, Stellung zu nehmen. Wenn ich jemals in meinem Leben Ursache hatte, mich persönlich gegen Unterstellungen, die in der Art, wie sie veröffentlicht wurden, die schwersten Beleidigungen gegen mich enthielten, zu wehren, so war das bei jener Gelegenheit der Fall. (Lebhafter Widerspruch.) Und als meine Auffassung des Vorganges von Seiten der General77
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Gewerkschaften
kommission mit einer Gegenerklärung' 619 ' beantwortet wurde, mußte ich dringend wünschen, daß der Parteivorstand seinerseits erklärte, wie er die Sachlage auffaßte. Jene Verhandlungen waren unverbindlich. Was von den einzelnen Rednern vorgeschlagen worden ist, war ihre persönliche Anschauung. Und nun die sechs Thesen Silberschmidts, deren erster Punkt eine Darstellung meiner Auffassung gibt, die, wenn sie richtig wäre, mich nicht nur unwürdig machte, Mitglied des Parteivorstandes zu sein, sondern auf Grund deren ich aus der Partei herausfliegen müßte. (Hört! hört!) Ich hatte also alle Ursache zu einer Richtigstellung, in der ich ausführte, daß der erste Satz in der allgemeinen Form, die Silberschmidt ihm gegeben hatte, unmöglich Geltung haben könne, da doch niemand glauben könnte, daß ich gegen meine eigene Resolution handele, sondern daß es sich nur um einen gegenwärtigen Massenstreik anläßlich der preußischen Wahlrechtsbewegung handelt. (Zuruf Silberschmidts: Anderes haben wir ja nicht behauptet.) Was Sie weiter noch behauptet haben in der Konferenz, das weiß ich nicht, aber der Wortlaut dieser sechs Thesen stimmt mit den Ausführungen Ihres Referats überein, und daraus geht allerdings hervor, daß in der Tat diese Darstellung einen vollständigen Frontwechsel meinerseits nicht nur, sondern einen direkten Verrat an meiner früheren Auffassung bedeutete. (Zuruf Silberschmidts: Das ist niemand eingefallen.) Sie würden dem Parteivorstand und mir große Verlegenheiten erspart haben,wenn Sie das, was Sie mir jetzt eben zugerufen haben, damals sofort in einer öffentlichen Erklärung gesagt haben würden. Eine Masse von Streit, Bitternis und Enttäuschung wäre mit einer Zeile aus der Welt geschafft worden. (Sehr richtig!) Sie begreifen also, daß ich in dieser Situation jene Erklärung abgeben mußte, da ich nur für meine Person die Ausführungen gemacht hatte. Noch eins: Legien hat selbst, bevor er gestern seine Angriffe gegen meine Person richtete, am Abend des vorhergehenden Tages all seine Beredsamkeit aufgeboten, um mich zu bestimmen, daß ich in der gestrigen Parteitagssitzung ohne Rücksicht auf den Parteivorstand und die Kontrollkommission, die meine Resolution mit verfaßt haben, eine persönliche Erklärung abgeben sollte, daß ich mit seinem Amendement einverstanden sei. (Hört! hört!) Dieses Ansinnen steht im stärksten Widerspruch zu der Anklage, die er gestern gegen mich geschleudert hat. (Lebhafte Zustimmung.) Legien hat dann von uns verlangt, daß der Parteivorstand öffentlich vor dem Parteitag zugebe, daß er mit der Veröffentlichung des Protokolls ein schweres Unrecht begangen habe. Er verlangt also nicht mehr und nicht weniger von uns als einen Fußfall vor der Generalkommission. (Sehr wahr!) Darauf lassen wir uns nicht ein. Ich habe selber ausgeführt, daß wir einen Schritt getan haben, der sich mit den strengen Formen des Rechts nicht in Einklang bringen läßt, aber auch zu gleicher Zeit auf die Umstände hingewiesen, die uns genötigt haben, dem allgemeinen Drängen 78
52 Frauenstimmrecht, politischer Massenstreik und Gewerkschaften aus der Partei heraus nachzugeben und angesichts der großen Verwirrung, die durch die Veröffentlichungen der „Einigkeit" hervorgerufen wurde, diesen Teil des Protokolls der gesamten Partei und auch den Gewerkschaften mitzuteilen, damit sie aus dem Inhalt desselben sich ein wahres Bild von den Vorgängen machen könnten. Ich setze hinzu, wenn wir nicht so gehandelt hätten, wären die Verhandlungen, die wir gestern und heute über diesen Gegenstand gepflogen haben, gar nicht möglich gewesen. (Sehr wahr!) Ich behaupte, daß die Veröffentlichung auch im Interesse der Generalkommission lag, weil aus den Bruchstükken, die die „Einigkeit" veröffentlichte, allgemein der Glaube entstehen mußte, daß noch viel Schlimmeres im Protokoll stehen müßte. Die „Einigkeit" hat auch durch allerlei dunkele Andeutungen dazu reichlich Veranlassung gegeben. Ich habe mir freilich gesagt, das sage ich offen, nachdem ich zufälligerweise Gelegenheit gehabt hatte, von dem Zirkular Einsicht zu nehmen, das die Generalkommission an die Mitglieder jener Konferenz schickte, in dem sie ihnen unseren Antrag zur Kenntnis brachte, daraufhin wird die große Mehrheit der Verbände die Veröffentlichung ablehnen. Ich glaube aber, daß nunmehr die große Mehrheit der Mitglieder jener Konferenz, die gegen die Veröffentlichung sich ausgesprochen hat, jetzt auch erkennt, daß diese Veröffentlichung ein Akt der Klugheit nicht nur, sondern der Notwendigkeit war für sie selbst. (Sehr richtig!) Ich will nicht längere persönliche Ausführungen machen, soviel Grund ich dazu auf die Angriffe Legiens hätte. Ich will auch keine Ausführungen machen über die Lokalisten und ihr Verhalten der Generalkommission, dem Parteivorstand und speziell mir gegenüber. Ich gehe auf all diese Dinge nicht ein, weil sie nicht zu diesem Punkte der Tagesordnung gehören, sondern zu den Anträgen, die uns im weiteren Verlauf der Debatten noch beschäftigen werden und die sich speziell mit den Lokalisten befassen. Ich kann nur erklären: Wenn irgendwo auf dem Parteitag der Glaube vorhanden sein sollte, daß der Parteivorstand irgendwelche Sympathien nach irgend welcher Richtung mit den Lokalisten habe oder ihnen irgend eine moralische oder sonstige Unterstützung in ihrem Treiben habe angedeihen lassen, so ist das eine durchaus falsche und irrige Meinung. Wenn wir das getan hätten, hätten wir in schwerer Weise die Parteiinteressen verletzt. Wie der Parteivorstand und die einzelnen Mitglieder desselben über diese lokalistischen Organisationen denken, ganz abgesehen von dem anarchosozialistischen Charakter, den sie erst in den letzten Jahren angenommen haben, das haben wir wiederholt in Resolutionen und Erklärungen zum Ausdruck gebracht, so auf dem Parteitag in Halle a.S., auf dem Parteitag in Lübeck und in verschiedenen Resolutionen zur MaifeierJ 6201 Wir sind einstimmig der Ansicht, daß eine lokalistische Organisation vom Standpunkt der heutigen ökonomischen und sozialen Entwickelung einfach ein Nonsens ist, daß, wenn die Arbeiterklasse 79
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Erfolge im Kampf gegen den Kapitalismus erringen will, es des Zusammenfassens aller Kräfte bedarf. Es ist das immanente Gesetz der kapitalistischen Entwickelung, daß alles auf Konzentration hinausläuft. Wir sehen die gewaltige Entwickelung des Großkapitals, wie es sich immer mehr konzentriert nicht nur national, sondern auch international, wir sehen diese Gestaltung des ökonomischen Entwickelungsprozesses innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft in allen Staaten der Welt, in denen moderne Kultur und damit moderne Industrie vorhanden ist, wir sehen, wie die Unternehmer auf nationaler und internationaler Grundlage gegen die Arbeiter sich organisieren. Konzentration und Zentralisation ist auch das immanente Gesetz, das die Staatswesen beherrscht und zur Einheit drängt. Nationalstaat mit einer Zollgrenze, einer Armee und Marine, mit gleichem Gelde, gleichem Maß und Gewicht, gleichem Recht. Wie man angesichts einer solchen Entwicklung und einer solchen Macht der Unternehmerklasse gegenüber der Arbeiterklasse durch lokalorganisierte Gewerkschaften etwas ausrichten zu können glaubt, das verstehe, wer mag. Jedenfalls ist der Parteivorstand und die Partei in ihrer großen Mehrheit der Meinung, daß diese lokalistischen Gewerkschaften vollständig ohnmächtig sind, die Aufgaben der Arbeiterklasse zu erfüllen. (Lebhafte Zustimmung.) Legien hat weiter gemeint, wir seien zur Veröffentlichung des Protokolls ganz wesentlich durch den moralischen D r u c k der Berliner veranlaßt worden; er meint, es scheine ihm überhaupt, daß der Parteivorstand gar zu sehr dem Druck von außen folgt. Soll damit gesagt sein, daß der Parteivorstand aufmerksam die Stimmungen in der Partei verfolgt und danach seine Maßnahmen trifft, so erkläre ich, daß der Parteivorstand das allerdings bisher getan hat und daß er es für seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit hält, das auch weiter zu tun. (Sehr gut!) U n d wenn speziell eine so gewaltige Parteiorganisation wie die von Berlin mit einer so großen Zahl intelligenter und bewährter Genossen mit Wünschen an den Parteivorstand herantritt, haben wir allerdings die Pflicht, die Wünsche zu prüfen und, wenn sie berechtigt sind, zu erfüllen. (Sehr richtig!) Es war also eine selbstverständliche Pflicht des Parteivorstandes, dem Wunsche der Berliner Genossen auf Veröffentlichung des Protokolls nachzukommen; das war aber nicht nur Wunsch der Berliner, sondern der Wunsch der ungeheueren Mehrheit der Genossen in ganz Deutschland. (Lebhafte Zustimmung.) Damit verlasse ich die persönlichen Auseinandersetzungen, obwohl ich noch manches zu sagen hätte. Ich möchte im Interesse des Zieles, das uns alle vereinigt, nicht das Trennende hervorheben, sondern möglichst das Einigende. (Sehr richtig!) Ich werde aus diesem Grunde auch nicht auf die Begründung des Amendements durch Legien eingehen. Wenn diesen seinen Ausführungen nicht andere Reden seiner Gewerkschaftskollegen gegenüber ständen, und wenn ich nicht wüßte, daß sein Amen80
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dement nicht von ihm persönlich, sondern von fast allen Gewerkschaftlern ausgeht, die hier im Saale anwesend sind, dann wäre uns das Stimmen für sein oder ein ähnliches Amendement außerordentlich schwer gefallen. Legien hat gestern in so polemischer Weise gegen die Beschlüsse des Jenaer Parteitages über den Massenstreik gesprochen, daß ich mich wiederholt gefragt habe, wie er seine Rede mit seinem eigenen Antrage in Einklang bringt. (Sehr gut!) Der weitaus größte Teil seiner Rede war voll von Widersprüchen und eine fortgesetzte Polemik dagegen, daß man den Massenstreik als Kampfmittel für die Partei gegebenenfalls öffentlich proklamiert. Dagegen mache ich kein Hehl daraus, daß seine weiteren Ausführungen in einem erfreulichen Gegensatz zu dem übrigen Inhalt seiner Rede standen, und daß auch die Ausführungen Bömelburgs und Reichels uns klar die Absicht und den Willen gezeigt, der unsere Parteigenossen in den Gewerkschaften beseelt, über den wir uns nur freuen können. (Sehr richtig!) Der erste Absatz meiner Resolution ist nunmehr durch ein von Legien und mir gemeinsam beantragtes Amendement' 62 ^ verändert. Wir haben den dringenden Wunsch, daß Sie dem zustimmen. Ich gebe zu, daß die Zustimmung zu dem Amendement Legien, wie es gestern vorlag, weiten Kreisen des Parteitages sehr bedenklich sein konnte, denn es läßt sich doch nicht bestreiten, daß die Kölner Resolution in Jena von einer Anzahl Gewerkschaftlern so verteidigt wurde, daß allgemein die Ueberzeugung zutage trat, daß zwischen den Beschlüssen von Köln und Jena ein scharfer Gegensatz besteht. Es ist ferner unbestreitbar, daß in der Polemik, die sich nach Jena über die Frage des Massenstreiks entspann und auch in der Gewerkschaftspresse selbst fast allgemein die Anschauung vertreten wurde, daß sich schwer zu vereinbarende Gegensätze zwischen dem Kölner und dem Jenaer Beschluß herausstellten, sodaß die Gewerkschaftler nicht in der Lage seien, mit der Resolution von Jena übereinzustimmen. Nachdem nun aber die Vertreter der Gewerkschaften und auch Legien dargelegt haben, daß nach ihrer Auffassung und Interpretation des Kölner Beschlusses ein wirklicher Widerspruch zwischen diesem und dem Jenaer Beschluß nicht besteht, und da ferner die Antragsteller die besten Interpreten eines von ihnen gestellten Antrags sind, so hat meines Erachtens der Parteitag nicht die geringste Ursache, fernerhin zu bestreiten, daß ein Gegensatz nicht vorhanden ist. Sind die Interpreten der Ansicht, daß in der Tat ein Widerspruch zwischen Köln und Jena nicht besteht, und haben sie selbst Veranlassung genommen, das ausdrücklich hier zu erklären und werden sie auch nicht anstehen, weiter draußen vor ihren eigenen Freunden dieselbe Erklärung abzugeben, so hat auch der Rigoroseste unter uns keine Veranlassung, diese Auffassung zu bekämpfen. (Sehr richtig!) Ich kann deshalb nur dringend wünschen, daß Sie unserem Amendement 81
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zustimmen. Ich betrachte es als einen ungeheuren moralischen Gewinn, wenn nach dieser Richtung hin endlich zwischen Partei und Gewerkschaften volle Einigkeit und Frieden herrscht. (Beifall.) Es ist ein ungeheurer moralischer Gewinn, wenn durch Annahme des Amendements zugleich ausgesprochen wird, daß damit der Streit über den Sinn des Kölner Beschlusses ein für allemal beendet ist. (Sehr richtig!) Dieser moralische Gewinn ist so groß, ist nach meiner Auffassung für die gesamte Partei- und gewerkschaftliche Entwicklung so erfreulich, daß die Genossen ihre Bedenken fallen lassen und dem Amendement zustimmen sollten, damit ein möglichst einstimmiger Beschluß zustande kommt. (Beifall.) Ich glaube erklären zu dürfen, daß auch die Mitglieder des Parteivorstandes und der Kontrollkommission unser Amendement für besser und einwandfreier halten als das ursprüngliche Amendement. Nun habe ich schon gestern erklärt, daß die Parteileitung nicht in der Lage ist, der Resolution Kautsky in ihrem zweiten Teil[622] zuzustimmen. Wir haben keinerlei prinzipielle Bedenken gegen den Sinn und den Wortlaut der Resolution Kautsky, aber wir müssen uns die Aufgaben vergegenwärtigen, die wir hier zu erfüllen haben. Wir sollen vor allem Frieden und Eintracht zwischen Partei und Gewerkschaften herbeiführen, und deshalb muß alles vermieden werden, was mit Recht oder Unrecht so ausgelegt werden könnte, als sollte der eine Teil auf Kosten des anderen benachteiligt werden. (Sehr richtig!) - Es kommt hinzu, daß nach unserer Ueberzeugung der erste Wortlaut der Resolution Kautsky geeignet war, die Gewerkschaften gegenüber den Behörden in allerlei bedenkliche Situationen zu bringen und wir halten es für eine der größten Unklugheiten, die ein Parteitag begehen könnte, eine solche Handlung auszuüben und sich des Fehlers erst später bewußt zu werden, wenn eine Reparierung nicht mehr möglich ist. Wir sind weiter der Meinung, daß der zweite Teil der Resolution Kautsky die Gewerkschaften gegenüber der Partei in eine Situation bringt, die notwendigerweise ein Gefühl der Verbitterung, ja noch mehr, ein Gefühl der Zurücksetzung bei den Gewerkschaftsführern hervorruft. (Sehr richtig!) Wir müssen alles vermeiden, was einer derartigen Stimmung Vorschub leisten könnte. Dazu kommt, daß die Erklärungen von Bömelburg und Reichel die denkbar befriedigendsten sind, die wir verlangen können. (Sehr richtig!) Wir sind überzeugt, daß diese Genossen im Sinne ihrer Gewerkschaftsfreunde gesprochen haben, und daß sie als ehrliche Männer alles tun werden, um ihrer Ansicht Geltung zu verschaffen. Andererseits bin ich überzeugt, daß selbst die Annahme der Resolution Kautsky an dem tatsächlichen Zustand nichts ändern würde. (Lebhafte Zustimmung.) Wir können als Partei keine Macht auf die Gewerkschaften ausüben. Wir müssen von der freiwilligen Betätigung der Genossen erwarten, daß sie das tun, was ihre parteigenössische Pflicht ist. Wenn man glaubt, daß der eine oder der andere das 82
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bisher nicht getan hat, so mag man das tadeln, aber eine Rüge zu erteilen und eine Direktion zu geben, die wieder gegen die Gewerkschaften ausgenutzt werden könnte, dazu sollte sich ein Parteitag der deutschen Sozialdemokratie unter keinen Umständen hergeben. (Lebhafte Zustimmung.) Die Bedenken, die wir bisher gegen den ersten Absatz der Resolution Kautsky hatten, sind durch die von ihm vollzogenen Aenderungen beseitigt. Dagegen muß ich Sie auf das nachdrücklichste bitten, gegen den zweiten Absatz zu stimmen und dadurch einen Stein des Anstoßes zu beseitigen, denn dadurch werden unsere ganzen Verhandlungen einen unangenehmen und bitteren Beigeschmack erhalten, und das sollte im Interesse der Einheit und des Friedens zwischen Partei und Gewerkschaften, den wir mit unserer Resolution besiegeln wollen, vermieden werden. Eine Reihe von Rednern hat die Anschauung vertreten, daß zwischen meinen gestrigen Ausführungen und meinen Ausführungen in Jena ein gewisser Widerspruch besteht. Meine Rede in Jena soll eine Fanfare, meine gestrige Rede eine Chamade gewesen sein. [623] Nichts falscher als das. (Sehr richtig!) In Jena mußte ich die Gründe darlegen, die dafür sprechen, unserem Waffenarsenal eine neue und, wie ich glaube, gegebenenfalls sehr wirksame Waffe zu liefern. Es versteht sich von selbst, daß eine Natur wie die meinige, die hundertmal mehr zum Angriff als zur Verteidigung neigt, mit dem ganzen Feuer ihres Temperaments eine derartige Angriffswaffe zu rechtfertigen sucht. Nun sind aber eine Reihe von Auslegungen der Jenaer Resolution und eine Reihe von Ausführungen gegen meine Rede von Jena gemacht, die mich in eine Verteidigungsstellung nötigten. Ich habe es schon gestern erklärt, ich habe es in der Konferenz mit der Generalkommission erklärt, und ich kann es heute nur wiederholen, daß zwischen meinen Ausführungen in Jena und meiner gestrigen Rede nicht der geringste innere Gegensatz besteht. (Sehr richtig!) Ich hätte dringend gewünscht, daß die Genossen, die anderes behaupteten, es auch bewiesen hätten. Ich bin leider zu meinem Bedauern, aber doch in berechtigter Selbstverteidigung genötigt, einige entscheidende Sätze aus meiner Rede in Jena vorzulesen, die sich insbesondere auf die Frage der Propagierung des Massenstreiks zum Zwecke der Eroberung des Wahlrechts beziehen. Auf Seite 307 des Jenaer Protokolls sage ich: „Wir wollten nicht - das sagt auch meine Resolution nicht - die Massen blindlings in den Streik treiben; es versteht sich doch von selbst, daß wir die unorganisierte Masse nicht blind in den Streik gehen lassen werden." (Zuruf.) Heine fragt: „Werdet Ihr sie im Zügel haben?" Das beweist nur, daß Sie (zu Heine) von den Gefühlen und Instinkten der Masse der Arbeiter in diesen Dingen, und das nehme ich Ihnen nicht übel, das bringt Ihre Lebensstellung mit sich, keine genaue Kenntnis haben. (Sehr richtig!) Ich sage, was noch fehlt, sollen wir schaffen. (Heine: Sehr richtig!) Dahin geht meine Resolution: was vorhanden ist, ist noch 83
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nicht genügend, aber das kann geschaffen werden. „Wenn Sie alle im Sinne meiner Resolution entschlossen zu handeln von diesem Parteitage weggehen und wenn draußen im Lande die Parteigenossen geschlossen im Sinne der Resolution handeln, wenn die Parteipresse in weit größerem Maße als bisher ihre Schuldigkeit tut und wenn nicht bloß die Parteipresse, sondern auch die Gewerkschaftspresse die Massen aufklärt, ihnen nachweist, daß sie politisch sich betätigen müssen", sie darüber aufklärt, „was für sie als Staatsbürger, als Gewerkschaftler auf dem Spiele steht, welch ungeheure Wichtigkeit das Wahlrecht hat, dann werden die Vorbedingungen für den Massenstreik, falls er nötig werden sollte, geschaffen werden." Wer unter Ihnen kann auf Grund dieser Rede behaupten, daß nun auf Grund der Beschlüsse vom September bis Mitte März dieses Jahres die von mir als für den Massenstreik notwendigen Vorbedingungen geschaffen worden seien? (Sehr richtig!) Am Schlüsse meiner Rede, indem ich meinen Gedankengang zusammenfasse, sage ich weiter: „Die Gewerkschaftsblätter und -Redner haben alle die Pflicht, immer wieder ihren Mitgliedern zu sagen: ihr seid Arbeiter und als solche Staatsbürger, und als Staatsbürger an allen Fragen des Staates und der Gesetzgebung interessiert. Wenn so an der Aufklärung der Arbeiter gearbeitet wird, dann mache ich mich anheischig, ein Gewerkschaftsblatt das ganze Jahr hindurch so zu redigieren, daß das Wort Sozialdemokratie überhaupt nicht fällt und die Leser doch Sozialdemokraten werden."15 (Lebhafte Zustimmung und Heiterkeit.) Dies auch zu gleicher Zeit zur Charakterisierung meiner Neutralitätsauffassung. Ich habe allerdings die Anschauung, daß wir die Gewerkschaften nicht zu Parteiinstitutionen machen können und dürfen. (Sehr richtig!) Aber ich bin auch der Meinung, daß jeder, der für die Aufklärung der Arbeiter zu wirken hat, ihnen klar machen muß: Ihr seid Arbeiter nicht bloß, sondern auch Staatsbürger, Ihr könnt Eure Forderungen nur dann erreichen, wenn Ihr zugleich völlig gleichberechtigte Staatsbürger seid. (Sehr richtig!) Das ist der Gedanke, den ich auch in meiner Berliner Rede[624] und meiner Broschüre über die Neutralität der Gewerkschaften16 vertreten habe. (Hue: Den vertreten wir auch!) Ich stehe noch auf diesem Standpunkt, und wenn die Gewerkschaftsagitatoren und die Presse in diesem Sinne handeln, so werden nach und nach alle Gewerkschafter Sozialdemokraten werden. (Lebhafte Zustimmung. Zuruf: „Das muß aber auch gemacht werden!") Das steht auf einem anderen Blatt. Wenn Ihr glaubt, daß das nicht gemacht wird, müßt Ihr, wo das der Fall ist, Eure Stimme dagegen erheben. (Sehr richtig!) Wir haben das Vertrauen zu der Masse, daß es sehr leicht ist, ihr 15 Siehe Nr. 46 in Band 7/2 dieser Ausgabe. 16 Siehe Nr. 3 in Band 7/1 dieser Ausgabe. 84
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beizubringen, daß die Taktik des einen oder anderen Führers nicht richtig ist. (Sehr wahr!) Wenn Ihr diese Ueberzeugung nicht habt, müßtet Ihr überhaupt am Erfolg verzweifeln. Wir brauchen nicht pessimistisch zu sein. Ich sage mit diesen Worten nichts anderes wie: Ihr habt zu agitieren, aber so, daß Ihr die, die noch nicht auf unserem Standpunkt stehen, nicht vor den Kopf stoßt: Ihr sollt geschickte Leute sein. (Sehr gut!) Ich fahre nunmehr fort, aus meiner Jenaer Rede zu zitieren. Dort heißt es weiter: „Wenn dann gleichzeitig auch die Parteipresse mehr als bisher den Organisationsfragen sich widmet, wenn überall im Sinne meiner Resolution an der Organisation gearbeitet wird, wenn überall die Agitation im Sinne einer gründlichen politischen Aufklärung betrieben wird, wenn vor allen Dingen auch wiederum das Studium der grundlegenden Schriften des Sozialismus zu Ehren kommt und in ganz anderer Weise als bisher betrieben wird, dann wird es kein Meisterstück sein, im Laufe eines Jahres die Mitgliederzahl unserer Vereine zu verdoppeln, die der Gewerkschaften mindestens um 25 Proz. zu steigern und die Leser unserer Organe um 50 bis 100 Proz. zu heben. Dadurch werden wir ein Maß von Mitteln zur Aufklärung der Parteigenossen und zur Vorbereitung auf die schweren Kämpfe, die kommen werden, erhalten, wie es großartiger aber auch selbstverständlicher nicht gedacht werden kann. In diesem Sinne bitte ich Sie, meiner Resolution zuzustimmen. In diesem Sinne wollen wir arbeiten und kämpfen, bis der Sieg voll und ganz errungen ist. " Wer, Parteigenossen, frage ich wieder, kann aus diesen Worten irgend einen Satz herleiten, der auch nur entfernt den Schluß zuläßt, als wenn ich zur Anschauung hätte kommen müssen, es sei eine Notwendigkeit, bereits in der diesjährigen preußischen Wahlrechtsagitation17 mit der Möglichkeit eines Massenstreiks zu rechnen? Das Gegenteil ist der Fall und ich meine, was uns Gerisch in seinem Berichte über die Ausbreitung und die Entwickelung unserer Organisation auseinandergesetzt hat, das sollte auch dem optimistischsten Parteigenossen die Ueberzeugung wachrufen, daß wir noch ein gewaltiges Stück Arbeit zu leisten haben, ehe wir die Macht besitzen, um mit Erfolg in einen Massenstreik eintreten zu können. (Lebhafte Zustimmung.) Soweit mein persönliches Urteil und meine persönlichen Empfindungen in Betracht kommen, würde ich gegenwärtig unter keinen Umständen einen politischen Massenstreik mitzumachen geneigt sein. Und weil ich meine Auffassung und Empfindung in der Jenaer Rede und in meiner Resolution zum Ausdruck gebracht habe, und in dem halben Jahr seit jener Zeit in keiner Weise die Bedingungen, die danach für einen Generalstreik vorhanden sein müßten, erfüllt waren, daher die Stellungnahme, die ich 17 Siehe Nr. 66 in Band 8/2 dieser Ausgabe. 85
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dem Verlangen nach dem Massenstreik gegenüber damals eingenommen habe. Ich muß also mit allem Nachdruck und aller Entschiedenheit zurückweisen, daß man mir aus meiner Rede und meiner Resolution in Jena im gewissen Sinne einen Strick glaubt drehen zu können. Ich kann nicht zugeben, daß der Ton meiner Rede diesmal ein anderer gewesen wäre, wie in Jena. Inhalt und Gedankengang meiner Rede in Jena und hier decken sich vollständig. Dem Genossen Quessel gegenüber, der gestern hier behauptete, daß die Jenaer Rede in ihrem zweiten Teile an Unklarheiten leide, oder ich manches nicht gesagt hätte, was gesagt werden sollte, bemerke ich, daß es im höchsten Grade unklug gewesen wäre, in einer Rede mit Situationen zu rechnen, von denen man gar nicht weiß, ob und wann und in welcher Gestalt sie eintreten werden. Damit käme man auf das Gebiet der Spekulation. Einem Doktor der Philosophie kann es wohl anstehen (Heiterkeit), derartige Betrachtungen zu machen, aber Politiker müssen sich damit begnügen, die allgemeinen Richtlinien anzudeuten, sie können und müssen sich beschränken, die allgemeine Perspektive zu geben, wenn gewisse Situationen eintreten. Wie dann im einzelnen gehandelt wird, das muß für den gegebenen Fall vorbehalten bleiben. (Sehr richtig!) Anders zu handeln würde sehr unklug sein. Weiter hat Quessel mich gefragt, ob ich denn nicht wüßte, daß Oesterreich ein Einheitsstaat sei. Nun, ein Einheitsstaat, wie England, Frankreich und Italien ist Oesterreich nicht: die Einheit dokumentiert sich nur in der österreichischen Monarchie; aber es besteht ein äußerst scharfer Gegensatz zwischen Cisleithanien und Transleithanien. Wenn nun die österreichischen Genossen mit vollem Recht daran gegangen sind, für die cisleithanische Reichshälfte das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht zu erobern, so schließt das nicht aus, daß die einzelnen Länder und Provinzen in ähnlicher Weise wie bei uns eine hochgradige Selbständigkeit besitzen, so daß mein Gleichnis berechtigt war. Wenn auch Oesterreich nicht so wie Deutschland ganz selbständige Einzelstaaten hat, so haben die einzelnen Länder und Provinzen Oesterreichs doch eine große Selbständigkeit. So gehört z.B. zu den Kompetenzen dieser Provinzen, daß sie für die Landtags- und Gemeindewahlen sich das Wahlrecht selber schaffen, und dies ist bis heute nirgends das demokratische Wahlrecht, daß sie zugleich das Recht haben, für alle übrigen Körperschaften das Wahlrecht festzusetzen; also eine vollständige Autonomie. Ferner liegt bei ihnen die ganze Ausführung des vom Reiche gegebenen Schulgesetzes. Sie haben die innere Steuergesetzgebung, die Volksgesundheitspflege, die Kranken- und Armenpflege, den Straßenbau, das Recht zum Bau eigener Landesbahnen, zu Kanalbauten usw. in der Hand. Nun haben eine Reihe von Rednern, namentlich Freiwaldt, erklärt, die Mehrheit der Niederbarnimer Genossen sei zur Annahme der dortigen Resolution veranlaßt worden, weil nach ihrer Meinung der Wahlrechtskampf nicht in geeigneter 86
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Weise geführt worden sei. Das höre ich und meine Kollegen im Vorstande hier zum ersten Male. Die Genossen hätten doch als Mitglieder der Organisation von Groß-Berlin die Möglichkeit gehabt, ihre Anschauungen zu vertreten oder mit Anträgen an den Parteivorstand zu kommen. Aber sie hatten nicht das Recht, für eine Resolution zu stimmen, die sie innerlich selbst für einen Unsinn ansehen. Die Genossin Luxemburg sowie die Genossen Duncker und Liebknecht haben in meinen Ausführungen eine Stellungnahme zu einer event. Intervention Deutschlands in die russischen Angelegenheiten vermißt. Ich will zugeben, daß ich in der Hitze des Gefechts es unterlassen habe, hierüber eine Erklärung abzugeben. Aber es versteht sich doch von selbst, daß, wenn eine derartige ungeheuerliche Aktion wie eine Intervention der deutschen Regierung in Rußland geplant werden sollte, wir alles aufbieten müssen, um einen solchen Schritt zu verhüten. (Bravo!) Was wir dann alles tun werden und tun können, das müssen Sie unserem eigenen Ermessen überlassen, da können wir heute keinerlei Versprechungen und Zusagen geben. Aber daß wir einer solchen Handlungsweise nicht stillschweigend, gewissermaßen Gewehr bei Fuß zusehen, das ist doch so selbstverständlich wie etwas. Die Regierung müßte doch, wenn sie etwas derartiges unternehmen wollte, zunächst den Reichstag zusammenberufen, um die nötigen Kredite zu erhalten. (Hoffmann-Berlin: Das macht sie auch ohnedem!) Wie ein Abgeordneter so etwas behaupten kann, verstehe ich nicht, wo die deutsche Reichskasse leer bis auf den Boden ist! Gewiß, in einem gewissen Moment wird eine Regierung, wenn es sich um ihren eigenen Kopf und Kragen handelt, alles machen, aber darum handelt es sich für sie in diesem Falle nicht. Daß aber selbst die Mehrheit dieses Reichstages, die nicht die unsere ist, einen Einmarsch in Russisch-Polen dulden werde, ohne daß der Reichstag in Form der Mittelbewilligung seine Zustimmung gibt, das traue ich diesem Reichstag und dieser Regierung trotz alledem nicht zu. (Oh! Oh! und Sehr richtig!) Das wäre ein revolutionärer Akt, der alsbald andere revolutionäre Akte zur notwendigen Folge hätte und rechtfertigte. (Sehr richtig!) Nun sind mir - ich habe das gestern vergessen - zahlreiche Briefe seitens russischer Freunde vor einem Jahre zugegangen, die auf die starken deutschen Garnisonen in den Ostseeprovinzen hinwiesen. Darauf habe ich geantwortet, es wäre unrecht zu glauben, daß diese starken militärischen Ansammlungen zum Zwecke der Bekämpfung der russischen Revolution eingetreten seien. Nein, diese Massenansammlungen im Osten und auch im Westen sind als notwendige Folgen der internationalen Situation anzusehen. Seit 1887, wo Bismarck die berühmte Rede im Reichstage hielt, in der er dem Gedanken Ausdruck gab, daß alle seine Versuche, Rußland für sich zu gewinnen, nichts genützt hätten, also seit der französisch-russischen Freundschaft haben wir diese militärischen Disloka87
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tionen. Genau so wie Rußland in Russisch-Polen 300 000 Mann seit jener Zeit angesammelt hat, so hat die deutsche Regierung, um im Kriegsfalle vor einer Ueberrumpelung sicher zu sein, ihrerseits große Truppenansammlungen sowohl im Osten und Westen veranlaßt. Selbstverständlich wünschen unsere Staatsleiter lieber heute als morgen die russische Revolution zum Teufel, selbstverständlich haben sie die deutsche Bankierwelt zu bestimmen versucht, dem russischen Despotismus mit Anleihen unter die Arme zu greifen, selbstverständlich haben sie ihre Truppen etwas mehr als bisher an der Grenze zusammengezogen, um dort einen Kordon zu bilden gegen Ueberläufer; aber an eine bewaffnete Intervention ist nach meiner Ueberzeugung nicht zu denken. Sollte sie dennoch eintreten, so ist es ganz selbstverständlich, daß die deutsche Sozialdemokratie kraft ihrer internationalen Beziehungen und ihrer internationalen Solidarität sowie aus dem Interesse heraus, einem Volke die Möglichkeit zu geben, für seine Befreiung aus den Banden des Despotismus zu kämpfen, alles aufbieten wird, um derartige Pläne der deutschen Regierung zu durchkreuzen. [576 1 (Lebhafte Zustimmung.) Dasselbe gilt auch für den Fall eines anderen europäischen Krieges. Auch da werden wir natürlich nicht mit Hurra! Hoch! in den Krieg hineingehen, sondern unsere Kulturmission für den Frieden zu erfüllen suchen. N u n hat zuletzt noch Genösse Liebknecht sich dazu verstiegen, wenn ich ihn recht verstanden habe, zu sagen, wir müßten doch unter allen Umständen vermeiden, die Meinung aufkommen zu lassen, daß wir dem russischen Proletariat in den Rücken fallen wollten. (Zuruf: Er meinte das Deutsche Reich.) Dann ist das ein MißVerständnis von mir. Ich denke, er wird alsdann mit den Erklärungen, die ich eben abgegeben habe, einverstanden sein. Damit bin ich fertig. Ich kann nur noch den Wunsch aussprechen: Stimmen Sie im Sinne der Ausführungen, die ich zu der vorgelegten Resolution gemacht habe, derselben zu. Sie tun ein gutes Werk damit, ein Werk, das nicht nur bei der ganzen deutschen Partei und den deutschen Gewerkschaften, sondern auch weit darüber hinaus - das beweist Ihnen die zahlreiche Anwesenheit ausländischer Vertreter, welch lebhaftes Interesse sie gerade an dieser Frage nehmen - bei der ganzen internationalen Sozialdemokratie nur freudigen Widerhall wecken wird. (Lebhafter Beifall.) Ebenda, S. 293-301.
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IV
Diskussionsbeiträge
zur antimilitaristischen
Agitation
29. September 1906 Gegen den Antrag 25 haben wir keine Bedenken, da er einfach bestätigt, was im vorigen Jahre beschlossen worden ist.[625^ Ich möchte nur wünschen, daß die Parteigenossen es sich künftig mehr überlegen, ehe sie Anträge einreichen, damit sie uns nicht mit Anträgen kommen, die schon erledigt sind. (Sehr gut!) Infolge des Beschlusses des vorigen Parteitages hat der Vorstand ein Flugblatt ausgearbeitet. Wir werden ähnlich auch in künftigen Jahren vorgehen. Sache der Parteigenossen wird es sein, ihrerseits die Agitation weiter zu betreiben. Gegen den Antrag 114 [6261 erklären wir uns auf das entschiedenste, selbst auf die Gefahr hin, daß wir als Schwarzseher oder für noch schlimmeres angesehen werden. (Heiterkeit.) Wir sind es ja gewohnt, daß kein Jahr vergeht, wo aus dem Wahlkreise Potsdam-Osthavelland nicht derartige Anträge kommen. (Heiterkeit.) Wir sind es auch gewohnt, daß dann regelmäßig zur Begründung auf die Vorgänge im Ausland hingewiesen wird, wobei nur der kleine Unterschied übersehen wird, daß die Verhältnisse in Frankreich und Belgien ganz andere sind, wie in Deutschland, daß dort viel geredet und getan werden kann, was in Deutschland nicht möglich ist. N u n verlangt man heute sogar einen besonderen Ausschuß für antimilitaristische Agitation. Wie er gewählt wird, aus wie viel Personen er bestehen soll, welche Kompetenzen er haben soll, davon ist in dem Antrag keine Rede. E r tritt zusammen, macht seine Propagandapläne, kommt mit seinen Beschlüssen: und wir vom Parteivorstand haben nichts weiter zu tun, als die Mittel der Partei zu diesem Zwecke zur Verfügung zu stellen; ein Recht zu prüfen, ob die Arbeiten des Ausschusses auch im Interesse der Partei liegen, haben wir nach dem Antrage nicht. (Zuruf: Selbstverständlich!) Auf etwas derartiges wird sich der Parteivorstand niemals einlassen, und wenn Sie das beschließen, dann bitte, wählen Sie ihre besonderen Organe dazu. Wir machen das nicht mit; dazu haben wir ein viel zu großes Verantwortlichkeitsgefühl. (Lebhafte Zustimmung.) Es ist auch falsch, wenn Liebknecht sagt, selbst wenn wir die allgemeine Aufklärung haben, sind wir immer noch nicht so weit, daß wir mit dem Militarismus fertig werden können. Das ist die reine Ideologie von Liebknecht. Wenn das Maß der Kenntnisse im deutschen Volke vorhanden ist, das er voraussetzt, dann räumen wir allerdings auch mit dem Militarismus auf. (Sehr richtig!) Lehnen Sie den Antrag ab. Wir haben gar nicht nötig, einen solchen Ausschuß einzusetzen. Es gibt in ganz Europa keine zweite sozialdemokratische Partei, die systematischer den Kampf gegen den Militarismus auch im Parlament 89
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führt, wie gerade die deutsche Sozialdemokratie. (Lebhafte Zustimmung.) Es gibt in ganz Europa keine zweite sozialdemokratische Partei, die seit 30, 40 Jahren so systematisch das Budget für militärische, koloniale und Marinezwecke abgelehnt hat, wie in Deutschland. 1 8 (Erneute lebhafte Zustimmung.) D a sollte man uns doch nicht weiter in eine Agitation hineindrängen wollen, während wir durch unsere bisherige Agitation auch das erreichen, was erreicht werden muß. (Lebhafter Beifall.) D a ß ich L i e b k n e c h t von seinen Anschauungen über die Agitation gegen den Militarismus nicht abbringen kann, davon bin ich überzeugt. Was alles hier über die moralische, politische und soziale Verderblichkeit des Militarismus gesagt worden ist, darüber besteht keine Meinungsverschiedenheit unter uns, auch über die Notwendigkeit, die Jugend über den Militarismus und seine Scheußlichkeit aufzuklären, bestehen keine Meinungsverschiedenheiten. W o h l aber gehen wir auseinander über die Mittel der Aufklärung und Bekämpfung. W i r können uns nicht auf eine einseitige antimilitaristische Agitation festlegen. H a b e n wir nicht eine Literatur, stärker als in irgend einem anderen Lande, die darüber Aufklärung schafft? Man soll das Material zusammentragen, es steckt in den parlamentarischen H a n d b ü c h e r n , in Parlamentsreden, in jedem Bericht an den Parteitag, in zahllosen Flugblättern usw. W i r k ö n n e n doch die Partei nicht mit Material gegen den Militarismus überfüttern, dann würde die ganze übrige Agitation in den Hintergrund treten. (Sehr richtig!) E s ist mir unverständlich, wie man uns Belgien vorhalten kann. E i n Land, das militärisch gar nichts bedeutet und dessen A r m e e sich mit der preußischen Heeresorganisation gar nicht vergleichen kann. In Frankreich ist es ganz ähnlich. D o r t ist die antimilitaristische Agitation erst in den letzten zwei Jahren betrieben worden. (Liebknecht: G a n z vortrefflich!) N e i n , so einseitig und übertrieben (Lebhafte Zustimmung), daß ich mich bedanken würde, wenn man in Deutschland das gleiche täte. (Bravo!) U n d in D e u t s c h land liegen die Dinge nach dieser Richtung hin etwas anders. U e b e r alles, was mit dem Militarismus zusammenhängt, seine Wirkung auf das Materielle, auf das Moralische, auf das soziale Leben, über all das bestehen unter uns gar keine Meinungsverschiedenheiten. D a r ü b e r mag jeder reden und schreiben, soviel er will. A b e r diese spezielle, einseitige Hervorhebung einer antimilitaristischen Agitation würde unserer Partei einen ganz anderen Charakter verleihen. D e r Breslauer Genösse 1 9 sagt, er hat das Flugblatt des Parteivorstandes nicht gesehen.
18 Siehe hierzu Nr. 18, 19 und 22 in Band 1, Nr. 8, 30, 49 und 59 in Band 2/1 sowie Nr. 55 in Band 4 und Nr. 140 in Band 9 dieser Ausgabe. 19 Heinrich Ehrlich. 90
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Ja, wie kann er dann zu dem Antrag kommen, in dem ausdrücklich davon die Rede ist, daß der Parteivorstand ein Flugblatt herausgegeben hat? Wenn Sie das nicht gelesen haben, so haben Sie sich einer Pflichtvergessenheit schuldig gemacht. Dafür kann doch der Parteivorstand nichts. (Heiterkeit. Sehr gut!) Aber so leichtfertig werden Anträge eingereicht. Der Breslauer Vertreter müßte über seine Rede, die zeigt, das er den Inhalt des von ihm vertretenen Antrages nicht kennt, selbst erröten. (Heiterkeit.) Ebenda, S. 384/385,386/387.
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53 Die Kolonialpolitik ist mit Blut geschrieben Rede im Deutschen Reichstag zum Haushaltsetat
1906[627]
1. Dezember 1906
Meine Herren, die Morgennummer des „Berliner Tageblattes" bringt einen Leitartikel über die gestrige Sitzung des Reichstags mit der Uberschrift „Erzberger Triumphator". Diese Überschrift ist falsch. Es muß nicht heißen „Erzberger Triumphator", sondern „Dernburg Triumphator" (Heiterkeit), nicht Herr Erzberger war gestern Sieger, sondern der Herr Kolonialdirektor Dernburg. Herr Erzberger hatte keine andere Rolle, als daß er an der Spitze der Korybantenschaar marschierte, die in diesen Tagen dem neu eintretenden Kolonialdirektor mit Weihrauch, Myrrhen und Rosen in Hülle und Fülle entgegengekommen ist. (Sehr richtig! links. - Große Heiterkeit rechts und in der Mitte.) Meine Herren, niemals ist es einem Beamten des Reichs leichter geworden als Herrn Dernburg, das Wort des Cäsar, als er über den König von Pontos1 gesiegt hatte, anzuwenden: „Veni, vidi, vici!" - „Ich kam, sah und siegte!" Gestern hat ihn insbesondere Herr Erzberger förmlich in Rosen zu ersticken versucht. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) An den vorhergehenden Tagen meinte ich, Herr Dernburg sei erst in der Rolle des bekannten Rattenfängers von Hameln, der, sobald er die Töne seiner Flöte erschallen ließ, namentlich auf der rechten Seite des Hauses, ein immer begeisterteres Bravo der Zustimmung fand. Gestern aber war es leiser! Meine Herren, ich will wünschen, daß Ihrer Begeisterung nicht die Enttäuschung, daß dem Hosiannah nicht das „steinige! steinige!" folge! Was uns betrifft, so erklären wir Ihnen ganz offen, daß wir in dem angeblichen Retter aus der Misere der deutschen Kolonialpolitik in Herrn Dernburg nicht den Herkules sehen, den Sie zu sehen glauben. Nach dem, was Herr Dernburg bis jetzt geleistet hat und was er geäußert hat, kann ich nicht anerkennen, daß er der Herkules ist, der den Augiasstall der deutschen Kolonialpolitik säubern wird. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, die erste Tat, mit der Herr Dernburg offiziell vor diesen Reichstag trat, war die allmählich nicht gerade berühmter gewordene Denkschrift.!62^ Diese Denkschrift ist Gegenstand der Erörterung in der Presse, ist 1 92
Pharnakes II.
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Gegenstand der Erörterung in diesem Hause gewesen, und wenn Herr Dernburg, woran ich nicht zweifle, geglaubt hat, mit dieser Denkschrift, mit dieser Aufstellung einer sogenannten Inventur ein Meisterstück zu machen, so steht fest, daß in der ganzen deutschen Presse auch nicht ein Organ sich gefunden hat, das diese Inventur zu verteidigen wagte - , mit Ausnahme der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung", die verpflichtet ist, auch dem Herrn Kolonialdirektor das nötige weiße Papier zur Verfügung zu stellen, damit er sich gegebenenfalls gegen Angriffe von außen zu verteidigen vermag. Als diese Denkschrift an der Berliner Börse bekannt wurde - und Herr Dernburg ist der Börse sehr gut bekannt; er ist Fleisch von ihrem Fleisch und Bein von ihrem Bein - (Heiterkeit), brach an der Börse ein homerisches Gelächter aus. Es sollen sogar Wetten gemacht worden sein, ob sich im Deutschen Reichstag jemand finden werde, der auf diese sogenannte Inventur hereinfalle. (Heiterkeit.) Ich muß zur Ehre des Reichstages konstatieren, daß, soweit ich die Redner in ihren Ausführungen zu verfolgen Gelegenheit hatte, sich keiner gefunden hat, der diese Inventur als akzeptabel zu übernehmen bereit gewesen wäre. Das wenigstens war das Angenehme an den Debatten der letzten Tage. Wenn Sie nun auf Grund der Mitteilungen und Äußerungen des Herrn Kolonialdirektors über das, was er schon getan habe und was er weiter tun wolle, in so lebhafte Beifallsäußerungen ausgebrochen sind, so hätte Sie doch eine Mitteilung am gestrigen Tage bedenklich und stutzig machen sollen: das war die sogenannte Statistik, die gestern, ziemlich am Schluß der Sitzung, der Herr Kolonialdirektor glaubte zum besten geben zu müssen, diese Statistik, die darauf hinausging, nachzuweisen, wie wenig Fälle von Bestrafungen im Laufe der langen Jahre der Kolonialpolitik gegenüber Offizieren usw. hätten ausgesprochen werden können, die sich hatten Vergehen in den Kolonien zu schulden kommen lassen. Ja, was ist denn aber die Klage in diesem Hause seit vielen Jahren, die Klage, die auch der Herr Abgeordnete Erzberger zum lebhaftesten Ausdruck gebracht hat, als daß eine sehr große Anzahl von Vergehen und Verbrechen von Offizieren und Beamten in den Kolonien begangen worden sind, ohne Sühne gefunden zu haben! ? (Lebhafte Zustimmung), daß eine große Zahl Vergehen und Verbrechen vorgekommen ist, die auch in den Akten der Kolonialverwaltung enthalten ist, ohne daß man sich bemüßigt fand, diesen Tatsachen ernsthaft auf den Leib zu rücken, sie kräftig zu untersuchen und die Tater zu bestrafen!? (Sehr richtig! links und in der Mitte.) Wenn ich eins in der gestrigen Rede des Herrn Abgeordneten Erzberger bedauert habe, dann ist es seine Erklärung, daß er ein gutes Teil seines Anklagematerials, ohne es hier im Hause und in der Öffentlichkeit zur Kenntnis zu bringen, dem Herrn Kolonialdirektor zur Prüfung übergeben habe (Sehr wahr! sehr richtig! bei den Sozialdemokraten), wonach ich annehmen muß, 93
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daß es wahrscheinlich in den Akten der Kolonialverwaltung begraben bleibt jedenfalls wird die Öffentlichkeit von diesen Vorgängen nichts erfahren nach dem, was wir bisher kennen gelernt haben. (Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) Das war auch der Grund, warum mein Parteigenosse und Freund Ledebour es abgelehnt hat, dem Herrn Kolonialdirektor irgend welches Material mitzuteilen. Meine Herren, wenn der Herr Kolonialdirektor überhaupt in die Lage kam, hier mit gewissen kleinen Erfolgen, die Ihren großen Beifall gefunden haben, vor das Haus treten zu können, dann nicht, weil die Tatsachen, die z.B. zur Lösung der Verträge geführt haben, in den Akten der Kolonialverwaltung begraben blieben, sondern weil diese skandalösen Verträge hier von der Tribüne des Hauses und dem folgend in der ganzen deutschen Presse in der schärfsten, entschiedensten Weise kritisiert worden sind, und damit erst für den neuen Kolonialdirektor auch das Tor geöffnet wurde, das ihn in seine jetzige Stelle brachte (lebhafte Zustimmung), in der Hoffnung, daß er der Mann sei, der das tun werde, was seine Vorgänger zu tun bisher leider in so reichem Maße versehen und übersehen hatten. (Sehr wahr! Sehr richtig!) Gerade die Taktik des Herrn Kolonialdirektors, daß er, kaum daß er ins Amt tritt, sofort sich bemüht, den Händen der Abgeordneten das für die Öffentlichkeit bestimmte Material zu entwinden (lebhafte Zurufe rechts; Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten) und womöglich die Akten in einer von ihm eingesetzten Kommission in aller Stille untersuchen und prüfen und je nach Umständen auch ohne Erfolg verschwinden zu lassen, hat unser Mißtrauen erweckt. (Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) Das ist das Bedenkliche. Ich erkläre offen: mit diesem Schritt hat der Herr Kolonialdirektor bei mir bereits für seine nächste Amtstätigkeit das größte Mißtrauen wachgerufen. (Zurufe rechts. Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) Wenn mich dies Mißtrauen täuschen, wenn die Tatsachen mich eines besseren belehren sollten, - verlassen Sie sich darauf, ich bin der erste, der alsdann sehr bereit sein wird, pater peccavi zu sagen und das, was ich heute hier erklärt, alsdann zurückzunehmen. (Bravo! rechts.) Ich kann nach dem Gesagten selbstverständlich auch nicht einstimmen in den lebhaften Dank, den verschiedene Redner dieses Hauses dem Herrn Kolonialdirektor dafür gezollt haben, daß er die Verträge Tippeiskirch & Co., Woermann & Co. usw. als aufgehoben und ungültig geworden in der Tasche hat. Meine Herren, ist denn einer in diesem Hause, der geglaubt hat, daß ein neuer Kolonialdirektor ins Amt und in den Reichstag treten könnte, ohne daß er in der Lage war, die Erklärung mitzubringen: die Verträge Tippeiskirch & Co., Woermann & Co. und tutti quanti existieren nicht mehr - ? (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Ist einer da, der das für möglich gehalten hat? Meine Herren, als wir im März 94
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dieses Jahres die langen Debatten hatten über den Vertrag mit der Firma Tippeiskirch, als von Seiten der Herren von der Kolonialabteilung und auch von der rechten Seite, insbesondere, wenn ich nicht irre, von dem Herrn Abgeordneten Arendt, all die Schwierigkeiten erwähnt wurden, die sich der Lösung des Vertrages mit der Firma Tippeiskirch & Co. entgegenstellen sollten, daß es unmöglich erscheine, diesen Vertrag lösen zu können, - da habe ich erklärt: es kommt gar nicht in Frage, ob die Lösung formell möglich erscheint, der Vertrag muß gelöst werden, weil es eine einfache Anstandspflicht der Firma Tippeiskirch ist, nach der Kritik, die an dem Inhalt des Vertrages hier geübt wurde, nach den ungeheuren Geldentziehungen, die dem Reiche auf Grund dieses Vertrages widerfahren sind, den Vertrag freiwillig aufzulösen, ob sie das Recht in der Hand hat oder nicht.t629^ (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Und wenn der damalige Kolonialdirektor der Mann gewesen wäre, der er hätte sein sollen, dann hätte er nach diesen Debatten zu den Inhabern der Firma Tippeiskirch & Co. gehen, ihnen sozusagen an die Gurgel springen und erklären müssen: nach dem, was im Reichstage erklärt worden ist, was auf Grund dieses Vertrages in der breiten Öffentlichkeit gesagt ist, ist es eine Sache der Ehre für Sie, von dem Vertrage zurückzutreten; wenn Sie also noch einen Funken Ehre im Leibe haben, muß dieser Vertrag sofort gelöst werden. (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Dieser Vertrag war ein Löwenvertrag zu Ungunsten des Reiches, genau wie der Vertrag der Firma Woermann & Co., genau wie der Vertrag mit dem berühmten Apotheker, der neben seinen Arzeneien auch Hufeisen und Pferdedecken zu Apothekerpreisen lieferte (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten), aber auch seine übrigen Artikel zu Überapothekerpreisen an das Reich verkauft haben soll. Nach dem, was ich gehört habe, soll z.B. der Preis für eine sogenannte Hausapotheke bei ihm dreimal so hoch gewesen sein, als bei jeder anderen Firma. (Hört! hört! links.) Also, meine Herren, wenn Herr Dernburg in der Lage war, nunmehr mit der Erklärung, daß diese Verträge gelöst seien, hier zu erscheinen, dann war das nur selbstverständlich; diese Firmen waren auch um so leichter in der Lage, nunmehr die Verträge lösen zu können, sich noch gewissermaßen ein Stückchen Ehre zu retten, wenn überhaupt noch etwas zu retten war, nachdem sie ungeheure Profite auf Kosten des Reiches in die Tasche gesteckt und kolossale Vermögen erworben hatten. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Wenn der Herr Kolonialdirektor in seiner sogenannten Inventur anführte, daß der Wert der Handels- und Transportflotte der Firma Woermann & Co. 40 Millionen Mark repräsentiere, und das als Beweis für die Prosperität der Kolonie anführte, dann hätte doch der Herr Kolonialdirektor als ein geriebener Kaufmann, der die Verhältnisse wie irgend einer kennt, wissen müssen, daß die Firma Woermann nur in der Lage war, 95
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binnen wenigen Jahren die kolossale Summe von 40 Millionen Mark in Schiffen anzulegen auf Grund der ungeheuren Profite, die sie infolge des Aufstandes in Südwestafrika gemacht hat. (Lebhafte Zustimmung links.) Mit der Prosperität der Kolonien hat das nicht das geringste zu tun; im Gegenteil ist das Unglück Deutschlands - und der Aufstand in Südwestafrika 2 ist das Unglück Deutschlands - das Glück für die Firma Woermann & Co., für die Firma Tippeiskirch & Co. und alle anderen gewesen. (Lebhafte Zustimmung links.) Wenn man an diese Firmen im Vertrauen die Frage richten würde: was wünscht ihr, wünscht ihr zehn Jahre Frieden oder zehn Jahre Aufstand in den Kolonien? - dann würden sie, dessen bin ich fest überzeugt, wenn sie ehrlich Antwort geben wollten, sagen: selbstverständlich zehn Jahre Aufstand. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Das ist eben das Charakteristische für unsere bürgerliche Gesellschaft, für den Gegensatz der Solidarität der Interessen, daß des einen Tod des anderen Brot ist. Aber hier fällt nicht nur Brot ab, hier fielen auch Austern, Kaviar und Champagner ab, und nebenbei fielen noch ungeheure Vermögen ab, die die Inhaber dieser Verträge in die Tasche stecken konnten auf Kosten des Reichs. Meine Herren, der ganze Aufstand - der Herr Abgeordnete Erzberger hat das gestern bereits angedeutet - ist leider ein Glück nicht nur für die Tippeiskirch & Co., nicht nur für die Woermann & Co., sondern auch für eine ganze Zahl von Leuten in der Kolonie bis auf den heutigen Tag. (Hört! hört! links.) Ich habe in diesen Tagen den Brief eines Südwestafrikaners erhalten, der von dort zurückkehrte und zu denen gehört, Herr Kolonialdirektor, der kein Verlangen trägt, nach Deutsch-Südwestafrika zurückzukehren. Dieser Mann klagt auf das lebhafteste über die wucherischen Lebensmittelpreise, die die Schutztruppe und die Beamten der Kolonie in erster Linie auf das furchtbarste bedrücken. Er macht insbesondere der Reichsregierung den Vorwurf, daß sie aber auch gar keine Maßregeln getroffen habe, um gegen diesen furchtbaren Lebensmittelwucher aufzutreten, die Händler zu zwingen, über einen gewissen Preis hinaus nicht zu verkaufen. Diese haben die Situation, die durch den Aufstand in der Kolonie geschaffen wurde, in unerhörter Weise zum Schaden der Kolonisten, die kaufen mußten, und zum Schaden der Soldaten ausgenutzt. Der Mann teilt mir mit, daß während des Aufstandes der Sack Reis oder Mehl in Windhuk 80 bis 120 Mark kostete, in Keetmanshoop 100 Mark mehr, ein Zentner Kartoffeln 50 Mark, ein Zentner Zucker 150 Mark, eine Flasche Bier, 3/4 Liter, je nach den Umständen 2Vi bis 10 Mark kostete. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Für eine Schachtel Zigaretten mußte 5 Mark, für vier schlechte Wasserbrötchen 50 Pfennige bezahlt werden. (Hört! hört! links.) Er teilte mir ferner mit, daß es 2 Siehe hierzu Nr. 29 und 37 in Band 7/2 dieser Ausgabe. 96
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eine ganze Menge Firmen gebe - und er hat mir solche in seinem Briefe genannt - , die sich als schwer geschädigt durch den Aufstand ansähen und Ersatz ihrer Verluste verlangten, aber infolge der Geldplethora, die durch den Aufstand in Südwestafrika erzeugt worden ist, in die Lage kamen, das Geschäft des Ansiedlers mit dem des Shopkeepers zu vertauschen, und als solche enorme Profite gemacht und zum Teil in kurzem sich große Vermögen erworben haben. Er führt unter anderem den Inhaber eines Restaurants und kleinen Hotels in Windhuk an, dessen Namen er auch nennt, einen ehemaligen Schutztruppler, seines Zeichens Bäcker, der jedem, der es hören will, erzählt, daß er in ganz kurzer Zeit 200 000 Mark verdient habe. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Der Mann sagt weiter: die ganze Kolonie lebt nur vom Reich; ohne den Eisenbahnbau und den Hafenbau und vor allen Dingen ohne den Aufstand wär die Kolonie bankrott. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Er fügt weiter hinzu: schon jetzt bekommt ein erheblicher Teil der Ansiedler einen Schrecken, daß der Aufstand bald aufhören könnte (Hört! hört! von den Sozialdemokraten und Heiterkeit), weil damit die kolossalen Profite ihnen verloren gehen, und an Stelle der Uberflusses Mangel treten könnte. So, meine Herren, sind die Schilderungen eines Sachverständigen. (Zuruf rechts.) Sie werden zugeben, diese Schilderungen dekken sich mit denen, die gestern der Herr Abgeordnete Erzberger ebenfalls von sachverständiger Seite bekommen hatte, vollkommen. Das ist also der Zustand, den für einen erheblichen Teil dieser sogenannten Ansiedler der Aufstand zur Folge gehabt hat, die nur Vorteil von den ungeheuren Nachteilen, die dem Reiche aus diesem Aufstande entstanden sind, gezogen haben. Meine Herren, es wird, wie ich voraussetze, kaum möglich sein, auf Grund der Verträge, die mit den erwähnten Firmen abgeschlossen wurden, von den ungeheuren Profiten, die sie auf Kosten des Reichs eingesteckt haben, noch etwas zu Gunsten des Reiches heraus zu bekommen. Nebenbei bemerkt sind natürlich die Herren, die sich so ungeheuer auf Kosten des Reiches bereichert haben, ausgezeichnete Patrioten (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten) und, wie ich hinzusetze und vermute, auch gute Christen, Patrioten und Christen, die sich sehr beleidigt fühlen möchten, wenn man ihren Patriotismus oder ihr Christentum irgendwie bezweifelte. Meine Herren, ich bin allmählich auf Grund meiner Erfahrungen mit diesen Patrioten und Christen nicht nur in Südwestafrika zu der Anschauung gekommen, daß, wenn ich jemand höre, der in besonderem Maße mit seinem Patriotismus und seinem Christentum prahlt, ich mich immer frage: was hat der eigentlich auf Grund der heute bestehenden Zustände für Vorteile erlangt, oder was hofft er für Vorteile zu erlangen? (Sehr gut! sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Man kann sicher darauf rechnen, daß, je größer die Vorteile sind, die ein solcher Herr aus dem bestehenden Zustand der Dinge gezogen hat, 97
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zieht oder zu ziehen hofft, er desto lebhafter seinen Patriotismus und seine Frömmigkeit rührt und desto donnernder gegen die vaterlandslose internationale Sozialdemokratie zu Felde zieht. (Lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten.) Diese Merkmale decken sich ziemlich vollständig. Aber, meine Herren, wenn es nicht möglich ist, auf Grund der Verträge von seiten der betreffenden Privatpersonen und Gesellschaften noch etwas von dem, was sie dem Reiche unrechtmäßig, eigentlich wider die guten Sitten verstoßend genommen haben - und vielleicht wäre das ein Paragraph, wo man anpacken und sie zivilrechtlich noch belangen könnte; wir werden die Frage einmal in der Budgetkommission des näheren erörtern - , ich sage, wenn das nicht möglich sein sollte, dann entsteht daneben noch die Frage: wie konnten sich Beamte im Deutschen Reiche in der Reichsverwaltung finden, die derartige leoninische Verträge zum größten Schaden des Reiches abschlossen (lebhafte Zustimmung links) und ihren höheren Vorgesetzten zur Ratifizierung empfohlen haben?! (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Herr Erzberger - pardon, Herr Dernburg (Heiterkeit links) hat heute zum zweiten Male die Spur gezeigt, die er künftig wandeln wird. Er ist von vornherein überzeugt, daß der Geheime Legationsrat Seitz, der, wie es scheint, bei dem Tippeiskirchvertrag wenigstens, in erster Linie der Entwerfer, Abfasser und Berater war, im besten Glauben gehandelt habe. Meine Herren, es wird unseren Beamten stets ungeheuer leicht gemacht, sich der Verantwortung zu entziehen, da ihre Vorgesetzten auch bei den schwersten Vergehen und Verbrechen stets voraussetzen, sie haben im guten Glauben gehandelt. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Dieser gute Glauben ist sogar dem Dr. Peters - ich komme später auf den Fall - bis zu einem gewissen Grade von seiten des Disziplinarhofs im Falle der Ermordung zweier Neger zugebilligt worden. Wenn wir Sozialdemokraten etwas getan haben, wenn wir irgend ein Gesetz verletzt und übertreten haben, meine Herren, da können wir vor dem Gericht Stein und Bein schwören, daß wir das Gesetz nicht kannten, - es gibt keinen Gerichtshof im Deutschen Reiche, der das glaubt. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Wir haben immer mit bösem Willen gehandelt, wir haben stets absichtlich das Gesetz übertreten, und infolgedessen werden wir bestraft. Aber handelt es sich um einen Beamten - und je höher der Beamte steht, u m s o mehr - , mag er gemacht haben, was er will, mag er Handlungen begangen haben, daß man sagt: da weiß ja ein siebenjähriges Kind, daß es das nicht tun durfte, - ihm wird stets der gute Glaube zugebilligt. (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Der Mann, der nur in seine Stelle kam auf Grund besonderer Vorbereitungen und Examina, auf Grund besonderer Studien, wird für unmündiger und unverständiger hingestellt als ein kleines Kind, er hat stets in gutem Glauben gehandelt, und er wird infolgedessen nicht nur freigesprochen, sondern 98
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es kann ihm sogar passieren, daß er für die Schmerzen und die Unruhe, die ihm die Anklage eingetragen hat, auch noch belohnt wird, indem man ihn die Treppe hinauffallen läßt. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten und Heiterkeit.) So stehen bei uns im Deutschen Reiche der Gottesfurcht und frommen Sitte in Wahrheit die Dinge. Aber, meine Herren, diesmal kommen Sie so glatt und so leicht darüber nicht hinweg. D a s Deutsche Reich ist notorisch um Dutzende, vielleicht um Hunderte von Millionen durch diese ungünstigen Verträge geschädigt - ich sage mehr - betrogen worden. (Sehr wahr! sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Wir haben für alles Mögliche Summen bezahlt, die als keine normalen Preise angesehen werden können; wir haben Preise bezahlt für alles Mögliche, die ganz außer Verhältnis zum wahren Wert der Dinge stehen. Und, meine Herren, es ist doch geradezu undenkbar, daß eine ganze Schar von hohen Beamten, die Tag für Tag in der Kolonialverwaltung sitzen und die Rechnungen für diese Dinge in Empfang zu nehmen haben, auch nicht ein einziges Mal auf den Gedanken gekommen sein sollten, an einer dritten und vierten Stelle nachzufragen, ob denn die verlangten Summen in der Tat mit dem wirklichen Wert der Dinge irgendwie in Einklang zu bringen sind. Wenn ein Beamter bei einer Privatfirma so handeln würde, wie die Beamten des Reichs in dieser Angelegenheit gehandelt haben, so würde der Firmeninhaber den Beamten flugs zur Türe hinausgeworfen haben (Sehr wahr! sehr richtig! links), und der Beamte hätte froh sein müssen, wenn ihm sein Chef nicht noch einen Prozeß wegen leichtfertiger oder betrügerischer Schädigung seines Geschäfts an den Hals geworfen hätte. Aber bei uns ist nicht nur davon nicht die Rede, - nein, bewahre, diese Beamten haben alle in gutem Glauben gehandelt, sie stehen alle da mit der tadellosen weißen Weste. Meine Herren, ich schlage vor, daß als symbolisches Zeichen der Reinheit und Unschuld unserer Kolonialbeamten und der Beamten im Auswärtigen Amt künftighin diese Beamten veranlaßt werden, hier stets nur in weißer Weste anzutreten. (Große Heiterkeit.) Es wäre das ein Zeichen, daß alle ohne Ausnahme rein und unschuldig sind, daß niemand das Geringste an sich hat, was ihm seine weiße Weste irgendwie zu verderben geeignet wäre. Meine Herren, die Frage, wer von den Beamten verantwortlich ist, muß sehr ernsthaft geprüft werden. Es ist doch ein starkes Stück, daß, nachdem alle diese Dinge anfangs nur in Andeutungen, aber doch sehr deutlich, nachher immer lauter und lauter erst in der Presse, dann im Reichstage behandelt wurden, nicht schon nach der ersten Anklage stehenden Fußes der Herr Staatssekretär des Auswärtigen 3 oder der Herr Reichskanzler 4 , der, soviel ich weiß, in letzter 3 4
Heinrich Leonhard von Tschirschky und Bögendorff. Bernhard von Bülow. 99
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Instanz die Verträge zu signieren und im Namen des Reiches abzuschließen hat, die verantwortlichen Herren zitierte und ihnen sagte: hören Sie, was ist denn an diesen Anklagen Wahres? Ist das in der Tat so, daß wir in so unerhörter Weise über die Ohren gehauen werden? (Sehr gut! links.) Der Herr Reichskanzler klagte, daß man ihn verantwortlich machen wolle, wenn die Stiefel für die Kolonien viel zu teuer bezahlt worden seien; er klagte, daß man quasi verlange, daß er für diese und hunderterlei andere Dinge, für die zu hohe Preise gezahlt worden seien, gewissermaßen eine Prüfung hätte vornehmen sollen. Das hat niemand von dem Herrn Reichskanzler verlangt. Aber der Herr Reichskanzler ist kraft der Reichsverfassung der einzige verantwortliche Beamte im Reiche. Der Herr Reichskanzler hat freilich auf Grund der Reichsverfassung eine Stellung, die kein Mensch in der Welt und die auch schon Fürst Bismarck seinerzeit nicht ausfüllen konnte, eine Verantwortung, die kein Mensch zu übernehmen in der Lage ist. (Sehr richtig! links.) Wenn der Herr Reichskanzler das Ressort, das speziell sein Ressort ist, mit voller Aufmerksamkeit und Gewissenhaftigkeit verwaltet und kontrolliert, dann hat er für die Kraft eines Menschen reichlich genug zu tun. Aber von ihm noch zu verlangen, daß er die ungeheure Reichsverwaltung mit ihren vielen Organisationen und einzelnen Zweigen auch noch übersehen, kontrollieren und dafür eine Verantwortlichkeit übernehmen soll, das ist menschenunmöglich. Wenn ich nur eine Stunde an der Stelle des Reichskanzlers wäre, so wäre das erste, was ich täte, daß ich beantragte, den betreffenden Artikel aus der Reichsverfassung, wenn nicht zu streichen, so doch so zu modifizieren, daß neben der Person des Reichskanzlers noch eine Reihe Ressortminister oder Ressortchefs bestehen, die für die betreffenden Ressorts die Verantwortung dem Reichstage und der Welt gegenüber zu übernehmen hätten. (Sehr richtig!) So wie bisher gehen die Dinge wirklich nicht mehr weiter. Ich mache den Herrn Reichskanzler in hohem Grade mit verantwortlich für die traurigen Zustände, die in der Kolonialverwaltung und zum Teil, wie ich später noch nachweisen werde, auch bis in das Auswärtige Amt hinein vorhanden sind. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Wir haben alle Ursache, wenn überhaupt gründlich geändert werden soll, das System zu ändern. Niemand anders als der Herr Kolonialdirektor war es, der gestern, im Gegensatz allerdings zu einer Ausführung, die er am vorhergehenden Tage gemacht hatte, erklärte: eine Person kann kein System ändern, und mit einem System haben wir es hier zu tun. Selbst angenommen, daß der Herr Kolonialdirektor alle die Eigenschaften und Fähigkeiten hat, die ihm von Ihnen, der Majorität im Hause, und in der Presse draußen zugetraut werden, wenn er die Energie und den guten Willen besitzt, der so riesengroß wäre, wie er bei einem Menschen nur sein könnte, so wird er doch 100
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nicht imstande sein, diesen Augiasstall zu reinigen, wird er nicht imstande sein, eine Basis zu schaffen, die künftig ähnliche Dinge, wie sie jetzt in Hülle und Fülle vorgekommen sind, ein für allemal unmöglich macht. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Wir werden weiter darüber zu reden haben. Ich möchte gegenüber dem Herrn Abgeordneten Erzberger weiter bemerken, daß seine Ausführungen, soweit sie sich gegen die geplante Etatisierung der Kolonialausgaben, der Aufwendungen für Kolonialzwecke, gegen die Vorschläge und Meinungen des Herrn Kolonialdirektors gewendet haben, unsere volle Zustimmung finden. Wir müssen dringend verlangen, und zwar jetzt energischer als je, weil wir annehmen, daß auf Grund des merkwürdigen Vertrauens, das Sie nach den ersten Reden dem gegenwärtigen Kolonialdirektor entgegengebracht haben, die Ausgaben für die Kolonien, auch selbst wenn der Aufstand beseitigt ist, in den nächsten Jahren erheblich wachsen werden. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Und zwar werden die militärischen wie die Eisenbahnausgaben, abgesehen von den sonstigen Kolonialausgaben, wachsen. Da erscheint es dringend notwendig, daß wir eine klare Ubersicht der gesamten Kosten haben, die uns die Kolonien verursachen. Ich verstehe es platterdings nicht von einem Bankier und Kaufmann, wie der Herr Kolonialdirektor von Natur ist, möchte ich sagen, daß er eine Etatisierung wie die seine vorschlagen kann. Meine Herren, die Kolonien sind ein auswärtiges Geschäft, nichts weiter. Wenn Sie glaubten, mit den Kolonien kein Geschäft zu machen, würden Sie dem Reich nicht zumuten, Kolonien zu übernehmen. Sie hoffen, mit den Kolonien ein Geschäft und zwar ein gutes Geschäft zu machen. Nun, meine Herren, jedermann, der ein Geschäft übernimmt, will auch die Kosten des Geschäfts kennen; er will die Anschaffungskosten kennen, das sind die Eroberungskosten in diesem Fall, und er will die Erhaltungskosten kennen, das sind die Kosten für die Niederwerfung von Aufständen, militärische Ausgaben aller Art, um den bestehenden Zustand, wie er sich gebildet hat, erhalten zu können. Und gerade diese wichtigen Ausgaben aus dem Etat herauszunehmen, sie unter die anderen Etats des Reichs nach ihrer Spezialität zu verbuchen und damit den Etat unklar und undurchsichtig zu machen, kann zwar, wie ich begreife, den Herren von der Kolonialverwaltung und den Zwecken, die sie mit den Kolonien verfolgen, passen, darf aber nie und nimmer einem gewissenhaften Reichstag passen, der die verdammte Pflicht und Schuldigkeit hat, hier die Interessen des deutschen Volks nach allen Richtungen hin wahrzunehmen. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Dagegen muß ich offen sagen, wenn ich zu den Ausführungen des Herrn Erzberger über die Etatisierung der Kolonialausgaben ein Ja sage, ich zu einem anderen Teile seiner Ausführungen ein Nein sage, wenigstens so lange, wie wir nicht genau wissen, wie er sich die Sache vorstellt. Es ist schon eine alte Frage, 101
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w i e die Kolonien am besten, zweckmäßigsten und billigsten verwaltet werden könnten. Daß der sogenannte Kolonialrat ein U n d i n g ist, das hat uns gestern H e r r Erzberger sehr klar gesagt. Wir wissen das alle seit langen Jahren. A u s w a s besteht denn der Kolonialrat? A u s nichts als Kolonialinteressenten vom ersten Tag seines Zusammentritts an! (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) U n d , meine Herren, von einem solchen Kollegium, das in bestimmten, vielleicht sehr wertvollen Dingen ein entscheidendes Wort zu sprechen hat, - daß man von einem solchen Kollegium erwarten soll, daß es w i d e r sein eigenes Interesse handelt, das ist etwas, was Sie von der N a t u r eines solchen so wenig erwarten können, als Sie von einem Fuchs erwarten können, daß, wenn Sie ihm ein H u h n vorhalten, er es nicht zerreißen soll. (Heiterkeit.) Nein, es versteht sich von selber, daß die Herren im Kolonialrat mit ihrer Stellung, wobei wahrscheinlich die Herren immer im guten Glauben handeln - (Heiterkeit und Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten) - ach, der gute Glaube läßt sich sehr leicht behaupten und sehr schwer beweisen, daß er nicht vorhanden ist - ich sage also: die Herren vom Kolonialrat werden im guten Glauben gehandelt haben, als sie ihre Beschlüsse für den weiteren Ausbau der Kolonien faßten. Aber, meine Herren, daß die Theorie, es m ü ß t e nun der Schwerpunkt der Verwaltung in die Kolonien selbst gelegt werden, es müßte den Kolonisten ein gewisses Selbstverwaltungs- und Selbstentscheidungsrecht gewährt werden, sie sollten so eine Art National- oder Volksvertretung bilden, etwa im kleinen, w i e w i r im großen - ja, Herr Erzberger, w a s heißt das anders, als ein paar hundert, unter Umständen ein paar Dutzend Leute zum H e r r n über das Schicksal einer Kolonie einzusetzen? Dieselben sitzen fern von Madrid, ausgestattet mit scheinbar besserer und größerer Kenntnis der Verhältnisse, und fassen die schönsten Beschlüsse zum Schaden des Reichs. M e i n e Herren, sind Sie imstande, das Ei des Kolumbus in dieser Frage zu entdecken, d.h. eine Körperschaft zu konstruieren, die versteht, sachlich und objektiv die Interessen der Kolonie zu erwägen und zu gleicher Zeit mit den Interessen des Reichs in vollsten Einklang zu bringen, dann wollen w i r auch in diesem Falle mit uns reden lassen, trotz aller Gegnerschaft gegen die Kolonien. W i r haben, w e n n Sie, meine Herren von der Majorität, bereit sind, Millionen, Dutzende von Millionen, schließlich Hunderte von Millionen nach einander für die Kolonien auszugeben, selbstverständlich das lebhafte Interesse, dafür zu sorgen, daß diese Geldausgaben in möglichst vernünftiger und wirtschaftlicher Weise verwendet werden. (Sehr w a h r ! bei den Sozialdemokraten.) Dieses Interesse haben auch w i r Sozialdemokraten trotz all der Opposition, die w i r im übrigen nach w i e vor unserer deutschen Kolonialpolitik entgegenbringen werden u n d nach meiner Uberzeugung, w i e ich heute noch nachzuweisen hoffe, auch entgegenbringen müssen. 102
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Ich möchte zunächst, ehe ich weiter auf das Thema eingehe, mich mit einigen Worten mit Herrn Lattmann auseinandersetzen. Herr Lattmann hat gestern lobend erwähnt, daß ein deutscher Offizier in dem südwestafrikanischen A u f stande wissentlich eine Grenzverletzung begangen habe. Er hat das in der O r d nung gefunden. Er wünschte, daß in ähnlichen Fällen andere deutsche Offiziere ähnlich handeln. Aber, meine Herren, derselbe H e r r Lattmann, der in der patriotischen Wallung, die auch ihn auszeichnet, selbst die Verletzung internationaler Pflichten als etwas Lobenswertes und Erlaubtes hingestellt hat, derselbe Herr Lattmann fährt in demselben A t e m z u g e fort: Auch die Engländer haben mehrfach sich solche Grenzverletzungen zu schulden kommen lassen. U n d das hält er in diesem Falle für ein so starkes Vergehen, daß er nicht mehr und nicht weniger als vom Reichskanzler verlangt, daß er sofort einen kalten Wasserstrahl nach England sende. (Zurufe bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, diese Art Bramarbaspolitik ist ungeheuer leicht, w e n n man so gar nichts zu verantworten hat (Sehr richtig! bei der Wirtschaftlichen Vereinigung), w i e das offenbar bei H e r r n Lattmann der Fall ist. (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) M e i n e Herren, das ist Säbelrasselei; das ist eine Politik, die - ich glaube, ich darf es mit Rücksicht auf die parlamentarische Ordnung des Hauses nicht wagen, sie als solche auch zu bezeichnen - die seinerzeit einmal Fürst Bismarck gegenüber gewissen Führern der Nationalliberalen als Karlchen-Miesnick-Politik bezeichnet hat. [6301 (Heiterkeit.) Nun, meine Herren, das Wort w a r hart. Es w a r eines der drastischen Worte, die Fürst Bismarck liebte. Aber wenn Fürst Bismarck auch nur mit einem Schein von Recht Männern wie Miquel und Bennigsen gegenüber deren Politik als Karlchen-Miesnick-Politik glaubte bezeichnen zu dürfen, M ä n nern gegenüber, die ihrer nationalökonomischen und politischen Bildung nach turmhoch über Herrn Lattmann und seinesgleichen stehen (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten), w i e w ü r d e erst Fürst Bismarck die Politik des Herrn Lattmann gestern bezeichnet haben! (Sehr richtig! und Heiterkeit! bei den Sozialdemokraten.) Die Bezeichnung wäre wahrscheinlich so unparlamentarisch geworden, daß der Präsident hätte eingreifen müssen. Meine Herren, ich glaubte, daß einer der Herren Regierungsvertreter diesen mehr als ungeschickten Angriff gegen einen der ersten Staaten des Auslandes zurückweisen würde. Es kann ja sein, daß die Herren gemeint haben: ach, was Herr Lattmann sagt, ist uns gleichgültig. (Heiterkeit.) Wäre das so, dann will ich keinen Vorwurf erheben. A b e r notwendig ist es bei der Sensibilität, die nun einmal leider diesseits und jenseits des Kanals durch eine Reihe von Ereignissen hervorgerufen worden ist, daß, w e n n derartige Worte von einer Seite laut werden, sofort von der anderen Seite entsprechend geantwortet wird. U n d ist denn Herrn Lattmann die tatsächliche Isolierung Deutschlands noch 103
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nicht genug, will er die Dinge noch übertreiben? Ahnt er denn gar nicht, daß, wenn wir eines Tages infolge einer solchen Kaltwasserstrahlpolitik - ich komme später auf das Thema noch zurück - in einen Krieg mit England verwickelt werden sollten, alle die schönen Kolonien, für die er so schwärmt, von England an einem Tage mit Beschlag belegt werden würden, ohne daß wir das geringste dagegen machen könnten? (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Und wenn er so empfindlich ist gegen Grenzverletzungen, die der eine oder andere englische Staatsangehörige Deutschland gegenüber begangen haben soll, warum hat denn derselbe Herr Lattmann in seinem überschäumenden Patriotismus kein Wort des Tadels gegen die beständigen Grenzverletzungen, die das Reich im Osten, Rußland, an der deutschen Grenze begeht? (Sehr richtig! links.) Da schweigt man, da duckt man sich, da kriecht man und läßt nichts von sich hören! (Oh! oh! rechts. Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren rechts, Sie haben bisher nicht ein Wort des Tadels dafür gehabt, - wir würden Sie in diesem Falle unterstützen. Aber Schweigen, Schweigen und zum dritten Male Schweigen, das ist die Taktik, die Sie in solchen Fällen gegenüber Rußland beobachten. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Man macht allenfalls eine Faust in der Tasche, aber den Mund, den hält man zu, der zu anderen Zeiten ungeheuer offen ist. (Heiterkeit.) Herr Lattmann hat auch - das war zwar nicht neu - ausgeführt, mit der Haltung, die die Sozialdemokratie in der Kolonialpolitik einnähme, träte sie die Arbeiterinteressen mit Füßen. Das ist uns ja schon oft gesagt worden und wird uns weiter gesagt werden; es dürfte uns bis zum Uberdruß auch bei den nächsten Wahlen gesagt werden. Meine Herren, ich habe keine Veranlassung, an dieser Stelle uns gegen diesen ebenso blöden wie unsinnigen Anwurf nur mit einem Wort zu verteidigen. Aber wenn in einer Sache wir darauf rechnen können, wenn wir vor unsere Parteigenossen und Wähler treten und unsere Haltung zu rechtfertigen suchen und ihre Zustimmung verlangen, dann ist es gerade in der Frage unserer Haltung in der Kolonialpolitik. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Auf den Optimismus, den Herr Lattmann bei dieser Gelegenheit über die Entwicklungsfähigkeit unserer Kolonien an den Tag gelegt hat, werde ich später an anderer Stelle noch etwas näher eingehen. Aber wenn er gemeint hat, der deutsche Arbeiter sei lebhaft dabei interessiert, wenn in unseren Kolonien die Viehzucht blühe, um von dort billigeres Vieh und Fleisch nach Deutschland zu bringen, dann scheint er, der große Kolonialpolitiker (Heiterkeit), gar nicht zu wissen, daß dem Deutschen Reich gegenüber die Kolonien Zollausland sind, daß also das südwestafrikanische Vieh, seien es Ochsen, Schafe, Rinder oder Ziegen, wenn es nach Deutschland eingeführt wird, die famosen hohen Zölle tragen muß, 104
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die er und seine Freunde im Zolltarif niedergelegt haben. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Und daneben werden die Herren Agrarier auf die beständige Seuchengefahr hinweisen, die gerade bei den Viehbeständen in Südwestafrika, wie mir scheint, mit mehr Recht aufgestellt werden kann als gegen europäische Staaten. Wenn also in Südwestafrika, vorausgesetzt daß die Transportkosten den Versand von dort überhaupt lohnen, das Vieh aller Art in noch so großen Massen gedeiht, so nicht für die deutschen Arbeiter und die deutschen Kleinbürger. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Für andere ist es alsdann vorhanden, nur nicht für diese. Aber so ist die Politik der Alldeutschen, ihre Weltmachtpolitik und ihre Kolonialpolitik, die gestern wieder einmal drastisch durch Herrn Lattmann klargelegt worden ist. Es ist dieselbe Politik, die auch die Herren Antisemiten fortgesetzt verfolgen. - Ich habe mich übrigens gefreut, daß diesmal wieder der Retter aus der deutschen Kolonialmisere wie so viele andere Retter aus Israel kommen mußte, woher wir schon so vieles Gute bekommen haben, und daß diesmal sogar die Herren Antisemiten das Gute von dort erwarten, ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit und Überzeugung. (Sehr gut! und Heiterkeit.) Eine Bemerkung hat mir in den Ausführungen des Herrn Lattmann gefallen, nämlich, daß er den großen Rechenfehler aufdeckte, den der Herr Kolonialdirektor in seiner wunderbaren Inventur gemacht hat. Vorgestern jubelte er, daß er meinem Freunde Ledebour einen Sprechfehler aufmutzen konnte, um gegen seine Ausführungen zu polemisieren; daß ihm aber, dem geriebenen Kaufmann, in seiner Aufstellung, auf die er so stolz war, ein so grober Rechenfehler nachgewiesen werden konnte, hat mich gefreut, und ich bin Herrn Lattmann dankbar, daß er die Zeit gefunden hat, diese Rechnung zu machen, für die wir leider bei unserer Uberhäufung mit Arbeiten nicht die Zeit haben. Meine Herren, daß Kolonialpolitik getrieben wird, ist an und für sich kein Verbrechen. Kolonialpolitik zu treiben kann unter Umständen eine Kulturtat sein; es kommt nur darauf an, wie die Kolonialpolitik getrieben wird. Es ist ein großer Unterschied, wie Kolonialpolitik sein soll, und wie sie ist. Kommen die Vertreter kultivierter und zivilisierter Völkerschaften, wie es z.B. die europäischen Nationen und die nordamerikanische sind, zu fremden Völkern als Befreier, als Freunde und Bildner, als Helfer in der Not, um ihnen die Errungenschaften der Kultur und Zivilisation zu überbringen, um sie zu Kulturmenschen zu erziehen, geschieht das in dieser edlen Absicht und in der richtigen Weise, dann sind wir Sozialdemokraten die ersten, die eine solche Kolonisation als große Kulturmission zu unterstützen bereit sind.[631] (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Wenn Sie also zu den fremden Völkerschaften als Freunde kommen, als Wohltäter, als Erzieher der Menschheit, um ihnen zu helfen, die Schätze ihres Landes, die andere sind als die unsrigen, heben zu helfen, um 105
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dadurch den Eingeborenen u n d der ganzen Kulturmenscheit zu nützen, dann sind w i r damit einverstanden. Kommen Sie also zu ihnen als Arbeits- und Bundesgenossen, dann sind wir dabei. A b e r das ist ja bei Ihrer Kolonialpolitik nicht der Fall. Sie k o m m e n nicht als Befreier und Erzieher, sondern als Eroberer, als Unterdrücker, als Ausbeuter! (Sehr w a h r ! sehr richtig! links.) Sie kommen als Eroberer, u m mit brutaler Gewalt den Eingeborenen ihr Eigentum zu rauben, Sie machen sie zu Heloten, zwingen sie in fremde Dienste zur Fron für fremde Zwecke. Das ist Ihre Kolonialpolitik! Sie nehmen das Eigentum aller, u m es wenigen zu geben. Der Sozialismus will das Eigentum wenigen nehmen, u m es allen zu geben. Das ist der große prinzipielle und kulturelle Unterschied z w i schen Ihrer Eigentumspolitik u n d der sozialistischen. (Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) Sie schenken das Eigentum der Gesamtheit an Menschen, die kein anderes Recht auf dieses Eigentum haben, als daß sie zu Ihnen, der Klasse der Eroberer gehören. Das ist Ihr einziger sogenannter Rechtstitel. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) M e i n e Herren, daß die Eingeborenen, auch die Eingeborenen Südwestafrikas, diese Stellung, die ihnen zugemutet wird, sehr deutlich empfinden, geht hervor aus einem Briefe, der in dem empfehlenswerten Werk von Leutwein „Elf Jahre Gouverneur von Südwestafrika" erschienen ist. Leutwein erzählt auf Seite 32 u n d 33 seines Buches die Beziehungen, die der Hauptmann v. François zu Witboi hatte, u n d w i e eines Tages François, weil er glaubte, daß Witboi ihm später den Krieg erklären würde, einen Uberfall machte, um ihn gefangen zu nehmen, w a s ihm aber mißlang. Darauf antwortete Witboi, er habe erwartet, daß, w e n n man ihm zu Leibe gehen wolle, man ihm erst ehrlicherweise den Krieg erkläre. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Weiter fährt er fort: Warum ich mich über den Uberfall beschwere, das ist: man will mir mein Eigentum, meine Unabhängigkeit nehmen, worauf ich ein Recht habe. [632] Witboi spricht zwar in der ersten Person von sich, aber Witboi spricht als das H a u p t eines Stammes, der nur Stammeseigentum kennt, und Witboi hätte niemals ohne Zustimmung seines Stammes, ohne Zustimmung seiner Großleute irgend welches Stammesland an einen Fremden abgetreten. Das kann ich nicht verstehen u n d ich bin verwundert, - sagt er, - daß ich von dem Großmann François eine solch traurige und schreckliche Vergewaltigung erlitten habe. Ich kann es nicht verstehen, daß es Sünde und Schuld ist, w e n n ein Mensch sein Eigentum und Gut nicht geben will, wenn ein anderer Mensch das verlangt. François hat mich bekriegt, weil ich mein Eigentum nicht geben w o l l tet33! Das ist eine sehr richtige Auffassung, die dieser Barbar, dieser halbe Wilde, dem zivilisierten Christen und Kulturträger François gegenüber wegen seines Beneh106
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mens äußert. Sie finden in der Schrift Leutweins eine ganze Reihe höchst interessanter Stellen, w i e in Wahrheit die Dinge in A f r i k a in bezug auf das Eigentum der Eingeborenen gelagert sind. W i r erteilten und bestätigten Konzessionen für Gebiete und Gerechtsame, - erklärt er auf Seite 18, - die uns nicht gehörten.' 6341 (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Er sagt weiter: Bei den Hereros hätte es auch der mächtigste Häuptling nicht wagen dürfen, seinem Volke eine Landabtretung zuzumuten. Anders bei den Hottentotten, die jedem Liebhaber an Land solches abtreten, w a s dieser nicht nur sich wünschte, sondern auch solches, das sie gar nicht besaßen.1^351 (Heiterkeit.) A n einer anderen Stelle seines Buches heißt es: Nach den Rechtsanschauungen der Eingeborenen ist das Land nicht Eigentum eines einzelnen, sondern des Stammes.' 6361 (Hört! hört! links.) U n d auf Seite 276 sagt Leutwein: Jedenfalls haben wir in der Landfrage die Hereros nicht verstanden und sie uns nicht.'637·' Eine schärfere Verurteilung der deutschen Landpolitik, als sie in diesen A u s führungen des H e r r n Leutwein gemacht wird, kann nicht ausgesprochen w e r den. W i r haben in der Tat mit dem uns nicht gehörenden Eigentum der Eingeborenen in einer unverantwortlichen Weise gewirtschaftet; wir haben nicht gehandelt w i e Christen, w i e Kulturmenschen, sondern weit schlimmer, als der schlimmste Barbar in gleichem Falle gehandelt haben würde. (Sehr wahr! links.) Dagegen helfen alle Protestationen nichts! In allen diesen Dingen, meine Herren, sind Sie die Schuldigen, und die jetzt als schuldig Betrachteten in Wahrheit die Unschuldigen. (Sehr w a h r ! links.) Die Entwicklung der Dinge ist allmählich in bezug auf die Landfrage so geworden, daß sie Ihnen heute im höchsten M a ß e unbequem wird. Herr Erzberger hat gestern auf die Deutsche Kolonialgesellschaft hingewiesen, die lange Zeit gar nichts von Tätigkeit habe hören lassen u n d dann plötzlich 20 Prozent Dividende verteilt habe. Gerade diese Gesellschaft ist ein sprechendes Beispiel für die bestehende Mißwirtschaft. Ich will dem, was H e r r Erzberger gestern anführte, noch einiges hinzufügen. Das Besitztum der Deutschen Kolonialgesellschaft kommt aus der H a n d des Herrn Lüderitz. Dieser hatte seinerzeit, als er in Südwestafrika landete' 6381 , in der sattsam bekannten Weise einen ungeheuren Landbesitz von den Eingeborenen erworben, für den er insgesamt 17 400 M a r k an Geld und einige hundert Gewehre gegeben hatte. Da die Lüderitzsche Familie, nachdem ihr Haupt gestorben war, mit diesem Besitz nichts anfangen konnte, hat die Deutsche Kolonialgesellschaft diesen Besitz übernommen und hat dafür der Familie Lüderitz 300 000 M a r k bezahlt und einen Anteil an den Aktien. N u n hat bis zum 1. April d.J. die Deutsche Kolonialgesellschaft, wiederum ganz besonders begünstigt durch den Aufstand, namentlich an dem Lande, das sie in S w a k o p m u n d u n d Lüderitzbucht 107
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hat, einen Gewinn von nahezu 3 Millionen Mark gemacht, ohne auch nur eine Hand für Kulturarbeit zu rühren. (Hört! hört! links.) Aber heute noch ist diese Kolonialgesellschaft im Besitz von 136 000 Quadratkilometer Land, d.h. sie hat einen Landbesitz, der 1% Mal so groß ist wie das gesamte Königreich Bayern, das nur 76 000 Quadratkilometer Land enthält. (Hört! hört! links.) Wie kommt diese Gesellschaft zu diesem ungeheuren Besitz, der sich als ein außerordentliches Hemmnis für die ganze Entwicklung der Kolonie darstellt? Gehörte dieser Besitz dem Reich, so könnte nicht bloß in bezug auf die Gewährung von Reservaten an die Eingeborenen, sondern auch in bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung der Kolonie in Ihrem Sinne manches geschehen. Jetzt zerbrechen sich die Gelehrten des Kolonialamts und andere Leute die Köpfe, wie das geändert werden soll. Herr Erzberger hat gestern auch Vorschläge zur Änderung gemacht. Meine Herren, es gibt einen sehr einfachen Weg, wie ja immer das Einfachste das Vernünftigste ist, den will ich Ihnen zeigen. Ich hoffe, daß ich in der Budgetkommission die Unterstützung des Herrn Erzberger und seiner Freunde für meinen Vorschlag finde, weil es der einzig mögliche Weg ist, der eine gründliche Lösung der Schwierigkeiten bietet. Meine Herren, machen wir für die Kolonien ein Expropriationsgesetz! (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Alle die Steuergeschichten - das ist alles Larifari, damit kommen Sie zu gar nichts, damit wird die Sache nur immer verwickelter und das Geschrei immer größer! Ich weiß ja, welch große Schwierigkeiten einem Expropriationsgesetz für das Deutsche Reich entgegenstehen; aber in den Kolonien, hoffe ich, werden wir sehr leicht damit zu Rande kommen! Ein gutes Expropriationsgesetz, und wir sind mit den großen Bodengesellschaften im Handumdrehen fertig! Die Grundund Bodenfrage ist alsdann für die Eingeborenen und die Kolonien sehr rasch gelöst (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten), und wir Sozialdemokraten, die wir ein großes Interesse an der Lösung der Grund- und Bodenfrage für spätere Zeiten bei uns selbst haben (Heiterkeit), wir werden im vorliegenden Falle gern bereit sein, Ihnen den geeigneten Weg zu zeigen, wie die Expropriation in der leichtesten und für die Allgemeinheit sichersten und profitabelsten Weise bewerkstelligt werden kann. (Heiterkeit.) Also ich bitte Sie - Herr Erzberger nickt mir schon zu, ich habe also seine Zustimmung zu meinem Vorschlag von vornherein, und ich hoffe, bei dem Einfluß, den er in seiner Fraktion notorisch besitzt, werden wir uns rasch verständigen und werden in der Budgetkommission ein Expropriationsgesetz in Vorschlag bringen, an dem er und ich unsere Freude haben! (Heiterkeit.) Im übrigen, meine Herren, hat sich wieder herausgestellt, daß der jetzige Aufstand wie alle Aufstände in erster Linie die Folge dieser unglückseligen Landpolitik sind. Wo ist der Mensch überhaupt empfindlicher als bei der Eigen108
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tumsfrage, weil sie die Existenzfrage ist? (Hört! hört! rechts.) - Ja, „Hört! Hört!", Herr Arendt! Das wissen wir genau; wir wissen schon heute, wie Sie schreien werden, wenn wir Ihnen einmal an den Kragen gehen wollen! (Heiterkeit links.) Also das wissen wir, und um so mehr, wenn die ganze Existenz eines Volkes nur in dem Grund- und Bodeneigentum besteht, wie das bei den Eingeborenen in Südwestafrika der Fall ist! Dieselben können nur vom Grund und Boden leben; eine Viehwirtschaft, von deren Entwicklungsmöglichkeit Sie so schwärmerische Gemälde entwerfen - auch der Herr Kolonialdirektor - , ist doch nur auf Grund und Boden möglich, ist doch nur möglich, wenn nicht große Gesellschaften Monopole auf Landbesitz haben und nichts zur Ausnutzung derselben tun. Es muß eine möglichst große Zahl von Eigentümern vorhanden sein, die Grund und Boden in der einzig möglichen Weise, durch rationelle Viehwirtschaft, auszunutzen verstehen. Daß neben der Landfrage insbesondere auch das Verhalten der Eroberer in Rechts- und Gerechtigkeitsfragen in hohem Grade zu diesem unglückseligen Aufstand beigetragen hat, das werden Sie auch nicht bestreiten können! Ich rate Ihnen dringend, lesen Sie in dem Leutweinschen Buch die Seiten 439 bis 441; dort werden Sie in der klarsten, durch Aktenstücke unwiderleglich bewiesenen Weise finden, wie der traurige Aufstand zuwege gekommen ist, der dem Deutschen Reich so ungeheure Opfer an Menschen wie an Geld und Gut gekostet hat. Dort weist Leutwein nach, wie es ein junger Leutnant, unbekannt mit den Verhältnissen des Landes und den Verträgen mit den Eingeborenen, war, der durch ungeschicktes Benehmen die Bondelzwarts in den Aufstand getrieben hat. Er hat allerdings für seine Tat zuerst mit dem Leben büßen müssen; er hat aber herbeigeführt, daß die Bondelzwarts in den Aufstand traten und nach ihnen die Hereros. Wie Leutwein weiter noch beweist, ist auch der Aufstand der Hereros herbeigeführt durch die ungerechte Behandlung seitens der sogenannten Richter. Er führt speziell den Fall an, daß eines Tags ein betrunkener Weißer in die Wohnung eines Eingeborenen eindrang und dort ein friedlich schlafendes Hereroweib, die Tochter eines Häuptlings, ohne weiteres niederschoß. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Als er zur Verantwortung gezogen wurde, wurde er freigesprochen für dies Verbrechen, was ungeheure Empörung hervorrief; erst in zweiter Instanz wurde er bestraft, aber nur mit drei Jahren Gefängnis, während nur annähernd ähnliche Taten von Eingeborenen sofort mit Tod oder den schwersten Strafen belegt wurden. Die Hereros haben nun Vergleiche gezogen und gefunden, wie ungerecht und barbarisch sie behandelt werden von denen, die angeblich im Namen des Christentums, der Zivilisation, der Kultur ins Land gekommen sind, um ihnen höhere Lebensanschauung beizubringen. Wenn Sie nun wiederholt in diesen Tagen das Wort meines Freundes Ledebour 109
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so beleidigend gefunden haben, man suche die Eingeborenen niederzuhetzen ja, meine Herren, ist es denn nicht wahr, daß z.B. die Kriegführung des Herrn v. Trotha nicht nur auf die Niederhetzung, sondern auf die Vernichtung und Ausrottung der Eingeborenen hinausging? (Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) Wollen Sie das bestreiten? Man braucht nur wieder die Proklamation zur Kenntnis zu nehmen, die am 2. Oktober 1904 Herr v. Trotha von Otjisombongwe erlassen hat. Darin heißt es: Ich, der große General der deutschen Soldaten, sende diesen Brief an das Volk der Herero. Herero sind nicht mehr deutsche Untertanen. Sie haben gemordet, gestohlen, haben verwundeten Soldaten Ohren und Nasen und andere Körperteile abgeschnitten und wollen jetzt aus Feigheit nicht mehr kämpfen. Ich sage dem Volke, jeder, der einen der Kapitäne an einer meiner Stationen als Gefangenen abliefert, erhält 1000 Mark, wer Samuel Maharero bringt, 5000 Mark. Das Volk der Herero muß jetzt das Land verlassen. Wenn das Volk dies nicht tut, so werde ich mit dem großen Rohr es dazu zwingen. Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero, mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh, erschossen. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Ich nehme keine Weiber und keine Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück oder lasse auf sie schießen. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Das sind meine Worte an das Volk der Hereros. v. Trotha.[639] Nun, am nächsten Tage mochte Herrn v. Trotha allerdings gesagt worden sein: hören Sie, das geht unmöglich; wenn die Kunde von diesem Erlaß, daß wir Weiber und Kinder erschießen sollen, in die Welt geht, was wird das für böse Folgen haben! Darauf suchte Herr v. Trotha die Sache abzuschwächen durch einen zweiten Erlaß, worin er schrieb: Dieser Erlaß ist bei den Appells den Truppen mitzuteilen mit dem Hinzufügen, daß auch der Truppe, die einen Kapitän fängt, die entsprechende Belohnung zuteil wird, und das Schießen auf Weiber und Kinder so zu verstehen ist, daß über sie hinweggeschossen wird, um sie zum Laufen zu zwingen. (Lachen bei den Sozialdemokraten.) Ich nehme mit Bestimmtheit an, daß dieser Erlaß dazu führen wird, keine männlichen Gefangenen mehr zu machen, aber nicht zu Greueltaten gegen Weiber und Kinder ausartet. Diese werden schon fortlaufen, wenn zweimal über sie hinweggeschossen wird. Die Truppe wird sich des guten Rufes der deutschen Soldaten bewußt bleiben. Das Kommando, gez. v. Trotha, Generalleutnant. [640] Nun, meine Herren, man hat über Kinder und Weiber hinweggeschossen und hat sie zu Hunderten und aber Hunderten ins Sandfeld mit ihrem Vieh getrieben, wo sie in der elendesten Weise verdursteten. (Hört! hört! links.) Man fand später, daß sie in der Verzweiflung 15 bis 20 Meter tiefe Löcher vergebens mit den 110
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Händen gegraben haben, um Wasser zu finden, an denen die Weiber mit ihren Kindern verhungerten und verdursteten. (Hört! hört! und Zurufe bei den Sozialdemokraten.) Und trotz dieser barbarischen Kriegführung hat Herr v. Trotha nach seiner Rückkehr erklärt, er komme mit einer weißen Weste zurück, der weißen Weste, die auch der Herr Kolonialdirektor in seiner ersten Rede erwähnt hat. Meine Herren, machen Sie diese weiße Weste zum offiziellen Staatskleidungsstück, damit Sie die Welt täuschen über das, was Sie zu leisten fähig sind! Herr v. Trotha hatte weiter den unglaublichen Mut, zu erklären: Die Geschichte wird ein Urteil fällen, ob ich grundlos der grausame Kriegführer war, und ob dieser Krieg auf andere Weise endgültig zu beenden war. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Damit sagt also Herr v. Trotha selber, daß er ein grausamer Kriegführer gewesen ist. Es sind fromme Christen, gute Christen, diese Art Kulturmenschen, die in allen Raffinements der Zivilisation Bescheid wissen. Und diese machen drüben im Namen des Christentums die Zivilisation, die Kolonialpolitik des großen mächtigen Deutschland, des Reiches der Gottesfurcht und frommen Sitte. Vernichtender kann dieses ganze koloniale Treiben nicht charakterisiert werden, als es durch Herrn v. Trotha selbst geschieht. Ich weiß nicht, ob Herr v. Trotha nach eigenem Ermessen handelte oder nach einer ähnlichen Parole, wie sie im Jahre 1900 ausgegeben wurde (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten): „Gebt keinen Pardon, benehmt euch so, daß noch nach 1000 Jahren kein Chinese es wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen."[53J Wahrscheinlich hat er aus Deutschland eine ähnliche Parole, die man nicht zum zweiten Male öffentlich mehr ausgeben wollte, mitgenommen; sonst wäre es mir schier unbegreiflich, daß ein General einen solchen Befehl erlassen kann, der allen Grundsätzen des Kriegsrechts, der Zivilisation, der Kultur und des Christentums widerspricht. O, dieses offizielle Christentum! Da werden von offiziellsten Stellen Sonntag für Sonntag in den Kirchen und auf den Schiffen große religiöse Feiern veranstaltet und prächtige Reden gehalten; aber wenn man die Taten der offiziellen Vertreter unserer Zivilisation und unseres Christentums betrachtet, dann sieht es außerordentlich traurig aus! (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Als nun im vorigen Jahre Herr v. Trotha zurückberufen wurde und als neuer Gouverneur Herr v. Lindequist eine Proklamation erließ, Schloß deren erster Satz mit den Worten: Seine (Trothas) Abberufung bedeute, daß der Krieg jetzt aufhören solle. Eine schärfere Desavouierung des Herrn v. Trotha und seiner Kriegführung, als sie durch diesen Satz in der Erklärung des Herrn v. Lindequist ausgesprochen wurde, war nicht möglich. Ich konstatiere mit Genugtuung, daß man sehr bald den ungeheuren Fehler begriff, den man mit dieser Deutschlands unwürdigen Kriegführung gemacht hatte. Aber es war bereits zu spät, als daß 111
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diese Erklärung Lindequists noch eine Wirkung haben konnte. Man hatte die Eingeborenen längst zur Verzweiflung getrieben und ihnen den letzten Rest von Vertrauen an Treu und Glauben der christlichen Deutschen geraubt. Da gefällt mir ganz anders das Vorwort, das gewissermaßen das Programm enthält, das Herr v. Leutwein in seinem erwähnten Buch veröffentlicht: Das Ziel einer großzügigen Kolonialpolitik muß die Angliederung der in den erworbenen Ländern vorgefundenen Urbevölkerung und nicht deren gewaltsame Unterdrückung oder gar Vernichtung sein. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Eine solche Politik - sagt er weiter - liege vor allem im eigensten Interesse der kolonisierenden Macht. Eine andere Kolonialpolitik lohne die zu bringenden Opfer nicht, sie werde für das Mutterland stets das werden, was man ein schlechtes Geschäft nenne, und werde infolgedessen besser unterlassen, denn um ein schlechtes Geschäft zu machen, geht der Staat so wenig wie der einzelne in die Kolonien.[6411 (Sehr richtig! links.) Meine Herren, das ist ein sehr hübsches Programm, ein Programm, wie es von einem ehrlichen und einem vernünftigen Manne, der die Dinge beurteilt, wie sie beurteilt werden sollen, niedergelegt wurde. Wie bemerkt, hat diese Lindequistsche Proklamation sehr wenig Eindruck auf die Eingeborenen gemacht. Ich behaupte: Hätte man aufrichtig den Frieden gewollt, hätte man sich überwinden können, die angedrohten Strafen, die man früher so oft verkündet, rückhaltlos zurückzunehmen, wäre man in großherziger Weise den Eingeborenen gegenübergetreten und hätte gesagt: „Hört auf mit dem Aufstand. Macht Frieden! Wir werden euch in jeder Weise entgegenkommen, wir werden, was geschehen ist, verzeihen. Wir geben zu, ihr seid vielfach gereizt worden. Ihr habt zwar eure Rache überschritten, aber ihr seid nun einmal keine Kulturmenschen; wir wollen euch nunmehr zu Kulturmenschen machen, wir wollen euch wieder Land und Kulturmittel geben, und wollen euch helfen, daß ihr euer Heim schöner und besser einrichten, eure Existenz angenehmer gestalten könnt, als ihr sie gehabt habt." Meine Herren, ich wette tausend gegen eins: kein Herero und kein Hottentotte wäre mehr im Kriege geblieben. (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten. Oh! und Lachen rechts.) Sie wären mit Freuden zum Frieden zurückgekehrt. (Lachen rechts. Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) - Ja, damit beweisen Sie nur, was für elende, schlechte Menschenkenner Sie sind! (Große Heiterkeit rechts.) - Meine Herren, ich bin nicht Optimist im Sinne des Deutschen Kaisers5, aber Optimist bin ich, und Vertrauen zu den Menschen habe ich ebenfalls, und es wäre schlecht in der Welt bestellt, wenn der Mensch nicht zu dem Menschen Vertrauen haben könnte. Ich 5
Wilhelm II.
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habe noch allezeit gefunden, daß, wer es versteht, in rechter Weise mit Vertrauen den Menschen entgegenzukommen, auch Vertrauen findet und sich mit den verschiedensten Menschen freundschaftlich und in Frieden leben läßt. Das haben in den fernsten Ländern unter den rückständigsten Völkern die Missionare, das hat ein Livingstone, ein Emin Pascha, das haben andere Männer in großer Zahl bewiesen: Vertrauen erweckt Vertrauen. Und der Weiße, der unter wilde oder barbarische Völker kommt, hat allein schon durch sein Außeres, durch sein Auftreten, die Hilfsmittel der Zivilisation, die ihm zur Verfügung stehen, ein großes moralisches Ubergewicht. Ich erinnere z.B. nur daran, was für ein großartiges Vertrauen einem europäischen Arzt seitens wilder Völker entgegengebracht wird, wie alle zu ihm strömen, Männer, Frauen, Kinder, die ihn als Wohltäter betrachten. Dieser hat bald eine solche Autorität, daß er ein sehr unvernünftiger und verkehrter Mensch sein muß, wenn er nachher mit den Eingeborenen in ernsthafte Konflikte gerät. Aber, meine Herren von der Rechten, die Politik der Gewalt, der Unterdrückung, sogar der Brutalität, ist ja die Politik, auf der heute unser eigner Staat beruht. (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Das ist die Politik, mit der Sie Tag für Tag noch einen großen Teil Ihrer eigenen Landesangehörigen behandeln. (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Wie kann man da von Ihnen, die Sie Ihren eigenen Landsleuten, so zu sagen, an Ihrem eigenen Fleisch und Blut solches zumuten, verlangen, daß Sie gegen die Eingeborenen fremder Länder anders verfahren, gegen die Sie obendrein als Weiße an und für sich schon eine souveräne Verachtung haben, von denen Sie annehmen, sie müßten Sie als eine Art höherer Wesen ansehen? So verlangte in der Tat einer der Kolonialvereine: der Eingeborene müsse den Weißen als höheres Wesen ansehen, und in einem Prozeß seien die Stimmen von sieben Eingeborenen nötig, um die Aussage eines weißen Zeugen zu widerlegen! (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Wo derartige Grundanschauungen herrschen, derartige Theorien zur Geltung kommen, da brauchen wir uns freilich nicht zu wundern, daß nun infolgedessen Aufstände entstehen und die Kosten der sogenannten Kolonisation ins Unendliche steigen, sodaß immer neue Aufwendungen gemacht werden müssen. Ich bin überzeugt, daß durch eine Politik, wie ich deren Grundlinien mir in aller Kürze hier zu charakterisieren erlaubte, wir in Südwestafrika und anderwärts längst Frieden hätten, wir längst das Vertrauen der Eingeborenen erworben hätten. Aber so ist es natürlich nicht vorhanden; so werden sie bis zum letzten Mann im Aufstand aushalten und werden alles aufbieten, was den verhaßten Feind aus dem Lande zu treiben vermag, oder wenn sie das nicht mehr können, ihn nach Möglichkeit zu schädigen und wenigstens in seinen einzelnen Gliedern zu vernichten. Da, meine Herren, auch die Regierung und insbesondere auch der 113
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Generalstab als oberster Leiter der kriegerischen Operationen in unseren Kolonien von Grundsätzen ausgehen, die nicht in unserem Sinne sind, ist es erklärlich, daß ihre Politik und ihre Auffassung der Dinge in der Denkschrift zum Ausdruck kommt, in der die Fortsetzung der Bahn von Aus nach Keetmanshoop befürwortet wird. In dieser Denkschrift, in der sich der Generalstab als Schwarzseher par exellence dokumentiert, sodaß er eigentlich einen starken Rüffel von gewisser Stelle verdiente, heißt es, noch auf Jahre hinaus werde im Süden der Kolonie immer eine Truppenmacht bleiben müssen, die genüge, um ein Wiederaufflackern des Krieges im Keime zu ersticken; selbst nach beendigtem Aufstand - fährt der Generalstab in seiner Denkschrift fort - bestehe die Gefahr, daß die jetzt auf englischem Gebiet internierten Gefangenen, darunter Morenga, zurückkehrten und wieder aufs neue den Krieg erklärten.'642^ (Hört! hört!) Ja, meine Herren, was sind das für böse Aussichten? Ich muß leider sagen, daß vom Standpunkt der Politik, wie sie bisher in Südwestafrika getrieben worden ist, dies eine durchaus richtige Auffassung ist, daß also der Krieg noch ins Unabsehbare gehen kann, daß unausgesetzt Tausende von Leuten in Südwestafrika gehalten werden und wir damit die ungeheuren Opfer auf uns nehmen müssen. Die Bahn will man zunächst als Kriegsmittel haben; sie werde nachher auch Kulturmittel sein, und man hat Ihnen schon zugerufen: jetzt werdet ihr die Bahn doch bauen müssen. Ich fürchte sehr, daß trotz der Erklärung der Herren vom Zentrum in diesem Frühjahr, als ihnen zugemutet wurde, sofort die Bahn nach Keetmanshoop zu bauen oder wenigstens die Mittel für die Trace von Kubub nach Keetmanshoop zu bewilligen und sie dies ablehnten, sie diesmal in den sauren Apfel beißen und die Bahn bewilligen werden. Die Herren vom Zentrum sind in einer sehr bösen Situation. (Zuruf aus der Mitte.) - Gewiß, Herr Erzberger! Halb ist das Zentrum Oppositionspartei, halb Regierungspartei. (Heiterkeit.) Das ist eine Zwitterstellung, die auf die Dauer nicht aufrecht zu erhalten ist. Erst machen Sie ein großes Geschrei, lehnen eine Sache ab; nach einem halben Jahre stellt sich heraus, daß die Forderung vom Standpunkt der Regierung durchaus notwendig war, daß diese schon damals richtig erkannt hatte, was nunmehr Sie heute nach einem halben Jahr ebenfalls als richtig anzuerkennen erklären müssen. Meine Herren, begreifen Sie denn nicht, in was für eine unangenehme Situation Sie sich selbst bringen, wie Sie damit Ihren eigenen Intellekt verurteilen oder bloßstellen, wie Sie jetzt vor Ihrer Wählerwelt dastehen? Vor einem halben Jahre sagten Sie nein und bewiesen das als richtig mit allen möglichen Gründen, und jetzt nach einem halben Jahre bewilligen Sie. Ja, Sie sind eben in der mißlichen Lage, in der alle Oppositionsparteien sich befinden, die mit der Zeit Regierungspartei geworden sind; auch Ihnen bleibt dieses Schicksal nicht erspart. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Ich sage Ihnen, wenn wir eines 114
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Tages auch eine solche Dummheit machten, w i e Sie dieselbe seit Jahren gemacht haben, w i r kämen in dieselbe unangenehme Lage. Entweder muß man die Regierung in der H a n d haben, oder man steht gegen sie - eins von beiden. Aber einer halb gegnerischen Regierung die Macht geben, Sie, meine Herren, alle Augenblick zu zwingen, ihr entgegenzukommen, das ist eine höchst fatale Situation, u n d w i r werden dabei zu immer neuen Ausgaben und Kosten kommen. Für die Zwecke der Kolonisation w i r d freilich ganz ungemein wenig dabei herausk o m m e n , schon aus den Gründen, die ich in einem Teil meiner Rede Ihnen ausgeführt habe. M a n hat gesagt, hätten w i r bisher schon eine Eisenbahn gehabt und mehr Soldaten, dann hätten w i r keinen Aufstand. Meine Herren, ich sage Ihnen: hätten Sie die Eingeborenen gerecht u n d menschlich behandelt, dann hätten Sie erst recht keinen Aufstand bekommen (lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten) und brauchten denselben nicht mit Gewalt zu unterdrücken. Das ist der große Fehler, den Sie gemacht haben, darin liegt der Schwerpunkt, nicht darin, daß es anders gekommen wäre, wenn Sie frühzeitig die Bahn u n d genügend Soldaten gehabt hätten. Sie werden die Eisenbahn und Sie werden Militär künftig haben, u n d trotzdem w i r d es an Aufständen nicht fehlen, w e n n Sie nicht von Grund auf Ihre Politik ändern. Es ist bereits ausgesprochen worden von Herrn Semler in seiner Schrift über Südwestafrikat 6 4 3 ', er kann es jetzt schon nicht vertragen, daß oben im Norden der Kolonie die Ovambos noch unangetastet sitzen; er meint, man solle sie durch Eisenbahnen einklammern, so werde man ihrer u m so leichter Herr. Meine Herren, an den Ovambos, die noch etwas ganz anderes u n d viel zahlreicher sind als die Hereros und die Hottentotten, dürften Sie sich die Zähne ausbeißen. Ich kann nur raten: Hüten Sie sich, dort anzufangen! Im übrigen bewahrheitet sich hier: es ist nicht bloß die Schuld der deutschen Kolonialpolitik, es ist eine Erscheinung, die mit aller bisherigen Kolonialpolitik verbunden war. Die Kolonialpolitik aller Länder ist mit Blut geschrieben u n d mit Verbrechen besudelt worden. (Sehr w a h r ! Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Welche Nation hierin den Preis davonträgt, ob die Portugiesen, die Spanier, die Holländer, die Engländer, die Franzosen oder ob jetzt die Belgier oder die Deutschen, das wollen w i r untersucht lassen. Tatsache ist, daß es bisher ohne ungeheure Verbrechen und ohne ungeheures Blutvergießen niemals abgegangen ist. Ich sagte schon wiederholt: heute Kolonialpolitik bedeutet nichts weiter, als man will ein gutes Geschäft und zwar ein sehr gutes Geschäft machen, einerlei w i e man dazu kommt. N u n sagen die Herren vom Zentrum - und ich bin überzeugt, sie meinen es damit ehrlich - , für sie seien die Hauptsache die Missionen, die christliche Kulturarbeit. Meine Herren, das sagen die anderen auch; aber die Missionen sind 115
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ihnen innerlich zuwider. Es kann gar nicht bestritten werden, daß in Südwestafrika die evangelische Rheinische Mission sich den Eingeborenen gegenüber große Verdienste erworben und beizeiten hingewiesen hat auf die Möglichkeit eines Aufstandes, wenn man weiter so handle, wie gehandelt worden ist. Dafür ist diese Mission sehr stark angegriffen worden. Hören Sie, was die „Deutsche Kolonialzeitschrift" im vorigen Jahre über die Mission äußerte! Als die evangelischen Missionare sich gegen die Angriffe der Kolonialzeitschrift wehrten, antwortete dieselbe folgendes: Da es darauf anzukommen scheint, daß man unseren Standpunkt betreffs der Missionstätigkeit ganz ohne Hörner und Zähne präzisiert haben will, so gestatten wir uns, sie an die Adresse der Rheinischen Mission zu richten. Malaria, Schwarzwasserfieber, Heuschrecken, Mission; so unausrottbar erstere, so ist es leider auch die letztere. (Hört! hört!) Die Mission wird hier also auf eine Stufe mit Malaria, Schwarzwasserfieber und Heuschrecken gestellt. (Hört! hört!) Ich vermute, es sind auch Christen, die diese Zeitschrift redigieren. (Zuruf aus der Mitte.) - Meine Herren, ich mische mich in diesen Streit nicht ein; ich überlasse es Ihnen, sich mit den Herren auseinanderzusetzen. Ich habe weder mit der einen noch mit der anderen Seite etwas zu tun, darüber ist kein Zweifel. - Man läßt sich auch von jener Seite die Missionen gefallen, sobald diese die Aufgaben erfüllen, die Eingeborenen zu gehorsamen, schmiegsamen, fügsamen und genügsamen Arbeitstieren zu machen. (Sehr richtig! links.) Wenn das die Missionen tun, dann haben sie ihren Zweck erfüllt; wenn sie das aber nicht tun, dann sind sie vom Übel, dann müssen sie so bald wie möglich ausgerottet werden, sie verderben das Geschäft. (Sehr richtig! links.) Nun, meine Herren, ist auch wieder der Zustand des Landes in Erörterung gezogen worden, der sich in Südwestafrika dem Besucher darbietet. Es ist nicht mehr bloß Optimismus, nein, es ist Utopismus der allerschlimmsten Art, wenn der Herr Kolonialdirektor sagt: wir wollen in Südwestafrika ein Neudeutschland gründen. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Ein unerhörter Utopismus! Wenn er auch noch nicht dort war und das Land nicht gesehen hat - geschrieben ist genug darüber, um sich zu informieren. Einer seiner verflossenen Kollegen, Herr Leutwein, ein Mann, der 11 Jahre in der Kolonie war und länger, der das Land so gründlich kennt wie einer, erklärt: für etwas anderes als Viehzucht ist in diesem Lande keine Aussicht. Aber für diese glaubt er eine gute Zukunft prognostizieren zu dürfen. Ich will darüber nicht streiten. Ist aber das Land in Wahrheit in der Hauptsache nur für Viehzucht geeignet, wobei Hunderttausende von Quadratkilometern in Betracht kommen, die Sand und Wüsten sind, auf denen kein Grashalm wächst, mag der Regen sein, wie er will, und sollen die übrigen 116
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Hunderttausende Quadratkilometer für Viehzucht sich eignen, auf denen Millionen Stück Vieh groß zu züchten sind, so wird doch kein vernünftiger Mensch behaupten wollen, daß damit ein Neudeutschland zu gründen wäre. (Sehr richtig! links.) Was ist damit für das Reich gewonnen - und um mehr kann es sich nicht handeln - , wenn es möglich sein sollte, nachdem weiter ungeheure Opfer aufgewendet wurden, schließlich hunderttausend Menschen, Frauen und Kinder miteinbegriffen, in Südwestafrika anzusiedeln? Was will das gegenüber dem Deutschen Reich besagen, das mittlerweile vielleicht 65 bis 70 Millionen Einwohner haben dürfte, ehe Sie in Südwestafrika zu der lumpigen Zahl von 100 000 Ansiedlern mit Kind und Kegel gekommen sind? Herr Lattmann hat sich gestern in die Brust geworfen und gesagt: Da redet man von den Wüsteneien in Südwestafrika; wenden Sie doch einmal Ihre Blicke nach der Lüneburger Heide; auch die war einmal gänzlich unfruchtbar; was haben wir daraus geschaffen, was für Fortschritte hat die Agrikulturchemie, die Wissenschaft der Bodenbearbeitung gemacht! Ja, meine Herren, das weiß niemand besser als wir Sozialdemokraten. Niemand weiß besser, was mit der Anwendung der Wissenschaft auf die Gesamtheit des deutschen Grund und Bodens an Nahrungsmitteln erzeugt werden könnte, wenn der gesamte deutsche Grund und Boden einmal vom Standpunkt der höchsten technischen und wissenschaftlichen Bearbeitung aus bebaut werden könnte. 6 (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Wir brauchten alsdann kein Stück Vieh, kein Stück Fleisch, kein Pfund Weizen aus dem Ausland; das könnte alles im Deutschen Reich für eine noch größere Bevölkerungszahl erzeugt werden, als wir jetzt haben. Aber, meine Herren, dazu gehört ein anderer sozialer Zustand, als er vorhanden ist. Das kann die Privatwirtschaft nicht leisten, und wenn die Staatswirtschaft eingreifen soll, würde der heutige Staat mit einer derartigen Arbeit bankerott. Meine Herren, was Herr Lattmann mit dem Beispiel der Lüneburger Heide beweist, können Sie auch für Bayerns Hauptstadt nachweisen. Was hätte diese in ihrer eigenen Nachbarschaft schon längst machen können, wo viele Quadratkilometer Moor und Moos unfruchtbar lagern, die sich aber in schönes Weide- und Ackerland verwandeln ließen! Das ist sehr wohl möglich; aber das erste ist: tu Geld in deinen Beutel. Der Mann, der heute aus Privatmitteln das ausführen wollte, der muß mit der Rente rechnen und kann Kapitalien nicht aufwenden, die ihm keine Rente bringen. Nun soll der Staat in Südwestafrika eingreifen, es sollen die Ansiedler mit Barmitteln unterstützt werden, es soll jeder Ansiedler so und so viel tausend Mark erhalten. Herr Kolonialdirektor, damit werden allerdings die Ansiedler 6 Siehe hierzu S. 599 ff. in Band 10/2 (Die Frau und der Sozialismus) dieser Ausgabe. 117
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angelockt; aber ein Neudeutschland w i r d es immer noch nicht, Sie mögen aufwenden, w a s Sie wollen. Dazu sind wir zu arm! Mit Geld, meine Herren, sage ich Ihnen, können Sie die größte Sandwüste, das größte Sumpfloch zu einem Paradiese machen; das hat Tientsin gezeigt, w o mit hundert Millionen M a r k allmählich eine gesunde Stadt gebaut worden ist. Aber in ähnlicher Weise überall kolonisieren u n d zivilisieren zu wollen, das w ü r d e uns an den Rand des Bankerotts bringen. (Sehr richtig! links.) Meine Herren, das sind keine Berechnungen. U n d nun die berühmte Inventur. Ich will kein Wort mehr darüber verlieren. Der Herr Kolonialdirektor hat sie bereits selber preisgegeben. Es sind nur noch Bausteine; aber auch die Bausteine haben sich als baufällig erwiesen; sie können nicht mehr zum Bauen verwendet werden. Er hat seine Berechnungen preisgegeben. Er hat recht; ich sage ihm, ob Sie 500 Millionen, 1000 Millionen oder 1500 Millionen als Kulturwert der Kolonien ansehen, ist im großen und ganzen schnuppe. Mit einer ähnlichen Berechnung, w i e Sie sie hier aufgestellt haben, würden Sie bei unserer deutschen Kultur nicht auf 167 Milliarden, sondern mit demselben Recht auf 1000 Milliarden und mehr kommen, die die deutsche Kultur an Werten zu erzeugen vermag. Meine Herren, diese Rechnung steht ungefähr auf derselben Stufe, wie wenn uns gesagt wird: w e n n ein M a n n zu Christi Zeit einen Pfennig in die Sparbüchse gelegt hätte u n d Zins auf Zinseszinsen angewachsen wären, dann w ü r d e heute eine Summe vorhanden sein, daß sie kein Mensch auszahlen könnte; so groß w ä r e die Forderung. Das unglückselige Wurm, das damals den Pfennig gegeben hätte, w ü r d e längst nicht mehr leben. U n d wenn die Summe so groß ist, daß sie niemand zahlen kann, dann kann sie auch nichts nützen. - Genau so ist die Rechnung und Darstellung, die der Kolonialdirektor in seiner Inventur gemacht hat. H e r r Arendt sagt, es sei freilich nicht sicher, ob Südwestafrika eine gute Kolonie werden könne, aber die Möglichkeit sei vorhanden. U n d auf diese Möglichkeit sollen w i r uns verlassen, und auf die Möglichkeit hin sollen w i r Hunderte von Millionen hinausgeben? Meine Herren, man stellt alle volkswirtschaftlichen Grundsätze auf den Kopf, sobald die Kolonien in Frage k o m m e n das habe ich Ihnen schon öfter gesagt. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Wenn danach in Deutschland gewirtschaftet werden sollte, entstände mit Recht ein großes Geschrei. Windthorst, sagt H e r r Arendt weiter, habe vor 20 Jahren zugegeben, daß, w e n n man Kolonien haben wolle, man in erster Linie Eisenbahnen bauen müsse. Aber Windthorst w a r kein großer Befürworter der Kolonisation. Er hat noch ungefähr 7 Jahre gelebt, nachdem wir Kolonien hatten; ich habe aber nie von ihm gehört, daß er für Eisenbahnen in den Kolonien eingetreten wäre. H e r r Arendt hätte ihn also desavouieren sollen, er hätte es so leicht gehabt. 118
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Nun redet man davon, es solle nicht mehr geschaffen werden, als was der Etat möglich macht. Die eigenen Einnahmen des Etats haben jetzt schon vieles nicht möglich gemacht, was doch gemacht wurde. Wenn es nach dem Stand des Etats gegangen wäre, hätten Hunderte von Millionen nicht ausgegeben werden dürfen und hätte namentlich für die Kolonien nichts ausgegeben werden dürfen. Man hat sie aber doch ausgegeben. Man hat einfach gepumpt, hat geborgt, hat neue Steuern gemacht. Es bleibt Ihnen auch jetzt nichts übrig, als wieder neue Steuern zu erfinden, wenn in dieser Art von Kolonialpolitik fortgefahren werden soll. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Es war Herr Fritzen vom Zentrum, der vor einigen Tagen darüber klagte, daß wir jetzt nahezu die vierte Milliarde Schulden hätten. Meine Herren, das haben wir Ihnen vorausgesagt. Vor sechs, sieben Jahren haben wir das schon gesagt, und ich sage Ihnen heute: es dauert keine fünf, sechs Jahre, und wir haben die fünfte Milliarde. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Aber wodurch ist es denn so gekommen? Durch das Zentrum! Das Zentrum selber hat in erster Linie alle die Ausgaben bewilligt, die gemacht worden sind. Seit 13 Jahren sind Sie, meine Herren im Zentrum, die regierende Partei in diesem Hause. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Ohne Ihre Zustimmung wäre nichts möglich gewesen. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Es ist mir geradezu unbegreiflich, wie ein Führer dieser Partei sich über dieses Resultat beschweren kann, wo er doch in erster Linie dazu beigetragen hat, es herbeizuführen. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Sie haben seinerzeit auch über die Flotte geklagt.[2] Herr Gröber, Herr Schaedler haben erklärt: Die neuen Schiffe, das machen wir zur Bedingung, müssen aus den ordentlichen Mitteln des Etats gebaut werden, nicht auf Anleihe. Ach, meine Herren, an und für sich ist es schwer nachweisbar, aus welchem Gelde in einem Etat, der Hunderte von Millionen Anleihe zur Bilanzierung benötigt, etwas gebaut wird. Genügend Geld war nicht vorhanden, und so ist gepumpt worden. Die vierte Milliarde ist der Beweis dafür: wir haben die großen Fortschritte im Flottenbau in der Hauptsache auf Schulden gemacht, und weder Herr Schaedler noch Herr Gröber haben heute das geringste mehr dagegen einzuwenden. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Also warum klagen! Klagt man aber, so sage man: mea culpa, mea maxima culpa, meine Schuld, meine größte Schuld. Sie sind's in erster Linie, meine Herren im Zentrum, die das verschuldeten; wenn eine Partei ein Vorwurf trifft, dann Sie! (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, wir sind aber auch Gegner der Kolonialpolitik, weil die Kolonien für Deutschlands Macht keine Stärkung, sondern eine Schwächung bedeuten. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Wenn ich mit einem Satz der Ausführungen in der Rede des Fürsten Reichskanzlers bei Beantwortung der 119
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Bassermannschen Interpellation in Übereinstimmung bin, dann mit dem, wo er sagt: Meine Herren, ich gehe noch weiter. Unsere Situation würde auch heute eine gesichertere und leichtere sein, als sie in den achtziger Jahren war, wenn wir nicht inzwischen die überseeische Politik inauguriert hätten.1'441 (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Das ist ein Zugeständnis, wie ich es niemals erwartet hätte aus des Reichskanzlers Munde, ein Zugeständnis, wie wir es gar nicht besser wünschen können. Aber der Reichskanzler hat vollkommen recht: seitdem wir die überseeische Politik zum Pivot, zum Angelpunkt unserer ganzen auswärtigen Politik gemacht haben, geraten wir immer mehr in den Sumpf. Daher ist auch die schwierige europäische Situation gekommen, jene Situation, die der Herr Abgeordnete Bassermann am 14. d.M. in den beweglichsten Ausdrücken geschildert und bedauert hat, und die auch dem Vertreter des Reichs diese Äußerung entlockte. In direktem Gegensatz zu dieser Auffassung des Herrn Reichskanzlers steht aber die Äußerung des Herrn Kolonialdirektors, die dahin ging, die Kolonien wären ein Zeichen von Deutschlands Macht. Nein, Herr Kolonialdirektor, sie sind kein Zeichen von Deutschlands Macht, die Kolonien sind eine Kugel an den Beinen Deutschlands; so steht die Sache. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Wenn wir in Europa in eine große Verwicklung kommen sollten, in eine Verwicklung mit mehreren Großmächten, so würde es ein Weltkrieg werden, wie ihn die Welt noch nicht gesehen. Alsdann, meine Herren, liegt Kiautschou vor den Toren der Japaner; nichts leichter für sie als zuzugreifen und es wegzunehmen. Unsere Kolonien in West- und Ostafrika stünden den Franzosen und den Engländern zur Verfügung, wir können sie gar nicht verteidigen, und je reicher Sie die Kolonien ausstatten, desto mehr werden Sie nicht nur die materiellen Mittel Deutschlands schwächen, desto gieriger wird das Ausland eines Tages nach diesen Kolonien langen und als ein erwerbenswertes Objekt sie ansehen. Meine Herren, wir sind außer stände, in einem Weltkrieg unsere Kolonien zu verteidigen; alles was wir dafür aufwenden, betrachte ich als verloren, einerlei wie der Krieg ausgeht. Wir haben bei einer solchen europäischen Konstellation England, Frankreich und Rußland gegen uns. Sie glauben freilich, Rußland spiele dabei keine große Rolle mehr. Lassen Sie aber heute einmal in Europa den großen Generalmarsch ertönen, dann steht Rußland an unserer Ostgrenze, und es bekommt, wenn es selbst keines hat, von England Geld, um den Krieg zu führen. Italien ist günstigstenfalls neutral, Österreich aus Selbsterhaltungstrieb an unserer Seite. Es war daher - ich sage das, obgleich wir im allgemeinen die ärgsten Gegner der Bismarckschen Politik gewesen sind - es war eine durchaus vernünftige Politik, als Bismarck Jules Ferry, als er Präsident der französischen Republik 120
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war, nach Tonking hineinlockte, weil er sich sagte: je mehr Frankreich in kolonialen Abenteuern engagiert wird, je mehr es seine finanziellen und militärischen Mittel für derartige koloniale Abenteuer opfern muß, um so besser für uns in Deutschland. Ich habe es mit Genugtuung gelesen und wieder einmal als weiten Blick ansehen müssen, der Bismarck öfter auszeichnete, als ich in den Hohenloheschen Memoiren unterm 22. Februar 1880 las: Der Reichskanzler sprach auch über meinen Bericht über die französischen Pläne in Marokko; er meinte, wir könnten uns nur freuen, wenn Frankreich sich Marokko aneignete. [645] Bismarck vertrat also hier die entgegengesetzten Anschauungen, die heute der Kaiser und Fürst Bülow haben. Bismarck sah in Marokko, wenn Frankreich es erwerben würde, ein zweites Algier, aber nicht im Sinne des Herrn Kolonialdirektors, als sei es ein großer Vorteil für das Heimatland, es zu besitzen, sondern als das gerade Gegenteil. Bismarck sagte sich: will Frankreich Marokko nehmen, so werden seine finanziellen und militärischen Kräfte aufs äußerste in Anspruch genommen. Marokko würde an Bußen und Opfern nicht nur ein zweites Algier, sondern auch ein viel größeres Algier geworden sein. Frankreich, das heute schon genötigt ist, einen erheblichen Teil seiner Armee in Höhe von 30 bis 40 000 Mann in Afrika zu halten, würde, wenn es Marokko hätte erwerben wollen, 100 000 Mann auf die Beine bringen und Milliarden an Geld aufwenden müssen. Solange aber Frankreich mit Marokko zu tun hatte, konnte es nicht daran denken, einen Krieg mit Deutschland, auch mit England an der Seite, anzufangen. Das wäre unmöglich gewesen. Es wäre alsdann nichts leichter gewesen, als in ganz Nordafrika den Islam gegen Frankreich auf die Beine zu bringen, und Hunderttausende seiner Soldaten und riesige Geldsummen wären lahmgelegt worden, die es in einem Krieg in Europa nicht anwenden konnte. Der Krieg wäre von vornherein gegen Frankreich entschieden gewesen, noch ehe die erste Schlacht geschlagen war. (Sehr richtig! links.) Das hat Fürst Bismarck richtig erkannt, und es war mein Freund Jaurès, der diese furchtbar gefährliche Situation im vorigen Jahre, als die Marokkofrage auftauchte, für sein Vaterland Frankreich erkannte und mit voller Energie gegen die für Frankreich so verhängnisvolle Politik Delcassés auftrat und ihn stürzte. Diese Politik Delcassés wäre aber ein Vorteil für Deutschland gewesen. (Zwischenruf rechts: Sehr richtig!) - Es freut mich, daß der Herr Abgeordnete Gamp mir das durch sein „Sehr richtig!" bestätigt. Das sind freilich Gesichtspunkte, die den Leitern unserer heutigen Politik sehr fern liegen, die meinen, sie müßten überall ihre Hand im Spiele haben, und je mehr geredet und je mehr gereist würde, um so größer wären die Erfolge. Wir sind recht tief in das Fettnäpfchen geraten. (Zwischenrufe. Heiterkeit.) - Herr Kollege, das heißt, wir sind hineingetreten und haben uns die Füße beschmutzt und haben dabei nicht das geringste gewonnen. 121
53 Die Kolonialpolitik ist mit Blut geschrieben U n d nun, meine Herren, die deutschen Kolonien als Ansiedelungsland. W i r sollen sie benötigen nach den Äußerungen des H e r r n Kolonialdirektors, um den überschäumenden Kräften Deutschlands Gelegenheit zu geben, sich auszutoben. Ich meine, wenn die sich austoben wollen, mögen sie es zu Hause tun, w o wir sie unter Kontrolle haben und eventuell den Zuchtmeister oder den Staatsanwalt anrufen k ö n n e n , aber nicht dort, wo sie als Herrenmenschen, als N i e t z schesche Ubermenschen hinkommen, sich als die Herren der Welt aufspielen und alles Menschliche unter die F ü ß e treten: Sittlichkeit, Moral, Gesetz, M e n schen, und damit sich selbst und das Heimatland auf das schwerste schädigen und kompromittieren. (Sehr gut! links.) Meine Herren, wir haben heute eine Auswanderung von circa 32 0 0 0 Menschen pro Jahr. D i e Auswanderung ist in den letzten Jahren durchschnittlich nicht höher gewesen als 30 000 bis 36 0 0 0 gegen etwa 2 5 4 000, die das viel kleinere und mit Menschen viel weniger bevölkerte Ungarn im vorigen Jahre gehabt hat. Die Auswanderung, die n o c h in den achtziger Jahren sehr groß war, ist allmählich zurückgegangen. Wir haben in Deutschland auch keinen U b e r f l u ß an Menschen, wir haben keine sogenannte Uberbevölkerung, sondern wir haben Mangel an Menschen. 7 (Sehr wahr! links und in der Mitte.) Wenn wir U b e r f l u ß daran hätten, brauchten wir nicht die Ausländer zu Hunderttausenden in das Land zu holen. W i r haben also noch Menschen in Deutschland nötig und sollten froh sein, wenn so wenige auswandern, obgleich in diesem Jahre wieder die Auswandererzahl erheblich gegen früher gestiegen sein soll. (Sehr richtig! links.) W o gehen denn aber diese Auswanderer hin? N a c h Ihrem prächtigen, zukunftsreichen, idealen Südwestafrika, nach Neudeutschland? O nein, die gehen nicht dort hin, die gehen nach Nordamerika, Südamerika, Australien, k u r z überall hin, nur nicht nach den deutschen Kolonien. Das überlassen sie allenfalls den H e r r e n Lattmann, Arendt und Genossen. (Heiterkeit. - Zwischenrufe.) - Diese gehen auch nicht hin, das ist richtig; sie riechen nur ein bißchen in das Land hinein und machen dann, daß sie wieder fortkommen. Zuhause aber erzählen sie Wunderdinge von dem schönen Land. Warum sind sie nicht dort geblieben ? (Heiterkeit. - Zwischenrufe.) - Wenn es dort so wunderschön ist, wie H e r r Lattmann es anderen vormalt, müßte er allerdings selber mit gutem Beispiel vorangehen. D a ist gut sagen: Hannemann, geh du voran, du hast die größten Stiefel an. (Heiterkeit.) D i e kann H e r r Lattmann selber anziehen und A r m in A r m mit H e r r n Arendt in Südwestafrika das Jahrhundert in die Schranken fordern. (Heiterkeit. - Zwischenrufe.) Ich sehe auch dort H e r r n Lehmann. Ich bedaure sehr, daß er nicht ebenfalls fortgeblieben ist; wir hätten ihn sehr gern 7 122
Siehe hierzu S. 669 ff. in Band 10/2 (Die Frau und der Sozialismus) dieser Ausgabe.
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entbehrt. (Heiterkeit.) Ich halte ihn hier für so überflüssig wie nur möglich. (Heiterkeit.) Es ist eben wieder eins der schönen Kindergeschichtchen, die man dem guten deutschen Michel in der Presse und in Volksversammlungen erzählt: unsere Kolonien sind geeignet, die ganze Auswanderung Deutschlands aufzunehmen, und von dort kommen dann große Gewinne nach Deutschland zurück. W i e haben die Herren gejubelt, als der Herr Kolonialdirektor, der unzweifelhaft ein kluger M a n n ist, - das erkenne ich an, deswegen bin ich so mißtrauisch (Heiterkeit); ich halte ihn für sehr gescheit im Gegensatz zu seinen Vorfahren auf seinem Sessel (große Heiterkeit) - ich sage: als er zu ihnen sagte: ja, sobald die deutschen Handwerkerorganisationen die Garantie bieten, daß sie größere Lieferungen übernehmen können, sind wir bereit, sie ihnen zu übergeben. Da riefen sie: Bravo! H u r r a ! das ist unser M a n n ! (Heiterkeit.) M e i n e Herren, mit der Zukunft der deutschen Kolonien ist es ein eignes Ding. Es ist an sich schwer, über die Zukunft zu urteilen; aber über die Zukunft der deutschen Kolonien zu urteilen ist besonders schwer, viel schwerer als über den Zukunftsstaat. A n den kann man glauben, an die Zukunft unserer Kolonien nicht. (Heiterkeit.) W i r haben nun 20 Jahre die Kolonien, w i r haben bedeutende Mittel für sie aufgewandt - natürlich nach den Herren Dr. Arendt und Genossen noch nicht genug. Diese w ü r d e n anders denken, wenn man in Form direkter Steuern sie selber zu Leistungen herangezogen hätte. (Sehr gut! links.) Ich fürchte, ihr Eifer u n d ihr Patriotismus für die Kolonien w ä r e dann längst z u m Teufel. (Zurufe.) Ich setze meinen Kopf z u m Pfände, wenn man Herrn Arendt u n d Genossen eine 5prozentige Einkommensteuer auferlegen würde, sie w ü r d e n rasch sagen: w i r verzichten, es ist kein Geschäft zu machen. (Heiterkeit links.) N u n k o m m e ich zu dem Handel mit den Kolonien. Der Gesamthandel mit Deutschland hat 1904 ganze 64 Millionen betragen; der Wert der Einfuhr aus den Schutzgebieten nach Deutschland betrug 18 111 000 Mark, die Ausfuhr von Deutschland nach den Schutzgebieten 46 346 000 Mark. Aber in dieser A u s f u h r nach den Kolonien sind die Lebensmittel und Unterhaltungskosten für die großen Militär- und Beamtenaufgebote zu berücksichtigen, die in die Kolonien gehen und für unproduktive Zwecke ausgegeben werden. Es w a r ein sehr schönes Zugeständnis des Herrn Dr. Arendt, als er sagte: Eisenbahnen sind produktiv, Soldaten sind unproduktiv. Dem kann ich nur beistimmen, das ist ganz unsere Auffassung; Sie haben noch Aussicht, Sozialdemokrat zu werden. (Heiterkeit.) Diese 64 Millionen scheinen für jemand, der nichts hat, natürlich sehr viel zu sein; aber z u m Glück haben w i r etwas - ich meine, wir Deutschen als Nation. W i r haben unsern Welthandel, und dieser hat im vorigen Jahre die kolossale S u m m e von 13 300 Millionen M a r k im Spezialhandel betragen. (Hört! hört! 123
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links.) Dagegen bedeutet der ganze Kolonialhandel gar nichts, der beträgt nicht einmal Vi Prozentchen. Und wie viel haben wir dafür aufopfern müssen! Wenn Sie schließlich mit weiteren ungeheueren Opfern nach vielen Jahren den Handel mit den Kolonien auf 200 Millionen, sagen wir selbst 300 Millionen gebracht haben, so ist mittlerweile unser Welthandel auf 16 000, 17 000 Millionen angewachsen, und das Verhältnis zwischen Kolonial- und Welthandel ist dasselbe wie heute. Unser Kolonialhandel bedeutet den Wurf mit der Speckseite nach einem Würstchen, Herr Burckhardt. (Heiterkeit.) Das ist das schlechteste Geschäft, was man machen kann. U n d dieses Geschäft sollen wir weiter betreiben, damit der Kolonialchauvinismus der Herren Lattmann und Genossen befriedigt wird, und um ein sogenanntes Neudeutschland zu gründen? Meine Herren von der Rechten, mit dem Ihnen verhaßten England haben wir im vorigen Jahre, und zwar mit England und seinen Kolonien, einen Handel von 2700 Millionen Mark gehabt, und dieser Welthandel mit England und seinen Kolonien kostet uns keinen Pfennig. (Hört! hört! links.) Denn Sie werden doch nicht behaupten wollen, daß wir, um unseren Handel mit England selbst zu schützen, die Flotte brauchten oder die Armee; das zu behaupten wäre verrückt. Nein, meine Herren, der Handel mit England und seinen Kolonien macht sich von selbst; er ist sowohl für Deutschland von Vorteil wie für England, beide Seiten stehen sich ausgezeichnet dabei. Diese nahezu 3000 Millionen Mark Handelswerte kosten uns also nichts, wohingegen die lumpigen 64 Millionen Handelswerte mit unseren Kolonien uns weit mehr kosten, als sie uns einbringen. Ich sage Ihnen noch mehr. Meine Herren, wenn wir heute durch irgend ein Natur- oder ein politisches Ereignis unseren Handel mit dem kleinen Dänemark verlören, wären die Verluste unendlich viel größer, als wenn die ganzen Kolonien zum Teufel gingen! (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Im vorigen Jahr haben wir von Dänemark eine Einfuhr von rund 124 Millionen und eine Ausfuhr nach Dänemark von 186 Millionen gehabt, macht 300 Millionen, mit einem kleinen Lande von 2Vi Millionen Einwohnern! Die Kolonien haben nach der Rechnung des Herrn Kolonialdirektors zwar \2Vi Millionen Menschen; aber wenn Sie, Herr Direktor, als Geschäftsmann das Geschäft mit den 2 Vi Millionen Dänen oder mit den 12Vi Millionen Eingeborenen der Kolonien abschließen sollten, so ließen Sie die Kolonien fahren und machten das Geschäft mit Dänemark! (Sehr wahr! Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten. Zuruf rechts.) So, meine Herren, ist das Verhältnis des wirklichen Handels, der wirklichen Kulturarbeit zu dem scheinbaren Handel und dem Gegenteil von Kulturarbeit in den Kolonien! Diese ganze Kolonialpolitik ist eine Fata Morgana! (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Man spricht von Humanität und Christentum, die wir in den Kolonien verbreiten. Gut, sind denn die Peters, die Wehlan, die Leist, 124
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die Gaston Thierry, die Horn, die Besser, die Wegner, die Kannenberg, die Brandeis, die Dominik, die Puttkamer e tutti quanti - sind dies die wahren Kolonisatoren, die man hinausgeschickt hat, um das Christentum und die deutsche Kultur zu verbreiten? (Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) Hier möchte ich einmal fragen: wie steht's denn mit Herrn v. Puttkamer? Wir haben darüber so vielerlei gehört, daß es nun wirklich wünschbar wäre, etwas Genaueres darüber zu hören. Als Herr v. Puttkamer als Gouverneur für Kamerun in Frage kam - das war noch unter der Leitung des Kolonialdirektors Kayser - , entstanden Zweifel, ob er sich zum Gouverneur von Kamerun eigne. Herr Kayser schrieb damals an den früheren Gouverneur von Ostafrika, Herrn v. Soden, der bis vor kurzem Minister in Württemberg war und jetzt, glaube ich, pensioniert ist, um sein Urteil über Puttkamer zu hören. Herr v. Soden antwortete: mit Herrn v. Puttkamer ist es ein eigen Ding; der hat das Glück, der Sohn eines Ministers zu sein, und wer das für sich hat, der ist schon von vornherein geborgen. (Hört! hört! links.) Im übrigen - ich will Ihre von mir schon sehr in Anspruch genommene Zeit nicht noch ausführlicher beanspruchen und auf Details verzichten - ist, schrieb Herr v. Soden, das Renommee des Herrn v. Puttkamer, soviel ich weiß, das denkbar ungünstigste. Trotz alledem wurde bekanntlich Herr v. Puttkamer Gouverneur von Kamerun! (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Die Kolonialverwaltung kennt längst alle Beschwerden, die seit Jahren in den Kolonien über Herrn v. Puttkamer in Umlauf sind - : sie hat aber nichts gegen ihn getan! Herr v. Puttkamer hat nicht nur das Glück, Sohn eines Ministers zu sein, und er war infolgedessen von vornherein versichert, daß alles, was er tat, ihm schließlich als in gutem Glauben geschehen angerechnet wurde; Herr v. Puttkamer hatte auch das weitere Glück, Mitglied einer preußischen altadligen Familie zu sein. Das gilt womöglich noch mehr, als Ministersohn zu sein; denn das letztere können auch Bürgerliche werden. Aber um altpreußischer Junker zu sein, dazu gehört Geschichte, die sich nicht jeder schaffen kann, er mag so reich sein, wie er will. Herr v. Puttkamer hat, wenn die öffentlichen Angaben in dem jetzt wider ihn eröffneten Verfahren recht haben, seine frühere Maitresse zu einem Meineide verleiten wollen (Hört! hört! links), indem er versuchte, sie zu falschen Aussagen vor dem Richter zu verleiten. Anklagen über Anklagen sind schon seit Jahren gegen Herrn v. Puttkamer laut geworden, man hat ihn trotzdem ungeschoren und im Amte belassen. Herr Erzberger - der gestern auf diese Dinge nicht eingegangen ist - hat nach Berichten im Juni in Lüdenscheid erzählt, die Geschichte mit der Cousine des Herrn v. Puttkamer stehe hinter anderen Fällen weit zurück; es sei festgestellt, daß Offiziere und Beamte in Kamerun - also unter dem Regime des Herrn v. Puttkamer - sich auf Kosten der deutschen Steuerzahler Kabinen für ihre Konkubinen hätten bauen 125
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lassen! (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Schöner können allerdings die Dinge nicht sein, die wir in unseren Kolonien erleben! Ich meine, eine einzige Tatsache dieser Art, festgestellt, hätte längst dem Herrn v. Puttkamer den Hals brechen müssen. (Sehr richtig! links.) Es w i r d behauptet in einer Zuschrift an den „Vorwärts" von anderer Seite, daß Herr v. Puttkamer mit Geld, welches in der Kolonie Kamerun für Wegebauten und andere Kulturzwecke bestimmt war, sich sein wunderschönes, prachtvolles Schloß in Buea gebaut habe. (Hört! hört!) Für Kulturzwecke w u r d e das Geld nicht verwandt, es w u r d e also unterschlagen. Der „Lokalanzeiger" - sicher kein sozialdemokratisches Blatt! - meldete, H e r r v. Puttkamer solle auch im Besitz von Ehrenanteilscheinen verschiedener Gesellschaften sich befinden, die ihm nichts kosteten. (Hört! hört!) Wenn das wahr wäre, w ä r e es ein Bestechungsfall der allereklatantesten A r t ! (Sehr richtig! links.) Das Blatt setzte weiter hinzu, am Tage seiner eventuellen Dienstentlassung erhalte er eine hoch dotierte und leitende Stellung in einer der Gesellschaften, denen er als Gouverneur nahe stand. (Hört! hört!) Sie sehen, eine H a n d wäscht die andere; aber trotz alledem w i r d versichert, im Reich der Gottesfurcht und frommen Sitte gibt es keine Kameraderie, keine Cliquenwirtschaft, keine Kamarilla und keine Korruption, da herrscht nur die Wahrheit und die Gerechtigkeit u n d alle die schönen Tugenden, die wohl irgendwo in den Wolken, aber nicht im Deutschen Reiche zu finden sind. (Sehr gut! bie den Sozialdemokraten.) Bei all diesem Trüben hat es mich amüsiert, was Herr Dr. Semler 8 , der so schreibselig ist, w e n n er eine Reise in die Kolonien macht, über Herrn v. Puttkamer äußert. H e r r Semler hat auch ein Buch über Kamerun geschrieben und läßt sich darin über seine Begegnung mit Herrn v. Puttkamer folgendermaßen aus: Möglich, daß der unbewußte Zauber seiner Persönlichkeit mit dem liebensw ü r d i g e n Sichgehenlassen, mit der heiteren Freude am Lebensgenuß, mit den verbindlichen Formen das Urteil derjenigen beeinflußt, die ihn persönlich kennen lernten. (Große Heiterkeit.) Aber persönlich gefällt ein Mann, der w i e dieser nachts um 2 U h r nach einem Tage voller Anstrengungen, die unser Besuch ihm brachte, nach einem Mahle und einer sogenannten schweren Sitzung noch so glänzend die Kolonie und ihre Verhältnisse zu schildern versteht (große Heiterkeit), mit so durchdringendem Blick auch die Schwächen der Verwaltung erkennt und sie so freimütig darlegt, w i e H e r r v. Puttkamer es mir gegenüber in nächtlicher Stille getan hat. [646] (Große Heiterkeit.) U n d weinend vor Schmerz und vor Freude umarmten sich beide - setze ich hinzu. (Stürmische Heiterkeit.) In der Tat, kann man sich eine lächerlichere, 8
Siehe hierzu Nr. 114 in Band 9 dieser Ausgabe.
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übertriebenere, unwahrere Schilderung denken als diese hier? Kaum hat man ins Land hineingerochen, da hat man auch schon ein fertiges Urteil, schreibt eine Broschüre und will das Urteil des Deutschen Reichstags - und das ist das schlimmste - beeinflussen, indem man sich als Sachverständiger auftut. Nein, ich sage: so ist's nicht; die Kolonialverwaltung bis z u m Reichskanzler hinauf - auch er gehört unter die Angeklagten - ! (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Sie alle haben das Leben und Treiben des Herrn v. Puttkamer seit Jahren gekannt und sind nicht gegen den Menschen vorgegangen. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Wenn es sich um einen armen Teufel handelte, der hätte hängen müssen - Herr v. Puttkamer, der Adlige, der Ministersohn, kann frei ausgehen (lebhafte U n r u h e rechts; Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten) und konnte sein H u r e n - und Schlemmerleben auf Kosten des deutschen Volkes weiter treiben. (Stürmisches Sehr gut! Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) A u c h heute noch ist das Wort Luthers bei uns maßgebend: Die kleinen Diebe hängt man und die großen läßt man laufen! (Oh! rechts. Sehr gut! Sehr w a h r ! bei den Sozialdemokraten.) Der Herr v. Puttkamer ist ein großer Dieb, der an den höchsten Galgen gehörte, wenn wir noch welche hätten im Deutschen Reich. Es w i r d alles vertuscht, was in den Kolonien vorgekommen ist! Ich will einige weitere Tatsachen anführen, w i e es dort zugeht. Vielleicht sind sie schon in den A k t e n der Kolonialverwaltung begraben - wenn nicht, dann sollen sie in die A k t e n hinein, aber nicht, um begraben zu werden. Die Mitteilungen, die ich mache, stehen in einem Brief, den ich schon im Sommer 1904 erhielt. Der Brief war, w i e das so geht, unter einem Haufen A k t e n mir verloren gegangen; endlich i m letzten Frühjahr fing ich einmal gründlich danach zu suchen an und fand ihn wieder, den ich dem H e r r n Kolonialdirektor zur Verfügung stelle. Wie weit die Angaben mit der Wahrheit übereinstimmen, w i r d eine sachgemäße strenge U n tersuchung ergeben, die unbedingt notwendig ist. Der erste Vorgang betrifft einen Leutnant Schennemann, der sich als Stationsleiter in Jaunde eine schwarze Frau zugelegt hatte. Ihm kam zu Ohren, daß dieses Weib mit Eingeborenen geschlechtlich verkehrte. Da er aber die Personen nicht feststellen konnte, so gab er einem schwarzen Sergeanten mit N a m e n Duara Weisung, die drei Schwarzen, die er im Verdachte der Täterschaft hatte, derartig zu bestrafen, daß denselben die Lust und die Möglichkeit vergehe, fernerhin mit dem Weibe eines hohen Beamten zu verkehren. (Lebhafte Rufe: Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Unglücklicherweise marschierte der Sergeant mit seiner Begleitmannschaft nach einem verkehrten Dorfe. In der Angst, daß, w e n n er keine Beweise für die Ausführung des Befehls beibringen könne, er dann tüchtige Prügel bekomme und noch viel Schlimmeres erfahren könne, verfiel er auf die 127
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Idee, die ersten besten Schwarzen, die ihm begegneten, festzunehmen. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Er griff drei Mann auf, ließ sie zu Boden werfen und ihnen bei lebendigem Leibe die Männlichkeit abschneiden. (Große Erregung. Lebhafte Rufe: Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Die so verstümmelten Menschen überließ er ihrem Schicksal. Auf dem Rückwege passierte der Sergeant die Niederlassung der Herren Jung & Lufft, denen das Benehmen des Duara auffiel, und sie fanden in einem kleinen Korbe die betreffenden Körperteile der Verstümmelten. (Rufe: Hört! hört! Pfui! und große Bewegung.) Auf ihr Befragen gestand der Sergeant Duara die Tat ein. Da er aber die Unklugheit beging, den Vorgang auch noch anderen Weißen zu erzählen, - war er plötzlich eines Tages verschwunden und ist nie mehr zum Vorschein gekommen. (Hört! hört! links. - Große Bewegung.) Meine Herren, das ist eine der größten Scheußlichkeiten, die ein Mensch begehen kann. (Zustimmung auf allen Seiten des Hauses.) Wenn die angeführten Tatsachen wahr sein sollten, wird der Betreffende hoffentlich der verdienten Strafe nicht entgehen. (Zuruf rechts.) - So selbstverständlich ist das nicht. Ich hätte auch das Material dem Herrn Kolonialdirektor übergeben können; aber ich will die Fälle hier öffentlich vorbringen, damit wieder in der Öffentlichkeit gesagt werden muß, was Wahres an der Sache ist. (Sehr richtig!) Sind die angeführten Tatsachen nicht wahr, so ist ebenfalls wünschbar, daß das vor der Öffentlichkeit festgestellt wird. Denn werden diese Dinge erst in einem kleinen Kreise bekannt, so gehen die Gerüchte weiter, und leicht wird ein Mann unschuldig verdächtigt, wenn man nicht hört, was aus der Untersuchung herausgekommen ist. Der zweite Fall soll den Oberleutnant Dominik betreffen. Dieser wurde beauftragt, gegen die Bahoho zu Felde zu ziehen, die sich dem deutschen Schutze nicht unterstellen wollten. Auf dem Zuge gelang es ihm in der Nähe der Nachtigalschnellen, ein kleines Dorf zu überfallen, wobei er die ganze Bevölkerung, mit Ausnahme der Kinder, niedermachen ließ (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten) und das Dorf verbrannte. 52 kleine Kinder waren übrig geblieben. Nun soll er seinen Soldaten befohlen haben, Körbe zu flechten; in diese Körbe wurden die Kinder gesetzt und darin befestigt, und alle 52 sollen dann in die Nachtigalschnellen geworfen und so ertränkt worden sein. (Große Bewegung. Rufe: Pfui! Pfui!) Als Zeuge wird ein Herr Geuke in Jaunde angegeben, auch wird gesagt, daß Herrn v. Puttkamer dieser Vorgang wie auch der ersterwähnte bekannt geworden ist, daß er aber nichts zur Verfolgung der Betreffenden getan habe. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Dem Oberleutnant Dominik wird weiter Folgendes nachgesagt. Er soll bei der Schutztruppe die Sitte eingeführt haben, daß die Soldaten den gefallenen Feinden gewisse Körperteile abschnitten, was dort unter den Schwarzen üblich ist, zum 128
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Beweise, wie viel der Feinde gefallen seien. Früher sei die Order gegeben worden, man soll ihnen die Ohren abschneiden. Da sich aber herausstellte, daß die Soldaten auch Frauen die Ohren abschnitten, um die Zahl der gefallenen Feinde künstlich zu vermehren (Bewegung - Hört! hört!), befahl er die Köpfe abzuschneiden. Das erwies sich aber als sehr unbequem, und so wurde der Befehl gegeben, man solle ihnen gewisse Körperteile abschneiden. (Große Bewegung und Zurufe rechts.) Es wird hinzugefügt, daß auch dieser Vorfall Herrn v. Puttkamer bekannt geworden ist, er aber nichts zur Bestrafung der Tater getan habe. (Lebhaftes Hört! hört! links.) Dann, meine Herren, ein dritter Vorgang, der mir mitgeteilt wurde. Der frühere Kommandeur der Schutztruppe in Kamerun, Hauptmann Kamptz, der wieder in Deutschland sein soll, hatte auf einem Zuge nach Joho die Station Lolodorf zu passieren. Hier war Kommandant der Sergeant Liebert. Dieser hatte ein schwarzes Weib, die, da Liebert schwer erkrankt war, sozusagen die Station leitete. Dieses Weib hatte drei Neger, die Straßenraub begangen haben sollen, verhaften lassen, und als Hauptmann Kamptz den Ort durchzog, meldete sie dies demselben. Hauptmann Kamptz habe darauf die drei Leute vorführen lassen und habe sie nach kurzem Verhör zum Tode verurteilt. Er habe darauf den Befehl gegeben, das 3,7-Zentimetergeschütz fertigzustellen und mit Explosionsgeschossen zu laden. Die drei Gefangenen wurden in bestimmten Abständen voneinander angebunden, darauf wurde das Geschütz auf einen Meter Entfernung auf den ersten Gefangenen gestellt und dasselbe losgeschossen, wobei der Gefangene natürlich in Fetzen zerrissen wurde. (Große Bewegung.) Während dieser Prozedur haben die anderen Gefangenen zusehen müssen (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten; große Bewegung), bis auch sie an die Reihe kamen. Meine Herren, wenn sich das alles bewahrheitet, so sind das Scheußlichkeiten, Grausamkeiten, ja Bestialitäten so furchtbarer Art, wie sie bisher kaum in unseren Kolonien vorgekommen sind. (Sehr wahr! sehr richtig! und Zurufe rechts.) - Deswegen bringe ich sie vor, nicht, als ob ich sie ohne weiteres ihrem ganzen Umfange nach für wahr hielte: sie sind mir denunziert; ich bringe sie vor und erwarte, daß die Angaben aufs strengste untersucht werden; wir werden weiter darüber reden. Wie das in solchen Fällen immer zustimmt, stimmt wohl nicht alles bis aufs Tipfelchen; vieles aber dürfte sich als wahr ergeben. Meine Herren, leider stehen die Dinge in unseren Kolonien nach vielen Richtungen so ungünstig wie möglich. Ich habe schon gesagt: viele der Herren, die jene bösen Dinge begangen haben, sind, selbst wenn sie bestraft wurden, nachher nicht die Treppe herunter-, sondern heraufgefallen. Ich will zwei Beispiele anführen. Herr Wehlan bekannten aber nicht berühm129
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ten Angedenkens ist heute Rechtsanwalt in Berlin. Dagegen wäre nichts zu sagen; aber man sagt mir, und das ist stark, daß Herr Wehlan vom preußischen Justizminister 9 außer der Reihe zum Notar ernannt worden ist (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten), also höchst wahrscheinlich für seine Verdienste in Afrika. (Zurufe rechts und von den Sozialdemokraten.) Das wird mir durch Zuruf bestätigt. Herr Leist ist in Chicago Rechtskonsulent geworden, und der deutsche Generalkonsul unterstützt diesen Herrn auf das allereifrigste in seinen Geschäften. (Sehr richtig! in der Mitte. Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Was haben die Herren also, wenn sie in der Tat mal solche Scheußlichkeiten begehen und aus dem Dienst entlassen werden, zu erwarten? Gar nichts! Sie werden nachher noch belohnt. Und dann kommt der Herr Reichskanzler in der Sitzung vom 29. März 1905, als wir hier den Ruhrrevierstreik auf der Tagesordnung hatten, und sagt uns im Tone höchster Entrüstung: Solange wir eine Regierung in Preußen und Deutschland haben, die diesen Namen überhaupt verdient, wird sie es als ihre erste Pflicht betrachten, zu verhindern, daß Gesetz und Ordnung verletzt werden.16471 (Lachen bei den Sozialdemokraten.) Wie reimt sich aber diese Versicherung zusammen mit den wirklichen Taten? Oder gelten die Worte nur den Sozialdemokraten? Und dann, meine Herren, die Peterssache! 10 (Aha! rechts.) - Ja, Sie werden was hören, Herr Arendt! - Die Petersaffäre hat uns leider in diesem Hause schon öfter beschäftigt, namentlich auf Veranlassung des Herrn Arendt (Zuruf rechts), der es schlechterdings nicht verwinden konnte, daß sein intimer Freund Peters seinerzeit hier von mir stark angegriffen wurde und diese Angriffe Veranlassung waren, daß eine neue Untersuchung wider ihn eingeleitet und er darauf vom Disziplinargerichtshofe zur Entsetzung von seinem Amte verurteilt wurde. Der Fall hat zum letzten Male den Reichstag am 17. März d.J. beschäftigt. Herr Arendt hatte in einer Sitzung am Tage zuvor wieder, indem er auf den Fall Peters kam, mich wegen unrichtiger Darstellung der Sachlage angegriffen. Ich antwortete am 17. März und führte aus, daß in der Hauptsache alles, was ich im März 1896 hier im Reichstag erwähnt, sich mit Ausnahme des Tuckerbriefes als richtig herausgestellt habe.[648] Das wurde nicht nur von Herrn Arendt, sondern einige Monate später von Herrn Peters bestritten, der in einer öffentlichen Erklärung sagte, daß die von mir im März 1896 erhobenen Anschuldigungen, er, Peters, habe einen Diener und eine Konkubine wegen ertappten Geschlechtsverkehrs aufhängen lassen, wie aktenmäßig feststehe, eine dreiste Erfindung sei, und 9 Maximilian von Beseler. 10 Siehe hierzu Nr. 40 in Band 4 dieser Ausgabe. 130
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meine Behauptung in der Sitzung des Reichstags vom 17. M ä r z d J . , daß alles, was ich im M ä r z 1896 gegen ihn, Peters, vorgebracht, mit Ausnahme des Tuckerbriefes sich als richtig erwiesen habe, eine von mir ausgesprochene bewußte Lüge wäre. M e i n e Herren, ich faßte nunmehr den Entschluß, die Sache einmal gründlich zu untersuchen. Ich habe - da ich damals unmittelbar vor der Abreise von Berlin stand - erklärt, ich w ü r d e später auf die Sache zurückkommen. Nach meiner R ü c k k e h r Ende September habe ich im O k t o b e r die Sache aufgenommen. Ich wendete mich in einem Schreiben an das Auswärtige Amt und ersuchte, es mir zu ermöglichen, daß ich Einsicht in die Akten des Falles Peters nehmen könne. Die Sache w u r d e vom Auswärtigen A m t dem Herrn Kolonialdirektor überwiesen. Dieser schrieb mir, ich möchte angeben, welche A k t e n ich in dem Falle einsehen wolle, er könne so ohne weiteres keine Entscheidung treffen. Ich w u r d e auf das Kolonialamt zitiert; dort habe ich mit einem seiner Räte verhandelt u n d erklärt, daß ich die gesamten Akten einzusehen wünschte, und ich glaubte u m so mehr ein Recht dazu zu haben, da ja der Herr Abgeordnete Arendt in der Sitzung vom 17. M ä r z d.J. auf Seite 2092 des stenographischen Berichts ausdrücklich erklärt habe, daß er nicht nur über den Fall Peters mit den Herren in der Kolonialabteilung sehr ausführlich verhandelt habe, sondern - so fügte er hinzu - „mir sind sogar Geheimakten gezeigt worden." [ 6 4 8 a J (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Da habe ich mir gesagt: was Arendt recht ist, das ist Bebel billig. (Sehr richtig! links.) A b e r da habe ich mich geirrt. Ich bekam ein Schreiben des Herrn Kolonialdirektors k u r z darauf, worin er erklärte, daß er nach eingehender Prüfung der Angelegenheit zu seinem lebhaftesten Bedauern sich außerstande sähe, meinem Wunsche zu entsprechen, da er Bedenken tragen müßte, das von mir bezeichnete Aktenmaterial einem einzelnen Abgeordneten zugänglich zu machen. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Ich nehme also nunmehr an, daß, nachdem der H e r r Kolonialdirektor Bedenken gehabt hat, das Aktenmaterial einem einzelnen Abgeordneten zugänglich zu machen, er sich dessen nicht weigern wird, wenn z.B. die Budgetkommission das Verlangen ausspricht, die Akten im Falle Peters kennen zu lernen. Meine Herren, das ist um so wichtiger, da ich bestimmt weiß, daß in den A k t e n noch viel begraben ist, was wir gar nicht bisher gewußt haben. (Hört! hört! und Sehr richtig! links.) Es kann also sein, daß, wenn einmal der Fall in seinem ganzen U m f a n g an die Öffentlichkeit kommt, w i e das notwendig ist, die Dinge sich leicht noch böser für Herrn Peters herausstellen können. Ich w a r nunmehr, nachdem mir mein Gesuch um Akteneinsicht abgeschlagen w o r d e n war, genötigt, dem Dr. Peters auf seine Angriffe zu antworten, so gut ich konnte. Ich mußte also das Material benutzen, das die Zeitungen im Jahre 1897 131
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infolge der Disziplinarprozesse , die gegen ihn anhängig geworden waren, in die Öffentlichkeit gebracht hatten. - Kurz bemerkt sei, daß infolge der von mir im März 1896 gegen den Dr. Peters hier im Hause erhobenen Anklagen aufs neue wieder zur Untersuchung eingeleitet und ein Disziplinarverfahren gegen Dr. Peters inszeniert wurde, das in zwei Instanzen spielte und damit endete, daß Dr. Peters aus dem Reichsdienst entlassen wurde. In der Anklage, die der Geheime Legationsrat Hellwig vor dem Disziplinarhof zu vertreten hatte, war das Disziplinarverfahren nicht auf den Tuckerbrief gestützt worden, - denn, meine Herren, der Tuckerbrief war schon damals für das Kolonialamt erledigt. Ich will schon jetzt bemerken: sobald ich erfuhr, daß ich in bezug auf den Tuckerbrief düpiert worden war, habe ich dies, und zwar schon im April 1897, hier vor diesem Hause offen ausgesprochen.'64^ (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Später ist es auch gelungen, den Aufenthalt des Bischofs Tucker ausfindig zu machen; das Kolonialamt hat ihn um Auskunft ersucht, und nachdem er erklärt hatte, daß ein Brief des von mir bezeichneten Inhalts nicht existiere, da habe ich wieder Veranlassung genommen, dafür zu sorgen, daß die Sache in die Öffentlichkeit kam. Das gegen Dr. Peters eröffnete Disziplinarverfahren stützte sich also nicht auf den Tuckerbrief, es stützte sich in der Hauptsache darauf, das Dr. Peters im Herbst 1891 und zu Anfang 1892 am Kilimandscharo ungerechtfertigterweise einen jungen Neger und eine junge Negerin habe hinrichten lassen (Hört! hört! links), daß er unnötig kriegerische Verwicklungen mit dem Sultan Malamia herbeigeführt habe, daß er drei Negerinnen in unmenschlicher Weise habe prügeln lassen (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten), daß er ferner über diese Vorgänge unwahre Berichte - meine Herren von der Rechten, Sie haben bei Erzählung des Falles Poeplau dem Reichskanzler Beifall bezeugt, als er mitteilte, daß Poeplau diszipliniert wurde; warum äußern Sie jetzt nicht Beifall? (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten) - ich sage also, daß er an seine vorgesetzte Behörde unwahre Berichte eingesandt und schließlich selbst verschiedenen Personen gegenüber bekannt habe, daß er den jungen Mabruk, der bei ihm im Dienste stand, wegen seiner geschlechtlichen Beziehung zu einem seiner - des Dr. Peters - Weiber (der Jagodjo) habe hinrichten lassen. Eine dieser Äußerungen soll nach Zeugenaussagen gelautet haben: eine solche Frechheit, das Weib des Bana Mkubwa - „großen Herrn" zu deutsch - zu begehren, verdient Todesstrafe. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Der Antrag des öffentlichen Anklägers Geheimen Legationsrat Hellwig ging dahin, Dr. Peters seines Amtes zu entheben. In der ersten Instanz am 24. April 1897 wurde Peters nur teilweise schuldig erkannt, und es kam auf eingelegte Berufung des Verurteilten, die Angelegenheit im November 1897 in zweiter Instanz vor dem Disziplinarhof zur Verhandlung. Aus der Erkenntnis der ersten Instanz ging hervor, daß Maler Kuhnert, der sich 132
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zurzeit der fraglichen Vorgänge am Kilimandscharo aufgehalten hatte, unter anderem bekundet hatte: ein schwarzer Unteroffizier habe die Mädchen mit Ketten gefesselt - es waren nämlich drei - und mit einem dicken Strick, einer Art Nilpferdpeitsche, fürchterlich geschlagen; die Mädchen hätten zunächst furchtbar geschrien, sie wären aber schließlich derartig von der unmenschlichen Mißhandlung erschöpft gewesen, daß sie bei den letzten Hieben nur noch leise wimmerten. (Bewegung. Hört! hört! links.) Die Mädchen waren blutüberströmt. Dr. Peters habe in einem Bambusstuhl gesessen und sich die Prozedur, die selbst für afrikanische Verhältnisse furchtbar brutal genannt werden müßte, mit größter Ruhe angesehen. (Hört! hört! links.) Der Zeuge Jancke sagte unter anderem aus: Die Auspeitschung der Weiber habe er zum Teil mit angesehen, auch Dr. Peters, der in der Veranda saß, habe die Auspeitschung sehen können. Die Jagodjo habe außerdem noch mehrere Male in kurzen Zwischenräumen je 25 Hiebe erhalten. Die Jagodjo sei nach der Prozedur in Kettenhaft genommen worden. Als die Jagodjo wieder einmal 25 Hiebe erhalten sollte, meldete ein schwarzer Unteroffizier, daß er Bedenken trage, sie noch einmal durchzupeitschen. Dr. Peters ordnete darauf an, die Durchpeitschung zu unterlassen und die Jagodjo dem Lazarettgehülfen Wiehert zur Heilung ihrer Wunden zu überweisen.!650] Fälle ähnlicher Grausamkeiten wurden eine ganze Reihe erwähnt. Der Zeuge Bezirksamtssekretär Jancke, der als Beisitzer im sogenannten Kriegsgericht gegen den Mabruk und die Jagodjo fungierte, sagte unter anderem aus: Die Auspeitschung der Weiber habe er zum Teil mit angesehen, auch Dr. Peters, der in der Veranda saß, habe die Auspeitschung sehen können. Die Jagodjo sei nach geschehener Auspeitschung in Ketten gelegt und in zweitägigen Zwischenräumen von neuem ausgepeitscht worden. Bei dem Todesurteil der Jagodjo habe er (Jancke) mitgewirkt und deshalb auch unterschrieben.16511 (Hört! hört! links.) In der Anklagerede des Geheimen Legationsrats Hellwig heißt es mit Bezug auf die Hinrichtung des Mabruk: Der Angeschuldigte Dr. Peters habe selbst bei seiner Vernehmung im August 1895 zugegeben, die sexuellen Beziehungen des Mabruk zu den Weibern auf der europäischen Station seien bei dem Todesurteil erschwerend ins Gewicht gefallen. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Damit habe sich der Angeschuldigte des Mißbrauchs der Amtsgewalt schuldig gemacht ... Die Hinrichtung der Jagodjo war auch nicht berechtigt und durch nichts begründet. Wenn der Angeschuldigte sage, er habe diese Hinrichtung vollziehen müssen, um seine Autorität zu wahren, so widerspricht dieser Behauptung die Tatsache, daß Dr. Peters den 133
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Befehl gab, die Hinrichtung im H o f e der Station vor Tagesanbruch zu vollziehen, u n d seinen Beamten befahl, nicht darüber zu reden. [652] ( H ö r t ! hört! bei den Sozialdemokraten.) Ich bemerke hier: Peters hat auch die Tatsache der Hinrichtung der beiden N e g e r in seinem Bericht an den Gouverneur 1 1 verschwiegen. Erst als diese dem Gouverneur von anderer Seite zur Kenntnis gekommen war, w u r d e Peters zu weiterer Berichterstattung veranlaßt. Peters hat sich also durch diese Handlungsweise das schwerste Disziplinarvergehen zu schulden kommen lassen, das ein Beamter begehen kann. (Sehr richtig! links.) In dem Urteil, das der Disziplinargerichtshof verkündete, heißt es nach den Preßberichten: Der Disziplinargerichtshof hat die Vorentscheidung aufgehoben, den Angeklagten im vollen U m f a n g e der Anklage für schuldig erklärt und deshalb denselben mit der Dienstentlassung und mit der Auferlegung sämtlicher Kosten des Verfahrens b e s t r a f t . . . . Was die Sache selbst anlangt, so hat der Gerichtshof es als erwiesen erachtet, daß der Angeschuldigte den M a b r u k hat hinrichten lassen, weil er ihn im Verdacht hatte, daß er mit seinen Weibern sexuellen Verkehr gehabt habe. Der Angeschuldigte hatte dazu kein Recht. Der Angeschuldigte ist sich bewußt gewesen, daß die Vollstreckung der Todesstrafe für ihn unangenehme Folgen haben könne. Deshalb hat er zwei Strohmänner als Beisitzer z u m Kriegsgericht zugezogen, und deshalb unterließ er die Berichterstattung an den Gouverneur von Deutsch-Ostafrika. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.)... Der Gerichtshof ist der Ansicht, daß dem Angeschuldigten ein Recht auf die ihm geschenkten Weiber in keiner Weise zustand, und daß er ohne deren Willen dieselben nicht behalten durfte. Deshalb hatte er kein Recht, die Herausgabe der entflohenen Weiber zu verlangen, noch dieselben durchpeitschen zu lassen. Der Gerichtshof hält die Auspeitschung für eine besondere Grausamkeit. Auch die Hinrichtung der Jagodjo hält der Gerichtshof für vollständig unberechtigt. Daß die Hinrichtung im Interesse der Sicherheit der Station geschah, hat im übrigen der Angeklagte selbst nicht behauptet. Auch die Äußerung des Angeklagten im Hotel Bristol in Berlin hält der Gerichtshof für ein Benehmen, das der W ü r d e eines Beamten nicht entsprach^ 6531 So das Urteil, soweit es hier in Betracht kommt. Meine Herren, als ich die Vorgänge, die zu jener Verhandlung führten, hier im M ä r z 1896 erwähnte, hat der Reichstag drei lange, ungemein aufregende Sitzungen zu halten gehabt. Die Angelegenheit Peters w u r d e von allen Seiten behandelt u n d z u m Teil auf das allerschärfste verurteilt, namentlich ist der damalige Direk11 Freiherr von Soden. 134
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tor der Kolonialabteilung, Dr. Kayser, bei der ganzen Angelegenheit schlecht gefahren. Über Peters äußerte bei jener Gelegenheit der Abgeordnete Lenzmann unter anderem: Eine besondere Heldentat ist es wahrlich nicht, ein armes Negermädchen aufzuknüpfen unter dem Titel, es habe Desertion begangen, es habe konspiriert, sie, die machtlose Lustdirne, die dem Dr. Peters zur Befriedigung seiner Lüste gedient hat. Er hat in keinem feindlichen Verhältnis ihr zu gestanden; denn er hat in dem Verhältnis der potenzierten Freundschaft, der Liebe zu ihr gestanden, und diese Lustdirne soll auf einmal eine gefährliche, hochverräterische Person sein, die man an den Galgen hängt? Nein, entweder Dr. Peters ist, wenn das, was der Herr Direktor Kayser gegen ihn gesagt hat, auf Wahrheit beruht - ich habe das Zutrauen zur Reichsregierung, daß sie nicht mit Unwahrheiten hier kommt - entweder der Mann ist verrückt oder ein Scheusal, eines von beiden/6541 (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Und der Abgeordnete Dr. Lieber führte aus - er bezog sich hierbei ebenfalls auf den Kolonialdirektor - : Wenn das, was der Herr Direktor Kayser angibt, richtig ist, dann ist die Sache ja noch viel schlimmer, als nach der Bebeischen Darstellung. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Ich trage kein Bedenken, auszusprechen, wenn Herr Dr. Peters ein junges Negermädchen, mit dem er ein intimes Verhältnis unterhalten hat, in der Weise vom Leben zum Tode hat bringen lassen, wie es beide Herren hier behauptet haben, so hat er ungefähr die schimpflichste Gemeinheit begangen, die man überhaupt einem Manne nachreden kann. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Aber auch, wenn Herr Dr. Peters nicht persönlich mit jenem unglücklichen Mädchen in solchen Beziehungen gestanden hätte, da muß ich doch sagen: ein blutjunges Negermädchen, ein halbes Kind, das kaum erst einen Schatten vom Begriff von Spionage und Verrat hat, aufzuknüpfen, weil es sich des Uberlaufens zu einer feindlichen oder wenigstens noch nicht befriedeten Stammesgenossenschaft schuldig gemacht, das zeugt12 doch von einer so entwikkelten Henkernatur, daß ich auch von diesem Standpunkt aus den Dr. Peters für einen vollständig verlorenen Mann halten muß. [655] (Sehr wahr! sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) So, meine Herren, das Urteil der beiden Abgeordneten. Nun kommt Herr Dr. Peters in seiner Antwort und höhnt, daß ich sogar, um mein damaliges Verhalten zu rechtfertigen, mich auf Abgeordnete bezogen hätte, die längst gestorben seien und die heute ganz anders urteilen würden. Meine Herren, ich konstatiere, daß der Abgeordnete Lieber anfangs dieses Jahrhun12 Bei Bebel: zeigt. 135
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derts, ich glaube, im Jahre 1901 gestorben ist, und der Abgeordnete Lenzmann in diesem Jahre. Aber 1897 war bereits der Tuckerbrief als apokryph bekannt. In der ganzen Angelegenheit, die vor dem Gerichtshof gespielt hat, war ebenfalls auf den Tuckerbrief Verzicht geleistet worden. Den Herren Lieber und Lenzmann war also noch bei Lebzeiten alles bekannt, was in der Untersuchung und in den Prozessen wider Peters gespielt hatte. Niemals haben sie Veranlassung genommen, ein Wort von dem zurückzunehmen, was sie 1896 hier über Peters urteilten. Sie haben sich auch beide in dem scharfen Urteil über Peters nicht auf mich, sondern auf die Geständnisse des Kolonialdirektors Kayser bezogen. Der Abgeordnete Lieber sagt ausdrücklich: wenn das wahr ist, was der Direktor sagt, so ist es noch schlimmer als das, was Bebel gesagt hat. Und daraufhin sein furchtbares Urteil über Peters. Und, meine Herren, der Mann, der es nur dem Umstände zu verdanken hat, daß zu der Zeit, wo er die erwähnten Verbrechen, den Mord an zwei armen Negern und die schweren Mißhandlungen an den Frauen, beging, in Ostafrika das deutsche Strafgesetzbuch noch nicht zu Recht bestand, und ein dort gültiges Gesetz über solche Taten nicht festzustellen möglich war, - der es also diesem Umstände allein verdankt, daß er nicht zu wenigstens 15 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde (Sehr richtig! sehr wahr! bei den Sozialdemokraten), weil er den denkbar schwersten Amtsmißbrauch beging, indem er zwei Menschen ohne Recht und Gesetz hinrichten ließ, dieser Mann, dieser Mörder (Sehr wahr! Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten), ist dann begnadigt worden. (Zurufe bei den Sozialdemokraten.) Das geschah ungefähr zu derselben Zeit, als Herr Arendt seine Anklagen gegen mich hier im Reichstag vorbrachte. - Es ist einige Monate später bekannt geworden, daß Dr. Peters wieder der Titel Reichskommissar auf dem Gnadenwege erteilt wurde. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Es war also nicht allein gelungen, den Staatssekretär des Auswärtigen Amts, sondern auch den Reichskanzler zu bestimmen, daß er trotz allem und allem, was gegen Peters vorliegt, die Begnadigung beim Kaiser befürwortete, dieser Peters, der außerdem bei der Emin Pascha-Expedition Dinge getan hat, die schon an und für sich genügen sollten für jeden anständigen Mann, den persönlichen Umgang mit ihm zu meiden. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Ich will heute auf jene Vorgänge nicht weiter eingehen. Aber als ich die Nachricht von der Begnadigung las, sagte ich mir: wie ist denn das möglich? Nun, meine Herren, mir ist mitgeteilt worden, daß es die Herren Graf Arnim, Arendt, v. Kardorff und eine Anzahl anderer Abgeordneter waren, die eine Petition an den Herrn Reichskanzler eingereicht hatten, damit die Begnadigung ausgesprochen werde. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten. - Bewegung.) 136
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Aber, meine Herren, noch mehr! Man begnügte sich nicht, Peters die Begnadigung zu verschaffen, nein, es gebot ihnen die christliche Bruderliebe, daß auch der Mann, der als Ankläger Peters' in amtlicher Eigenschaft und im Auftrag des Kolonialamts aufgetreten war, der Geheime Legationsrat Hellwig fallen mußte. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Dieser mußte ein Opfer ihrer Rache werden. Man ging an den verstorbenen Staatssekretär des Auswärtigen Herrn v. Richthofen und bearbeitete ihn. Um ihn aber mit Erfolg zu bearbeiten - das ist mir heute klar - , mußten die fortgesetzten Anrempelungen im Falle Peters durch den Abgeordneten Dr. Arendt das Mittel sein. Man hat dem Herrn v. Richthofen das Leben schwer gemacht, bis der Erfolg vorhanden war. Eines Tages ließ Herr v. Richthofen seinen Untergebenen, den Geheimen Legationsrat Hellwig, kommen und sagte zu ihm: Hören Sie, Herr Geheimrat, Sie haben viele Feinde sich durch den Fall Peters erworben (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten), Sie sind zu scharf vorgegangen, das verzeiht man Ihnen nicht; wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, so reichen Sie Ihre Pensionierung ein. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Ich verspreche Ihnen: wenn Sie das tun, bin ich bereit, Ihnen eine Aufsichtsratsstelle bei einer der Gesellschaften in Kamerun zu verschaffen. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten. - Zurufe und große Bewegung.) Meine Herren, deutlicher kann in der Tat die herrschende Korruption nicht zu Tage gefördert werden. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Und Herr Geheimer Legationsrat Hellwig gab schließlich dem Drängen seines Chefs nach, er reicht sein Pensionierungsgesuch ein und ist am 31. März d.J. aus dem Reichsdienst entlassen worden mit einer Pension von ungefähr 10 000 Mark, die das Reich bezahlen muß. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, eines Tages kommt dann der Herr Geheime Legationsrat a.D. Hellwig zu einem unserer Mitglieder hier im Hause, - nicht zu mir, auch nicht zu einem meiner Parteifreunde, sondern zu dem Herrn einer anderen Partei und sagt: Herr Abgeordneter, ich bin gesund und stark, ich kann arbeiten und will arbeiten (hört! hört! und Zurufe), ich bin aber infolge meines Verhaltens in der Sache Peters ein Opfer der Herren Dr. Arendt, Graf v. Arnim und v. Kardorff geworden. (Stürmische Pfuirufe bei den Sozialdemokraten. - Große Unruhe.) Diese haben also ihre Stellung als Abgeordnete gemißbraucht, um einen Beamten aus dem Amte zu drängen und zur Pensionierung zu zwingen. (Wiederholte Pfuirufe bei den Sozialdemokraten und andauernde große Unruhe. Glocke des Präsidenten.) Vizepräsident Dr. Graf zu Stolberg-Wernigerode: Herr Abgeordneter, Sie dürfen keinem Mitgliede des Hauses vorwerfen, daß es seine Stellung als Abgeord137
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neter mißbraucht habe. Das widerspricht der Ordnung dieses Hauses. (Stürmische Zurufe bei den Sozialdemokraten. - Große andauernde Unruhe. Glocke des Präsidenten.) Abgeordneter Bebel: - Ja, die ihre Stellung als Abgeordnete mißbraucht haben! - Wenn es je eine Wahrheit gab, so in diesem Falle. Ich nehme kein Wort zurück. (Große Unruhe. - Glocke des Präsidenten.) Vizepräsident Dr. Graf zu Stolberg-Wernigerode: Ich rufe Sie zur Ordnung! Abgeordneter Bebel: Rufen Sie mich zur Ordnung! Was ich gesagt, schaffen alle Ordnungsrufe nicht aus der Welt, daß hier ein Mißbrauch der Stellung eines Abgeordneten vorliegt. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten. Rufe: Da sitzen die Verbrecher! - Glocke des Präsidenten.) Vizepräsident Dr. Graf zu Stolberg-Wernigerode: Ich rufe den Herrn Abgeordneten, von dem der Ruf ausgegangen ist, zur Ordnung. (Abgeordneter Zubeil: Von mir!) Dann rufe ich Sie nochmals zur Ordnung! (Große Unruhe und Zurufe.) Abgeordneter Bebel: Alle Ordnungsrufe der Welt können die furchtbare Tatsache der Korruption im Deutschen Reich nicht aus der Welt schaffen. Es sind Abgeordnete, die ihre Stellung mißbraucht haben, um einen hohen Beamten des Reichs zu beeinflussen, und es ist eine unverzeihliche Schwäche dieses hohen Beamten gewesen, daß er dem Einfluß dieser Abgeordneten zum Opfer gefallen ist. (Sehr wahr! sehr richtig! links.) Aber, meine Herren, wir lernen an diesem Falle einmal kennen, wer in Wahrheit im Deutschen Reiche regiert. Wie lautet doch das Wort von Karl Marx! Die Männer in der Regierung sind nichts weiter als die Verwaltungsräte der Interessen der herrschenden Klass c n [656] Und die Vertreter der herrschenden Klassen sind in diesem Falle die Herren Graf v. Arnim, Dr. Arendt, v. Kardorff usw. Diese großen Patrioten (Heiterkeit bei den Sozialdemokraten), die als Hauptankläger wider uns bei aller und jeder Gelegenheit antreten - (Zurufe rechts.) - Meine Herren, Sie sollen nur in Zukunft wieder einmal derartige Anklagen in den Mund nehmen, dann wird Ihnen von unserer Seite die entsprechende Antwort zuteil werden. In Wahrheit ist der Staat, ist das Reich eine große Versicherungsanstalt zur Wahrung und Unterstützung der Privatinteressen der herrschenden Klassen. (Sehr wahr! Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Ohne das würde der Staat nicht das sein, was er ist. Nicht für Christentum, nicht für Humanität, nicht für Kulturinteressen wird die Kolonialpolitik und die Politik überhaupt gemacht, nein, meine Herren, sie wird nur gemacht, um die Interessen der herrschenden Klassen nach allen Richtungen zu schützen und zu fördern, um deren Sucht nach Macht, Reichtum und Einfluß zu befriedigen. Sie begreifen daher, daß, nachdem diese Tatsachen und noch vieles andere zu unserer Kenntnis gelangt sind, wir heute weniger denn 138
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je bereit sind, solchen Z u s t ä n d e n unsere U n t e r s t ü t z u n g z u leihen. ( W i e d e r h o l t e r s t ü r m i s c h e r Beifall bei den Sozialdemokraten.) Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, 11. Legislaturperiode, Il.Session 1905/1906, Fünfter Band, Berlin 1906, S. 4052-4071.
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54 Preußische Polenpolitik Rede im Deutschen Reichstag über § 1666 des Bürgerlichen Gesetzbuches
t657]
5. Dezember 1906
Meine Herren, als ich heute gewahr wurde, daß an Stelle des Herrn Reichskanzlers1 der Herr Staatssekretär für das Reichsjustizamt2 zur Beantwortung der Interpellation erschienen war, war meine erste Frage: Wie kommt Saul unter die Propheten? (Heiterkeit.) Ich habe mir diese Frage um deswillen vorgelegt, weil ich mir sagte: es ist eine eminent politische Frage, die uns hier beschäftigt, neben einer Rechtsfrage, also muß der Reichskanzler hier sein. Die Herren von der Reichsverwaltung aber und speziell der Herr Reichskanzler gehen von einer anderen Ansicht aus, es handele sich hier nicht um eine politische, sondern nur um eine juristische Frage, die noch nicht in der Endinstanz entschieden sei. Um deswillen hat also der Herr Reichskanzler gemeint, für die Beantwortung einer solchen Frage sei der Herr Staatssekretär der Justiz der geeignete Mann. Aber, meine Herren, wenn ich mir vergegenwärtige, was insbesondere die letzten Herren Redner in bezug auf die Interpellationen geantwortet haben, muß ich um so lebhafter bedauern, daß der Herr Reichskanzler nicht erschienen ist; denn sowohl der Herr v. Tiedemann wie Herr Büsing haben die ganze Angelegenheit wesentlich politisch behandelt. (Sehr richtig! bei den Polen.) Insbesondere war es zunächst Herr v. Tiedemann, der in den wenigen Worten, die er über diese Angelegenheit gesprochen hat, mit allem Nachdruck hervorhob, er hoffe, daß der Herr Reichskanzler als preußischer Ministerpräsident mit aller Energie und Festigkeit an derjenigen Polenpolitik festhalte, die in Preußen bisher beobachtet worden sei und die volle Billigung der Landesvertretung Preußens gefunden habe. Ebenso hat der Herr Vorredner, der Herr Abgeordnete Büsing, der auf der einen Séite entschieden bestritt, daß wir preußische Schulangelegenheiten in unsere Kompetenz hineinziehen dürften, erklärt, daß er aus politischen Gründen durchaus die Maßnahmen billige, die die preußische Regierung in der Frage des polnischen Religionsunterrichts ergriffen habe. Aber am meisten hat mich von Herrn Büsing gewundert, daß er in bezug auf 1 2
Bernhard von Bülow. Rudolf Arnold Nieberding.
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die Erörterung der preußischen Politik die Kompetenzfrage anregte - derselbe Mann, der bei Erörterung von mecklenburgischen Verfassungsfragen mehr als einmal (lebhafte Rufe: Sehr gut! links) von jener Seite (rechts) des Hauses die Antwort bekommen hat, man beteilige sich an den von ihm hervorgerufenen Debatten nicht, weil man die Kompetenz des Reichstags in dieser Frage bestreite. Meine Herren, hier handelt es sich nicht um eine spezifisch preußische, sondern um eine allgemein deutsche Angelegenheit (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten); das kann nicht bestritten werden. Es kann doch für das Deutsche Reich nicht einerlei sein, welche Politik der preußische Staat in einer Frage, wie der hier erörterten, bei der doch deutsche Reichsangehörige in Frage kommen, zu verfolgen beliebt. Es kann dem Reichstage auch nicht gleichgültig sein, welches das Urteil des Auslandes über diese Angelegenheit ist (Zurufe rechts), in der die Ehre Deutschlands bis zu einem gewissen Grade auf dem Spiele steht. Es ist weiter im höchsten Grade überraschend, daß derselbe Herr Büsing im Namen seiner Fraktion erklärte, seine Fraktion sei nicht der Meinung, daß die Anwendung des § 1666 des Bürgerlichen Gesetzbuchs ein geeignetes Mittel wäre, um die Zwecke zu erreichen, die jetzt in Preußen einzelne Gerichte durch Anwendung des § 1666 des Bürgerlichen Gesetzbuchs den Polen gegenüber zu erreichen wähnten, und daß unmittelbar nach dieser Erklärung Herr Büsing dazu überging, des langen und breiten auseinanderzusetzen, wie wichtig und richtig die Anwendung des § 1666 für die hier in Frage stehenden Maßnahmen sei. (Lebhafte Zustimmung.) Er ging sogar so weit, zu erklären, daß er von seinem Standpunkt aus keine falsche Anwendung des § 1666 anerkennen könne. Nun, wenn der Redner einer Fraktion im Verlaufe einer Viertelstunde sich in einem solchen prinzipiellen Widerspruch bewegen konnte (lebhafte Zustimmung), wie das heute dem Herrn Abgeordneten Büsing als Vertreter der nationalliberalen Partei begegnet ist, dann muß ich sagen: stärker kann eine Partei sich nicht blamieren, als es der nationalliberalen heute durch den Mund des Herrn Abgeordneten Büsing geschehen ist. (Lebhafte Zustimmung.) Ich werde freilich im Laufe meiner Ausführungen Ihnen nachweisen können, daß es für die Nationalliberalen nur darauf ankommt, wo Dinge spielen, die wir erörtern. Ich werde dem Herrn Abgeordneten Büsing - er ist so ziemlich in gleichem Alter mit mir, und wir haben zu den Ereignissen, auf die ich kommen werde, in gleicher Weise Stellung genommen - nachweisen, daß er und seine Freunde damals ganz anders zu ähnlichen Fragen standen, als sie heute dazu stehen. (Sehr gut!) Es ist allerdings das Charakteristikum des Nationalliberalismus, daß er kein Rückgrat und keine Grundsätze hat (Sehr gut!), und daß, je nachdem es sich um Fragen handelt, die sein Interesse berühren, er ganz entgegengesetzt entscheidet. (Lebhafte Rufe: Hört! hört!) 141
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N u n möchte ich zunächst einmal die Frage der A n w e n d u n g des § 1666 des Bürgerlichen Gesetzbuchs k u r z erörtern. Herr Biising - u n d das w a r sehr interessant und beweist, w i e bedenklich die Fassung des § 1666 ist; irre ich nicht sehr, so hat er sogar der Kommission für das Bürgerliche Gesetzbuch angehört, ich weiß es aber nicht bestimmt - also H e r r Büsing, ein Jurist, erklärt, er finde in dem Urteil, welches bezüglich der A n w e n d u n g des § 1666 bei dem Vormundschaftsgericht in Zabrze gesprochen sei, keinen Widerspruch gegen den Inhalt des Paragraphen. In der Tat läßt sich nicht bestreiten, daß der § 1666 in seiner gegenwärtigen Fassung sehr dehnbar ist. M a n soll vor solchen Übelständen die A u g e n nicht verschließen; es ist notwendig, daß in dem ersten Augenblick, w o einem eine Kluft gezeigt wird, die ein Gesetz mit dem allgemeinen Volksbewußtsein in Widerspruch bringt, der Deutsche Reichstag in erster Linie ein solche Anglegenheit erörtert. (Sehr richtig! links.) U n d daher hatten die Polen w i e das Zentrum durchaus recht, sobald sie gewahr wurden, was für eine bedenkliche Gerichtspraxis in bezug auf den § 1666 einzureißen drohe, hier durch ihre Interpellation die Sache zur Sprache zu bringen, auch wenn der Herr Staatssekretär selbst in dieser Angelegenheit keine Stellung nahm, der sich sehr hüten wird, hier seine Auffassung über den § 1666 zum Ausdruck zu bringen. (Heiterkeit.) Das könnte nach verschiedenen Richtungen etwas bedenklich ausfallen, w e n n seine Meinung so wäre, daß sie mit den Anschauungen in anderen maßgebenden Kreisen der preußischen Regierung nicht übereinstimmt. Es ist für mich auch vollständig gleichgültig, ob in diesem Augenblick die preußische Regierung in bezug auf die A n w e n d u n g des § 1666 des Bürgerlichen Gesetzbuchs zu dem polnischen Schulboykott [ 6 5 8 J irgend welche Stellung genommen hat; es genügt für mich vollkommen, daß die Gerichte sich dieser Frage bemächtigten, u n d daß ein Urteil gefällt worden ist, das heute von einem angesehenen Mitgliede der nationalliberalen Partei des Reichstags gebilligt wurde. Daraus muß man schließen, daß, wenn die Dinge in dieser Richtung sich weiter entwickeln, w i r sehr leicht vor der Gefahr stehen, daß die Auffassung jenes Vormundschaftsrichters bis zum obersten preußischen Gerichtshofe hinauf nach bekannten Beispielen Billigung findet, wie w i r im Laufe der Jahre zu vielen dutzendmalen erlebt haben. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten und bei den Polen.) Der § 1666 lautet: W i r d das geistige oder leibliche Wohl des Kindes dadurch gefährdet, daß der Vater das Recht der Sorge für die Person des Kindes mißbraucht, das Kind vernachlässigt oder sich eines ehrlosen oder unsittlichen Verhaltens schuldig macht, so hat das Vormundschaftsgericht die zur A b w e n d u n g der Gefahren erforderlichen M a ß n a h m e n zu treffen. Das Vormundschaftsgericht kann insbe142
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sondere anordnen, daß das Kind zum Zweck der Erziehung in einer geeigneten Familie oder in einer Besserungsanstalt untergebracht wirdJ659^ Meine Herren, als dieser Paragraph im Reichstag zur Erörterung stand, hat die sozialdemokratische Fraktion folgenden Zusatz zu diesem Paragraphen beantragt: Jedoch ist das Vormundschaftsgericht nicht berechtigt, das Verhalten des Vaters in religiöser oder politischer Hinsicht oder die Einwirkung des Vaters auf das Kind nach diesen Richtungen als einen Mißbrauch, als eine Vernachlässigung oder als ein ehrloses oder unsittliches Verhalten zu erachten.[660^ Wenn damals der Reichstag in seiner Majorität diesen Zusatz zu dem § 1666 angenommen hätte, der weiter nichts bedeutete als eine Deklaration, was unter den Bestimmungen des § 1666 verstanden werden sohle, dannwären die heutigen Verhandlungen nicht nur nicht möglich (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten und den Polen), nein, dann hätte kein Gericht, sei es in Zabrze oder sonst irgendwo, den § 1666 in Anwendung bringen können. (Erneute Zustimmung bei den Sozialdemokraten und bei den Polen.) Das beweist wieder einmal, wie außerordentlich bedenklich es ist, wenn man bei Erörterung wichtiger Gesetzesbestimmungen mit einem wahrhaften Vertrauensdusel den Gerichten entgegenkommt (Sehr richtig! bei den Polen und bei den Sozialdemokraten), wenn man, wo es sich um wichtige Volksrechte, um wichtige Menschen- und Elternrechte handelt, meint voraussetzen zu dürfen, daß man unter aller Umständen sicher darauf rechnen dürfe, daß die Gerichte so entscheiden würden, wie in dem Augenblick, in dem dieser Paragraph beschlossen wurde, die Kommission und der Reichstag in seiner Mehrheit in der Sache gedacht hat. Meine Herren, das war ein großer Fehler. (Sehr richtig! links.) Ich muß zunächst noch auf ein anderes hinweisen. Damals lag bereits eine eigentümliche Auslegung einer ähnlichen Bestimmung des preußischen Landrcchtes[660al vor. Es hatte ein Richter in Hanau einem Sozialdemokraten das Erziehungsrecht genommen, weil sein Kind einem Arbeiterturnverein angehörte, den er als einen sozialdemokratischen Turnverein bezeichnete. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten und den Polen.) Dadurch wurden wir auf die ungemeine Wichtigkeit des § 1666 erst aufmerksam gemacht. Wir sahen uns also veranlaßt, gegen ähnlichen Mißbrauch Vorkehrung zu treffen. Allerdings ist damals durch das Landgericht jenes Urteil des Hanauer Gerichts aufgehoben worden, und so blieb die Angelegenheit einstweilen im Zustand der alten Auffassung. Aber, meine Herren, mittlerweile sind doch Dinge vorgekommen, die sehr klar zeigen, daß der Geist, der das Urteil des Amtsrichters in Zabrze beherrscht, insbesondere im preußischen Staat - und alles Schlechte in Deutschland kommt aus Preußen! (Heiterkeit) - ich sage, daß dieser Geist längst im 143
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preußischen Staate in sehr maßgebenden Kreisen herrscht.3 So hat im Jahre 1904 das Amtsgericht in Sommerfeld gegen eine Arbeiterin entschieden, sie müsse entweder aus dem Textilarbeiterverbande austreten, oder die Vormundschaft, das Fürsorgerecht für ihre Kinder müßte ihr genommen werden (Hört! hört! links) auf Grund des § 1666 des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Also eine Arbeiterin in einer Fabrik, die nur zum Schutze ihrer Arbeiterin- und Mutterinteressen in diesem Verbände war und sich dadurch ihre Lebensstellung sichern wollte, soweit das in der bürgerlichen Gesellschaft möglich ist, wird vom Amtsgericht genötigt, auszutreten, widrigenfalls sie ihr Erziehungs- und Vormundschaftsrecht für die Kinder verlöre. Leider hat die arme Frau sich durch dieses Urteil so einschüchtern lassen, daß sie darauf verzichtete, Berufung einzulegen; sie fügte sich. Meine Herren, wenn die Meinungen der Mitglieder des Reichstags in solchen Fragen für die Gerichte irgendwie maßgebend wären, könnte man glauben, die Richter würden, wenn sie die Anwendung des § 1666 in Frage stellen, mal nachsehen, wie die betreffenden Abgeordneten zur Frage Stellung genommen haben, wenigstens die Vertreter derjenigen Parteien, welche maßgebend bei der Beschlußfassung waren und die Anschauungen vertreten haben, von denen aus Sie den Paragraphen beurteilt sehen wollten. Als seinerzeit die Erörterungen über den § 1666 stattfanden, war es mein Parteigenosse Stadthagen, der unser Amendement mit Hinweis auf den Hanauer Fall unter anderem folgendermaßen begründete: Wenn solche mißbräuchliche, gesetzwidrige Anwendung der Gesetzesvorschrift nicht mehr theoretisch, sondern praktisch vorgekommen ist, dann ist es notwendig, den Antrag anzunehmen und, so unangenehm es ist, in einem Gesetz spezielle Fälle kasuistisch zu bezeichnen, trotzdem unseren Antrag anzunehmen, damit Sie ein solches Hineinziehen der Politik in die Gerichtssäle, ein solches Vergiften der Seele des Kindes, ein solches Unterminieren der elterlichen Gewalt, ein solches Zerstören der Familie nach Möglichkeit unterbinden. Bauen Sie durch Annahme unseres Antrages dem vor, daß diese vergiftende Art der Rechtsprechung gefördert werde. [66,] (Hört! hört!) Meine Herren, schärfer konnte damals mein Genösse Stadthagen dem Reichstag nicht zu Gemüte führen, als es geschehen ist, wie bedenklich es sei, § 1666 ohne den Zusatz von uns, der seine Deklaration bildete, anzunehmen. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Man hat es aber, wie gesagt, nicht getan. Wir haben jetzt die Folgen davon, und wir haben sie, obgleich damals der Herr Abgeordnete Gröber erklärte: es sei ja begreiflich, daß ein solcher Gerichtsbeschluß, wie der vom Hanauer Amtsgericht gefaßte, den Antragsteller in eine 3 Siehe hierzu Nr. 192 in Band 9 dieser Ausgabe. 144
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lebhafte Entrüstung bringe, und er glaube, wer ihm in diesem Vorschlage gefolgt sei, werde diese Entrüstung verstehen und teilen können; man sollte glauben, daß bei uns solche Entscheidungen nicht vorkommen könnten. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Wir haben jetzt den Beweis, daß dieses doch geschehen kann. U n d Herr Gröber fügte damals weiter hinzu: aber wenn dennoch das Befürchtete eintrete, so könne man unmöglich annehmen, daß nicht im Instanzenzuge eine Abhilfe gegen derartige mißbräuchliche Gerichtsentscheidungen zu erlangen sei. Meine Herren, zugegeben einmal, daß, wie im Hanauer Falle, künftighin auch die oberen Instanzen noch eine Reparatur eintreten lassen sollten, — wie lange das aber geschieht, und insbesondere, wie lange der Widerstand der Gerichte standhält, wenn die gerügte Rechtsprechung in einem solchen Falle von der preußischen Regierung unterstützt wird, das ist eine andere Frage. (Sehr richtig! links.) Wenn die durch und durch verkehrte, bereits dem vollständigen Bankrott entgegengehende Polenpolitik der preußischen Regierung noch weiter getrieben werden sollte, und wenn sie zur Uberzeugung kommen sollte, daß sie mit allen Mitteln, die sie bisher gegen die Polen angewendet hat, um zu ihrem Ziele zu kommen, nicht zum Ziele kommen kann, wird sie zum Äußersten schreiten und werden der Stimmung der herrschenden Kreise sich auch die Richter nicht entziehen können. Alsdann aber haben Sie keine Garantie, daß auch der höchste preußische Gerichtshof nicht in dem Sinne entscheidet, wie jetzt die unterste Instanz entschieden hat. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Auch der Abgeordnete Bachem als Referent der Kommission äußerte bei der Besprechung unseres Antrags zum § 1666: es sei allerdings der § 1666 nicht vor Mißbrauch geschützt, wenn Richter ihn handhabten, deren Blick nicht ganz ungetrübt sei, deren Blick nicht die alleinige Aufgabe des Richters unverrückt im Auge behält. Aber jeder Paragraph des Gesetzes dürfte dem Mißbrauch ausgesetzt sein. Wir müßten damit rechnen, daß, wenn trotzdem ein einzelner Fall, sei es wegen minder sorgfältiger Behandlung, sei es durch Leidenschaft getrübten Blick zu einem irrigen Urteil führe, dieses Urteil in der höheren Instanz abgeändert werde. Also auch der Berichterstatter der Kommission tröstete sich damals mit den Anschauungen seines Kollegen Gröber: wenn ja die unteren Instanzen einen Fehler machten, wenn die unteren Instanzen dem § 1666 eine falsche, auch von ihm nicht zu billigende Auslegung geben würden, daß alsdann die höhere Instanz den rechten Sinn wiederherstelle. Meine Herren, jetzt hat sich deutlich gezeigt, wohin diese unglückselige Vertrauensseligkeit des Zentrums geführt hat. Wäre das Bürgerliche Gesetzbuch statt 1896 schon 1885/86, als wir noch im Kulturkampf standen, zustande gekommen, Herr Kollege Spahn, dann wäre Ihr und Ihrer Freunde Scharfsinn und Mißtrauen in ganz anderer Weise wach 145
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gewesen als 1886, und wir hätten bessere Bestimmungen im Gesetz. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, es geht Ihnen in dieser Angelegenheit, wie es den Liberalen aus der Konfliktszeit ergangen ist. Solange die Herren Liberalen der sechziger Jahre noch die Erinnerung an die Konfliktszeit mit Bismarck hatten, solange sie noch die Erinnerung hatten, was unter dem Bismarckschen Regiment alles an Gesetzesauslegung und richterlichen Urteilen im klarsten Widerspruch mit den bestehenden Gesetzen zuwege gebracht worden war, waren sie ganz außerordentlich mißtrauisch. Und so viele Mängel unser Strafgesetzbuch haben mag, ich gebe Ihnen mein Wort, wie heute die Dinge sind, wird, wenn wir ein neues Strafgesetzbuch bekommen, es unendlich schlechter, als das alte ist. (Sehr richtig! links.) Wie wir trotz aller Fortschritte in der Kultur in politischen Dingen immer rückständiger und reaktionärer werden (lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten), das muß immer wieder ausgesprochen werden. Bei uns ist eben alles auf dem Rückzug begriffen. „Rückwärts, rückwärts, Don Rodrigo", das ist die Losung auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, daß der Geist, der die Bestimmungen des § 1666 zu dieser eigentümlichen Auslegung gebracht hat, in den höheren Regionen Preußens schon seit geraumen Jahren vorhanden ist, kann nachgewiesen werden. Ich brauche nur daran zu erinnern, daß mein Freund Singer vor etwa zehn Jahren, als ihn die Berliner Gemeindevertretung in ihre Schuldeputation wählte [662] , nicht eintreten durfte, weil der Justizminister 4 erklärte, daß ein Sozialdemokrat nicht die nötige sittliche Qualifikation dazu habe. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Und aus ähnlichen Gründen durfte mein Parteigenosse Dr. Arons, der an der Berliner Universität als Privatdozent über Physik dozierte, also über etwas, was mit Sozialdemokratie auch nicht das Allerentfernteste zu tun hat, nicht mehr Privatdozent bleiben. Auch er hatte als Sozialdemokrat nicht die nötige sittliche Qualifikation, um die Stellung eines Privatdozenten ausfüllen zu können. Und wieder in diesem Jahre hat der gegenwärtige Kultusminister Herr v. Studt es fertig gebracht, einem Turnlehrer die Anstellung zu verweigern, weil er als Sozialdemokrat nicht die nötige sittliche Qualifikation dazu habe. (Hört! hört! links.) Das ist derselbe Herr v. Studt, der den Seminaristen verbietet, die Werke eines Sudermann oder Gerhart Hauptmann 5 zu lesen, weil das ihre Sittlichkeit in Gefahr bringe. (Hört! hört! und Heiterkeit links.) Herr v. Studt verbietet den Seminaristen zu lesen, was draußen im Volke Hunderttausende auf den Bühnen des Reiches zu sehen bekommen. Und war Gerhart Hauptmann 4 5
Karl Heinrich Schönstedt. Siehe hierzu Nr. 2 in Band 3 und Nr. 232 in Band 9 dieser Ausgabe.
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nicht auch wiederholt einer der Tischgäste des Fürsten v. B ü l o w ? Dessen Werke erklärt also der Kollege des Herrn Reichskanzlers für sittlich bedenklich (Heiterkeit), u n d sie dürfen deshalb in einem preußischen Seminar nicht gelesen werden. H e r r v. Studt w i r d annehmen, daß der Reichskanzler vor diesen sittlichen Gefahren, die ihm die Gegenwart Gerhart Hauptmanns an seinem Tisch verursachen könnte, sich zu schützen in der Lage sei. (Heiterkeit.) Das ist derselbe Geist, der jetzt durch preußische Gerichte in der Auslegung des § 1666 z u m A u s d r u c k kommt. Es ist ein tieftrauriges Zeichen unserer öffentlichen Meinung, daß alle die von mir hier angeführten Dinge und namentlich die wunderbaren M a ß n a h m e n des Herrn v. Studt in der bürgerlichen Presse Deutschlands fast vollständig unbeachtet geblieben sind, daß nirgends ein Schrei der Empörung, w i e sie es verdient hätten, laut geworden ist; daß ein deutscher Kultusminister solche Dinge ohne öffentlichen Protest dekretieren kann. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Aber w i r stehen auf diesem Gebiete heute weit hinter dem ersten Viertel des 19. Jahrhunderts zurück. M a n braucht sich deshalb auch nicht zu wundern, daß Herr v. Studt auf die Depesche unserer Kollegen v. Grabski und Graf Mielzyñski, in der sie sich über die Behandlung der polnischen Schulkinder beschwerten, antwortete: Die A u f h e b u n g der Arreststrafen gegen Schulkinder, welche die bestehende Schulordnung verletzen, lehne ich ab. Kulturwidrig ist die Hetzarbeit, welche die Väter der Schulkinder dazu veranlaßt, letzteren den Ungehorsam gegen A n o r d n u n g e n der Schulbehörde zur Pflicht zu machen. Diese Anordnungen w e r d e n mit allen gesetzlich zulässigen Mitteln durchgeführt werden. [ 6 6 3 ] M e i n e Herren, ich erkläre Ihnen offen, ich habe den polnischen Schulkinderb o y k o t t geradezu bewundert. Das ist eine großartige Agitation. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Ich wünschte, w i r wären in Deutschland so weit, daß w i r in derselben Richtung tätig sein könnten, um mit Erfolg dafür einzutreten, daß Schule u n d Kirche getrennt werden. Die Herren Polen ziehen jetzt die Trennung von Schule und Kirche als eine der Maßnahmen in Betracht, w e n n der andere Weg, den der Herr Interpellant 6 vorgeschlagen hat, für die preußische Regierung nicht gangbar sein solle. Ich sage Ihnen, w e n n Sie diese Maßregel ergreifen würden, w ä r e das in hohem Grade ein Mittel, in den östlichen Provinzen bis zu einem gewissen Grade - es k o m m t noch vieles andere in Betracht - Frieden zu stiften, und es w ä r e ein Mittel für die Förderung unserer Kultur. Wenn als Folge der jetzigen Kämpfe sich die Trennung von Schule u n d Kirche - und von Kirche u n d Staat, wie ich hinzusetzen will - nicht auf die polnische Bevölkerung beschränkte, w i e ich das für möglich erachte, sondern auf den ganzen preußi6
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sehen Staat ausgedehnt würde, so würde ich dies als ein großes kulturförderndes Resultat ansehen. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, daß Sie mit der Verfolgungspolitik nichts erreichen, das sollten Sie doch allmählich begriffen haben. Das Deutsche Reich besteht jetzt 35 Jahre, und schon an der Wiege des Deutschen Reiches hat die Verfolgung großer Parteien eingesetzt. Die erste Partei, die verfolgt wurde, war das Zentrum. Man hat alle möglichen Maßregeln gegen das Zentrum ergriffen. Es sind jetzt über 34 Jahre - ich habe bei jener Gelegenheit auch einmal die Klinge mit unserem verehrten Herrn Präsidenten 7 gekreuzt - , als das Jesuitengesetz auf der Tagesordnung stand.8 Ich habe damals der Regierung gesagt: das Gesetz nützt euch nichts, es ist der falsche Weg, der bringt euch nicht zum Ziele; statt die Partei zu schwächen, macht ihr sie stark. Und die Antwort hatten bereits die Wahlen von 1874 gegeben. Ich habe damals bereits erklärt: wollt ihr euch mit der Kirche auseinandersetzen, dann ist das einzige Mittel: verweist die Kirche auf ihren eigensten Boden, laßt sie Privatangelegenheit der Staatsbürger sein, laßt sie Angelegenheit der Gläubigen, der Religionsgenossen sein! Haben diese die nötige Begeisterung und Uberzeugung für ihren Glauben, so werden sie auch die Opfer bringen, die nötig sind, um die Kirche in ihrem Glanz und in ihrer Größe zu erhalten; haben sie diese Begeisterung und diesen Glauben nicht, dann sollt ihr sie nicht zwangsweise dazu anhalten. Der Staat soll mit der Kirche nichts gemein haben, da beide auf ganz verschiedenen Standpunkten stehen und stehen müssen. Man muß sie also beide von einander trennen. Wenn ihr diese Politik verfolgt und zugleich mit einer im wahrhaft kulturellen Sinne gehandhabten Schulpolitik einsetzt, dann könnt ihr großartige Früchte aus diesem Kampfe ziehen. Das hat man nicht getan, wie das von Seiten der heutigen Machthaber selbstverständlich ist. Man ist weiter gegangen und hat auch die Verfolgung gegen andere Parteien aufgenommen. Man ging gegen uns Sozialdemokraten vor, natürlich aus politischen Gründen. Aber damit, meine Herren, hat man auch elend Schiffbruch gelitten. Weiter ist man, nachdem eine geraume Zeit ein anderer Wind wehte, gegen die Polen vorgegangen, und das Ende vom Liede ist, daß die Polen, wie der Herr Reichskanzler klagt, stärker sind denn je zuvor, daß sie sich kaninchenartig vermehren'14111 (Heiterkeit), d.h. eine Vermehrung ihrer Bevölkerung herbeiführen, wie kein anderer Teil Deutschlands. Sie sind nahezu 4 Millionen Köpfe stark geworden nach der letzten Volkszählung, die wir im Reiche hatten. Es ist gar nicht zu bestreiten, die Polenpolitik der preußischen Regierung hat nach jeder Richtung hin bankrott gemacht (Sehr richtig! bei den 7 Udo Graf zu Stolberg-Wernigerode. 8 Siehe hierzu Nr. 31 in Band 1 dieser Ausgabe. 148
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Polen und den Sozialdemokraten.) Könnte ich auch noch die Polenpolitik, wie sie von Seiten Preußens durch die bekannte Landpolitik getrieben wird, hier in den Kreis der Erörterungen ziehen, so wäre es mit ein leichtes, klärlich nachzuweisen, daß alle auf diesem Gebiet getroffenen Maßregeln genau das Gegenteil von dem erreichten, was sie erreichen sollten, daß man diejenigen, die man schwächen wollte, stärkte und diejenigen, die man stärken wollte, schwächte. (Sehr richtig! bei den Polen und den Sozialdemokraten.) Meine Herren, man sollte freilich von einem deutschen Staatsmanne annehmen, daß, wenn er solche politischen Maßregeln ergreift und dafür die Maschinerie der Gesetzgebung des Staats tätig sein läßt, und wenn dann dieser Staatsmann sich im Erfolg aller seiner Maßregeln getäuscht sieht, er dann auch so aufrichtig sei, zu sagen: Wir haben uns geirrt; es war eine falsche Politik, wir heben diese Politik auf. Statt dessen erklärt Fürst Bülow entschieden - er hat schon einmal von seiner Rhinozeroshaut gesprochen, die er sich zeitweilig zulege; ich will den Vergleich im vorliegenden Falle nicht weiter führen (Heiterkeit) - , es bleibt aber beim alten, ja, wir gehen noch schärfer vor. Meine Herren, die Polenpolitik des Fürsten Bülow ist diejenige eines Mannes, der um jeden Preis mit dem Kopf durch die Wand will und sich dabei den Hirnschädel gründlich zertrümmert. (Sehr richtig! links.) Das ist das Resultat der Polenpolitik, das der Herr Reichskanzler bis jetzt erreicht hat. (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Heute war mir, meine Herren, besonders interessant, die Herren v. Normann und v. Tiedemann zu hören. Sie, die Vertreter der rechts stehenden Parteien in diesem Hause, sind bekanntlich in dem Kampfe mit dem Polentum die Rufer im Streite. Sie sind es, die in erster Linie alle Maßnahmen der Regierung nicht nur gutheißen, sondern sie gefordert und gefördert haben, und die, wie wir heute wieder gehört haben, der Meinung sind, daß, koste es, was es wolle, auf dem betretenen Wege weitergegangen werden müsse, insbesondere auch in der Frage des polnischen Religionsunterrichts. Meine Herren, da ist es immerhin interessant, was z.B. das „Deutsche Adelsblatt", das doch Vertreter der Interessen der genannten Herren ist, in dieser Angelegenheit sagt. Es sind allerdings ein paar Jahre her; es war anläßlich des Wreschener Schulstreiks 9 , der aus ähnlichen Ursachen^6641 wie die vorliegende Frage entstand, als das „Deutsche Adelsblatt" schrieb: Von unserer heutigen liberalen Presse ist freilich nichts anderes zu erwarten als die vollständige Verständnislosigkeit in allen mit der christlichen Glaubensüber9 Bei Bebel: Schulstreit.
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Zeugung zusammenhängenden Dingen und die härteste Unduldsamkeit in bezug auf die Glaubensvorstellungen eines naiven und dazu uns fremden Volksstammes. Wir unsererseits können nur sagen: wohl den Polen und allen Deutschen, die noch glauben, daß der Herr in ihrer Sprache noch zu ihnen redet; denn die so glauben, die verkehren noch mit ihrem Herrn und Heiland persönlich, und er redet sie an in allen Sprachen, und er redet sicher auch polnisch zu den Polen, wie er deutsch mit den Deutschen spricht.'6651 (Hört! hört!) Meine Herren, das ist das schärfste Desaveu, das das „Deutsche Adelsblatt" der Politik der Konservativen, der Adelspartei des preußischen Abgeordentenhauses, ausstellen konnte. (Sehr richtig! links.) Und lassen Sie sich von mir sagen: von Ihrem eigenen Standpunkte aus müßten Sie, meine Herren, von der Rechten bei der außerordentlichen Wichtigkeit, die Sie gerade dem Religionsunterricht zuweisen, der nach Ihnen die eigentliche Grundlage der Schule, die Grundlage für das Leben bilden soll, ja, der nach Ihrer Auffassung eine der vornehmsten Grundlagen des Staates bildet - denn ohne Religion kann nach Ihrer Meinung der Staat gar nicht bestehen - , ich sage: nach dieser Ihrer ganzen Auffassung von dem Wesen der Religion müßten Sie in allererster Linie, wenn Sie eben nicht total verbohrt wären (große Heiterkeit bei den Sozialdemokraten), logischerweise dazu kommen, zu verlangen, daß, um den Religionsunterricht recht wirksam zu machen, er nur in der Muttersprache der Kinder gelehrt werden dürfe. (Sehr wahr! und lebhafte Zustimmung bei den Polen und Sozialdemokraten. Sehr richtig! rechts.) - Was sind Sie denn, Herr Kollege? Konservativer? Ja? (Zuruf rechts.) - Sie haben heute keine Stellung genommen, wollen Sie sagen. (Glocke des Präsidenten.) Vizepräsident Dr. Graf zu Stolberg-Wernigerode: Ich bitte, den Herrn Redner nicht zu unterbrechen. Abgeordneter Bebel: Ich weiß nicht, ob Sie zum preußischen Abgeordnetenhaus gehören, Herr Kollege. (Zuruf.) - Ja, die Nichtpreußen denken immer etwas vernünftiger als die Preußen. (Heiterkeit.) Doch das machen Sie mit Ihren Herren Parteigenossen ab! Ich rede hier über Ihre Parteigenossen im preußischen Abgeordnetenhaus. Diese aber haben die Auffassung, daß die Stellung der preußischen Regierung, welche verlangt, daß der Religionsunterricht der polnischen Kinder nur in deutscher Sprache zu erteilen sei, also nicht in ihrer Muttersprache, die richtige sei. Vom Standpunkt der Konservativen, von dem aus die Bedeutung der Religion nicht hoch genug geschätzt werden kann, ist es aber der allergrößte Fehler, es mit der preußischen Regierung zu halten. Denn wenn die Religion wirklich bei den Kindern wirksam sein soll, kann sie es nur in der Muttersprache sein. (Sehr richtig! bei den Polen.) In einem unterscheiden wir uns von den Herren Polen und den Zentrumsleuten. Meine Herren, wir gehen weiter 150
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als Sie. Nach unserer Meinung ist der Religionsunterricht nicht der wichtigste Teil des Unterrichts und ist die Schule heute zum größten Teil eine höchst unvollkommene Einrichtung. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten und den Polen.) Nach unserer Ansicht muß die Schule in kultureller Beziehung viel mehr leisten, als sie tatsächlich leistet, und nicht allein der Religionsunterricht, sondern der gesamte Unterricht müßte den Kindern in der Sprache gelehrt werden, die sie von Mutterleib aus verstehen (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten und den Polen), damit sie alle Aufgaben in der richtigen Weise zu erfassen vermögen. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten und den Polen.) So steht die Sache. Wir sind ferner der Meinung, daß Sie, die Polen, die Sie als Preußen, als Deutsche in diesem Staatswesen leben und in den engsten Kulturbeziehungen mit diesem Staat und seiner deutschen Bevölkerung stehen, auch das größte Interesse haben, daß Ihren Kindern außer der eigenen Muttersprache auch die deutsche Sprache gelehrt wird. (Sehr richtig! bei den Polen.) Es würde alsdann zwar die deutsche Sprache obligatorischer Gegenstand des Unterrichts der Polenkinder sein, aber im übrigen der Unterricht in der polnischen Sprache erteilt werden, weil derselbe einzig und allein den Unterricht in vollstem Maße zur Geltung kommen läßt. (Sehr richtig! bei den Polen und Sozialdemokraten.) Meine Herren, man muß sich immer wieder wundern, daß so ganz selbstverständliche Sätze, Sätze, die unsere Vorfahren schon vor drei Vierteljahrhunderten als eine nicht zu bestreitende Tatsache angesehen haben, heute nicht bloß von den sogenannten Edelsten und Besten der Nation, sondern auch von dem Deutschen Reichstage, wie ich fürchte, in seiner Mehrheit als berechtigt bestritten werden. Ich habe vor mir einen Erlaß des preußischen Kultusministers v. Altenstein, und nun bitte ich Sie, einmal anhören zu wollen, was dieser Mann bereits im Jahre 1822, also vor mehr als 80 Jahren, über den Unterricht in der Muttersprache - in diesem Falle handelt es sich auch um die polnische Sprache - gesagt hat: Was die Ausbreitung der deutschen Sprache betrifft, so kommt es hierbei zunächst darauf an, daß man sich selber klar mache, was man in dieser Hinsicht eigentlich wolle, nämlich ob nur auf ein allgemeines Verstehen der deutschen Sprache unter den polnischen Einwohnern dortiger Provinz hingewirkt werden soll, oder ob man die Absicht habe, die ganze Nation zwar allmählich und unmerklich, aber nichtsdestoweniger so vollständig wie möglich zu germanisieren. Nach dem Urteile des Ministerii ist nur das erstere notwendig, ratsam und ausführbar. Denn um vollkommen gute Untertanen sein und an den Vorteilen der Staatseinrichtungen teilnehmen zu können, ist es zwar für die Polen wün151
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sehenswert und nötig, daß sie die Landes- und Regierungssprache verstehen und sich in ihr verständlich zu machen wissen, es ist aber nicht nötig, daß sie deswegen ihre Stammsprache aufgeben müssen. (Hört! hört! bei den Polen und Sozialdemokraten.) Die Bildung - fährt der Minister an einer anderen Stelle fort - eines Individuums und einer Nation kann nur vermittels der Muttersprache bewerkstelligt werden. (Hört! hört!) Nur in derjenigen Sprache, in welcher der Mensch denkt, ist auch seine Anschauungs- und Begriffsweise und folglich das eigentümlichste und lebendigste Element seiner Bildung begründet. Er kann in fremden Sprachen viel erlernt und gesammelt haben; was er aber wirklich weiß und versteht, das weiß und versteht er nur in der Muttersprache. (Hört! hört!) Ihm diese und somit seine ganze Vorstellungsweise nehmen und statt deren ihm eine andere fremde künstlich beibringen zu wollen, würde ein ganz verkehrter Weg der Bildung beim Individuo sein, geschweige bei einer ganzen Nation, selbst wenn diese nicht eine so reiche, eigentümlich ausgebildete und grammatisch vollendete Sprache besäße, als bekanntlich die polnische ist.f'66] (Sehr richtig! und Hört! hört! bei den Polen und Sozialdemokraten.) Meine Herren, das ist der Standpunkt, wie er sich für einen preußischen Minister, für den Minister eines Kulturstaates ziemte. Wenn ich nun gefragt würde: wer ist nach deiner Ansicht mehr Kulturmensch und mehr Vertreter der modernen Zeit, der vor 80 Jahren lebende v. Altenstein oder der neuerdings mit dem Schwarzen Adlerorden dekorierte Herr v. Studt? - dann würde ich ohne Bedenken sagen: wenn die Dinge sich in natürlicher Entwicklung vollzogen hätten, dann gehörte Herr v. Studt in das Jahr 1822 und Herr v. Altenstein in das Jahr 1906. (Große Heiterkeit und Sehr richtig!) Das wäre das Korrekte. Aber wir haben in diesem Punkte wie in allen anderen Rückschritten und nur Rückschritte gemacht, nicht anderes. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Einer der Herren Interpellanten - ich glaube, es war der Herr Abgeordnete v. Jazdzewski - hat auf eine Schulverordnung des reaktionären Herrn v. Mühler Bezug genommen. Meine Herren, was Herr v. Mühler im Jahre 1860 in bezug auf die Schul- und Sprachenpflege in der Schule gesagt hat1'67!, steht turmhoch über dem Herrn v. Studt von 1906. Und nun ersuche ich einmal die Herren Liberalen, die älteren Herren in diesem Hause, sich zu erinnern, ob sie nicht in den sechziger Jahren Herrn v. Mühler als den reaktionärsten, als den schwärzesten Menschen in der Presse und in den Parlamenten hingestellt haben, den es überhaupt geben kann. Aber, meine Herren, Herr v. Mühler war ein Fortschrittsmann gegen Herrn v. Studt, und mit diesem letzteren haben die Nationalliberalen das famose Schulgesetz gemacht, das der preußische Landtag in der letzten Session angenommen hat. So kommen die Herren Nationalliberalen 152
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immer wieder mit sich selbst in Widerspruch. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, noch einige Ausführungen, die namentlich der Herr Abgeordnete Büsing sich ad notam nehmen möge. Ich habe bereits auf den krassen Widerspruch hingewiesen, in dem die Liberalen von ehemals zu denen von heute stehen. Die Älteren von uns - ich könnte sagen: die Alten, zu denen der Herr Abgeordnete Büsing wie ich gehört - wir haben in den sechziger Jahren in der damaligen politischen Bewegung mit aller uns zu Gebote stehenden Energie die öffentliche Meinung zu begeistern gesucht für die Rückgewinnung von Schleswig-Holstein. 10 Und was uns am meisten in diesem Kampfe begeistert hat, das waren die infamen Versuche der dänischen Regierung, den deutschen Einwohnern Schleswig-Holsteins ihre Muttersprache zu nehmen.11 (Sehr richtig! und Hört! hört!) Das war ein Hauptpunkt der Agitation, das war, was die Massen in ganz Deutschland am meisten erregte, was sie in Flammen setzte für die Rückgewinnung Schleswig-Holsteins. Und so wenig wir mit der Politik des damaligen Herrn v. Bismarck in bezug auf Schleswig-Holstein einverstanden waren das preußische Abgeordnetenhaus hat dies ja deutlich dokumentiert, indem es die Mittel zum Krieg mit Dänemark verweigerte - , so war doch jeder innerlich froh, als Schleswig-Holstein für Deutschland zurückgewonnen war, weil eben durch die Dänisierungspolitik die Bevölkerung auf das äußerste erregt war. Als weiter vor einer Reihe von Jahren in den russischen Ostseeprovinzen die Russifizierungsversuche gegen die dortigen Deutschen gemacht wurden, wie hat die nationalliberale Presse getobt! Als ferner ähnliche Versuche in Ungarn gemacht wurden, wie hat wieder namentlich die nationalliberale Presse dagegen Protest erhoben. Ich kann mich auch gewisser deutscher Schriftsteller sehr gut erinnern, die damals die Zustände in dem von den Oesterreichern regierten Venedig und der Lombardei aufs schwärzeste schilderten, wie der Druck des Deutschösterreichertums auf den Italienern laste und dieser beseitigt werden müßte. Damals waren, mit Ausnahme von Norditalien, überall Deutsche in Frage, die unterdrückt wurden; aber jetzt, wo wir dieselbe Gewaltpolitik, die damals fremde Staaten Deutschen gegenüber ausübten, selbst einer andern Nation gegenüber ausüben - ja, Bauer, das ist etwas anderes! (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Jetzt lautet das Urteil ganz entgegengesetzt; nun haben wir keinen Grund, uns darüber aufzuregen, im Gegenteil, je schärfer gegen die Polen vorgegangen wird, um so besser. (Sehr wahr! links.)
10 Siehe hierzu S. 106 ff. in Band 6 (Aus meinem Leben) dieser Ausgabe. 11 Siehe hierzu Nr. 117 in Band 5 dieser Ausgabe. 153
54 Preußische Polenpolitik W i r haben dann im Jahre 1870/71 Elsaß-Lothringen wiedererobert. 1 2 Ich gehörte damals zu denen, und, ich glaube, auch viele unter Ihnen, die, als sie zum erstenmal nach dem Elsaß kamen - mich führte zu jener Zeit mein Geschäft häufig dorthin - , nicht wenig überrascht waren, daß nach 200-jähriger Zugehörigkeit zu Frankreich das elsässische Volk noch deutsch sprach. U n d obgleich man deutsch sprach, hat das elsässische Volk mit einer begeisterten Liebe an Frankreich gehangen. Wie war denn das möglich? Meine Herren, das war nur möglich, weil die Eigenart der deutschen Bevölkerung in Elsaß-Lothringen allezeit von französischer Seite geschont wurde (Sehr richtig! bei den Elsässern), weil man ihnen niemals wegen ihrer Muttersprache zu nahe getreten ist. Das Elsaß hat seit Mitte des 17. Jahrhunderts, w o es in französische Hände überging, sieben verschiedene Regierungssysteme unter der französischen Herrschaft durchgemacht: die Herrschaft der B o u r b o n e n bis zur großen Revolution, die Herrschaft der ersten Republik, das erste Kaiserreich, die Wiederkehr der B o u r bonen, das Julikönigtum, wieder die Republik, das zweite Kaiserreich. Erst das zweite Kaiserreich machte den Versuch, die französische Sprache mehr und mehr in Elsaß-Lothringen zur Geltung zu bringen. Aber dieser Versuch fand schon um deswillen keinen Widerspruch, weil infolge der mehr als 200-jährigen Zugehörigkeit zu Frankreich ein großer Teil der Elsässer bereits fanzösisch sprach, weil Frankreich den Elsässern die großen Kulturerrungenschaften der ersten französischen Revolution gebracht hatte, weil mit einem W o r t die Geschichte des Elsaß mit der Geschichte Frankreichs seit zwei Jahrhunderten aufs engste verknüpft war, Elsaß' und Frankreichs Männer unter der Republik und dem ersten Kaiserreich Seite an Seite auf allen Schlachtfeldern in ganz Europa gefochten und geblutet hatten. Das war die größte Zeit, die das elsässische Volk nach seiner Meinung durchgemacht hatte, und die hat ihm jene Begeisterung für Frankreich eingegeben, die noch heute bis zu einem gewissen Grade nachwirkt, weil im Elsaß wie überall, w o das Preußentum regiert, die Preußen die schlechtesten Zivilisatoren und Germanisatoren sind (lebhaftes Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten und den Elsässern), die immer nur mit brutalen Mitteln anders k ö n n e n sie nicht arbeiten - tätig sind. (Sehr richtig! auf verschiedenen Seiten.) Es kann nicht scharf genug ausgesprochen werden, daß einem Volke neben den physischen und psychischen Imponderabilien, die jede N a t i o n in sich trägt, die sie nicht überwinden kann, die Muttersprache das Allerwichtigste seiner Existenz ist; das läßt sich gar nicht bestreiten, und deshalb muß man die Muttersprache ihm ungeschmälert lassen. Sehen Sie einmal die kleine Schweiz an. In der Schweiz haben wir 3 Sprachgruppen, die deutsche, französische und
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Siehe hierzu Nr. 19 in Band 1 dieser Ausgabe.
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italienische. Im Berner Nationalrat sind alle diese 3 Sprachgruppen vertreten, jeder Vertreter dieser 3 Sprachgruppen redet in seiner Muttersprache, die Ubersetzer bringen alsdann, wie auf internationalen Kongressen, jede Rede in den beiden anderen Sprachen zum Ausdruck. In Bern macht man die Gesetze für das ganze Land und jeder Kanton in seiner Muttersprache für sich. Sie hören dort nichts von Feindseligkeiten, von Rivalitäten; jede Nation, wenn ich so sagen darf, innerhalb des Schweizerlandes hat ihre eigene Schulverfassung und auch im übrigen ihre eigene Landesverfassung, jede ist frei und unabhängig von den anderen; sie leben als Gleiche, und die Harmonie ist die vollendetste. Sind wir wirklich das große Kulturvolk, das Kulturvolk ersten Ranges, als das Sie fortgesetzt Deutschland hinstellen, so wäre es doch eine Schande für dieses Deutschland, wenn es nicht verstände, eine gleiche Parität den einzelnen Nationen, die einmal unserem Staatswesen angegliedert worden sind, zu gewähren. (Sehr wahr! Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Es beweist nur eine große Schwäche, ja Feigheit, wenn man nicht den Mut findet, der fremden Nationalität, die wider ihren Willen durch das Recht der Eroberung zu uns gebracht worden ist, die einfachsten Menschenrechte einzuräumen. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten und Polen.) Meine Herren, ich kann leider - die Versuchung läge sehr nahe - auf die sonstige Polenpolitik, die von der preußischen Regierung gehandhabt wird, hier nicht näher eingehen. Aber was für verkehrte Mittel werden vorgeschlagen, um Ersatz zu haben. D a schlägt man die allgemeine Expropriation des Grundeigentums der Polen vor, die im klarsten Widerspruch mit der Reichsverfassung steht. In der „Kreuzzeitung" wurde vor einigen Tagen wieder der Vorschlag gemacht, man soll eine Zwangsauswanderung der Polen organisieren, man solle von Staats wegen diese Auswanderung in ein Land betreiben, das sehr wohl einige H u n derttausend, sogar einige Millionen Menschen gebrauchen könnte, nämlich Kanada. (Hört! hört! links.) Ich habe schon vor ein paar Tagen gesagt, wir brauchen noch Menschen, denn wir haben nicht zu viel. 13 Wir holen sie aus dem Ausland sogar heran, wir haben an den Polen, die wir im Inlande haben, noch nicht genug. Wir holen die russischen Polen, die Galizier, die Tschechen, die Italiener und neuerdings sogar die Kulis, die die Herren drüben rechts so nötig haben. Das beweist, daß wir nicht an Menschenüberfluß, sondern an Menschenmangel leiden. Aber mir beweist der neue Vorschlag, den die „Kreuzzeitung" gemacht hat, nur, daß man sogar in diesen Kreisen, in denen man in bezug auf die Annahme von Lehren ganz besonders hart und dickköpfig ist (Heiterkeit), begreift, daß es auf dem 13 Siehe hierzu Nr. 53.
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bisherigen Wege nicht weiter geht, daß er auf keinen Fall zum Siege führt. Glauben Sie auf dem bisherigen Wege weiter gehen zu müssen, so führt dieser Weg zu Ihrem Verderben; wollen Sie aber dementsprechend, was Sie zu sein vorgeben, Kulturmenschen sein, die Kultur fördern, so müssen Sie die Axt an diese Polenpolitik legen und dieselbe in den Orkus schleudern. (Lebhafter Beifall von den Sozialdemokraten und Polen.) Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, 11. Legislaturperiode, II. Session 1905/1906, Fünfter Band, Berlin 1906, S. 4173-4179.
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55 Die Welt soll erfahren, wie es in diesem Wahlkampf zugegangen ist Rede im Deutschen Reichstag zum Haushaltsetat für 1907 '668' 26. Februar 1907
Meine Herren, bevor ich auf das eigentliche Thema unserer Verhandlungen eingehe, bin ich genötigt, auf die Ausführungen zurückzugreifen, die gestern der Herr Reichskanzler 1 und der Herr Abgeordnete Bassermann gegen meine Partei und das Zentrum gerichtet haben. Nach den Äußerungen dieser beiden Herren erscheint es als das höchste politische Verbrechen, das denkbar ist, wenn ein Mann einer bürgerlichen Partei einem sozialdemokratischen Kandidaten seine Stimme gibt. (Sehr richtig! rechts. Lachen bei den Sozialdemokraten.) In ganz besonderem Maße galt es in den Augen des Reichskanzlers als Verbrechen des Zentrums, daß dieses in einer Reihe von Wahlkreisen durch die Unterstützung, die es dem sozialdemokratischen Kandidaten zuteil werden ließ, diesem zum Siege verhalf.t6691 (Sehr richtig! rechts.) Meine Herren, es ist vielleicht nicht überflüssig, daran zu erinnern, daß in der Zeit der stärksten Hitze des Sozialistengesetzes im Jahre 1884, als es sich in Frankfurt a.M. um eine engere Wahl zwischen dem Kandidaten der demokratischen Partei, Herrn Sonnemann, und dem Kandidaten meiner Partei, Herrn Sabor, handelte und von dort aus an den Fürsten Bismarck die Anfrage gerichtet wurde, wen denn wohl die Nationalliberalen und Konservativen wählen sollten, nach Frankfurt die Order telegraphisch kam: „Fürst wünscht Sabor" (stürmisches Hört! hört! rechts), - d.h. den Sozialdemokraten. Meine Herren, in dieser Beziehung wird der Herr Reichskanzler, der heute regiert, niemals dem Fürsten Bismarck nahe kommen. Bei allem Haß und aller Feindschaft, die Fürst Bismarck gegen die Sozialdemokratie hegte, war er doch immer so objektiv, daß erdie Stellung, die die Sozialdemokratie in diesem Reichstag in bezug auf ihre Tätigkeit einnahm, allezeit anerkannte. (Ah! und Lachen bei den Nationalliberalen.) - Meine Herren, ich werde Ihnen später die Beweise bringen. Ich werde keinen Satz aussprechen, den ich nicht beweisen kann. 1 Bernhard von Bülow. 157
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Die Welt soll erfahren, wie es in diesem Wahlkampf zugegangen ist
(Stürmische Heiterkeit rechts und links.) Und nicht allein (Glocke des Präsidenten.) Präsident2: Meine Herren, ich bitte, hier etwas Platz um die Tribüne zu machen. Die Herren hinten können nicht hören. Bitte, meine Herren, etwas mehr zurückzutreten. Abgeordneter Bebel: Ganz anders, meine Herren, ist die Stellung des heutigen Reichskanzlers. Wenn der Herr Reichskanzler auf die Sozialdemokratie zu sprechen kommt, wird er im höchsten Grade nervös, dann gerät er in eine Aufregung, daß es ihm vollständig unmöglich ist, auch nur einen objektiven Gedanken über die Sozialdemokratie auszusprechen (Ach! rechts und links - Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten); er tut, als wenn die Sozialdemokratie sein persönlicher Feind sei. Nun haben wir gar nichts dagegen, wenn der Fürst Bülow uns haßt. Aber, meine Herren, von einem Staatsmann verlange ich denn doch in erster Linie, daß er wenigstens den Schein der Objektivität wahrt und so tut, wie wenn er, der regierende Mann, wenigstens über den Parteien stehe. Das hat nun freilich der Fürst Bülow in diesem Wahlkampf nach keiner Richtung hin gezeigt. Er ist vom ersten Tage der Auflösung des letzten Reichstags[670] ab gegen uns als Partei aufgetreten und hat als Staatsmann das Signal zu einem Wahlkampf gegeben, wie ihn Deutschland in ähnlicher Weise noch nicht erlebt hat. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Darüber uns mit ihm zu unterhalten und auszusprechen, wird eine Gelegenheit sich bieten. Sie haben gehört, daß wir heute bereits eine Interpellation einbrachten, die darauf hinausgeht, daß der Wahlkampf, wie er sich zugetragen hat, mit all den offiziellen Einmischungen, die vom Reichskanzler bis zum letzten Polizeidiener vorgekommen sind, hier imReichstage erörtert wird in seinem vollen Umfange. Wir müssen wünschen, daß die Welt erfahre — (Hu! hu! bei den Nationalliberalen.) Die Welt soll erfahren, wie es in diesem Wahlkampfe zugegangen ist. Besonders sittlich entrüstet hat sich gestern der Abgeordnete Bassermann ausgesprochen. Meine Herren, wenn ich einen Nationalliberalen höre, der politisch sittlich entrüstet ist, kommt mir immer ein Lächeln an. (Heiterkeit. Oh! oh! bei den Nationalliberalen.) Meine Herren, ganz besonders in bezug auf die Frage, welche Stellung die nationalliberale Partei bisher zur Sozialdemokratie einnahm. Weiß denn Herr Bassermann gar nicht, daß im Jahre 1905 für die badischen Landtagswahlen (lebhaftes Sehr richtig! in der Mitte) zwischen der sozialdemokratischen Parteileitung und der Parteileitung der nationalliberalen Partei offiziell ein Abkommen getroffen wurde, wonach die beiden Parteien sich gegenseitig bei den Landtagswahlen unterstützen?[67'J (Stürmisches Hört! hört! 2
Hermann Paasche.
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S.5 Die Welt soll erfahren, wie es in diesem Wahlkampf zugegangen ist und Sehr richtig! in der Mitte und bei den Sozialdemokraten.) Es ist damals das offizielle A b k o m m e n getroffen worden, daß die nationalliberale Partei meine Parteigenossen in fünf verschiedenen Wahlkreisen gegen die Zentrumspartei unterstützen sollte. ( H ö r t ! hört! in der Mitte.) Dieses A b k o m m e n hat auch insofern ein Resultat gehabt, als unter den fünf Wahlkreisen meine Parteigenossen zwei durch die H i l f e und Unterstützung der nationalliberalen Partei gewonnen haben. (Lebhaftes H ö r t ! hört! in der Mitte und bei den Sozialdemokraten.) Das ist eine Tatsache, die H e r r n Bassermann nicht unbekannt sein kann. O b er damit einverstanden war oder nicht (Aha! bei den Nationalliberalen), das k o m m t doch nicht in Frage; in Frage k o m m t , daß Ihre Partei in Baden so gehandelt hat. (Lebhafte Zustimmung in der Mitte und bei den Sozialdemokraten.) In Frage k o m m t auch, meine Herren, daß damals in der Wahl hohe Staatsbeamte, Reserveoffiziere, Lehrer, Pfarrer, Kriegervereinler usw. für die sozialdemokratischen Kandidaten gestimmt haben. ( H ö r t ! hört! in der Mitte.) D a s muß einmal angenagelt werden. Es ist einfach lachhaft, wenn heute es so hingestellt wird, als hätten Sie einen wahrhaft sittlichen H o r r o r dagegen, einen Sozialdemokraten zu unterstützen. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Selbstverständlich hat dann auch, das war ja der Z w e c k des Geschäfts, meine Partei die nationalliberalen Kandidaten in einer ganzen Reihe von Wahlkreisen gewählt. Dadurch ist verhindert worden, daß das Zentrum im badischen Landtag die Majorität bekam. ( H ö r t ! hört! in der Mitte.) Das war der Z w e c k und die Absicht des damaligen Wahlabkommens. D a n n , meine H e r r e n , sind auch bei der Reichstagswahl solche Verhandlungen geführt worden. Ich kann den Nachweis führen, daß der Leiter der nationalliberalen Partei in Freiburg in Baden, Stadtrat Glockner, zu meinem Parteigenossen Engler, dem Leiter der sozialdemokratischen Partei in Freiburg, gekommen ist und ihm angeboten hat: wenn er es fertig b e k o m m e , daß die Parole meiner Freiburger Parteigenossen, sich in der Stichwahl zwischen Nationalliberalen und Zentrum der Stimme zu enthalten, dahin abgeändert werde, daß die Sozialdemokratie sich bereit erkläre, für den nationalliberalen Kandidaten zu stimmen ( H ö r t ! hört! in der Mitte), würden sie bereit sein, dahin zu wirken, daß die Nationalliberalen in M a i n z und in K ö l n für den Sozialdemokraten stimmten. (Stürmisches H ö r t ! hört! in der Mitte und bei den Sozialdemokraten.) F e r n e r ist, meine Herren, der Rechtsanwalt Kaufmann in Gießen bei meinem Parteigenossen Ulrich in O f f e n b a c h gewesen und hat ihn gebeten, für die nationalliberale Kandidatur Heyligenstaedt gegen den antisemitischen Kandidaten einzutreten ( H ö r t ! hört! bei den Antisemiten), und hat auch erklärt, wenn das geschehe, würden sie ihrerseits zu Gegendiensten in anderen Wahlkreisen bereit sein. (Lebhafte Zurufe: H ö r t ! hört!) 159
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M e i n e Herren, ich war in jener Zeit, zwischen der H a u p t - und der Stichwahl, eine Reihe von Tagen in Frankfurt am Main, und da sind liberale Herren auch an mich herangetreten und haben sich ihrerseits bereit erklärt, daß, wenn ich meine Freunde in Gießen bestimmte, für Heyligenstaedt einzutreten, sie dahin wirken würden, daß wir in Mainz usw. von den Liberalen gegen das Zentrum unterstützt würden. ( H ö r t ! hört! in der Mitte.) D i e Nationalliberalen in Hildesheim haben die politische Moral sogar so gehandhabt, daß, als meine Parteigenossen dort erklärten, sich der Stimme enthalten zu wollen, die Nationalliberalen gefälschte Wahlflugblätter ausgegeben haben, worin im N a m e n der sozialdemokratischen Partei die Wähler der Sozialdemokratie aufgefordert wurden, für den nationalliberalen Kandidaten zu stimmen. (Lebhafte Zurufe: H ö r t ! hört!) E s wird mir weiter gesagt - ich weiß nicht, mit welchem R e c h t e - , daß, als H e r r Bassermann in den Tagen zwischen der Hauptwahl und der Stichwahl in O s n a brück gewesen sei, er bei dieser Gelegenheit den Versuch gemacht habe bei meinen Parteigenossen, sie zu bewegen, nicht für den Zentrumskandidaten, sondern für den früheren nationalliberalen Abgeordneten W a m h o f f zu stimmen. ( H ö r t ! hört! in der Mitte.) O b es wahr ist, weiß ich nicht (Aha! bei den N a t i o nalliberalen) - einer meiner Parteifreunde, der dafür einstehen wird, hat es mir mitgeteilt. A b e r ich möchte doch anführen, was im Jahre 1904, als es sich in jenem Wahlkreise um eine Nachwahl handelte und es auch zu einer engeren Wahl kam, bei der die Sozialdemokratie den Ausschlag gab, das O r g a n der Nationalliberalen, die „ O s n a b r ü c k e r Zeitung", in bezug auf diese Wahl geschrieben hat. D a heißt es: Welchen Wert die Sozialdemokratie als Partei der unabhängigen und unerschrockenen K r i t i k besitzt, darüber ist sich niemand im Zweifel, und was speziell ihre Anregungen auf dem sozialdpolitischen Gebiete betrifft, so müßte derjenige blind sein, der nicht bemerkte, daß sie befruchtend nach mehr wie einer Seite gewirkt habe. ( H ö r t ! hört! bei den Sozialdemokraten.) Das schreibt eine nationalliberale Zeitung, das Organ des H e r r n W a m h o f f ! Weiter heißt es: N o c h auf vielen anderen Gebieten sind die Liberalen in der glücklichen Lage, den Bestrebungen der Sozialdemokraten nicht entgegentreten zu müssen ( H ö r t ! hört! in der Mitte und bei den Sozialdemokraten), und wer die Gelegenheit hat, im Reichstage zuzusehen, wie die Sozialdemokraten sich um Unterstützung ihrer Anträge bei den Liberalen und diese umgekehrt bei den Sozialdemokraten bemühen, zu bemerken, wie höflich und zuvorkommend die Unterhändler beider Parteien miteinander verkehren (lebhafte Heiterkeit), der weiß auch, wie oft sozialdemokratische und liberale Abgeordnete bei der Abstimmung für eine und dieselbe Sache eintreten. ( H ö r t ! hört! und Heiterkeit.) 160
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zugegangen
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Meine Herren, das sind doch wahrhaftig Zeugnisse, die deutlich beweisen, wie die Herren ganz anders über uns denken, sobald sie sozialdemokratische Stimmen bekommen wollen. Ein Nationalliberaler mag keinen Sozialdemokraten leiden, aber seine Stimme nimmt er gern! (Große Heiterkeit.) Und so, meine Herren, bei allen Parteien, von Herrn v. Normann bis zu Herrn Haußmann. 3 In diesem Wahlkampf sind meine Parteigenossen einige Male veranlaßt worden, sogar für konservative Kandidaten einzutreten. (Zurufe rechts.) - Ja, meine Herren, der Vertreter für Jerichow I verdankt der Unterstützung meiner Partei seine Wahl. Ich nehme es meinen Parteigenossen bis zu einem gewissen Grade übel, daß sie das getan haben; aber zurückgewiesen haben Sie die Stimmen nicht. (Zurufe rechts.) - Auch Sie, Herr v. Liebermann, nehmen jede sozialdemokratische Stimme. (Zuruf des Abgeordneten Liebermann v. Sonnenberg: Ich kann es nicht hindern.) - Sie können es natürlich nicht hindern, selbstverständlich wollen Sie es auch nicht. (Heiterkeit. Zurufe rechts. Glocke des Präsidenten.) Präsident: Ich bitte, den Herrn Redner nicht zu unterbrechen. Abgeordneter Bebel: Wir lesen ja in dem Briefwechsel, den der „Bayerische Kurier" veröffentlicht hat, daß ein Agitator für den Flottenverein, Landrichter Stern, sogar die Anschauung vertrat, daß bei den engeren Wahlen es sich darum handle, mit der Sozialdemokratie zu gehen, damit das Zentrum unter allen Umständen unter den Tisch gebracht werde. (Zuruf rechts.) Ob konservativ oder nationalliberal, ist hier gleich. Es muß alles daran gesetzt werden, - sagt dieser Herr - ein weiteres Erstarken des Zentrums in der Stichwahl zu verhindern, um die Sozialdemokratie dahin zu bringen, daß sie bei Stichwahlen, wo das Zentrum gegen andere bürgerliche Parteien steht, stets für diese gegen das Zentrum den Ausschlag gibt. (Hört! hört! in der Mitte.) Jetzt nach den furchtbaren Schlägen, die die Sozialdemokratie bekommen hat, wird sie wohl zu Verhandlungen bereit sein. Besonders muß ihr rechter Flügel gestärkt werden. Es ist daher eine Abmachung dahin geboten, daß die Sozialdemokratie und die nationalliberale Partei einander gegen das Zentrum gegenseitig sich unterstützen.'6721 (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Und Herr Generalmajor Keim, an den dieser Brief gerichtet war, weist das nicht etwa zurück, sondern sagt, in bezug auf das Zentrum teile er ganz und gar die Auffassung des Ratgebers. Meine Herren, solange Stichwahlen im Deutschen Reiche bestehen, wird es notwendigerweise vorkommen, daß selbst Parteien, die sonst einen grundverschiedenen Standpunkt vertreten, unter Umständen ge-
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Siehe hierzu Nr. 70 in Band 8/2 dieser Ausgabe. 161
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zwungen werden, gemeinsame Sache gegen einen politischen Gegner zu machen. (Sehr richtig! auf verschiedenen Seiten.) D e r H e r r Reichskanzler ist gestern im höchsten Grade entrüstet gewesen über die Haltung eines Teils der Zentrumspartei. Er kann nicht verstehen, wie die Zentrumspartei, die nach all und jeder Richtung so grundsätzlich verschiedene Anschauungen und Lebensauffassungen vertritt, mit einer Partei wie die Sozialdemokratie gemeinsame Sache machen könnte. (Sehr richtig! rechts.) Das beweist nur, daß Sie in dieser Frage gerade nicht sehr weitsichtige Herren sind. Ich will mich milde ausdrücken. Meine Herren, wie ist denn diese Sache gekommen? Das Zentrum, die Sozialdemokratie, die Polen und Weifen waren die Gegner des Herrn Reichskanzlers am 13. Dezember. Gegen diese vier Parteien hat er den sogenannten SilvesterbrieP 6731 veröffentlicht. Diese vier Parteien wurden also gewissermaßen wider Willen in die gleiche Schlachtreihe getrieben Es war also ganz naturgemäß, daß, nachdem die Hauptwahl vorbei war - und die Herren vom Zentrum werden zugeben, daß wir ihnen im Wahlkampf nichts geschenkt haben (Sehr richtig! in der Mitte), sie aber auch uns nichts (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten), wir sind aufeinander losgegangen, wie nur zwei Todfeinde aufeinander losgehen können - als aber die engeren Wahlen herankamen, war es doch ganz naturgemäß und selbstverständlich, daß jetzt die Parteien, gegen die sich der ganze Wahlkampf richtete, sich bemühten, zu retten, was zu retten war. Das Zentrum versuchte nunmehr von seinem Standpunkte aus, seine Position im Reichstag nach Möglichkeit zu verstärken, indem es uns teilweise unterstützte, wie auch wir bereit waren, unsererseits einen Teil der Zentrumskandidaten zu unterstützen. Im übrigen haben wir nicht das mindeste miteinander gemein. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten und in der Mitte.) Das Zentrum steht Ihnen, meine Herren auf der Rechten, tausendmal näher als uns. Das beweist die ganze Vergangenheit. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Ich verstehe deshalb nicht die maßlosen Angriffe, die der Herr Reichskanzler gestern gegen das Zentrum gerichtet hat, gegen eine Partei, mit der er während der ganzen Dauer seiner Kanzlerschaft in der freundlichsten Weise verkehrte, und der er alle Erfolge seiner Politik zu verdanken hat. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Das Zentrum hat in den vergangenen Jahren drei Flottenvorlagen' 2 ' und zwei Militärvorlagen bewilligt, es hat den Zolltarif durchgebracht [63] , es hat die Handelsverträge gutgeheißen, es hat alle möglichen neuen Steuervorlagen in H ö h e von mehreren hundert Millionen unterstützt; kurz, meine Herren, es hat so viel getan, daß es mit vollem Recht zu Herrn v. Bülow sagen kann: ich habe für dich so viel getan, daß mir zu tun bald nichts mehr übrig bleibt. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Daher ist mir die Haltung, die er gestern eingenommen hat, 162
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unbegreiflich. Das Zentrum habe mit uns ein Bündnis eingegangen; das Zentrum sei an die Seite der Sozialdemokratie getreten. Auf diese Anklagen mögen die Herren vom Zentrum antworten; ich erkläre: diese Anklagen, meine Herren, sind einfach absurd. (Sehr richtig! in der Mitte und bei den Sozialdemokraten.) Wenn solche Anklagen aus dem Munde eines Staatsmannes ausgesprochen werden, der der erste Mann im Deutschen Reiche ist, so ist das ein starkes Stück; denn es ist kein Funke von Wahrheit an diesen Behauptungen. (Sehr richtig! in der Mitte.) Zentrum und wir haben gar nichts miteinander gemein; wir sind freilich auf sozialpolitischem Gebiete, nachdem unsere eigenen Anträge abgelehnt worden waren, in sehr zahlreichen Fällen gezwungen worden, die Anträge des Zentrums zu unterstützen, um nur etwas zu retten. Aber, meine Herren, wir haben mit allen Parteien bald hier, bald dort zusammengestimmt, und ich kenne sogar Fälle, wo die äußerste Linke und die äußerste Rechte allein zusammengestanden sind (Sehr richtig! in der Mitte und bei den Sozialdemokraten), allerdings nur in der Minorität. Das ergibt sich als etwas ganz Selbstverständliches aus dem parlamentarischen Leben. Das parlamentarische Leben beruht auf Kompromissen, und wenn nun gar ein Parlament wie der Deutsche Reichstag aus einer so großen Zahl von Parteien aller Art zusammengesetzt ist, daß keine einzelne Partei für sich allein oder mit anderen Parteien zusammen dauernd eine Majorität zu bilden imstande ist, da versteht es sich von selbst, daß je nach der Natur der Vorlage, die zur Beratung steht, die kunterbunteste und für die draußen Stehenden oft unverständliche Zusammenstimmung der verschiedenen Parteien zustande kommt. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Das ist eine Erscheinung, die wir im Deutschen Reiche haben, solange es einen Deutschen Reichstag gibt, und es ist wahrhaftig eine kindliche Auffassung unserer innerpolitischen Verhältnisse, der Verhältnisse im Reichstage, aus einem derartigen Zustand der Dinge gegen die eine oder andere Partei eine Anklage machen zu wollen. (Sehr richtig! in der Mitte und bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, genau so wie gestern der sittlich entrüstete Herr Bassermann haben auf der anderen Seite die katholischen Bischöfe gegen uns Stellung genommen, die katholischen Bischöfe in Bayern gegen ihre eigenen Parteigenossen, nur daß zu meiner großen Genugtuung die bayerischen Zentrumsleute von den Bischöfen sich nicht haben einschüchtern lassen. Das wäre freilich bei Protestanten ganz unmöglich. (Sehr richtig! und Heiterkeit.) Wenn die protestantische Geistlichkeit für die Protestanten die Bedeutung hätte, wie der katholische Klerus, selbst dann wäre das nicht möglich; aber ich bin zufrieden, daß die protestantische Geistlichkeit diesen Einfluß nicht hat. Aber, meine Herren, ich frage mich auch: warum denn diese Entrüstung der 163
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katholischen Bischöfe, daß Zentrumsmitglieder bei den engeren Wahlen uns unterstützen wollten? D i e katholischen Bischöfe haben doch geschwiegen, als vor zwei Jahren meine Freunde in Bayern mit dem Zentrum das bekannte A b k o m m e n zu den bayrischen Landtagswahlen abgeschlossen haben. [ 6 7 4 ] (Zurufe bei den Nationalliberalen.) Das war das Gegenstück zu dem A b k o m m e n in Baden. (Sehr richtig! in der Mitte.) In Baden haben meine Parteigenossen gemeinsame Sache mit den Nationalliberalen gemacht, um das Zentrum hintanzuhalten. In Bayern haben meine Parteigenossen mit dem Zentrum gemeinsame Sache gemacht, um die Liberalen, die Gegner der Wahlreform waren, aus dem Landtag möglichst fernzuhalten. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Das K o m p r o m i ß ist zustande gekommen, um das bayrische Wahlrecht zu reformieren, um ein neues Wahlrecht zu schaffen. Das Zentrum hat in dieser Frage sein W o r t - das m u ß sein größter Feind anerkennen - bis zum Tüpfelchen auf dem i eingelöst. Bayern hat ein neues Wahlrecht, und bei dem nächsten bayrischen Wahlkampf gibt es weder mit den Liberalen noch mit dem Zentrum ein Zusammengehen der Sozialdemokraten. D a n n gehen sie selbständig vor, weil sie jetzt selbständig vorgehen können, was unter dem bisherigen Wahlrecht ohne schwere Nachteile für eine Partei nicht möglich war. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, diese Entrüstung über das Zusammengehen von Zentrum und Sozialdemokratie hat für jeden Kenner unserer Verhältnisse herzlich wenig zu bedeuten; aber sogar in der Frage, die den Reichstag zur Auflösung brachte, selbst in dieser Frage sind wir nicht mit dem Zentrum, sondern gegen das Zentrum gegangen. (Sehr richtig! in der Mitte.) Als in der Budgetkommission die Forderung der 2 9 Millionen abgelehnt war, da sind wir nicht, wie wir das sonst zu tun pflegen bei Etatsforderungen, für das Weniger eingetreten, sondern wir haben die H e r r e n vom Zentrum im Stich gelassen. (Sehr richtig! in der Mitte.) A u f diese Weise kam überhaupt in der Budgetkommission kein Beschluß zustande. U n d genau mit derselben Taktik, mit der wir in der Budgetkommission verfahren sind, sind wir im Reichstag verfahren. Das ergab sich aus der Stellung, die wir der Kolonialpolitik gegenüber eingenommen haben und weiter einnehmen werden. 4 U n d wenn gestern, um das hier gleich mit zu erledigen, der H e r r Abgeordnete Bassermann glaubte meinen Parteigenossen Calwer gegen uns austrumpfen zu können, indem er es unternahm, eine Reihe von Zitaten aus einem Artikel in den „Monatsheften" hier vorzutragen, wobei er Ihnen noch besonders empfahl, das betreffende H e f t sich zu kaufen - ich will es ihnen weiter empfehlen (Heiterkeit), 4
Siehe Hierzu Nr. 54.
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55 Die Welt soll erfahren, wie es in diesem Wahlkampf zugegangen ist es ist das dritte Heft, das Märzheft von diesem Jahre - , so hat der H e r r Abgeordnete Bassermann es unterlassen, auch auf diejenigen Stellen hinzuweisen, in denen der Abgeordnete Calwer klipp und klar seine abweichende Stellung von der im Deutschen R e i c h e betriebenen Kolonialpolitik darlegt. ( H ö r t ! hört! und Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) A u f der Seite 196 dieses Heftes heißt es: Ich habe schon einen Gesichtspunkt angedeutet, der es mir unmöglich macht, als Sozialdemokrat für kolonialpolitische Forderungen zu stimmen. ( H ö r t ! hört! bei den Sozialdemokraten.) D i e Ausgaben für Kolonien dürfen auf keinen Fall aus dem L o h n e i n k o m m e n , sondern müssen aus dem Kapitaleinkommen gedeckt werdend' 7 5 1 ( H ö r t ! hört! bei den Sozialdemokraten.) Das ist derselbe Standpunkt, den wir einnehmen, wenn wir auf dem Wege der direkten Steuern der Mittelklasse und der reichen Klasse die Mittel für die Kolonialpolitik aufbringen wollen, oder wenn die deutsche Kaufmannschaft und Bankierschaft das tun will - was H e r r Dernburg sich gehütet hat zu tun, solange er D i r e k t o r der Darmstädter B a n k war. (Sehr wahr! und große Heiterkeit.) E r hat seine Millionen im englischen Kapland angelegt. ( H ö r t ! hört! bei den Sozialdemokraten.) D i e Aktionäre sollen freilich sehr wenig erbaut davon sein. ( H e i terkeit.) A b e r in Südwestafrika auch nur 100 000 M a r k anzulegen, das ist ihm so lange nicht eingefallen, als er D i r e k t o r der Darmstädter B a n k war. (Sehr gut!) D i e ganze Erleuchtung über den Wert der Kolonien ist ihm erst gekommen, als er Kolonialdirektor geworden ist. H i e r heißt es wieder einmal: wem G o t t ein A m t gibt, dem gibt er auch den nötigen Verstand! ( G r o ß e Heiterkeit.) Aber, meine H e r r e n , dem H e r r n Kolonialdirektor D e r n b u r g hat der liebe G o t t nicht nur den nötigen Kolonialverstand gegeben, sondern auch die nötige Kolonialphantasie (große Heiterkeit), die notwendig war, die wunderbaren Reden zu halten, in denen er bekanntermaßen aus einer verlorenen Dattelkiste so und so viel Dattelpalmbäume erwachsen sah. ( G r o ß e Heiterkeit.) M e i n e H e r r e n , wer derartige Phantasieprodukte vor ernsthaften Leuten vorträgt - und es waren 1600 der schwerreichsten Leute, alles sachverständige Leute, die er damals für seine Kolonialpolitik zu begeistern versuchte - , wer das in allem Ernst einer solchen Versammlung von Sachverständigen vorzutragen wagt, der hat für mich das R e c h t verloren, in dieser Frage noch ernst genommen zu werden. ( G r o ß e Heiterkeit. - Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Das war eine kleine Abschweifung. D a n n , meine Herren, eine andere Stelle aus dem Artikel meines Parteigenossen Calwer. E s heißt dort: N e b e n diesem aus der wirtschaftlichen Stellung des Arbeiters im heutigen Produktionswesen sich ergebenden Grunde k o m m e n noch allgemeine politische G r ü n d e hinzu, die mir als Sozialdemokraten es zurzeit verbieten, für 165
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kolonialpolitische Forderungen einzutreten.' 676 ! (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) N u n , meine Herren, können Sie aus dem Artikel sonst vorlesen, was Sie wollen: mit diesen beiden von mir vorgetragenen Sätzen ist alles widerlegt. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Hier ist die prinzipielle Stellung meines Parteigenossen Calwer festgelegt. Alles das, was er über die Notwendigkeit, die Wünschbarkeit, den etwaigen Vorteil einer Kolonialpolitik ausführt, das führt er vom Standpunkt der Bourgeoisie, vom Standpunkt des Klasseninteresses der Bourgeoisie aus. E r sagt: wenn ihr Bourgeois im Interesse der Kolonien eure Kapitalkräfte, eure geistigen, eure physischen Kräfte betätigt, so ist das eure Sache, aber die deutsche Sozialdemokratie soll mit diesen Dingen nichts zu tun haben. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, es sind also auch nach dieser Richtung hin die Ausführungen, die der Herr Abgeordnete Bassermann gestern machte, deplaziert. Wenn aber meine Parteigenossen Calwer und Bernstein Ihnen in ihrer Anschauung so nahe stehen, wie Sie es behaupten, wenn sie wirklich so kolonial- und weltpolitikfreundlich sind, ja, meine Herren, warum haben Sie denn alles aufgeboten, die genannten Parteigenossen aus dem Reichstage hinauszuwerfen!? (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Sie hätten uns doch, von Ihrem Standpunkt aus, gar keinen unangenehmeren Streich spielen können, als daß Sie Calwer und Bernstein in den Reichstag schickten. Gegen Calwer haben aber die Herren dort drüben von der linken Seite, ihrem reaktionären Triebe folgend, einem Bauernbündler mit ihren Stimmen durchgeholfen, damit Calwer gestürzt wurde. Und in Breslau sind die Herren Freisinnigen von vornherein im Bunde mit den Konservativen vorgegangen. Sie haben die Beute geteilt, indem auf der einen Seite der Fürst Hatzfeldt als konservativer Kandidat und auf der anderen Seite ein H e r r von der freisinnigen Partei gewählt wurde, um auf diese Weise die Sozialdemokratie, darunter Bernstein, von dem Reichstag fernzuhalten. Wenn diese Elemente in unserer Partei Sprengpulver sein könnten, wenn Sie diese Meinung hatten, dann war es im höchsten Grade politisch unklug, daß Sie nicht diese Männer uns zum Ärger und zum Trotz in den Reichstag gewählt haben. (Heiterkeit und Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten. - Zurufe rechts.) Natürlich uns zum Arger; denn warum bringen Sie sonst diese Dinge hier vor? - Aber wenn Sie glauben, wir ärgerten uns darüber, dann irren Sie sich. Wenn in einem Artikel Calwer jammert über die Intoleranz, die in gewissen Kreisen der Partei herrsche, so meine ich, wenn jemand Artikel schreiben kann ungehindert und seit Jahren wie die vorliegenden, dann hat der Betreffende nicht den geringsten Grund, über Intoleranz zu klagen. (Zuruf: Den Gegensatz zwischen Calwer und Ihnen haben Sie zugestanden!) - Selbstverständlich habe ich den zugestan166
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ist
den, H e r r Kollege v. Liebermann. Glauben Sie denn, ich wollte leugnen, was Tatsache ist? A b e r auch Calwer und Bernstein stehen nicht auf einem Standpunkt. C a l w e r und Bernstein sind wirtschaftspolitisch die schärfsten Gegner, die in unserer Partei existieren. A b e r das können w i r ohne Schaden vertragen. (Heiterkeit und Rufe: N a ! na!) - N a ! na! Sie sind doch beide noch in der Partei. (Heiterkeit.) U n d bis jetzt hat noch kein Parteigenosse den Wunsch ausgesprochen, daß die Herren außerhalb der Partei ihre Meinungen aussprechen möchten. Dann, meine Herren, ein anderes. Wenn es denn so schrecklich ist, daß w i r und das Zentrum mal gegebenenfalls u n d in einer außerordentlichen Lage zusammengehen, so müßte das doch nicht weniger zwischen Nationalliberalen und dem Zentrum der Fall sein. Es gibt in diesem H a u s e innerhalb der bürgerlichen Parteien keine stärkeren Gegensätze als zwischen den Nationalliberalen und der Zentrumspartei. (Sehr richtig!) Wem hatte denn die Zentrumspartei in erster Linie den Kulturkampf 5 zu verdanken als gerade Ihnen, den Nationalliberalen? (Lebhaftes Sehr richtig! in der Mitte und bei den Sozialdemokraten. - Zuruf bei den Nationalliberalen.) - Meine Herren, Sie können sagen und schreiben, w a s Sie wollen, es gibt heute noch unter Ihnen eine ganze Anzahl Leute, die bereit wären, sofort den Kulturkampf wieder aufleben zu lassen. (Wiederholtes lebhaftes Sehr richtig! in der Mitte und bei den Sozialdemokraten.) Diese müssen eben von Ihrer Parteileitung mit aller Gewalt an der Kandare zurückgehalten werden, damit sie keine Kulturkampfdummheiten machen. U n d dann andererseits: w i e haben die Herren friedlich,schiedlich die ganzen Jahre mit einander gearbeitet! Wenn man H e r r n Spahn und Herrn Bassermann mit einander verhandeln sah, sah das aus, als wären sie ein Herz und eine Seele, w i e zwei Brüder mit gleichen Kappen. (Große Heiterkeit.) Ich gestehe offen: mir ist oftmals, w e n n ich diese Intimität und gegenseitige Liebenswürdigkeit sah, etwas schwummerig zu M u t e geworden. (Heiterkeit.) Ich sagte mir: das Ende vom Liede w i r d sein, daß unsere Haut dabei geteilt wird. (Große Heiterkeit.) Das w a r ja auch geplant, es w a r alles so hübsch im Gange, man wollte bei den nächsten Hauptwahlen die Teilung der M a n d a t e in den verschiedenen Wahlkreisen vornehmen. H e r r Gröber nickt mir zustimmend zu. (Lebhafte Heiterkeit.) So ist es! So war es geplant! M a n wollte unsere H a u t teilen, man wollte den Bären gründlich zerlegen, wobei es hieß: die und die Wahlkreise bekommt ihr Nationalliberalen, und die und die Wahlkreise bekommen w i r im Zentrum, dazu gehen w i r hübsch im Wahlkampf zusammen. Das w ä r e im Jahre 1908 so gekommen, und deswegen haben w i r uns gefreut, daß schon im Jahre 1907 der Wahlkampf noch unter etwas günstigeren Umständen stattfand, als es im Jahre 1908 der Fall gewesen sein würde. Es brauchte gar nicht 5 Siehe hierzu Nr. 31 in Band 1 dieser Ausgabe. 167
55 Die Welt soll erfahren, wie es in diesem Wahlkampf zugegangen ist des Tun und Treibens - darauf k o m m e n wir später noch, nicht heute zu sprechen - , um uns die Mandate abzudrücken, wie es geschehen ist. D e n n nichts als die Mandate hat man uns genommen. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Freilich hat sich nachher gezeigt, daß all die Liebe und Freundschaft zwischen Nationalliberalen und Zentrum n u r die Liebe zwischen H u n d und K a t z e war. (Heiterkeit.) Innerlich fühlte man sich n o c h als der alte Feind. A u f einmal kam dann die Gelegenheit zur Differenz, und siehe da, die alte Feindschaft ist wieder zum Ausbruch gekommen und hat in diesem Wahlkampf ihre Früchte getragen. Freilich war die alte Feindschaft noch nicht wieder so weit, daß man nicht t r o t z alledem Versuche zu gegenseitiger Annäherung zu unserem Schaden gemacht hätte. So ist mir z.B. bekannt geworden, daß der liberale Blockkandidat in Karlsruhe für die engere Wahl, mein ehemaliger Parteigenosse, der jetzige fortschrittliche Rechtsanwalt Weill wenige Tage vor der Wahl mit dem Amtmann Loes in einem Auto von O r t zu O r t bei den katholischen Pfarrern herumgefahren ist und sie um die Stimmen der Katholiken angebettelt hat. ( H ö r t ! hört! in der Mitte.) D a sehen wir, wie die Nationalliberalen, wenn es gilt, ein Mandat zu ergattern, sich nicht genieren, bis zur Selbstentwürdigung zu gehen. (Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) U n d wenn man weiter der Zentrumspartei Hintertreppenpolitik vorwirft - hat denn die nationalliberale Partei noch keine Hintertreppenpolitik getrieben? (Zwischenrufe.) - H e r r Bassermann schüttelt sehr entrüstet den K o p f ! H e r r Bassermann, in jenen Zeiten, von denen die Memoiren des Fürsten H o h e n l o h e uns vorliegen, wird erzählt, daß der Fürst Bismarck zum Fürsten H o h e n l o h e von den H e r r e n v. Bennigsen und Miquel als von Karlchen Miesnick-Politikern gesprochen habeJ 6 3 0 ! Was war denn damals anders in Frage, als daß sie, nachdem sie dem Fürsten Bismarck so reichlich ihre Dienste geleistet hatten, nun auch die entsprechende Belohnung an Ministersesseln und an Staatsposten haben wollten? (Widerspruch bei den Nationalliberalen. Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) - G e w i ß , darüber kann gar kein Zweifel sein! - U n d wie nun gar die H e r r e n Konservativen Hintertreppenpolitik machen, davon hat ja H e r r v. K r ö cher im Wahlkampfe recht interessante Mitteilungen gemacht. ( G r o ß e Heiterkeit.) Also es wird in und außer Ilion gemogelt, sowohl hüben wie drüben. In letzter Instanz ist es Ihnen doch nur um die Beute zu tun (lebhaftes Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten), um die Staatsgewalt. D e r Staat ist ja in erster Linie Ihr Staat, das Reich ist in erster Linie Ihr Reich. Ihre Klasse ist es, die die Ministersessel besetzt, und so möchten eben die verschiedenen Parteien sich bei der Verteilung der Beute nach Möglichkeit berücksichtigt sehen. (Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) Weiter trugen die H e r r e n gestern auch eine furchtbare sittliche Entrüstung 168
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über die gestohlenen Briefe des „Bayrischen Kurier" zur Schau. Das brachte der Herr Reichskanzler insbesondere in einer so unnachahmlichen Weise vor, daß diese Briefe gestohlen seien - ich kann es gar nicht nachmachen - , daß einem dabei die Gänsehaut über den Rücken lief. (Große Heiterkeit.) Meine Herren, Sie werden hoffentlich bis in die fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts geschichtlich beschlagen sein, alsdann werden Sie auch wissen, daß es die konservative Partei, die „Kreuzzeitungspartei" war, die damals die Zuchthäusler Lindenberg und Techen angestiftet hatte, dem Prinzen von Preußen, dem späteren Kaiser 6 von Deutschland, die Briefschaften aus der Schatulle zu stehlen. (Zwischenrufe rechts. Hört! hört! und Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) - Jawohl, das ist eine historische Tatsache, die können Sie nicht bestreiten .Sie haben wohl auch keine Kenntnis davon, wie Fürst v. Bismarck von Frankfurt und von Petersburg aus in seinen Briefen an seine Familienmitglieder und an andere Personen so und so viel Mal sich äußerte, er wolle das und das dem Briefe nicht anvertrauen, das Briefgeheimnis sei keineswegs sichert 6 7 7 1 (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Also selbst im heiligen preußischen Staate konnte nicht einmal ein Gesandter es wagen, offen an seine Familie zu schreiben, was er über gewisse Dinge dachte. Und ist es nicht eine allbekannte Tatsache, daß keine Regierung in der Welt wichtige Staatsgeheimnisse und Akten der Post anvertraut? Sie schickt eben ihren Kurier, weil sie überzeugt ist, daß bei der verschiedenen Passierung von Landesgrenzen die große Gefahr besteht, daß einer der freundnachbarlichen Staaten dafür sorgt, daß solche wichtige Aktenstücke in die Unrechten Hände gelangen. (Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) Weiter haben Sie, meine Herren, im vorigen Jahre die geheimen Fonds von 500 000 Mark auf 1 Million erhöht. Haben Sie das getan, damit mit Hilfe dieses geheimen Fonds den verschiedenen fremden Regierungen allerlei Komplimente und Lobeshymnen in der fremden Presse gesungen werden? (Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, das haben Sie getan, damit die Regierung in die Lage kommt, wo sie es für notwendig hält, zu spionieren, Briefe stehlen oder unterschlagen zu lassen, um Staatsgeheimnisse herauszubekommen, kurz Dinge zu tun, die, wenn der betreffende Tater erwischt wird, mit so und so viel Jahren Zuchthaus oder Gefängnis bestraft werden. (Sehr richtig! in der Mitte und bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, wenn etwas ein unsittliches Handwerk ist, ist es die große Politik, namentlich die auswärtige Politik, und wenn irgendwo mit den unsittlichsten Mitteln gekämpft wird, dann ist es wieder in der auswärtigen Politik. Daher habe ich sehr lachen müssen, als gestern Fürst v. Bülow gar nicht genug seiner Entrüstung Ausdruck geben konnte über die 6 Wilhelm I. 169
55 Die Welt soll erfahren, wie es in diesem Wahlkampf zugegangen ist gestohlenen Briefe des „Bayerischen K u r i e r " . ( G r o ß e Heiterkeit.) A c h , meine H e r r e n , wenn Ihnen eines Tages geheime Briefe der sozialdemokratischen F ü h rer oder geheime Aktenstücke des sozialdemokratischen Parteivorstandes, die gestohlen wurden, übergeben würden, Sie würden sie mit geschmatzten H ä n d e n annehmen! (Sehr richtig! in der Mitte und bei den Sozialdemokraten.) Diese ganze Entrüstung ist eigentlich nur politische Heuchelei, von der Fürst Bismarck allerdings selber erklärte, daß sie politisch berechtigt und notwendig sei, auch er bediene sich dieser politischen Heuchelei. Weiter behauptet H e r r Bassermann, das Ausland sei über den Ausfall der deutschen Reichstagswahlen sehr enttäuscht gewesen, d.h. über die Niederlage, welche die Sozialdemokratie dabei erhalten habe. Ich habe einen ganz anderen E i n d r u c k gehabt, ich habe gefunden, daß der internationale Geist der Solidarität, der notwendigerweise die Bourgeoisie aller Länder beherrscht, bei dem Ausfall der deutschen Reichstagswahlen aufs klassischste zum Ausdruck gekommen ist; denn die Bourgeoispresse aller Länder hat gejubelt über die angebliche N i e d e r lage der deutschen Sozialdemokratie. Das zeigt, daß die Siege der deutschen Sozialdemokratie als eine A r t Alp nicht nur auf der deutschen Bourgeoisie, sondern auf der Bourgeoisie der ganzen Welt gelegen haben. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) M a n sagte sich, was jetzt in Deutschland möglich ist, wird auch in anderen Ländern möglich sein. A u f der anderen Seite haben der Kaiser von Rußland 7 , der Kaiser von Osterreich 8 und der K ö n i g von England 9 , dem man wahrhaftig nicht eine allzu freundliche Gesinnung gegen Deutschland nachsagen darf - also sogar dieser konnte sich dessen nicht enthalten - , ihre Glückwünsche über den Ausfall der deutschen Wahlen in F o r m von Gratulationsdepeschen zum Ausdruck gebracht. H i e r hat sich wieder gezeigt, daß sowohl die Interessen der K r o n e wie die Interessen des Kapitals international sind, wie andererseits auch die Interessen der Arbeiterklasse international sind. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) D e r H e r r Abgeordnete Bassermann hat weiter gesprochen von dem nationalen Z o r n unseres Volkes, der in den Wahlen in bezug auf die Sozialdemokratie zum Ausdruck gekommen sei. H e r r Abgeordneter Bassermann, wenn es eine Partei im Hause gibt, der in bezug auf Wahlniederlagen Bescheidenheit anempfohlen werden müßte, dann ist das die nationalliberale Partei! (Heiterkeit und Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten und in der Mitte. - Zuruf von den Nationalliberalen.) - Sie k o m m e n immer vorwärts? Das glauben Sie doch selber nicht, das
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Nikolaus II. Franz Joseph I. Eduard VII.
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ist doch nicht wahr! Ich will Ihnen sagen, Herr Kollege Paasche, wie Sie vorwärts gekommen sind! Sie hatten 1874 152 Abgeordnete im Reichstag, 1884 nur noch einige 50, also nur noch den dritten Teil; 1887 kamen Sie durch das konservativnationalliberale Kartell auf 9 7 , 1 8 9 0 sanken Sie aber auf 41, also auf weniger als die Hälfte. (Zuruf von den Nationalliberalen: Seitdem gehts immer vorwärts!) - W a s haben Sie denn seitdem gehabt? 1890 hatten Sie 41 Mandate, 1893 4 5 , 1 8 9 8 5 0 , 1 9 0 3 52 und 1907, nachdem Sie die konservative Partei und die Agrarier für sich eingespannt haben, Ihr Liberalismus also vollständig zum Teufel gegangen ist ( O h o ! und große Unruhe bei den Nationalliberalen), haben Sie endlich 57 Abgeordnete bekommen! Und, meine Herren, wenn es nun gar so weit gekommen ist, daß der Führer dieser selben Partei, Herr Bassermann, im ganzen Deutschen Reiche herumwandern muß, um zu suchen, wo er sein Haupt niederlege (stürmische Heiterkeit in der Mitte und bei den Sozialdemokraten), wo er eine parlamentarische Schlafstätte finden kann (erneute große Heiterkeit in der Mitte und bei den Sozialdemokraten), wenn die eigene Partei ihm diese nicht zu bieten imstande ist, er sich vielmehr dem konservativen Grafen Arnim-Muskau in die Arme werfen muß, indem dieser ihm seinen Wahlkreis abtrat, dann ist das eine so blamable Tatsache, wie sie blamabler nicht gedacht werden kann! (Lebhafte Zustimmung in der Mitte und bei den Sozialdemokraten. - Zuruf von den Nationalliberalen.) - Das muß ein politisches Kind sein, das da fragt, ob das wahr ist! (Heiterkeit.) Meine Herren, betrachten wir uns einmal die sogenannte Niederlage der Sozialdemokratie etwas näher! Wir hatten 1903 3 010 000 Stimmen und mit Hilfe der Stichwahlen 81 Mandate. 91 Im Jahre 1907 haben wir auf unsere Kandidaten 3 260 000 Stimmen vereinigt und haben nur 43 Mandate. Das ist ja bedauerlich für eine Partei, wenn sie derart an Mandaten verliert, aber zum Krankwerden ist es nicht, das kann ich Ihnen sagen! (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Wir sind so munter, wie nur jemals vorher (Na! N a ! rechts), und wir haben die feste Uberzeugung: was Sie uns diesmal mit allen Mitteln abgejagt haben, das holen wir uns das nächste Mal wieder! (Rufe rechts: Abwarten! - Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Die Tatsache steht fest, daß von den 13 Millionen Wählern im Deutschen Reich der vierte Mann, über 25 Jahre alt, ein Sozialdemokrat ist (Bravo! bei den Sozialdemokraten, Lachen rechts), und wenn Sie (nach rechts) das vergnügt macht, nun, wir haben nichts dagegen! Wenn ein gerechtes Wahlsystem im Reiche bestünde, so hätten wir mit unseren 3 260 000 Stimmen 117 Mandate statt 43. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Zentrum und wir, wir hätten die Mehrheit in diesem Reichstag, wenn es nach 9a
Siehe hierzu Nr. 23 in Band 7/1 dieser Ausgabe. 171
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den abgegebenen Stimmen ginge! Und wenn behauptet wird, wir seien niedergeritten worden, man habe der Partei ein „Halt!" zugerufen: nein, man hat uns weder niedergeritten, noch hat man uns ein „Halt!" zugerufen! [678] Wenn alle Parteien so „niedergeritten" werden, wie wir, und dabei so lebendig fortmarschieren, wie wir, dann könnte der Staat sich gratulieren! Meine Herren, wir sind noch um eine volle Million Stimmen der stärksten bürgerlichen Partei, dem Zentrum, voraus! Wir, die deutsche Sozialdemokratie, haben nahezu 400 000 Stimmen mehr als die ganze liberale Linke, die Nationalliberalen mit einbegriffen! Und wenn man fragt, was in Wirklichkeit das Wahlresultat war, so antworte ich: auf die Seite der Opposition sind erheblich über 6 Millionen Stimmen gefallen, während der gesamte Hottentottenblock - (lautes Lachen rechts und links) während der gesamte Hottentottenblock nur 5 Vi Millionen Stimmen erhalten hat. [678a] Die Opposition hat also nahezu 1 Million Stimmen mehr als die gesamten Parteien, die nach ihren Mandaten hier die Mehrheit repräsentieren. (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Über solch Resultat uns zu ärgern, haben wir gar keine Ursache. Gewiß, uns alle hat der Zorn, der Unmut über das Resultat gepackt. Wir sind aber auch alle bis zum letzten Mann entschlossen, unsere letzten Kräfte dranzusetzen, alles, was wir können, zu tun, um die Scharte auszuwetzen und den Kampf so bald wie möglich wieder aufzunehmen. 10 (Sehr wahr! Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten. - Zurufe.) - Sie wollen den Kampf bald wieder aufnehmen? (Zurufe.) - Ei, dann nehmen Sie den Antrag an, den wir eingebracht haben, die fünfjährige Legislaturperiode wieder in eine dreijährige zu verwandeln. (Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) Den können Sie annehmen! Den müssen Sie annehmen, wenn es Ihnen mit Ihrer Kampflust ernst ist! 1887 haben die Nationalliberalen und Konservativen gegen Liberale, Sozialdemokraten und Zentrum die Legislaturperioden von drei auf fünf Jahre verlängert. Und weshalb? Weil Sie die Wahlkämpfe fürchteten (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten), dieser Grund war allein maßgebend. Meine Herren, der diesmalige Wahlkampf war ein offizieller Wahlkampf. Es war eine Wahl, wie sie Deutschland ähnlich nie gehabt hat; es war eine Wahl, wie sie nur unter dem bas empire eines Napoleon III. möglich war. (Sehr wahr! Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Es war eine Wahl, in der der Reichskanzler, die Reichskanzlei, das Reichsmarineamt, das Reichskolonialamt, das Oberkommando der Schutztruppen, bis zum letzten Nachtwächter und zum letzten Polizeidiener, offiziell in den Wahlkampf gegen die deutsche Sozialdemokratie eingetreten sind. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten. - Bravo!) Sie, meine Herren, haben alles aufgeboten, was Sie aufbieten konnten, um uns aus dem 10 Siehe hierzu Nr. 163 in Band 9 dieser Ausgabe.
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Felde zu schlagen. Der Reichsverband zur Verleumdung der Sozialdemokratie^ 79 ! war berufen, den Wahlkampf im Namen des Reichskanzlers zu führen, der auch bekanntermaßen Mittel zu diesem Wahlkampf gegeben hat. Er hat gestern kein Wort darüber gesagt, als der Herr Abgeordnete Spahn ihn frug, woher die 30 000 Mark gekommen sind, die von ihm für den Wahlkampf gegeben wurden. (Sehr gut! bei den Sozialdemokraten. Zurufe.) Meine Herren, der Herr Reichskanzler mag nur gefälligst mal seine Rede nachlesen, die er am 24. November 1900 über die 12 000 Mark, die damals dem Reichsamt des Innern zur Verbreitung gewisser Schriften [680] für die Zuchthausvorlage11 gegeben wurden, gehalten hat. Diese Rede des Grafen Bülow vom 24. November 1900 ist der moralische Totschlag des Fürsten Bülow vom Jahre 1907. (Lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten. Lachen rechts.) Ich verzichte augenblicklich darauf - denn ich habe noch viel zu sagen - , diese Rede zum Vortrag zu bringen; ich werde es bei einer anderen, besseren Gelegenheit tun. Aber mittlerweile mag sie der Herr Reichskanzler nachlesen, und da mag er doch ein Gefühl der Beschämung über sich selbst empfinden über den Wechsel der Ansichten, den er in diesen sieben Jahren in dieser Angelegenheit durchgemacht hat. Meine Herren, wenn das alles wahr ist, was der „Bayerische Kurier" behauptet hat, dann stehen die Dinge so, daß die große Hälfte dieses Reichstags wegen ungesetzlicher Wahlbeeinflussung nach Hause geschickt werden müßte. (Lebhaftes Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten. Lautes Lachen rechts und links.) Ich muß nunmehr auf die Ausführungen der Thronrede über meine Partei eingehen. Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß die Behauptung der Thronrede [681] , in dem Wahlkampfe sei der sozialdemokratischen Bewegung Halt geboten worden, eine objektive Unwahrheit ist (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten — Widerspruch rechts), ich sage eine objektive Unwahrheit, die durch die Wahlziffern widerlegt ist. Die Zahl der Mandate entscheidet nicht, diese hängt in zahlreichen Fällen von Zufälligkeiten ab. So haben wir 1903 eine ganze Reihe Wahlkreise erobert, von denen wir uns gleich gesagt haben: diese werden wir bei einer künftigen Wahl nicht zu halten imstande sein. Die Thronrede sagt weiter, wir verneinen das Gute und Lebenskräftige, unsere ganze Tätigkeit richte sich gegen Staat und Gesellschaft in ihrer stetigen friedlichen Entwicklung. Das ist wiederum eine objektive Unwahrheit. (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Wir bekämpfen das Schlechte, Verderbliche, Unhaltbare, um Gutes und Lebensfähiges zu schaffen und an Stelle des Schlechten und Unhaltbaren zu setzen. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten. Lachen und Zurufe rechts.) Derjenige, der in Deutschland das Lebensunfähige, das Schlechte 11 Siehe hierzu Nr. 63 in Band 4 dieser Ausgabe. 173
55 Die Welt soll erfahren, wie es in diesem Wahlkampf zugegangen ist aufrecht erhält, das ist nicht die Sozialdemokratie, das ist der Reichskanzler des Deutschen Reichs. (Lebhaftes Sehr wahr!, Sehr richtig! links. Zurufe und Widerspruch rechts.) Das ist der Ministerpräsident Preußens, Fürst Bülow. (Erneute Zustimmung bei den Sozialdemokraten. O h o ! rechts.) Das Dreiklassenwahlsystem, das Fürst Bismarck schon im Jahre 1867 - es sind in den nächsten Tagen genau 40 J a h r e - als das schlechteste und erbärmlichste aller Wahlsysteme bezeichnete, ist mittlerweile durch die soziale Entwicklung der Dinge noch schlechter und erbärmlicher geworden, und der deutsche Reichskanzler hält dieses schlechteste und erbärmlichste aller Wahlsysteme aufrecht. Wir verlangen das allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht für die Männer und Frauen. 12 (Lebhafte Zustimmung bei Sozialdemokraten. Zuruf rechts: F ü r die Kinder!) - So, für die Kinder, H e r r Kollege! Sie sind ja noch ein junger Mann, ein Neuling im Reichstage, Sie haben vielleicht von den früheren Verhandlungen kaum eine richtige Idee! (Heiterkeit.) Geehrter H e r r Kollege, wir sind seit mehr als anderthalb Jahrzehnten für die Gleichberechtigung der Frauen mit den M ä n nern auf dem Gebiete des Vereins- und Versammlungsrechts eingetreten und auf dem Gebiete des Universitätsstudiums. 1 3 D i e sehr große Mehrheit war anfangs dagegen. Allmählich hat sich aber diese Idee die Mehrheit des Reichstags erobert, und jetzt k o m m t sogar die Partei des Herrn Abgeordneten Stoecker, die noch vor wenigen Jahren das verneinte, und stellt einen Initiativantrag, wonach die Frauen zur politischen Betätigung auf dem Gebiete des Vereins- und Versammlungsrechtes gleich den Männern zugelassen werden sollen. ( H ö r t ! hört! bei den Sozialdemokraten.) Das ist eine moralische Eroberung meiner Partei. (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten. - Lachen rechts.) Das preußische Vereins· und Versammlungsgesetz' 6 8 2 ! ist ein Anachronismus. Das hat der Minister v. Hammerstein selber zugegeben durch den bekannten Segmenterlaß' 6 8 3 1 , der im Widerspruch mit dem preußischen Vereins- und Versammlungsrecht steht. D e r erste B e a m t e des preußischen Staats hat diese Ungesetzlichkeit begangen, weil er dem Drängen seiner politischen Freunde nachgeben mußte. E r hat lieber das Gesetz verletzt, als das Gesetz verbessert und verändert, wie es sich von Rechts wegen gehörte. U n d der H e r r Reichskanzler Fürst B ü l o w hält dieses allen Zeitverhältnissen hohnsprechende Vereins- und Versammlungsgesetz bis auf den heutigen Tag aufrecht! (Sehr wahr! Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) W i r haben gelesen, daß in den letzten Tagen im preußischen Abgeordneten12
Siehe hierzu Nr. 39 in Band 3 dieser Ausgabe.
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Siehe hierzu N r . 3 6 in Band 1 sowie Nr. 3, 31 und 3 9 in Band 3 sowie Nr. 75 in Band 8/2 dieser Ausgabe.
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hause eine Debatte über die Dienstbotenordnung war. Der Herr Minister v. Bethmann Hollweg hat bei dieser Gelegenheit eingeräumt, daß die Dienstbotenordnung vollständig unhaltbar sei, daß sie mit der Entwicklung unserer Verhältnisse in Widerspruch steht. (Zuruf: Das hat er nicht gesagt!) - Schlimm genug, daß Sie, Herr Gamp, und Ihre Freunde ein Gesetz, das mit unserer Entwicklung in schneidendstem Widerspruche steht, das gänzlich unhaltbar geworden ist, und mit Ihnen der Herr Reichskanzler, aufrecht erhalten, d.h. Schlechtes, Lebensunfähiggewordenes aufrecht erhalten. Das also ist die Rolle, die heute der Herr Reichskanzler als Ministerpräsident in Preußen spielt: Aufrechterhaltung des Schlechten, des Lebensunfähigen. Das neue preußische Schulgesetz^684^ der Studtsche Bremserlaß sind Faustschläge ins Gesicht eines modernen Fortschrittsmannes, sie sind ein Faustschlag gegen alle Kultur, ein Gesetz, das in einem wahrhaft modernen Staate niemals Platz greifen dürfte, das aber der Fürst Bülow als Ministerpräsident in Preußen gebilligt hat und also aufrecht erhält. Fürst Bülow hat vor zwei Jahren bei Gelegenheit der Einweihung des neuen preußischen Herrenhauses eine schöne Rede gehalten - wie immer. (Große Heiterkeit.) er hat bei dieser Gelegenheit den schönen Ausspruch getan: „Preußen in Deutschland voran, Deutschland in der Welt voran!" [685] Das ist wieder ein Zitat, eine Behauptung, die mit der historischen Wahrheit im schneidendsten Widerspruch steht. (Lachen rechts. Sehr wahr! Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Das offizielle Preußen mit dem Ministerpräsidenten Fürsten Bülow an der Spitze ist die Inkarnation alles kulturellen Stillstandes. (Ah! und Lachen rechts und links. Lebhaftes Sehr wahr! sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Preußen drückt durch seine reaktionäre Politik Deutschland den Stempel auf14, und das Urteil, was die Welt fällt, das fällt sie nicht auf Grund der Zustände Preußens, sondern betrachtet sie als deutsche Zustände, denen Preußen seinen kulturfeindlichen Stempel aufdrückt. Im Jahr 1905 hat ein französisches Blatt „Le Courrier Européen", eine Enquete veranstaltet bei einer großen Anzahl bekannter europäischer Männer über ihr Urteil bezüglich Deutschlands. Darauf hat u.a. geantwortet der Professor Lombroso. Dieser zollte der deutschen Bourgeoisie, ihrer Tätigkeit, ihrer Intelligenz das höchste Lob. Dann fährt er fort: Trotzdem kann ein Wachstum des deutschen Einflusses im Interesse der Freiheit und des menschlichen Fortschritts nicht gewünscht werden; denn die große deutsche Zivilisation zeigt überlebte und barbarische Züge (Aha! rechts - Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten), die sich im Antisemitismus, Feudalismus und Militarismus, schließlich in einer wahren Militärdiktatur ausdrücken, welche 14 Siehe hierzu Nr. 192 in Band 9 dieser Ausgabe. 175
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Deutschland zum einzigen Staat des persönlichen Regiments (Lachen rechts) in ganz Europa macht. (Zurufe rechts. Sehr wahr! sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Ein zweites Urteil wird gefällt von dem Vizepräsidenten der Royal Historical Society in London, Frederick Harrison. Dieser sagt: Das gutmütige deutsche Volk, ganz in Anspruch genommen von seiner bewunderungswürdigen Erziehung und seiner ungeheuren Industrie, bedroht niemand. Aber diese 60 Millionen braven und gelehrigen Leute werden durch die Schulmeisterei der Gelehrten und den Ehrgeiz der Militärherrschaft schamlos betrogen. Die friedliche Zukunft ganz Europas wird von diesem Cäsarismus bedroht, der Europa im zwanzigsten Jahrhundert in dieselbe Unruhe versetzt, wie Napoleon im neunzehnten, der vierzehnte Ludwig im achtzehnten. Das Deutschland von 1905 ist für das westliche Europa dasselbe geworden, was die „slavische Gefahr" um 1850 für unsere Väter war. (Heiterkeit. Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Ganz in ähnlicher Weise läßt sich der belgische Senator Baron de Seligs-Longchamps aus. (Zuruf: Alles Ausländer!) - Selbstverständlich! Der Redakteur des Blattes hat sich absichtlich an diese gewandt, um ihr Urteil über Deutschland zu hören; ich komme auch mit Urteilen unserer eigenen Landsleute. (Zuruf rechts: Wie lange dauert das noch?) - Solange es mir gefällt! (Große Heiterkeit.) Sie können ja hinausgehen, Herr Gamp; ich habe nichts dagegen. (Heiterkeit! - Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) Der Genannte sagt: Dieses Regime bedeutet für den Frieden die schwerste Gefahr und die letzte Hoffnung für die Reaktion. Unter den gegenwärtigen Umständen wäre das (weltpolitische) Ubergewicht des verpreußten Reiches ein großes Unglück für das deutsche Volk selbst und für die ganze übrige Welt. Aber dieses Ubergewicht wird sich schwerlich durchsetzen, denn die Brutalität des Berliner Kabinetts und seine zynische Selbstsucht haben es aller Sympathien beraubt; eine unüberwindliche Koalition wird sich ihm bald entgegentürmen. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Dann, meine Herren, ein Urteil eines Mannes in einem uns befreundeten Staate, in Osterreich! Es ist der Staatsrechtsgelehrte Rudolf Springer. Dieser stellt Betrachtungen an, was für ein Gesetz- und Verwaltungssystem Osterreich einleiten müsse, nachdem das allgemeine Stimmrecht in Osterreich zur Geltung gekommen ist. Und da sagt er: Das preußische Muster in der Gesetzgebung und in der Verwaltung, insbesondere in der Kommunalorganisation, ist darum das schlechteste Vorbild, das wir wählen können. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Preußen besitzt die am meisten auf das Imperium eingeschworene, auf Kastengeist und 176
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Klassenherrschaft aufgebaute Verwaltung der außerrussischen Welt, somit die im modernen Sinne schlechteste überhaupt.16861 (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) So ein österreichischer Staatsrechtslehrer über den Einfluß Preußens auf das Deutsche Reich. Und, meine Herren, was erklärt der Stuttgarter Historiker Professor Otto Harnack in Nr. 3 der Halbmonatszeitschrift „März"? Der Artikel ist überschrieben: „ Rußland und Deutschland". (Zuruf rechts: Alles schon bekannt!) - Freilich ist der Artikel bekannt! Ich will ihn aber weiteren Kreisen bekannt machen; es sind ja nicht alle so gescheit wie Sie, Herr Gamp! (Heiterkeit.) Also Sie müssen ein bißchen Mitleid haben mit Ihren Kollegen, die vielleicht nicht so weit sind wie Sie. (Zuruf rechts: Sie müssen Mitleid haben mit uns. - Heiterkeit.) Er kommt darauf, daß Preußen nicht allein auf ein Haar Rußland in seinen ganzen inneren Zuständen ähnlich sei, sondern zum Teil noch schlimmer daran sei. (Lachen rechts und bei den Nationalliberalen.) Russisch ist die Uberspannung des monarchischen Prinzips und des dynastischen Empfindens, die in Preußen wie im Deutschen Reiche mehr und mehr bis an die Grenzen des Pathologischen sich steigert. (Sehr richtig! rechts.) - Das freut mich, daß Sie mal „sehr richtig" rufen. (Zurufe rechts.) Unter den heutigen Kulturstaaten ist außerhalb des Zarentums diese Vorstellung - die den Monarchen zum Erdengott stempelt - nur im Bereich des preußischen Königtums zu finden, und sie hat sich von dort auf das Deutsche Reich ausgedehnt.16871 (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Er kommt dann auf den bekannten Fall des Hauptmanns von Köpenick 15 (Lachen rechts) und spricht dabei die Ansicht aus, zu dem, was der Verbrecher in der preußischen Hauptmannsuniform in Preußen zuwege gebracht habe, gehöre in Rußland schon eine Oberstenuniform. Insofern setzt er also Deutschland hinter Rußland zurück. Nach der Thronrede soll die Sozialdemokratie aber auch Staat und Gesellschaft in ihrer stetigen friedlichen Entwicklung bekämpfen. Wir untergrüben die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung. Meine Herren, sind wir imstande, mit unserer Agitation diese Staats- und Gesellschaftsordnung zu untergraben, so ist das ein Beweis, daß diese Staats- und Gesellschaftsordnung sehr wenig wert ist. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Eine Staats- und Gesellschaftsordnung, die gut ist, die den allgemeinen Volksbedürfnissen entspricht, kann nicht untergraben werden. Das Untergraben an sich aber ist die Tätigkeit jeder Partei, die Bestehendes beseitigen und Neues an seine Stelle setzen will. Selbst Sie, meine 15 Wilhelm Voigt. 177
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Herren (nach rechts), haben eine untergrabende Tätigkeit auf Staat und Gesellschaft ausgeübt; alle Bestrebungen, die jetzt darauf gerichtet sind, die Gesetzgebung im konservativen Sinne zu ändern, sie sind eine untergrabende Tätigkeit, sie sind darauf gerichtet, Bestehendes unhaltbar zu machen in der öffentlichen Meinung, Neues, nach Ihrer Meinung Besseres an seine Stelle zu setzen. Umgekehrt wollen wir überall, wo es möglich ist, Gutes schaffen, indem wir Neues, Lebensfähiges ins Leben rufen, daß Alte, Abgestorbene beseitigen. Das ist vom ersten Augenblick an die Tätigkeit der Sozialdemokratie im Reichstag gewesen. In all den Jahren, in denen die Sozialdemokratie in diesem Reichstag sitzt, hat sie nie einen Antrag eingebracht, von dem man behaupten könnte, er richte sich gegen die Grundlagen der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung. ( O h o ! rechts.) - Nein, nicht ein einziger! Beweisen Sie es mir! Alle unsere Anträge waren darauf gerichtet, die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung zu verbessern (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten), Schlechtes zu beseitigen, unhaltbar Gewordenes auszuscheiden, Lebenskräftiges an die Stelle zu setzen. D i e Stellung, die die Sozialdemokratie in der heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung einnimmt, wird in klassischer Weise in der Vorrede zur ersten Ausgabe von Marx' „Kapital" zum Ausdruck gebracht. Dort heißt es in wenigen Sätzen: Eine Nation soll und kann von der anderen lernen. Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist - und es ist der letzte Endzweck dieses Werkes, das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen - , kann sie naturgemäße Entwicklungsgefahren nicht überspringen, noch wegdekretieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und mildern. 1688 ' (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Das ist der Grundgedanke, von dem aus Marx sein großes wissenschaftliches Werk „Das Kapital" begründete, und dies ist das Axiom unserer Tätigkeit seit vierzig Jahren, die wir in diesem Deutschen Reichstage tätig sind. Unsere ganze Tätigkeit im Reichstage, in den Landtagen, in den Kommunen, kurz überall, wo unsere Vertreter zu Worte kommen, ist darauf gerichtet, die bestehenden Zustände zu ändern in dem Sinne, daß sie bessere, vernünftigere, gerechtere, kulturell höhere werden - und nicht das Gegenteil, was die Thronrede in dieser Beziehung uns gegenüber behauptet. Man hat die Wahlrechtsverschlechterungen in Sachsen, in Hamburg, in Bremen, Lübeck usw. eingeführt^ 891 , nicht weil man befürchtete, die Sozialdemokratie würde Schlechtes, Unhaltbares, Lebensunfähiges einführen oder aufrechterhalten, sondern im Gegenteil, weil man befürchtet hat, sie würde das Schlechte und Unhaltbare bekämpfen und zu beseitigen trachten. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Die Furcht vor dieser reformierenden, organisierenden Kulturarbeit ist es gewesen, die die feindselige Stel178
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lung der Gesetzgebungskörperschaften und der Regierungen gegen uns hervorgerufen hat. Der Sozialismus ist in Wahrheit der Sauerteig, der die bürgerliche Gesellschaft vorwärts treibt. (Lachen rechts. - Sehr wahr! sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Bei der Berggesetznovelle [690] hat das Herr Bueck wider Willen anerkannt, indem er in einer Versammlung der Großindustriellen sagte: ein Glück, daß die Berggesetznovelle im preußischen Landtage gemacht worden ist, wo keine Sozialdemokraten und keine Zentrumsleute in der entscheidenden Stellung sind; wenn sie im Reichstage gemacht worden wäre, wäre sie viel böser für uns, die Unternehmer, ausgefallen, als sie ausgefallen ist. Außerdem, meine Herren, hat unsere Tätigkeit im Reichstage seit all den Jahren wie die sozialistische Bewegung überhaupt in hohem Grade die Wissenschaft beeinflußt. Wer 30 oder 35 Jahre und noch besser 40 Jahre zurückdenken kann, wird wissen, daß die deutsche Wissenschaft in bezug auf die wirtschaftlichen Fragen vollständig auf dem Standpunkt des Manchestertums stand, und daß es erst des Auftretens von Lassalle, Engels und Marx und der sozialistischen Bewegung Deutschlands bedurfte, um neue Gedanken und Anregungen in die wissenschaftlichen Kreise hineinzutragen. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, woher kam denn der Name „Kathedersozialisten"? — E r kam von jener Zusammenkunft im Jahre 1871 in Eisenach, bei der die Schmoller, Scheel, Schönberg, Wagner, Nasse, Held, Brentano usw. auftraten. U n d wer war es, der ihnen diesen Spottnamen gab? Das waren die Oppenheim, die Bamberger, die Eugen Richter, die alten Manchesterleute, die die neue Richtung auf das entschiedenste bekämpften. Seit jenen Tagen ist eine vollständige Umwandlung der Anschauungen in der gesamten deutschen Wissenschaft in bezug auf die Stellung des Staates und der Gesellschaft zu der Arbeiterklasse eingetreten. (Sehr wahr! Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Wenn weiter in der Thronrede gesagt wird, die großen grundlegenden Gesetze in bezug auf die Versicherung seien gegen den Widerstand der Sozialdemokratie zustande gekommen, so ist das ebenfalls eine historische Unwahrheit. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Wir haben keinen Widerstand geleistet, wir haben im Gegenteil die Gesetze nach Kräften verbessern wollen, wir hatten auch eine Menge Verbesserungsanträge gestellt. U n d Sie, meine Herren, haben es uns unmöglich gemacht, für diese Gesetze zu stimmen, weil sie nicht entfernt dem entsprachen, was wir von diesen Gesetzen verlangten. Wenn Sie einmal näher hören wollen, wie die Dinge liegen, so verweise ich Sie auf die Verhandlungen des Reichstags vom Jahre 1881, als die erste Unfallversicherungsvorlage 16 uns 16 Siehe hierzu Nr. 14 in Band 2/1 dieser Ausgabe.
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gemacht wurde. Diese Vorlage verlangte eine Reichsanstalt mit Reichszuschuß für die Unfallbetroffenen. Zwei Jahre vorher hatten wir im Reichstage eine Debatte hervorgerufen, in der wir für die Reform einer Unfallversicherung eintraten. Als dann die Vorlage kam, und die Debatte hierüber eröffnet wurde, erklärte der heftigste Gegner jener Vorlage, Herr Dr. Bamberger, unter anderem folgendes: Materiell ebenso wie formell steht der heutige Gesetzentwurf auf dem Boden des Sozialismus.16911 Meine Herren, dieses war insofern richtig, als in den Motiven zu jener Vorlage gesagt war: die bisherigen Veranstaltungen, welche die Arbeiter vor der Gefahr sichern sollten, durch den Verlust ihrer Arbeitsfähigkeit infolge von Unfällen oder infolge ihres Alters, in eine hilflose Lage zu geraten, haben sich als unzureichend erwiesen, und diese Unzulänglichkeit hat nicht wenig dazu beigetragen, Angehörige dieser Berufsklassen dazu zu führen, daß sie in der Mitwirkung zu sozialdemokratischen Bestrebungen den Weg zur Abhilfe suchen. Und an einer anderen Stelle der Motive heißt es: Das Bedenken, daß in die Gesetzgebung, wenn sie dieses Ziel verfolgt, ein sozialistisches Element eingeführt werde, darf von der Betretung dieses Weges nicht abhalten.16921 So damals Fürst Bismarck. Das war aber für die Herren Liberalen ein Schreckschuß schlimmster Art. Dagegen machten sie Front, und so erklärte Herr Bamberger, Seite 679, Session 1881 des stenographischen Berichtes: Herr Bebel hat im Jahre 1878 bei Gelegenheit gerade des Vorschlags, die Unfallversicherungsgesetzgebung zu verbessern, eine Rede gehalten, und er hat in derselben genau die Grundzüge desjenigen Gesetzes entworfen, das Ihnen heute vorliegt. Ich will Herrn Bebel des Vergnügens nicht berauben, die Stelle wörtlich vorzulesen, in der die ganze Oekonomie des Gesetzes auch seiner Ausführung nach enthalten ist; aber das kann ich sagen, nachdem ich die Rede heute morgen noch einmal nachgelesen habe, ist mir der Gedanke gekommen, ich weiß nicht, warum Herr Bebel nicht vortragender Rat der volkswirtschaftlichen Abteilung in der Reichsregierung ist.'6931 (Hört! hört!) So urteilte damals Herr Bamberger über den Einfluß der Sozialdemokratie auf die soziale Gesetzgebung. Es kann aber nach keiner Richtung bestritten werden, daß wir im Reichstag seit 40 Jahren, d.h. also solange ein Reichstag existiert, eine reformatorische Tätigkeit zum Wohle der arbeitenden Klassen und der Allgemeinheit betrieben haben, ohne dafür die nötige Unterstützung im Reichstag zu finden. Schon in den Jahren 1867, 1868 und 1869 haben wir zahlreiche Anträge zum Wahlgesetz, zum Freizügigkeitsgesetz und zur Gewerbeordnung gestellt. 180
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Wir haben bei der Gewerbeordnung im Jahre 1869 die Einführung von Schiedsgerichten, eines zehnstündigen Normalarbeitstages, den Schutz der Frauenarbeit, das Verbot der Kinderarbeit vertreten, und eine ganze Reihe ähnlicher Bestimmungen verlangt, die damals bis auf eine einzige samt und sonders abgelehnt wurden. Diese eine war der von mir gestellte Antrag, die Arbeitsbücher abzuschaffen^6941, dem damals der Reichstag und die verbündeten Regierungen zustimmten. Der Reichstag und die verbündeten Regierungen haben aber zehn Jahre später für Arbeiter unter 21 Jahren die Arbeitsbücher wieder eingeführt. Genau so war es auf dem Gebiete der Haftpflichtgesetzgebung. Ich darf noch heute sagen, daß die Kritik, die wir im Jahre 1871/72 an dem damaligen Haftpflichtgesetz' 6951 geübt haben, sich nachher vollständig richtig erwiesen hat und die Notwendigkeit einer Änderung der Gesetzgebung herbeiführte. Unsere Stellung zur Unfallgesetzgebung habe ich bereits erwähnt. Ahnlich war unsere Stellung zur Krankenversicherung, zur Invaliditäts- und Altersversicherung. In der Thronrede behauptet der Herr Reichskanzler mit Emphase, wir hätten diesen Gesetzen Widerstand geleistet. Meine Herren, auch das ist nicht wahr. Widerstand hat in erster Linie die deutsch-freisinnige Partei geleistet, die gegen alle drei Gesetze gestimmt hat, weil sie mit ihrem Grundgedanken nicht einverstanden war. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Bei uns war es umgekehrt. Wir waren mit dem Grundgedanken der Gesetze einverstanden, aber die Ausführung genügte uns nicht, und deshalb haben wir uns gegen diese Gesetze erklärt. Alles, was später zur Unfallversicherung, zur Krankenversicherung, zur Invaliditäts- und Altersversicherung an Anträgen und Novellen dem Reichstag vorgelegt worden ist - hierfür rufe ich den Herrn Staatssekretär Graf Posadowsky zum Zeugen an - sowie ein großer Teil der Reformgedanken in der Gewerbeordnung, war bereits 15 bis 20 Jahre früher in den sozialdemokratischen Anträgen enthalten. (Sehr richtig!) Meine Herren, Sie können auf dem Gebiete der Sozialpolitik kaum einen Antrag einbringen, der nicht schon von der Sozialdemokratie vorweggenommen worden wäre. 17 (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) So steht es mit diesen Dingen. In diesen Tagen, wo eine große Menge von Initiativanträgen der verschiedenen bürgerlichen Parteien uns vorgelegt worden ist, habe ich mir ein über das andere Mal gesagt: jetzt kommen die Herren nach 25, 20, 15, 10 Jahren und beantragen das, was sie damals, von uns beantragt, für unmöglich erklärt haben! (Sehr richtig! in der Mitte und bei den Sozialdemokraten.) Hätte Fürst Bülow ein objektives Urteil über diese Dinge und über unsere 17 Siehe hierzu Nr. 6, 12, 37,40 in Band 1, Nr. 53, 65, 81 in Band 2/1 sowie Nr. 26 in Band 7/2 und Nr. 195 in Band 9 dieser Ausgabe. 181
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Stellung zu den sozialen Reformen in die Thronrede bringen wollen, so wäre er verpflichtet gewesen, die Geheimräte des Reichsamts des Innern zu Rate zu ziehen und sie zu fragen, welche Arbeit die Sozialdemokratie geleistet hat. Die Herren vom Bundesrat wie die Herren Geheimräte fordere ich auf zu sagen, ob es unwahr ist, wenn ich behaupte, daß bei den Beratungen dieser Gesetze und Anträge in den Kommissionen die sozialdemokratischen Abgeordneten mit die fleißigsten und sachkundigsten gewesen sind (Sehr wahr! sehr richtig! bei den Sozialdemokraten - Widerspruch rechts), mit die fleißigsten und sachkundigsten, so anmaßend bin ich, das zu sagen. Wir haben alles Mögliche aufgeboten, um diese Gesetze zu dem zu machen, was sie sein sollten. Das ist uns durch den Widerstand, der uns von Ihrer Seite und speziell von der Reichsregierung entgegengestellt wurde, unmöglich gemacht worden. Weiter, meine Herren! Der Reichstag hat gegen Ende der 80er Jahre einen Gesetzentwurf angenommen, welcher die Unterstützung der Familien und der zur Übung eingerufenen Reservisten und Landwehrleute regelte. Wer war aber der Anreger dieses Gesetzentwurfs? Das war die Sozialdemokratie. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Der Abgeordnete Harm, der damals Vertreter von Barmen-Elberfeld war, stellte den Antrag, der vom Reichstag angenommen wurde, und auf Grund desselben ist der betreffende Gesetzentwurf dem Reichstag von den verbündeten Regierungen vorgelegt worden, für den wir selbstverständlich stimmtenJ 6 9 5 1 ' Dann heißt es in den Motiven zur Seemannsordnung: Nachdem im Reichstag durch den Antrag Schwartz die Revision der Seegesetzgebung angeregt worden ist ,.J 6 9 6 1 Meine Herren, wer war denn dieser Schwartz? Das war nicht der Schwarz aus dem Zentrum, das war der Schwanz aus der Sozialdemokratie (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten), und der Reichstag hat in seiner Mehrheit jenem Antrag zugestimmt, und die verbündeten Regierungen haben auf diese Anregung hin das Gesetz eingebracht. Der Reichskanzler hat in ganz ähnlicher Weise wie jetzt in der Thronrede auch im November 1903 behauptet: ihr habt ja nur negiert. Darauf hat mein Parteigenosse Molkenbuhr, der leider nicht mehr im Reichstag ist, am 15. Dezember 1903 in einer Rede eine lange Liste von Anträgen und Anregungen aufgeführt, die, von uns ausgegangen, im Reichstage Unterstützung und Annahme gefunden haben und die Behauptung des Reichskanzlers widerlegten. Von unserm ersten großen Reichsarbeiterschutzgesetzentwurf 18 im Jahre 1884, der ein Reichsarbeitsamt, Arbeitsämter, Arbeitskammern, Einigungsämter usw. usw. verlangte, von dem zehren Sie noch heute, meine Herren! (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Ein großer Teil Ihrer gegenwärtigen Anträge beruht 18 Siehe hierzu Nr. 31 in Band 2/1 dieser Ausgabe. 182
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auf diesem ersten Arbeiterschutzgesetzentwurf von 1884 (sehr richtig! bei den Sozialdemokraten), den wir alsdann in den Jahren 1 8 9 0 , 1 8 9 3 , 1 8 9 8 , zuletzt 1903 wieder eingebracht hatten, mit entsprechenden Verbesserungen und Erweiterungen, ohne daß er jemals Ihre Zustimmung gefunden hätte. Jetzt aber kommen Sie, holen den Gesetzentwurf hervor, nehmen ihn in Bruchstücken auseinander und bringen diese Bruchstücke als Initiativanträge von Ihrer Seite hier ein! (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Ein Mann wie Professor Herkner, der bekanntlich ein Gegner der Sozialdemokratie ist, schreibt in seiner „Arbeiterfrage": der Gesetzentwurf sei ein ausgezeichnetes Stück Arbeit. [ 6 9 7 ] U n d als er im Jahre 1898 wieder von uns eingebracht wurde, erklärte das Organ des Herrn Naumann, „Die Hilfe", der neue Reichstag könnte nichts Besseres tun, als ohne jede Debatte dem Gesetzentwurf seine Zustimmung zu geben. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Das ist die sogenannte negierende Tätigkeit, die angeblich die Sozialdemokratie ausgeübt haben soll. Weiter, meine Herren! Weiß der Herr Reichskanzler nicht, daß die Sozialdemokratie für die Handelsverträge mit Österreich-Ungarn, Rumänien, der Schweiz, Belgien und Rußland im Jahre 1892/93 gestimmt hat? Weiß der Herr Reichskanzler nicht, daß, wenn damals die 36 Stimmen der Sozialdemokratie für den russischen Handelsvertrag nicht abgegeben worden wären, der Handelsvertrag abgelehnt wurde? (Sehr wahr! Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten und rechts.) Weiß er das wirklich nicht, oder war das eine kulturfeindliche Tätigkeit? (Zuruf rechts: D e r frühere Reichskanzler!) - Meine Herren, machen Sie dem Vorgänger des Fürsten Bülow den Vorwurf, dem Grafen Caprivi, daß er damals diese Handelsverträge eingebracht hat? Damals war das in den Augen des Kaisers ein Kulturwerk. Damals wurde Herr v. Caprivi für diese Tat gegraft. Daß zehn Jahre später für einen dem damaligen entgegengesetzten Handelsvertrag der Graf Bülow gefürstet wurde (lebhafte Heiterkeit), dafür können wir doch nicht. Das ist eben ein Wandel der Anschauungen in den entscheidenden Stellen, für den man uns nicht verantwortlich machen kann. Aber, Herr Reichskanzler, wenn ich gefragt werde, was war kulturfördernder, der Handelsvertrag von 1892/93 oder der von 1905/06? - dann sage ich: der von 1892/93 und nicht der von 1905/06 ! [ 6 9 8 ] (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten. Zuruf rechts.) - Gewiß, Sie denken anders, das weiß ich. Damals haben Sie sich über unsere Abstimmung für den russischen Handelsvertrag weidlich geärgert. Sie wären vergnügt gewesen, wenn wir dagegen gestimmt hätten. (Sehr richtig! rechts.) - So barbarisch sind wir nicht! (Heiterkeit.) Ich möchte weiter noch auf einige Vorgänge des letzten Jahres zu sprechen kommen. Sie haben im vorigen Frühjahr unseren Landüberweisungsantrag an183
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genommen, der bezwecken sollte, in Südwestafrika Ruhe und Frieden zu stiften, der die Absicht hatte, den aufständischen Eingeborenen die nötigen Reservate an Land zu geben. Die große Mehrheit des Reichstags mit Ausnahme der äußersten Rechten hat für diesen Antrag gestimmt. Ich bin heute noch der Uberzeugung, wäre dem Antrag Rechnung getragen worden, der Aufstand in Südwestafrika wäre schon im vorigen Sommer zu Ende gewesen. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Aber daß man das nicht getan hat, ist nicht unsere Schuld! Wir haben ferner im vorigen Jahre dem Gesetzentwurf über die Pensionierung der Mannschaften der Armee und Marine unsere Zustimmung gegeben, wie wir auch in rühriger Weise in der Kommission für diesen Gesetzentwurf gearbeitet haben. Wir haben sogar ausnahmsweise zwei Steuergesetzen unsere Zustimmung gegeben, der Tantiemesteuer und der Erbschaftssteuer und zwar einzig und allein, weil es der Anfang einer direkten Besteurung im Reiche war, und weil wir wünschen, daß auf diesem Gebiete weiter fortgeschritten werde. So haben wir nach allen Richtungen hin durch unsere Tätigkeit das getan, was man nennt „den Staat sanieren", den Staat auf die Bahnen des Fortschritts der Kulturentwicklung treiben. Wenn uns das nicht in dem Maße gelungen ist, wie wir es haben wollten, dann sind Sie, die Mehrheit des Reichstags, an diesem allen schuld und nicht wir! (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Wir haben von der Kulturentwicklung, von den Aufgaben und Pflichten des Staates ganz andere und höhere Anschauungen als Sie, meine Herren vom Bürgertum. (Widerspruch rechts. - Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) - Jawohl, wir wollen alles Falsche, alles Rückständige, Hemmende beseitigen. Da aber, wie ich wohl annehmen darf, all das, was ich Ihnen hier sage, als von uns kommend wenig Eindruck machen wird, so erlauben Sie mir, meine Herren, eine Anzahl Gegner für uns ins Feld zu führen. Ich berufe mich zunächst auf ein Urteil des Fürsten Bismarck, das er am 26. November 1884 äußerte, als hier im Reichstag zwischen dem Zentrum und der Sozialdemokratie eine Debatte entstanden war über die Frage, wer der moralische Urheber der Arbeiterversicherung sei. Mein Parteigenosse Auer hatte damals behauptet, das sei die Sozialdemokratie. Das wurde vom Zentrumsabgeordneten bestritten. Darauf nahm Fürst Bismarck das Wort und erklärte: Wenn es keine Sozialdemokratie gäbe und nicht eine Menge sich vor ihr fürchtete, würden die mäßigen Fortschritte, die wir überhaupt in der Sozialreform gemacht haben, auch noch nicht existieren.^"1 (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Nun, meine Herren, einen urteilsfähigeren Mann in dieser Frage als den Fürsten Bismarck gibt es nicht. (Hört! hört! rechts.) - In dieser Frage sicher! Man muß jetzt den Fürsten Bismarck oft gegen Sie anführen, die Sie die ausgearteten Jünger des Fürsten Bismarck sind. (Heiterkeit.) 184
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Der Februarerlaß des Kaisers19 vom Jahre 1890t700', meine Herren, womit beginnt denn der? Der beginnt in der Einleitung mit der Erklärung: Nachdem die Arbeiter der verschiedenen Kulturländer der Welt auf ihren internationalen Kongressen die und die Forderungen gestellt haben, sehe ich mich veranlaßt, das und das zu tun und zu befürworten. Darauf kam die Internationale Arbeiterschutzkonferenz [701] , entstand das Wort von den Musterwerkstätten, die die staatlichen Betriebe sein sollten usw. Wer war also der Anreger zu diesem Erlaß? Wie deutlich in demselben steht, die deutsche, die internationale Sozialdemokratie. (Widerspruch rechts. - Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) - Ja, wehren Sie sich, so viel Sie wollen, das können Sie absolut nicht bestreiten! Ich komme nun zu einigen weiteren Ausführungen von Gegnern der sozialdemokratischen Partei. Da ist z.B. der Professor Edgar Milhaud in Genf. Dieser sagt am Schlüsse seines Buchs über die deutsche Arbeiterbewegung: Möchte man sich doch vor Augen halten, welche gewaltigen Kräfte das deutsche Proletariat, ganz auf sich allein gestellt, aufwendet, um seinen Anteil an der Wahrheit und Schönheit der Welt zu erobern. Die Sache der Kultur in allen ihren Formen, allen ihren Bestrebungen ist die Sache des deutschen Proletariats.1?021 (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) So ein Mann, der ein Gegner von uns ist. Professor Schmoller erklärte Ende September 1899: Ich muß gestehen, so sehr ich auch die Irrlehre der Sozialdemokratie bekämpfe, so sehr begrüße ich das Fortschreiten der Arbeiterbewegung im Interesse der Bildung, Gesundheitspflege und Kultur überhaupt. Ich stehe nicht an, es auszusprechen, daß ich für die meisten sozialdemokratischen Führer eine große persönliche Hochachtung habe. [703] (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Und Professor Enab, der zum bayerischen Zentrum gehört, erklärte am 27. November 1906: Ich meinerseits betrachte schon längst die Sozialdemokratie nach dem, was sie leistet. Und, meine Herren, geleistet hat sie doch schließlich auch schon etwas: sie war hinter den anderen Parteien her und hat sie gedrängt, die Sozialreform energischer in Angriff zu nehmen und das Menschenmögliche durchzuführen. Ich leugne auch nicht, daß die Sozialdemokratie auch auf das Zentrum etwas in der Weise eingewirkt hat, daß dieses energisch und entschieden die Regierung zur Durchführung der Reformen drängt^7041 (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Der badische Minister des Innern Herr Dr. Schenkel erklärte am 22. Februar 1904: 19 Wilhelm II.
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Die Sozialdemokratie ist zu einem großen Teile eine berechtigte, aus gesunden Motiven hervorgegangene Bewegung. Ich möchte daher ihre Vertreter hier im Hause nicht missen. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Das sagt ein badischer Minister des Innern vor jetzt drei Jahren, und in derselben Rede fährt er fort: Die Herren Sozialdemokraten, namentlich eine Anzahl hervorragender Führer, Leute, die aus unserer Schicht, aus der Schicht der höher Gebildeten und der Kapitalisten hervorgegangen sind, haben die sozialen Bedürfnisse dieser großen, vielgegliederten Schicht ergründet, sie haben verstanden, zum großen Teil die Angehörigen derselben um sich zu scharen, und sie haben daraus eine bei den Wahlen in Deutschland große Erfolge erzielende Partei geschaffen. Diese Partei hat an sich eine durchaus richtige und erstrebenswerte Aufgabe, nämlich die, die unteren Schichten unseres Volkes nicht bloß wirtschaftlich, sondern auch in ihrer Kultur weiter emporzuheben, eine Aufgabe, die naturgemäß nur langsam zu Erfolgen führen kann. 17051 (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) So spricht ein deutscher Minister über die Sozialdemokratie. Daß es selbst unter den Fabrikanten Leute gibt, die die Taten der Sozialdemokratie mit Dank anerkennen, mag Ihnen beweisen, daß ich hier eine Zuschrift habe aus dem Jahre 1902, die der Verband der thüringischen und sächsischen Lederfabrikanten an den sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Wurm gesandt hat wegen seiner Tätigkeit zur Beseitigung der Gerbstoffzölle: Wir sprechen Ihnen - heißt es in der Adresse - unsere ganz besondere H o c h achtung und unseren Dank dafür aus, daß Sie sich in die ganze Gerbstoffzollangelegenheit sehr gut eingearbeitet und daß Sie die Interessen der deutschen Lederindustrie so warm vertreten haben und dabei äußerst sachlich vorgegangen sind. 17061 ( H ö r t ! hört! bei den Sozialdemokraten.) So das Urteil der Gegner über einen sozialdemokratischen Abgeordneten. Ich will nebenbei erwähnen, daß mir bereits drei Jahre früher der deutsche Innungsverband für Friseure und Barbiere in einer Adresse seinen Dank dafür ausgesprochen hat, daß ich bei der Gewerbeordnung im Jahre 1899 es wesentlich mit durchgesetzt habe, daß für die Herren eine größere Sonntagsruhe eingetreten ist. Also in diesen Kreisen hat man eine Empfindung dafür, was die Sozialdemokratie bedeutet. So, meine Herren, könnte ich noch durch eine Reihe von Zeugnissen beweisen, wie gerade in den angesehensten, intelligentesten Kreisen Deutschlands die Sozialdemokratie in ihrer sozialreformatorischen und kulturfördernden Tätigkeit geschätzt wird. Erlauben Sie mir weiter ein Urteil eines nationalliberalen Professors anzuführen, der im Jahre 1903 in der „Freistatt" einen Artikel veröffentlichte - es ist der Professor Graf D u Moulin-Eckard - in dem es heißt: 186
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Begreift man denn nicht, daß diese Bewegung ebenso notwendig ist, wie die mittelalterlichen Ständekämpfe und die des „tollen Jahres 48". Beruht nicht auf diesen „Genossen" mit zum großen Teile die Zukunft der deutschen Nation? Man gehe in die Werkstätten und sehe die leuchtenden Augen, diese gesunden Schläfen, hinter denen noch unverbrauchte, unverdorbene geistige Kräfte pulsieren, die eines Tages dem Vaterlande zu Nutz und Frommen in Tätigkeit treten werden... Wir sehen nur die Bitterkeit und den Groll der Massen und nicht das Große und Gewaltige, das in ihnen schlummert. U n d doch, muß ich sagen, habe ich aus dem Hohnlachen der erbittertsten sozialdemokratischen Abgeordneten bei den letzten Verhandlungen des Reichstags mehr deutsche Kraft und nationalen Mut herausgehört, als aus all den gekünstelten Wendungen der sämtlichen Redner der Ordnungsparteien.[7Q7] (Lebhaftes Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Es ist also ein nationalliberaler Professor, der dieses Urteil über die Haltung der Sozialdemokratie beim Zolltarif fällt! Ein anderes Urteil eines nationalliberalen Professors, des Professors Kindermann an der Universität Heidelberg, der im Jahre 1904 im Volksbildungsverein Pirmasens einen Vortrag über „Zwang und Freiheit, ein weiterer Generalfaktor im Volksleben" hielt, lautet: D a ß das Maß der Ansprüche an das Leben noch lange nicht erreicht ist, das auch der arbeitenden Bevölkerung gebührt, und daß das, was dem Arbeiter heute zusteht, nicht erreicht wäre, wenn nicht die Sozialdemokratie die Rechte und Ansprüche mit eiserner Faust geltend und den übrigen Volksklassen begreiflich machen würde, daß auch die Arbeiter noch da sind. [708] (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Das ist wieder ein Urteil, das klärlich zeugt, daß, soweit Männer in den verschiedensten Parteien objektiv zu denken imstande sind - was der Herr Reichskanzler unfähig ist zu tun - , ein ganz anderes Urteil über die Sozialdemokratie haben, als er es in der Thronrede gefällt hat. Weiter, meine Herren, ein Urteil eines früheren Reichstagsabgeordneten, der Seite an Seite mit uns gearbeitet hat, der insbesondere in der Gewerbeordnungskommission der Jahre 1890/91 mit uns tätig war. Es ist Professor Gutfleisch, ein Parteigenosse der Herren von der freisinnigen Partei - der am 29. November 1906, indem er sich auf eine Äußerung des Herrn Grafen v. Posadowsky, die mir unbekannt ist, stützte, im hessischen Landtag sagte: Das Bürgertum leidet schwer unter den Angriffen der Sozialdemokratie. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, was alles wir ihr zu verdanken haben. Daß eine gewisse Summe sozialer und sozialpolitischer Interessen in Deutschland erwachsen und allmählich Gemeingut geworden ist, das haben wir wesentlich den Sozialdemokraten zu verdanken. 1709 ) (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) 187
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Er fährt weiter fort und sagt, daß vieles geschaffen worden ist, was man früher für unmöglich gehalten, sei in erster Linie der fortgesetzten Tätigkeit der Sozialdemokratie zu danken. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Er sagt dann weiter: Man hat die ganze Krankenversicherung, Unfallversicherung, Invalidenversicherung, Arbeiterschutzgesetzgebung unter dem lebhaften Widerstande eines großen Teils der bürgerlichen Elemente eingeführt.!710! Und als ihm dann zugerufen wird: „Ja aber auch der Sozialdemokraten", antwortet er: Allerdings auch der Sozialdemokraten! Aber der Vorwurf, Widerstand geleistet zu haben, der trifft die Sozialdemokraten nicht. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Ich weiß ja, - ruft er seinem Unterbrecher zu was Sie sagen wollen. Sie wollen sagen, daß auch die Sozialdemokratie an einem Teil oder einem größeren Teil dieser Gesetze negativ mitgewirkt habe. Das ist aber nicht richtig. Etwas anderes ist es, ob man bei der Schlußabstimmung, weil man noch nicht soviel erreicht hat, als man erreichen wollte, einem Gesetze zuwider ist, oder ob man dieses Gesetz von vornherein nicht will. Den Anteil, den die Sozialdemokratie an der sozialpolitischen Gesetzgebung hat, dürfen wir ehrlicherweise nicht leugnen. Dieser Anteil ist groß und wir müssen der Partei in dieser Hinsicht stets zu Dank verpflichtet sein und bleiben.! 7 "! (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Wenn unparteiische und objektiv urteilende Männer, die hier im Plenum und in den Kommissionen mit uns gearbeitet haben, in dieser Weise ein Urteil über unsere Tätigkeit und Stellung fällen, dann ist mir das weit mehr wert als das Urteil des Reichskanzlers, der all den Dingen fern gestanden hat und fern steht. Für den Herrn Reichskanzler ist die Sozialpolitik eine terra incognita, er versteht von diesen Fragen nichts. (Oho! rechts und bei den Nationalliberalen. Sehr wahr! und Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Vizepräsident Dr. Paasche: Herr Abgeordneter Bebel, Sie dürfen dem Herrn Reichskanzler nicht vorwerfen, daß er einen der wichtigsten Teile unserer Gesetzgebung nicht kennt. (Heiterkeit bei den Sozialdemokraten.) - Ich bitte um Ruhe, meine Herren! Abgeordneter Bebel: Das Urteil in der Thronrede wäre unmöglich, wenn der Herr Reichskanzler die soziale Gesetzgebung und unsere Stellung und Tätigkeit bei dieser genauer kennte. (Sehr gut! bei den Sozialdemokraten. Große Unruhe und Zurufe.) Wir bleiben der Uberzeugung: entweder kennt der Herr Reichskanzler unsere Tätigkeit nicht - das ist verzeihlich - oder er sagt etwas, was nicht wahr ist, und das wäre unverzeihlich. (Sehr wahr! sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) Ich komme noch auf ein Urteil, das ein Parteigänger der freikonservativen 188
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Partei über die Sozialdemokratie gefällt hat. Es ist dieses das Urteil des Professors Hans Delbrück über unsere Tätigkeit bei der Lex Heinze. [H] Herr Professor Hans Delbrück schrieb damals in den „Preußischen Jahrbüchern": „Einen glänzenden Feldzug hat jetzt die Sozialdemokratie mit der Lex Heinze geführt. Auch wir haben uns ja gegen dieses Gesetz erklärt, und wir könnten uns ja insofern auch der reinen Siegesfreude hingeben. Wenn wir dennoch die ganze Aktion sachlich und nicht bloß als einen Sieg, sondern in gewisser Richtung als eine Niederlage ansehen, so liegt diese Niederlage in der Tatsache, daß wir diesen Sieg der Sozialdemokratie verdanken (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten), und daß deutsche Bildung wie der deutsche Liberalismus sich nicht aus eigener Kraft haben behaupten können. Die allgemeine Erregung der literarischen und künstlerischen Kreise in Deutschland gab den Untergrund ab, aber den Sieg verlieh erst die Entschlossenheit und taktische Geschicklichkeit der sozialdemokratischen Fraktion. Kunst, Wissenschaft und Bildung haben sich in Deutschland unter die Fittiche der Sozialdemokratie flüchten müssen." 1712 ' (Sehr wahr! Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten. - Lachen bei den Nationalliberalen.) - Meine Herren, lachen Sie, soviel Sie wollen, es ist ein Gegner der Sozialdemokratie, der dies sagt, und das Urteil auch dieses Mannes ist uns tausendmal mehr wert, als das Urteil des Reichskanzlers in der gleichen Sache. (Lachen rechts. Sehr wahr! Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Ich komme nun mit einigen wenigen Ausführungen auf die Andeutungen der Thronrede über die auswärtige Politik. Die Thronrede erklärt, daß die Verhältnisse zu den fremden Mächten, d.h. mit denen wir nicht verbündet sind, gute und korrekte seien. Vor zwei Jahren lautete es etwas anders, da wurde nur von korrekten Verhältnissen gesprochen. Meine Herren, diese guten und korrekten Verhältnisse, die vorhanden sein sollen, haben bekanntermaßen in der Rede des Abgeordneten Bassermann am 13. November vorigen Jahres ungewöhnlich wenig Beifall gefunden. Das Urteil, das damals der Abgeordnete Bassermann über unsere auswärtige und zum Teil auch über unsere innere Politik ausgesprochen hat, deckt sich vollkommen mit dem, was wir seit Jahren von dieser Stelle gesagt haben. Ich darf wohl annehmen, daß Herr Bassermann, der gestern auf diesen Punkt vielleicht aus guten Gründen nicht eingegangen ist, das Urteil, das er über den Wert und die Bedeutung unserer auswärtigen Politik am 13. November hatte, auch heute noch voll und ganz teilt. Die Unzufriedenheit über die Reichsleitung war ja in den nationalliberalen Kreisen so bedeutend, daß im Oktober vorigen Jahres die „Nationalzeitung", ein gut nationalliberales Blatt, diesem Unwillen in der schärfsten Weise Ausdruck gab und schließlich erklärte, wenn die Dinge so weiter gingen, müsse die Parole sein: der Regierung, wie sie jetzt ist, und dem System, mit dem wir jetzt regiert werden, keinen Pfennig mehr! 189
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( H ö r t ! hört! bei den Sozialdemokraten.) Das ist das radikalste, was man vom parlamentarischen Standpunkt aus einer Regierung gegenüber tun kann, wenn man, weil man mit ihr unzufrieden ist, ihr ein Mißtrauensvotum ausstellen will. Auch Herr Paasche war im Sommer vorigen Jahres unter die Nörgler gegangen. (Heiterkeit.) Herr Paasche, der nationalliberale Vizepräsident des Reichstags, hat damals auf dem nationalliberalen Parteitag - es war im Juni in Schleswig-Holstein — so schwere Anklagen ausgesprochen, daß ich mich schier wunderte, daß ein nationalliberales Gemüt sie öffentlich aussprechen konnte. (Heiterkeit bei den Sozialdemokraten.) E r sagte u.a. über unsere auswärtige Politik, man dürfe sich nicht darüber täuschen, daß trotz aller heißen Bemühungen, vielleicht gerade wegen derselben, die augenblickliche Lage Deutschlands mit einer glänzenden Isolierung viel Ähnlichkeit habe. U n d Herr Paasche charakterisierte in dieser scharfen Weise nicht nur die auswärtige Politik des Fürsten Bülow, sondern auch unsere Militär- und Kolonialpolitik; er sprach sich in der schärfsten und kräftigsten Weise aus über das Cliquenwesen, das z.B. in der Militärverwaltung herrsche (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten), über die Bevorzugungen, die Platz gegriffen hätten. Meine Herren, ich freue mich, wenn die Herren von der nationalliberalen Partei uns mit solcher Kritik ein wenig zu Hilfe kommen; es ist immer wohltuend, wenn man in den Kämpfen, die man zu führen hat, Unterstützung gerade von der Seite findet, von der man sie am wenigsten erwartet. (Sehr wahr! links und Heiterkeit.) Ich nehme an, daß die Lage der Dinge, wie wir sie heute in Deutschland und Europa haben, auch an dem Urteil des Herrn Paasche vom vorigen Juni nicht das geringste geändert hat. Daß auch nichts daran geändert hat die Tatsache, daß im vorigen Jahr in Homburg der englische König mit dem Deutschen Kaiser zusammengekommen ist. Geändert hat an diesen Verhältnissen wohl auch nicht die Tatsache, daß wieder einmal ein Geschenk nach England gegangen ist, die Statue des Oraniers, die dem König von England präsentiert wurde, ich weiß nicht, für welchen Freundschaftsdienst oder für welche Gefälligkeit. Jedenfalls gehört das mit zu dem Kapitel, über das damals auch Herr Paasche äußerte: Wir sollten niemandem nachlaufen; gerade weil man so vielen nachlaufe, deswegen sei unsere auswärtige Politik bisher so übel gefahren. Es ist auch charakteristisch insbesondere in bezug auf unsere Stellung zu Italien, daß, als im Oktober des vorigen Jahres Herr Lockroy in R o m , anknüpfend an eine ziemlich gleichlautende Äußerung des Deutschen Kaisers an den Grafen Goluchowsky, eine Rede hielt, die Stelle dieser Rede, „kein guter Franzose werde den wertvollen Sekundantendienst vergessen, den Italien uns in Algeciras geleistet hat", mit großem Jubel aufgenommen und von der gesamten italienischen Presse akklamiert wurde. Wir müssen eben damit rechnen - die 190
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Gründe dafür liegen sehr nahe - , daß, wenn Italien heute auch noch offiziell im Dreibunde steht, seine tatsächlichen Interessen es nach ganz anderen Seiten hinweisen, die Interessen, die es im mittelländischen Meere zu verfechten hat, Interessen, die es um jeden Preis gemeinsam mit England und Frankreich vertreten muß. Sehen wir uns die Situation in Europa an, so müssen wir sagen, daß das Leitmotiv der auswärtigen Politik in Europa nach wie vor ist: es wird weiter gerüstet, allen Friedenskonferenzen zum Trotz! Wir haben ja in diesem Frühjahr abermals eine Friedenskonferenz im Haagt 713 \ die zweite seit einer Reihe von Jahren, zu erwarten. Was haben diese Friedenskonferenzen überhaupt für eine Bedeutung? Als vor 7 oder 8 Jahren die erste Friedenskonferenz im Haag stattfand 1714 !, wurde eine Resolution einstimmig angenommen, in der die sämtlichen Vertreter der dort anwesenden Regierungen erklärten, daß die militärischen Rüstungen eine außerordentlich drückende Last für die Völker seien, und daß die Staaten alles aufbieten sollten, um diesen Rüstungen ein Ende zu machen. Alsdann gingen die Vertreter der Regierungen nach Hause und - die Antwort war: ihre Regierungen kamen mit neuen Militär- und Flottenforderungen, und die Parlamente haben diese neuen Militär- und Marinevorlagen gutgeheißen. Man tritt Jahr für Jahr seitens der bürgerlichen Parteien auf sogenannten Friedenskongressen zusammen, man redet sehr viel, man speist und trinkt sehr gut und geht nach ein paar Tagen sehr selbstzufrieden auseinander. Aber wenn die Besucher dieser Friedenskongresse als Parlamentsvertreter in ihre jeweiligen Länder zurückkehren und dort zu entscheiden haben, ist kaum einer unter ihnen, der gegen diese Rüstungen auftritt; alle heißen sie dieselben gut, und der alte Zustand dauert weiter. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Wir haben im diesmaligen Etat mit neuen Formationen kaum zu tun. Was an Neuformationen gefordert wird: ein Infanteriebataillon, ein Pionierbataillon, ein Telegraphenbataillon, neue Funkentelegraphenabteilung - sind verhältnismäßig kleine Neuformationen. Trotzdem erfordert der Militäretat in diesem Jahre 531/2 Millionen an Ausgaben mehr als im vorigen Jahre, die Marine 24 3 /4 Millionen, die Zinsen der Reichsschuld werden, wie schon gestern Herr Spahn anführte, von 127 Millionen auf 136 Millionen steigen. Kurz, wir stehen in einer Situation, wo nach meiner Uberzeugung neue Steuern gar nicht ausbleiben können. Das Reich kommt trotz aller erst bewilligten Steuern mit den gegenwärtigen Einnahmen nicht mehr aus. Gestern hat der Herr Staatssekretär des Reichsschatzamts 2 0 sich alle erdenkliche Mühe gegeben, den Reichshaushaltsetat in einem möglichst günstigen Lichte erscheinen zu lassen, nach meiner Uberzeu20
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55 Die Welt soll erfahren, wie es in diesem Wahlkampf zugegangen ist gung einzig und allein aus dem Grunde, um nach außen hin um keinen Preis den Gedanken aufkommen zu lassen, daß der eben gewählte, unter großem patriotischen Tamtam zusammengebrachte Reichstag als seine erste Aufgabe neue Steuervorlagen zu beraten haben werde. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) A b e r was Ihnen in dieser Session erspart bleibt, wird sicher in der nächsten k o m m e n ; und wenn mittlerweile das U n g l ü c k es will, daß an Stelle der gegenwärtig herrschenden Prosperitätsepoche eine ökonomische Krise hereinbrechen sollte, w o alsdann notwendigerweise die auf die Verbrauchssteuern basierten Einnahmen des Reichs statt einer E r h ö h u n g einen Rückgang erfahren würden, werden Sie erst recht gezwungen sein, zu neuen Steuern zu greifen. Ich hoffe nur, daß alsdann in der neuen Stellung, welche gegenwärtig das Zentrum im Reichstage einnimmt, es sich etwas mehr als bisher über die Bedeutung des § 6 des F l o t t e n gesetzes klar wird, der da besagt, daß neue Steuern nicht auf die notwendigen Bedarfsartikel der großen Masse abgewälzt werden dürfen. Wenn das Zentrum in dieser Frage endlich einmal feststehen sollte, wie wir das schon im vorigen Frühjahre von ihm wünschten und verlangten - leider vergeblich - , wenn es infolge seiner veränderten Stellung auch den Steuerfragen gegenüber eine etwas andere Stellung einnimmt, haben wir ja die Gewißheit, in diesem neuen „nationalen" Reichstag eine Mehrheit zu besitzen, die für direkte Reichssteuern ist: das Z e n t r u m mit seinen 110 Mitgliedern, wir mit unseren 43, die Herren Linksliberalen mit ihren nahezu 60. ( G r o ß e Heiterkeit.) Das wäre also eine Mehrheit, die für direkte Reichssteuern: für Reichseinkommensteuer, Vermögenssteuer usw. zu haben ist. (Zuruf von den Nationalliberalen: Wir auch!) - Sie auch? Also Sie endlich auch! Das freut uns besonders! (Große Heiterkeit.) U b e r einen Sünder, der B u ß e tut, ist bekanntlich mehr Freude als über 99 Gerechte. (Erneute Heiterkeit.) Wenn Sie also, meine Herren Nationalliberalen, in der Tat bereit sind, jetzt, w o neue Steuern notwendig werden, direkte Reichssteuern einzuführen, begrüßen wir Sie als Bundesgenossen. (Heiterkeit und Zurufe.) W i r sind nicht die Menschenfresser, für die Sie uns halten. Wenn Sie uns mit vernünftigen R e f o r m e n k o m m e n , finden Sie allezeit unsere Unterstützung. Das kann ich Ihnen schon heute sagen. Das haben wir auch früher getan. Leider haben Sie uns außerordentlich selten Gelegenheit gegeben, uns über Sie zu freuen. (Heiterkeit.) Ich hoffe also, daß die Mehrheit des Reichstags für direkte Steuern um so mehr zu haben sein wird, als ja der H e r r D i r e k t o r des Kolonialamts in seinen Agitationsvorträgen, die er vor der Reichstagswahl gehalten hat, sich die undenklichste M ü h e gegeben hat, zu beweisen, daß die Lasten, die jetzt und künftig die Kolonialpolitik erfordert, eigentlich gar nicht in Betracht kämen; denn - so führte er aus - die deutsche N a t i o n sei in den letzten 20 Jahren um 30 192
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Tausend Millionen reicher geworden. Es ist das, Herr Kolonialdirektor, die einzige Stelle in Ihrer Rede, mit der ich voll und ganz mit Ihnen einverstanden bin. (Große Heiterkeit.) Ich habe sogar die Überzeugung, daß diese Angabe eher etwas unter der Wahrheit bleibt, als darüber hinausgeht. Die besitzenden Klassen in Deutschland sind in den letzten 20 Jahren gewaltig reicher geworden; ich glaube, Deutschlands Reichtum kann sich heute Englands Reichtum dreist an die Seite stellen. (Widerspruch. - Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Wenn es der englischen Nation mit ihren 42 Millionen Einwohnern möglich wird, bei Einkommen von 3200 Mark aufwärts an Einkommen-, Vermögens- und Erbschaftssteuer jährlich die kolossale Summe von 1150 Millionen aufzubringen, dann muß es Deutschland möglich sein, neben den 400 Millionen, die heute zu dem Zwecke in den Einzelstaaten aufgebracht werden, mindestens 600 Millionen an direkten Steuern für das Reich aufbringen zu können. Wo die Steuern zu holen sind, das weist die Statistik nach. Eine einzige Tatsache sei angeführt. Ich habe hier eine Aufstellung aus der Stadt Essen vor mir. Dort waren vom Jahre 1895 bis 1905/7 die Vermögen von mehr als 6000 Mark bis zu den vielen Millionen, die Krupp liefert, von 331 Millionen auf 628 Millionen gestiegen, also nahezu um 100 Prozent. (Zuruf.) Wenn Sie meinen, das sei in der Hauptsache Krupp allein, so irren Sie sich. (Zuruf rechts.) - Erlauben Sie, auch die Zahl der Zensiten ist gestiegen. Im Jahre 1895 waren 2320 Zensiten vorhanden und im Jahre 1905 3340, also nahezu 50 Prozent mehr. Es trifft also dieser Vermögenszuwachs bei weitem nicht allein Krupp; das Vermögen ist allgemein bedeutend gewachsen. - Angesichts dieser Tatsache, bin ich allerdings der Meinung, ist es unumgänglich notwendig, daß von jetzt ab die besitzenden Klassen entsprechend der ungeheuren Zunahme an Macht, Einkommen und Vermögen auch zu den Reichslasten beizutragen haben. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, Sie werden es ja brauchen; täuschen wir uns doch nicht. Es handelt sich nicht bloß um das, was jetzt gefordert wird: Wir brauchten schon heute für mindestens 100 Millionen Mark neue Steuern. Man wurstelt noch ein, zwei Jahre weiter, dann geht es aber nicht mehr. Und mittlerweile steigen auch die Anforderungen. Wir haben eine ganze Reihe Etats, bei denen Jahr für Jahr die Ausgaben wachsen. Und dann ein anderes. Wir haben aus den Aktenstücken, die der „Bayerische Kurier" veröffentlichte, ersehen, mit welchem Eifer die Herren vom Flottenverein für neue Flottenvorlagen eintreten. Sie meinen, jetzt endlich würde Herr v. Tirpitz, der bisher nicht die Courage gehabt habe, dem Zentrum gegenüber eine vernünftige Flottenvorlage einzubringen, bei diesem Reichstage Gehör finden. Beiläufig bemerkt, ein schönes Kompliment, das man den Herren macht, daß sie nicht den Mut gehabt hätten, des Zentrums wegen eine „vernünftige" Flotten193
i 5 Die Welt soll erfahren, wie es in diesem Wahlkampf zugegangen ist vorläge zu bringen! U n d der H e r r Reichskanzler hätte angeblich auch nicht den Mut, und zwar ebenfalls aus Angst vor dem Zentrum, eine solche Vorlage zu bringen. Ich sage offen: ich bin überrascht, aus diesen Aktenstücken zu ersehen, wie nützlich das Zentrum gewirkt hat. (Sehr gut! und große Heiterkeit.) - Meine Herren v o m Zentrum, ich dachte gleich, daß das Kompliment Ihnen gefallen würde. (Erneute Heiterkeit.) Wir haben Sie immer angegriffen, weil Sie immer bewilligten. Aber die dort (auf die Nationalliberalen weisend) hätten weit mehr bewilligt, das ist sicher. (Große Heiterkeit.) Der H e r r Generalmajor Keim und die anderen Herren haben allerdings ein lebhaftes Mißtrauen gegen Herrn Bassermann ausgesprochen. Aber H e r r Bassermann wird mit sich reden lassen. (Heiterkeit.) N a c h d e m er jetzt eine entsprechende Mehrheit hinter sich hat, wird er wohl auch weicher geworden sein. D e r H e r r Generalmajor Keim meint auch: es sei ganz undenkbar, es wäre sonst scheußlich, daß die Nationalliberalen jetzt nicht für eine neue Flottenvorlage eintreten sollten nach dem, was man für sie getan. U n d wenn man uns sagt: der Flottenverein ist ein Privatverein, - so antworten wir: er ist kein Privatverein. Die Tätigkeit, die der Flottenverein 2 1 bei den Wahlen entwickelt hat, die Tätigkeit, die der Herr General Keim als sein Geschäftsführer entwickelte, indem er im Reichskanzlerpalais und im Reichskanzleramt aus- und eingegangen ist und dort mit ihm die Feldzugspläne für die Wahlen verabredet worden sind, hat uns deutlich gezeigt, was für eine große politische Macht der Flottenverein ist. Beiläufig bemerkt, gilt der Flottenverein als unpolitischer Verein bei der Polizei, während er in Wahrheit ein rein politischer Verein ist. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Er entwickelt eine politische Tätigkeit, wie sie ein Verein nur entwickeln kann. U n d dann, meine Herren, das unwidersprochen gebliebene Wort des Kaisers auf dem letzten H o f b a l l , als er dem Fürsten Salm, dem Präsidenten des Flottenvereins, wie es im Bericht heißt, mit laut erhobener Stimme zurief: „Mein lieber Fürst, die Wahlen sind ja vorzüglich ausgefallen, und ich freue mich, daß Ihr Flottenverein die Sache so prächtig gemacht hat." [ 7 1 5 ] (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Dieses offizielle Wort des Kaisers spricht ebenfalls für die politische Tätigkeit des Flottenvereins. E s ist auch sehr interessant, wie die Herren unter sich über die Flottenrüstungen urteilen. Ich habe vor mir den Bericht der „Kölnischen Zeitung" über eine Hauptversammlung, die im vorigen Jahre in Bonn die Mitglieder der Bezirks-, Kreis- und Ortsgruppen des Deutschen Flottenvereins in der Rheinprovinz abhielten. Hier war es der Oberpräsident der Rheinprovinz, Freiherr v. Schorlemer-Alst, der u.a. aussprach: 21 194
Siehe hierzu Nr. 36 und 40 in Band 7/2 sowie Nr. 136 und 153 in Band 9 dieser Ausgabe.
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Ich glaube aber trotzdem die Hoffnung und Überzeugung ausdrücken zu können, daß die gewaltige Bewegung, die der Deutsche Flottenverein angefacht hat, nicht eher erlahmen wird, bis der Tag angebrochen ist, wo unsere Flotte ebenbürtig denen anderer Länder sich zur Seite stellen kann. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten. Sehr richtig! rechts.) Meine Herren, darin ist also das offizielle Eingeständnis enthalten, daß der Flottenverein darauf hinarbeitet, Deutschland eine Flotte zu schaffen, die der englischen Flotte ebenbürtig an der Seite steht. (Zuruf rechts: Anderer Länder!) - Anderer Länder! Ist denn da England nicht dabei? (Erneuter Zuruf.) - Herr Kollege Gamp, Sie sind nicht so naiv, wie Sie sich stellen. (Große Heiterkeit.) Es wurde in dieser Versammlung auch eine Resolution angenommen, in der direkt ausgesprochen wurde, daß trotz der angenommenen Flottenvorlage das Vaterland noch lange nicht in der Lage sei, sich im Besitze derjenigen Flotte zu befinden, die den sicheren Schutz der deutschen Brüder im Auslande, unserer Kultur- und Handelsinteressen verbürge. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, über die Tätigkeit und die Stellung des Deutschen Flottenvereins kann uns nach alledem kein Mensch mehr ein X für ein U vormachen. Sehr interessant sind auch die Äußerungen, die voriges Jahr im September auf der Generalversammlung des Alldeutschen Verbandes in Dresden gemacht wurden. D o r t nahm u.a. der Marineschriftsteller Graf Reventlow das Wort und machte folgende interessante Ausführungen. Ich bitte namentlich den Herrn Reichskanzler, diesen Bemerkungen recht aufmerksam folgen zu wollen. D e r Graf Reventlow führte nämlich aus: Im Sprachgebrauch unserer Unteroffiziere findet sich eine Redensart, die ungeschickten Rekruten gegenüber angewendet wird: was nicht in den K o p f will, muß in die Beine. Dieses Wort müssen wir auf unser staatliches Leben übertragen. J e schwächer unsere auswärtige Politik, desto stärker muß unsere Wehrkraft sein. ( H ö r t ! hört! bei den Sozialdemokraten. Heiterkeit im Zentrum.) Meine Herren, ein eklatanteres Mißtrauensvotum gegen den Leiter der äußeren Politik ist niemals ausgesprochen worden, als es hier auf dem Alldeutschen Verbandstage in Dresden geschehen ist. Damit aber nicht genug, daß der Herr Graf Reventlow dieses wunderbare Mißtrauen gegen den Herrn Reichskanzler aussprach; nach ihm kam noch ein anderer Redner, der folgendes ausführte: Wir Deutschen haben um so mehr ein starkes Heer und eine große Flotte nötig, als uns jetzt eine Diplomatie fehlt. (Heiterkeit bei den Sozialdemokraten.) Das, was uns an Diplomatie fehlt, müssen wir durch brutale Macht, durch Kraft ersetzen. Diese Macht ist eben Heer und Flotte. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) 195
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Meine Herren, der das aussprach, war der Generalissimus des letzten Reichstagswahlkampfes, der Präsident des Verbandes zur Verleumdung der Sozialdemokratie, Herr Generalleutnant v. Liebert. (Bravo! rechts. Große Heiterkeit bei den Sozialdemokraten und im Zentrum.) Das ist doch das stärkste Mißtrauensvotum, das dem Reichskanzler durch diesen Herrn gegeben werden konnte. Also weil wir keine Diplomatie haben, die etwas taugt, auf die wir uns verlassen können, müssen wir eine starke Flotte haben, müssen wir durch brutale Macht ersetzen, was uns an geschickter Diplomatie fehlt! (Zurufe rechts) Meine Herren, es läge nahe, auch auf die Kolonialpolitik einzugehen, die in der Thronrede erörtert worden ist. Ich sehe heute davon ab. Wir werden noch Gelegenheit haben, uns über diese Dinge weiter zu unterhalten; wir werden alsdann auch ganz besonders den Herrn Kolonialdirektor ins Gebet nehmen. (Heiterkeit bei den Sozialdemokraten.) Denn was der Herr Kolonialdirektor in seinen Agitationsreden für die Reichstagswahl sich geleistet hat, das geht, wie man zu sagen pflegt, wirklich über die Hutschnur. (Lachen rechts und bei den Nationalliberalen. - Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Er hat in einer Weise Phantasiebilder über den Wert der Kolonien entwickelt, wie ich das niemals für möglich gehalten hätte. Ich kann nur wiederholt sagen: solange der Herr Kolonialdirektor Bankdirektor war, war er offenbar ein sehr vernünftiger, ruhig überlegender Mann (große Heiterkeit), damals waren ihm unsere Kolonien Hekuba, damals hatte er für sie nichts übrig; ich glaube, er hat kaum gewußt, wo Deutschland Kolonien hatte. (Große Heiterkeit bei den Sozialdemokraten. Lachen rechts und bei den Nationalliberalen.) Wenigstens machten seine Reden diesen Eindruck. Auch hat er offenbar bis zu der Zeit, wo er jene schönen Reden hielt, sich noch nicht genügend mit unseren Kolonien beschäftigt; denn gerade in den Tagen, wo er in der überschwenglichsten Weise die wunderbarsten Phantasmagorien enthüllte über das, was die Kolonien bieten sollten, in denselben Tagen hat z.B. der Herr Legationsrat a.D. Zimmermann, ein Mann, der etwas mehr von den Kolonien weiß als der jetzige Herr Kolonialdirektor (Na! Na! rechts), ein ganz anderes Bild von denselben entwickelt, als dasjenige, das der Herr Kolonialdirektor bei jeder Gelegenheit entwickelt hat. Da war nicht weniger als alles, was wir in unseren Kolonien zu holen imstande seien. Das war so in seinen Vorträgen hier in Berlin, das war so in seinem Vortrag in München, das war auch in Stuttgart noch so; aber in Frankfurt kam bereits die Ernüchterung über ihn. (Sehr wahr! sehr richtig! in der Mitte und bei den Sozialdemokraten.) In der Frankfurter Rede war ein ganz anderer Ton als in den Reden vorher. Während er vorher in der überschwenglichsten Weise die ungeheuerlichsten Hoffnungen zu erwecken suchte, was aus den Kolonien zu holen sei, war seine Frankfurter Rede im tiefsten Mollton gehalten und klang aus in die Mah196
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nung: Geduld! - Geduld! - Geduld! (Große Heiterkeit bei den Sozialdemokraten.) Nun, der deutsche Michel hat schon lange Geduld gehabt und wird sie auch weiter üben, und wir werden uns freuen, wenn Sie auf diesem Gebiete die Geduld des deutschen Michels recht lange in Anspruch nehmen, d.h. daß Sie ihm recht wenig Opfer für die Kolonien zumuten. Ich habe schon vorhin erwähnt, daß Fürst Bismarck eines Tages sehr ernsthaft zu nehmende Männer, wie Miquel, Bennigsen usw., als Karlchen Mießnick-Politiker bezeichnete. Bei dem Fürsten Bülow ist das anders geworden; bei dem scheinen die Karlchen Mießnick-Politiker in besonderem Ansehen zu stehen, die nimmt er mit offenen Armen auf; denn Karlchen Mießnick-Politik ist z.B. die Kolonialpolitik, die der Herr Kolonialdirektor in seinen Vorträgen vertreten hat. (Lachen rechts und bei den Nationalliberalen. Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Der Kaiser hat in der Thronrede das Versprechen abgegeben, die verbündeten Regierungen seien entschlossen, das soziale Werk Wilhelms I. fortzusetzen. Meine Herren, wie wir zu dieser Gesetzgebung stehen, habe ich vorhin ausgesprochen. Kommen Gesetze, so werden wir sie sachlich prüfen und werden unseren Parteimaßstab anlegen und werden die Forderungen stellen, die wir im Interesse der Arbeiter stellen zu müssen glauben. Akzeptieren Sie dieselben, so wird uns das freuen; verweigern Sie das, so werden wir, wie früher, in die Lage kommen, gegen ein Gesetz stimmen zu müssen. Aber, meine Herren, es ist doch charakteristisch, daß in demselben Augenblicke, in dem in der Thronrede eine derartige Ankündigung erfolgt, bereits in einem Teile der konservativen Presse ein Geschrei darüber entsteht, daß die Sozialpolitik fortgesetzt werden solle. (Zuruf.) Ich erinnere an das Verhalten des Zentralverbandes der Großindustriellen. (Zuruf rechts: Das sind keine Konservativen!) - Warten Sie nur, die kommen nachher; im Augenblick ist mir mein Gedankengang etwas durcheinandergegangen durch einen Zuruf von Seiten meiner Freunde. - D i e „Kreuzzeitung" und die „Post" wehren sich sehr dagegen, daß diese Art Sozialpolitik mit „Automobilgeschwindigkeit" wie die „Post" sagt, weiter geführt werden solle. Als wenn wir jemals im Deutschen Reiche auf dem Gebiete der Sozialpolitik eine Automobilgeschwindigkeit kennen gelernt hätten! Und dann, wie haben sich die Herren auf der Generalversammlung der Wirtschaftsreformer ausgesprochen? Halt solle gemacht werden mit der Versicherungsgesetzgebung, den Arbeitern ginge es gerade gut genug, dem Arbeiter brauche nicht mehr geholfen zu werden, jetzt müsse dem Mittelstand geholfen werden. (Sehr richtig! rechts.) - Meine Herren, wenn Sie das nur vor den Wahlen gesagt hätten! (Große Heiterkeit. Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) (Zurufe rechts: Haben wir ja!) - Nein, da haben Sie zwar gesagt: wir helfen dem Mittelstand; aber Sie fügten hinzu: auch dem Arbeiterstand. Jetzt verschwindet der 197
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Arbeiterstand und bleibt nur noch der Mittelstand übrig. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Es geschieht Ihren Arbeitern ganz recht, daß, wenn sie nachher die Rechnung aufmachen, sehen, daß sie die Balmierten sind. Das wird überhaupt kommen. Wir sehen mit großem Vergnügen dem Gang der Verhandlungen dieses Reichstages entgegen. Glauben Sie nicht, daß wir ernsthaft betrübt sind, daß die Dinge so gekommen sind. (Heiterkeit.) Jetzt haben Sie ihre Majorität, jetzt können Sie sich nicht mehr darauf berufen, daß es Parteien gebe, die Ihnen hindernd in den Weg getreten seien. Sie können also in uneingeschränktester Weise die sogenannte Mittelstandspolitik vertreten. Sie haben überhaupt schon seit 20 Jahren diese Mittelstandspolitik vertreten. Was haben Sie denn gerettet? Den Mittelstand? Nach Ihren eigenen Worten geht es ja heute dem Mittelstand schlechter als je. U n d warum? Weil alles, was Sie gemacht haben, soziales Pfuschwerk war. (Lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten. Widerspruch rechts.) Weil alles das dem Mittelstand nicht helfen kann. Ich sage noch mehr: weil Sie demselben überhaupt zu helfen nicht imstande sind mit all Ihren schönen Versprechungen. Ich wünschte nur, daß alle Ihre Anträge Gesetzeskraft erlangten. Ja ich wünsche, daß Herr Pauli in das Reichsamt des Innern berufen würde (große Heiterkeit), um die Mittelstandsgesetze auszuarbeiten. Sie haben den Mittelstand bis 1895 nicht retten können, wie uns die Gewerbestatistik zeigt. Wir haben 1907 eine neue Berufszählung; die betreffende Vorlage liegt uns bereits vor. Meine Herren, ich sage Ihnen schon heute: das Jahr 1907 wird ähnliche Resultate ergeben wie das Jahr 1895. [ 7 1 6 ] Es wird zeigen, daß abermals die Kapitalmacht gewaltige Fortschritte gemacht hat, daß die Großindustrie in gewaltiger Weise gewachsen ist, daß die Konzentration der Betriebe riesenhafte Fortschritte gemacht hat, und daß auf der anderen Seite der Mittelstand mehr und mehr zurückgegangen ist. Das werden die Früchte dieser Statistik sein, und der, der das herbeigeführt hat, ist der Großkapitalismus, den Sie trotz aller Mittelstandsfreundlichkeit fortgesetzt unterstützt haben. (Widerspruch rechts. - Zurufe.) - Nein, Sie unterstützen ihn mit ihrer ganzen Schutzzollgesetzgebung. (Zuruf: Börsensteuer!) - Ja, meine Herren, auch Ihre Börsensteuergesetzgebung hat dazu beigetragen. Fragen Sie einmal die Börsenleute, was Sie mit der Börsengesetzgebung erreicht haben! Sie haben erreicht, daß drei Viertel der kleinen Bankiers, die noch vor 20 Jahren existierten, aufgehört haben, existenzfähig zu sein. (Sehr richtig! links.) Meine Herren, wir sind der Uberzeugung, daß auch in diesem neuen Reichstag die sozialen Reformgesetzbäume nicht in den Himmer wachsen werden. Der Geist, der heute herrscht, ist klipp und klar durch den Gesetzentwurf charakterisiert, den der letzte Reichstag in seiner letzten Tagung vorgelegt bekam, den 198
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Gesetzentwurf über die Rechtsfähigkeit der Berufs vereine. Ich habe keinen Zweifel, daß, wenn dieser Gesetzentwurf wieder kommt, er fast in derselben Gestalt dem Reichstag wieder vorgelegt wird, obgleich er die einstimmige Verurteilung aller Arbeiter ohne Rücksicht auf ihre Parteizugehörigkeit gefunden hat. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Was wir vor allem einmal verlangen müssen, ist ein demokratisches Vereinsund Versammlungsgesetz. Wenn der Staat Württemberg mit einem solchen auskommt, dann kann auch das Deutsche Reich dabei gedeihen. Ich erinnere den Herrn Reichskanzler an eine Stelle in seinem Silvesterbrief. E r hat dort den Satz ausgesprochen, der deutsche Arbeiter sei der gebildetste Arbeiter der Welt. N u n gut, Herr Reichskanzler, wenn das Ihre Uberzeugung ist - und ich bezweifle das nicht - , so ist es Ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit, den deutschen Arbeiter genau so zu behandeln, wie die minder gebildeten Arbeiter in anderen Ländern schon behandelt werden. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) So hat der schweizer Arbeiter, der nach Ihnen nicht der gebildetste Arbeiter ist, schon mit 2 0 Jahren das Wahlrecht für die Kommune, für den Kanton, für den Nationalrat, und er hat ein absolut freies Vereins- und Versammlungsrecht dazu. Auch der belgische, der englische Arbeiter haben ein absolut freies Vereins- und Versammlungsrecht. Frau und Mann werden gleich behandelt. Wir verlangen für den „gebildetsten Arbeiter der Welt" dasselbe Recht an Freiheit der Vereine und Versammlungen, welches die Arbeiter anderer Länder längst haben. Also, Herr Reichskanzler, hier werden Sie mit Ihren eigenen Worten angenagelt! D e r Phrasen sind genug gewechselt, wir wollen endlich Taten sehen! (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Wir wollen uns nicht länger hinhalten lassen mit schönen Versprechungen. (Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) D e r H e r r Reichskanzler hat gestern gesagt, an was alles er denke. E r denke an das, er denke an jenes. (Heiterkeit.) Ganz schön, daß er so denkt. Aber wir hoffen, daß dem Denken nun auch die entsprechenden Taten folgen, und daß diese Taten dem Zustande entsprechen, in dem nach seiner eigenen Meinung der deutsche Arbeiter sich befinden soll. Wir verlangen endlich einmal die Sicherung des Koalitionsrechts der Arbeiter gegen polizeiliche und richterliche Ubergriffe. Wir verlangen die Gleichheit der Behandlung der Unternehmer und der Arbeiter. Wir wollen, daß der Arbeiter und der Unternehmer mit dem gleichen Maßstabe behandelt werden, was ja heute leider nicht der Fall ist. Wir verlangen, daß der Arbeiter von seinem Menschen- und Staatsbürgerrecht Gebrauch machen und die Arbeit einstellen kann, ohne daß mit Gewalt, Drohung, Mord und Totschlag gegen den streikenden Arbeiter vorgegangen wird. (Zuruf rechts: Umgekehrt! - Sehr wahr! sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, wir haben solche Taten in Nürnberg, Fürth, Köln und hier in 199
J 5 Die Welt soll erfahren, wie es in diesem Wahlkampf zugegangen ist Berlin kennen gelernt. Es gibt eine ganze Reihe von Fällen, w o streikende Arbeiter von Arbeitswilligen schwer verletzt, selbst getötet worden sind, ohne daß bisher die entsprechende Sühne eingetreten ist. (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten. Zurufe rechts: U m g e k e h r t ! ) - N e i n , meine Herren, kein Gedanke! Sie haben die Polizei, die Staatsanwälte, die Richter auf Ihrer Seite; wie k ö n n e n Sie sagen: umgekehrt? Wenn ein organisierter Arbeiter nur das geringste gegen einen Arbeitswilligen unternimmt, so kann er sicher sein, daß er mit den allerhärtesten Strafen, die das Gesetz zur Verfügung hat, getroffen wird. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) W i r verlangen endlich, daß die Klassenjustiz beseitigt wird, daß R e c h t und Gerechtigkeit für alle im Deutschen R e i c h e gelten. W i r wollen nicht, daß auf der einen Seite die strengste Bestrafung und auf der anderen die laxeste Anwendung der Gesetze Platz greife. Ich habe schon daran erinnert, wenn eine Organisation wie der Flottenverein eine sozialdemokratische Organisation wäre, wäre er längst von den Staatsbehörden, von der Polizei und dem Staatsanwalt zur Verantwortung gezogen worden. D i e Herren dort an der Spitze gehen frei aus. M e i n e Herren, ich habe schon voriges J a h r hier Fälle schwerer Urkundenfälschungen vorgebracht, die sich der Kriminalkommissar Schöne hat zuschulden k o m m e n lassen. Bis heute haben diese Schandtaten noch keine Sühne gefunden. ( H ö r t ! hört! bei den Sozialdemokraten.) N i c h t die geringste Untersuchung ist, soviel ich weiß, über diese schweren Urkundenfälschungen, die nach dem Strafgesetzbuch mit vieljährigem Zuchthaus bestraft werden müßten, bis heute erfolgt. D e m Arbeiter Biewald in Breslau ist die H a n d abgehauen worden; der Polizist, der das getan, ist bis heute n o c h nicht entdeckt, obgleich man in Breslau glaubt, mit den Fingern auf den M a n n zeigen zu können, der es getan haben soll. ( H ö r t ! hört! bei den Sozialdemokraten.) Allüberall sehen wir zweierlei M a ß in der H a n d h a b u n g der Gesetzgebung, insbesondere auch in der Rechtsprechung. Dagegen protestieren wir auf das energischste. W i r verlangen weiter Schaffung eines Reichsberggesetzes, eines Bergarbeiterschutzes, der Unglücksfälle, wie wir sie jüngst auf der G r u b e Reden gehabt haben, unmöglich macht. W i r verlangen, daß endlich einmal den Bergarbeitern, die gerade am allerschwersten den K a m p f ums Leben zu führen haben, eine Gesetzgebung zu ihrem Vorteil zuteil wird, die das preußische Dreiklassenwahlparlament zu geben verweigerte und nach seiner Stellung zu geben verweigern muß. W i r verlangen für die Arbeiter eine Organisation, in der sie ihre Interessen nach allen Richtungen, in vollem Maße, in voller Freiheit und Unabhängigkeit gegenüber den Unternehmern und der Staatsgewalt vertreten können. W i r verlangen volle Gleichheit der politischen Rechte ohne Unterschied des Geschlechts und ohne Unterschied des Standes, wir verlangen Freiheit und R e c h t ohne 200
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Ansehen der Person, freie Betätigung der politischen und religiösen Überzeugung, Strafe dem, der es wagt, eine Person wegen ihrer religiösen oder politischen Uberzeugung zu maßregeln oder zu schädigen. Wir verlangen, daß der Beamte und Staatsarbeiter das Recht hat, frei seine Uberzeugung sagen zu dürfen, ohne befürchten zu müssen, daß er gemaßregelt und existenzlos gemacht wird. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten. Wiederholte Zurufe rechts. - Glocke des Präsidenten.) Vizepräsident Dr. Paasche: Ich bitte, nicht immer zu unterbrechen. Abgeordneter Bebel: Meine Herren, ich habe bereits vor einer langen Reihe von Jahren bei einer ähnlichen Erörterung im Reichstag in der energischsten Weise erklärt, daß ich meinerseits es auf das entschiedenste mißbillige, wenn Personen wegen ihrer politischen Gesinnung boykottiert werden22 (Aha! bei den Nationalliberalen), und ich erkläre Ihnen, wenn ein solcher Boykott von Seiten meiner Parteigenossen ausgeht, dann mißbillige ich das ebenso entschieden, als wenn er von anderer Seite ausgeht. (Lachen und Zurufe rechts und bei den Nationalliberalen.) - Erlauben Sie, ein sozialdemokratischer Gewerbetreibender bekommt von keiner Staats- und Gemeindebehörde eine Stück Arbeit. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Ein sozialdemokratischer Gewerbetreibender bekommt von keinem Mitgliede des Bundes der Landwirte ein Stück Arbeit. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) In diesen Tagen haben in Gera, wo ja ebenfalls unsere Partei bei der Wahl unterlegen ist, die sogenannten Ordnungsparteien einen öffentlichen Aufruf erlassen durch alle Blätter, worin sie die Gewerbetreibenden warnen, in dem Parteiblatt der Sozialdemokratie zu annoncieren (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten), es werde alsdann kein Ordnungsparteiler mehr etwas von ihnen kaufen. (Zurufe rechts. Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, das ist ein Boykott brutalster Art, so brutal, wie er nur gedacht werden kann! In Bernburg hat man einen meiner Parteigenossen genötigt, aus der Parteiorganisation auszutreten, der Stadtverordneter war, weil ihm von gegnerischer Seite angedroht worden war, wenn er das nicht täte, werde er geschäftlich zu Grunde gerichtet werden. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) In Sachsen hat man einen Parteigenossen von mir, der Gemeindeältester werden sollte, gezwungen, aus dem Konsumverein auszutreten, der angeblich ein sozialdemokratischer gewesen sei, sonst könne er von der Amtshauptmannschaft nicht bestätigt werden. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Auch von der Militärbehörde bekommt kein Sozialdemokrat ein Stück Arbeit. Ich war doch auch lange Jahre Kleingewerbetreibender, ich weiß am besten, was für einen schweren Kampf ich gegen diese Art Maßregelungen zu führen gehabt 22
Siehe hierzu Nr. 31 in Band 1 sowie Nr. 15 in Band 7/1 dieser Ausgabe.
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habe. Als ich gegen Ende der sechziger Jahre rücksichtslos und offen für die Sozialdemokratie eintrat, wurden mir Aufträge, die ich früher von der sächsischen Staatseisenbahnverwaltung erhalten hatte, sofort entzogen. U n d so geht es jedem von uns. (Zuruf bei den Sozialdemokraten.) Dann, meine Herren, ist der Militärboykott nicht das gleiche? Wird nicht jedem Wirt angedroht: D u wirst ruiniert, wenn du dein Lokal für eine sozialdemokratische Versammlung hergibst? (Zurufe rechts.) Wenn es darauf ankommt, hüben und drüben abzuwägen, wo am meisten gesündigt wird, dann wird bei Ihnen zehntausendmal mehr gesündigt. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten. Heiterkeit rechts.) Meine Herren, unser Ziel ist die demokratische Organisation des Staates. Wir wollen die höchste Hebung der körperlichen, der geistigen und der politischen Bildung des Volkes. (Heiterkeit rechts. Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Auf diesem Gebiete geht keine Partei in diesem Hause auch nur annähernd so weit wie die Sozialdemokratie. Wir wollen ein Staatswesen, das auf der H ö h e der Kultur steht (Widerspruch rechts; Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten), in dem auch dem letzten seiner Staatsangehörigen die Möglichkeit gegeben wird, ein menschenwürdiges Dasein zu führen und als Kulturmensch sich auszuleben. (Lebhafter Widerspruch rechts. Sehr wahr! sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Wir wollen den Fortschritt auf allen Gebieten. Wir bekämpfen die Standesund die Klassenherrschaft. Wir wollen, daß Deutschland ein Land werde, das in der Welt hochgeachtet und geehrt dasteht (Heiterkeit rechts), als ein Muster für alle Staaten! (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten. Zurufe rechts.) - Das mit Ihnen zu machen, ist unmöglich. Der preußische Junker ist die reaktionärste Klasse, die es auf der Welt gibt. (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten. Widerspruch rechts.) Solange in Deutschland das Junkertum existiert, ist von einem wirklichen kulturellen Fortschritt nicht die Rede. (Sehr wahr! sehr richtig! bei den Sozialdemokraten. Widerspruch rechts.) Solange das Junkertum der maßgebende Faktor im Staatswesen ist, wie heute in Preußen und im Deutschen Reich, kann an wirkliche Kulturzustände für alle nicht gedacht werden. (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten. Widerspruch rechts.) Meine Herren, wir werden arbeiten wie bisher. Für uns heißt es: Vorwärts auf allen Gebieten ohne Ruh' und Rast und darum: unser die Zukunft trotz alledem und alledem! (Stürmisches Bravo! bei den Sozialdemokraten. Lachen und Widerspruch! rechts.) Stenographische Berichte. Verhandlungen des Reichstags, 12. Legislaturperiode, I. Session. Von der Eröffnungssitzung am 19. Februar 1907 bis zur 30. Sitzung am 16. April 1907. Band 227, Berlin 1907, S. 44-63. 202
56 Gegen Militärmißhandlungen für eine Verkürzung der Dienstzeit Rede im Deutschen Reichstag zum Haushaltsetat 1907 24. April 1907
Meine Herren, der Herr Kriegsminister 1 hat gestern am Schluß seiner Rede auseinandergesetzt, in welchem Moment künftiger Entwicklung die Möglichkeit bestehe, daß am Militäretat gespart werde. E r hat hervorgehoben, wenn die neue Artillerie- und Infanteriebewaffnung, der Umbau der Landesbefestigungen und einiges andere zu Ende geführt sei, dann werde wohl die Frage nach der Möglichkeit einer Herabsetzung der Kosten für den Militäretat vorhanden sein. E r gab diese Antwort in Rücksicht auf die Erklärungen des Herrn Reichskanzlers 2 in der Sitzung vom 25. Februar d.J., worin der Herr Reichskanzler bekanntlich erklärt hatte, daß unter dem Programm, das er zu verwirklichen gedenke, auch eine Ersparnis im Militäretat vorhanden sein werde. Die Botschaft hör' ich; allein mir fehlt der Glaube. Bisher haben wir noch nicht erlebt, solange der Norddeutsche Bund und das Reich besteht, daß an eine Ermäßigung gedacht wurde. Immerhin, meine Herren, gestehe ich offen, daß mir die gestrige Erklärung des Herrn Kriegsministers in bezug auf Ersparnis weit besser gefallen hat als eine Rede, die vor einigen Tagen der freisinnige Abgeordnete Herr Müller (Sagan) hielt, in der derselbe erklärte, daß angesichts der Gestaltung der auswärtigen Verhältnisse in Europa seine Partei bereit sei, wenn es notwendig sei, auch für Erhöhungen im Militäretat einzutreten. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) U n d die „Breslauer Zeitung" hat am gestrigen Tage erklärt, daß diese Auffassung des Herrn Dr. Müller (Sagan) diejenige der ganzen Partei sei. Ich darf daraus wohl schließen, daß die Herren selber heute es mit Genugtuung begrüßen, daß, nachdem sie in ein gewisses verwandtschaftliches Verhältnis zu der rechten Seite dieses Hauses bei der letzten Wahl getreten sind, sie aus der ihnen selbst unangenehmen oppositionellen Stellung befreit werden, die sie bisher eingenommen haben. (Heiterkeit.) Wir nehmen also von der Erklärung des Herrn Kriegsministers Akt, obgleich 1 2
Karl von Einem. Bernhard von Biilow. 203
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Gegen Militärmißhandlungen
-für
eine Verkürzung der Dienstzeit
ich der Meinung bin, daß wir schwerlich bei der gegenwärtigen Gestaltung der Dinge auf eine Verminderung des Militäretats zu rechnen haben, wobei ich weit entfernt bin, zu den Schwarzsehern zu gehören. Ich bin sogar der Ansicht, ehe man in Europa zu dem großen Generalmarsch bläst, wird es sich jeder zehnmal überlegen in Rücksicht auf das, was das Ende der Dinge sein kann. Also ich gehöre selbst in diesem Augenblick, wo der politische Himmel nichts weniger als unbewölkt erscheint, noch zu den Optimisten; aber abgesehen davon entsteht doch die Frage, ob es denn in der Tat unmöglich sein soll, selbst unter den gegenwärtigen Verhältnissen und auf dem Boden der heutigen Militärorganisation nicht erhebliche Erleichterungen eintreten zu lassen. Meine Herren, daß die Höhe der Militärausgaben in hohem Grade die Ausgaben für Kulturaufgaben, namentlich in den Einzelstaaten, beeinflußt, ist eine Tatsache, die niemand bestreiten kann. Sie ist in den einzelstaatlichen Landtagen schon wiederholt erörtert worden. Wenn es sich um kulturelle Forderungen handelte, hat nur gar zu oft von Seiten der einzelstaatlichen Minister die Antwort gelautet: wir bedauern, wir haben kein Geld, das Reich nimmt zu sehr unsere Mittel in Anspruch. Nun würde der einzige Punkt, in dem in erheblichem Maße bei der gegenwärtigen Organisation der Armee gespart werden könnte, der sein, daß eine erhebliche weitere Herabsetzung der Dienstzeit in der Armee möglich ist. Ich weiß, daß bei den Herren von der Militärverwaltung für diese Frage sehr wenig Entgegenkommen vorhanden ist. Aber unsere Aufgabe ist, ganz unabhängig von der Stellung, die die Militärverwaltung einer solchen Frage gegenüber einnimmt, diese Angelegenheit auf das ernsteste zu prüfen. Die Fachautoritäten, auf die man sich in solchen Fällen gern beruft, haben schon oft im Laufe der Jahrzehnte auf den verschiedensten Gebieten Dinge für unmöglich erklärt, die hintennach, wenn die Not dazu zwang, sich als ausführbar erwiesen haben. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Ich erinnere nur daran, was für einen außerordentlich lebhaften Kampf die Herabsetzung der Dienstzeit von drei auf zwei Jahre bei den höchsten Spitzen in der Armee gekostet hat, und wie eine lange Zeit die Mehrzahl der Generale die Abkürzung der Dienstzeit von drei auf zwei Jahre als etwas ansah, was zum Schaden und Nachteil der Armee ausschlagen werde und ausschlagen müsse. Nun war es mir interessant, daß ich in diesen Tagen Gelegenheit hatte, ein Werk zu lesen, betitelt: „Kaiser Wilhelm I. und sein Kriegsminister Roon", herausgegeben von dem General v. Blume, das die Geschichte der Armeeorganisation im vorigen Jahrhundert behandelt, und worin zu meiner nicht geringen Überraschung unter anderem hervorgehoben wird, daß im Laufe der Jahrzehnte Vorschläge gemacht wurden und zwar von Seiten hoher Generale, die Militärdienstzeit auf 18, ja sogar auf 12 Monate herabzusetzen. (Hört! hört! bei den 204
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Sozialdemokraten.) Insbesondere war es der Kriegsminister v. Boyen - derselbe, der zu Anfang des vorigen Jahrhunderts mit Scharnhorst und Gneisenau die Reorganisation für die preußische Armee betrieb - , der diese Auffassung in der nachdrücklichsten Weise vertrat. Ihm gegenüber stand und zwar in schärfster Weise die Auffassung des späteren Kaisers Wilhelm I., des damaligen Prinzen von Preußen, der diese Vorschläge auf das heftigste bekämpfte, und dessen Einfluß es wohl auch wesentlich zu verdanken war, daß damals die Dienstzeit in der Armee nicht herabgesetzt wurde. Unzweifelhaft wird eine weitere Herabsetzung der Dienstzeit Erleichterungen nach den verschiedensten Seiten bringen, nicht allein finanzieller Art, weil die Ausgaben für das Reich sich erheblich ermäßigen und die Gelder für andere Zwecke verwendbar gemacht werden können, sondern insbesondere auch von dem Standpunkte aus, daß das Opfer an militärischer Dienstzeit, das unzweifelhaft für die Betroffenen in den meisten Fällen ein sehr großes ist, bedeutend ermäßigt werden kann. Es ist ferner eine Tatsache, daß wir in Deutschland seit einer geraumen Reihe von Jahren genötigt sind, große Scharen ausländischer Arbeiter heranzuziehen sowohl in der Landwirtschaft als auch in der Industrie, weil eben die eigene einheimische Arbeiterbevölkerung für die Deckung der Arbeitskräfte nicht ausreicht. Es würden also mehr einheimische Arbeitskräfte vorhanden sein. Auf Grund der Statistik können wir feststellen, daß die Zahl der vom Ausland nach Deutschland eingewanderten Arbeiter im Laufe der letzten anderthalb Jahrzehnte gewaltige Dimensionen angenommen hat. Die letzten Zahlen aus dem Jahre 1905 liegen noch nicht vor. Wir haben weiter die bekannte Tatsache, daß die Landwirtschaft unausgesetzt über den Mangel an Arbeitskräften sich beschwert, und daß sie gezwungen ist, auf ausländische Arbeitskräfte, die keineswegs immer die besten sind, zurückzugreifen. Nach allen diesen Richtungen hin könnte also unter Umständen eine erhebliche Erleichterung für die Industrie und den Landbau geschaffen werden, wenn eine erhebliche Verkürzung der Dienstzeit durchginge. Nun habe ich weiter gefunden, daß die militärische Dienstzeit, die ich hier zunächst im Auge habe, bereits seit einer Reihe von Jahren bei der schwedischen Armee durchgeführt worden ist. Seitdem Schweden im Jahre 1901 eine Militärreorganisation bekam, ist dort die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, die vom 21. bis zum 40. Lebensjahr währt, und zwar ist die Dienstdauer in der sogenannten „Beväring", also das, was wir stehendes Herr, Reserve und Landwehr ersten Aufgebots nennen, 12 Jahre und im Landsturm vom 33. bis 40., 8 Jahre. Die militärische Dienstzeit für die Kavallerie, Feldartillerie, Ingenieure und Feldtelegraphentruppe beträgt in Schweden 1 Jahr und für die übrigen Truppenteile, speziell für die Infanterie, den Hauptteil der Armee, 8 Monate. Ich habe einen 205
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längeren Artikel im „Deutschen Offiziersblatt" vom 14. April dieses Jahres gelesen, in welchem eine Kritik an dieser Organisation und ihren Wirkungen geübt wird. In diesem Artikel wird ausgeführt, daß in der schwedischen A r m e e ein besonderes G e w i c h t auf die Schießausbildung gelegt werde, was ja selbstverständlich für den Infanteristen in erster Linie notwendig ist. E s wird angegeben, daß die Infanterierekruten nicht weniger als 200 bis 290 Patronen zu verschießen haben, w o v o n 65 bis 100 auf das feldmäßige Schießen außerhalb der Schießbahn verwendet würden. Es wird weiter hervorgehoben, daß ein anderer Hauptteil für die Ausbildung der Mannschaften in einer sehr ausgedehnten Gymnastik, also im Turnunterricht und in körperlichen Ü b u n g e n besteht, zweifellos wieder ein Feld der Tätigkeit, das für den Mann als Soldat wie als Mensch von großem Vorteil ist. Als Endresultat wurde in dem Artikel angeführt, daß sowohl die Unteroffiziere wie die Offiziere der Armee eine vorzügliche Ausbildung genössen, und daß trotz der kurzen Dienstzeit und bei der Art der Ausbildung die schwedische A r m e e im Ernstfall jeder Aufgabe gewachsen sei. M e i n e Herren, ich bin der Ansicht, was die Schweden leisten, können wir Deutschen auch leisten; denn daß die Schweden im allgemeinen an Intelligenz und militärischen Eigenschaften den Deutschen überlegen seien, bestreite ich. Jedenfalls ist die Möglichkeit vorhanden, wenn man sich bei der Militärverwaltung zu der H ö h e erhebt, daß man auf eine Reihe von Dingen, die nach meiner Uberzeugung mit der kriegsmäßigen Ausbildung der A r m e e nichts oder so gut wie nichts zu tun haben, verzichtet, daß dann auch die deutsche A r m e e in einer erheblich kürzeren Dienstzeit das zu leisten vermag, was sie leisten muß. (Sehr richtig! links.) W i r haben in den letzten Jahrzehnten auf diesen Gebieten allerlei Erfahrungen gesammelt. Ich will nur daran erinnern, daß 1881, als es sich um eine weitere Vermehrung des stehenden Heeres handelte, unter anderem die Armeeverwaltung dazu überging, für die Ausbildung von jährlich 30 0 0 0 M a n n als Ersatzreserve erster Klasse für das erste J a h r 10 Wochen, für das zweite 6 W o c h e n und für das dritte J a h r 4 W o c h e n Dienstzeit einzuführen, und zwar mit einem Resultat, das im höchsten Grade überraschend war. Ich habe bei früheren G e l e genheiten wiederholt auf das Zeugnis von Offizieren, die mit der Ausbildung dieser Truppen zu tun hatten, Bezug genommen 3 , und diese haben anerkannt, daß man bei einer solchen 20-wöchentlichen Ü b u n g kaum imstande gewesen sei, eine solche aus Ersatzreservisten zusammengesetzte Kompagnie von der eines Linienregiments unterscheiden zu können. Wenn wir ferner bedenken, daß im Falle eines Krieges immerhin ein erheblicher Teil der A r m e e überhaupt noch 3
Siehe hierzu Nr. 7 in Band 1 und Nr. 14 in Band 3 sowie Nr. 58 in Band 4 dieser Ausgabe.
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nicht zwei oder drei Jahre gedient hat, sondern ein bedeutender Bruchteil der stehenden Armee erst im ersten Dienstjahr steht, und man doch nicht behaupten kann, daß dieser Teil in minderem Maße als die älteren Mannschaften seine Fähigkeit im Kriege erwiesen hat, dann meine ich, geht auch daraus zur Genüge hervor, daß eine erhebliche Abkürzung der Dienstzeit sehr wohl möglich ist. Aber auch der Gesichtspunkt, daß es in Europa eine ganz anders organisierte Armee mit noch weit mehr verkürzter Dienstzeit gibt als die schwedische Armee, und von der ebenfalls militärische Autoritäten behaupten, daß sie für den Kriegsfall durchaus kriegsmäßig ausgebildet sei und zu leisten vermöge, was man von ihr nur beanspruchen könne, spricht für eine stärkere Herabsetzung der Dienstzeit in Deutschland. Es ist dieses die schweizerische Milizarmee. 4 Wenn der schwedische Infanterist eine Übungszeit von 8 Monaten und der schwedische Kavallerist und Artillerist eine solche von einem Jahr durchzumachen haben, ist die Übungszeit in der schweizer Miliz eine ganz unverhältnismäßig kürzere. Nach den bisher noch bestehenden Bestimmungen - ich will bemerken, daß neuerdings eine gesetzliche Änderung eingetreten ist, insofern, als die Übungszeit verlängert wird - hat der schweizer Infanterist als Rekrut 47 Tage Ausbildungszeit abzumachen, der alsdann eine kurze Übungszeit von 10 Tagen alle 2 Jahre folgt. Die Ausbildungsfrist ist auf Grund des neuen Gesetzes, das in diesem Jahre in Kraft tritt, auf 65 Tage erhöht. Der schweizerische Bundesrat wollte 70 Tage, man hat ihm 5 Tage an der Ausbildungszeit gestrichen. Das Genie hat bis jetzt eine Ausbildungszeit von 52 Tagen, die Artillerie von 57 Tagen, die Kavallerie von 82 Tagen, die Verwaltungs- und Sanitätstruppen von 40-48 Tagen. Dazu kommen die nötigen Ergänzungsperioden, für die im Durchschnitt alle paar Jahre eine 10-tägige Übungszeit gefordert wird. Im weiteren aber wird verlangt, - und das ist allerdings eine Einrichtung, die wir in Deutschland nicht kennen, die aber auch in Schweden in hohem Grade durchgebildet ist, - daß jeder schweizerische Infanterist im Laufe des Jahres 30 scharfe Patronen auf dem Schießstand seiner Gemeinde zu verschießen habe, worüber genaue Kontrolle geführt wird. Die Ausbildung im Schießen für den Kriegsfall erfährt also eine Ausbildung, wie sie in der deutschen Armee wohl kaum in ähnlichem Maße vorhanden ist. Jedenfalls steht fest, daß das Schießen in der schweizer Armee mit einer Virtuosität geübt wird, die von der deutschen Armee in keiner Weise übertroffen wird - ich will mich milde ausdrücken. Es ist weiter Tatsache, daß trotz der ungemein kurzen Ausbildungszeit der Artillerie, die, wie ich anführte, nur 57 Tage beträgt, abgesehen von den späteren Übungsperioden, die schweizer Artillerie auf der H ö h e steht, daß sie sogar, wie ich von Sachverständigen gehört 4
Siehe hierzu Nr. 64 in Band 8/2 dieser Ausgabe.
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-für eine Verkürzung der Dienstzeit
habe, es mit jeder anderen Artillerie aufnehmen kann. Was mich aber am meisten überrascht hat in den Urteilen, die ich über die Ausbildung der schweizer A r m e e gelesen habe, ist, daß Sachverständige sogar behaupten, daß auch die schweizer Kavallerie Überraschendes für die kurze Ausbildungszeit der Leute leistet. Es dürfte nicht überflüssig sein, für meine Angaben auf einige Äußerungen Bezug zu nehmen, die im Laufe des letzten Herbstes anläßlich der schweizer Manöver in der ausländischen Presse mitgeteilt worden sind. Ich nehme zunächst B e z u g auf einen Artikel, den das „Berliner Tageblatt" veröffentlichte, der von einem gelegentlichen Mitarbeiter dieses Blattes herstammt. D e r betreffende Artikel macht den Eindruck, daß der Verfasser, ein Offizier, zum ersten Male in seinem L e b e n , die schweizer A r m e e bei den Herbstübungen gesehen hat, daß er mit all den Vorurteilen, die den weitaus größten Teil der Offiziere der kontinentalen A r m e e gegen ein Milizheer erfüllen, an die zu beobachtende A r m e e herangetreten ist; daraus erklären sich die Äußerungen der Überraschung, die er zum Ausdruck bringt. E r teilt mit, daß er einer Marschübung beigewohnt habe, wobei es sich darum handelte, eine Alp von 1521 M e t e r H ö h e zu übersteigen. E r hat diese Marschübung mitgemacht. Selbstverständlich waren die Offiziere genötigt, die Besteigung dieses Berges zu F u ß auszuführen. E r gibt seiner größten A n e r kennung Ausdruck, mit welcher Leichtigkeit, Raschheit und Gewandtheit das betreffende Militärkorps diese Ü b u n g vollzogen habe, wie sich alles mit der größten R u h e und Präzision vollzogen habe. E r schließt sein Urteil über diese Marschübung mit den Worten: Diese Marschleistung beim Aufstieg war eine infanteristische Glanzleistung, eine Ü b u n g , die in voller kriegsmäßiger Ausrüstung vorgenommen war, und die der schweizer Armee kaum eine andere A r m e e nachmachen dürfte. E r schildert weiter den Abstieg, der unter Umständen noch viel mühseliger ist als der Aufstieg. Auch hier sind seine Erwartungen in jeder Beziehung übertroffen worden. E r hat weiter allerlei Bedenken gehabt, wie es nachher mit der Verpflegung, Bekleidung usw. im Biwak aussehen würde; er glaubte, daß eine Milizarmee kaum mit der Exaktheit wie eine stehende A r m e e vorgehen könne. E r erklärt aber, daß er auch in dieser Beziehung höchlich überrascht worden sei: Solche Sorgfalt und solche Fürsorge und solche ordnungsmäßigen A n o r d n u n gen wurden getroffen, als ob Offiziere und Unteroffiziere dauernd unter den Waffen stünden. Auch in den Biwaks, auf den kalten H ö h e n Toggenburgs, war alles durchaus kriegsmäßig. E r erzählt weiter, wie die Truppen bei ungeheurer H i t z e und Staub an einem Tage 38 Kilometer zurücklegten, also eine Marschleistung, die sich w o h l sehen lassen kann! U n d was mich am meisten überraschte, da auch ich glaubte, daß die schweizer Kavallerie, nach der N a t u r des Landes bei der sie wenig in Betracht 208
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k o m m t , kaum höheren Ansprüchen genügen könne, war, daß er ausführte, in vielen militärischen Kreisen Europas betrachte man die Kavallerie der Eidgenossenschaft nur als einen Notbehelf, da eine A r m e e nun einmal ohne Reiterei nicht bestehen könne; aber: ich hätte allen denen, die diese Ansicht haben, gewünscht, daß sie in diesen Tagen die Tätigkeit der schweizer Kavallerie hätten kennen lernen; sie wären entschieden anderer Meinung geworden. E r geht sogar soweit, zu sagen, daß der schweizer Kavallerist in der Behandlung des Pferdes dem deutschen überlegen sei, was zum guten Teil daher rühre, daß der schweizer Kavallerist, wenn seine kurze Dienstzeit vorbei ist, sein Pferd mit nach Hause nimmt; er b e k o m m t es also in Pflege, er hat das ganze J a h r mit ihm zu tun, R o ß und Reiter verwachsen miteinander. D e r Soldat hat also ein großes Interesse daran, sein Pferd sorgfältigst zu pflegen. So wird der gute Zustand der schweizer Kavallerie möglich. D e r betreffende Militärschriftsteller meint, daß die schweizer Kavallerie, soweit der Aufklärungsdienst in Frage k o m m e , der der übrigen Armeen in jeder Richtung gewachsen sei. E s bleibt noch ein Hauptpunkt zu erwähnen, die Disziplin. E r war der A n sicht, daß es in einer Armee, die nur so kurze Zeit unter den Waffen steht und von so demokratischem Geist durchweht ist, mit der Disziplin sehr böse gestellt sein müsse. A u c h in dieser Beziehung hat er eine lebhafte Enttäuschung erfahren; er erklärt: Ich habe in den geringsten Kleinigkeiten des inneren Dienstes kaum einen Verstoß bemerkt. Endresultat: die Disziplin ist ganz vorzüglich. ( H ö r t ! hört! bei den Sozialdemokraten.) D a s ist in der Tat eine Anerkennung aus militärischem M u n d e über den Gesamtzustand der schweizer Armee, die aufs höchste diejenigen überraschen muß, die bisher allerlei Vorurteile in dieser Beziehung gehabt haben! Ich habe dann ein anderes Urteil vor mir, und zwar von französischer Seite. D e r General Langlois hatte Gelegenheit, diesem Manöver beizuwohnen, und veröffentlichte nach seinem Schluß eine Reihe von Artikeln darüber im „Temps". E r bemerkt darin, es habe ihn lebhaft interessiert, zu beobachten den Truppenzusammenzug in einer, Rekrutenschule, einer Unteroffizierschule, einer Aspirantenschule und Offizierschule, wie sich da die Dinge entwickelten. E r habe weiter sich die Frage gestellt, ob denn in der Tat diese Milizarmee im Falle eines Krieges imstande sein möchte, die Aufgaben zu erfüllen, die man an sie stelle, nämlich ihr Land ausgiebig gegen einen militärisch besser geschulten Feind zu verteidigen, o b sie den nötigen Widerstand zu leisten imstande wäre. E r erklärt rund heraus, daß er alle diese Fragen nach dem, wie er jetzt die A r m e e kennen gelernt habe, mit J a beantworten müsse. A u c h er erklärt, daß insbesondere die 209
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Übungen der schweizer Armee im Gebirge, welches ja des Schweizers Hauptelement bildet, nach jeder Beziehung überraschende gewesen seien; sobald der Schweizer im Gebirge ist - so bemerkt er - ist er offenbar in seinem Element, er wird beweglich, geschmeidig, ausdauernd, heiter und lebhaft, während bei langdauerndem Marsch auf ebenen Straßen es langsam geht. Er lobt besonders die Ausbildung der schweizer Soldaten als Schützen, die durchaus nichts zu wünschen übrig lasse; er rühmt das Pferdematerial der Kavallerie, die Tiere seien vortrefflich, lenksam und mutig, die Reiter säßen gut zu Pferde, leiteten diese leicht und ruhig, die höheren Offiziere aller Waffengattungen seien durchschnittlich gut beritten usw. Also kurz, auch nach dieser Richtung wird der schweizer Armee alle Anerkennung ausgesprochen. Wenn wir nun aber einmal fragen, wie denn andererseits sowohl von unseren eigenen Sachverständigen wie auch von Ausländern die Leistungen der deutschen Armee beurteilt werden, die man nach der Länge der Dienstzeit als die denkbar vorzüglichste ansehen müßte, dann lauten diese Urteile keineswegs ebenso erfreulich. Ich habe hier eine Kritik in einem Buche, das ein österreichischer Offizier, der im letzten Herbst den großen Manövern in Schlesien beiwohnte, veröffentlicht hat.[717] Zunächst kommt die bekannte große Armeeparade heran; er erklärt, die Sache habe ihm im ersten Augenblick kolossal imponiert, wenn diese ungeheure Schar in schnurgeraden Linien einhermarschierte; aber allmählich würde die Sache etwas triste; man finge an, es ganz eigentümlich zu finden, wenn diese Masse in schnurgeraden Linien einherstampfte. Er fragt: Tut man hier nicht des Guten zu viel? Wieviel Zeit, wieviel Mühe, wieviel Millionen Arbeitsstunden mögen wohl dazu verwandt werden, um einen derartigen Parademarsch, derartige Gewehrgriffe zu erzielen? Wäre es nicht doch von Vorteil, die für den Paradedrill verwendete Zeit kriegsmäßigeren Übungen zuzuwenden? Das ist eine Anschauung, die notorisch - das kann nicht bestritten werden heute auch in der deutschen Armee nicht selten vertreten wird, wo man meint, die auf den preußisch-deutschen Generalmarsch verwendete Zeit und Mühe entspreche nicht entfernt dem, was er für die Ausbildung der Armee bringt. Der österreichische Offizier beschäftigt sich auch mit der Armeeleitung und bemerkt: Es waren die Aufgaben, welche den beiden Parteikommandanten zufielen, entgegen den bei uns herrschenden Manövergepflogenheiten ganz eng begrenzt und stellten an deren Entschlußfähigkeit keine hohen Anforderungen. Die Anlage und Durchführung der Übungen seitens der Manöverleitung, dann auch die Gefechtsarbeit der Truppen erschien uns nicht immer ganz kriegsgemäß. 210
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Eine sehr scharfe Verurteilung finden bei ihm die bekannten Kavallerieattacken. E r erklärt: D i e Sucht der deutschen Kavallerie, bei jeder sich nur darbietenden Gelegenheit auch intakte Infanterie zu attackieren, dürfte selbst bei unseren extremsten Kavalleristen keine Zustimmung finden. ( H ö r t ! hört! links.) N u n , nach dieser Richtung sind ja wieder über die letzten Herbstmanöver sehr scharfe Urteile auch von anderer militärischer Seite gefällt worden. So hat der O b e r s t Gaedke im „Berliner Tageblatt" einen Artikel veröffentlicht, worin er erklärt: E s war einer der unsinnigsten Reiterangriffe, die ich je gesehen habe, auf engem R ä u m e zwischen den Infanteriebrigaden hindurch, gegen eine vollentwickelte Infanterie, die links an ein ausgedehntes D o r f angelehnt war und vollkommen frisch ins G e f e c h t trat. Sein Urteil lautet: Würde man eine derartige Kavallerieattacke im Kriege geleistet haben, dann wäre es zweifellos, daß das ganze Reitergeschwader vernichtet worden wäre. ( H ö r t ! h ö r t ! bei den Sozialdemokraten.) Merkwürdigerweise stimmt mit diesem Urteil das Urteil der Berliner „Post", eines konservativen Organs, durchaus überein, das auch die üblichen Kavallerieattacken auf n o c h intakte Infanterie aufs allerschärfste verurteilt. A b e r auch ein anderes Blatt, die „Neue Militärische Korrespondenz", also ein zweifellos von Sachverständigen geleitetes militärisches O r g a n , faßt sein Urteil dahin zusammen: M i t erfreulicher Offenheit und bezeichnender Übereinstimmung werden im H e e r e und in der Presse die taktischen Leistungen der Kavallerie und ihre F ü h r u n g im Kaisermanöver als nicht zureichend und stark verbesserungsbedürftig bezeichnet. D i e reinen Kavalleriekämpfe und die Verwendung der Kavallerie zusammen mit anderen Waffen haben in fast allen Lagen während der vier Manövertage bei Liegnitz ein einseitiges Hervortreten des reiterlichen Geistes gezeitigt, das mit den Begleiterscheinungen des Ernstfalles nicht in Einklang zu bringen ist. ( H ö r t ! hört! links.) E s wird weiter ausgeführt, daß im Ernstfalle derartige Manöverangriffe von den allerbedenklichsten Folgen begleitet sein würden. A n dieser Art der Reiterattacken bei den großen Manövern wird seit einer geraumen Reihe von Jahren in der inländischen und ausländischen Presse die schärfste Kritik geübt, und ich verstehe nicht, wie bei dieser scharfen Kritik, die ohne Ausnahme von sachverständigen Leuten geübt wird, trotz alledem bei uns in Deutschland immer wieder, sobald die großen Kaisermanöver k o m m e n , derartige Ü b u n g e n stattfinden. Es ist gerade, als wenn man dieser Sachverständigenkritik zum Trotz an dem einmal Eingelebten, an dem, was man aus persönlichem 211
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Geschmack für notwendig hält, festhalten wolle. Ich meine denn doch, daß, wenn die Manöver, die bekanntlich dem deutschen Volke sehr viel Geld kosten, sehr kostspielig sind, von Seiten der Militärverwaltung für notwendig erachtet werden - und ich halte sie meinerseits für notwendig - , dann sollten auch diese Manöver annähernd dem entsprechen, was im Ernstfalle zu erwarten ist (Zustimmung bei den Sozialdemokraten), und nicht bloß ein Bild zeigen, von dem jeder Laie sich sagen muß: das sind Vorgänge, die im Ernstfalle nicht vorkommen dürfen und, wenn sie vorkommen, zum schwersten Schaden der Armee ausfallen müssen. Wir haben als Abgeordnete das dringendste Interesse daran, daß in dieser Beziehung Änderungen herbeigeführt werden. Wenn ich nun vorhin lebhaft für eine erhebliche Verkürzung der gesamten militärischen Dienstzeit in der Armee eingetreten bin, so versteht es sich von selbst, daß wir erst recht ein günstiges Resultat davon erwarten, wenn Hand in Hand mit dieser erheblichen Verkürzung der Dienstzeit die militärische Jugendausbildung geht. Das ist ein Gedanke, der, soweit mir bekannt ist, zuerst von deutscher, speziell von preußischer Seite zum Ausdruck gekommen ist. Es war insbesondere Scharnhorst, der den Gedanken der militärischen Jugendausbildung vor 100 Jahren nach den harten Schlägen von 1806 und 1807 nach dem Tilsiter Frieden in systematischer Weise entwickelte. Leider ist dieser Gedanke, wie so viele andere, die damals in dem neuen Reorganisationsplan enthalten waren, später in der Armee nicht zur Durchführung gekommen. Zum ersten Mal ist dieser Scharnhorstsche Gedanke wieder im Jahre 1875 aufgenommen worden, also einige Jahre nach dem Ausgang des deutsch-französischen Krieges, und zwar durch einen sehr angesehenen Offizier der Armee, den damaligen Oberst v.d. Goltz, der in seinem Werke: „Léon Gambetta und seine Armeen" darauf hinwies, welche ungeheure Leistungsfähigkeit das nach Sedan niedergeworfene Frankreich noch gezeigt habe, und daß wir für den Fall eines künftigen Krieges, der möglicherweise gegen zwei Fronten geführt werden müsse, die größte Notwendigkeit hätten, die gesamte Wehrkraft der Nation kriegsfähig auszubilden. Dazu bilde ein wesentliches Moment die militärische Jugenderziehung, wofür in den alten Unteroffizieren der Armee das vorzüglichste Lehrmaterial gegeben sei. Nun, meine Herren, dieser Gedanke ist bis heute, wenn wir von kleinen Spielereien absehen, die bemittelte Privatleute vorgenommen haben, nicht zur Ausführung gekommen. Ich habe gelesen - die Schrift oder der Artikel selbst ist mir nicht vor Augen gekommen - , daß auch der Generalfeldmarschall Graf Häseler in der letzten Zeit ähnliche Gedanken ausgesprochen haben soll. Auch er sei der Meinung, daß die militärische Jugenderziehung aufgenommen werden müsse, um die Wehrfähigkeit des Volkes zu erhöhen und die Dienstzeit abzukürzen. Leider hat die Schweiz bei dem neuen Organisationsplane, über den in diesem 212
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Jahre endgültig entschieden wurde, von einer obligatorischen Einführung der Erziehung zur Wehrfähigkeit der gesamten Jugend abgesehen; man hat die militärische Jugenderziehung nur fakultativ eingeführt, man überläßt es den Kantonen und Gemeinden, wieweit sie dem Gedanken Rechnung tragen wollen. Da wird es allerdings lange dauern, bis sie durchgeführt wird, da schon mit Rücksicht auf die Kosten die Kantone und Gemeinden das nicht werden leisten können ohne Unterstützung der Gesamtheit des Bundes. Indes, meine Herren, war es mir interessant, im vorigen Jahre in Nr. 138 der „Leipziger Neuesten Nachrichten", also auch eines Blattes, das wahrhaftig nicht im Verdacht steht, sozialdemokratische Gesinnungen zu hegen, von einem seiner Mitarbeiter aus Japan einen Artikel zu lesen, der sich mit der Heimkehr der siegreichen japanischen Armee befaßt und bei dieser Gelegenheit auch die Beobachtungen wiedergibt, die er in Yokohama, Tokio usw. in bezug auf die militärische Ausbildung der japanischen Jugend erlebte. Er bemerkt dazu, nachdem er hervorgehoben hat, daß die japanische Armee zu allgemeiner Überraschung ein hohes Maß von militärischen Tugenden gezeigt habe: Gestärkt werden diese angeborenen kriegerischen Tugenden noch durch eine ausgezeichnete körperliche Ausbildung der Jugend vom frühesten Kindesalter an. In den großen Fechterschulen Osaka, Kiobe, Yokohama, Tokio und anderen sieht man tagtäglich unzählige Kinder im Alter von 8 bis 12 Jahren das hölzerne Übungsschwert (in der Form der alten Zweihandschwerter) mit einer Eleganz und Sicherheit gebrauchen; man sieht diese kleinen Knirpse mit einem Feuereifer, der oft in Wut übergeht, dem Gegner zu Leibe rücken, daß jeder Europäer dieser gymnastischen Ausbildung der zukünftigen Vaterlandsverteidiger nur seine vollste Anerkennung zollen muß. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) So ein deutsches Blatt über die militärische Jugenderziehung der Japaner! Nun, meine Herren, ich meine, Deutschland, das lange Zeit an der Spitze der militärischen Ausbildung stand, ist nach meiner Überzeugung längst von anderen Staaten überholt. Es wird in der Tat notwendig, daß wir uns mit dieser Frage beschäftigen, weil, wenn erst diese zur vollen Ausführung kommt, alsdann erst recht möglich wird, die andere Frage, die einer ganz bedeutenden Herabsetzung der militärischen Dienstzeit durchzuführen. Ich möchte dann auf ein anderes Kapitel eingehen. Ich habe wiederholt bei früheren Gelegenheiten ausgeführt, daß nach meiner Auffassung bei der Aushebung der Mannschaften von militärärztlicher Seite - ich will es einmal offen sagen - etwas zu leichtherzig vorgegangen wird. Ich will andererseits zugeben, daß man den Ärzten kaum einen ernstlichen Vorwurf wird machen können, wenn man beachtet, daß sie gezwungen sind, in einer verhältnismäßig kurzen Zeit Hunderte von jungen Leuten zu untersuchen und über deren Tauglichkeit 213
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für die Armee zu entscheiden. Daß bei einem derartigen raschen Verfahren, wobei große Massen in Frage kommen, von einer gründlichen Untersuchung gar keine Rede sein kann, ist selbstverständlich. Zunächst in bezug auf die körperlichen Eigenschaften. Aber, meine Herren, in bezug auf die Psychologie, auf den geistigen Zustand der Rekruten kann bei einer derartigen Untersuchung überhaupt keine Rede sein und ist selbstverständlich keine Rede, und doch spielt das für die spätere Ausbildung in der Armee eine ganz gewaltige Rolle. Ich war wiederholt in der Lage, Ihnen Beispiele anzuführen, daß Leute, die in die Armee aufgenommen worden waren, die furchtbarsten Mißhandlungen, die härtesten Strafen haben erdulden müssen, weil sie außerstande waren, den an sie gestellten Anforderungen zu genügen, bis nach langer Zeit, oft erst nach Jahr und Tag, die Militärärzte entdeckten, der Mann ist geistig vollständig unterwertig, der kann in der Armee nicht gebraucht werden. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Solche Fälle sind leider sehr viel häufiger vorgekommen, als man gemeiniglich annimmt. Es wäre höchst wichtig, einmal festzustellen, wie viel unter den mißhandelten Soldaten zu denjenigen gehören, die infolge geistigen Defekts ganz außerstande waren, das aufzufassen, was ihnen ihre Lehrmeister, in erster Linie der Unteroffizier, beizubringen hatten, daß sie infolge ihrer Unfähigkeit den Unteroffizier zum höchsten Zorn, zur Leidenschaft reizten, der dann in diesem Zorn, in dieser Leidenschaft eine Mißhandlung an der betreffenden Person beging. Auf diesem Gebiete hat nun der Hamburger Lehrer Carrie das Verdienst, daß er die Hamburger Oberschulbehörde veranlaßte, sich mit dem Generalkommando des I X . Armeekorps über ein Abkommen zu verständigen über die Verhütung der Einstellung geistig minderwertiger Mannschaften in die Armee, wonach die Schule künftig herangezogen werden solle und den Leuten, die zur Aushebung erscheinen müssen, Schulzeugnisse auszustellen, um nachzuweisen, inwiefern der junge Mann in der Lage ist, geistig den an ihn gestellten Anforderungen zu genügen. Es ist auch wichtig, und ich möchte das hier hervorheben, weil meines Wissens diese Petition nicht zur Verhandlung gekommen ist, daß unsere Petitionskommission im vorigen Reichstag, der derartige Fälle zur Verhandlung vorgelegen haben, sich veranlaßt sah, auf Grund einer solchen Petition dem Reichstag eine Anzahl von Punkten vorzuschlagen, die künftighin bei der Aushebung der Mannschaften Berücksichtigung finden sollten. Die Petitionskommission schlug damals dem Hause folgende Thesen vor: 1.
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Im Interesse der Rekruten, der Offizier- beziehentlich Unteroffizierkorps und der Tüchtigkeit der Armee ist dringend zu wünschen, daß bei der Auswahl des Heeresersatzes an die geistige Beschaffenheit ebenso bestimmte Anforderungen gestellt werden wie an die körperliche Tauglichkeit.
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Dienstzeit
2.
Um die Einstellung geistig minderwertiger Rekruten zu verhüten, ist es notwendig, daß Schul- und Militärbehörden Hand in Hand arbeiten. 3. In Orten, wo Hilfsschulen für Schwachbefähigte bestehen, wird alljährlich seitens der Schulbehörden den Ersatzkommissionen ein Namensverzeichnis der aus diesen Schulen zur Entlassung gelangten Schüler ü b e r r e i c h t . ^ Es wird dann weiter die Einrichtung besonderer Schulklassen für solche gänzlich minderwertigen Personen befürwortet. Unter allen Umständen sollten die jungen Leute gehalten sein, bei der Militäraushebung ein Schulzeugnis beizubringen, damit der Arzt beziehentlich die Militärbehörde in der Lage sei, festzustellen, ob der betreffende junge Mann auch die nötige geistige Qualifikation für seinen künftigen Beruf als Vaterlandsverteidiger habe. Es hat dann, wie ich weiter lese, auch das preußische Ministerium der Medizinalangelegenheiten sich veranlaßt gesehen, in ähnlicher Weise Instruktionen an die preußischen Behörden zu erlassen. Wir dürfen also annehmen, daß künftighin auf diesem Gebiete in höherem Maße, als es bisher der Fall war, die nötigen Beobachtungen gemacht und mitgeteilt werden. Meine Herren, in wie hohem Maße das notwendig sein dürfte, mag daraus hervorgehen, daß im Jahre 1901/02 nicht weniger als 377 Geisteskranke, 429 Fallsüchtige, 329 Neurastheniker und 242 Hysterische als Rekruten eingestellt worden sind, deren Zustand erst nach einiger Zeit, oft erst nach sehr langer Zeit, erkannt wurde, und die dann aus der Armee als untauglich entlassen werden mußten. Es ist ferner bemerkenswert, daß in diesem Zeitraum 319 Fälle von Selbstmord und Selbstmordversuchen in der Armee vorgekommen sind, und es kann ebenfalls nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, daß auch unter diesen gar mancher ist, der als Geistigschwacher Mißhandlungen ausgesetzt war, Hand an sein Leben gelegt hat. Es ist das also ein Gebiet, das die Verwaltung der Armee jedenfalls in viel höherem Grade, als es bisher der Fall gewesen zu sein scheint, zu berücksichtigen hat. Ich gehe mit einigen kurzen Ausführungen zu den Militärmißhandlungen 5 über. Der Herr Graf v. Oriola hat gestern in seiner Rede gemeint, ich würde ja heute wieder eine Reihe von Fällen anführen, um die Armee nach außen hin nach Möglichkeit zu diskreditieren. (Widerspruch.) Ich muß mich gegen eine derartige Unterstellung eines Abgeordneten auf das entschiedenste verwahren. (Abgeordneter Graf v. Oriola: Ich habe kein Wort davon gesagt.) - Dann bitte ich um Entschuldigung, dann habe ich Sie mißverstanden; um so besser! Aber ich habe vielleicht aus gewissen Äußerungen diesen Schluß gezogen, weil diese Anschuldigungen sehr häufig bei diesem Kapitel aus 5 Siehe hierzu Nr. 29 in Band 2/1 sowie Nr. 10 und Nr. 14 in Band 3 dieser Ausgabe. 215
56 Gegen Militärmißhandlungen -für eine Verkürzung der Dienstzeit dem Hause wie von Seiten der Militärverwaltung gegen uns geschleudert worden sind. - Meine Herren, wir müssen eine derartige Unterstellung, k o m m e sie von welcher Seite sie wolle, auf das entschiedenste zurückweisen. Wir bringen diese Fälle vor mit rückhaltloser Kritik, damit Besserung eintrete (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten), und wir können ohne Ubertreibung sagen, daß die fortgesetzt von dieser Tribüne aus geübten Kritiken auch eine große Wirkung gehabt haben (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten), sowohl bei den Leitern der Armee, wie namentlich auch in der A r m e e selber. Ich k ö n n t e dafür eine ganze R e i h e Beweismaterial anführen. Es ist notwendig, daß diese Dinge hier zur Sprache k o m m e n ; denn abgesehen davon, daß es sich um die Söhne des Volks handelt, die einer Pflicht nachkommen müssen, indem sie die Militärzeit absolvieren, handelt es sich dabei, wenn wir einmal so egoistisch sein wollen, auch um unsere eigenen Söhne und Brüder, um Angehörige einer Partei, die bis heute n o c h zu Ihrem Leidwesen die weitaus stärkste Partei Deutschlands ist, die Zehntausende und aber Zehntausende alljährlich als Rekruten an die A r m e e abgeben muß. A b e r diese Parteirücksichten k o m m e n hier nicht in Frage, wie ich bemerken will; denn Sozialdemokraten werden am wenigsten von den M i ß h a n d lungen betroffen. D a s hat schon früher der Reichskanzler v. Caprivi anerkannt, der ausführte: Ich bin während meiner aktiven Dienstzeit mit den Sozialdemokraten in der A r m e e sehr gut ausgekommen. Diese haben sich stets sehr in acht genommen, in Konflikt zu kommen. (Lachen rechts.) - Meine H e r r e n , das k ö n n e n Sie im stenographischen Bericht vom Jahre 1893 nachlesen, als es sich damals um die große Militärvorlage handelte. A u c h andere Leute sagen, die Sozialdemokraten sind viel zu klug, als daß sie es auf Konflikte in der A r m e e ankommen lassen, und durchschnittlich gehören sie auch zu den intelligentesten Elementen (große Heiterkeit), sind also auch aus diesem Grunde viel weniger den Mißhandlungen ausgesetzt als andere. - Meine Herren, Sie lachen darüber, aber das hat sogar Fürst Bismarck in den 7oer Jahren anerkannt. Damals wurde eines Tages die Frage aufgeworfen, warum in Schleswig-Holstein selbst in den bäuerlichen Bezirken so viele sozialdemokratische Stimmen abgegeben würden, und da erklärte Fürst Bismarck: das k o m m e daher, weil die sozialen Verhältnisse der Provinz es dem niederen Manne sehr schwer ermöglichen, eine selbständige Existenz zu erringen, und da die Leute, die danach trachten, durchschnittlich die intelligenteren, die strebsameren, die energischeren seien, so schlössen diese sich der Sozialdemokratie an. ( G r o ß e Heiterkeit.) - Meine Herren, trotz Ihres L a chens ist das wahr. D e r H e r r Kriegsminister hat in den ersten Jahren seiner Tätigkeit bei einer gleichen D e b a t t e die Äußerung getan: Verlassen Sie sich darauf, wir bringen die Mißhandlungen aus der Armee. Ich habe damals gleich mein Bedenken dagegen 216
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geäußert, daß das ihm möglich sei. [719 l D a ß er eine Verminderung der Mißhandlungen erzielen könnte, haben wir nicht bestritten - es wäre auch traurig, wenn es nicht so wäre. Ich will auch gern aussprechen, daß der H e r r Kriegsminister alles aufgeboten hat, um den Mißhandlungen entgegenzutreten; aber leider ist es ihm nur in mäßigem M a ß e bisher gelungen, und namentlich, wenn der H e r b s t und der Winter herankommt, also die Zeit, in der die neuen Rekruten ausgebildet werden, lesen wir W o c h e für W o c h e in den Zeitungen von Mißhandlungen, und zwar oft ganz barbarischer und roher Art. Ich stimme mit dem Herrn Grafen O r i o l a darüber überein, daß die Armeeverwaltung alles Interesse hat, speziell den Unteroffizieren den Dienst zu erleichtern. A b e r es ist eine ebenso feststehende Tatsache, daß die Ansprüche an die Unteroffiziere bezüglich der Ausbildung der Rekruten immer größere geworden sind. Auch k o m m e n möglicherweise mehr Mißhandlungen vor, weil heute unter den Unteroffizieren weit mehr als früher durchschnittlich jüngere Elemente sind, die sich weniger beherrschen können; möglicherweise stammen diese auch zum Teil aus Schichten, in denen die Auffassung über das, was man seinen Nebenmenschen gegenüber als erlaubt ansehen darf, keine sehr hohe ist. H e r r G r a f v. O r i o l a hat selbst beklagt und ich meine, wenn er von seinem Parteistandpunkte aus sich veranlaßt sieht, einer derartigen Rüge Ausdruck zu geben, so m u ß das Ü b e l sehr stark vorhanden sein - , daß sehr häufig die Öffentlichkeit der Militärgerichte bei Verhandlungen über Militärmißhandlungen ausgeschlossen wird. In dieser Beziehung wird den Bestimmungen der Militärstrafprozeßordnung [ 7 2 0 ] von vielen Seiten eine Auslegung gegeben, die weder der Reichstag und vielleicht auch die Militärbehörden nicht gewünscht haben. M a n macht von der Bestimmung, daß unter gewissen Verhältnissen, w o besondere Interessen der A r m e e oder des Staates G e fahr laufen, die Öffentlichkeit ausschließen zu können, einen viel zu weitgehenden Gebrauch. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) E s gibt große Armeeteile, w o fast sämtliche Verhandlungen von der Öffentlichkeit ausgeschlossen werden. N u n hat aber selbst der H e r r Reichskanzler vor einigen Jahren uns gegenüber erklärt, er betrachte es als einen Vorteil, daß die Öffentlichkeit bei derartigen Prozessen vorhanden sei, und es sei der beste Beweis von der Stärke eines Reichs und der Zustände in demselben, wenn derartige Dinge öffentlich besprochen würden, ohne daß dabei die Institutionen selbst Gefahr liefen. E s ist auch kein Zweifel, daß, wenn derartige Dinge in die Öffentlichkeit k o m m e n , auch die Personen in der Armee diese Berichte lesen und gerade durch das, was sie dabei erfahren, sich in acht nehmen, in ähnlichen Fällen ähnlich zu verfahren. Ich m u ß feststellen, daß die Verhandlungen der Militärgerichte gegenwärtig nur zum kleinsten Teil in die Öffentlichkeit k o m m e n . Im ersten Halbjahr 1906 217
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sind 91 Prozesse in die Öffentlichkeit gelangt, wobei die betreffenden Vorgesetzten im ganzen zu 19 Jahren, 6 Monaten und 17 Tagen Gefängnis verurteilt wurden. Das scheint eine ziemlich hohe Bestrafung zu sein; aber w e n n man die Dinge näher betrachtet, dann ist nach dieser Richtung hin in bezug auf die Urteile der Militärgerichte gar manches zu sagen. Es kommt doch eine ganze Reihe von Urteilen vor, bei denen man sich beim Lesen der Verhandlungen sagt: ist das eine Strafe, die für solche Schandtaten ausgesprochen w i r d ? Ich will als Beispiel für meine Behauptungen nur ganz wenige Fälle anführen. Ich habe hier einen Fall, der den Unteroffizier Johann Krüger von der 6. Kompagnie des 95. Infanterieregiments betrifft, das in Hildburghausen garnisoniert. Dieser hat an einem seiner Untergebenen, nämlich an dem Musketier Neubert, lange Zeit u n d unausgesetzt die ärgsten Mißhandlungen ausgeübt. Ich will Sie nicht mit den Einzelheiten, die einen langen Artikel ausfüllen, bekanntmachen; ich will nur auf einiges wenige hinweisen. Es w i r d eines Abends, als der Soldat etwas spät z u m Essen kam, ihm vom Unteroffizier der Löffel fortgenommen; dann stellte der Unteroffizier den Eßnapf des Soldaten auf die Erde und befahl ihm, sich der Länge nach hinzulegen und zu fressen w i e ein Schwein. (Hört! hört!) Die Ausführung des Befehls w u r d e dadurch unterlassen, daß der Feldwebel hinzukam und das unmöglich machte. Ein andermal erhielt der betreffende Soldat von seinen Eltern ein Paket zugesandt. Beim Offnen steht der Unteroffizier daneben, nimmt aus dem Paket ein Stück Schinkenspeck, wirft es auf die Erde, tritt mit den Füßen darauf herum und sagt: „ N u n friß es!" Ist das nicht eine maßlose Roheit? (Sehr richtig!) M a n fragt sich: w i e ist das möglich? Ich begreife ein Schimpfwort, ich kann mir sogar ein paar Ohrfeigen erklären; aber solche barbarischen Roheiten, solche ganz unsagbaren Gemeinheiten kann ich nicht verstehen. (Zuruf: Das ist eben die Bestie im Menschen!) - Gewiß, das ist klar, daß das die Bestie im Menschen ist; aber es ist schlimm, daß wir so viele solcher Bestien haben. (Heiterkeit.) Meine Herren, ein dritter Fall: beim Stiefelputzen w i r d dem Soldaten vom Unteroffizier befohlen, am Ofen in Kniebeugestellung zu verharren. Alsdann nimmt der Unteroffizier eine Schachtel Stiefelschmiere, stößt den Soldaten mit der Nase hinein und sagt: Da, friß! - und in ähnlicher Weise weiter. Das Ende ist, daß der Unteroffizier für alle diese Roheiten nur vier Monate Gefängnis bek o m m t , allerdings auch degradiert wird. (Zuruf: Na, also!) - Ja, das w a r allerdings die empfindlichste Strafe; aber die Gefängnisstrafe für solche Barbareien w a r doch viel zu gering. Ich bin nicht der Meinung, daß man barbarisch strafen soll. Aber man soll einmal die Strafe mit andern vergleichen. Ich habe hier vor mir einen zweiten Fall, der sich in Grimma abspielt, w o ein H u s a r eine Reihe von Monaten hindurch auf das schlimmste mißhandelt wird, und auch hier ist das 218
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Ende vom Lied, daß der Unteroffizier nur zu vier Monaten Gefängnis verurteilt wird, aber ohne Degradation. In Riesa wurden im Winter 1904/05 die Rekruten einer Batterie nach dem Reitplatz abgeschickt, hier mußten sie auf Befehl des Sergeanten die Eisdecken der zugefrorenen Wasserpfützen auftreten und dann mit der Hand das Wasser ausschöpfen und nach den Schleusen tragen, wobei sich einer der Leute die Hände erfroren hat. Hier ist nun etwas schärfer gestraft worden: der Sergeant bekam ein Jahr und einen Monat Gefängnis und wurde degradiert. Meine Herren, nun vergleichen Sie aber einmal, wie die Kriegsgerichte urteilen, wenn es sich um Vergehen eines Gemeinen gegen Vorgesetzte handelt. In einem Falle handelt es sich um einen Reservemann, ein Berliner, der betrunken zu einer Kontrollversammlung erschien. E r weigerte sich, die Zigarre fortzulegen, lief aus dem Glied und machte allerlei täppische Bemerkungen. Vom Major zur Rede gestellt, antwortete er mit sinnlosen Reden. Kurz, der Mann war vollständig betrunken, was er selbstverständlich nicht sein durfte. Er wurde schließlich vom Oberkriegsgericht wegen Gehorsamsverweigerung, Achtungsverletzung und Widersätzlichkeit zu 4 Jahren Gefängnis verurteilt. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Eine ganz horrende Strafe! Der Rausch war ungehörig, aber der Mann hatte von seinen Ungehörigkeiten und Ungesetzlichkeiten keine Ahnung gehabt, - und dafür die harte Strafe. Ganz mit Recht wird in dem betreffenden Zeitungsartikel darauf aufmerksam gemacht, daß seinerzeit der Leutnant Brüsewitz, der einen Mann erstach, nur 3 Jahre Gefängnis bekam, daß ein Oberst Graf Stolberg, der in einem Kürassierregiment in Straßburg ebenfalls einen Mann erstach, 3 Jahre Festung bekam, daß ein Leutnant v. Hollmann, der mit gezogenem Säbel in ein Privathaus eintrat und allerlei Unfug trieb, 10 Wochen Gefängnis erhielt, daß der Leutnant v. Plogertzy in Ulm, der einen Schutzmann mit einem Revolver bedrohte, mit einem Monat Festung bestraft wurde. Das sind doch keine Strafen, die entsprechend den Taten ausgesprochen wurden. Meine Herren, dann noch ein schlimmerer Fall als der erwähnte, der sich vor dem Breslauer Kriegsgericht vor einigen Wochen abgespielt hat. Es wird wahrscheinlich noch die höhere Instanz zu entscheiden haben. Es handelt sich um einen Reiter aus der Schutztruppe, den Gefreiten Karl August Kühnel in Reichenbach, der allerdings schon wegen Gehorsamsverweigerung in Südwestafrika bestraft worden ist. Dieser hatte einen Streit mit einem seiner U n teroffiziere, den er vor die Brust und ins Gesicht schlug usw. Dieser Mann, der ebenfalls sinnlos betrunken war, weshalb sein Verteidiger auf Freisprechung plädierte, ist vom Kriegsgericht in Breslau zu nicht weniger als 10 Jahren und 1 Tag Gefängnis verurteilt worden. (Hört! hört! bei den Sozialdemokra219
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ten.) Also ein völlig sinnlos betrunkener Soldat, der sich an seinem Vorgesetzten vergriffen hatte, wird zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt. Es ist geradezu fürchterlich, wenn man derartiges liest. Meine Herren, ich bin der Meinung - und ich habe das schon früher ausgesprochen - , die Mißhandlungen würden einen ganz anderen Charakter annehmen und jedenfalls viel seltener eintreten, wenn dem Soldaten das Recht eingeräumt würde, dort, wo eine körperliche Mißhandlung an ihm begangen wird, die Selbstverteidigung, die Selbsthilfe ausüben zu dürfen. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten - Widerspruch rechts.) Wenn er das aber bei uns tut, wird er erst recht aufs härteste bestraft. Es ist nun interessant, was ich nach dieser Richtung hin über die Zustände in der französischen Fremdenlegion gelesen habe. Die Zustände in der Fremdenlegion sind sehr traurige. Wir können nur dringend wünschen, daß unsere Landsleute, die häufig in Festungen an der Grenze vielleicht verleitet durch die Nähe der Grenze, wenn ihnen der Militärdienst über wird, die Flucht ergreifen und in die französische Fremdenlegion eintreten, dies unterlassen möchten; denn die Erfahrungen, die sie dort machen, sind in der Regel die allertraurigsten. (Sehr richtig!) Ich habe darüber ein Buch gelesen, betitelt: Weiße Sklaven, Schilderungen aus der französischen Fremdenlegion von Fritz Ohle. Der Mann malt jedenfalls nicht zu schwarz. Ich habe auch andere Werke darüber gelesen, die sich in ähnlicher Weise aussprechen. Aber in bezug nun auf den Zustand der Behandlung der Truppen in der Fremdenlegion bei Mißhandlungen äußert sich derselbe folgendermaßen: Vor direkten Mißhandlungen der Rekruten, z.B. Schlagen, Treten, Insgesichtspucken usw. hütet sich der Instrukteur in der Fremdenlegion wohlweislich, weil er weiß, daß das Gesetz ihn in diesem Punkte nicht schützt, und der mißhandelte Rekrut das Recht hat, eine Mißhandlung, wenn dieselbe in einem Schlag, einem Tritt besteht, an den Vorgesetzten sofort mit gleicher Münze zurückzugeben.' 72 ^ (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Das wird den Rekruten schon in der ersten Instruktionsstunde gesagt. Also in Frankreich wird es ihnen gelehrt, daß sie sich das nicht gefallen lassen, und infolgedessen wird ein ganz Teil dieser Art von Mißhandlungen unmöglich gemacht. Meine Herren, es ist eigentümlich - Gründe zur Erklärung dafür habe ich nicht - , daß namentlich in der sächsischen Armee, wie mir scheint, die Zahl der Mißhandlungen eine unverhältnismäßig starke ist. Es ist auch die sächsische Armee, in der im letzten Jahre zwei Offiziere wegen Mißhandlungen bestraft worden sind: der Major v. Zeschwitz vom Bezirkskommando Freiberg, der mit 220
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65 Tagen Festung bestraft wurde, und der Hauptmann Franz Schultze vom 6. Infanterieregiment Nr. 136, der mit 31 Tagen Stubenarrest bestraft worden ist. U b e r die Art der Vergehen ist in dem mir vorliegenden Berichte nichts gesagt, ich kann also darüber keine Auskunft geben. M e i n e Herren, ein anderer Punkt, den ich ebenfalls kurz zur Sprache bringen möchte und wobei ich speziell dem Herrn Kriegsminister gegenüber den W u n s c h aussprechen möchte, daß er diesem Kapitel eine besondere Aufmerksamkeit schenkt, ist die Tatsache, daß seit einer geraumen Reihe von Jahren die Zahl der Militärfähigen, d.h. der als militärtüchtig Anerkannten in erheblicher A b n a h m e begriffen ist. Binnen weniger Jahre ist die Zahl der als militärtauglich Erklärten von 56,6 auf 53,4 Prozent herabgegangen. Ich irre wohl nicht, wenn ich annehme, daß die zunehmende Industrialisierung Deutschlands im wesentlichen dazu beiträgt (Sehr richtig! rechts), das Zusammenrücken großer Massen in die Städte und Industriebezirke bei ungenügenden Lebens-, Arbeits- und namentlich schlechten Wohnungsverhältnissen. Von diesem Gesichtspunkte aus wäre es sehr nötig, daß der H e r r Kriegsminister in bezug auf die Auflassung von Festungsterrains gegenüber den in Frage kommenden Städten möglichst entgegenkommt, damit es diesen Städten möglich ist, L u f t und Licht zu b e k o m m e n und die neuen Stadtteile in menschenwürdigerer Weise auszubauen, als es bei den alten der Fall ist. (Sehr richtig! links.) E s ist weiter für mich kein Zweifel, daß in dem Maße, wie das L a n d entvölkert und die Städte und Industriebezirke übervölkert werden, der körperliche Zustand der Bevölkerung sich verschlechtert, und damit die Zahl der militärtauglichen Leute sich vermindert. (Sehr richtig! rechts.) -
M e i n e Herren, das geben Sie 6 unbedingt zu; ändern können Sie aber an
dieser Entwicklung nichts, und wenn Sie nichts daran ändern können, ist es um so notwendiger, daß von Seiten des Reichstags wie der verbündeten Regierungen - und hier k o m m e n auch die Interessen des H e r r n Kriegsministers in Frage - vor allen Dingen in ganz energischer Weise für eine ausgedehnte Arbeiterschutzgesetzgebung gewirkt wird (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten), für eine Verkürzung der Arbeitszeit, für eine strenge Überwachung der Arbeitsräume, für bessere Wohnungsverhältnisse, kurz, für alle die Einrichtungen, die notwendig sind, um ein körperlich starkes Geschlecht heranzuziehen. Gerade in R ü c k sicht auf die Landesverteidigung hat der H e r r Kriegsminister in erster Linie ein Interesse daran, daß auf diesem Gebiete andere und bessere Zustände Platz greifen. Ich k o m m e n u n m e h r zu unserem Antrag. D e r Antrag Nr. 261C722] ist gestern 6
Bei Bebel: wir. 221
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bereits von den H e r r e n Abgeordneten Erzberger und Graf O r i o l a in zustimmender Weise besprochen worden; sie werden ihm ihre Zustimmung geben, obgleich der H e r r Abgeordnete G r a f O r i o l a nicht umhin konnte, seine Zustimmung mit einigen bitteren Bemerkungen gegen die Sozialdemokratie zu begleiten, die diesen Antrag gestellt hat. E s ärgert ihn, daß wir den Antrag gestellt haben; er hätte es lieber gesehen, daß eine andere Partei das getan hätte. (Heiterkeit.) F ü r das letztere können wir allerdings nichts; aber wenn er mit allerlei Bemerkungen anzudeuten schien, als hätten wir dabei irgend welchen Hintergedanken, indem wir diesen Antrag stellten, so m u ß ich dem sehr entschieden entgegentreten. Dieselben Gründe, die uns veranlassen, auf Beseitigung der Militärmißhandlungen zu dringen, auf eine Verkürzung der Dienstzeit, um denjenigen Leuten aus dem Volke, denen die Ableistung der Dienstpflicht auferlegt wird, diese nach Möglichkeit zu erleichtern, haben uns auch bestimmt, diesen Antrag zu stellen. E s ist auch nicht der erste derartige Antrag, den wir stellen. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) D e r H e r r G r a f v. O r i o l a scheint gar nicht zu wissen, daß wir bereits 1884 den Antrag eingebracht haben, daß denjenigen Familien der Reservisten und Landwehrleute, deren Väter zu militärischen Übungen eingezogen würden, und die in unerquicklichen sozialen Verhältnissen sich befinden, die nötige Unterstützung gewährt würde. E r weiß offenbar nicht, daß das ein Antrag der sozialdemokratischen Partei war, der damals die Mehrheit des Reichstags fand, und daß auf G r u n d dieses Beschlusses die verbündeten Regierungen einen entsprechenden Gesetzentwurf eingebracht haben. Genau so war unser Verhalten bei den Invalidenpensionen. Wir sind allezeit für die möglichste Bessergestaltung der Invalidenpensionen eingetreten, weil wir der Ansicht sind, daß die O p f e r unseres Militärsystems oder die O p f e r der Kriege unter allen Umständen vom Staat, vom R e i c h in auskömmlicher Weise unterstützt werden müssen. Das ist ein Gedanke, den wir stets vertreten haben, der durchaus nicht unserm prinzipiellen Standpunkte gegenüber der Armee entgegensteht. E s ist also nichts weniger - um mit den Worten des Herrn Reichskanzlers zu reden - als ein perfider Antrag, den wir hier stellen, es ist ein Antrag, den wir in wohlverstandenem Interesse derjenigen stellen, die auf G r u n d unserer Gesetzgebung genötigt sind, in die Armee einzutreten. Aus welchen Motiven schließlich die M e h r heit des Hauses unserem Antrag die Zustimmung gibt, ist uns gleichgültig; denn über Motive ist glücklicherweise nicht abzustimmen. Wenn weiter der H e r r Graf v. O r i o l a meinte, wir hätten es leicht, solche Anträge zu stellen, wir stimmten nachher gegen das ganze Budget - (Sehr richtig! bei den Nationalliberalen) - Sehr richtig? Das werden wir doch nicht bestreiten - , so ist die Auffassung bei Ihnen hierüber eine ganz falsche. Man versucht bei jedem Gesetzentwurf, denselben nach Möglichkeit zu verbessern, um ihn annehmbar zu machen; wenn es 222
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aber der betreffenden Partei nicht gelingt, das Gesetz annehmbar zu machen nach den Grundsätzen, die sie vertritt, so stimmt sie gegen das Gesetz. U n d so halten wir es beim Etat. Übrigens ist eine derartige Abstimmung parlamentarisch doch nichts Neues. Ihre eigenen Väter, meine Herren Liberalen, haben in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als der Konflikt mit dem Ministerium Bismarck war, 1862 bis 1866 dem preußischen Ministerium das Budget verweigert; sie haben also genau das getan, was wir getan haben. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) D i e Gründe hierfür will ich nicht erörtern. D i e Liberalen haben vier bis fünf J a h r e das Budget verweigert, weil sie mit den Grundsätzen, nach denen das Ministerium Bismarck regierte, nicht einverstanden waren. U n d erst vor wenigen M o n a t e n hat sogar eine erste Kammer, und zwar in Holland, das Militärbudget abgelehnt, weil sie mit den Grundsätzen, die der Kriegsminister in bezug auf die A r m e e vertrat, nicht einverstanden war. Das Budget abzulehnen, ist ein parlamentarisch erlaubtes Mittel und in einem parlamentarisch regierten Staate das einzige Mittel, um eine unangenehme oder unbequeme Regierung beseitigen zu können. Wenn man uns aber sagt: wenn wir die M e h r heit hätten, käme kein Budget zu stände, - so antworten wir: wenn wir die Mehrheit hätten, würden wir das Budget nach unseren Anschauungen einrichten (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten), und für ein derartiges Budget würden wir selbstverständlich stimmen. Solange wir eine Mehrheit nicht haben, stimmen wir aber aus den Gründen, die wir schon dutzend Male ausgesprochen haben, gegen das Budget, mit Rücksicht auf die Art, wie die Mittel für die A r m e e aufgebracht werden usw. usw. 7 Das ist den Herren, so scheint es, so unverständlich, wie es Ihnen z.B. ganz unverständlich erscheint, daß vor wenigen Tagen der gegenwärtige englische Ministerpräsident, H e r r Campbell Bannerman, einem Dritten gegenüber äußerte, als der ihn frug, o b heute, w o er Ministerpräsident in England sei, er n o c h dieselbe Anschauung über den Burenkrieg habe wie vor 7 Jahren, als er noch in der O p p o s i t i o n war - : „Jawohl, es ist ein ganz brutaler Krieg gewesen, den ich heute n o c h verurteile!" So sagte der englische Ministerpräsident! Das sollte einmal in Deutschland vorkommen; hier ist aber dergleichen undenkbar! (Heiterkeit.) - Gewiß, das sind englische Manieren, und wir halten diese englischen Gewohnheiten für besser als die deutschen, das kann ich Ihnen sagen! F ü r die Herren, für die jahrzehntelang England das parlamentarische Musterland gewesen ist, scheint das - wie so vieles andere, was sie einst vertreten haben - heute auch anders geworden zu sein! D e r H e r r G r a f O r i o l a meinte weiter, unser Antrag sei nicht in unserem Garten gewachsen. (Sehr richtig! bei den Nationalliberalen.) - Ich weiß nicht, was Sie 7
Siehe hierzu Nr. 140 in Band 9 dieser Ausgabe. 223
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damit sagen wollen! - Der Antrag ist von unserer Fraktion auf meinen Antrag angenommen worden in einer der ersten Sitzungen, die wir hatten' 723 ^, und als wir in der Budgetkommission über die Notwendigkeit der Erhöhung der Gehälter der Beamten, Unteroffiziere, Offiziere usw. redeten, haben wir sofort erklärt, daß es notwendig sei, auch den Sold des gemeinen Mannes entsprechend zu erhöhen in Rücksicht auf die ganzen veränderten Verhältnisse. U n d es war der Herr Kriegsminister, der - wie ich anerkennen muß - sofort erklärte, er sei derselben Ansicht, aber man dürfe in einem solchen Falle nicht mit Pfennigen kommen. Dementsprechend haben wir Ihnen also den Antrag, der sofort nach dem Zusammentritt des diesmaligen Reichstags von uns beschlossen worden ist, vorgelegt. Wir haben auch, entsprechend unserer Auffassung, als es sich vor etwa 11 Jahren um die Frage des warmen Abendbrots für die Soldaten handelte, auf das energischste für diesen Antrag Partei genommen und dafür gestimmt. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Das Los des Soldaten nach Möglichkeit zu verbessern, entspricht unserem Standpunkte; denn die große Mehrheit der Leute, auch der Unteroffiziere, sind Proletarier, die nichts übrig haben, und die mit den knappen Pfennigen, die ihnen der Staat jetzt zahlt, unmöglich auskommen können. Dazu kommt noch ein anderes: die Ansprüche an die Leistungsfähigkeit der Soldaten sind von Jahr zu Jahr bedeutend gewachsen, ihre Körperkräfte werden viel mehr als früher in Anspruch genommen. Auch von diesem Gesichtspunkte aus muß unbedingt eine Änderung, wie die beantragte, eintreten. Es ist weiter eine Tatsache, daß der gemeine Soldat, weil er mit seinen 22 Pfennigen täglich nicht auskommen kann, auf die Unterstützung seiner Eltern, seiner Verwandten angewiesen ist. Es wäre interessant, einmal festzustellen - und das ließe sich ja leicht ausführen - , wie groß die Summen sind, die alljährlich von auswärts, von den Eltern und Angehörigen, in die Armee fließen, um den Leuten das Leben in der Kaserne etwas angenehmer zu machen. Ich bin sogar überzeugt, daß ein gut Teil des Widerwillens, der unter den jüngeren Leuten herrscht, wenn sie in die Kaserne müssen, gerade darauf begründet ist, daß sie sich sagen: wir haben eine so elende Bezahlung, daß wir damit unsere gewohnten Bedürfnisse nicht befriedigen können. Wenn also für eine entsprechende Erhöhung der Löhnung der Soldaten und Unteroffiziere - aus Reichsmitteln, wie sich das von selbst versteht - gesorgt wird, so werden nicht nur die Soldaten selbst, sondern auch zahlreiche Eltern das mit lebhaftem Dank begrüßen; denn gar vielen Familien wird es schwer, ihren Söhnen im Monat 3 bis 5 Mark zu schicken, damit sie sich etwas anschaffen können, wozu die geringe Löhnung nicht ausreicht. Wir haben keine Sätze genannt, um die die Besoldung erhöht werden soll; aber 224
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wir meinen, daß es sich allerdings nicht um einige Pfennige handeln kann, und daß das Minimum der Solderhöhung beim gemeinen Mann 10 Pfennig pro Tag betragen sollte, sodaß also der Sold von 22 auf 32 Pfennig käme. Das würde bei rund 500 000 Mann 500 000 mal 10 mal 365, mithin in runder Summe WA Millionen Mark betragen. Da wir weiter meinen, daß auch die Unteroffiziere eine Aufbesserung ihrer Bezüge nötig haben, und daß dieses vielleicht auch auf die Auswahl des Materials für diesen Stand von einiger Wirkung ist, wenn eine bessere Bezahlung eintritt, so sind wir der Meinung, daß hier das Minimum per Monat 8 Mark betragen sollte, also im Jahr circa 100 Mark. Das wären bei 84 000 Unteroffizieren rund 8 Millionen. Wenn weiter von Reichs wegen ersetzt würden die Ausgaben für die notwendigen Anschaffungen beim Eintritt in die Armee: Knopfgabeln, Bürsten, Putzzeug, Gewehrbürsten, Gewehröl - sogar das Einnähen der Namen in die Uniformen müssen jetzt die Soldaten bezahlen; ich begreife so etwas gar nicht, daß so eine selbstverständliche Einrichtung von den Leuten bezahlt werden muß - , so rechnen wir hierfür per Jahr noch 1 Million Mark. Das wären insgesamt 2714 Millionen Mark. Ich erkenne an: das ist eine erhebliche Mehrausgabe; aber es ist eine absolut notwendige, sie ist mindestens so notwendig wie die Erhöhung der Gehälter der Zivilbeamten und der verschiedenen Grade in der Armee. Die 22 Pfennig sind seit Urväterzeiten dieselben geblieben, sie sind, glaube ich, 1867 aus der preußischen Armee herübergenommen und bis heute nicht verändert trotz der gewaltigen Veränderungen, die mittlerweile im sozialen Leben eingetreten sind. Und wenn man sagt: wollt ihr auch für Beschaffung der Mittel eintreten? nun, wenn die verbündeten Regierungen uns dazu eine direkte Reichssteuer, Vermögens-, Einkommens- oder sonst was für eine Steuer vorschlagen, um die Mittel hierfür aufzubringen, werden wir auch dafür stimmen, aber nur unter der Bedingung, daß es eine direkte Reichssteuer ist, keine indirekte. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, wenn das, was wir jetzt fordern, durchgeführt wird, so steht die deutsche Armee noch erheblich hinter den Bezügen der schweizer Milizsoldaten zurück. Ich weiß nicht, wie es heut damit steht. Vor 10 Jahren habe ich, um eine Broschüre [724i darüber zu schreiben, mir die nötigen Daten verschafft; damals bekam der schweizer Rekrut während der Übungszeit per Tag 40 Pfennig, der ausgebildete Soldat 64 Pfennig, der Trainsoldat und der Dragoner 80, der Gefreite 96 - ich habe die Centimes in Pfennige umgerechnet - , der Unteroffizier 1 bis 1,30 Mark - also ganz erheblich höhere Bezüge als in der deutschen Armee. Dabei braucht der schweizer Soldat keinen Pfennig für die Verpflegung abzugeben; es ist ein Bezug, den er - sagen wir einmal: zu seinem Vergnügen verwenden kann. Auch die Verpflegung in der schweizer Armee ist 225
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eine gute. Morgens bekommt der schweizer Soldat Kaffee mit Milch - in der Schweiz wird bekanntlich drei Viertel Milch und ein Viertel Kaffee gegeben oder er hat die Wahl, auch Schokolade zu nehmen; Mittags bekommt er Suppe, Gemüse und Fleisch; Abends wieder eine nahrhafte Suppe. Die Tagesration beträgt 1 Vi Pfund Brot und 3/t Pfund Fleisch. Bei besonderen Anstrengungen wie bei Manövertagen bekommt er außer diesem sehr reichlichen Essen noch eine Zulage von Käse und Vi Liter Wein. Den Wein können wir bei der Natur unseres Landes den Soldaten nicht geben, das wäre zu teuer. (Zuruf.) - Ich führe nur an, was der schweizer Soldat bekommt! Erkundigen Sie sich, Herr Graf Oriola - Sie reden ja so gern über diese Dinge - , ob das unrichtig ist, was ich anführe. - Sie sehen, nach allen diesen Richtungen ist die Milizarmee unzweifelhaft günstiger gestellt als unsere stehende Armee. Es geschieht also keineswegs zu viel, wenn Sie den von uns gestellten Antrag annehmen. Ich komme weiter kurz auf einen Punkt, den wir bereits in der Budgetkommission erörtert haben: die leidige Saalboykottierung. Darin wird von verschiedenen Militärverwaltungen, freilich nicht von allen, das höchste geleistet. Ich kann mich wenigstens nicht entsinnen, daß das auch in Bayern und Württemberg vorkommt. (Zuruf von den Sozialdemokraten.) - Doch? Auch dort? Nun, dann schlimm genug! Aber dagegen müssen wir entschieden Verwahrung einlegen. (Zuruf von den Sozialdemokraten.) - Das hat Preußen eingeführt; von Preußen kommt eben alles Schlechte. (Heiterkeit.) Der Reichskanzler hat während der Wahlkampagne einem der Herren von der freisinnigen Partei - ich weiß nicht, ob in einem Briefe oder mündlich - die Erklärung abgegeben, das Saalabtreiben sei eine gehässige Maßregel. Aber, meine Herren, nicht bloß gegen eine bestimmte Partei, sondern gegen alle Parteien - und eine gehässige Maßregel ist es auch von seiten der Militärverwaltung. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Wir verlangen gar nicht - das habe ich schon in der Budgetkommission erklärt - , daß in den Restaurationen, in denen in der Regel Arbeiter verkehren, man auch die Soldaten zulassen soll. Wir wissen, daß das ein ganz vergebliches Verlangen wäre; die Herren haben eine solche Angst wegen des Verkehrs der Soldaten mit den Arbeitern, daß wir diese Angst nicht überwinden können. Aber was wir zum allermindesten verlangen müssen, ist, daß man Saalinhaber nicht boykottiert, wenn die Wirte bereit sind, ihre Säle für Volksversammlungen und Wahlversammlungen herzugeben. Soll die Versammlungsfreiheit zur Tat und Wahrheit werden, muß auch die Saalfreiheit damit verbunden sein. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Was nutzt uns das beste Vereins- und Versammlungsrecht, wenn wir in keine Säle kommen, in denen wir unsere Versammlungen abhalten können! (Sehr richtig! links.) Es ist also eine Notwendigkeit, daß dieses Recht gegeben wird. Es scheint aber, daß die Herren vom Militär fürchten, daß in einem 226
56 Gegen Militärmißhandlungen
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Saale, in dem einmal die Sozialdemokraten eine Volks- oder Wahlversammlung abhalten, der sozialdemokratische Bazillus an den Wänden, den Möbeln, w o möglich in der Luft schwebt und sich den Soldaten mitteilt. (Heiterkeit.) N e h men Sie mir es nicht übel: das ist eine ungeheuer kleinliche, gehässige Maßregel, die sie da treffen; es ist einer hohen Staatsbehörde unwürdig, in dieser Weise Staatsbürger zu bekämpfen. (Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) M a n sollte sich auf jener Seite schämen, mit solchen Maßregeln gegen Staatsbürger vorzugehen, um so mehr, als sie ja die Sozialdemokraten nicht aus der Armee ausschließen. Dieselben müssen Steuern zahlen u n d Soldat werden, was ganz in der O r d n u n g ist; das wollen w i r nicht ändern, das betrachten wir als selbstverständlich. A b e r wir verlangen auch unser Bürgerrecht, wir verlangen Freiheit der Betätigung derjenigen Rechte, die die Verfassung uns gewährt, so gut w i e jede andere Partei. Indem die Militärverwaltung derartige Verbote erläßt, stellt sie sich selbst auf den Standpunkt einer politischen Partei. M e i n e Herren, diese Dinge gehen mitunter geradezu ins Absurde. Als ich im Jahre 1903 in der Residenz des Herrn v. H e y l eines Abends eine Wahlversammlung hielt, ging das Militärverbot so weit, daß den Soldaten in Worms verboten wurde, von Nachmittags 3 U h r überhaupt mit einem Fuße die Straße zu betreten, in der das Lokal sich befand. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Etwas Absurderes, Lächerlicheres, Beschränkteres kann es nicht geben. (Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Diese Art der Beeinflussung und Agitation seitens der Militärbehörden ist eine politische Agitation, die sie betreiben. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Die Armee soll angeblich unpolitisch sein. Damit mischt sie sich aber in die Parteikämpfe, indem sie derartige Verbote erläßt. Ähnliches haben w i r in den letzten Wahlkämpfen bei den Militärvereinen wieder erlebt. Die Parole gegen Zentrum, Polen und Sozialdemokraten ist natürlich auch von den Leitern der Militärvereine ausgegeben worden. Genau so, wie die Einmischung des Flottenvereins in die Wahlagitation zur Folge gehabt hat, daß eine erhebliche Anzahl Mitglieder ausgetreten ist, daß der bayerische Verband des Flottenvereins energisch gegen die Art protestierte, w i e das Präsidium des Flottenvereins in die Wahlagitation eingegriffen hat, so hat die Einmischung der Militärvereine in die Wahlagitation ähnliche Folgen gehabt. Ich habe hier vor mir einen Bericht aus der „Germania" von diesem Monat aus Saarbrücken. Dort sind die Militärvereine in der gehässigsten Weise auch gegen das Zentrum eingetreten, obgleich eine Masse Zentrumsleute Mitglieder in den Militärvereinen sind. Das hatte zur Wirkung, daß eine Anzahl dieser Vereine aus dem Kriegerbunde austraten, daß andere, in denen das Zentrum die Mehrheit hatte, gegen das Verfahren protestierten, und daß nunmehr die Erörterungen auf den Generalversammlungen der Kriegervereine ihren Fortgang nehmen werden. 227
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Gegen Militärmißhandlungen
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Die Militärbehörde aber, das Bezirkskommando in Sankt Johann, beantwortet diese Angelegenheit damit, daß es an 57 Herren, die Reserveoffiziere sind, aber noch keinem Kriegerverein angehören, die Aufforderung erläßt, so schleunig wie möglich dem Kriegerverein als einer staatserhaltenden Einrichtung beizutreten. Meine Herren, gegen diese politische Betätigung der Kriegervereine legen wir entschieden Protest ein8. Es ist ein ungesetzliches Verfahren, das dort beobachtet wird. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Es ist ganz wunderbar, obgleich in den Kriegervereinen Staatsanwälte, höhere Polizeibeamte, Richter usw. zu Tausenden vorhanden sind, die also genau wissen, wie die Gesetze lauten, die genau wissen, daß die Kriegervereine durch ihre politische Betätigung wider das Gesetz verstoßen, - daß bis heute kein einziger dieser Herren gegen die Kriegervereine eine Anklage erhob. Auch hier also wieder das Messen mit zweierlei Maß! Es kommt ganz darauf an, wen es trifft; danach wird vorgegangen: ist einer ein sogenannter staatstreuer, reichserhaltender Mann, wie man zu sagen pflegt, dann kann er das Gesetz verletzen, wie er will; es gibt keine Anklage. (Nanu! rechts und bei den Nationalliberalen.) - Jawohl, dafür ist hier der Beweis gegeben! Der Flottenverein und die Militärvereine zeigen es deutlich, daß für sie das Gesetz nicht besteht. Das preußische Vereinsgesetz verbietet z.B. nichtpolitischen Vereinen politische Betätigung, und die Betätigung bei der Wahl, die Aufforderung, zur Wahlagitation Schlepperdienste und alles mögliche zu leisten, ist eine politische Betätigung; darüber gibt es keinen Streit. Sie würde, von einem anderen nichtpolitischen Vereine ausgeübt, sofort die Verfolgung auf Grund des preußischen Vereinsgesetzes zur Folge haben. Wir verlangen also auch hier kategorisch, daß mit diesem Zustand der Dinge gebrochen wird, daß gleiches Recht für alle ohne Ansehen der Person gilt! (Lebhaftes Bravo! bei den Sozialdemokraten.) Stenographische Berichte. Verhandlungen des Reichstags, 12. Legislaturperiode, I. Session. Von der 31. Sitzung am 17. April 1907 bis zur 54. Sitzung am 14. Mai 1907, Band 228, Berlin, 1907, S. 1058-1068.
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Siehe hierzu Nr. 56 in Band 2/1 dieser Ausgabe.
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57 Abscheu wider den Krieg Auszug aus der Rede im Deutschen Reichstag zum Haushaltsetat für 1907 13. Mai 1907
[...] [ 7 2 5 ] Ich komme nunmehr zu einigen Bemerkungen, die der Fürst Bülow am 26. Februar gegen mich machte, auf die ich damals nicht mehr antworten konnte.1 E r behauptete - nach Preßberichten, die veröffentlicht wurden - , ich hätte in einer Rede in Hamburg gesagt, in diesen Wahlen solle der bürgerliche Liberalismus zerrieben werden^ 7261 Erstens habe ich das nicht gesagt. (Na! na! links.) Zweitens entspricht diese Auffassung nicht meinem Standpunkt. (Na! na! rechts.) Ich habe ausgeführt: es ist ein historischer Prozeß, der sich in der Entwicklung unserer Gesellschaft vollzieht, daß die Mittelparteien mehr und mehr aufgerieben werden und die Extreme rechts und links sich verstärken. Ich habe bei verschiedenen Gelegenheiten sogar gesagt: ich bedaure von meinem Standpunkt aus, daß wir nicht eine starke bürgerlich-liberale Partei als Pufferpartei zwischen der Sozialdemokratie und den Parteien rechts haben. (Große Heiterkeit rechts und links. Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Aber selbstverständlich haben wir kein Interesse daran, eine solche Partei auf unsere Kosten zu stärken. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Wo wir bei engeren Wahlen den Ausschlag gaben, haben wir allerdings danach gehandelt. (Gelächter und Zurufe.) In den zwei, drei Fällen (Zurufe: Zwei, drei?) - in den drei Fällen (Zurufe: Zehn!) - das ist nicht wahr! - (Zuruf: Doch!), in denen meine Parteigenossen anders gehandelt haben, haben wir im Parteivorstande gegenteilige Anschauungen vertreten, so z.B. auch in bezug auf die Wahl des Herrn Naumann, für den ich persönlich mit aller Energie eingetreten bin (Aha! und Hört! hört! rechts; große Heiterkeit), auch in bezug auf die Wahl des Herrn Haußmann usw. (Heiterkeit.) Ja, meine Herren, bei engeren Wahlen, bei denen wir ausfallen, betrachten wir in der Regel die Herren der Linken als das kleinere Übel; von diesem Standpunkt haben wir sie also unterstützt. 1[669i Ich muß mich also auf das nachdrücklichste dagegen erklären, daß wir anders gehandelt hätten. Freilich, die Herren von der Linken haben mit allem Eifer - das erklärt sich aus den ideellen und finanziellen Verhältnissen, in denen sie zur Rechten standen (Heiterkeit; 1
Siehe hierzu Nr. 55.
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57 Abscheu wider den Krieg
Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten) - dahin gewirkt, daß in circa 32 Wahlkreisen selbst die größten Reaktionäre vor einem Sozialdemokraten bevorzugt wurden. (Lebhafte Zustimmung rechts und links. Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Das kann nicht bestritten werden! Die Linke hat in solchen Fällen die Reaktion gestärkt. Der Herr Reichskanzler hat weiter gesagt, als ich am 26. Februar dem Fürsten Bismarck gegenüber seiner Person ein gewisses L o b zollte, dieses L o b für den Fürsten Bismarck käme etwas zu spät. (Sehr richtig! rechts und bei den Nationalliberalen.) - J a , meine Herren, man muß doch Vergleiche haben, ehe man ein Urteil fällen kann. Wir konnten gar nicht wissen, welchen Kalibers die Nachfolger des Fürsten Bismarck sein würden. (Heiterkeit.) Nachdem wir den Fürsten Bülow als einen solchen genügend kennen gelernt haben, ist im Vergleich zu Bismarck mein L o b zu Gunsten des Fürsten Bismarck und nicht des Fürsten Bülow ausgefallen. (Heiterkeit.) Er kann aber dafür sorgen, daß wir künftighin weniger Veranlassung haben, mit der Art seines Regierens unzufrieden zu sein! Er hat ja die Möglichkeit dazu. Er hat von einem Programm geredet, das er verwirklichen wolle, und worin er allerlei schöne Dinge uns in Aussicht gestellt hat. Er braucht nur einmal danach zu streben, das zu verwirklichen, was er vor drei Jahren bei der Eröffnungsfeier des neuen preußischen Herrenhauses sagte: Preußen in Deutschland voran, Deutschland in der Welt voran.' 68 ^ Wenn er diesen Wahlspruch ehrlich verwirklicht, dann werden wir ihn aufs kräftigste dabei unterstützen. (Na! na! rechts und bei den Nationalliberalen.) Bisher hat er aber das Gegenteil getan. Es heißt nicht: Preußen in Deutschland oder in der Welt v o r a n - s o n d e r n Preußen-Deutschland in der Welt hintendran! (Na! na! rechts.) N a c h unserer Meinung allerdings! Es gibt keinen reaktionäreren Staat als den preußischen Staat - und zwar in der ganzen Welt keinen reaktionäreren 2 . (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten. Rufe rechts: „Keinen festeren Staat!") Was Sie für Begriffe vom preußischen Staat haben, das weiß ich, und daß Ihre Auffassungen und die unsrigen sich diametral gegenüberstehen, ist selbstverständlich. (Sehr richtig! rechts.) Ich betrachte Ihre Partei (nach rechts), die Existenz Ihrer Partei für das größte Unglück Preußens und Deutschlands. (Sehr gut! bei den Sozialdemokraten. Lachen rechts.) Es wäre für Preußen und Deutschland eine Erlösung, wenn die rechte Seite des Hauses ausgeschaltet werden könnte. (Erneutes Lachen rechts. Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Das ist meine ehrliche Uberzeugung; ich könnte das Ihnen durch viele Beispiele beweisen, wäre die Zeit dazu vorhanden. Meine Herren, Sie sind daran schuld, daß nach allen Richtungen hin noch heute Preußen der konservativste und 2
Siehe Nr. 55 und Nr. 192 in Band 9 dieser Ausgabe.
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reaktionärste Staat nicht nur Deutschlands, sondern - man kann sagen - in Europa ist, mit Ausnahme vielleicht der Türkei, denn selbst Rußland fängt an, über Preußen hinauszukommen. (Gelächter rechts. Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Wir wollen abwarten, wie Fürst Bülow sein Programm erfüllt, das unter anderem in dem Versprechen gipfelte, es werde dem Reichstag ein Gesetz über das Vereins- und Versammlungsrecht vorgelegt werdenJ 68 ^ Ist die Vorlage gut, entspricht sie dem, was wir erwarten, was wir als selbstverständlich ansehen, daß es in Deutschland nicht einen Staat gibt, der ein besseres Vereins- und Versammlungsgesetz hat, als das künftige deutsche sein soll, dann werden wir einer solchen Vorlage zustimmen, im anderen Falle werden wir sie aufs energischste bekämpfen. Aber, meine Herren, Fürst Bülow hat auch noch eine andere Gelegenheit, seinen fortschrittlichen Standpunkt, wenn er einen solchen besitzt, vertreten zu können. Wir haben wiederholt in diesem Hause gehört, daß die Finanzlage des Reichs eine sehr traurige ist. Gemäß den Beschlüssen, die vorhin gefaßt worden sind, und gemäß den Beschlüssen, die wir überhaupt bisher gefaßt haben, ist es keine Ubertreibung, wenn ich sage, der Reichstag wird mit der Frage zu tun bekommen: Wie deckt er das Defizit, das aus diesen Mehrausgaben entsteht? woher nimmt er die allermindestens 100 Millionen Mark neue Steuern - es werden wahrscheinlich viel mehr nötig sein - , die er zur Deckung des Defizits braucht? Trotzdem der südwestafrikanische Aufstand niedergeschlagen ist und dadurch einige Dutzend Millionen gestrichen werden konnten, haben wir doch einen Etat vor uns, der das Anleihesoll von 264 Millionen Mark für das laufende Jahr nur auf 254 Millionen Mark zu ermäßigen erlaubte. Es kommen also 254 Millionen neuer Schulden zu den circa 4000 Millionen, die wir bereits haben! In welchen geradezu traurigen Zuständen die Finanzverwaltung des Reichs sich befindet, das hat sich aufs klärlichste ergeben aus der Begebung der Schatzanweisungen, die vor kurzem stattgefunden hat. Meine Herren, wenn ein Staat, ein so junger Staat wie das Deutsche Reich, der also alle seine Kräfte noch zur Verfügung hat, gezwungen ist, vierprozentige Schatzanweisungen zum Kurse von 99 Prozent auszugeben (Zuruf rechts: 98 Prozent!), - zu 99 Prozent sind sie dem Publikum gegeben, für 98 Prozent haben es die Bankiers übernommen, und sie werden bei diesem Geschäft circa vier bis fünf Millionen, wenn nicht mehr, verdienen - , so ist das sehr bedenklich. Das Reich muß nach den Bedingungen der Rückzahlung im Jahre 1912 diese seine Anleihe mit 4,40 Prozent verzinsen. Das ist ein höherer Zinsfuß, als finanziell schlechter stehende Staaten aufzuwenden haben. Ich denke, das sind Verhältnisse, die zu denken geben, und Sie haben allen Grund, zu fragen, ob diese Zustände in der gleichen Weise weitergehen sollen. 231
57 Abscheu wider den Krieg Ich bin der Meinung, daß, wenn die Frage der Neubesteurung für die Ausgaben des Reichs auftaucht - und hier erwarte ich vom Fürsten Bülow, daß er seinen angeblich fortschrittlichen Standpunkt dokumentiert - , diese Frage nicht anders gelöst wird als auf dem Wege der direkten Besteurung. Als ich am 26. Februar bereits darauf hinwies, daß das Defizit des Reichs vor allen Dingen durch eine Einkommensteuer gedeckt werden müsse, war es ein Teil der Herren aus der nationalliberalen Fraktion, die mir zuriefen: dafür sind auch wir. U n d bei den Kandidatenreden, die bei der Nachwahl im 17. sächsischen Wahlkreise durch den nationalliberalen Stadtrat Claus gehalten worden sind, erklärte dieser H e r r in allen Versammlungen, daß er mit dem Steuerprogramm, das der sozialdemokratische Kandidat Molkenbuhr entwickelt habe, vollständig einverstanden sei. ( H ö r t ! hört! bei den Sozialdemokraten. Zuruf rechts: E r ist aber nicht gewählt worden!) - E r ist nicht gewählt worden, weil wir in dieser Frage fester stehen, als H e r r Claus stehen würde. (Heiterkeit.) Diese Auffassung wird also auch von nationalliberaler Seite vertreten. D u r c h das Zentrum ist der § 6 in das Flottengesetz gekomm e n ^ , der ausdrücklich ausspricht, daß künftighin die neuen Lasten nicht auf dem Wege der Besteurung der Verbrauchsartikel der großen Masse gewonnen werden dürfen. Warten wir also ab. Ich stehe nicht an, zu erklären: Weit besser, als ein Abrüstungsbeschluß auf der Haager Konferenz 1713] wirkte, würde ein Gesetz wirken, das dahin lautete, daß künftighin bei uns alle Mehrforderungen des Etats einzig und allein auf dem Wege der Einkommensteuer und der Vermögenssteuer aufgebracht werden müßten. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Ich bin überzeugt, das wirkte ganz ausgezeichnet auf den Eifer der Rüstungen; das würde mehr wirken - sage ich n o c h einmal - , als wenn die Haager Konferenz eine Resolution faßt, die, wenn sie auch den Worten nach sehr schön klingt, in der Tat nicht den Erwartungen entsprechen kann. Insbesondere verwahren wir uns schon jetzt auf das energischste dagegen, daß bei den neuen Steuervorlagen auch nur entfernt eine indirekte Steuer durch eine weitere Verteurung der Lebensmittel in Frage gezogen werden kann. Meine H e r r e n , die Konsequenzen des neuen Z o l l t a r i f s ^ liegen heute vor aller Augen. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Ein großer Teil der Mehrausgaben des Reichs beruht auf den Konsequenzen, die der Zolltarif erzeugt hat, d.h. auf der Verteurung der notwendigsten Lebensmittel. D i e Mehrkosten, die dadurch dem Reiche, den Einzelstaaten und den Gemeinden in Deutschland auferlegt worden sind, belaufen sich auf Hunderte von Millionen, die jetzt auf dem Wege neuer Steuern aufgebracht werden müssen. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) J e t z t sollen die Klassen, die in erster Linie Vorteile von dieser neuen Gesetzgebung haben, auch entsprechend herangezogen werden. Wir verlangen also direkte Besteurung: E i n k o m m e n s - , Vermögens-, Erbschaftssteuer! W i r haben, was 232
57 Abscheu wider den Krieg
eingetreten ist, vorausgesagt. Man hat es damals entschieden bestritten. Heute denkt von Ihnen niemand mehr daran, diese Wirkung der Zollgesetzgebung zu bestreiten; sie liegt zu offen vor aller Augen. (Zuruf rechts: Olle Kamellen!) - „Olle Kamellen" ruft einer der Herren von der Rechten. Meine Herren, wir erwähnen hier so oft und Sie mit uns „olle Kamellen", daß, wenn wir diese ausschalten wollten, wir eine Menge Dinge nicht zu sagen hätten. Aber wichtige und richtige Gedanken müssen immer wiederholt werden, damit sie draußen recht verstanden werden. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Herr v. Oldenburg hat selbst in seiner Rede vom 1. Mai auf die steigenden Getreidepreise hingewiesen. Gewiß, auch die Gründe, die er mit anführte, tragen zur gegenwärtigen Preisteurung mit bei und nicht allein der Zoll. Aber der Zoll verteuert das in Deutschland vorhandene Getreide um seine volle Höhe. (Zuruf rechts: Wir sind ja Exportland!) - Gewiß sind wir Exportland auch in Brotgetreide, leider, muß ich sagen. Wir sind um so mehr Exportland, je höher die Prämien sind, die für die Ausfuhr gegeben werden. Nachdem im Jahre 1887, glaube ich, war es, der Identitätsnachweis für Getreide aufgehoben wurde, war es klar, daß gesteigerte Ausfuhr und erhöhte Preise die Wirkung sein würden; deshalb haben wir Sozialdemokraten damals gegen die Vorlage gestimmt. Seit der Einführung jenes Gesetzes kommt der Zoll voll im Preise des Inlandsgetreides zum Ausdruck, wenn auch dann und wann eine kleine Differenz übrig bleibt. Jedenfalls stehen wir im Augenblick sozusagen vor Hungersnotpreisen. Am letzten Samstag hat die Tonne Roggen an der Berliner Börse 200 Mark gekostet, d.h. 40 Mark mehr, als selbst der Kanitzsche Antragt727! von 1895 als Maximalpreis verlangte. Für uns muß also jetzt die Frage entstehen: wie lange werden solche Preise bestehen? Macht die Preissteigerung noch weitere Fortschritte, so müßten wir uns mit der Frage beschäftigen, ob nicht der Zoll aufgehoben werden muß. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) In diesem Falle hätte die Landwirtschaft immer noch den Weltmarktpreis: 150 Mark für die Tonne Roggen. - Das ist ein anständiger Preis, bei dem die deutsche Landwirtschaft prosperieren kann. Daß zu dieser ungünstigen Lage des Brotgetreidepreises für Deutschland die Ausfuhr in hohem Maße beiträgt, ist sicher; denn wir haben im Jahre 1902 eine Roggenausfuhr von 104 600 Tonnen, aber im Jahre 1905 von 320 000 Tonnen gehabt. Und in der Zeit vom 1. August bis zum 30. April 1907, während welcher die Einfuhr 5 189 943 Doppelzentner betrug, war die Ausfuhr 2 493 946 Doppelzentner. Es ist also nur ein Einfuhrüberschuß für Roggen von 2 606 000 Doppelzentnern verblieben. Notwendigerweise werden die Preise noch höher steigen bis zur Ernte. Und will es das Unglück, wie es bei der jetzigen Witterung fast den Anschein hat, daß die diesjährige Getreideernte eine ungünstige wird, so wird der Preis noch bedeutend höher steigen. Alsdann läßt sich aber der gegenwärtig 233
57 Abscheu wider den Krieg bestehende Zoll nicht mehr aufrecht erhalten; oder Sie werden etwas in der Bevölkerung erleben, was Sie nicht erwarten. (Zuruf rechts.) - Was schadet Ihnen das, wenn das Brot teurer wird! Ich werde bei Ihren Zurufen an die Geheimratsfrau erinnert, die sagte: „Wenn die Leute kein Brot haben, warum essen sie keinen Kuchen!" 17281 Kuchen essen kann die Masse eben nicht! Und kommt noch das Unglück hinzu, daß wir im Laufe dieses Jahres eine industrielle Krisis bekommen mit Arbeitslosigkeit und Verdienstlosigkeit für Hunderttausende, so wird Elend und Not noch viel größer, als sie gegenwärtig bereits sind. - Also ich hebe noch einmal hervor, wir haben alle Ursache, uns mit der Frage zu beschäftigen, ob der gegenwärtige Zustand in bezug auf die Verzollung von Brotgetreide aufrecht erhalten werden kann. Ich erwarte bestimmt, daß, wenn die Verhältnisse noch schlimmer werden, die Reichsregierung Veranlassung nimmt, den Reichstag noch im Laufe dieses Sommers zu einer außerordentlichen Session einzuberufen, um über diese Angelegenheit zu beraten. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Herr v. Oldenburg hat in seiner Rede am 1. Mai auf eine Rede aufmerksam gemacht, die ich in der Wahlkampagne in Freiberg in Sachsen gehalten habe, in der ich ausführte, in welch schlimme Verlegenheit das deutsche Volk kommen würde, wenn im Kriegsfall seine Grenzen für die Zufuhr von Lebensmitteln gesperrt würden. 172 ' 1 Herr v. Oldenburg, ich habe nicht recht verstanden, was Sie mit diesen Ausführungen sagen wollten; denn den Standpunkt, den ich in Freiberg in dieser Frage eingenommen habe, habe ich wiederholt auch im Reichstag eingenommen. Zuletzt noch mit allem Nachdruck bei Beratung des Zolltarifs im Jahre 1902.[730] Wenn Sie mit Ihrer Rede ausdrücken wollten, Deutschland sei in der Lage, für den Fall eines Krieges die ausreichende Versorgung mit Brotgetreide zu übernehmen, so hat die Erfahrung bisher das Gegenteil bewiesen. Auch wenn die ganze Ausfuhr, die an Brotgetreide vorhanden ist, nicht stattfände, ist trotz alledem noch eine erhebliche Mehreinfuhr notwendig, und, meine Herren, diese muß notwendigerweise immer mehr steigen, weil die deutsche Bevölkerung Jahr für Jahr um circa 1 Million Köpfe sich vermehrt, während umgekehrt die Anbaufläche für Getreide stabil geblieben ist. Die Anbaufläche für Roggen betrug nach dem Statistischen Jahrbuch im Jahre 1894 6 044 500 Hektar, im Jahre 1905, also 11 Jahre später, 6 099 300 Hektar, mehr nur: 54 800 Hektar. Aber, meine Herren, die Weizenanbaufläche war innerhalb derselben Jahre um 53 400 Hektar zurückgegangen. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Das kleine Mehr beim Roggenanbau verminderte sich beim Weizenanbau entsprechend, es gleicht sich vollständig aus. Es kann höchstens insofern von einer höheren Deckung des eigenen Bedarfs die Rede sein, als mittlerweile durch die intensivere Bodenbebauung die Ernteerträgnisse günstigere geworden sind; aber sie sind 234
57 Abscheu wider den Krieg nicht in dem Maße gestiegen, daß von einer ausreichenden Versorgung der deutschen Bevölkerung mit Brotgetreide die Rede sein könnte. Die Situation ist also zweifellos die, daß wir unter keinen Umständen darauf rechnen können, Deutschland werde sein Brotgetreide selbst bauen; wir werden immer auf starke Zufuhren rechnen müssen. Und haben wir mit Notstandspreisen zu rechnen, so muß der Zoll, der gegenwärtig das Auslandsgetreide von unseren Grenzen fernhält, aufgehoben werden. Kommt aber auch eine industrielle Krisis, und macht sich dann bemerkbar, worüber bereits jetzt in einer Reihe von Handelskammerberichten lebhaft geklagt wird, daß ein erheblicher Teil unserer Großindustrie Filialfabriken in der Schweiz, Österreich-Ungarn, Rußland usw. errichtet, weil die hohen Industriezölle jener Länder es den Fabrikanten nicht mehr ermöglichen, deutsche industrielleErzeugnisse dorthin auszuführen, so wird der Schaden, den Deutschland aus dieser Entwicklung der Dinge hat, doppelt und dreifach fühlbar werden. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Wenn damals Herr v. Oldenburg über die N o t an Getreide klagte, so erzählte er uns auf der anderen Seite von der Überfülle von Schweinen, die auf den deutschen Märkten vorhanden sei. (Sehr richtig! rechts.) Herr v. Oldenburg hat in den letzten zwei Jahren keine Rede gehalten, in der er nicht auf das berühmte deutsche Schwein zu sprechen gekommen wäre. (Heiterkeit.) In seiner letzten Schweinerede am 1. Mai (große Heiterkeit) hat er sogar einen besonders guten Gedanken entwickelt, für den ich ihm dankbar bin. Herr v. Oldenburg hat nämlich befürwortet, daß die Kommunen die Massenaufzucht von Schweinen in die Hand nehmen sollen. Das ist ein sehr guter Gedanke, ein Gedanke, den meine Parteifreunde hier in Berlin auch früher schon im Stadtverordnetenkollegium angeregt haben, allerdings, ohne viel Gegenliebe dafür zu finden. Ich höre, daß neuerdings auf einem der Rieselgüter ein Versuch mit der Schweinezucht gemacht werden soll. Zweifellos ist, daß bei der Menge von Abfällen aller Art, die in den öffentlichen Anstalten einer Kommune, wie Berlin es ist, täglich vorhanden sind, der Gedanke durchgeführt werden könnte, die Versorgung an Fleisch, namentlich an Schweinefleisch durch die Kommune in die Hand zu nehmen. Aber mit diesen Ausführungen hat sich Herr v. Oldenburg am 1. Mai nicht begnügt. Er hat auch die Gelegenheit wahrgenommen, wieder einmal seinem schwer bedrängten Herzen gegen uns Luft zu machen. (Heiterkeit.) Er meinte, mit Wut und Zähneknirschen müsse der Sozialdemokratie zu Leibe gegangen werden; er verlangt Schutzgesetze für Arbeitswillige (Sehr richtig! rechts), mit anderen Worten, eine neue Auflage der Zuchthausvorlage von 1899.3 Er warnt auch nachdrücklich davor, zu meinen, daß der Verlust einer Anzahl Mandate der 3
Siehe hierzu Nr. 63 in Band 4 dieser Ausgabe. 235
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Sozialdemokratie bei den letzten Wahlen eine besondere Bedeutung hätte. Wer das glaube, der irre sich. Er setzte hinzu: sonst wäre es besser, es säßen 50 Sozialdemokraten mehr in diesem Reichstag, also gewissermaßen als Menetekel für die bürgerliche Gesellschaft. (Sehr richtig! rechts.) Herr v.Oldenburg meinte weiter, es handle sich jetzt um ein ordentliches Nachhauen seitens des Herrn Reichskanzlers. (Sehr richtig! und Heiterkeit rechts.) Meine Herren, es ist ganz selbstverständlich, daß Sie diese Forderung stellen. Aber ich frage mich: Wo bleibt dann der Block, wenn diese Forderungen verwirklicht werden sollen? Wie stehen denn dazu die Herren von der Linken? Einer der Herren, Herr Fischbeck, hat gleich an demselben Tage noch gegen die Forderung des Herrn v. Oldenburg Stellung genommen. Wir sehen also, daß bei jeder ernsten Frage Sie rechts und links auseinandergehen, hier gibt es kein Zusammengehen, hier gibt es kein Versöhnen. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Wir freuen uns darüber; denn wir sind der glückliche Dritte, der lacht. (Große Heiterkeit.) Ich muß Ihnen übrigens, meine Herren, sagen, mich freut die herzerquickende Offenheit, mit der Herr v. Oldenburg allezeit redet. Ich sage noch mehr: von Zeit zu Zeit hör ich diesen Junker gern. (Anhaltende Heiterkeit.) Noch etwas deutlicher als am 1. Mai hat Herr v. Oldenburg längere Zeit zuvor auf der westpreußischen Provinzialversammlung des Bundes der Landwirte seiner Meinung offen Ausdruck gegeben. Seine dortigen Ausführungen sind so interessant, daß ich sie unmöglich dem Hause schenken kann. Dort heißt es: Die Sozialdemokraten machen noch nicht genügend Obstruktion. Ich sagte mir: wenn die Kerls doch obstruieren möchten (Heiterkeit), daß nichts mehr durchgeht, dann würden die Philister endlich sehen, wohin wir kommen, und wir könnten dieser Schweinerei ein Ende machen. (Große Heiterkeit.) Meine Herren, Sie sehen, ohne Schwein und Schweinerei geht es in der Rede des Herrn v. Oldenburg nicht ab. (Erneute große Heiterkeit.) Leider - so fährt er fort - sind die Sozialdemokraten jetzt wieder sehr ruhig, zu ruhig geworden; sie haben wohl eingesehen, daß Deutschland noch in der Lage ist, sich seiner Haut zu wehren. Wenn sich die Sozialdemokraten jetzt verständig betragen, so ist das für uns ein Unglück (Heiterkeit); denn desto mehr laufen wir Gefahr, später zu spät mit Gegenmaßregeln einsetzen zu müssen, in einem Moment, wo wir nicht mehr die Stärkeren sind. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Diese Philosophie des Herrn v. Oldenburg ist in der Tat unbezahlbar. Ich freue mich, daß er in so offenherziger Weise sich ausgesprochen hat. Aber ich kann nur immer wieder fragen: was soll aus dem Block werden, wenn solche Verlangen gestellt werden, und wo finden Sie die Mehrheit zu derartigen Forderungen? Von dem Liberalismus, den neuerdings der Herr Reichskanzler 236
57 Abscheu wider den Krieg vertreten soll, haben wir freilich noch nichts gemerkt, und ich glaube, wir werden überhaupt nichts davon merken; aber auch im Hause ist für Herrn v. Oldenburg keine Mehrheit vorhanden. (Heiterkeit.) Der Herr Reichskanzler wird immer zu lavieren suchen, das ist das einzig Gescheite, was er in dieser Situation tun kann; sonst erleidet er unfehlbar Schiffbruch. Meine Herren, wir haben nichts dagegen, wenn uns unsere Gegner mit ihrem Hasse verfolgen; aber wir müssen uns sehr entschieden dagegen verwahren, daß uns Dinge unterstellt werden, die wir nicht gesagt haben, wo man uns also zu Unrecht angreift. So hat z.B. Fürst Bülow am 26. Februar gegen mich geäußert, ich hätte in Amsterdam Deutschland ein Sedan, ein Jena gewünscht. Diese Behauptung ist in der Presse wiederholt aufgestellt worden. Wie war denn der Vorgang in Amsterdam? 4 Wir waren damals bekanntermaßen mit einem Teil unserer französischen Freunde in gewisse taktische Meinungsverschiedenheiten geraten. Bei dieser Gelegenheit hatte mein Freund Jaurès unter anderem die Anklage erhoben, daß wir entsprechend der großen Anzahl unserer Stimmen im Deutschen Reich noch wenig oder nichts durchgesetzt hätten. Darauf antwortete ich ihm: das stimmt - und habe ihm auseinandergesetzt, warum. Darauf frug ich ihn: Habt ihr denn das, was ihr heute besitzt, eurer eigenen Kraft zuzuschreiben? Ihr habt allerdings durch die Februarrevolution von 1848 das allgemeine Stimmrecht bekommen, ihr habt aber durch die Junischlacht, und zwar unter der honetten Republik das Stimmrecht wieder verloren; daß ihr es wieder erhieltet, war nicht euer Verdienst, das hat euch der Staatsstreichmann Napoleon III. wieder verschafft. Und wenn ihr 1870 die Republik bekamt, so habt ihr diese auch nicht eurer eigenen Kraft zuzuschreiben, sondern dem Fürsten Bismarck, der Napoleon besiegte und gefangen nahm, wodurch sein Regiment in Frankreich ein Ende genommen hat. - Daran habe ich angeknüpft und ausgeführt, wenn Deutschland unter ähnlichen Zuständen und inneren Verhältnissen geschlagen würde und zu einer Republik käme, so wäre das noch lange nicht das größte Unglück, das es treffen könnte. (Rufe rechts: Also! also! und Hört! hört!) Ich habe mit dieser Auffassung eine Anschauung vertreten, der ich dadurch Ausdruck gab, daß ich sagte, das wäre noch lange nicht das Schlimmste, was uns passieren könnte. (Wiederholte Rufe: Also! Also!) Nein, meine Herren, es gibt Schlimmeres, was allerdings infolge einer Niederlage möglich wäre; das wäre, wenn Deutschland Land und Leute verlieren würde. Und weil wir diese Auffassung haben und das für möglich halten, deshalb haben wir wiederholt erklärt, daß wir das unter keinen Umständen von einem auswärtigen Feinde uns gefallen lassen würden. 4
Siehe hierzu Nr. 32 und 34/11 in Band 7/2 dieser Ausgabe. 237
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Abscheu wider den Krieg
Ich habe weiter in Verfolgung dieses Gedankens zu einer anderen Zeit hier im Hause gesagt: kriegerische Unglücksfälle haben öfters für die Nationen große Vorteile gehabt. Das läßt sich nicht bestreiten. Als Preußen im Jahre 1806 und 1807 niedergeschlagen worden war und nachher die großen Reformgesetze bekam, wer weiß, ob es dieselben bekommen hätte, wenn die Niederlagen Jena und Auerstedt nicht gewesen wären. U n d als 1866 die Österreicher geschlagen wurden, bekamen sie das parlamentarische Regiment, was sie ohnedem noch lange nicht bekommen hätten, und Frankreich bekam die Republik und Rußland infolge der Niederlagen im japanischen Kriege [547] die Konstitution und die parlamentarische Vertretung. (Zuruf rechts: Duma!) - Das ist keine Sache, für die ich besonders begeistert bin, aber es ist ein Zustand der Dinge, der einen erheblichen Fortschritt bedeutet, was nicht bestritten werden kann. Es ist ferner eine bekannte Taktik, daß man uns vorwirft, Lassalle sei im Gegensatz zu uns ein Patriot gewesen. N u n erlauben Sie, daß ich Ihnen aus einem Vortrag Lassalles vom Jahre 1862 in Berlin eine Stelle vortrage. (Zuruf rechts: Hat ja schon im „Vorwärts" gestanden! - Heiterkeit.) Es heißt da: Endlich aber ist die Existenz der Deutschen nicht von so prekärer Natur, daß eine Niederlage ihrer Regierungen eine wirkliche Gefahr für die Existenz der Nation in sich schlösse. 1 ? 311 E r weist dann auf die große Kulturarbeit hin, die das deutsche Volk nicht bloß für sich, sondern für die ganze Kulturwelt geleistet habe, und er kommt zu dem Schluß: Geraten wir also in einen großen Krieg, so können in demselben wohl unsere Regierungen, die preußische, bayerische, sächsische usw. geschlagen werden und zusammenbrechen, aber es wäre noch keine Niederlage für das deutsche Volk; denn dieses würde sich wie ein Phönix aus der Asche derselben unzerstörbar erheben, und es würde bleiben - worauf es uns allein ankommen könne - das deutsche Volk.' 7321 U n d der spätere Geheimrat Bucher schreibt in einem Briefe an Lassalle vom 19. Januar 1862 für den Fall eines Krieges zwischen Deutschland und Frankreich: „Ein Sieg des Militärs, d.h. der preußischen Regierung, wäre ein Ubel". [ 7 3 3 ] Das schrieb ein Mann, der ein Jahr später in der Regierung des Fürsten Bismarck saß. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Wir sind aber weit entfernt, Deutschland eine Niederlage zu wünschen, wir sind überhaupt weit entfernt, einen Krieg herbeizusehnen; denn wir betrachten einen Krieg unter allen Umständen, auch wenn er für Deutschland glücklich ausfiele, als das größte Unglück, das der Kulturmenschheit widerfahren könnte. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Das hat bereits neulich mein Parteigenosse v. Vollmar mit ähnlichen Worten ausgedrückt, ich wiederhole es. U n d ich sage Ihnen weiter: Nachdem ich vor ein paar Tagen als Mitglied der Budgetkommission Gelegenheit hatte, auf dem Übungsplatze bei Jüterbog die modernen 238
57 Abscheu wider den Krieg Vernichtungsmaschinen kennen zu lernen, die in einem künftigen Kriege die Hauptrolle spielen, ist erst recht ein Abscheu wider den Krieg in mir aufgelodert.t 734 ! W i r sind also gegen jeden Krieg, und wir werden jeden Versuch, einen Krieg hervorzurufen, mit allen den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, die aber unter Umständen sehr schwach sein werden, hintanzuhalten versuchen. B e i Gelegenheit seiner Rede am 1. Mai hat Fürst B ü l o w auch seiner Verwunderung Ausdruck gegeben, daß in einem sozialdemokratischen Blatte eine gewisse Skepsis über den Abrüstungsgedanken der Haager Konferenz hervorgetreten sei. W e n n dem Fürsten B ü l o w daran liegt, einen Skeptiker in dieser Frage zu sehen, dann präsentiere ich mich als solchen. Ich habe über diese Frage manches gelesen und oft nachgedacht und stehe nicht an, zu erklären, daß ich bis jetzt nicht den Weg gefunden habe, den ich für gangbar hielt, um eine sogenannte Abrüstung der verschiedenen Kulturnationen möglich zu machen. Ich spreche weit mehr Fruchtbarkeit dem Gedanken zu, die K o m p e t e n z der Schiedsgerichte zu erweitern und vor allen Dingen, wenn es möglich sein sollte, zeitweilig ein internationales Parlament zusammenzuberufen, zusammengesetzt aus den Vertretern der verschiedenen Kulturnationen. 5 (Lachen rechts. - Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) - Ja, meine Herren, über diesen Gedanken lachen Sie heute, wie Sie vor kaum 20 Jahren darüber gelacht haben, daß jemals die A b r ü stungsidee auf einem K o n g r e ß erörtert werden könnte. Sie haben überhaupt über vieles gelacht, was mittlerweile verwirklicht worden ist. (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) So wird es Ihnen auch mit dem internationalen Parlament gehen, das selbstverständlich nicht in die inneren nationalen Angelegenheiten der Völker eingreifen darf. A u c h dieses Parlament wird einmal zur Wahrheit werden und wird sich als eine wohltätige Institution erweisen, um die nationalen Gegensätze und Völkerfeindschaften zu beseitigen, mindestens aber immer mehr auszugleichen. Ich stehe also dem Abrüstungsgedanken wie Sie skeptisch gegenüber; aber wir haben dann um so weniger Ursache, uns von der Beratung desselben fernzuhalten. W i r dürfen unter keinen Umständen vor der Welt den Eindruck machen, als hätten wir Furcht, in die Beratung einer derartigen Frage einzutreten. Ich glaube, die Anschauungen, die der englische Ministerpräsident Campbell-Bannerman vor ein paar Tagen über diese Frage geäußert hat, sind so, daß Deutschland alle Ursache hat, sich n o c h einmal die Frage vorzulegen, ob es nicht unter allen Umständen an den Beratungen über die Frage der Abrüstung teilnehmen soll. E s ist d o c h viel richtiger, Deutschland beteiligt sich und führt alle die Gründe an, 5
Siehe hierzu Nr. 18 in Band 3 und Nr. 60/IV in Band 4 sowie Nr. 85 in Band 8/2 dieser Ausgabe.
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57 Abscheu wider den Krieg
die nach seiner Meinung an einer praktischen Durchführbarkeit des Gedankens zweifeln lassen, als daß es grollend beiseite steht und damit den Glauben erweckt, es sei ihm nicht ernsthaft um die Erörterung dauernden Friedens zu tun. Ich muß allerdings sagen, wenn man in England und überhaupt im Ausland die Verhandlungen des Deutschen Flottenvereins liest, wird der Gedanke mächtig unterstützt, daß in den maßgebenden Kreisen Deutschlands der Friedensgedanke sehr wenig Boden besitzt. Denn was in diesen Tagen wieder in Köln verhandelt wurde, ist das stärkste, was man sich auf diesem Gebiete vorstellen kann. Bei dieser Gelegenheit hielt auch der Generalfeldmarschall v. Hahnke eine Rede, in der er die lebhafteste Teilnahme und Sympathie des Deutschen Kaisers 6 für die Bestrebungen des Flottenvereins zum Ausdruck brachte. Die Verhandlungen des Flottenvereins sind in gewissem Sinne eine Ouvertüre zur Haager Konferenz, aber eine Ouvertüre, wie sie nicht sein sollte. Denn soweit die Verhandlungen des Flottenvereins in Frage kommen, sind sie eine Art Kriegserklärung an die Haager Konferenz. Die Resolution, die der Vorstand des Flottenvereins vorgeschlagen hat, und die von der Versammlung angenommen ist, lautet dahin, daß keine Art Abrüstung, sondern im Gegenteil ein beschleunigtes Tempo der Ausführung der Flottengesetze von 1900 und 1906 geboten sei. 7 (Hört! Hört! bei den Sozialdemokraten.) Also genau das Gegenteil dessen, was man glaubt auf der Haager Konferenz verhandeln zu können. Weiter ist insbesondere von Seiten des Abgeordneten Dr. Stresemann, also eines nationalliberalen Abgeordneten, bei dieser Gelegenheit wieder eine Reihe von Äußerungen gemacht worden, die nach meiner Auffassung noch weit bedenklicher sind als diejenigen, die vor einigen Wochen die Herren Bassermann und Dr. Semler in gleicher Richtung gemacht haben. Er sagte: Die naturgemäße Folge unserer Ablehnung jeder Diskussion über die Abrüstungsfrage im Haag sei die einstimmige Annahme der vorliegenden Resolution.! 7 »] Also Annahme einer Resolution, die sich für beschleunigten Ausbau der Flotte ausspricht. An einer anderen Stelle seiner Rede sagt Herr Stresemann: So wollen wir ins Land hinausgehen und in alle Hirne den Gedanken hämmern: bitter not tut uns eine starke Flotte, Gott ist stets nur mit den mächtigen Bataillonen. 1736 ! Meine Herren, ist Gott stets nur mit den mächtigen Bataillonen, dann brauchen wir den lieben Gott überhaupt nicht mehr; denn dann sind es die starken 6 7
Wilhelm II. Siehe hierzu Nr. 1 in Band 7/1 und Nr. 36 in Band 7/2 sowie Nr. 136 und 153 in Band 9 dieser Ausgabe.
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Í7 Abscheu wider den Krieg Bataillone, die es allein machen. Aber bezeichnend ist es auch, daß Herr Stresemann sich zum Schlüsse auf Herwegh bezieht und zwar auf ein Gedicht von diesem, das er vor 65 Jahren dichtete, in einer Situation, die mit der heutigen gar nicht zu vergleichen ist. Herr Stresemann zitierte: Deutschland, du bist der Hirt der großen Völkerherde, Du bist das große Herrschervolk der Erde, Darum wirf die Anker aus! [737] (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Das fehlt gerade noch, daß auf einer Versammlung, wie der des Flottenvereins, erklärt wird: wir Deutsche sind das Herrschervolk der Erde.Wir haben gerade genug Werg am Rocken, als daß wir noch Neigung verspüren sollten, uns weiter die Feindschaft und die üble Gesinnung der europäischen Völker auf den Hals zu laden. Wir haben um so weniger Ursache dazu, als leider in der letzten Zeit wieder aufs neue Nachrichten mitgeteilt worden sind über Verständigungen auswärtiger Mächte, die keinen anderen Sinn haben können und haben, als daß sie gegen Deutschland gerichtet sind. Wenn es Frankreich gelungen ist, im Fernen Osten mit Japan einen Freundschafts- und Friedensvertrag zu schließen, durch den festgesetzt wird, daß Japan Frankreich seine Kolonien im Osten sichert, so ist das ein gewaltiger Gewinn für Frankreich. Das erkennt auch die französische Presse an; denn sie ist der Meinung, daß dadurch im Fernen Osten eine Rüstung Frankreichs nicht mehr notwendig sein wird, da es viel Geld kostete, und was es im Fernen Osten spart, macht Frankreich in Europa dafür um so stärker. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Es ist kein Gewinn für uns, den wir in solchen Abmachungen erblicken können. Es ist sogar eine tieftraurige Tatsache, daß bei all den Abmachungen friedlicher Natur, die darauf hinausgehen, den vorhandenen Besitz der Kulturstaaten sich gegenseitig zu sichern, Deutschland vollständig leer ausgegangen ist und bei Seite steht. Ja, wir müssen sehen, daß alle diese Abmachungen sogar in mehr oder weniger versteckter Weise sich gegen Deutschland richten, und damit die Isolierung Deutschlands zu einer möglichst vollständigen wird. Angesichts einer derartigen Situation sollte es sich der Deutsche Flottenverein zehnmal überlegen, solche provokatorische Reden zu führen, wie er sie auf seiner Generalversammlung wieder geführt hat. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Wir sehen also: Deutschland hat nach außen eine moralische Niederlage nach der anderen empfangen. Um so mehr sollte es die Aufgabe des leitenden Staatsmanns in Deutschland sein, das, was an moralischen Niederlagen dem Auslande gegenüber nun einmal als, ich möchte sagen, unabwendbar eingetreten ist, durch moralische Eroberungen im Innern nach Möglichkeit wett zu machen, d.h. eine Politik der Freiheit, eine Politik der Kulturarbeit auf allen Gebieten im Sinne der Demokratie zu führen! Daß daran nicht gedacht wird vom heutigen Reichsleiter, 241
57 Abscheu wider den Krieg wissen wir, das begreifen wir auch angesichts der Zusammensetzung des Reichstags; aber wir haben, solange ein solches Regiment in Deutschland besteht, keine Neigung, ihm auch nur einen Pfennig für seine Weiterexistenz zu bewilligen ! W i r werden also auch dieses Mal gegen den Etat stimmen. (Lebhaftes Bravo! bei den Sozialdemokraten.) [,..] [ 7 3 8 ] Stenographische Berichte. Verhandlungen des Reichstags, 12. Legislaturperiode, I. Session. Von der 31. Sitzung am 17. April 1907 bis zur 54. Sitzung am 14. Mai 1907, Band 228, Berlin 1907, S. 1608-1613.
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58 „Die Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung" Rezension des Buches von Eduard Bernstein in der „Neuen Zeit"
[739]
Juni 1907
Die Parteigenossen von Groß-Berlin haben ein Unternehmen ins Leben gerufen, dem wir Nachfolge wünschen möchten. Sie haben den Genossen Eduard Bernstein beauftragt, die Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung zu schreiben, von der j etzt der erste Band in guter Ausstattung aus der Buchhandlung Vorwärts vor uns liegt. E r umfaßt die Periode der Bewegung von 1848 bis zum Erlaß des Sozialistengesetzes O k t o b e r 1878. Der zweite Teil soll die zwölf Jahre Sozialistengesetz und der dritte die Geschichte der Berliner Bewegung von 1890 bis in die neueste Zeit enthalten. Bernstein hat eine sehr fleißige Arbeit geliefert. E r ist überall den Quellen nachgegangen und hat dadurch eine Menge Details zutage gefördert, die auch für die Geschichte der allgemeinen Bewegung von Wert sind. Es ist überhaupt der Hauptvorteil von Monographien, wie Bernstein eine lieferte, daß sie einesteils eine allgemeine Parteigeschichte wie die Mehrings ergänzen, anderenteils Tatsachen und Berichte über die Tätigkeit von Personen liefern, die zwar in ihrem lokalen Wirkungskreis von großer Bedeutung waren, aber auch der allgemeinen Bewegung dienten und sie mit zu dem machten, was sie wurde. D i e Parteigeschichte baut sich von unten auf. Die leitenden Personen in der allgemeinen Bewegung haben den Ruhm und die Ehre, und doch wären sie nichts, wenn nicht die Arbeit der Massen, deren Opferwilligkeit und Unermüdlichkeit in der Arbeit, zuvor erst den Boden bereiteten, auf dem sie mit Erfolg zu wirken vermögen. Solange die Massen an der Bewegung nicht teilnehmen, bleibt diese nur Episode. Das zeigt sich auch an der Berliner Bewegung. Die Berliner Arbeiter stellten, wie die Geschichte der Bewegungsjahre zeigt, ihr Kontingent zu den Kämpfern, die ein neues Preußen, ein neues Deutschland schaffen wollten. In ihrer Mitte fanden auch die kommunistischen und sozialistischen Ideen eine gewisse Verbreitung, die wesentlich durch im Ausland, namentlich in Frankreich und der Schweiz gereiste Handwerksgesellen über den Rhein gebracht wurden. Aber große Kreise wurden nicht ergriffen. Die größten Anstrengungen eines kleinen Häufleins Führer fanden spärlichen Anklang. Ahnlich erging es in Berlin, als zu 243
58 „Die Geschichte der Berliner
Arbeiterbewegung"
Anfang der sechziger Jahre die neue Arbeiterbewegung einsetzte. Es hat eine ganze Reihe Jahre gedauert und unendliche Mühe gekostet, bis der Same des Sozialismus unter den Berliner Arbeitern stärkere Wurzeln faßte. Es bedurfte unermüdlicher Kleinarbeit, bis dieses gelang. Aber die Stunde kam, die den Erfolg brachte, und was die Berliner Arbeiterschaft in jahrzehntelanger Arbeit und mit großen Opfern geleistet, davon gibt die Bernsteinsche Geschichte ein anschauliches Bild. Es ging hier bei der Darstellung dem Verfasser selbst wie der Bewegung. Solange dieselbe stockte und nur geringen Erfolg brachte, ist auch seine Darstellung trocken. Leben bekommt sie erst, wenn er schildert, wie die Bewegung immer größere und größte Fortschritte machte, die Gegensätze sich entfalten und zu leidenschaftlichen Kämpfen führen. In Berlin wirkten aber nicht nur lokale Größen, da wirkten die ersten Männer der Partei, und hier wird die Geschichte der Berliner Bewegung mit von ausschlaggebender Bedeutung für die allgemeine deutsche Bewegung. So war es nach Lassalle 1 Schweitzer 2 , dessen Rolle auch in der Berliner Bewegung eine hervorragende war. Bernstein hat in bezug auf dessen Stellung verschiedene Tatsachen ans Licht gefördert, die geeignet sind, das Urteil Mehrings in seiner Parteigeschichte über Schweitzer einigermaßen zu modifizieren.^ 740 ' Bernstein legt sich aber offenbar in seinem Urteil über Schweitzer Reserve auf. Andere von Bernstein mitgeteilte Tatsachen aus der Berliner Bewegung sind neu oder erscheinen in einem anderen Lichte, als sie bisher erschienen sind. Das sind die Gründe, die es besonders empfehlen, daß auch die Genossen anderer Städte und Bezirke, die für die Parteibewegung von größerer Bedeutung wurden, dem Beispiel der Genossen von Groß-Berlin folgen sollten. Es ist ganz unmöglich, daß auch der fleißigste und intelligenteste Genösse eine Geschichte der Partei zu schreiben vermag, die alle ihre Seiten umfaßt. 3 Und wollte und könnte er es, so würden die Rücksichten auf das allgemeine Interesse an einer solchen Arbeit und auf den Raum ihn zwingen, die Arbeit zu beschränken. Durch eine spezielle lokale Forschung kommen Tatsachen an das Licht, die sonst unbekannt geblieben wären, aber für die Beurteilung von Vorgängen und Personen wichtig sind und der allgemeinen Parteigeschichte Material liefern. Es wird auch manche Richtigstellung von allgemeiner Bedeutung das Ergebnis sein, kurz, aus möglichst vielen lokalen Darstellungen wird dem Verfasser der allge1 Siehe hierzu Nr. 22 in Band 7/1 und Nr. 33 in Band 7/2 dieser Ausgabe. 2 Siehe hierzu Nr. 79 in Band 8/2 dieser Ausgabe. 3 Siehe Band 6 (Aus meinem Leben) dieser Ausgabe. 244
58 „Die Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung" meinen Parteigeschichte erst für ihn sonst unerreichbares und unfindbares Material geliefert. E s empfiehlt sich aber, mit der lokalen Geschichtsschreibung überall vorzugehen, sobald die Kräfte und Mittel zu einer solchen vorhanden sind. D a s Q u e l l e n material aus der älteren Parteigeschichte wird immer spärlicher, und die alten Genossen, die die Ereignisse noch mit erlebten und manche wertvolle A u s k u n f t geben könnten, sterben aus. Eine Geschichte aber, die ohne Fühlung mit jenen geschrieben wird, die die Ereignisse erlebten und die hauptsächlich in Betracht kommenden Persönlichkeiten kannten, verirrt sich leicht ins Dichten und K o m ponieren. Die Neue Zeit (Stuttgart), XXV. Jg. 1906-07, 2. Band, Nr. 37, S. 374/375.
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59 Zu Militarismus und zu den internationalen Konflikten Reden und Diskussionsbeiträge
auf dem Internationalen in Stuttgart[741]
Sozialistenkongreß
I
Rede zur Eröffnung des
Sozialistenkongresses
18. August 1907 Partei- und Kampfgenossen! Im Namen der deutschen Sozialdemokratie heiße ich Sie in Deutschland und in Stuttgart willkommen und begrüße Sie alle auf das herzlichste. Es ist zum ersten Male, daß wir in Deutschland einen internationalen Kongreß abhalten. Allerdings hatte bereits die alte Internationale beschlossen, im Sommer 1870 in Mainz einen internationalen Kongreß abzuhalten.t742^ Aber da kam der unglückselige Krieg zwischen Deutschland und Frankreich, und der Kongreß wurde unmöglich, nicht nur für dieses, sondern auch für die nächsten Jahre. Das neue Deutsche Reich wurde kein Reich der Freiheit und des Rechts. 1 Sofort nach seiner Schaffung ging es mit Ausnahmegesetzen und mit Klassenjustiz gegen die ihm verhaßten Personen und Parteien vor, und so verstand es sich von selbst, daß ein internationaler Sozialistenkongreß auf absehbare Zeit für Deutschland zu Unmöglichkeit wurde. Wir haben lange gewartet, bis wir es gewagt haben, die Internationale nach Deutschland einzuladen. Und als wir in Amsterdam die Einladung an Sie ergehen ließenf743^, gab es bei Ihnen manch Kopfschütteln und manches Bedenken, ob es ratsam sei, im Deutschen Reiche zu tagen, das in bezug auf bürgerliche Freiheit sich bis dahin im Auslande gerade nicht des besten Rufes erfreute. Wir haben es dennoch gewagt. Wir wollten es darauf ankommen lassen, ob man sich wirklich vor der ganzen Kulturwelt blamieren und den Internationalen Sozialistenkongreß in Deutschland unmöglich machen würde. Freilich nach Berlin zu gehen, trugen wir keinerlei Gelüste: Unter den Augen des Fürsten Bülow und der Berliner Polizei zu tagen, war nicht nach unserem Geschmack. (Heiterkeit.) Wir dachten uns aber, das, was in Berlin nicht möglich sei, vielleicht in Stuttgart gehen würde, und Sie sehen, es ist gegangen: Wir haben heute eine Versammlung vor uns, so glänzend und so 1 246
Siehe hierzu Nr. 20 und 21 in Band 1 dieser Ausgabe.
59 Zu Militarismus und zu den internationalen
Konflikten
großartig, wie sie noch nie ein Internationaler Sozialistenkongreß aufzuweisen gehabt hat. (Bravo!) Freilich im Laufe der letzten Jahre sind Ihnen wohl noch manchmal mit Recht Bedenken aufgestiegen, ob Deutschland das rechte Land für einen Internationalen Sozialistenkongreß wäre. Gerade jetzt vor zwei Jahren, als die unselige Marokkoaffäre 2 die ganze Kulturwelt in Atem hielt, beschlossen die Berliner Parteigenossen, unseren Freund Jaurès einzuladen, damit er vor deutschen Proletariern im Namen der französischen Proletarier für den Frieden spräche.' 7441 Darauf setzte Fürst Bülow alles daran, diesen Mann, dem er selbst kurz zuvor im Deutschen Reichstage seine Hochachtung ausgesprochen hatte, nicht nach Deutschland hineinzulassen und ließ ihm sogar durch den deutschen Gesandten mit der Ausweisung drohen. (Pfuirufe.) Aber Ihr wißt das doch schon alle. (Heiterkeit.) Jedenfalls war das kein gutes Vorzeichen für den Kongreß. Dem Beispiele Berlins folgte das benachbarte Karlsruhe. Am selben Tage wie in Berlin sollte in Konstanz, wo drei Länder aneinanderstoßen, eine große Demonstration für den Frieden stattfinden, bei der Adler, Greulich, Todeschini und ich das Wort ergreifen sollten. Aber das unrühmliche Beispiel von Berlin fand in Karlsruhe Nachahmung; auch in Konstanz wurde die Versammlung verboten, nur hatten wir dort den Vorteil, in der freundnachbarlichen Schweiz das sagen zu können, was uns auf deutschem Boden unmöglich gemacht worden war.t745) Weiter machte Sie und uns bedenklich das Verhalten der preußisch-deutschen Regierung gegenüber unseren geächteten russischen Genossen. Ihnen allen ist noch die Rede des Fürsten Bülow von den Schnorrern und Verschwörern im Gedächtnis, Sie alle wissen, wie Dutzende und aber Dutzende, zuletzt Hunderte von russischen Studenten und Arbeitern in rücksichtslosester Weise aus Preußen ausgewiesen wurden. 3 Das waren alles Momente, die wohl bei Ihnen Mißtrauen erwecken konnten, ob wir dennoch hier in Deutschland tagen könnten. Wir haben es gewagt - um mit Hutten zu reden - und wir hoffen, daß dieser Kongreß in glanzvoller und für die ganze proletarische Welt erfolgreicher Weise sein Ende finden wird. Sehen wir doch, in welch mächtiger Weise der Gedanke der Internationale in der ganzen Kulturwelt Boden gefaßt hat. Wo immer die kapitalistische Wirtschaftsordnung Boden fand, da hat auch alsbald die Idee des Sozialismus Wurzel gefaßt. Wir sehen heute eine internationale Bewegung für den menschlichen Fortschritt von einer Großartigkeit vor uns, wie die Geschichte der Menschheit noch niemals Aehnliches aufzuweisen hatte. Wir haben seit Amsterdam auf den verschiedenen Gebieten sehr erhebliche 2 Siehe hierzu Nr. 50. 3 Siehe hierzu Nr. 51. 247
}9 Zu Militarismus und zu den internationalen Konflikten
Fortschritte gemacht. Für alle diejenigen, die das Glück hatten, in Amsterdam anwesend zu sein, war es wohl der wirkungsvollste Augenblick, daß, als bei Eröffnung jenes Kongresses der Vorsitzende 4 auf das furchtbare Schlachten im Fernen Osten zwischen Japan und Rußland hinwies, in diesem Moment der Vertreter von Japan, Katayama, und der Vertreter von Rußland, Plechanow, sich brüderlich die Hände reichten als ein Beweis für die Solidarität der Arbeiterklasse der beiden Länder. (Bravo.) Wir hatten dann in Amsterdam die Debatte über die Frage der Anteilnahme von Sozialdemokraten an der Regierung. Wir befanden uns in starken Meinungsverschiedenheiten und gingen mit dem Gedanken auseinander, daß es schwerlich gelungen sei, unter unseren französischen Brüdern die Einheitlichkeit herzustellen. Aber siehe, zu unserer aller freudiger Ueberraschung ist das große Werk dennoch gelungen. 5 Der Samen von Amsterdam hat Früchte getragen, unsere französischen Brüder haben gemeinsam einen gewaltigen Wahlkampf geführt, aus dem sie siegreich hervorgegangen sind, sie haben die Zahl ihrer Mandate von 37 auf 54 erhöht und gleichzeitig eine bedeutende Vermehrung ihrer Stimmen aufzuweisen. (Bravo.) Unmittelbar an dies schöne Ereignis knüpfte sich ein anderes. Zum erstenmal in der englischen Arbeiterbewegung trat die englische Arbeiterklasse gegenüber den bürgerlichen Parteien als selbständige Arbeiterpartei in den Wahlkampf. Und was niemand in dem Maße erwartet hatte, auch dieser Kampf wurde glorreich zu Ende geführt und zum ersten Male konnten 32 Delegierte des englischen Proletariats als selbständige Arbeiterpartei in das englische Parlament einziehen. (Lebhaftes Bravo.) Es hat etwas lange gedauert, bis das ökonomisch fortgeschrittenste Land Europas in dieser Weise sein Proletariat als selbständige Partei aufmarschieren sah. Aber, Ihr englischen Freunde, Euer Anfang war ein guter, und was folgte, hat uns noch mehr gefreut. Auch traf ein, was ich in Amsterdam voraussagte, daß bei einem Siege der englischen Arbeiter die englische Regierung sicher einen Sozialisten ins Ministerium nehmen werde 6 - ich nannte damals bereits John Burns - , doch hat diese Konzession nicht vermocht, unsere englischen Freunde auch nur um eines Haares Breite von ihrer Kampfestaktik abzubringen. (Bravo!) An diese Siege in Frankreich und England reihte sich an der Sieg in Finnland. [746] Dort haben es unsere Freunde verstanden, ein unter dem zarischen Regime, das seinem eigenen Volke nicht die geringsten Rechte vergönnt, gegebenes merkwürdig radikales Wahlrecht so auszunutzen, daß nicht nur eine starke männliche Fraktion, sondern auch 9 sozialistische Frauen in das finnische Parlament ihren
4 Henry von Kol. 5 Siehe hierzu Nr. 142 in Band 9 dieser Ausgabe. 6 Siehe hierzu Nr. 32 in Band 7/2 dieser Ausgabe. 248
2 » Militarismus und zu den internationalen
Konflikten
Einzug halten konnten. (Bravo!) Aber damit waren die Siege der Internationale noch nicht zu Ende: es folgte die große Schlacht in Oesterreich. Unsere österreichischen Genossen, die jahrelang mit Heroismus und Begeisterung den Kampf um das Stimmrecht geführt hatten, sie zogen mit 87 Genossen als stärkste sozialistische Fraktion der Welt in das österreichische Parlament ein.[747] (Stürmischer Beifall.) Weiter haben unsere Freunde in Holland und ebenso in der Schweiz bei den Kommunalwahlen glänzende Fortschritte gemacht, ein Beweis, daß überall die Internationale marschiert. Scheinbar eine Ausnahme davon macht das Deutsche Reich, die deutsche Sozialdemokratie. Ich habe hier nicht auf die Gründe einzugehen, welche die unerwartete Auflösung des Reichstages im letzten Winter herbeiführten. Wir haben einen Wahlkampf zu bestehen gehabt, wie noch niemals seit dem Bestehen des Norddeutschen und Deutschen Reichstages.'668! Nicht nur die gesamten bürgerlichen Parteien - das ist selbstverständlich - , sondern auch die Regierungen des Reiches und der Einzelstaaten mitsamt den kommunalen Vertretungen sind in den Wahlkampf gegen uns eingetreten.7 Das Endresultat war, wie es nach diesem Wahlkampfe nicht anders erwartet werden konnte. Wohl steigerten wir die Zahl unserer Stimmen von 3 Millionen auf 3V¡t Millionen, aber die Zahl unserer Mandate sank von 79 auf 43. Man hat deshalb im Berliner Schlosse von einem Niederreiten der Sozialdemokratie gesprochen. Freunde und Parteigenossen aller Länder! Ich versichere Euch! Wir fühlen uns nicht niedergeritten, wir sitzen so fest im Sattel wie je. (Stürmischer Beifall.) 3 Vi Millionen Stimmen nach solch einem Wahlkampf, das bedeutet 3 250 000 eisenharte Männer. Männer, auf die man sich in jeder Gefahr verlassen kann, eine Armee der Propaganda, wie sie größer nirgends vorhanden ist. Auch unsere Gegner haben inzwischen eingesehen, daß es ein Zufallssieg war, daß sie nicht darauf rechnen dürfen, uns in dieser Weise zu besiegen, und es ist gut, daß sie diese Erkenntnis haben. Wir alle, bis zum letzten Mann, warten sehnlichst darauf, die Scharte vom 25. Januar und 5. Februar auszuwetzen8 (lebhafter Beifall) und bedauern lebhaft, daß wir wahrscheinlich erst 1912 den nächsten Wahlkampf durchkämpfen können. Daß die deutsche Sozialdemokratie nach wie vor auf ihrem Posten ist, zeigt der glänzende Ausfall der Hamburger Bürgerschaftswahlen und der bayerischen Landtagswahlen, zeigt auch besonders die im Wahlkreise unseres leider verstorbenen Parteigenossen Auer stattgehabte NachwahlJ 747a] Ferner ist im letzten Jahre die Zahl der organisierten Genossen und Genossinnen von 384 000 auf 530 000 gewachsen. Das ist ein Zuwachs von 146 000 oder um 38 Proz. (Beifall.) In gleicherweise 7 8
Siehe hierzu Nr. 55. Siehe hierzu Nr. 163 in Band 9 dieser Ausgabe.
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Zu Militarismus und zu den internationalen
Konflikten
ist die Parteipresse gewachsen, in gleicher Weise wuchsen trotz der gewaltigen opferreichen Kämpfe die finanziellen Mittel der Partei. Es ist noch etwas Erhebendes für eine „niedergerittene" Partei, wenn ihr Kassierer in dem letzten Monat über eine Beitragssumme von 170 000 Mk. quittieren kann. (Bravo.) Ferner sind die deutschen Gewerkschaften von 700 000 Mitgliedern im Jahre 1900 auf über 1 800 000 in diesem Jahre angewachsen. Das ist ein kolossales Wachstum der proletarischen Kräfte, das kaum ein Beispiel finden dürfte. So also sieht die niedergerittene Partei aus! Glaubte man wirklich, daß wir niedergeritten seien, warum weigern sich dann Fürst Bülow und sein Herr so hartnäckig, für den preußischen Landtag das allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht zu geben, alsdann könnte man das Niederreiten von neuem versuchen. (Heiterkeit.) Aber Bülows offiziöses Organ 9 erklärt in bezeichnender Angst, daß das Verlangen nach dem allgemeinen Wahlrecht eine „Jagd zu Pferde nach wilden Gänsen" sei. (Heiterkeit.) Ich kann Ihnen also versichern, daß, wo immer in den nächsten Jahren für die deutsche Sozialdemokratie sich Gelegenheit bieten wird, ihr Schwert zu schwingen, sie sich als die alte erweisen wird. Am Ende schadet es auch nicht, wenn nach so vielen Siegen einmal eine Niederlage kommt. (Heiterkeit.) Es ist ja menschlich begreiflich, daß dauernde Siege leicht etwas übermütig machen. Hat doch schon unser Altmeister Goethe gesagt: Nichts ist schwerer zu ertragen, als eine Reihe von guten Tagen. (Heiterkeit.) Nun, wir haben einmal einen trüben Tag gehabt, aber schon scheint die Sonne wieder, sogar zu diesem Kongreß. (Heiterkeit.) Es scheint, es steht selbst der Olymp mit uns im Bunde. (Erneute Heiterkeit.) In den Vereinigten Staaten von Nordamerika hat ein skandalöser Prozeß gegen unseren Genossen Haywood stattgefunden. Die herrschende Klasse hat alles aufgeboten, um diesen unschuldigen Mann wegen Mordes verurteilen zu lassen. Selbst der Leiter der großen Republik hat sich dazu hergegeben, ihn als „unerwünschten" Bürger zu bezeichnen. Der Prozeß hat mit der glänzenden Freisprechung des Genossen Haywood geendet. Aber vor allem hat er die Arbeiter der Vereinigten Staaten aufgerüttelt, sie auf die Schäden der großen Republik aufmerksam gemacht, die trotz aller Rechte und Freiheiten auf dem Papier für das Proletariat auch keine Freiheit und keine Gerechtigkeit zur Verfügung hat. Wir hoffen, daß das durch diesen Prozeß aufgerüttelte Arbeitervolk Amerikas ebenso machtvoll in die politische Geschichte der Republik eingreifen wird, wie das englische Proletariat es begonnen hat. Heute sehen wir bei uns eine so starke amerikanische Delegation wie niemals früher. (Bravo!) Nach all diesem können wir mit vollem Rechte sagen: 9
Norddeutsche Allgemeine Zeitung (Berlin).
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59 Zu Militarismus und zu den internationalen
Konflikten
Die Internationale marschiert! Sie gewinnt mit jedem Jahre neuen Boden. Zu diesem Kongresse sind bereits Vertreter aller fünf Erdteile erschienen; es wird nicht mehr lange dauern, bis auch alle Staaten der Welt durch ihre Delegierten vertreten sind. So sehen wir eine gewaltige, über die ganze Erde verbreitete Partei vor uns, die vorwärts stürmt und weiß, was sie will. Hoffen wir, daß die Arbeiten dieses Kongresses weiter dazu beitragen, die Internationale zu stärken und zu kräftigen, und den großen Ideen und Zielen, die sie erstrebt, neue Anhänger zu werben. Möge dieser Kongreß hier in Stuttgart ein anderes Beispiel internationaler Gesinnung geben als die Internationale der Regierungen, die im Haag vereinigt ist (lebhafter Beifall) und deren Vertreter Sitzungen über Sitzungen abhalten. Schließlich hat der kreißende Berg ein Mäuslein geboren, und vielleicht ist dieses Mäuslein noch totgeboren. 1 (Heiterkeit.) Wir aber wollen freudig und zielbewußt an die Arbeit gehen und das Beste leisten, was wir leisten können. Zum Zeichen Ihrer Zustimmung aber bitte ich Sie, mit mir einzustimmen in den Ruf: Die Völker-, die menschheitsbefreiende Internationale sie lebe hoch! (Stürmischer, vielfach wiederholter Beifall.) Internationaler Sozialistenkongreß zu Stuttgart, 18. bis 24. August 1907, Berlin 1907, S. 13-16.
II Resolutionsentwurf zur Stellung zum Militarismus und zu den internationalen Konflikten [748] 20. August 1907 Kriege zwischen Staaten, die auf der kapitalistischen Wirtschaftsordnung beruhen, sind in der Regel Folgen ihres Konkurrenzkampfes auf dem Weltmarkt; denn jeder Staat ist bestrebt, seine Absatzgebiete sich nicht nur zu sichern, sondern auch neue zu erobern, wobei Unterjochung fremder Völker und Länderraube eine Hauptrolle spielen. Begünstigt werden die Kriege durch die bei den Kulturvölkern im Interesse der herrschenden Klassen systematisch genährten Vorurteile des einen Volkes gegen das andere. Kriege liegen also im Wesen des Kapitalismus; sie werden erst aufhören, wenn die kapitalistische Wirtschaftsordnung beseitigt ist oder wenn die Größe der durch die militär-technische Entwickelung erforderlichen Opfer an Menschen und Geld und die durch die Rüstungen hervorgerufene Empörung der Völker zur Beseitigung dieses Systems treibt. Insbesondere ist die Arbeiterklasse, die vorzugsweise die Kämpfer 251
ί 9 Zu Militarismus und zu den internationalen
Konflikten
stellt und hauptsächlich die materiellen Opfer zu bringen hat, die natürliche Gegnerin der Kriege, weil diese im Widerspruch stehen zu ihrem Ziel: Schaffung einer auf sozialistischer Grundlage beruhenden Wirtschaftsordnung, die die Solidarität der Völker verwirklicht. Der Kongreß betrachtet es deshalb als Pflicht aller Arbeiter, und insbesondere ihrer Vertreter in den Parlamenten, unter Kennzeichnung des Klassencharakters der bürgerlichen Gesellschaft und der Triebfedern für die Aufrechterhaltung der nationalen Gegensätze, mit allen Kräften die Rüstungen zu Wasser und zu Lande zu bekämpfen und die Mittel hierfür zu verweigern. Der Kongreß sieht in der demokratischen Organisation des Wehrwesens, das alle Waffenfähigen umfaßt, eine wesentliche Garantie, daß Angriffskriege unmöglich werden und die Ueberwindung nationaler Gegensätze erleichtert wird. Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind in den beteiligten Ländern die Arbeiter und ihre parlamentarischen Vertreter verpflichtet, alles aufzubieten, um durch Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern oder, falls ein solcher dennoch ausbrechen sollte, für seine rasche Beendigung einzutreten. Ebenda, S. 85/86.
III Diskussionsbeitrag zum Resolutionsentwurf über die Stellung zum Militarismus und die internationalen Konflikte 1:74,1 19. August 1907 Nach meiner Auffassung haben wir auf den internationalen Kongressen schon so oft über die Militär- und Kriegsfrage verhandelt und beschlossen, daß es genügen würde, die früher gefaßten Beschlüsse einfach zu bestätigen. (Sehr wahr!) Nachdem aber die französischen Genossen, hauptsächlich veranlaßt durch die sogenannte antimilitaristische Agitation Hervés, verlangten, die Frage wieder auf die Tagesordnung dieses Kongresses zu setzen, können wir uns ihrer Wiederberatung nicht entziehen. Was Hervé in seinem Buche: „Leur patrie" (Ihr Vaterland) über Militarismus und Patriotismus sagt, ist nicht neu; das hat uns alles auf früheren Kongressen schon Dómela Nieuwenhuis gesagt (Sehr richtig!), und dessen Anschauungen zu folgen, haben die Kongresse stets mit großer Mehrheit abgelehnt.^7501 Wir stehen heute noch auf demselben Standpunkt. Hervé sagt: Das Vaterland sei das Vaterland der herrschenden Klassen, das ginge das Proletariat nichts an. Ein ähnlicher Gedanke ist im „Kommunistischen Mani252
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fest" ausgesprochen, wo es heißt: Der Proletarier hat kein Vaterland.'751^ Aber einmal haben Marx' und Engels' Schüler erklärt, daß sie nicht mehr die Anschauungen des Manifestes teilten17521 und zweitens haben sie im Laufe der Jahrzehnte zu den europäischen und auch deutschnationalen Fragen sehr klar und keineswegs negativ Stellung genommen.' 753 ' Was wir bekämpfen, ist nicht das Vaterland an sich, das gehört dem Proletariat weit mehr als den herrschenden Klassen, sondern die Zustände, die in diesem Vaterlande im Interesse der herrschenden Klassen vorhanden sind. (Sehr richtig!) Die Parlamente sind auch eine Einrichtung der herrschenden Klassen zur Aufrechterhaltung ihrer Klassenherrschaft, und doch gehen wir in die Parlamente, nicht nur um die Klassenherrschaft zu bekämpfen, sondern auch um die Zustände zu verbessern. Wir beschränken uns also nicht auf die Negation, wir arbeiten auch überall positiv. Das Kulturleben und die Kulturentwickelung eines Volkes kann sich nur auf dem Boden voller Freiheit und Unabhängigkeit durch das Hülfsmittel der Muttersprache entwikkeln. 10 Daher überall das Streben unter Fremdherrschaft stehender Volker nach nationaler Freiheit und Unabhängigkeit. Das sehen wir z.B. in Oesterreich, das sehen wir an dem Kampf der Polen um ihre nationale Wiederherstellung. Auch in Rußland wird, sobald es moderner Staat geworden ist, die Nationalitätenfrage erwachen. (Widerspruch der Genossin Luxemburg.) Ich weiß, daß Sie auf einem anderen Standpunkt stehen, aber ich halte diesen Standpunkt für falsch. Jedes Volk, das unter der Fremdherrschaft steht, kämpft zuerst für seine Unabhängigkeit. Wenn Elsaß-Lothringen sich gegen die Losreißung von Frankreich sträubte, so weil es dessen Kulturentwickelung jahrhundertelang mit durchgemacht, die Errungenschaften der großen Revolution als gleichberechtigt genoß und so kulturell ohne Schaden für das Volkstum mit Frankreich aufs innigste verwachsen war. Hervés Gedanke, daß es gleich sei für das Proletariat, ob Frankreich zu Deutschland oder Deutschland zu Frankreich gehöre, ist absurd. (Zuruf: Das ist gar kein Gedanke! Heiterkeit.) Wollte Hervé im Ernstfall diesen Gedanken seinen Landsleuten plausibel machen, ich fürchte, er würde von seinen eigenen Volksgenossen unter die Füße getreten werden. (Sehr wahr!) Was im Kriegsfall nationale Erregung bedeutet, haben wir 1870 gesehen, wo die Masse in Napoleon den Störenfried sah, obgleich nicht er, sondern Bismarck es war, der die Kriegserklärung provozierte durch die später bekannt gewordene Fälschung der Emser Depesche. Und die Erregung richtete sich auch mit gegen uns, weil wir damals bei Bewilligung der Kriegsanleihe uns der Abstimmung enthielten, von der Anschauung ausgehend, daß beide Regierungen den Krieg verschulde10 Siehe hierzu Nr. 9 in Band 2/1 und Nr. 117 in Band 5 sowie Nr. 30 und 45 in Band 7/2 dieser Ausgabe. 253
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ten, denn der Vorgang mit der Emser Depesche war uns damals noch nicht bekannt. 11 Die Behauptung, was ein Angriffs-, was ein Verteidigungskrieg sei, wäre im gegebenen Fall schwer zu sagen, bestreite ich als richtig. So liegen heute die Dinge nicht mehr, daß die Fäden zu kriegerischen Katastrophen für den unterrichteten und beobachtenden Politiker unsichtbar blieben. Kabinettspolitik hat aufgehört zu sein. Aber prüfen wir die Frage des Antimilitarismus im Hervéschen Sinne auch praktisch. Ich weiß nicht, ob die Hervésche Taktik in Frankreich möglich ist. Ich fürchte, man wird in Frankreich böse Erfahrungen machen, wenn im Kriegsfall die Hervéschen Mittel: Massenstreik, Fahnenflucht der Reservisten und Landwehrmänner und offene Insurrektion in Anwendung kommen sollten. (Zustimmung.) Ich muß rund heraus erklären, daß diese Mittel bei uns unmöglich und undiskutabel sind. Wie in Deutschland die Dinge liegen, sehen wir an Karl Liebknecht, dem man einen Hochverratsprozeß [754] an den Hals hängen will, obgleich er in seiner Schrift 17551 von Hervé ausdrücklich abrückte und dessen Taktik für unmöglich erklärt. Ich weiß auch nicht, ob die antimilitaristische Agitation, wie sie Hervé betreibt, von seinem eigenen Standpunkt aus nicht bedenklich ist. In den Kreisen der deutschen Militärs und des deutschen Generalstabes verfolgt man diese Agitation sehr genau, und die Kriegspartei, die bei uns zwar klein und noch keinen Anhang in den Regierungskreisen besitzt, begrüßt eine Erscheinung, die den möglichen Gegner schwächt. (Hört! hört!) In den maßgebenden Kreisen Deutschlands will niemand den Krieg, zum guten Teil mit Rücksicht auf die Existenz der sozialistischen Bewegung. Hat doch Fürst Bülow mir selbst gegenüber zugegeben, die Regierungen wüßten, was in einem großen europäischen Kriege für Staat und Gesellschaft auf dem Spiele steht, und deshalb werde man ihn nach Möglichkeit vermeiden. Wir können aber aus den angeführten Gründen auch nicht für die Resolution Jaurès-Vaillant stimmen, die in ihrem Schlußsatz dem Hervéismus bedenkliche Konzessionen macht. Es ist auch nicht nötig, dergleichen auszusprechen. In der Sache selbst, der Bekämpfung des Militarismus und des Krieges sind wir einig. Konsequenter wie wir Deutschen seit 40 Jahren beides bekämpft haben, ist beides in keinem anderen Lande bekämpft worden. (Sehr richtig!) Umgekehrt ist uns Jaurès öfter als Muster von Patriotismus vorgehalten worden. 12 (Jaurès: Gerade wie Sie mir in Frankreich!) Sehr richtig! Man hat mich bei Euch als „großen Patrioten" hingestellt, der für jeden Krieg, auch wenn er kein Verteidi11 Siehe hierzu Nr. 18 in Band 1 dieser Ausgabe. 12 Siehe hierzu Nr. 140 und 172 in Band 9 dieser Ausgabe. 254
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gungskrieg sei, zu haben wäre. Bei uns klingt's freilich anders. Auch während der Marokkoaffäre 1 3 haben wir hüben und drüben alles aufgeboten, um einen Krieg zu verhüten. Wenn auch wir als Sozialdemokraten militärische Rüstungen nicht gänzlich entbehren können, so lange die Verhältnisse der einzelnen Staaten zueinander sich nicht von Grund aus geändert haben, so nur im Sinne der reinen Verteidigung und auf breitester demokratischer Grundlage, die einen Mißbrauch der militärischen Kräfte verhindert. Wir bekämpfen also in Deutschland den bestehenden Militarismus zu Lande und zu Wasser in jeder möglichen Form und mit allen unseren Kräften. Darüber hinaus können wir uns aber zu Kampfmethoden nicht drängen lassen, die dem Parteileben und unter Umständen auch der Existenz der Partei verhängnisvoll werden könnten. Ich hoffe, daß es nach Schluß der Generaldebatte in einer Subkommission gelingt, zu einer Verständigung zu kommen. (Lebhafter Beifall.) Ebenda, S. 81-83.
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Diskussionsbeitrag über den Militarismus und die internationalen Konflikte
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21. August 1907 Die Debatte scheint mir im wesentlichen erschöpft. Ich schlage also vor, eine Subkommission von 13 Mitgliedern zur Abfassung der Resolution einzusetzen, und zwar je 2 Vertreter der sechs großen Nationen, die in erster Linie bei einem Konflikt in Frage kämen, hineinzuwählen: Frankreich, Deutschland, England, Rußland, Italien und Oesterreich und als 13., zugleich als Vertreter der kleinen Nationen und als Schiedsrichter Vandervelde. Jaurès hat gestern einen guten Witz gemacht und dafür bin ich immer zugänglich, auch wenn ich selbst die Kosten zahlen muß. E r sagte: Hervé und ich stimmten in der Ueberschätzung des Hervéismus überein. Ich habe aber Hervés Machtstellung in Frankreich überhaupt nicht diskutiert. Ich halte selbst die eigentliche Anhängerschaft Hervés für eine kleine Gruppe innerhalb der französischen Partei, obwohl der Parteitag von Nancy dem Genossen Hervé eine Reihe von Konzessionen gemacht, und obwohl gerade Sie, Genösse Jaurès, ihm zuviel Rechnung getragen haben. (Widerspruch Jaurès'.) Nun, wenn das nicht richtig ist, würde es niemanden mehr freuen als mich. Ich habe den Hervéismus so ausführlich besprochen, weil ich Hervé nach den voraufgegangenen Zeitungspo13 Siehe hierzu Nr. 50.
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lemiken zwischen uns als höflicher Deutscher Gelegenheit geben wollte, mich anzugreifen. Hervé hat die Deutschen nun etwas grob angegriffen. Darauf antworte ich nicht, weil man sich durch Grobheit nur selbst schadet. (Heiterkeit.) Wenn er uns aber Mangel an Mut vorgeworfen hat, so kennt er die deutsche Partei nicht. In keinem Lande, außer Rußland, wird die Sozialdemokratie soviel verfolgt und erleidet soviel Gefängnisstrafen wie in Deutschland. (Vielfaches Sehr wahr!) In diesem Augenblick sitzen z.B. nicht weniger als drei Redakteure der „Leipziger Volkszeitung" im G e f ä n g n i s . G e n ö s s e Hervé, in Deutschland wird man nicht nach ein paar Monaten begnadigt wie Sie! (Lebhafter Beifall.) In Deutschland begnadigt man politische Gefangene überhaupt nicht, und wir verlangen das auch nicht. (Sehr gut!) Hervé hat von der deutschen Partei als einer bloßen Wahl- und Zahlmaschine gesprochen. Ueber das Wählen spreche ich nicht, denn das machen Sie genau wie wir. Was aber die guten Kassenverhältnisse anlangt, so habe ich sie bisher nicht für einen Fehler gehalten (Südekum: Andere auch nicht!), sondern für eine nachahmenswerte Tugend. (Zustimmung.) Wir haben uns oft gefreut, durch unsere Zahlmaschine von Zeit zu Zeit schwächeren Parteien in der Internationale zu Hülfe kommen zu können 14 (Lebhafter Beifall. Jaurès: Das wissen wir und danken Euch!) und wir hoffen in Zukunft als Zahlmaschine noch mehr leisten zu können. (Adler: Wir nehmen es gern! Heiterkeit.) Ein anderer Vorwurf Hervés ging dahin, daß wir bei dem drohenden Einmarsch der deutschen Truppen nach Rußland unsere Schuldigkeit gegenüber der Internationale nicht getan hätten. Im Oktober 1905, als die russische Revolution ihren Höhepunkt erreicht hatte und selbst Pessimisten an eine sofortige grundlegende Umgestaltung des russischen Staatswesens glaubten[756b], befürchtete auch die preußische Regierung das Uebergreifen der Revolution auf Preußisch-Polen und verstärkte zu diesem Zweck die Grenzstationen des Ostens. Aber nur zu diesem Zweck, und zwar aus den im Osten stehenden Garnisonen. An ein militärisches Eingreifen in Rußland hat auch die deutsche Regierung nicht gedacht, denn die Erfahrungen von 1792 haben doch gezeigt, welch einen Sturm der Leidenschaft das entfesseln würde.15 Auch wäre in dem Augenblick, wo das erste preußische Bataillon die Grenze überschritte, die Gefahr eines Weltkrieges in unmittelbare Nähe gerückt worden. Schließlich wäre auch der Zar 16 , der doch gerettet werden sollte, dadurch vor seinem Volke auf das schlimmste kompromittiert worden. Unter allen diesen Umständen hatten wir damals keinen Grund zu besonderen Maßnahmen.
14 Siehe hierzu Nr. 159 in Band 9 dieser Ausgabe. 15 Siehe hierzu Nr. 151 in Band 9 dieser Ausgabe. 16 Nikolaus II. 256
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Hervé hat weiter an eine meiner Amsterdamer Aeußerungen erinnert. Es ist mir nie eingefallen, zu sagen, es sei uns gleichgültig, ob Republik oder Monarchie. Ich habe nur vor einer Ueberschätzung der bürgerlichen Republik gewarnt. Ich habe wörtlich gesagt: Die Republik ist nicht so gut wie ihr sie darstellt, und die Monarchie nicht so schlecht, wie ihr sie macht. Wenn ich die Wahl hätte zwischen der französischen Republik und der englischen Monarchie, ich weiß nicht, was ich nehmen würde. Wenn ich allerdings die Wahl hätte zwischen der deutschen Monarchie und einer Republik wie der französischen, ich würde keinen Augenblick zweifelhaft sein. (Heiterkeit und Beifall.) Ich habe in Amsterdam schon gesagt, daß wir uns aber wegen der bürgerlichen Republik nicht die Köpfe einschlagen ließen. In der Debatte hier hat es eine Zeitlang geschienen, als ob starke Differenzen zwischen uns beständen, als wolle sich Deutschland weigern, den Kampf gegen den Militarismus zu führen und sich seiner internationalen Verpflichtungen entledigen. Parteigenossen, das ist keinem von uns eingefallen, daran hat nie ein deutscher Parteigenosse gedacht. Wir haben bei der Behandlung der Frage des Militarismus auf früheren internationalen Kongressen uns stets mit der großen Mehrheit der Internationale zusammengefunden, und wir haben unseren Standpunkt nicht geändert. Dagegen haben unsere französischen Parteigenossen ihre Haltung geändert, indem sie Hervé entgegenkamen und dadurch einen Zwiespalt hervorriefen. (Widerspruch bei den Franzosen.) Wir wissen besser als Sie, wie der Schlußsatz der Nancyer Resolution bei uns aufgefaßt werden würde. U m eines Nichts willen, von dem wir nicht einmal wissen, ob wir es im Ernstfalle durchführen können, sind wir nicht gewillt, uns Verlegenheiten zu bereiten und die Kräfte unserer Bewegung in erheblichem Maße lahmzulegen. (Beifall.) Adler hat heute vormittag schon treffend die dialektische Entwickelung des Militarismus geschildert. Wenn nicht alle Anzeichen täuschen, sage ich, noch weitergehend als er, ist der Militarismus in seiner Entwickelung auf einem Standpunkt angelangt, daß wir sagen können, die erste Gelegenheit seiner Anwendung wird dazu führen, daß der Militarismus sich den Hals bricht. Unsere Beschlüsse würden dem Militarismus kein Haar krümmen, wenn nicht die Entwickelung, die derselbe in den letzten vierzig Jahren genommen hat, mit Notwendigkeit die Wurzeln seiner eigenen Existenz untergraben hätte. (Lachen bei den Hervéisten.) Wir sind hier nicht dazu da, um immer zu wiederholen, was wir alltäglich in der Agitation sagen, die Scheußlichkeit und Verwerflichkeit des Militarismus und die Greuel der Kriege. Ich will kurz schildern, an welchem Punkte der Entwickelung finanziell, ökonomisch und militärisch der Militarismus angelangt ist. Ich zeige es an Deutschland, der ersten Militärmacht und der Haupturheberin dieser ganzen Entwickelung. Nach dem Kriege von 1870 legten wir 120 Millionen von Euren (zu den Franzosen) 5 257
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Milliarden in den Juliusturm und verpulverten hauptsächlich für militärische Zwecke binnen weniger Jahre die ganze Kriegsentschädigung. Seitdem haben wir die Steuern erhöht, verdoppelt, ja verdreifacht, 4 Milliarden Mark Schulden gemacht und sind trotzdem so arm wie eine Kirchenmaus, denn der Reichssäckel ist leer, und wir leiden wie Ihr in Frankreich an chronischem Defizit. D i e gewaltige Summe von 120 Millionen ist in kaum drei Tagen aufgebraucht. Die mobilisierte Armee Deutschlands erfordert täglich mindestens 40 Millionen an Unterhalt. Im Kriegsfalle würde nach einer Erklärung des Reichskanzlers Caprivi, die er 1893 abgab, Deutschland alle waffenfähigen Männer sofort unter die Fahne rufen, das sind 6 Millionen Männer, darunter nahezu 2 Millionen Sozialdemokraten, in Frankreich 4V2 Millionen Soldaten. Wo bekämen wir da noch die Menschen für den Massenstreik her. Vier Millionen Familien wären in der höchsten N o t , das ist schlimmer als jeder Generalstreik. Denket Euch in diese Situation, in die Stimmung dieser Massen! Wir bekommen vom Ausland einen großen Teil unserer Nahrungsmittel; am Tage der Kriegserklärung bleibt ihre Zufuhr aus. Wir haben keine Industrieprodukte mehr zu verkaufen, weil ein großer Teil der Produktion unmöglich geworden ist durch die Unmöglichkeit ihrer Ausfuhr. Dies bedeutet weiter Arbeitslosigkeit und N o t . Eine ungeheuere Teuerung, vielleicht Hungersnot bricht aus. In den Massenschlachten der Gegenwart, so hat ein deutscher General gesagt, werden wir nicht wissen, wo wir die Verwundeten aufnehmen und die Toten begraben sollen. U n d in solcher Situation sollen wir uns mit Massenstreikspielereien abgeben? Bei unserem ersten Aufruf dazu würden wir ausgelacht werden. Was kommen wird, weiß ich nicht, aber ich weiß, daß dieser Krieg wahrscheinlich der letzte sein wird, und daß er die ganze bürgerliche Gesellschaft aufs Spiel setzt. Wir können also nichts tun, als aufklären und Licht in die Köpfe bringen, agitieren und organisieren. (Zuruf Hervés: Tun wir!) Von einem gewissen Standpunkt aus könnte man als Sozialdemokrat sagen, daß ein großer europäischer Krieg unsere Sache mehr fördert, als eine jahrzehntelange Agitation, und deshalb könnten wir ihn nur wünschen. Aber ein so furchtbares Mittel zur Erreichung unseres Zieles wollen wir nicht herbeiwünschen. Wenn aber die am meisten an der Erhaltung der bürgerlichen Gesellschaft Interessierten nicht einsehen, daß sie mit einem solchen Kriege die Wurzeln ihrer Existenz ausreißen, können wir nichts dagegen haben; dann sage ich: wirtschaftet nur darauf los, wir sind Eure Erben! (Lebhafter Beifall, Lachen bei den Hervéisten.) Wenn das die herrschenden Klassen nicht ebenfalls wüßten, hätten wir längst den europäischen Krieg gehabt. N u r die Furcht vor der Sozialdemokratie hat ihn bisher verhindert. (Sehr wahr!) Tritt aber einmal solche Situation ein, dann wird es sich nicht mehr um Kleinigkeiten wie Insurrektion und Massenstreik handeln; dann wird die Kulturwelt ihr Antlitz von Grund aus 258
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ändern. Von dieser Erkenntnis ausgehend, brauchen wir uns über die Mittel, die man in solchem Augenblick anwenden könnte, nicht zu streiten. D i e deutsche Resolution sagt klar und deutlich, daß wir den Militarismus mit allen Mitteln, die wir nach unserem Ermessen für wirksam halten, bekämpfen. N o c h können wir unsere Taktik nicht bestimmen, n o c h zwingen sie uns die Gegner auf. A b e r welterschütternde Ereignisse können unsere Minorität in eine Majorität verwandeln. D e n n so lange es eine Kulturwelt gibt, hat n o c h nie eine Bewegung die Massen so aufs tiefste ergriffen wie die sozialistische, hat n o c h nie eine Bewegung die verachteten Massen so mit dem Geiste der Einsicht in das Wesen unserer Kultur erfüllt wie jetzt, hat es noch nie so viel Menschen gegeben, die wußten, was sie in Staat und Gesellschaft wollten. Halten wir weiter die Augen auf und sorgen w i r für die Helligkeit der Köpfe, so wird der rechte M o m e n t auch das rechte Geschlecht finden! (Lebhafter, anhaltender Beifall.) Ebenda, S. 98-101.
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60 Gegen Hurrapatriotismus und zum Ergebnis der Reichstagswahlen 1907 Reden und Diskussionsbeiträge auf dem Parteitag der Partei Deutschlands in Essen [757]
Sozialdemokratischen
I Diskussionsbeitrag
zur parlamentarischen
Tätigkeit
1 7 . September 1907 Ich bedaure lebhaft, daß ich durch meine Zugehörigkeit zur Fünfzehnerkommission[758] heute vormittag verhindert war, an den Verhandlungen teilzunehmen, ich werde daher vielleicht den einen oder anderen Angriff, der gegen mich gerichtet war, unerörtert lassen müssen. Wenn Genösse David, wie ich höre, behautpet haben soll, man müsse den Rednern der Fraktion als Repräsentanten der Partei gegenüber in der Kritik mehr Rücksicht nehmen, dann erkläre ich, daß die Partei keinerlei solche Rücksichten gegen die Fraktion nehmen darf. Der Bericht der Fraktion wird auf dem Parteitag zur Debatte gestellt. Die Mitglieder der Fraktion haben sich also auch der Kritik der Parteigenossen zu unterwerfen. Ich glaube, Genösse David wird das auch nicht gesagt haben. (David: „Ich habe das nicht gesagt!") Nun sind die Reden Noskes[759] in erster Linie und meine1 in zweiter Linie Gegenstand der Kritik gewesen. Zunächst muß ich konstatieren, daß die Rede Noskes in der Fraktion von keiner Seite kritisiert worden ist, (Hört! hört!) und weiter, daß die Rede Noskes an einer großen Anzahl von Stellen eine gute Rede war und ihr infolgedessen nicht allein von der Fraktion im allgemeinen, sondern speziell auch von mir an einer ganzen Reihe von Stellen Zustimmung und Unterstützung zuteil geworden ist. Ich sage das um so unverhohlener, da ich dem Genossen Noske erst vor wenigen Tagen anläßlich seiner Darstellung über das Verhalten der deutschen Delegation in Stuttgart gegenüber der Genossin Luxemburg in allerschärfster Weise meine Meinung gesagt habe und zugleich auch meine Meinung über manches andere in seiner Haltung.2 Mit dem Gesagten will ich freilich und kann ich nicht jede Stelle in Noskes Rede unterschreiben. 1
Siehe hierzu Nr. 56.
2
Siehe hierzu Nr. 168 in Band 9 dieser Ausgabe.
260
60 Gegen Hurrapatriotismus und zum Ergebnis der Reichstagswahlen 1907 Wer scharf zusieht, wird wohl einige Stellen finden, an denen die Kritik mit vollem Maße einsetzen kann. Wenn man aber dieselbe scharfe Kritik an die Reden der übrigen Fraktions genossen auch anlegt, dann dürften sehr wenige dabei bestehen. (Sehr richtig!) Denn es gibt immer in solchen Reden mal einzelne Sätze, die einem weniger gefallen oder in denen etwas Falsches enthalten ist. Ich muß es aber entschieden zurückweisen, als ob die Noskesche Rede den Eindruck gemacht hätte, als wenn Noske in einer Art Hurrastimmung gesprochen und dem Patriotismus das Wort geredet habe. Das sind Uebertreibungen. Man bleibe doch bei der Wahrheit. (Lebhafte Zustimmung.) Ich verlange nötigenfalls, daß ein Schiedsgericht zusammentritt, Noskes Rede wie die meine durchstudiert und nachweist, ob das, was Liebknecht speziell gesagt hat, irgendwelche Berechtigung hat.' 760 ' Also ich wiederhole: es mögen einige Mängel darin gewesen sein, im ganzen war die Jungfernrede Noskes eine gute Rede. Er hat eine ganze Reihe von Sachen erörtert, von denen es notwendig war, daß sie im Reichstag ausgesprochen wurden, die bisher noch wenig im Reichstag in Reden beim Militäretat gehört worden sind. Nun komme ich zu mir selbst. Zunächst habe ich zu konstatieren, daß ich in meiner diesmaligen Rede von einem auswärtigen Krieg und von Verteidigung bei einem Angriffskrieg überhaupt nichts gesagt habe. Ich habe ja schon viele Reden zum Militäretat gehalten, und da ist es ganz natürlich (Sie werden mir das nachfühlen), daß man sich bemüht, nicht dutzendmal Gesagtes nur immer zu wiederholen. Es versteht sich von selbst, daß dabei auch eine ganze Reihe guter Gedanken aus früheren Reden nicht wiederholt werden. Ich selbst bin weit davon entfernt, jede meiner Reden zum Militäretat für eine meiner besten Reden zu halten. Ich würde nur wünschen, daß jeder von Euch ein so scharfer Kritiker seiner eigenen Reden wäre wie ich. Ich lasse mir über keine meiner Reden ein X für ein U machen. Es geht wohl bei jedem Redner so, daß er sich sagen kann, er hat wohl einmal sehr gut geredet, aber drei, vier andere Male wäre es ebenso gut, wenn die Rede nicht gehalten wäre. (Heiterkeit.) Der Genossin Zetkin muß ich sagen, daß ihre heutige Rede, wenn sie auch viel Beifall gefunden hat, lange nicht ihre beste Rede war. (Heiterkeit und Zustimmung.) Das sind so Mängel, über die läßt sich immer streiten. Ich habe, wie man mir damals sagte, sehr ruhig gesprochen; das hat speziell der „Vorwärts" in seinem Entrefilet hervorgehoben. E r mag recht gehabt haben. Ich habe aber vor einigen Tagen in einem Parteiblatt des hiesigen Bezirks 3 gelesen, daß es nicht immer mit leidenschaftlichen Reden getan sei. Nun habe ich einmal ruhig gesprochen, da ist es dem betreffenden Redakteur auch nicht recht. Ich habe das Gefühl seit anderthalb Jahren: Ich mag tun, was 3
Essener Freie Zeitung.
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Gegen
Hurrapatriotismus
und zum Ergebnis der Reichstagswahlen
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ich will, ich werde diesem Redakteur doch nichts recht machen können. (Heiterkeit.) Nun ist das Wort von der Verteidigung des Vaterlandes gefallen. Ich habe hierzu damals gesagt: Wenn wir wirklich einmal das Vaterland verteidigen müssen, so verteidigen wir es, weil es unser Vaterland ist, als den Boden, auf dem wir leben, dessen Sprache wir sprechen, dessen Sitten wir besitzen, weil wir dieses unser Vaterland zu einem Lande machen wollen, wie es nirgends in der Welt in ähnlicher Vollkommenheit und Schönheit besteht. Wir verteidigen also dieses Vaterland nicht für, sondern gegen Euch. (Lebhafte Zustimmung.) Und deshalb müssen wir gegebenenfalls das Vaterland verteidigen, wenn ein Angriff kommt. 4 Darauf hat man mir gesagt - und auch Genösse Kautsky hat in diese Kerbe gehauen - : Was ist ein Angriffskrieg? Ja, es wäre doch sehr traurig, wenn wir heute, wo große Kreise des Volkes sich Tag für Tag viel mehr um die Politik kümmern wie früher, noch nicht sollten beurteilen können, ob es sich im einzelnen Falle um einen Angriffskrieg handelt oder nicht. Eine solche Dupierung war in den 70er Jahren möglich; aber wir im Parlament wußten schon damals, daß, wie die Enthüllungen über die Fälschung der Emser Depesche nachher gezeigt haben, Bismarck Napoleon gezwungen hatte, den Krieg zu erklären. Damals wurde freilich unsere Haltung in der eigenen Partei nicht verstanden. Denn wir haben erlebt, daß der Braunschweiger Ausschuß gegen Liebknecht und meine Haltung Stellung genommen hat.5 Und ob das nicht in einem ähnlichen Falle heute bei einem mehr oder weniger großen Teile der Partei wieder passieren könnte, möchte ich nicht ohne weiteres bestreiten. Jedenfalls wäre es traurig, wenn Männer, die die Politik sozusagen zu ihrem Berufe gemacht haben, nicht sollten beurteilen können, ob es sich um einen Angriffskrieg handelt oder nicht. Weiter kann Kautsky sich doch darüber nicht täuschen, daß heute die Dinge in Europa ganz anders liegen, daß heute alle Mächte möglichst den Schein von sich abzuwälzen suchen, als wollten sie einen Krieg und daß, wenn heute jemals ein Krieg ausbrechen sollte, er alles Bestehende in Frage stellen würde. Genösse David hat, wie ich aus dem Bericht ersehe, bestritten, daß ich das Wort, ich sei bereit, noch in meinen alten Tagen die Flinte auf den Buckel zu nehmen, in bezug auf einen Krieg mit Rußland gesagt hätte. Und doch habe ich es so gesagt und nicht anders. Vor zirka drei6 Jahren führte ich aus, daß, wenn es zu einem Kriege mit Rußland käme, das ich als Feind aller Kultur und aller Unterdrückten nicht nur im eigenen Lande, sondern auch als den gefährlichsten 4 5 6
Siehe hierzu Nr. 30 und 45 in Band 7/2 dieser Ausgabe. Siehe hierzu Nr. 18 in Band 1 dieser Ausgabe. Bei Bebel: sieben.
262
60 Gegen Hurrapatriotismus und zum Ergebnis der Reichstagswahlen 1907 Feind von E u r o p a und speziell für uns Deutsche ansähe, auf den sich in erster Linie die deutsche Reaktion stützt, dann sei ich alter Knabe n o c h bereit, die Flinte auf den B u c k e l zu nehmen und in den Krieg gegen Rußland zu ziehen. M a n mag darüber lachen, aber mir war es mit dem W o r t bitter ernst. Wir haben in den nächsten Jahren das hundertjährige Jubiläum des Aufstandes der Tiroler gegen die Napoleonische Fremdherrschaft. Damals zogen viele Alte mit in den K a m p f , und ich weiß nicht, o b ich nicht in einem ähnlichen Falle auch zur Flinte greifen würde. Ich glaube, ich habe noch die Kraft, die Flinte zu tragen. (Heiterkeit.) Also, ich erkläre n o c h einmal: All die prinzipiellen Ausführungen über den Militarismus sind von mir und anderen Parteigenossen oft genug seit 20 Jahren wiederholt worden. Aber jedes J a h r immer wieder ein und dieselbe Rede herunterzuleiern, das ist wider meinen Geschmackt, das bringe ich nicht fertig. ( L e b hafter Beifall.) Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Essen vom 15. bis 21. September 1907, Berlin 1907, S. 254-257.
II
Diskussionsbeitrag zur Kolonialpolitik '761' 17. September 1907 A n den D e b a t t e n über die Kolonialpolitik in Stuttgart habe ich nicht teilnehmen k ö n n e n , weil ich durch Sitzungen des Internationalen Bureaus resp. der Militärkommission 7 daran verhindert war. Aber mein N a m e ist in diesen Debatten von beiden Seiten so häufig herangezogen worden, daß ich genötigt bin, das W o r t dazu zu ergreifen, um so mehr, als ja auch heute Ledebour auf meine Person angespielt hat. Zunächst m u ß ich erklären, daß ich die Ausführungen Singers in bezug auf das Verhalten der deutschen Delegation zur Kolonialpolitik durchaus teile. Ich will hinzufügen, daß es nach meiner Auffassung verhältnismäßig leicht für unsere Delegierten gewesen wäre, mit dem nötigen Geschick zu erreichen, daß es in dieser Frage zu gar keinen ernsthaften Differenzen kam. (Sehr richtig!) E s war sehr leicht, eine F o r m zu finden, die alle Teile befriedigt hätte. Wenn ich bei den Verhandlungen zugegen gewesen wäre, so hätte ich sicherlich die in 7
Siehe hierzu Nr. 59.
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Mainz beschlossene Resolution' 7 6 2 1 als passendste vorgeschlagen. N u n hat man aber die Sache auf ein Gebiet gespielt, auf das sie nicht gehört. Ich halte den Eingang der Resolution, wie sie van K o l vorgeschlagen hat, für falsch und bedenklich und bin der Meinung, daß diese Fassung beseitigt werden mußte. A b e r die Art, wie dagegen gekämpft wurde, halte ich für falsch und verkehrt, und sie ist es gewesen, die den ganzen Konflikt unter uns hervorgerufen hat. (Sehr richtig!) Also es mußte eine Aenderung eintreten, aber man hat zu einem falschen Mittel gegriffen. D i e Frage, o b es eine sozialistische Kolonialpolitik gibt, hätte gar nicht in die Erörterung gezogen werden sollen, weil das ein Streit um das Kaisers Bart ist (Sehr richtig!), eine reine Zukunftsmusik. Was wir, wenn wir zur Herrschaft gelangt sind, mit unseren Kolonien anfangen, das, ich sage es Ihnen ganz offen, weiß ich nicht. (Heiterkeit.) D e n Streit, ob eine sozialistische K o l o nialpolitik möglich ist, halte ich für einen sehr müßigen Streit, der die Zeit und das Papier nicht wert ist, die darauf verwandt worden sind. (Ledebour: Das habe ich in der K o m m i s s i o n auch gesagt!) D a n n um so schlimmer, daß Sie nachher zu dieser unnützen D e b a t t e in der Presse und in Versammlungen ganz wesentlich mit beigetragen haben. (Sehr gut!) N u n hat man sich auch auf mich berufen: ich hätte selber das Programm einer sozialistischen Kolonialpolitik im Reichstag entwickelt. 1 7 6 3 1 Wie war denn damals die Sache im Reichstag? Ich habe zuerst es war wohl eine meiner besten Reden - scharfe Angriffe gegen die deutsche Kolonialpolitik im allgemeinen gerichtet, habe sie als R a u b - , Plünderungs- und Unterdrückungspolitik gebrandmarkt, als eine Politik, die wir unter allen U m ständen nach allen Richtungen hin zu bekämpfen hätten. Daran anschließend habe ich dann ausgeführt: „Aber daß Kolonialpolitik getrieben wird ist an und für sich kein Verbrechen, Kolonialpolitik treiben kann unter Umständen eine Kultursache sein, es k o m m t nur darauf an, wie die Kolonialpolitik getrieben w i r d . " 8 Diese Ausführungen kann man ja ein Programm nennen, im M o m e n t habe ich damals jedenfalls nicht daran gedacht, der Partei damit ein Programm geben zu wollen, aber ich halte auch heute noch jedes W o r t aufrecht, das ich damals gesagt habe, und füge nun hinzu: kann mir denn irgendeiner unterstellen, oder bildet sich irgend jemand ein, daß ich diese Sätze als erfüllbares P r o g r a m m für die kapitalistische Gesellschaft aufgestellt hätte? Es ist mir doch selbstverständlich gar nicht eingefallen, zu glauben, daß die bürgerliche Gesellschaft eine solche Kolonialpolitik treiben könnte. Ich wollte nur sagen: Wollt Ihr Kolonialpolitik treiben, dann wäre das das Ziel. N u n hat Ledebour in einer Berliner Versammlung in bezug auf diese meine Ausführungen sehr weise und richtig gesagt: Bebel ist kein Papst. Allerdings bin ich kein Papst, zum Glück brauchen
8 Siehe hierzu Nr. 53. 264
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wir keinen Papst, und ich würde mich auch ganz entschieden für diese Rolle bedanken; denn ich weiß bestimmt, daß, wenn jemals eine Dornenkrone zu tragen war, sie ein Papst in der sozialistischen Partei tragen würde. (Große Heiterkeit und lebhafte Zustimmung.) Ich wiederhole: Ich halte diesen ganzen Streit für einen Streit um des Kaisers Bart. Es handelte sich um ein Zukunftsprogramm, das zu erörtern wir gar keine Ursache haben. Schon in unserem jetzigen Parteiprogramme ist - wenn auch nicht mit ausdrücklichen Worten - die Richtschnur vorgezeichnet, die wir auch in der Kolonialpolitik einzuhalten haben. Im letzten Absatz der prinzipiellen Auseinandersetzungen heißt es: „Die sozialdemokratische Partei Deutschlands kämpft nicht für neue Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für Abschaffung der Klassenherrschaft und gleiche Rechte und Pflichten aller ohne Unterschied des Geschlechts und der Abstammung. Von diesen Anschauungen ausgehend, bekämpft sie heute schon nicht bloß die Ausbeutung und Unterdrückung der Lohnarbeiter, sondern jede Art der Ausbeutung und Unterdrückung, richte sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, ein Geschlecht oder eine Rasse."1?641 Das ist unser programmatischer Standpunkt den wir auch in der Kolonialpolitik seither stets vertreten haben, vielleicht mit Ausnahme eines einzigen unter uns, der diese Meinung nicht ganz teilt. Ich will seinen Namen nicht nennen, weil er nicht hier ist. Nun kommt aber gegenüber unserer programmatischen Stellung noch ein anderes in Frage: Können wir als Parlamentarier etwas tun, um die Lebenslage der Eingeborenen in den geraubten Kolonien zu verbessern, um sie gegen die Greuel und Verwüstungen in ihrem Lande zu schützen? Hier stehen wir genau auf demselben Standpunkte wie gegenüber der Arbeiterklasse in der heutigen bürgerlichen Gesellschaft. (Sehr richtig!) Was wir an Konzessionen zur Verbesserung ihrer Lage erreichen können, suchen wir zu erreichen. Ich erinnere daran, daß eine Anregung Ledebours, der die Fraktion zustimmte, zur Folge hatte, daß wir vor 1 Vz Jahren, als der Hereroaufstand9 in vollster Blüte stand, die Reichsregierung aufforderten, den Eingeborenen ausreichend Land zu geben, damit sie in der Lage wären, in gewohnter Weise ihre Lebensexistenz sich zu erhalten. Der Antrag hat damals die große Mehrheit des Reichstages gefunden. Hätte die Regierung ihn zur Ausführung gebracht, dann wäre der Hottentotten- und Hereroaufstand bereits viel früher beendet worden. (Sehr richtig!) Ich erinnere weiter an unsere Vorschläge auf Abschaffung der Haussklaverei. Gegen die Aufrechterhaltung der Haussklaverei habe ich wiederholt angekämpft. So haben wir in dieser Beziehung genau wie auf anderen Gebieten zu wirken. 9
Siehe hierzu Nr. 29 und 37 in Band 7/2 dieser Ausgabe. 265
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Wir haben diese Greuel und Ungerechtigkeiten an den Pranger zu stellen und haben andererseits die Aufgabe, soweit wir durch praktische Vorschläge dazu beitragen können, das Los der Ausgebeuteten und Unterdrückten zu erleichtern. Aber alles, was darüber hinausgeht, halte ich für unnötiges Kopfzerbrechen, das sich unsere Theoretiker und Nichttheoretiker gemacht haben. (Lebhafter Beifall.) Ebenda, S. 271-273.
III Referat über die Reichstagswahlen
von 1907 und die politische
Lage
18. September 1907 Der vorjährige Beschluß, in diesem Jahre den Parteitag in Essen stattfinden zu lassen, wurde gefaßt in der Voraussetzung, daß hier die Taktik für die Wahlen besprochen werden sollte. Wider Erwarten ist der Reichstag aufgelöst worden. Das konnte niemand voraussehen. Ja, selbst am 12. Dezember war noch niemand im Reichstage, der ahnte, daß am 13. Dezember der Reichstag aufgelöst würde. Der scheinbare Grund der Auflösung lag in der Haltung der Reichstagsmehrheit, die die Kolonialkredite nicht im vollen Umfange bewilligte. Weder die Forderung der Regierung, noch die ermäßigte Forderung des Zentrums fand eine Mehrheit, und zwar deshalb, weil wir beschlossen hatten, auch gegen den Vermittelungsantrag des Zentrums zu stimmen. Auch der freisinnige Antrag fand keine Mehrheit. Ich habe die feste Ueberzeugung, die sich auf bestimmte Tatsachen stützt, daß die Auflösung auch dem Zentrum sehr unangenehm war, und daß das Zentrum, wenn es zur dritten Beratung gekommen wäre, nachgegeben hätte. Die Auflösung war um so überraschender, als mehr als ein Jahrzehnt die Rgierung mit dem Zentrum zusammengegangen war. Keine Flotten-, keine Militär-, keine handelspolitische Vorlage, keine Vorlage auf dem Gebiet der Sozialgesetzgebung oder Justizgesetzgebung ist ohne Zustimmung des Zentrums, bald durch Unterstützung der Linken, bald mit Unterstützung der Rechten Gesetz geworden. Das Zentrum war die maßgebendste Partei des Reichstags, obgleich es nur eine Minderheit war. Da auf einmal schlug die Stimmung um. Das trat allerdings schon äußerlich in die Erscheinung in dem Konflikt zwischen Dernburg und Roeren, der äußerst scharfe Formen annahm. Als der Reichskanzler in diesem Konflikt auf die entschiedenste Weise auf die Seite von Dernburg trat, konnte man ahnen, daß es mit der Herrschaft des Zentrums zu Ende gehe. 266
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Die Stellung des Zentrums im Reichstage war vielen Leuten recht unangenehm. Es ist insbesondere den Nationalliberalen blutig sauer geworden, jedesmal für die Zentrumsanträge stimmen zu müssen, wenn die Regierungsvorlagen nicht die Unterstützung des Zentrums fanden, aber man sagte sich: ohne die Unterstützung des Zentrums ist nichts zu machen, wir müssen wohl oder übel zustimmen! Dasselbe Gefühl war häufig in konservativen, namentlich den orthodoxkonservativen Kreisen vorhanden, denen auch die freundliche Haltung des Kaisers 10 gegen die katholische Kirche und Geistlichkeit mißfiel. Dazu kam, daß das Zentrum aus seiner Stellung bedeutende Vorteile zog, in bezug auf die Anstellung eines großen Teils seiner Mitglieder in Staatsstellungen, in bezug auf Avancementsverhältnisse, in bezug auf die Stärkung der sozialen Position seiner Anhänger, in bezug auf die Begünstigung der katholischen Kirche insbesondere in Preußen. Das waren alles Dinge, die in liberalen wie in orthodox-protestantischen Kreisen viel Anstoß erregten, und so war die Stimmung gegen den Fürsten Bülow allmählich so erregt geworden, daß man bereit war, wenn es so weiter ging, ihn zu stürzen. Dieses war das eigentliche Motiv, das ihn in jenem Moment dazu trieb, einen Konflikt herbeizuführen, der sich sonst durch ein kleines Entgegenkommen an das Zentrum hätte vermeiden lassen. Umgekehrt wäre das Zentrum bereit gewesen, bei der dritten Lesung der Nachtragsvorlage alles zu bewilligen, was verlangt wurde. (Sehr richtig!) N u n hat man von liberaler Seite wiederholt von einem rotschwarzen Kartell gesprochen. Ich brauche es Ihnen nicht auseinanderzusetzen, aber ich sage es hier der Oeffentlichkeit gegenüber: Das ist einfach eine Unwahrheit, eine grobe Entstellung der Tatsachen. (Sehr richtig!) Wir haben niemals im Kartellverhältnis zum Zentrum und das Zentrum nicht zu uns gestanden. Wir waren stets völlig frei und unabhängig voneinander. Freilich ist es nach der Natur der Verhältnisse im Reichstag selbstverständlich häufig vorgekommen, daß, wenn es sich um halbwegs liberale Anträge handelte, gegen die die Rechte stimmte, für die aber das Zentrum, das immerhin mit Rücksicht auf seine Wähler wenigstens etwas demokratisch erscheinen muß, zu haben war, wir mit dem Zentrum und den Freisinnigen die Majorität bildeten. Die Freisinnigen sprechen jetzt nicht mehr gerne davon, daß sie häufig genug mit dem Zentrum zusammen gestimmt haben, ja, bei dem fortgesetzten Rückgang des Freisinns bei den Wahlen war es sogar dahin gekommen, daß der Freisinn sich in einer Art Vasallenverhältnis zum Zentrum befand, weil er auf die Unterstützung desselben vielfach angewiesen war, um noch Mandate zu bekommen. Ein ganz bedeutender Prozentsatz freisinniger Abgeordneter ist früher mit Hülfe des Zentrums gewählt worden, und daher haben es die Freisinnigen in
10 Wilhelm II.
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vielen Fällen, wo es ihre Pflicht gewesen wäre, nicht gewagt, energisch gegen das Zentrum Stellung zu nehmen. (Sehr richtig!) Wir aber haben immer nach unserer Ueberzeugung gestimmt, und wo wir das Ganze nicht bekommen konnten, haben wir das Nächstbessere genommen, aber in allen entscheidenden Fragen waren es nicht wir, sondern die Konservativen und Nationalliberalen, die mit Unterstützung des Zentrums die Gesetzgebung seit dem Anfang der 90er Jahre geschaffen haben. - Als nun die Auflösung kam, handelte es sich um die Frage, gegen wen hauptsächlich in den Wahlkampf zu treten wäre. Die Regierung mußte sich von vornherein sagen, daß es vielleicht möglich sein könnte, dem Zentrum einige Wahlkreise abzunehmen, daß aber in den Kreisen, wo die Massen des katholischen Volkes zusammenwohnen, also in Rheinland-Westfahlen, in Süddeutschland, speziell in Bayern, in Oberschlesien und auch in ostpreußischen Bezirken der Zentrumsturm unerschütterlich sei. Sie richtete also mit aus diesem Grunde in erster Linie den Kampf gegen uns, zumal wir die äußerste Oppositionspartei sind, die Feinde der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung. (Lebhafte Zustimmung.) Dazu kommt, daß der Kaiser selbstverständlich nicht unser Freund ist, also eine Parole gegen die Sozialdemokratie vor allem den Beifall des höchsten Herrn finden mußte, worauf es dem Fürsten Bülow in seiner damaligen Situation am meisten ankam. Weiter kam hinzu, daß sich aus der eigentümlichen Situation, in der alle bürgerlichen Parteien im Reichstag gegen Zentrum und Sozialdemokratie zusammengegangen waren, auch ein gemeinsamer Wahlkampf dieser Parteien als Möglichkeit ergab, und daß die Aussicht vorhanden war, daß, wenn dies gemeinsame Vorgehen von der Regierung unterstützt würde, diese Parteien mit um so größerem Erfolge in den Wahlkampf zu ziehen hoffen durften. So ist denn der Wahlkampf eingeleitet worden durch den bekannten Brief16731 des Reichskanzlers an den Präsidenten11 des Reichslügenverbandes1674', und der Reichskanzler selbst ist von Anfang an ebenfalls in den Wahlkampf eingetreten. Von der höchsten Person in der Regierung, vom Reichskanzler bis herunter zum letzten Nachtwächter, ist in diesem Wahlkampf alles geschlossen aufgeboten worden, um den Kampf gegen uns zu führen. Diesen Umständen ist von den Genossen viel zu wenig Rechnung getragen worden, und doch ist gerade dieses das wichtigste Moment. (Lebhafte Zustimmung.) Es waren der Reichskanzler, das Reichskanzleramt, das Marineamt, der Flottenverein, die Einzelregierungen, die sämtlich nach bestimmten Plänen gemeinsam vorgegangen sind und das angedeutete Resultat gezeitigt haben.1668' Es wurde nach bestimmten Richtlinien gearbeitet, die vom Reichskanzler ausgingen. (Hört! hört!) Ganz besonders - und das möchte ich unseren württembergischen Genossen 11 Eduard von Liebert. 268
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gegenüber mit Rücksicht auf ein Ereignis der letzten Zeit bemerken - ganz besonders auch in Württemberg hat die Regierung alles aufgeboten, um die Sozialdemokratie aus dem Felde zu schlagen. (Sehr richtig!) In welcher Weise gearbeitet worden ist und mit welcher Wirkung, ohne daß man äußerlich viel davon merkte, durch Zirkulare, durch Reden, durch Drohungen usw., das mag Ihnen ein Beispiel zeigen. Aus begreiflichen Gründen kann ich die betreffende Stadt und die betreffende Beamtenkategorie nicht nennen. Ich weiß aber aus bester Quelle, daß in einer deutschen Großstadt, in der mehr als 500 Unterbeamte einer bestimmten Kategorie vorhanden sind, von denen 1903 volle zwei Drittel für uns gestimmt haben, diesmal nur 13 ihre Stimme für uns abgaben. (Hört! hört!) Wenn Sie bedenken, daß in der gleichen Weise der Druck überall ausgeübt wurde, so werden Sie zugeben, daß uns das eine erhebliche Zahl von Stimmen unter den Unterbeamten gekostet hat, die notorisch große Sympathien für uns besitzen. Auch die Organisation der Gegner ist mit Hülfe der Behörden betrieben worden. In dieser Beziehung hat besonders der Reichslügenverband für die Gegner nützlich gewirkt. Er hat den bürgerlichen Parteien die Wahlorganisation gelehrt, die sie bisher nicht gehabt haben. Er hat einen Schlepperdienst in ausgezeichneter Weise organisiert. Und da auf Seiten unserer Gegner die gesamten Staats- und Gemeindebehörden standen, wodurch ihnen nicht nur die Wahllisten zur Verfügung standen, sondern auch in der großen Mehrzahl die Lehrer und andere Personen zu Schlepperdiensten sich hergaben, so wurde den Gegnern eine große Zahl Indifferenter zugeführt, die in die Hunderttausende gehen. Das müssen wir besonders für die nächsten Wahlen beachten. (Lebhafte Zustimmung.) Eine Hauptschuld an dem ungünstigen Wahlausfall hat man in unseren Kreisen der niederträchtigen Kampfesart des Reichslügenverbandes beigemessen. Ich bin der letzte, der bestreitet, daß eine derartige Kampfesweise auf viele Leute Einfluß ausübt. Ich bestreite aber auf das entschiedenste, daß die Wirkung eine so große ist, wie viele glauben. (Sehr richtig!) Der Reichslügenverband hat nur die Kampfesmethode, die die Mönchen-Gladbacher schon seit Jahren gegen unsere Genossen inszeniert haben, über das ganze Reich organisiert. (Sehr richtig!) Lesen Sie nur einmal das Handbuch der Zentrumspartei !t764lJ In dem Handbuch keiner politischen Partei werden Sie ein solches Maß von Verunglimpfungen und Verleumdungen gegen die Führer der Sozialdemokratie finden wie in diesem Buche. (Sehr richtig!) Nun kam der Reichslügenverband unter der Führung seines Generalissimus Liebert und hat diese Verleumdungen verallgemeinert, wobei er von der gesamten Bourgeoisie unterstützt wurde in einer Art wie nie zuvor. Ich bin ein altes Mitglied der Partei. Ich habe alle Wahlkämpfe seit 1867 mit durchgemacht, und wenn ich zeitweise durch Gefängnisstrafe verhindert war, aktiv einzugreifen, so habe ich es doch auch in meiner Weise getan, nicht 269
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agitatorisch, aber ich habe beobachtet. Ich kenne alle Vorgänge und kann nur sagen: Wenn ich manchmal in einem Wahlkreise die Methode beobachtete, mit der die Gegner arbeiteten, und namentlich wenn ich die Flut von Verleumdungen zu lesen bekam, sagte ich mir: Potztausend, das muß furchtbar wirken. D a werden wir eine große Niederlage erleiden. Aber ich bin nicht einmal, sondern Dutzende von Malen durch das Resultat überrascht worden. Ich habe gesehen, daß die Verleumdungen so gut wie nicht gewirkt haben. Es wäre auch schlimm, wenn es anders wäre. Ein Volk müßte doch schon auf der tiefsten Stufe moralischer Erniedrigung angelangt sein, wenn eine solche Kampfesweise auf die Dauer ziehen sollte. (Zustimmung.) Wenn es uns erst gelingt, der Wählerschaft überall nachzuweisen: in den und den Fällen erlauben sich unsere Gegner die niederträchtigsten Lügen, dann werden die Massen eine solche Kampfesweise ablehnen. Sicher hat die Parole vom „schwarzroten Kartell" uns in gewissen Landesteilen geschadet. Man hat sich dadurch bestechen lassen und in höherem Maße sonst indifferente Leute zur Wahlurne geführt. Es kann weiter nicht bestritten werden, daß die Agrarpolitik bei einem großen Teil der Bauern, sogar der Kleinbauern, einen gewissen Erfolg erzielt hat. Dadurch, daß die Preise für das Vieh in die H ö h e gegangen sind, wurde der Anschein erweckt, als ob diese Bauern, die mit der Viehhaltung zu tun haben, einen besonderen Vorteil hätten. Die anderen Wirkungen des Zolltarifs^ 31 waren noch nicht zur Geltung gekommen, sie werden aber den Leuten zeigen, daß ihnen das, was ihnen auf der einen Seite zugeführt ist, auf der anderen Seite doppelt und dreifach abgezwackt wird. Ich könnte Kreise anführen, wo bei früheren Wahlen das Kleinbauerntum für uns entscheidend war, während diesmal unsere Stimmen ganz bedeutend heruntergegangen sind. Ferner haben die gewaltigen wirtschaftlichen Kämpfe der letzten Jahre einen großen Teil der kleinen Gewerbetreibenden kopfscheu gemacht. Leute aus diesen Kreisen, die früher Sozialdemokraten waren, sind durch den Gang der Dinge unsere Gegner geworden. (Sehr wahr!) Das erklärt sich sehr einfach. Nach unserer eigenen Grundauffassung sind es in erster Linie die wirtschaftlichen Interessen, die das Wünschen, Hoffen und Fühlen der Menschen beeinflussen. Es erklärt sich also ganz naturgemäß, daß in diesen Kreisen eine Erbitterung gegen uns Platz greift und in noch höherem Maße Platz greifen wird, weil die wirtschaftlichen Kämpfe noch zunehmen. (Sehr richtig!) Bömelburg hat bereits zutreffend darauf hingewiesen, daß in demselben Maße, wie die Unternehmerorganisationen stärker werden, das Verlangen wächst, den Kampf mit den Arbeitern aufzunehmen. Wir werden in nächster Zeit nicht auf eine Abschwächung dieser Kämpfe rechnen können, im Gegenteil, sie werden sogar noch stärker werden, wenn die Krisis eintritt. Nach gut verbürgten Nachrichten lag übrigens auch in der wahrscheinlich kommenden Krise ein Moment, das zur 270
60 Gegen Hurrapatriotismus und zum Ergebnis der Reichstagswahlen 1907 Auflösung des Reichstags führte. E s soll H e r r Dernburg gewesen sein - das würde auch seiner Kenntnis der Wirtschaftsverhältnisse als früherer Bankdirekt o r entsprechen - , der gesagt habe: Wenn wir erst 1908 in die Wahlkampagne eintreten, besteht die große Gefahr, daß eine ökonomische Krisis existiert, die das M a ß der Unzufriedenheit auf die Spitze treibt, und dann können wir darauf rechnen, daß wir noch einen viel oppositionelleren Reichstag bekommen. ( H ö r t ! h ö r t ! ) M a n darf auch nicht vergessen, daß die immer erheblichere Ausdehnung der Arbeiterkonsumgenossenschaften der Krämerwelt eine erhebliche K o n k u r renz macht und Tausende in das Lager unserer Gegner getrieben hat, die früher auf unserer Seite waren. D a ß diese Gegnerschaft nicht geringer, sondern größer wird, steht ebenfalls fest, denn die Arbeiterkonsumvereine werden sich mehr und mehr ausdehnen. M a n hat auch gesagt, der Wahlausfall sei die Folge des Dresdener Parteitages. 12 D a ß die Verhandlungen und Beschlüsse von Dresden gewissen Leuten unangenehm waren, ist Tatsache. Ich erinnere daran, daß vom Dresdener Parteitag ab die Haltung des Fürsten B ü l o w gegen die Sozialdemokratie eine andere geworden ist. D a ß auch das auf die Intellektuellen, die bisher mit uns sympathisiert haben, abgefärbt hat, will ich nicht bestreiten, aber man überschätzt die F o l g e n gewaltig. Wenn ein bestimmter Kreis von Intellektuellen mit der Sozialdemokratie sympathisierte und, wie ich fest glaube, 1903 bis auf den letzten M a n n für uns gestimmt hat, sind es die sogenannten „Simplicissimus-Leute" in München. (Sehr richtig!) Als aber die Wahlparole kam, als es hieß: Gegen das Zentrum! Als es hieß, daß jetzt eine liberale Politik beginnen solle, ist man in diesen Kreisen in Scharen H e r r n D e r n b u r g und den anderen nachgelaufen. M a n hoffte, es werde einen neuen sogenannten Kulturkampf geben und der Liberalismus werde endlich O b e r w a s s e r bekommen. Freilich, die Ernüchterung ist heute schon in diesen Kreisen vorhanden, und sie wird in den nächsten Jahren in n o c h höherem M a ß e eintreten. Ich k o m m e nach alle diesem zu dem Resultat, daß uns von unseren früheren Wählern beziehungsweise Mitläufern 250 000 bis 300 0 0 0 weggeblieben sind, daß dem ein Zuwachs von 500 000 bis 6 0 0 0 0 0 neuen Wählern gegenüber steht. D a z u k o m m t n o c h etwa '/4 Million, die vorläufig bei unseren G e g nern festgehalten wurden durch die Methode, die im Wahlkampf angewandt wurde. I m günstigsten Falle wären wir bei der letzten Wahl auf 3 5 0 0 000 bis 3 6 0 0 0 0 0 statt auf 3 250 0 0 0 Wähler gekommen. N e h m e n wir alle diese U m s t ä n de zusammen und bedenken wir, daß wir trotz der gewaltigen Anstrengungen unserer Gegner einen festen Wählerbestand von 3 2 5 0 000 haben, so ist das ein moralischer Erfolg, der nicht weggeleugnet werden kann und den wir uns nicht 12 Siehe hierzu Nr. 25 in Band 7/1 dieser Ausgabe.
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verkleinern lassen. (Sehr richtig!) Ueberhaupt, Parteigenossen, müssen wir uns vergegenwärtigen, daß wir künftighin in den Wahlkämpfen nicht mehr so leichte Arbeit haben werden wie bisher. (Sehr wahr!) Mit dieser Tatsache müssen wir arbeiten und rechnen. Unsere Gegner haben von uns in den letzten Jahrzehnten gelernt. Die Unternehmer, die vor Jahrzehnten noch gar nicht organisiert waren, sind heute aufs beste organisiert, vielfach sogar besser als die Arbeiter. (Sehr wahr! sehr richtig!) Wir haben sie gezwungen dazu. Die Unternehmerklasse hat ein viel schärferes Klassenbewußtsein als leider noch die Arbeiterklasse, sonst wäre es nicht möglich, daß wir neben den freien Gewerkschaften auch noch christliche und Hirsch-Dunckersche Gewerkschaften hätten. (Lebhafte Zustimmung.) Wen fällt es denn unter den Unternehmern ein, sich nach seiner politischen oder religiösen Ueberzeugung zu organisieren; ob liberal, ob konservativ, ob Heide, ob Jude, ob Christ, alle Unternehmer treten in dieselbe Organisation ein, weil alle ganz genau wissen, daß nur bei völliger Geschlossenheit aller Klassengenossen etwas durchzusetzen ist. (Sehr richtig!) Gerade auf diesen Punkt werden wir künftig bei unserer Agitation weit mehr Gewicht zu legen haben. Das wird den Arbeitern viel zu wenig gesagt, namentlich den christlichen und liberalen Arbeitern. Ich bin überzeugt, daß dabei vielfach unsere Taktik eine verfehlte gewesen ist. (Sehr wahr!) Man sollte die Gegensätze zwischen der Arbeiterschaft nach Möglichkeit auszugleichen suchen, man sollte die Leute belehren, sie unterrichten, ihnen ihren falschen Standpunkt nachweisen, ihnen zeigen, daß die Unternehmer nur deshalb besondere Arbeiterorganisationen unterstützen, weil das die Arbeiterbewegung schädigt und den Unternehmerinteressen nützt. Den Arbeitern muß klar gemacht werden, daß sie von den bürgerlichen Parteien mißbraucht werden. (Lebhafte Zustimmung.) Statt darauf den Schwerpunkt der Agitation zu legen, greift man die Parteien an, die hinter diesen Arbeitern stehen, und stößt durch die Art, wie man das tut, ein gut Teil der Arbeiter vor den Kopf. Ich bin ja selbst aus jenem Lager gekommen' 3 ; was war ich denn vor 45 Jahren? Doch auch kein Sozialdemokrat; und so gibt es noch so viele Genossen. Wir haben uns durchgerungen zu unserer jetzigen Ueberzeugung, und diesen Denkprozeß, diesen Umbildungsprozeß, der zugleich den Klasseninteressen der Arbeiter entspricht, durch Aufklärung nach allen Richtungen hin zu fördern, ist eine unserer Hauptaufgaben. Wir dürfen nicht immer, statt aufklärend zu wirken, die Gegensätze unter den Arbeitern noch verschärfen. (Sehr richtig!) Das schadet uns gewaltig. Fangt erst einmal an, diese Taktik auszuüben, und Ihr werdet die Gesichter der Gegner sehen. J e mehr wir die Verbissenheit zwischen den verschiedenen Arbeiterorganisationen durch unsere 13 Siehe hierzu S. 41 ff. in Band 6 (Aus meinem Leben) dieser Ausgabe. 272
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und zum Ergebnis der Reichstagswahlen
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Agitation unterstützen, um so mehr wird man sich auf Seite unserer Gegner freuen. (Sehr richtig!) Unsere Gegner haben weiter von uns das Geldsammeln schätzen gelernt, wofür sie früher sehr wenig zu haben waren. Angesichts der Macht und Bedeutung, die die Sozialdemokratie gewonnen hat, und weil sie genau wissen, daß die Sozialdemokratie das naturnotwendige Produkt der kapitalistischen Entwickelung und der damit in Verbindung stehenden Proletarisierung der Massen ist, sind die Gegner gezwungen, alles aufzubieten, um zu verhüten, daß die Sozialdemokratie die Massen in die Hand bekommt. Was unsere Gegner bei den letzten Wahlen so geschlossen gegen uns zusammentrieb, das war auch die Angst, unsere Stimmen und Mandate möchten in ähnlicher "Weise wachsen wie von 1898 auf 1903, und da sagten sie sich, das darf nicht sein, denn dann naht unser Ende. Dieser Umstand ist ebenfalls von unserer Seite nicht genug beachtet worden bei der Kritik des Wahlresultats. (Sehr wahr!) Wenn Graf Ballestrem nach der Auflösung des Reichstags gesagt haben soll: ich komme nicht mehr wieder, aber an meine Stelle kommt Singer (Heiterkeit), so war das sicher nur ein Scherzwort, aber es charakterisierte die Stimmung der herrschenden Kreise, und diese Stimmung erzeugte den Zusammenschluß und Fanatismus unserer Gegner. (Lebhafte Zustimmung.) Man hat dann auch Vergleiche angestellt zwischen dem Wahlausfall bei uns und in Oesterreich.I7641,1 Der Riesenaufschwung der Arbeiterbewegung in Oesterreich ist wesentlich dem Umstände zu danken, daß es bis vor nicht langer Zeit keine bürgerliche Partei gab, die sich um das österreichische Proletariat bekümmerte. Dieses war gewissermaßen politisch jungfräulich. Da kam die Sozialdemokratie, und bei dem lebhaften Temperament unserer österreichischen Brüder und bei ihrer raschen Auffassungsgabe gelang es, die Bewegung in kurzer Zeit zu Fortschritten zu bringen, auf die wir vergleichsweise noch vergeblich warten. Bei uns war es von vornherein anders: Keiner von uns Alten ist etwa ohne weiteres als Sozialist in die sozialistische Bewegung getreten, wir waren alle Leute, die bereits eine bestimmte politische Ueberzeugung hatten, welche erst überwunden werden mußte. Das war verdammt schwer und hat uns manchen Kampf gekostet. Heute wächst die Jugend in den Fabriken, in der Familie ganz von selbst in den Sozialismus hinein. Der Vater und die Mutter müßten sehr ungeschickte Eltern sein, die es nicht verstünden, ihre Kinder für die Sozialdemokratie zu erziehen. (Sehr richtig!) Also nach der Richtung hin sind wir heute viel besser daran. Aber auch die Gegner wissen den Wert dieser Erziehung zu schätzen; sie benutzen vor allem den Einfluß der Schule und Kirche, um auf das heranwachsende Geschlecht, Jünglinge und Mädchen, einzuwirken und sie gegen die Sozialdemokratie einzunehmen. Von oben herunter wird das nachdrücklich unterstützt; der 273
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deutsche Kaiser, der die Tugend hat, sehr offenherzig zu sein, hat erst vor kurzem angekündigt, wie wichtig es sei, das Volk im Geiste des Hohenzollernstaates zu erziehen. 1765 ' Früher gab es keine Politik in der Schule, heute aber wird Politik in der Schule und in der Kirche getrieben. (Sehr richtig!) Man sucht die Kinder für sich zu gewinnen, man sagt sich, sie fallen sonst rettungslos der Sozialdemokratie zu, sobald sie erst einmal in die Werkstatt, in die Fabrik kommen und dort nicht nur in ihren Fachvereinen, sondern auch politisch aufgeklärt werden. Weiter ist in Betracht zu ziehen die Wirksamkeit der bürgerlichen Presse. Diese Presse arbeitet heute in allen Parteien in einer so systematischen Weise gegen die Sozialdemokratie, wie man das früher in gleichem Maße nicht gekannt hat. Bei der großen Verbreitung, die die bürgerliche Presse heute noch im Vergleich zu der sozialdemokratischen unter Hunderttausenden, ja Millionen von Arbeitern hat, ist ihr Einfluß erklärlich. Also auch auf diesem Gebiete steht uns noch eine große Arbeit bevor. Weiter kommt als wesentliches Moment hinzu der Zusammenschluß der bürgerlichen Parteien. Das Zentrum fühlt sich auf die Dauer in seiner Isolierung unbehaglich, es sehnt sich nach den Fleischtöpfen zurück und drängt darauf, wieder in Gnaden aufgenommen zu werden. Wenn die Auflösung nicht gekommen wäre, sondern die Legislaturperiode ihr natürliches Ende erreichte, ich setze 100 gegen 1, daß wir alsdann bei den Juniwahlen 1908 nicht nur Liberale, Konservative und Antisemiten, sondern auch das Zentrum, also das gesamte Bürgertum geschlossen gegen uns gehabt hätten. (Lebhafte Zustimmung.) Wozu es damals nicht gekommen ist, das wird aber künftig der Fall sein. Der Block ist eine vorübergehende Erscheinung, er bricht in sich zusammen, und wenn das erstrebte politische Ziel damit nicht erreicht werden kann, so werden das Klassenbewußtsein und die Klasseninteressen die bürgerlichen Parteien in noch weit höherem Grade als bisher zusammenschmieden. (Zustimmung.) Ein anderes: Neuerdings bemächtigen sich auch die bürgerlichen Parteien, speziell das Zentrum, der Frauenbewegung. 1765 *' Wenn das neue Vereinsgesetzt 682 ' nun endlich nach fast 40 Jahren, nachdem seine Gewährung durch die Verfassung versprochen ist, verwirklicht werden sollte, steht fest, daß mit ihm die Ausnahmestellung, die bisher die Frauen in diesem Punkte in vielen Staaten gehabt haben, beseitigt wird. Das neue Gesetz, soweit darüber Mitteilungen durch die Zeitungen veröffentlicht sind, macht die Frauen in dieser Beziehung gleichberechtigt. J e mehr aber diese politische Gleichberechtigung der Frauen wächst, um so mehr wächst auch das Interesse aller Parteien an der Stellungnahme der Frauen. Alle Parteien sind daran interessiert, um den Einfluß der Frauen für sich einzufangen, und so wird dies Gesetz die Wirkung haben, daß alle Parteien ohne Ausnahme sich in weit höherem Maße als bisher um die Frauen kümmern. Das 274
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ist für uns in erster Linie eine Warnung, mit einer gewissen Lässigkeit, vielleicht sogar einer gewissen Animosität und Abneigung, die bisher bei uns in jener Beziehung bestanden hat, ein für allemal zu brechen. (Lebhafte Zustimmung.) Ferner: Das allgemeine Stimmrecht anzutasten, ist heute ziemlich unmöglich; es dem Volke zu nehmen, das geht nicht mehr, das wäre ein Versuch, bei dem die Existenz des Reiches auf dem Spiele stehen könnte, das wäre ein Versuch, demgegenüber es für uns notwendig wäre, koste es was es wolle, das bestehende Recht zu verteidigen. (Stürmischer Beifall.) Es kann wohl vorkommen, daß wir in einem Kampfe nicht bekommen, was wir haben wollen, aber was wir haben, uns nehmen zu lassen, da wären wir allesamt Hundsfötter und erbärmliche Kerle, das darf es nicht geben. (Erneuter stürmischer Beifall.) Wenn aber das allgemeine Stimmrecht uns nicht mehr genommen werden kann, und wenn die sozialdemokratische Flut wächst - und sie wächst aus Gründen, die ich gleich anführen werde, ganz selbstverständlich - dann ist auch damit eng verknüpft, daß die Gegner einen Schritt weiter gehen und sich sagen: Haben wir die männlichen Arbeiter verloren, so versuchen wir es mit den Frauen, geben wir den Frauen das Stimmrecht, dort ist ein Boden, der für uns noch zu haben ist. D o r t sind noch ungezählte Scharen, die im Banne des Staates, der Kirche und der Vorurteile sind; wir bekommen also möglicherweise in Deutschland - ich will nicht prophezeihen, aber ich halte es für möglich - viel eher das Frauenstimmrecht, als daß das Männerstimmrecht uns genommen wird. Sie sehen das auch an der Haltung des Zentrums. Das Zentrum kennt keine Prinzipien, wenn man nicht die Grundsätze der katholischen Kirche als solche ansehen will, es kennt nur seinen Parteivorteil, der zugleich der Vorteil der katholischen Kirche ist und das Zentrum hat bereits vor einem Jahre im bayerischen Landtage durch einen seiner weitsichtigsten Redner erklären lassen, es werde für das Frauenstimmrecht eintreten. Herr Dr. Heim ist neuerdings auf dem Katholikentage sogar darüber hinausgegangen und hat - jedenfalls zum Schrecken seiner Zuhörer aus bäuerlichen Kreisen - erklärt: wir müssen die Dienstboten organisieren, damit sie nicht in das sozialdemokratische Lager kommen! Man bedenke, was das bedeutet, wenn ein Redner und Führer des Zentrums empfiehlt, die Dienstboten zu organisieren. Als vor etwa 15 Jahren im Reichstag das Frauenstudium angeschnitten wurde 1 4 , war das Zentrum einmütig dagegen, und es hat diese Forderung mit allen Gründen der Sophistik und der Kirche bekämpft. Jetzt hat man diese Opposition aufgegeben. Schon auf dem Katholikentag in Straßburg hat einer der vorzüglichsten Redner des Zentrums mit allem Nachdruck betont, daß die Frauen zum wissenschaftlichen Studium zugelassen werden müßten, daß 14 Siehe hierzu Nr. 3 in Band 3 dieser Ausgabe.
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man die Unterstützung der Frauen nicht mehr entbehren könne. Bei der Zuchthausvorlage erklärte Herr Dr. Bachem noch: Wir sind bereit, den Frauen zu gestatten, daß sie in gewerkschaftliche Organisationen eintreten, weil wir das nicht mehr verhindern können. Da heute Millionen von Frauen in Industrie und Gewerbe tätig sind, müssen wir ihnen auch gleiche Rechte mit den Männern einräumen, aber ihnen das politische Vereinsrecht zu geben, das fällt uns nicht ein. In diesem Sinne hat man auch noch vor wenigen Jahren in Bayern gestimmt. Jetzt aber ist das Zentrum bereit, den Frauen auch die politischen Rechte auf dem Gebiete des Vereins- und Versammlungswesens zu geben, wie Herr Dr. Heim für das politische Stimmrecht der Frauen eingetreten ist. Wir haben also allen Grund, uns nicht überraschen und übertrumpfen zu lassen. Wir müssen beizeiten fordern und dafür sorgen, daß wir die Frauen für unsere Organisationen gewinnen, und da wir die besten Gründe für uns haben, so wirksame Gründe, wie keine andere Partei, können wir mit größtem Erfolg diese Agitation betreiben und müssen sie betreiben. (Sehr gut!) Es wird vielleicht mancher von Ihnen bei meinen Ausführungen sich sagen, was Du da sagst, klingt recht wenig erfreulich und ermutigend. Danach hätten wir womöglich wenig Aussicht, rascher weiter zu schreiten und allmählich die Oberhand zu bekommen. Durchaus nicht. Ich will Ihnen jetzt die Kehrseite der Medaille zeigen. Ich habe schon gesagt, die kapitalistische Wirtschaftsordnung ist der Boden, auf dem das moderne Proletariat geboren ist, der mit Notwendigkeit den Sozialismus und die Sozialdemokratie erzeugt hat. Je mehr Proletarier aber heranwachsen, je größer wird das Feld für unsere Agitation. Denn von Rechts wegen, von Verstandes und Natur wegen sollte jeder Arbeiter und jede Arbeiterin Sozialdemokrat sein. (Sehr richtig!) Das sind also die natürlichen Kandidaten für unseren Parteizuwachs. Es hängt nur von uns ab, von unserer Tätigkeit, unserem Geschick, unserem Fleiß, unserer Opferwilligkeit, unserer Begeisterung, wie weit wir unter ihnen neue Anhänger werben können. Von 1882 bis 1895 ist die Zahl der gewerblichen Arbeiter von 8 Millionen auf 10 Millionen Köpfe gestiegen, also um 25 Proz. Die gesamte Bevölkerungszunahme hat nur 14V2 Proz. betragen. Die weiblichen Arbeiter haben sich sogar um 40 Proz. vermehrt. Es gehört keine Prophetengabe dazu, um vorauszusagen, daß als Ergebnis der neuen Gewerbezählung sich eine weit stärkere Vermehrung des Proletariats herausstellen wird, namentlich auch der Arbeiterinnen. t766] Das ist die natürliche Quelle, aus der wir neue Kraft zu schöpfen haben. Zugleich mit dieser Entwickelung geht naturgemäß der weitere Rückgang - über das Maß streite ich nicht - der kleinen Gewerbetreibenden, der Mittelschichten vor sich. Die selbständigen Gewerbetreibenden sind schon bei der letzten Zählung um 7 Proz. zurückgegangen, während die Zahl der Arbeiter um 25 Proz. gewachsen ist. Das beweist, wie die moderne Entwickelung revolu276
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tioniert. Dazu kommt, daß das Klassenbewußtsein der Arbeiter notwendig dadurch gestärkt wird, daß ihre Kämpfe immer heftiger werden. Dadurch werden sie auch selbstverständlich immer mehr in unsere Reihen geführt. Auch der sogenannte neue Mittelstand kommt immer mehr in entschiedene Opposition zu dem Unternehmertum. Dieser neue Mittelstand, der aus den kaufmännischen und technischen Angestellten in Fabriken, Gewerbe, Landwirtschaft, Handel und Verkehr besteht, ist heute noch vornehmlich eine Stütze der herrschenden Klassen. Sie berufen sich darauf, daß, wenn der alte Mittelstand zurückgehe, ein neuer Mittelstand emporkomme in den Technikern, Ingenieuren, Architekten, Mechanikern, Werkführern, kaufmännischen Angestellten usw. Die Zahl dieser Personen ist von 1882 bis 1895 von 200 000 auf über 600 000 Köpfe gestiegen. Worauf ich schon vor 30 Jahren hinwies1766^, daß diese geistigen Kräfte in die Opposition gedrängt werden, das bewahrheitet sich heute immer mehr. Die Konkurrenz unter diesen Leuten wächst immer mehr. Man redet mit Recht heute von einem sogenannten Stehkragenproletariat. Diese Leute, die nach der neuesten Mode gekleidet sein müssen, um nach außen zu repräsentieren, haben häufig einen leeren Magen, der oft viel leerer ist als bei manchem Proletarier. (Sehr richtig!) Wir finden also auch in diesen Kreisen des Proletariats der Intelligenz unsere Rekruten. Nach dieser Richtung die Agitation zu lenken, ist ein Gebot der Notwendigkeit für uns und wir können es mit Erfolg, wenn wir in der entsprechenden Weise vorgehen. Weiter kommt uns zugute die wachsende Unzufriedenheit über die Verteuerung aller Lebensmittel. Diese hängt zusammen: Erstens mit der Steigerung der Bevölkerung, ferner damit, daß die Länder, die bisher uns die Lebensmittel lieferten, mehr oder weniger ihre Erzeugnisse selbst brauchen und endlich, weil auch bei uns, durch die Schutzzölle begünstigt, die Bauernschaft die Lebensmittelpreise hochhalten kann. Und die Organisation der Landwirte, die große Fortschritte gemacht hat, sucht weiter die Lebensmittelpreise in die Höhe zu treiben. Wir haben künftig nur noch mit höheren Lebensmittelpreisen zu rechnen, nicht mehr mit geringeren. Die landwirtschaftlichen Genossenschaften, die man vielfach auch in unseren Reihen mit günstigen Augen ansieht, haben keinen anderen Zweck und können ihn nicht haben, als in erster Linie die gemeinsame Organisation zur Verteuerung der Lebensmittel auszunützen. (Sehr richtig!) Wenn sie erst einmal den ganze Viehverkauf in der Hand haben werden, dann werden die Fleischpreise noch ganz andere werden. Ebenso gehen die Wohnungsmieten rapid weiter in die Höhe. Weiter wird die Unzufriedenheit gesteigert durch die fortgesetzte Erhöhung der Steuern und die Einführung neuer Steuern auf die notwendigsten Massengebrauchsartikel. Wir haben im Augenblick - das ist kein Geheimnis mehr - trotz des neuen Zolltarifs, trotz der 180 Millionen aus den neuen Steuern das Bedürfnis nach neuen 250 Millionen 277
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Steuern, d.h. nicht wir, aber die Herren da oben haben das Bedürfnis. Die können ohne neue Steuern ihre Militär-, ihre Flotten- und ihre Kolonialpolitik nicht fortsetzen. Das Volk aber muß bluten, das kommt der Masse zum Bewußtsein. Das haben wir agitatorisch auszunutzen. Weiter kommt hinzu, daß durch die neuen Zölle die Grundpreise bedeutend gestiegen sind, so daß es jetzt wieder rentabel ist, Grund und Boden zu besitzen. Unsere besitzenden Klassen haben in den letzten 20 Jahren ungeheure Reichtümer erworben. H e r r Dernburg hat mit Recht davon gesprochen, daß Deutschland in dem erwähnten Zeitraum um 30 000 Millionen reicher geworden ist. Die oberen Klassen schwimmen im Ueberfluß, sie lassen sich in die gewagtesten Spekulationen ein, daher auch die Kolonialpolitik. Sie wollen für ihr Kapital neue Anlagen haben, und so suchen sie ihr Vermögen auch in Landbesitz anzulegen. Man fängt an, die Bauern auszukaufen. Ich erinnere an den konservativen Antrag im preußischen Landtag, in dem darauf hingewiesen wird, wie gefährlich für den Bauernstand die Zunahme des Großgrundbesitzes ist. Diese großen Kapitalisten sind schon zufrieden, wenn sie auch nur eine Rente von 1 bis 2 Proz[ent] haben. Ihren Eignern liegt vor allem daran, einen schönen Herrensitz und große Jagdgebiete zur Verfügung zu haben. So ist also nach allen Richtungen hin der soziale Umbildungs- und Entwickelungsprozeß vorhanden, und das ist ein sozialer Revolutionierungsprozeß. Wir finden also überall neue Wurzeln unserer Kraft und Gelegenheit genug, mit unserer Aufklärungsarbeit einsetzen zu können. Wir müssen nur viel energischer agitieren und organisieren wie bisher. Vor allem ist auch die Aufklärungsarbeit an uns selbst notwendig. Die ist bisher verhältnismäßig vernachlässigt worden. Ich freue mich über den Bildungs- und Aufklärungsdrang, der überall in den Massen hervortitt, über den Hunger nach Wissen, nach Erkenntnis, nach höherer Bildung. Der muß von uns nach Kräften unterstützt werden. Alle Mittel müssen angewandt werden, um ihn zu fördern. (Lebhafte Zustimmung.) Wir haben demnächst das 60jährige Jubiläum des Erscheinens des „Kommunistischen Manifestes", jener wunderbaren Schrift, die ein Evangelium für den Sozialismus bedeutet und die nicht einmal, nein zehnmal zum gründlichen Verständnis gelesen werden muß. Notwendig ist es weiter, gewisse Lassallesche Agitationsschriften hervorzuholen und wieder zu lesen. (Lebhafte Zustimmung.) Es sind hier insbesondere im Hinblick auf unsere bevorstehenden Kämpfe seine Schriften zur Verfassungsfrage, das Arbeiterprogramm und die Antwort an das Leipziger Arbeiterkomitee zu studieren. 17671 (Lebhafte Zustimmung.) Jeder von Euch müßte diese Schriften auswendig kennen, sie bilden eine unerläßliche Grundlage unseres Wissens. Weit mehr als bisher müssen aber auch die Frauen und die Jugend in den Kreis unserer Agitation gezogen werden. Es muß ferner im Sinne der nächsten Forderungen unseres Programms die intensivste 278
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Tätigkeit in den Parlamenten, im Reichstag, im Landtag und in den Gemeinden entfaltet werden. Man spricht immer von unserer rein negierenden Tätigkeit, nun, Parteigenossen, eine gute scharfe Kritik in einer Rede, das ist oft eine vortreffliche positive Tätigkeit. (Lebhafte Zustimmung.) Ich will damit nicht unsere andere positive Tätigkeit herabgesetzt wissen, aber die Behauptung, wir negierten zu viel, trifft man auch in Parteikreisen. Das ist nur ein Beweis, wie sich Parteigenossen Beschuldigungen der Gegner suggerieren lassen. Wenn auch aus Oesterreich seitens dortiger Genossen solche Stimmen laut werden, so sage ich: Herr vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun! Wenn eine Anklage unwahr ist, dann die, wir ließen es an positiver Tätigkeit fehlen. In nächster Zeit kommt der Leitfaden des Genossen David heraus. [768] Ich habe mir sagen lassen, daß er sehr gut ausgefallen sei. Ich kann also nur auf das dringendste empfehlen, diesen gründlich zu studieren und danach zu handeln. Ferner erscheint in einigen Monaten die Zusammenstellung aller Anträge und Gesetzentwürfe, die die Reichstagsfraktion von 1869 bis jetzt im Reichstag einbrachte/ 7 6 8 3 ' Diese Zusammenstellung hat im Auftrage des Parteivorstandes der Parteigenosse Katzenstein übernommen. Die meisten von Euch werden staunen über das, was an positiver Tätigkeit die Fraktion leistete. Viele unserer Anträge, die die Gegner ehemals auf das entschiedenste bekämpften, sind später von ihnen als eigene Gedanken aufgenommen worden und wurden Gesetz. (Hört! hört!) Das alles müßt Ihr beachten, das müßt Ihr lesen, damit könnt Ihr den Gegnern dienen. Auch manchem unserer auswärtigen Genossen, die es fertig bringen, über unsere angebliche negierende Tätigkeit zu sprechen, werden wir die Schrift schicken, damit sie sehen, was wir positiv getan haben. Ich denke, sie könnten sich manches daraus zur Lehre nehmen, die sie jetzt anderen geben möchten. (Heiterkeit.) Ich verweise hier unter anderem auch auf das Broschürchen, was der Parteivorstand über unsere Stellung zur Versicherungsgesetzgebung herausgegeben hat. 176,1 Darin findet Ihr eine Masse Material und die Gründe, die uns bestimmten, so zu stimmen wie wir damals in der Frage der Versicherungsgesetzgebung gestimmt haben. Ihr werdet dann finden, wie wir damals stimmen mußten, denn politische Handlungen lassen sich nur aus den Umständen erklären und rechtfertigen, unter denen sie vorgenommen wurden. (Sehr richtig!) Scheinbar haben sich nach den verschiedensten Richtungen hin die Umstände für uns verschlechtert. Aber nur scheinbar. In Wirklichkeit sind zahlreiche neue Quellen unserer Kraft entstanden und die Situation hat sich verbessert und verbessert sich von Jahr zu Jahr. Wäre es anders, dann wäre unsere ganze Arbeit, unser ganzes Streben, unser ganzes Dasein nutzlos. Wenn wir Alten, die wir ins fünfte Jahrzehnt hinein arbeiten, den Mut nicht sinken lassen, wäre es eine wahre Schande für Euch Jungen, wenn Ihr bange werden solltet. (Stürmischer Beifall, vielfache Rufe: Wir 279
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sind nicht bange!) Ihr braucht auch nicht bange zu sein. Ich erwähne es nur, weil hier und da pessimistische Aeußerungen laut wurden, als hätten wir Grund, nicht siegesfroh in die Zukunft zu sehen. Laßt Euch also nicht ins Bockshorn jagen. Seht Euch die Situationen an, unter denen wir gehandelt haben. Das wäre eine elende Partei, die nicht eine Niederlage, eine Scheinniederlage vertragen könnte. Es gab schlimmere Situationen für uns. 1877 standen wir auf einem gewissen Höhepunkte, wir hatten 493 000 Stimmen bekommen; auf 100 Wähler fielen 9,1 sozialdemokratische Stimmen, auf 100 Wahlberechtigte 5,1 Sozialdemokraten, 13 Mandate gehörten uns. Dann kam die Auflösung wegen des Sozialistengesetzes und eine Hetze, ganz ähnlich, wie sie jetzt gegen uns inszeniert worden ist. Wir gingen in unserer Stimmenzahl auf 437 000 zurück, auf 100 Wähler hatten wir nur noch 7,6 sozialdemokratische Stimmen, auf 100 Wahlberechtigte nur noch 4,8 und wir sanken auf 9 Mandate. Es kam 1881 die erste Wahl unter dem Sozialistengesetz. Wir konnten keine Flugblätter verteilen, in den meisten Wahlkreisen keine Agitation treiben, Hunderte unserer Agitatoren und Stimmzettelverteiler wurden ins Gefängnis geworfen, es wurde ihnen durch Dekret das Recht abgesprochen, Flugschriften zu verteilen. Selbstverständlich sanken wir weiter und zwar auf 312 000 Stimmen. Von 100 Wählern, die eingeschrieben waren, stimmten nur 3,4 für uns. Wir eroberten trotzdem 13 Mandate. Damit war der Tiefstand erreicht und damit war auch tatsächlich das Sozialistengesetz beseitigt, es ist nicht erst 1890 gefallen, sondern bereits am 26. Oktober 1881. Als wir unter den denkbar ungünstigsten Umständen auf 312 000 Stimmen und 13 Abgeordnete kamen, fielen die Gegner fast auf den Rücken; sie mußten sich sagen: Mit der Partei können wir nicht fertig werden. Wir sind dann von Wahlperiode zu Wahlperiode gestiegen. 1884 hatten wir 550 000 Stimmen und 24 Mandate; dann kam die Karnevalswahl von 1887; wir stiegen auf 763 000 Stimmen, aber es sank die Zahl der Mandate auf 11. Das hat uns nicht geschadet. Es kam die Wahl von 1890, wir bekamen nunmehr 1 427 000 Stimmen. Von 100 Wählern, die sich an der Wahl beteiligten, erhielten wir 17,9, von den Wahlberechtigten 14,1, die Zahl der Abgeordneten stieg auf 35. 1893 erhielten wir 1 787 000 Stimmen und die Zahl der Abgeordneten stieg auf 44, von 100 abgegebenen Stimmen erhielten wir 23,3, von 100 eingeschriebenen Wählern 16,8.1898 erhielten wir 2 107 000 Stimmen. Von 100 abgegebenen Stimmen erhielten wir 27,2, von 100 eingeschriebenen Wählern stimmten 18,4 für uns, die Zahl der Abgeordneten stieg auf 56. 1903 erhielten wir 3 010 000 Stimmen, von 100 beteiligten Wählern stimmten 31,7 für uns, von 100 eingeschriebenen Wählern rund 24; die Zahl der Abgeordneten stieg auf 81. [769a] Damals war es Herr Trimborn, der in einer Zentrumsversammlung in Köln ausrief: „Meine Herren! Denken Sie, 3 Millionen Stimmen haben die Sozialdemokraten, wo soll das 280
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hinaus?" D e r Schreck über den Ausfall der Wahl von 1903 war nicht nur Herrn Trimborn in die Glieder gefahren, sondern dem gesamten Bürgertum. U n d aus Angst vor einem noch größeren Sieg unserer Partei beteiligte sich das Bürgertum so eifrig und so stark an der letzten Wahl. (Sehr richtig!) Herr Fischbeck hat am Sonntag im Zirkus Busch gesagt: „Das Bürgertum hat gezeigt, daß es mit der Sozialdemokratie fertig werden kann." (Große Heiterkeit.) Es wird nicht mit uns, aber wir werden mit ihm fertig, da mag es machen, was es will, und mag es dauern, so lange es will. Das ist das eiserne Muß der geschichtlichen Entwickelung. (Zustimmung.) Bei der letzten Wahl sank unsere Wählerzahl, da eine bedeutend stärkere Beteiligung war, von 100 abgegebenen Stimmen auf 28,9, dagegen stieg unser Anteil an dem Prozentsatz der Zahl der eingeschriebenen Wähler auf 24,5 Proz. Trotz des Wahlausfalls hat sich ein günstigeres Verhältnis gezeigt als zuvor. Freilich, würde es mit rechten Dingen zugehen, so müßten wir eine ganz andere Zahl von Mandaten haben, dann müßten wir heute 116 statt 43 haben. Die hauptsächliche Zunahme der proletarischen Bevölkerung sehen wir heute in den großen Städten, allein hier wagt man die Wahlkreisgeometrie nicht anzutasten. Was würden wir darum hier aus Berlin herausholen, wenn die Wahlkreise gerecht verteilt würden; die Zahl der ostelbischen Junker im Reichstage würde auf die Hälfte zusammenschmelzen, sobald nur eine gerechte Wahlkreiseinteilung erfolgte. Wir haben im Ruhrrevier, wir haben in Berlin und Umgegend Wahlkreise mit 400 0 0 0 , 5 0 0 0 0 0 , 7 0 0 000 und mehr Einwohnern, das heißt Wahlkreise, die vier- bis achtmal so groß sind, wie die Wahlkreise in Ostelbien. Nun, in der Partei ist von jeher der Stundpunkt vorherrschend gewesen, daß die Zunahme der Stimmen wichtiger ist, als die Zahl der Mandate. (Sehr richtig!) Man zählt die Zahl der Anhänger, man sieht, wie es weiter und weiter glimmt, bis eines Tages die helle Flamme hervorzüngelt. (Sehr gut!) In den Stichwahlen haben sich bekanntlich fast alle Parteien einschließlich der Freisinnigen gegen uns verbunden. In einer Anzahl von Kreisen ist auch das Zentrum gegen uns vorgegangen, obwohl es nach Lage der Dinge ein Interesse daran hat, unsere Fraktion zu stärken, um gegebenen Falles seine eigene Macht zu vergrößern. In nicht weniger als elf Kreisen verzichteten die Freisinnigen auf eigene Kandidaten und unterstützten reaktionäre Kandidaten gegen uns, und bei 32 Stichwahlen haben sie einmütig gegen uns gestimmt und auf diese Weise der Linken 43 Mandate entrissen. Daher kommt es, daß die Zahl der linksstehenden Abgeordneten erheblich geringer ist als im Jahre 1903. Die Herren Freisinnigen haben ihren reaktionären Pferdefuß gezeigt, ihnen in erster Linie ist diese Schwächung der Linken zuzuschreiben. (Sehr richtig!) Aus dieser Wahl ist das schöne Blockgebilde zustande gekommen, das die Liberalen der verschiedenen Richtungen, einschließlich der Süddeutschen Volkspartei und die gesamte Rechte ein281
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schließlich der extremsten Agrarier und der wütendsten Antisemiten umfaßt, eine politische Mißgeburt allerersten Ranges (Heiterkeit und Sehr gut!), eine politische Mißgeburt, wie niemals in irgend einem Lande etwas Aehnliches zustande gekommen ist, eine künstliche Zusammenschweißung von Elementen, die sich innerlich todfeindlich gesinnt sind, die auseinandergehen wie Feuer und Wasser, die nur in dem einen Punkt zusammenstimmen, auf keinen Fall wieder das Zentrum zur ausschlaggebenden Partei werden zu lassen. [678a] (Sehr richtig!) Das ist das ganze Programm des Blocks, darauf richtet sich seine ganze Tätigkeit. Was ist die notwendige Folge einer derartigen Politik? Herr Dr. Wiemer, eine der Leuchten der freisinnigen Partei, hat Sonntag im Zirkus geäußert, der Block bedeute nur ein Zusammengehen von Fall zu Fall. Ja, damit wäre Fürst Bülow sehr wenig gedient. (Sehr wahr!) Fürst Bülow kennt ja die heterogenen Elemente, aus denen der Block zusammengeschweißt ist; um ihn etwas zusammenzukitten, hat er die Führer der Blockparteien, von dem Vertreter der äußersten Linken Herrn v. Payer bis zum Vertreter der äußersten Rechten Herrn von Oldenburg, der sein Freund und zugleich der reaktionärste Junker ist, nach Norderney zur Wallfahrt antreten lassen. (Heiterkeit.) Fürst Bülow als neue Pythia hat sich dort auf den Dreifuß gesetzt, was dabei herausgekommen ist, wissen wir vorläufig nicht. Die Herren beobachten sorgfältig Schweigen, und ich glaube, sie tun ganz gescheit daran. (Heiterkeit.) Wenn gesagt würde, was dort verhandelt wurde, käme wahrscheinlich recht Wunderbares zutage. (Sehr gut!) Herr v. Payer hatte schon einmal in diesem Frühjahre die Ehre, von dem Fürsten Bülow zu einer Unterhaltung gewünscht zu werden. Damals soll er zum Reichskanzler gesagt haben: Das Reden nütze nichts, man wolle auch praktische Maßregeln sehen. Ach so, meinte Fürst Bülow, Sie wollen nicht bloß die Speisekarte sehen, es soll bald die Suppe aufgetragen werden! (Heiterkeit.) Ganz recht! sagte Payer, die Suppe und dann auch bald das Fleisch! Nun, auf Fleisch wird man lange warten können. (Heiterkeit.) Woher es kommen sollte, möchte ich wissen; in Wirklichkeit geht doch der Block nach allen Richtungen hin auseinander. (Sehr richtig!) Alle Oppositionen müssen die Freisinnigen unterdrücken, wenn der Block halten soll. Daher hat man auch in der famosen Zirkusversammlung einen Antrag auf Abschaffung der Lebensmittelzölle rasch unter den Tisch fallen lassen, damit kein Zankapfel zwischen die Blockparteien geworfen wird. (Sehr gut!) Es ist ganz so, wie die „Kreuzzeitung" das Treiben charakterisiert, daß der politische Kuhhandel nur selten mit solcher Ungeniertheit betrieben worden ist, wie in den Tagen der Blockherrlichkeit, und Herr Traeger 15 , einer der alten braven Leute, die noch auf liberalem Standpunkte stehen, hat die Blockehe als eine Paarung
15 Siehe hierzu Nr. 92 in Band 9 dieser Ausgabe. 282
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zwischen einem Karpfen und einem Kaninchen bezeichnet. (Große Heiterkeit.) In der Tat ist es so. Die Rechte ist Anhänger der Polizeiherrschaft, der Beamtenherrschaft, Feind eines geordneten Gerichtswesens, kurz Feind aller Kulturförderung, wie sie bisher der Liberalismus wenigstens scheinbar zu vertreten gesucht hat. D i e Rechte ist ferner extrem agrarisch und schutzzöllnerisch, Feind einer direkten Besteuerung, Anhänger agrarischer Liebesgaben und Bevorzugungen aller Art. Wie will man da zusammenarbeiten? Das einzige, wo sie zusammengehen können - und darauf ist es abgesehen - ist, daß die Herren Liberalen nach Möglichkeit Militär-, Marine- und Kolonialforderungen bewilligen. Dann müßten sie natürlich auch die neuen Steuern bewilligen. Darauf geht es hinaus. U n d sie werden immer weiter gehen, weil das Zentrum als schwarzes Gespenst im Hintergrund steht. Wenn sie nicht bewilligen, dann wird das Zentrum kommen und sagen: Hier sind wir! Ist es den Herren gefällig? (Große Heiterkeit.) Wenn es im Reichstage und im Landtage Parteien gibt, die in allen Hauptpunkten zusammengehören, dann sind es Zentrum und Konservative. (Sehr richtig!) In der Schulpolitik, in der Kirchenpolitik, in allen Fragen der Kunst, in der Zoll- und Handelspolitik, in der Gewerbepolitik, in der Agrarpolitik, überall sind Zentrum und Konservative ein Herz und eine Seele. (Sehr richtig.) Das ist das natürliche Bündnis, seitdem das Zentrum aufgehört hat, Oppositionspartei zu sein, obwohl es sich manchmal noch den Anschein gibt. Tatsächlich gibt es auch eine ganze Reihe Konservativer, die sehr mißtrauisch dem B l o c k gegenüberstehen und sich nach ihren schwarzen Brüdern sehnen. (Heiterkeit.) Man hat sich gewundert über die Rede des Herrn Spahn, der auf einmal, wie vom Himmel kommend, predigt, wir müssen die Lebensdauer unserer Panzer verkürzen, wir müssen unsere Ausrüstung zur See vergrößern, wir müssen alles mögliche für die Marine tun, was uns jährlich 40 Millionen Mark mehr kostet. D a lassen die Herren Blockbrüder von der Linken schwermütig, wie gewisse Tiere, die Köpfe hängen (Heiterkeit) und fragen: Was will Spahn? Was hat er vor? Woher hat er seine Weisheit? (Heiterkeit.) Ja, hat man denn in den letzten Jahren geschlafen? Alles, was Herr Spahn jetzt fordert, ist doch schon seit Jahren vom Flottenverein gefordert worden. N u r haben die Spahn und Genossen das entschieden bekämpft. Und noch bei der letzten Flottenvorlage hätten sie alle weitergehenden Anträge niedergestimmt. Jetzt ist auf einmal über Herrn Spahn die Erleuchtung gekommen, nachdem man seine Partei von der Regierungspolitik ausgeschaltet hat. Die Partei steckt die Tritte, die sie bekommen hat, ruhig ein nach der Manier gewisser Leute, und bittet: Herr! N i m m uns in Gnaden an. Wir werden alles wieder gut machen, was wir gesündigt haben! (Große Heiterkeit.) Herr Spahn war auch einer der vom Glück Begünstigten, nachdem das Zentrum zur Herrschaft gelangt war. Ueberhaupt 283
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handelt es sich in dem ganzen Kampf zwischen den bürgerlichen Parteien nur um den Kampf um die Beute. Die Franzosen sagen: „ote-toi de là que je m'y mette." (Geh' weg von da, damit ich mich hinsetzen kann.) (Heiterkeit.) Man hat gerade den Führer des Zentrums, Herrn Spahn, damit geehrt, daß man ihn zum Reichsgerichtsrat machte, und schickte ihn dann als Präsident an das Oberlandesgericht nach Kiel, ihn, den Führer des katholischen Zentrums in ein protestantisches Land. Das scheint manchem nichts zu bedeuten. Aber wissen Sie denn, wer in Kiel wohnt? Dort wohnt der Chef der deutschen Flotte, Prinz Heinrich. Dort wohnt die ganze Admiralität. Herr Spahn müßte sich geradezu Watte in die Ohren stopfen, um nicht zu hören, wie dort beständig über die Notwendigkeit einer Vergrößerung der Flotte und vieles andere gesprochen wird. Jetzt fallen ihm alle diese Lehren ein, und da betont er die Notwendigkeit einer größeren Flotte. Jetzt kommen die Nationalliberalen und sagen: Wir müssen noch mehr bewilligen, und nun geht das Wettrennen los zwischen Zentrum und Blockparteien. Wie weit die übrige Linke mitmachen kann, das wollen wir abwarten. Aber wenn die alte Regierungsmehrheit mit Konservativen und Zentrum wieder hergestellt werden sollte, müßte Fürst Bülow sein Köfferchen packen und auf Reisen gehen. (Heiterkeit und Sehr gut!) Auf der anderen Seite kann man fragen, ob eine Partei, wie die Linksliberalen, eine solche Selbstprostitution betreiben könne, wie ich sie geschildert habe. Sie müssen doch aus alter Erfahrung wissen, daß, wenn sie mit den Konservativen aus einer gemeinsamen Schüssel essen, die Konservativen den großen Löffel haben, so daß die Freisinnigen immer zu kurz kommen. (Sehr gut!) Es ist ein politisches Gesetz - das sollten auch wir uns merken - , daß, wenn Parteien zusammenkommen, die nicht zusammengehören, ist es immer die Linke, die dabei einbüßt, die die Opfer an ihrer Ueberzeugung bringen muß, nicht aber die Rechte. (Sehr richtig!) Die Rechte gibt in wesentlichen Dingen nichts nach, die Herren sind zu selbständig, sie wissen, was sie für die Hohenzollern bedeuten; ich habe Respekt vor diesen Junkern. Das sind Männer, die treten für ihre Ueberzeugung ein und erklären unter Umständen der Regierung den Krieg. Die Minister können uns sonst was, sagte Herr von Diest und klopfte an eine gewisse Körperstelle. (Heiterkeit.) Die Leute lasse ich mir gefallen, die haben Rückgrat 16 und eine goldene Rücksichtslosigkeit, aber die Liberalen nicht. (Sehr wahr!) Sie winseln vor dem Fürstenthron und überbieten sich in Loyalität. So auch in der letzten Versammlung im Zirkus Busch. Wenn der Kaiser darüber nicht gelacht hat - er muß zu Tränen gerührt sein. (Stürmische Heiterkeit.) Hätten die Liberalen ein wenig Geschichte im Kopf, dann müßten sie wissen, daß es jetzt gerade hundert Jahre her sind, wo 16 Siehe hierzu Nr. 170 in Band 9 dieser Ausgabe. 284
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Friedrich Wilhelm III., als der Staat unter den furchtbaren Schlägen eines Napoleon zusammengebrochen war, genötigt wurde, liberalen Männern, die er innerlich haßte, die Regierung anzuvertrauen; es sind hundert Jahre, daß das preußische Volk ohne Revolution Forderungen durchgesetzt bekam infolge der Niederlage des Staats, die es sonst nicht ohne Revolution bekommen haben würde. Es sind hundert Jahre her, da wurden die Stein, die Schön, die Hardenberg, die Gneisenau und Scharnhorst in die Regierung berufen, die den alten Staat von Grund aus umkrempelten, da kam die liberale Aera ohne Konstitution, wie Preußen sie nie wieder gehabt hat. Aber die Todfeinde dieser liberalen Aera waren die Junker, gegen die dann 1848 das preußische Volk sich erheben mußte, um das wieder zu erobern, was man ihm nach 1815 wieder genommen hatte. Das sollte doch jeder liberale Mann in Preußen wissen, das sollte tief in das Herz eines jeden eingeschrieben sein. Man mag so schlecht denken, wie man will, über die Ziegler, die Waldeck, die Hoverbeck, aber heute würden sie sich über die jetzigen Liberalen im Grabe umdrehen, obwohl auch sie keineswegs Vertreter radikaler Forderungen waren. Und ist nicht der Kampf im Landtage forgesetzt gegen das Junkertum gerichtet gewesen bis auf den heutigen Tag? Was ist denn auf dem Gebiete der Schulpolitik geschehen? Den Studt hat man weggeschickt, Holle hat man kommen lassen, ein neuer Faden, aber die alte Nummer wird weiter gesponnen. Die konservative Kirche, die konservative Schule, sie sind die Züchtungsanstalten für die Verherrlichung der Hohenzollernschen Monarchie, und die müssen aufrecht erhalten werden. Hier etwas hoffen, das können nur die Leute, von denen Ziegler einmal sagte, sie haben das Denken verlernt.[770] Freilich, die Erklärung ist da. Die Liberalen haben alles Selbstvertrauen verloren, sie haben den Mut verloren, sie sind müde zu kämpfen, sie haben ihren Anhang von Wahlperiode zu Wahlperiode schwinden sehen, da möchten sie wenigstens den Schein der Macht retten, wenn sie die wirkliche Macht nicht haben können. (Sehr richtig!) Es sind 44 Jahre her, daß das preußische Abgeordnetenhaus unter dem noch heute bestehenden Wahlsystem bis auf 11 oder 13 Konservative liberal zusammengesetzt war. So hat damals die Bourgeoisie gewählt, die Zahl der Liberalen ist seitdem kleiner und kleiner geworden, jetzt sind es noch 29 Freisinnige, abgesehen von den Nationalliberalen, die immer reaktionärer geworden sind. Die ganze preußische Bourgeoisie ist reaktionär geworden, und je mehr wir wachsen, desto größer wird ihre Angst, desto reaktionärer wird sie. (Sehr richtig!) Man hat auf dem freisinnigen Parteitag eine Resolution zugunsten des allgemeinen Wahlrechts angenommen, in der es heißt, die Fraktion solle, „wie bisher", mit allem Nachdruck für die Verwirklichung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts eintreten. Ja, wer schreit da nicht vor Staunen laut auf. Wo ist denn mit allem Nachdruck für das allgemeine, gleiche, direkte 285
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und geheime Wahlrecht seitens der Freisinnigen bisher gekämpft worden? Das Volk könnte, wenn es sich auf die Freisinnigen verläßt, bis an den Sankt N i m merleinstag warten, und es würde immer noch nicht das gleiche Wahlrecht haben. (Sehr gut!) Nein, diese Liberalen haben alles Streben, alle Liebe, alle Achtung vor dem Volke verloren, sie wollen mit dem Volke nichts zu tun haben, weil sie sonst Forderungen im Landtag stellen müßten, die sie nicht vertreten möchten. Freilich, so ist es schon der alten Fortschrittspartei ergangen. Im O k t o b e r werden es 44 Jahre, da schickte eine große Arbeiterversammlung in Leipzig Fritzsche und Vahlteich nach Berlin, um an O r t und Stelle mit den Führern der Fortschrittspartei zu verhandeln und zu hören, was für eine Antwort sie ihnen geben würden auf zwei Forderungen; einmal den Beitritt zum Nationalverein den Arbeitern zu erleichtern durch Einführung von Monatsbeiträgen, weiter die Forderung der Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts für die Landtage. Und, verehrte Genossen, wie fiel die Antwort aus? Nach beiden Seiten ablehnend. (Hört! hört!) D a hieß es - ich war damals an der Bewegung beteiligt - ich war eine Zeitlang selbst im Komitee - , was fällt Euch ein? Jetzt, wo wir mit Bismarck im schwersten Kampfe liegen, sollen wir das allgemeine Wahlrecht fordern? Das wäre die größte Torheit, die Kammer ist ja so oppositionell, wie Ihr es nur wünschen könnt, wartet nur, Ihr werdet das Wahlrecht schon bekommen. Wenn nicht Bismarck aus gewissen Gründen das Wahlrecht für den Reichstag hätte geben müssen, wir hätten es wahrscheinlich bis heute noch nicht. (Sehr gut!) Ich habe schon in Stuttgart gesagt: Ist es wahr, daß wir niedergeritten sind? 17 Ist es wahr, daß das Bürgertum mit der Sozialdemokratie fertig werden kann? Ei, dann gebt doch das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Stimmrecht zum Landtage. Aber das lassen die Liberalen schön bleiben. Man sucht mit allgemeinen Redensarten die Massen betrunken zu machen. Ich hoffe, daß der Wahlrechtskampf, den wir in Preußen hervorrufen, den Herren gründlich zeigt, daß sie auch in bezug auf die eigenen Anhänger sich geirrt haben. Es ist von großer Wichtigkeit, unser Verhalten so einzurichten, daß wir in diesem Kampf auch die liberalen und katholischen Arbeiter auf unsere Seite bekommen und ihnen zeigen, daß sie von ihren Führern nichts zu erwarten haben. Auch das Zentrum ist nicht für das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Landtagswahlrecht zu haben; das haben die Erklärungen einer großen Zahl namhafter Zentrumsführer, wie Dr. Bachem, die Grafen Strachwitz, von Spee, von Ballestrem usw., bewiesen. Das Zentrum kennt keine Prinzipien, es kennt nur Zweckmäßigkeitsgründe. In Bayern und Baden war es für das allge17 Siehe hierzu Nr. 59.
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meine Stimmrecht - warum? Weil nur dadurch seine Herrschaft dort gesichert werden konnte. I n Württemberg, w o das allgemeine Stimmrecht besteht, sang der F ü h r e r des Zentrums, H e r r Gröber, bei der Verfassungsreform ein anderes Lied, da empfahl er für den Ersatz der Privilegierten in der zweiten K a m m e r die Wahl nach Berufsständen, um dem Bürgertum die Mehrheit zu sichern. U n d wie stehen die D i n g e in Preußen? Sehr einfach. D a s Zentrum hat auf G r u n d des Dreiklassenwahlsystems erlangt, was es erlangen kann, erfolgt nicht eine andere Einteilung der Wahlkreise, so hat es auch bei Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts kaum auf mehr Mandate zu hoffen, es müßte aber alsdann eine Anzahl Mandate an Arbeitervertreter abtreten, um die katholischen Arbeiter zu beruhigen. Das Verhalten des Zentrums zur Wahlrechtsfrage ist nicht ehrlich, aber ich halte es angesichts der Taktik, die das Zentrum einschlägt, doch für geboten, zu erklären, daß vor einigen Monaten in der ersten Session des neuen Reichstages einer der konservativsten Leute im Zentrum, Freiherr von Hertling, eines Tages an mich herantrat und erklärte: Ich will Ihnen sagen, daß ich ein entschiedener Anhänger des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts bin. Ich sagte, daß mich das sehr freute und ich wünschte nur, daß seine engeren Klassengenossen denselben Standpunkt einnehmen würden. A b e r bisher haben wir davon in Preußen wenig zu sehen und zu hören b e k o m m e n . D e r L e b e n s z w e c k des Fürsten B ü l o w ist also der K a m p f um seine Stellung. E r m u ß den B l o c k für seine Militär-, Flotten- und Kolonialpolitik seih dienstbar machen oder er ist verloren. N i c h t minder aber auch für seine Steuerpolitik, denn es werden für die erwähnten Z w e c k e in Zukunft große Mittel erforderlich sein. S c h o n jetzt erklärt das Zentrum, wir gehen auf keine Reichseinkommensteuer, auf keine Reichsvermögenssteuer ein, wir lassen uns auch nicht darauf ein, daß die Erbschaftssteuer so ausgebaut wird, daß auch die Kinder und die Aszendenten herangezogen werden, dagegen sind wir für eine Wehrsteuer, die also zuerst wieder die A r m e n drückt, die unglücklichen Krüppel oder die, die als überzählig ausgelost werden. Man denkt ferner an die Besteuerung des Bieres, des Tabaks, an alles mögliche, nur nicht daran, diejenigen zu belasten, die in allererster Linie diese Politik vertreten. U m so größer ist die Aufgabe, die wir zu erfüllen haben. W i r haben Tag und N a c h t auf dem Posten zu sein, wir haben nach allen R i c h t u n gen hin zu arbeiten und aufzuklären. Wie man nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt den Ausfall der Wahlen ansieht, das beweisen die Telegramme, die der Kaiser von Oesterreich 1 8 an den deutschen Kaiser, das König Eduard an seinen N e f f e n schickte, das beweist die ganze bürgerliche Presse, die darüber 18 Franz Joseph I. 287
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jubelte, daß durch die Wahlniederlage der deutschen Sozialdemokratie die internationale Sozialdemokratie getroffen sei. Sie haben sich zu früh gefreut. Es ist ein sonderbarer Widerspruch, wie überhaupt die bürgerliche Welt sich in Widersprüchen bewegt, daß die Diplomaten im Haag' 713 ' zusammensitzen, daß die Fürsten und Minister sich in diesem Sommer so viel gegenseitige Besuche abstatteten und daß trotz alledem die Situation so gespannt ist wie kaum jemals zuvor. Die Rüstungen gehen unablässig weiter. Im Haag ist bisher nur leeres Stroh gedroschen worden, die Diplomaten wissen offenbar nicht, wie sie die Zeit totschlagen sollen. (Heiterkeit und Sehr gut!) An demselben Tage, an dem König Eduard und Kaiser Wilhelm in Kassel zusammen gekommen waren und sich brüderlich umarmten, bestellt die englische Regierung drei neue Panzer vom Muster der Dreadnought. (Heiterkeit.) Der amerikanische Senat beschließt in denselben Tagen vier große Panzerschiffe von ungeheurer Größe bauen zu lassen; alle Kriegsmittel werden verstärkt und verbessert, als sollte morgen der Krieg in Europa losgehen. Und dabei immerfort die öde Phrase trotz aller Rüstungen: Wir sind friedliebend, wir wollen keinen Krieg! Man motiviert die Rüstungen damit, daß man rüste, um den Frieden aufrecht zu erhalten. Allmählich aber gewinnt es den Anschein, als rüste man nur, um den Flotten- und Waffenfabrikanten aller Art fortgesetzt neue Beschäftigung zu geben und ihnen neue Millionen als Gewinn zuzuführen. (Lebhafte Zustimmung.) Daß dieser Zustand auf die Dauer nicht aufrecht erhalten werden kann, brauche ich nicht erst zu sagen. Und dort, wo man im letzten Frühjahr wirklich den Frieden gestiftet zu haben glaubte, wo man alle Weltmächte unter einen Hut gebracht zu haben wähnte, in Marokko 1 9 , geht es auf einmal wieder los, meiner festen Ueberzeugung nach provoziert durch das französische Kapital, durch die Kolonialinteressenten, die dabei gewinnen wollen. Bezeichnenderweise ist Marokko das Land, auf das auch unsere Kolonial- und Weltpolitikphantasten schon längst ihr Auge geworfen haben, um dort einen geeigneten Stützpunkt für die deutsche Kolonial- und Weltpolitik zu erhalten. Und zwar ist es das an der Nordwestküste Marokkos gelegene Casablanca, in dem der neueste Kampf ausbrach, das sie dafür ausersehen hatten. (Hört! hört!) Wir haben sehr die Augen aufzuhalten und zu sehen, was dort vorgeht. (Sehr richtig!) Es versteht sich von selbst, daß wir eine Politik, wie sie uns neuerdings Jaurès in dieser Frage zumutet, unter keinen Umständen mitmachen können. (Sehr richtig!) Das hieße den kleinen Finger reichen, damit man uns die beiden Hände nimmt. (Sehr richtig!) D a könnten wir uns eine schöne Suppe einbrocken. Wir wollen nur wünschen, daß man auch in Berlin in dieser Frage anderer Meinung ist. Freilich sind unsere
19 Siehe hierzu Nr. 50. 288
60 Gegen Hurrapatriotismus und zum Ergebnis der Reichstagswahlen 1907 Freunde in Frankreich in einer unangenehmen Situation, und ich verstehe es, daß sie uns beteiligen möchten, weil sie sich sagen, geteilter Schmerz ist halber Schmerz. (Heiterkeit.) Aber wenn erst einmal die Häfen von Marokko unter die verschiedenen Staaten aufgeteilt sind, dann beginnt nach kurzer Zeit auch das Zanken. Es ist ausgeschlossen, daß wir in dieser Beziehung auch nur das geringste nachgeben und auf eine Politik eingehen, wie sie uns zugemutet wird. (Zustimmung.) Es stehen uns also große, schwere, aber auch erfolgreiche Aufgaben bevor. Wir haben ein Feld der Tätigkeit, wie wir es schöner, allerdings auch opferreicher uns nicht wünschen können. Ich bin überzeugt, daß mit der Opferwilligkeit, mit der Hingabe, mit der Begeisterung, mit der bisher die Partei gearbeitet und seit Jahrzehnten von Schritt zu Schritt vorwärts marschiert ist, sie auch wieder diesen Weg marschieren wird. Wir werden alles das tun, was unsere Kräfte und Fähigkeiten zu tun uns ermöglichen. Wir sind die Kommenden, uns gehört die Zukunft, unsere Arbeiten, unsere Anstrengungen werden gelohnt werden durch den Sieg. Also auf an die Arbeit, Parteigenossen! Unser ist die Zukunft trotz alledem und alledem! (Stürmische, begeisterte Bravorufe und wiederholtes Händeklatschen.) Ebenda, S. 306-323.
IV Schlußwort zur Debatte über die Reichstagswahlen
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19. September 1907 Ich bitte Sie, die sämtlichen zu diesem Punkte gestellten Anträge abzulehnen. (Sehr gut!) Ich füge hinzu, daß von allen Rednern, die Gründe für diese Sache vorgebracht haben, nicht ein einziger mit einer Anschauung gekommen ist, die wir nicht schon früher gehört hätten. Neues ist über diesen Punkt nicht gesagt worden. Ein großer Teil der Redner aber hat, wie mir scheint, allzusehr aus seiner persönlichen Erfahrung heraus und aus der Mißstimmung, die diese Erfahrung erzeugt hat, gesprochen. Nun gibt es aber in der Politik keinen größeren Fehler, als wenn man sich von Leidenschaft und Haß gegen eine Person oder gegen eine Partei leiten läßt. (Sehr richtig!) Hier heißt es kalt und besonnen sein, genau abwägen und kühl urteilen. Es wäre der größte Fehler, wenn wir uns heute für die Zukunft, von der wir gar nicht wissen können, wie sie sich im einzelnen gestaltet, die Hände binden wollten. Am besten wirken in solchen Fällen immer Beispiele. Was heute beantragt worden ist, ist früher sogar einmal beschlossen 289
60 Gegen Hurrapatriotismus und zum Ergebnis der Reichstagswahlen 1907 worden. Dieselben Vorgänge, die zu den vorliegenden Anträgen geführt haben, haben wir auch im J a h r e 1887 erlebt. Damals wurde dasselbe Verfahren von allen bürgerlichen Parteien uns gegenüber beobachtet, und die Erbitterung darüber bei uns war so groß, daß, als wir im O k t o b e r desselben Jahres in Schönwegen bei St. Gallen in der Schweiz - in Deutschland konnten wir wegen des geltenden Sozialistengesetzes nicht zusammenkommen - unseren Parteitag abhielten, der Antrag gestellt wurde, bei künftigen engeren Wahlen sich der Abstimmung zu enthalten, und zwar allen Parteien gegenüber, weil sie allesamt eine reaktionäre Masse seien. 2 0 Dieser Antrag wurde damals mit erheblicher Mehrheit angenommen. D a n n kamen die Februarwahlen von 1890. Mittlerweile war die ganze politische Situation eine andere geworden, und da hat es der damalige Parteivorstand, dem auch ich angehörte, auf seine Kappe genommen, im Widerspruch mit dem St. Gallener Parteitagsbeschluß, eine ganz andere Wahlparole zu proklamieren 2 1 , und der Parteitag in Halle hat nachträglich mit großer Mehrheit diese Stichwahlparole akzeptiert, die dahin lautete, bei engeren Wahlen für die und die Kandidaten zu stimmen. 17711 Damals brachten wir einen Reichstag zusammen, der erheblich anders war als der von 1887, dessen erste Handlung damals gewesen ist, die Legislaturperiode von 3 auf 5 Jahre zu verlängern und den Ausschluß der Oeffentlichkeit bei gewissen Gerichtsverhandlungen zu beschließen. E s wäre eine Torheit, wollten wir uns heute festlegen. K o m m t wieder die Stunde, dann werden wir erwägen, was wir zu tun haben, aber durch irgendwelche leidenschaftliche Erregungen lassen wir uns nicht bestimmen. G a n z besonders hat es mich gefreut, daß unter den Rednern, die gegen die Anträge gesprochen haben, und zwar namens ihrer Organisationen, sich auch zwei bayerische Genossen befanden. Ich lege darauf besonderes Gewicht, weil noch vor einigen Tagen H e r r Dr. Müller-Meiningen in der bekannten Zirkus Busch-Versammlung namentlich gegen unsere bayerischen Genossen losgedonnert hat. H e r r Müller-Meiningen, der sich gern als einen geistreichen Menschen aufspielt, und der es auch zu sein glaubt, seitdem der Reichskanzler ihn einmal als solchen bezeichnete (Heiterkeit) - der schien sich am Sonntag zu sagen: D u bist hier im Zirkus Busch (Heiterkeit), und D u mußt auch entsprechend reden; denn er hat in der Tat die Rolle eines politischen C l o w n s gespielt. (Heiterkeit.) D a s ist nicht übertrieben. Lesen Sie nur einmal seine Rede. M a n sollte es kaum glauben, daß ein ernsthafter M a n n solche R e d e hält. (Vollmar: D e r macht es das ganze J a h r so! Heiterkeit.) D a n n hat also das Lokal keinen Einfluß auf ihn gehabt. ( G r o ß e Heiterkeit.) E i n e mit plumperen Späßen gewürzte Rede als diese habe ich niemals gelesen, eine so
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Siehe hierzu Nr. 47/IV in Band 2/1 dieser Ausgabe. Siehe hierzu Nr. 76 in Band 2/1 dieser Ausgabe.
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oberflächliche und ihrem Inhalte nach unwahre Rede. E r hat in der R e d e immer wieder die bayerischen Genossen beschuldigt, es bestände ein Bündnis zwischen Zentrum und Sozialdemokratie. Das hat niemals bestanden, sondern es handelte sich nur um ein Zusammengehen bei den Wahlen. Dies Zusammengehen war eine Notwendigkeit, das erkläre ich rund heraus. Ich war in vielen Punkten mit den Bayern nicht einverstanden, aber ein Zusammengehen war notwendig, um ein besseres Wahlgesetz zu bekommen. (Sehr richtig!) N a c h d e m sie das Wahlgesetz haben, hört natürlich jede Beziehung auf, das haben unsere Redner und das haben auch die Redner des Zentrums wiederholt erklärt. Also irgendwelche Beziehungen bestehen nicht; für die Zukunft ist sogar viel eher ein Bündnis zwischen blau und schwarz als zwischen rot und schwarz möglich. (Sehr richtig!) H e r r Müller sollte sich also nur nicht in die Toga des Unentwegten hüllen. Was seine Partei auf diesem Gebiete geleistet hat, ist gerade genug. (Lebhafte Zustimmung.) Was nun verschiedene Genossen uns hier an Wahlvorgängen geschildert haben, das kennen wir alle genau, aber trotzdem hat der Parteivorstand seine Wahlparole ausgegeben, und als man hier und da Miene machte, dagegen zu handeln, hat er alles aufgeboten, um die betreffenden Genossen zu bewegen, sich nach der Parole zu richten. Sie wissen alle, daß wir uns die größte M ü h e gegeben haben, auf unsere württembergischen Genossen einzuwirken, für N a u m a n n und K o n r a d H a u ß m a n n zu stimmen. Allerdings m u ß man zur E n t schuldigung anführen, daß die schwäbischen Genossen damals in einer verflucht schwierigen Situation waren. K u r z vorher waren die Landtagswahlen gewesen, und es war ein Zusammengehen zwischen unseren Genossen und der Volkspartei unter gewissen Umständen vereinbart worden, ja unsere Genossen haben sogar noch nach dem 5. Februar bei den Landtagsstichwahlen für die Volksparteiler gestimmt, um eine linksliberale K a m m e r zustande zu bringen. D i e Volkspartei, die sich bei den Landtagswahlen unsere Unterstützung gefallen ließ, trat dann bei der Reichstagswahl in eine ganz entgegengesetzte Position und Schloß ein Bündnis mit den Blockparteien. D a ß das zur Erbitterung führen mußte, war klar. Speziell C o n r a d Haußmann 2 2 , einer der Führer der Volkspartei, stand in diesem Bündnis an der Spitze. Ich habe mich damals bereit erklärt, eventuell nach Stuttgart zu k o m m e n und persönlich meine Auffassungen zu vertreten. Ich habe den Genossen geschrieben: M a c h t in aller Welt nicht den Fehler, die Parole gegen H a u ß m a n n auszugeben! Ihr habt ein Recht, auf Haußmann erbittert zu sein, er hat sich immer mehr in seiner Kampfesweise gegen uns zu einem zweiten Eugen Richter entwickelt. (Sehr richtig!) Ich verstehe E u r e Erbitterung, aber trotzdem wird H a u ß m a n n auf G r u n d seiner Parteistellung in einer ganzen Reihe von 22 Siehe hierzu Nr. 70 in Band 8/2 dieser Ausgabe. 291
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Fragen mit uns zusammenstimmen müssen! Trotzdem ist die Parole gegen ihn ausgegeben worden, und da hat sich herausgestellt, was sich auch in anderen ähnlichen Fällen herausgestellt hat: Ein ganz' Teil der Wähler hat nicht pariert. Sollen wir uns durch verkehrte Beschlüsse Niederlagen aussetzen? Ich rate dringend, von einem derartigen Beschlüsse abzusehen. Ich komme nun zu einigen anderen Ausführungen, die gemacht worden sind. Katzenstein hat mich total mißverstanden, wenn er meinte, ich hätte ausgeführt, der neue Mittelstand müsse uns zufallen. Das habe ich nicht gesagt. Ich habe nur nachgewiesen, wie dieser neue Mittelstand sich immer mehr entwickelt in der Richtung der Proletarisierung durch die große Konkurrenz, die auf diesem Gebiete stattfindet. Es ist notwendig, daß wir diese Entwicklung beobachten, und anstreben, diesen sogenannten neuen Mittelstand zu gewinnen. Daß der Parteivorstand diese Ansicht teilt, mag daraus hervorgehen, daß, als der Vorstand in diesem Frühjahr ein Programm aufstellte für die Herausgabe von Flugschriften und Broschüren, die zur Aufklärung in bestimmten Kreisen dienen sollten, darunter sich auch solche befanden, die sich mit der Stellung der geistigen Arbeiter in der Industrie, der Techniker, Ingenieure usw. beschäftigen sollen. So viel ich weiß, hat sich bisher niemand gefunden, der eine solche Arbeit übernimmt. (Zuruf.) Wenn das doch geschah, dann um so besser. Aus den Ausführungen Katzensteins könnte der Vorwurf herausgelesen werden, daß wir die sogenannten Intellektuellen aus der Partei hinausweisen oder nicht in ihr haben wollen. Dagegen muß ich Verwahrung einlegen. Es gibt keinen in der Partei, dem weniger der Vorwurf gemacht werden kann, daß er die Intelligenz nicht schätze, als mich. Ich habe früher schon ausgesprochen, daß die Gebildeten, die zu uns kommen, vieles vor den Proletariern voraus haben, da sie eine höhere Schulbildung mitbringen und ein höheres Wissen, daß sie das geistige Rüstzeug besitzen, das ein Proletarier sich nur schwer oder gar nicht erwerben kann. Auf der anderen Seite haben diese Kreise auch einen großen Mangel, ihnen fehlt die Kenntnis der Arbeiterlage und der Arbeiterverhältnisse, es fehlt ihnen das Klassenbewußtsein der Arbeiter, und wir haben leider die Erfahrung gemacht, daß es vielen dieser Männer sehr schwer oder gar nicht möglich wurde, sich in dieses hineinzufinden. Wir haben auch Fälle gehabt, in denen man dachte, man brauchte nur zu uns zu kommen, und Ehren und Stellungen flögen einem in den Schoß. Diese Meinung dürfen wir nicht unterstützen. Aber die Leute, die zu uns kommen und sich als tüchtige, brave und brauchbare Genossen erweisen, werden wir mit offenen Armen aufnehmen. Es ist vom Fürsten Bülow wiederholt so dargestellt worden, als wenn wir die Intelligenz aus unseren Reihen verbannen. Wenn es darauf ankommt, mag Fürst Bülow nur erst bei sich den Anfang machen. (Heiterkeit.) Er versteht von vielen Fragen nichts, von denen wir recht 292
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viel wissen, und er hat einen Mann, der in diesen Fragen weit mehr weiß als er, den Grafen Posado wsky, aus dem Amte gedrängt. (Sehr richtig! und Heiterkeit.) Man hat hingewiesen auf die Lehrer in Frankreich und Belgien, die auf sozialdemokratischer Seite stehen. Ja, haben sie denn gar keinen Begriff von der Stellung der Lehrer in Belgien und Frankreich. (Sehr richtig!) Was würde deutschen Lehrern passieren, wenn sie offen zu uns kommen würden. Es gibt bei uns nur einen Staat, Hamburg, wo die Lehrer offen erklären können, daß sie zu uns gehören, in jedem anderen Staat würden sie einen Fußtritt erhalten. In dem großen Musterstaat Preußen ist es soweit gekommen, daß ein Turnlehrer, der sozialistische Gesinnung hat, nicht Turnunterricht geben darf. (Hört! hört! Wahrhaftig, reaktionärer kann man doch nicht sein. Es kommt noch hinzu, daß in keinem Staate der Welt das Drillsystem so zu Hause ist, wie in Preußen. Dazu kommt die Art der Lehrerausbildung. Wenn der Lehrer in das Leben eintritt, ist er auf einer großen Anzahl Gebiete manchmal dümmer, als er in das Seminar hineingekommen ist, und soll er sich aus den Vorurteilen, die ihm jahrelang im Seminar eingebläut sind, herausarbeiten, so ist das eine gewaltige Arbeit. Mir ist Dutzende von Malen von Lehrern geschrieben worden: Wir sind von der Richtigkeit Ihrer Ideen überzeugt, wir haben die sozialistische Literatur gelesen, aber helfen Sie uns zu einer unabhängigen Stellung. Wenn die Vorgesetzten nur ahnen, daß wir sozialistische Schriften lesen, sind wir verloren. In Oesterreich ist ein Sozialdemokrat Lehrer und sozialistischer Abgeordneter. Ist das bei uns in Deutschland möglich? Glaubt man z.B., das Professor Müller, wenn er Sozialdemokrat wäre, Bibliothekar der Reichstagsbibliothek sein könnte? (Heiterkeit.) Das ist aber in Oesterreich möglich! (Heiterkeit.) Ich bitte, diese anders gearteten Verhältnisse zu berücksichtigen, die in anderen Ländern vorliegen. Es ist vieles wo anders möglich, was bei uns noch nicht möglich ist. Wir arbeiten ja daran, daß auch bei uns möglich wird, was bisher nicht möglich war. Ich komme zum Genossen Leber. Er hat auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die von mir gestern entwickelten Ansichten in bezug auf ein Zusammengehen der christlichen und liberalen Arbeiter mit den sozialdemokratischen bei den gewerkschaftlichen und sonstigen Kämpfen in die Tat umzusetzen, und er meinte, ich sei mir der großen Schwierigkeiten nicht bewußt und stünde nicht in der Kleinarbeit. Ich stehe ja nicht in dieser Agitation; es ist mir unmöglich, da einzugreifen; aber ich verfolge doch die Partei- und Gewerkschaftspresse, und kenne alle die Klagen, die aus den verschiedenartigen Organisationen so häufig ertönen über die Uebel, die aus verschiedenen Organisationen erwachsen. Ich begreife auch, daß ein gewisses Maß von Verbitterung sich herausgebildet hat. Aber es ist hier auch der Name Hues genannt worden, der jetzt auf dem Internationalen Bergarbeiterkongreß in Salzburg tätig ist. Dort sind doch die 293
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christlichen Bergarbeiter Deutschlands auch vertreten. (Zuruf: Sie wissen auch warum!) Ja, das sollen die anderen auch begreifen, daß sie mit uns zusammengehen müssen. Ich mute Ihnen nicht zu, mit den Führern des Zentrums und der Liberalen zusammenzugehen, wohl aber mit den liberalen Arbeitern und mit den Arbeitern, die dem Zentrum angehören. Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn das nicht möglich wäre. Sie sind Fleisch von unserem Fleisch und Bein von unserem Bein, und man muß versuchen, ihnen in der geeigneten Weise beizubringen, daß sie Sozialdemokraten werden müssen. Das geht nicht von heute auf morgen. Wenn ich einen Mann oder eine Frau vor mir habe, die politisch indifferent sind, so kann ich sie viel leichter gewinnen, als wenn sie eine bestimmte politische Ueberzeugung schon gewonnen haben. Das macht mehr Arbeit. Wir müssen diese Leute als Irregeführte ansehen, nicht als Dumme, sie sind nicht schlechter als unsere Genossen, sie sind aber gewonnen worden von sehr klugen und geriebenen Leuten, und sie sind in Auffassungen aufgezogen worden, die gegen ihre Interessen sind. Wenn ein Versuch mißglückt, mit diesen Arbeitern in Berührung zu kommen, so wird ein zweiter und ein dritter Versuch gemacht. (Sehr richtig!) Dann hat Genösse Laufenberg sich sehr unzufrieden über den Parteivorstand geäußert und an der Wahlparole desselben allerlei auszusetzen gehabt. Er hat insbesondere vermißt, daß wir nicht unter den einzelnen Parteien, die unter keinen Umständen von der Sozialdemokratie Stimmen bekommen dürften, auch das Zentrum angeführt haben. Aus dem Entwickelungsgange des Genossen Laufenberg und aus der Tatsache, daß er hauptsächlich mit dem Zentrum im Wahlkampf gestanden hat, begreife ich seine Haltung, aber er sollte aus dieser persönlichen Erfahrung nicht auf das allgemeine schließen. (Sehr richtig!) Wie war denn die Situation? Sozialdemokraten, Zentrum, Polen und Weifen waren bei der Wahl die verfemten Parteien. Da wäre es doch eine große Taktlosigkeit und Ungeschicklichkeit gewesen, wenn wir eine Partei, die mit uns, wenn auch wider Willen, in die gleiche Kampflinie gedrängt worden war, vor den Kopf gestoßen hätten. Die Entscheidung hat uns auch Recht gegeben. Wir hatten 85 Stichwahlen auszufechten und sind in 14 siegreich geblieben; von diesen haben wir 12 den Zentrumsarbeitern zu verdanken, die auf unsere Seite traten, und zwar gerade auch in zwei rheinisch-westfälischen Wahlkreisen, Dortmund und Duisburg, hier hätten wir mit einer Wahlparole, wie Laufenberg sie empfahl, uns recht gehörig in die Nesseln gesetzt. (Sehr richtig!) Man denke also doch etwas weiter und nicht bloß an die Verhältnisse in einem Bezirk. Wenn Laufenberg mit Recht darauf hingewiesen hat, daß das Zentrum bei der reaktionären Gesetzgebung der letzten 10, 15 Jahre beteiligt war, dann habe ich das gestern selbst betont, aber es muß doch auch konstatiert werden, daß das Zentrum nicht aus Herzensbedürfnis, sondern aus Rücksicht auf seine Arbeiterwähler gezwun294
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gen war, z.B. bei der Zuchthausvorlage auf unserer Seite zu kämpfen. Welche Gefahren im übrigen das ganze Wesen des Zentrums für die kulturelle Entwikkelung mit sich bringt, wissen wir alle, also Vorsicht braucht man uns hier nicht zu empfehlen. Genösse Laufenberg hat uns weiter empfohlen, im Reichstag und sonst ruppiger zu werden. Diese Empfehlung ist nicht neu, sie wird uns sogar zum dritten Male gegeben, aber weil sie dreimal wiederholt wurde, ist sie deswegen nicht vernünftiger geworden. (Sehr gut!) Zum ersten Male wurde sie uns auf dem St. Gallener Parteitag 23 durch unseren Pfalzgrafen gegeben.1?721 (Große Heiterkeit. Ehrhart: Da war sie aber auch notwendig! Erneute Heiterkeit.) Was Du sagst, ist immer notwendig (Heiterkeit), ob es aber auch richtig ist, ist eine andere Frage. Wir haben damals von Herzen darüber gelacht, aber befolgt haben wir die Parole nicht. (Ehrhart: Doch!) Du hast sie ja später im bayerischen Landtag selbst nicht befolgt. (Ehrhart: Da war sie nicht mehr zeitgemäß! - Heiterkeit.) N u n ja, wir wissen, daß Du ein gescheiter Kerl bist, der sich den Umständen anpaßt. (Erneute Heiterkeit.) Das zweite Mal kam die Empfehlung von dem Genossen Stadthagen, glaube ich. (Zuruf!) So! Freiwaldt-Pankow. N u n da wurde weniger gelacht, aber befolgt haben wir sie auch nicht. Heute ist sie nun zum drittenmal von Laufenberg gegeben, da hat niemand mehr gelacht, aber er hat auch keinen Beifall bekommen. Das beweist am besten, daß wir eben mit den Jahren klüger werden. (Heiterkeit und Sehr gut!) Also das Rezept ist leicht gegeben, aber es zu befolgen, lehnen wir ab. Wenn wir recht ruppig wären, so kämen wir zuletzt auf die Stufe des Reichslügenverbandes, auf die Kampfmethode unserer Gegner. (Sehr richtig!) Dafür danken wir. Wenn wir uns über etwas beschweren, so wollen wir es nicht selbst nachmachen. (Lebhafte Zustimmung.) Je ruppiger die Gegner werden, desto anständiger zu sein wollen wir uns bemühen, wir werden in letzter Linie dabei doch die Sieger bleiben. (Erneute lebhafte Zustimmung.) Nicht das Schimpfen, nicht das Ruppigsein, nicht das Mitgrobheitenumsichwerfen entscheidet die Sache, sondern die Güte und Vortrefflichkeit der Gründe. (Sehr richtig!) Und ich behaupte, gegen unsere Gründe kann niemand ankämpfen. Also die empfohlene Methode befolgen wir nicht. (Beifall.) Der Genösse aus Iserlohn 23 ' meinte dann, er wolle mir ein wenig ins Gewissen reden.[772al Ich gebe zu, daß es manchmal notwendig ist. (Heiterkeit.) Ich bin auch in der glücklichen Lage, ein Gewissen zu besitzen. Er hat Bezug genommen auf eine Rede von mir vom Jahre 1881 im Reichstag über den Atheismus 24 , das werde 23 Siehe hierzu Nr. 47 in Band 2/1 dieser Ausgabe. 23a Jakob Giesen. 24 Siehe hierzu Nr. 13 in Band 2/1 dieser Ausgabe. 295
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den Genossen in der Agitation fortgesetzt vorgehalten. Ja, Parteigenossen, das ist richtig, aber das zeigt einmal wieder, daß, trotzdem mittlerweile ganz andere Aeußerungen vorliegen, man das Material nicht kennt, obgleich es eine derartige Anklage widerlegt. Zunächst ist einer der klarsten Gründe dagegen, die ich dutzendmal selbst auch in Zentrumswahlkreisent 773 ' angeführt habe: Ich bin Atheist, und ich glaube wohl, auch das Recht zu haben, als Privatperson für den Atheismus Propaganda zu machen, für meine Ueberzeugung, daß die zukünftige Entwickelung auf dem Gebiete dessen, was man Religion nennt, der Atheismus sein wird. Ich kann irren, aber es ist meine Ueberzeugung. Aber im Namen der Partei kann ich diese Auffassung nicht vertreten. (Sehr richtig!) Im übrigen haben wir stets durch unsere Tätigkeit bewiesen, daß es keine tolerantere Partei gibt, als uns Sozialdemokraten, die wir vollständige Meinungsfreiheit auch in religiösen Fragen vertreten. Das haben wir gerade dadurch auch bewiesen, daß wir das Jesuitengesetz 25 vom ersten Tage bekämpft haben und mit zu seinem Sturze beigetragen haben! Wir haben uns ganz anders gehalten wie die sogenannten Christen, die teilweise für das Sozialistengesetz eingetreten sind. Wir sind stets für absolute religiöse Freiheit eingetreten. Ich verweise hier auch auf unsere Haltung bei dem Toleranzantrag des Zentrums. 26 Ich weise auch darauf hin, daß meine Stellung zu dieser Frage sehr deutlich und prinzipiell im Münchener Parteitagsprotokoll auf Seite 244 wiedergegeben ist.27 Vielleicht nimmt nunmehr die „Partei-Correspondenz" auf diese Stelle Bezug und bringt sie zum Abdruck für das Agitationsmaterial.t 774] In München war es der Genösse Welker, der sich auf den Ausspruch Voltaires bezog: „Ecrasez l'infame!" d.h.: „Vernichten wir die Kirche, die infame! "[7751 Darauf antwortete ich: „Das sollte eine schöne Sache werden, wenn ein solcher Wahlspruch der Wahlspruch der sozialdemokratischen Partei würde. Welker hat im Eingang seiner ersten Rede ausdrücklich erklärt, es sei notwendig, die Widersprüche innerhalb der kirchlichen und religiösen Anschauungen darzulegen, d.h. mit anderen Worten - das hat auch Vollmar ganz richtig hervorgehoben - Welker verlangt, wir sollten uns in eine Art Kulturkampf einlassen. Unsere Partei würde dabei vollständig ihren Charakter abstreifen und wir würden eine Art kirchliches Konzil werden." Wir fordern im Programm: Erklärung der Religion zur Privatsache dem Staat gegenüber, aber obgleich nicht im Programm steht, Religion ist Privatsache, so ist das selbstverständlich.t7761 Wir haben kein Recht, nach der religiösen Ueber25 Siehe hierzu Nr. 31 in Band 1 dieser Ausgabe. 26 Siehe hierzu Nr. 15 in Band 7/1 dieser Ausgabe. 27 Siehe hierzu Nr. 19/11 in Band 7/1 dieser Ausgabe. 296
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zeugung eines Parteigenossen zu fragen oder sie anzutasten. Jeder mag glauben, was er will; er kann als Sozialdemokrat katholischer Christ, er kann Materialist oder Atheist sein, das geht keinen Menschen innerhalb der Partei etwas an. N u r wenn er für seine religiöse Ueberzeugung als Sozialdemokrat Propaganda machen will, treten wir ihm energisch entgegen, denn dann verletzt er den für uns selbstverständlichen Grundsatz: „Religion ist Privatsache." (Lebhafte Zustimmung.) Diese Stelle nehmt in Euren Agitationsreden auf, und wenn Euch dann gesagt wird, aber Bebel hat doch damals das und das gesagt, dann erwidert: Aber was hat er 1902 gesagt? Damals war er soviel älter und soviel gescheiter geworden. (Große Heiterkeit.) Im übrigen bitte ich alles abzulehnen, was der Partei zum Schaden gereicht, und dazu gehören die zu diesem Punkt der Tagesordnung gestellten Anträge. (Großer Beifall.) Ebenda, S. 335-340.
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61 Der nationalliberale Parteitag und die Sozialdemokratie17771 Rede auf einer Volksversammlung
in Berlin
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Verehrte Anwesende! Vielleicht hat bei manchen die Ankündigung der Tagesordnung etwas überrascht, denn bisher ist man es bei der Sozialdemokratie nicht gewöhnt, daß sie einer Partei wie der nationalliberalen eine besondere Bedeutung beimißt. Wenn wir diesmal eine Ausnahme gemacht haben, so aus dem einfachen Grunde, weil die politische Situation, wie sie seit dem Januarwahlen dieses Jahres sich gestaltet hat, die nationalliberale Partei in höherem Maße in den Vordergrund stellte. Die nationalliberale Partei betrachtet sich gewissermaßen, wie Ihnen allen bekannt sein wird als den Kern des neuen Blocks, der durch die Wahlen vom 25. Januar und 5. Februar dem Fürsten Bülow sich zur Verfügung gestellt hat. Dieser Block ist eine politische Konstruktion, die als eine Mißgeburt ersten Ranges zu betrachten istt678ll (Sehr richtig!), er ist eine Verbindung von Parteien, für die eine wirklich praktische Tätigkeit, wenn man von bestimmten Einzelgebieten absieht, unmöglich ist; er bildet eine Zusammenschweißung von Parteien, von denen unter keinen Umständen zu erwarten ist, daß sie, was seitdem in allen Tonarten in die Welt hinaus gerufen wurde, daß Deutschland eine Art liberaler Aera entgegengehe, verwirklichen werden: Allerdings haben die Wahlen vom 25. Januar und 5. Februar eine Veränderung in der parlamentarischen Situation in Deutschland herbeigeführt. Der alte Zustand der Dinge, wonach das Zentrum die ausschlaggebende Partei war, indem es für jede Frage zwei Mehrheiten zur Verfügung hatte, hat aufgehört. Das Zentrum ist zwar bekanntermaßen in alter Stärke wieder in den Reichstag hineingekommen, es hat sogar einige Sitze gewonnen, dafür ist aber die Sozialdemokratie um 46 Sitze in dem neuen Reichstag geschwächt worden und außerdem hat die gesamte Linke im Vergleich zu früher eine Abnahme der Stimmen von 24 aufzuweisen, wenn man die gesamte Linke von den Nationalliberalen bis einschließlich der Sozialdemokratie rechnet. Unter solchen parlamentarischen Verhältnissen ist es geradezu verwunderlich, wenn da noch die Behauptung aufgestellt wird, 298
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Der nationalliberale Parteitag und die Sozialdemokratie
daß angesichts der neuen Konstellation der Dinge im Reichstag eine liberale Politik möglich sei, „liberale Politik" natürlich immer in Gänsefüßchen. (Heiterkeit.) Fürst Bülow versichert freilich, daß er eine solche Absicht habe, aber das ist derselbe Reichskanzler, der im vorigen Jahre den Agrariern sagte: daß man einst auf seinen Leichenstein setzen solle: Hier liegt ein agrarischer Reichskanzler. (Hört! hört!) Ein agrarischer Reichskanzler und zugleich ein liberaler Reichskanzler sein, das ist ein ganz unmögliches Ding, und wer behauptet, daß sich das vereinigen lasse, an dessen politischer Zurechnungsfähigkeit erlaube ich mir im höchsten Grade zu zweifeln. (Lebhafter Beifall.) Fürst Bülow ist nicht nur nach seinem eigenen Eingeständnis ein agrarischer Reichskanzler, sondern er ist auch nach dem Eingeständnis seiner besten Freunde, der Agrarier selbst, der beste Kanzler, den sie jemals gehabt haben. Während noch bis zu Fürst Bülow allezeit Fürst Bismarck als der eigentliche Heros des Agrariertums angesehen wurde, hat es Fürst Bülow, dieser im Geruch des Liberalismus stehende Mann, fertig gebracht, daß ihn das extremste Agrariertum als den besten Reichskanzler ansieht. (Hört! hört!) Das hat freilich Herrn Bassermann, den Führer der nationalliberalen Partei, nicht abgehalten, auf dem nationalliberalen Parteitage in Wiesbaden, der vor einigen Wochen stattfand, große Jubelhymnen über den Ausfall der letzten Reichstagswahl anzustimmen. Die Neuwahlen hätten ein neues politisches System inauguriert, erklärt er. In Goslar, das heißt auf dem vorjährigen Parteitag der Nationalliberalen, habe es noch geheißen: Zentrum ist Trumpf, und eine trübe Stimmung habe damals geherrscht. Die unerwartet eingetretenen Neuwahlen und der unerwartete Ausgang derselben habe die Blockpolitik geschaffen. Zwar sei das Zentrum nicht geschlagen, was er lebhaft bedauert, wohl aber dessen Affiliierter, die Sozialdemokratie. Hier wird von Herrn Bassermann abermals eine Behauptung aufgestellt, die ich einfach als eine grobe Unwahrheit bezeichnen muß, als eine Unwahrheit, die ein politischer Mann öffentlich auszusprechen sich hüten sollte. (Sehr gut!) Es ist, wie der Abgeordnete Bassermann genau weiß, eine grobe Unwahrheit, wenn die Sozialdemokratie als der Affiliierte des Zentrums bezeichnet wird. (Sehr richtig!) Wir haben mit dem Zentrum gar nichts zu tun. (Zustimmung.) Wir sind, wie ich das wiederholt in Reden und Broschüren und namentlich auch im Reichstag ausgesprochen habe, in letzter Instanz die Todfeinde des Zentrums, und wenn es eines Tages sich darum handeln wird, den letzten und wirklichen Kulturkampf auszufechten - keinen Scheinkulturkampf, wie wir ihn vor Jahrzehnten einmal gehabt haben, als die Liberalen ihn führten, dann wird dieser Kulturkampf nicht zwischen dem Zentrum und den Liberalen, er wird zwischen dem Zentrum und der Sozialdemokratie ausgefoch299
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ten werden(Lebhafte Zustimmung.) Dann dürfte sich zeigen, daß der Liberalismus dabei nicht auf Seiten der Sozialdemokratie, sondern auf der Seite seines angeblichen Feindes, des Zentrums, steht. (Sehr richtig!) Ich erinnere nur daran, daß noch im letzten preußischen Landtag Zentrum und Nationalliberale, diese angeblichen Feinde, das reaktionäre preußische Schulunterhaltungsgesetz gemeinsam zustande gebracht haben. Wer angesichts einer solchen Handlung sich noch damit brüstet, ein Feind des Zentrums im Kulturinteresse des Staates, im Kulturinteresse des Volkes zu sein, der sagt dem Volke die Unwahrheit. (Sehr richtig!) Zentrum und Nationalliberale im Verein mit den Konservativen haben die ganzen letzten 12 Jahre die gesamte Politik des Reiches gemacht. (Hört! hört!) Es ist kein wesentliches Gesetz zustande gekommen, das nicht gerade durch Nationalliberale, Zentrum und Konservative im trauten Verein angenommen worden ist. Wie angesichts solcher Tatsachen Herr Bassermann davon reden kann, die Sozialdemokratie sei der Affiliierte, das heißt, der enge Bundesgenosse des Zentrums, das verstehe ich nicht. Ich bin zweifelhaft, ob ich da noch an seine politische Ehrlichkeit glauben darf. (Lebhaftes Bravo!) Alle Militär-, alle Flotten-, alle Kolonialvorlagen, die in den letzten 12 Jahren vom Reichstag angenommen worden sind - und das ist eine große Reihe - haben Zentrum, Nationalliberale und Konservative gemeinsam gemacht, die gesamten Steuervorlagen - und das ist ebenfalls eine große Zahl, sie haben dem deutschen Volke, abgesehen von einer kolossalen Verteuerung seiner Lebenshaltung, jährlich zirka 3 bis 400 Millionen Mark neue Steuern auferlegt - alle diese Steuern sind zwischen Nationalliberalen, Zentrum und Konservativen vereinbart worden. (Sehr wahr!) Die ganze Agrarpolitik des Reiches ist gemeinsame Sache dieser drei Parteien, die Gesetzgebung über die Vieh- und Fleischsperren, all die Maßnahmen, die in so außerordentlichem Maße in den letzten Jahren die Lebenshaltung der Nation verteuert haben, sind die gemeinsame Arbeit von Zentrum, Nationalliberalen und Konservativen. Der Zolltarif und die famosen Handelsverträge, die auf Grund dieses Zolltarifs abgeschlossen worden sind, sind die gemeinsame Arbeit dieser drei Parteien.[63] Der Antrag Kardorff, der ein schnöder Bruch der Geschäftsordnung des Reichstags und der Verfassung des Reiches war, wodurch man die Minorität bei der Beratung des Zollgesetzentwurfes mundtot machte - dieser Bruch der Geschäftsordnung und der Verfassung auf Grund des Antrags Kardorff ist von Herrn Bassermann wie von Herrn Spahn mit den hinter ihnen stehenden Parteien und den Koservativen einstimmig gutgeheißen worden. (Rufe: Pfui!) Nationalliberale, Zentrum und Konservative haben zwölfmal zusammen gestimmt, ehe einmal Sozialdemokratie und Zentrum zusammen stimmen 1
Siehe hierzu Nr. 21 in Band 7/1 dieser Ausgabe.
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konnten. Und wann haben wir denn einmal mit dem Zentrum zusammen gestimmt? Höchstens, wenn es sieb um Abwehrmaßregeln gegen noch höhere Belastungen oder noch schlimmere Gesetze als sie bisher bestanden, handelte. So hat z.B. das Zentrum wohl oder übel - gegen den Willen seiner Mehrheit, davon bin ich überzeugt, - bei der sogenannten Zuchthausvorlage 2 , durch die man die Arbeiterorganisationen, die Gewerkschaften erdrosseln wollte, mit uns gemeinsame Sache machen müssen, nicht uns, sondern seinen eigenen Arbeitern zuliebe, die anderen Falles ihm in Scharen davon gelaufen wären. (Sehr richtig!) Damals waren aber die Nationalliberalen, als die politischen Vertreter der großen Industrie, bereit, wenigstens die Zuchthausvorlage zu amendieren und von ihr zu retten, was gerettet werden konnte. Wenn es überhaupt ein Partei gibt, die in allen freiheitlichen Fragen immer auf der rechten Seite gestanden und gefochten hat, so ist es die nationalliberale Partei, wie ich noch weiter nachweisen werde. Es ist also auch nach dieser Richtung hin eine grobe Unwahrheit, die Herr Bassermann und andere in Wiesbaden und bei anderen Gelegenheiten ausgesprochen haben, wenn sie das Zentrum uns, der Sozialdemokratie, an die Rockschöße zu hängen suchen. Ich wiederhole, wir haben beide miteinander nicht das geringste zu tun. (Sehr richtig!) N u n kommt man und sagt - und auch Herr Bassermann hat das ausgesprochen - für das Bündnis zwischen Zentrum und Sozialdemokratie ist ja Bebel selbst Kronzeuge, er hat ja in Essen selber zugegeben, daß bei den engeren Wahlen im Februar das Zentrum von den 14 Mandaten, die die Sozialdemokratie überhaupt eroberte, ihr 12 zugeschanzt habe. 3 Das ist vollkommen wahr, aber wir haben bei den 12 engeren Wahlen mit dem Zentrum ebensowenig ein Bündnis geschlossen, wie wir bei den beiden anderen Wahlen, bei denen die Liberalen gegen das Zentrum uns eine Mehrheit verschafften, mit den Liberalen ein Bündnis geschlossen haben. Es ist ein allbekannter Grundsatz bei engeren Wahlen, bei denen die Kandidaten verschiedener Parteien ausfallen, weil nur die Kandidaten der beiden Hauptparteien in die engere Wahl kommen, daß diejenigen Parteien, die mit ihren Kandidaten nicht mehr in Betracht kommen, sich nunmehr die Frage stellen: welche von den beiden gegnerischen Parteien ist uns im Augenblick mit Rücksicht auf die ganze politische Situation die genehmste? Man drückt das deutlicher so aus: wer von den beiden ist im Augenblick das kleinere Uebel? (Heiterkeit.) Und da hat das Zentrum in den erwähnten zwölf Fällen sich gesagt, die Sozialdemokratie ist im Augenblick das kleinere Uebel, denn die Sozialdemokratie kann im gegenwärtigen Reichstag nie eine Mehrheit ha2 Siehe hierzu Nr. 63 in Band 4 dieser Ausgabe. 3 Siehe hierzu Nr. 60/IV. 301
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ben, sie kann und muß uns aber unterstützen, wenn man z.B. gegen uns oder andere Parteien mit Ausnahmegesetzen und dergleichen vorgehen will. Außerdem wurden durch den bekannten Kanzlerbrief, den Silvesterbrief1673! an den Präsidenten4 des Reichslügenverbandes t679], das Zentrum, die Sozialdemokratie, die Polen und die Weifen als Reichsfeinde stigmatisiert. Nun werde ich mit Leuten, mit denen ich sonst gar nichts gemein habe, von einem stärkeren Gegner als gemeinsamer Feind betrachtet, dann gebietet nur der Selbsterhaltungstrieb, daß die gemeinsam Bekämpften sich gegebenenfalls, so weit es ihre verschiedenen Standpunkte zulassen, gegenseitig unterstützen, damit der andere seinen Zweck nicht erreicht. (Sehr wahr! sehr richtig!) Das ist eine einfache klare politische Taktik, die jede Partei bei Strafe des Selbstmords ausüben muß. Ich bedaure nur, daß das Zentrum nicht eine bessere politische Einsicht besaß, als es tatsächlich bewiesen hat, denn bei besserer Einsicht hätte es noch in einer ganzen Reihe von Wahlkreisen die Sozialdemokratie unterstützen müssen, wo wir leider infolge der Stellungnahme des Zentrums gegen uns durchgefallen sind. Ich erinnere nur an die Wahlkreise Barmen, Elberfeld, Altona, Iserlohn, Hagen, Lennep-Mettmann, Fürth i. Bayern, Frankfurt a.M. usw.; es sind im ganzen zirka 8 bis 10 Wahlkreise, in denen das Zentrum dadurch, daß es sich auf die Seite seiner gegenwärtig schlimmsten Gegner stellte, uns, die Sozialdemokratie, zu Fall brachte. Das war keine kluge Taktik von seiner Seite. Aber es ist seine Sache, wie es in einer solchen Frage verfahren will. Unter den gegebenen Umständen wäre es selbstverständlich gewesen, wenn das Zentrum nach Möglichkeit der Sozialdemokratie geholfen hätte, damit die Opposition, die vor den Neuwahlen im Reichstag vorhanden war, auch im neuen Reichstag möglichst stark wieder vertreten war. Das ist, wie gesagt, nicht geschehen. Nun wird aber niemand bestreiten wollen, daß gerade die Nationalliberalen, wie überhaupt unsere Gegner, uns oder dem Zentrum am allerwenigsten Vorwürfe wegen unserer gegenseitigen Stellung bei den letzten Wahlen machen können. Sie sagen freilich: ja, habt ihr denn in Bayern bei den Landtagswahlen nicht gemeinsam den Kuhhandel betrieben, ihr Sozialdemokraten und das Zentrum. Darauf sagen wir offen: ja, das haben wir getan, dieses Verbrechen haben wir wirklich begangen (Heiterkeit) und das war von unseren bayerischen Freunden ein geschickter, ja selbstverständlicher Schachzug. Wie lagen in Bayern die Sachen? In Bayern bestand kein so reaktionäres elendes Wahlgesetz, wie in Preußen das Dreiklassenwahlgesetz ist, aber doch immerhin ein Gesetz mit indirekten Wahlen und anderen schikanösen Bestimmungen. Dies Gesetz zu beseitigen, hatten unsere Freunde seit mehr als einem Jahrzehnt die größten 4
Eduard von Liebert.
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Anstrengungen gemacht. Bei einer glänzenden Rede für die Beseitigung dieses Gesetzes und für die Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts ist bekanntlich unser ehemaliger Parteigenosse Grillenberger auf der Tribüne im bayerischen Landtag vom Schlage getroffen zusammengesunken. Das Zentrum begriff endlich, daß es entsprechend seinem Anhang in der Bevölkerung mit dem alten Wahlgesetz nicht die Macht erlangen könnte, die es glaubte beanspruchen zu können; es sah ein, daß es selbst ein Interesse daran habe, das schlechte bayerische Wahlrecht zu beseitigen und das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht einzuführen. Da aber die Liberalen in Bayern gegen eine solche Aenderung waren, und notwendig war, im Landtag eine Zweidrittelmehrheit zu schaffen, ohne die das alte Gesetz nicht beseitigt werden konnte, haben Zentrum und Sozialdemokratie gemeinsame Sache gemacht, um diese Zweidrittelmehrheit zu bekommen. Unsere Parteigenossen sind bei diesem Kompromiß sehr gut gefahren, denn sie hatten bis zum letzten Mann die Zahl Mandate bekommen, die sie nach ihrer Stärke beanspruchen konnten. Nun kam das neue Wahlgesetz, auf Grund dessen jetzt im letzten Sommer die ersten Wahlen stattfanden, und nunmehr war es aus mit jeder Verbindung zwischen Zentrum und Sozialdemokratie. Alle Parteien sind bei jenen Wahlen selbständig vorgegangen, es war also von einem Kuhhandel keine Rede mehr, weil der Zweck, der mit dem sogenannten Kuhhandel erreicht werden sollte, erreicht worden war. Auch in Bayern dürfte nach meiner Ueberzeugung bald die Frage erstehen, wer im Landtag mehr und öfter mit dem Zentrum zusammengeht, die Sozialdemokratie oder die Liberalen. Für mich besteht schon heute kein Zweifel mehr, daß eines Tages in Bayern Zentrum und Nationalliberale gegen die Sozialdemokratie gemeinsame Sache machen werden. (Hört! hört!) Nun ein anderes Beispiel. In Baden - davon will Herr Bassermann freilich nicht gern hören, er ist bekanntlich Badenser - in Baden lagen die Dinge so, daß auch dort das alte Wahlgesetz, das vergleichsweise ebenfalls viel besser war als unser elendes preußisches Dreiklassenwahlsystem, beseitigt werden sollte. Unsere Parteigenossen waren dazu zu schwach, die Liberalen wollten keine grundlegende Aenderung, sie hatten die Mehrheit unter dem bestehenden Wahlgesetz, sie hüteten sich also, den Ast abzusägen, auf dem sie saßen. Dieselben waren gegen jede ernsthafte Wahlreform. Jetzt erklärte das Zentrum: wir stimmen euch Sozialdemokraten bei, wir wollen euch helfen, das Wahlrecht zu beseitigen. Das gelang. Wohl oder übel mußten jetzt auch die Nationalliberalen in den sauren Apfel beißen. Das alte Wahlgesetz wurde beseitigt und das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht eingeführt. Nun standen aber auf einmal die Karten so, daß unter dem neuen demokratischen Wahlrecht, in Rücksicht auf die große Zahl katholischer Staatsangehöriger, die Gefahr bestand, daß eine Mehr303
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heit katholischer Vertreter in die Kammer kam. Das verursachte den Nationalliberalen einen Schreck; jetzt vergaßen sie auf einmal all die Feindschaft, den Haß und den Widerwillen, den sie bisher so kräftig gegen unsere Parteigenossen geäußert hatten und erklärten: Hört ihr Sozi, wir sind bereit, mit euch gemeinsame Sache gegen das Zentrum zu machen, was sagt ihr dazu? (Große Heiterkeit.) Darauf sagten sich unsere Leute ganz vernünftig: gut, wir sind damit einverstanden, denn wir haben auch kein Interesse daran, eine reaktionäre Mehrheit in die Kammer zu bekommen, die dann eine reaktionäre Schulpolitik, eine reaktionäre Kirchenpolitik, mit einem Wort, eine reaktionäre innere Politik, Gemeindepolitik usw. betreibt. Wir machen also mit euch gemeinsame Sache. Und so geschah es, daß bei den letzten Wahlen in Baden Rote und Blaue Arm in Arm miteinander zur Wahlurne marschierten.167^ (Große Heiterkeit.) Auf diese Weise rückte eine liberal-sozialdemokratische Mehrheit in die badische Kammer ein. Damals sind badische Staatsbeamte, Geheimräte, Reserveoffiziere, Kriegervereinler, die bekanntlich sonst immer nur für Gott, Fürst und Vaterland kämpfen (Heiterkeit), Arm in Arm mit den roten Brüdern an die Wahlurne gezogen, haben gemeinsam ihre Kandidaten aufgestellt und gewählt. Das hat unter anderem dem kürzlich verstorbenen Großherzog 5 , der selbstverständlich kein Freund von uns war, ganz und gar nicht gepaßt. Und die Nationalliberalen, die sonst so gern ihrem Fürsten folgen, folgten diesmal nicht, seine eigenen Beamten ließen ihn zum Teil im Stich und liefen mit den Roten, mit den bösen Revolutionären. Davon schwieg in Wiesbaden Herr Bassermann, er erklärte anderwärts allerdings öffentlich, er sei damit nicht einverstanden. Ich glaube das wohl, seine Person kam bei jenen Wahlen gar nicht in Frage. (Heiterkeit.) Herr Bassermann hat überhaupt besonderes Pech. Er ist der Führer seiner Partei, aber das verhinderte nicht, daß bei den Reichstagswahlen der letzten zehn Jahre er wie der in die Wüste gestoßene Sündenbock überall im Deutschen Reiche herumhausieren mußte, um irgend einen Wahlkreis zu finden, der die Güte hatte, ihn als Kandidaten aufzustellen. (Große Heiterkeit.) So ist er bei drei verschiedenen Wahlperioden in drei verschiedenen Gegenden gewählt worden. Das letzte Mal hat der bekannte Graf Arnim-Muskau - jener Abgeordnete, der eines Tages im Reichstage, als ich die große Not einer Familie in Köln a.Rh. schilderte, mir zurief: Wahrscheinlich hat der Vater alles versoffen! (Pfui-Rufe.) - den Platzhalter des Herrn Bassermann abgegeben. Er hat ihm sein Mandat, das sicher war, abgetreten, damit er überhaupt in den Reichstag kam und so das Mundstück für die Orakelsprüche des Fürsten Bülow und die Blockpolitik werden konnte. Bei einer derartigen Wandlungsfähigkeit ist es nicht zu verwundern, daß sich 5 Friedrich I. von Baden-Hochberg. 304
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Herr Bassermann auch zu einer Art Verherrlicher des Junkertums aufgeworfen hat. Gewöhnlich wollen die süddeutschen Liberalen von den preußischen Junkern nichts wissen, aber auch die Junker nichts von den Liberalen und zwischen den beiden sind immer die Junker die Entschiedeneren, die Charakterfesteren. Neulich machte nun auf dem Parteitag der süddeutschen Volkspartei in Konstanz Herr Venedey in einer Rede die Blockpolitik lächerlich und sprach ihr jeden Wert ab. - Unter anderem sagte er: Wenn es drauf und dran kommt, ist mir ein süddeutscher Zentrumsmann lieber als ein Junker. Darüber war Herr Bassermann erbost. Er geht eben mit den preußischen Junkern Arm in Arm und so versichert er in Wiesbaden: Aber der Junker Bismarck hat das Deutsche Reich gegründet und die Junker haben auf den Schlachtfeldern geblutet. Nun, wenn Bismarck das Deutsche Reich gründete, so gründete er es bekanntlich für die Hohenzollern; somit würde er es nicht gegründet haben, darauf können Sie sich verlassen. (Sehr richtig!) Und was die preußischen Junker betrifft, so haben sie als Offiziere geblutet, genau so wie die katholischen Arbeiter und die katholischen Bauern als Soldaten geblutet haben, ob sie es gewollt haben oder nicht. Wenn es also darauf ankommt, haben beide das gleiche geleistet. (Sehr wahr!) Ich werfe mich hier nicht zum Anwalt des Zentrums auf, aber Recht muß Recht bleiben, und die Wahrheit muß ausgesprochen werden, und da sage ich: ein süddeutscher Zentrumsmann sieht allezeit, er mag sein, wo er will, auf das konstitutionelle System, ein Junker aber will von einer Konstitution nichts wissen. Der Junker sieht am liebsten den Absolutismus wieder blühen. „Und der König absolut, wenn er uns den Willen tut", so lautet das bekannte Sprüchlein aus der Zeit nach der Revolution, das auch heute noch Geltung hat. Was die Junker als Stützen des Deutschen Reiches wert sind, hat Fürst Hohenlohe in seinen Memoiren ausgesprochen, als er erzählt: „Ich bin erstaunt gewesen, zu hören und zu sehen, als ich in Berlin war, was die Herren in bezug auf das Deutsche Reich für Gesinnungen kund gegeben haben. Das klang anders als Begeisterung für das Deutsche Reich.