Aufklärung: Epoche, Autoren, Werke 3534247256, 9783534247257

Die Aufklärung hat wesentliche Grundlagen modernen Denkens und moderner Mentalität geschaffen. Sie hat gegen unhinterfra

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German Pages 246 [242] Year 2013

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Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung
Johann Christoph Gottsched – Maß und Gesetz
Christian Fürchtegott Gellert und die Empfindsamkeit
Friedrich Gottlieb Klopstock und die Aufklärung
Sophie von La Roche und der Genderdiskurs
Gotthold Ephraim Lessing
Christoph Martin Wieland
Die jüdische Aufklärung (Haskala) um Moses Mendelssohn
Georg Forster – die Aufklärung und die Fremde
Georg Christoph Lichtenberg
Friedrich von Blanckenburg und der Roman der Spätaufklärung
Anthropologisches Wissen in der Aufklärung
Die radikale französische Philosophie im Spiegel der deutschen Aufklärungsliteratur
Friedrich Schiller und die Aufklärung
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Aufklärung: Epoche, Autoren, Werke
 3534247256, 9783534247257

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Aufklärung Epoche – Autoren – Werke Herausgegeben von Michael Hofmann

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2013 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt. Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Redaktionelle Mitarbeit: Miriam Esau Umschlaggestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-24725-7 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-72531-1 eBook (epub): 978-3-534-72532-8

Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Hofmann

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Johann Christoph Gottsched – Maß und Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Marie-Hélène Quéval Christian Fürchtegott Gellert und die Empfindsamkeit . . . . . . . . . . . 27 Sikander Singh Friedrich Gottlieb Klopstock und die Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . 45 Kevin F. Hilliard Sophie von La Roche und der Genderdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Helga Meise Gotthold Ephraim Lessing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Hugh Barr Nisbet Christoph Martin Wieland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Jutta Heinz Die jüdische Aufklärung (Haskala) um Moses Mendelssohn . . . . . . . 107 Norbert Waszek Georg Forster – die Aufklärung und die Fremde . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Stefan Greif Georg Christoph Lichtenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Arnd Beise

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Inhalt

Friedrich von Blanckenburg und der Roman der Spätaufklärung . . . . 169 Nikolas Immer Anthropologisches Wissen in der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Carsten Zelle Die radikale französische Philosophie im Spiegel der deutschen Aufklärungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Roland Krebs Friedrich Schiller und die Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Volker C. Dörr

Einleitung Michael Hofmann

Der vorliegende Band bietet auf neuestem Stand der Forschung einen Überblick über die wichtigsten Autoren, Strömungen und Tendenzen der deutschen Aufklärungsliteratur. Der Begriff „Aufklärung“ – und dies ist besonders zu betonen – bezeichnet einerseits die hier interessierende historische Epoche, die weitgehend mit dem 18. Jahrhundert gleichgesetzt werden kann, andererseits aber auch eine Geisteshaltung, die als grundlegend für die europäische Moderne anzusehen, gleichzeitig aber auch heftig umstritten ist. Die kritische Theorie der Frankfurter Schule (mit Max Horkheimers und Theodor W. Adornos berühmtem Text „Dialektik der Aufklärung“) und der Poststrukturalismus sehen in der Aufklärung das negative Paradigma der Unterdrückung der Natur, des Leiblichen und des Individuellen, der „großen Erzählungen“ ( Jean-François Lyotard), mit deren Hilfe gesellschaftliche und technisch-industrielle Großeinheiten die Lebenswelt der Einzelnen kolonialisieren und unterdrücken. Der Rationalismus der Aufklärung erscheint in diesem Sinne (mit-)verantwortlich für die großen Probleme unserer Zeit, die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, die Technisierung und Mechanisierung des Massenmords im Genozid, aber auch den Missbrauch wissenschaftlicher Erkenntnisse etwa in der Gentechnologie. Aber selbst die harschen Kritiker der Aufklärung kritisierten nicht die Aufklärung an sich, sondern deren einseitige Ausprägungen und Konsequenzen. Das Streben nach Mündigkeit und Selbstdenken, der Geist kritischer Prüfung alles Althergebrachten und der Kampf gegen Vorurteile und ungerechte Herrschaft gehören zu dem Erbe der Aufklärung, das auch die Kritiker einer unheilvollen Dialektik der Aufklärung nicht herzugeben bereit sind. Der Blick auf die historische Literatur der Aufklärung und ihre Strömungen und Tendenzen zeigt in diesem Zusammenhang, dass bereits die histo-

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rische Aufklärung einseitigen Rationalismus und abstrakte Denkmodelle einer schematischen Vernunft deutlich in Frage gestellt hat. Aufklärung ist nicht immer gleich Rationalismus, Aufklärung ist ein in sich differenzierter Prozess, der die eigenen Grundlagen und Voraussetzungen kritisch hinterfragt. Die Geschichte der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts lässt sich in diesem Sinne als ein komplexer Entwicklungsprozess verstehen, in dessen Rahmen zunächst der Versuch unternommen wird, die Literatur dadurch zu legitimieren und gesellschaftsfähig zu machen, dass ihre Vereinbarkeit mit den Ansprüchen einer aufgeklärten Rationalität dargelegt wird. Das Werk und die Person Gottscheds stehen für den Anspruch, die Literatur von dem zu befreien, was der Leipziger Professor für Literatur und Lehrer Goethes als Ausdruck barocker Irrationalität empfand. In der Welt des aufgeklärten Rationalismus sollte die Literatur gegenüber der Philosophie, der Theologie, aber auch der aufgeklärten Moral und Politik als nützliche und vernünftige Instanz verteidigt werden. Dass sich an dieser Position sehr schnell und gerade im Ausgang von der poetischen Praxis eine gewaltige Polemik entzündete, ja dass die literarische Praxis geradezu im Widerspruch gegen die normativen Ansprüche Gottscheds vorankam, sollte den heutigen Betrachter nicht dazu verleiten, die historische Bedeutung einer Etablierung der Literatur als einer Instanz vernünftigen Denkens zu unterschätzen. Dennoch zeigte sich in der weiteren Entwicklung, dass die Literatur zum Anwalt derer wurde, die sich einer Unterordnung unter eine abstrakte Rationalität widersetzten. Es war kein Irrationalismus, der sich gegen die Forderungen Gottscheds zur Wehr setzte, sondern das Unbehagen an einer allzu reduktionistischen Auffassung von Vernunft, die zu Schematismus und Sterilität führte. Empfindsamkeit, neue Formen religiöser Dichtung (Klopstock) und die Entwicklung einer Wissenschaft der Sinnlichkeit (Ästhetik) sind die Stichworte, mit denen die inneraufklärerische Opposition gegen einen einseitigen Rationalismus bezeichnet wird. Dabei zeigen sich nach 1750 in der Opposition gegen die Vorherrschaft von Wissenschaft und Philosophie Ansätze zu einer Autonomie der Kunst und Literatur, die später von der Weimarer Klassik und der Romantik entschieden verteidigt werden wird. Lessing und Wieland bilden die literarischen Modelle der Hochaufklärung aus, die den Prinzipien einer kritischen Aufklärung verpflichtet sind und das bohrende Fragen und die skeptische Ironie an die Stelle fester Wahrheiten setzen. Und die Spätaufklärung beginnt – parallel zu Kants epochalem Unternehmen der Trans-

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zendentalphilosophie – die Grundlagen des rationalen Denkens und der konventionellen Moral, aber auch konventioneller literarischer Muster kritisch zu befragen. Die Literatur der Aufklärung stellt somit ein geistiges Abenteuer dar, das in seiner Komplexität und Vielfalt immer wieder neu zu entdecken ist. Zu dieser Entdeckung laden die Beiträge des vorliegenden Bandes ein. Marie-Hélène Quéval zeigt in ihrem leidenschaftlichen Plädoyer für den Frühaufklärer Gottsched, dass dessen Verdienste um die Entwicklung der deutschen Literatur immer wieder und immer noch unterschätzt werden, und sie liefert Argumente für eine Neubewertung des vermeintlich schematischen Rationalisten Gottsched. Ebenso zeigt Sikander Singh die Potentiale Christian Fürchtegott Gellerts im Spannungsfeld zwischen Rationalismus und Empfindsamkeit. Dass der große Dichter Klopstock in seiner Bedeutung für die Entwicklung vor allem der deutschen Lyrik unumstritten ist, setzt Kevin F. Hilliard in seinem Beitrag voraus; er zeigt, dass die poetische Innovation auch im 18. Jahrhundert durchaus auch mit konventionellen theologischen Denkmustern einhergehen kann. Helga Meise verdeutlicht, dass im Kontext der Empfindsamkeit weibliche Autorschaft denkbar wurde und dass Sophie von La Roches Werk vor allem im Rahmen des Genderdiskurses von wegweisender Bedeutung war. Die zentrale Position Lessings innerhalb der deutschen Aufklärung steht außer Frage – Hugh Barr Nisbet, der Autor einer epochalen neuen Lessing-Biographie, verdeutlicht in einem prägnanten und besonders pointierten Beitrag, warum wir diesem Allgemeinplatz auch heute noch zustimmen können. Und in ähnlicher Bestimmtheit und Klarheit zeigt Jutta Heinz, dass Christoph Martin Wieland als Epiker der Aufklärung immer wieder neu zu entdecken ist. In diesem Kontext ist die Entwicklung des Romans als literarischer Gattung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von immenser Bedeutung, worauf Nikolas Immer unter Berufung auf Friedrich von Blanckenburg und den Roman der Spätaufklärung verweist. Dass nicht nur große Namen die Literatur der Aufklärung bestimmen, sondern weitere wichtige Perspektiven vor allem in weniger bekannten Entwicklungen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu erkennen sind, zeigen die folgenden Beiträge. Norbert Waszek würdigt kenntnisreich Moses Mendelssohn und die jüdische Aufklärung in Deutschland, Stefan Greif stellt die Bedeutung Georg Forsters im Blick auf die Auseinandersetzung der

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Aufklärung mit dem Fremden in eindringlicher Weise heraus, während Arnd Beise den komplexen Denker Georg Christoph Lichtenberg in einem brillanten Porträt vorstellt. Carsten Zelle stellt mit seiner Analyse des anthropologischen Wissens der Aufklärung ein vielseitiges und reiches aktuelles Forschungsfeld aus der Perspektive eines innovativen Anregers vor. Abschließend bietet Roland Krebs ein Bild der Auseinandersetzung der deutschen Aufklärung mit der radikalen Philosophie des französischen Materialismus und Volker C. Dörr zeigt, wie stark der Weimarer Klassiker Schiller vom Denken und von der Literatur der Aufklärung geprägt war. Insgesamt verdeutlichen die Beiträge somit die Vielfalt und die Fülle der deutschen Aufklärungsliteratur, die sich insbesondere in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Vorläufer der Moderne zeigte. Die Vielfalt des Themas spiegelt sich in der Vielfalt der Beiträgerinnen und Beiträger, die sich insbesondere in der starken Beteiligung renommierter französischer und britischer Forscherinnen und Forscher zeigt. Der vorliegende Band bietet auf aktuellem Forschungsstand eine lebendige und engagierte Auseinandersetzung mit der deutschen Literatur der Aufklärung, deren historische Einbindung ebenso wie ihre aktuelle Bedeutung anschaulich und fesselnd dargestellt wird.

Johann Christoph Gottsched – Maß und Gesetz Marie-Hélène Quéval

Gottsched (1700–1766) spielte in der Geschichte des deutschen Theaters eine zu seinen Lebzeiten zwar nicht unumstrittene, jedoch erstrangige Rolle. Ihm ging es vor allem um die Reformierung der deutschen Sprache und die Rationalisierung der Ästhetik. Den Barockschwulst hat er endgültig besiegt, seine Zeitgenossen zur Pflege der eigenen Kultur erfolgreich ermahnt, gleichzeitig die deutsche Sprache und Bühne modernisiert. Die Sprache wurde von dialektalen und ausländischen Ausdrücken gereinigt, die Syntax und Grammatik vereinfacht. Unübersehbar ist seine Beziehung zu Frankreich; viel weniger Interesse hat dagegen sein Verhältnis zu England und dessen Philosophen Hobbes, Locke oder auch Shaftesbury, Addison, Steele und Pope geweckt.1 Dabei wurden die englischen Einflüsse auf seine literarischen Studien sowie seine gute Kenntnis der englischen Sprache unterschätzt: Nicht zufällig berief er sich im „Versuch einer critischen Dichtkunst“2 auf Shaftesbury, um die Notwendigkeit strenger Regeln in der Kunst zu beweisen, die es allein vermochten, die Eingebungen der Phantasie in Kunst zu verwandeln.3 Denn gerade dieses paradoxe Verhältnis zwischen rationaler Distanziertheit und ungebundener Phantasie machte das Wesen der Kunst aus. Seine theoretischen Werke lieferten schließlich ein brauchbares Kompendium des bisher Erreichten und das 1 Marie-Hélène Quéval: Johann Christoph Gottsched und Pierre Bayle – Ein philosophischer Dialog. Gottscheds Anmerkungen zu Pierre Bayles Historisch-critischem Wörterbuch, in: Diskurse der Aufklärung. Luise Adelgunde Victorie und Johann Christoph Gottsched, hg. von Gabriele Ball, Helga Brandes und Katherine R. Goodman, Wiesbaden 2006, S. 145–168, hier S. 159. 2 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst, in: Ders.: Schriften zur Literatur, hg. von Horst Steinmetz, Stuttgart 1982 [Nachdruck], S. 12–196. 3 Ebd., S. 151f.

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benötigte theoretische Fundament, auf dem die nächsten Generationen bauen würden. Selbst Goethe sollte später die Nützlichkeit seiner „Critischen Dichtkunst“ erkennen, die ihm im Gegensatz zu Breitingers großem „Irrgarten“ Klarheit verschafft hätte.4 Bei den französischen Klassikern Corneille, Racine und vor allem ihrem Nachfolger Voltaire schätzte er die logische Klarheit und Anordnung der Gedanken, die in der Regelmäßigkeit ihrer Werke ihren Ausdruck fanden, während er die feurige Phantasie, den Wahrheits- und Freiheitssinn der Engländer zutiefst bewunderte. Da der anerzogene und oft nur gefühlsmäßige gute Geschmack zum Kunstverständnis nicht ausreichend war, versuchte Gottscheds Ästhetik die Subjektivität des Schönheitserlebnisses zugunsten der Allgemeingültigkeit zu überwinden. Mit seiner „Critischen Dichtkunst“ legte Gottsched tatsächlich vor Baumgarten und Kant den Grundstein zur Ästhetik als Teil der Philosophie. Nach einem Studium der Theologie in Königsberg und mit dem akademischen Grad eines Magister Artium versehen, verließ der 24-jährige Preußen, um sich nach Leipzig zu begeben, wo ihn Prof. Johann Burckhardt Mencke in die gute Gesellschaft einführte. Leipzig war damals das kulturelle Zentrum Deutschlands. Im Romanushaus5 führte Christiane Marianne Ziegler (1695–1760) nach französischem Vorbild einen literarischen und musikalischen Salon. Dort traf Gottsched nicht nur durchreisende Literaten und Virtuosen, sondern auch die geistige Elite der Stadt, so u. a. Johann Sebastian Bach (1685–1750). Nach der Eheschließung mit Luise, geb. Kulmus, sollte deren Salon zum Anziehungspunkt für die gebildete Jugend, Diplomaten, Adlige und Fürsten werden. Wie im Romanushaus wurde die französische Tradition der Geselligkeit gepflegt. Aus dem Gottsched-Kreis ging die „scherzhafte Gesellschaft“ hervor, die Leichtsinn und Ernst zu verbinden wusste. Sonntags wurden am Tische von Graf von Manteuffel der lockere Umgang, Eleganz und Raffinement gepflegt. Scherz und Witz vertrieben den verpönten pedantischen akademischen Stil aus dem Salon, wo sich die Aletophilen gern über ernsthaftere Materien wie 4

Johann Wolfgang Goethe: [Sämtliche Werke]. DTV-Gesamtausgabe [einmalige Taschenbuchsonderausgabe in 45 Bde.], hg. von Peter Boerner, München 1961ff., Bd. 23: Dichtung und Wahrheit – Aus meinem Leben, Teil II, 2. Auflage, München 1969, S. 47. 5 Detlef Doering: Die Leipziger Lebenswelt der Luise Adelgunde Victorie Gottsched, in: Ball [u.a.] (Hg.) [Anm. 1], S. 39–63, hier S. 57.

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die Wolff-Leibniz’sche Philosophie und die Monaden unterhielten. Man tauschte Gedanken aus, belustigte sich bei der Verfassung von Satiren über altmodische Theologen. Mit Christian Wolff (1679–1754) und Christian Thomasius (1655–1728) hob man den praktischen Nutzen der Philosophie hervor . . . Die Philosophie war salonfähig geworden. Gerade die Rolle des geselligen Austauschs nach dem Modell der italienischen Renaissance unterstrich Gottsched in seinen moralischen Wochenschriften, insbesondere in „Die Vernünftigen Tadlerinnen“ (1725– 1726), die die Atmosphäre des Salons sehr realistisch widerspiegelten: die Galanterie, der leichte und doch kultivierte Umgang mit den Frauen, die Coquetterie, die Glücksspiele, die Posen der Freigeister und die Oberflächlichkeit der Petits maîtres . . . Wahrscheinlich waren Gottscheds Portraits zu genau. Die Publikation musste eingestellt werden. Aber auch die ernsthafteren literarischen Diskussionen über Ziele und Aufgaben der Dichtkunst waren Gegenstand der lebhaften Auseinandersetzungen: die Reinigung der Sprache, die Theaterreform, die Kritik des galanten zugunsten des philosophischen sozial- und religionskritischen Romans. Bodmers „Diskurse der Mahlern“ (1721–1723) wurden lediglich wegen der Vermischung lateinischer und französischer Ausdrücke Gegenstand der beißenden Satire der „Tadlerinnen“: sicherlich ein Faux-pas, mit dem er sich die Feindseligkeit der Schweizer zuzog. Der ernsthaftere Biedermann (1727– 1729) führte die Debatten über den Gesellschaftsvertrag6 und den Patriotismus weiter. Nicht ohne Humor vertrat er fortschrittliche Theorien über die neue eudaimonische Ethik, die Kindererziehung, die vernünftige Liebe, die auf gegenseitiger Neigung ruhen sollte, sowie die Frauenemanzipation, insbesondere das Recht der Frauen auf Bildung und Arbeit. Mit den eingeflochtenen übersetzten Kurzgeschichten von Fontenelle, Swift oder auch Marguerite de Navarre wurden die Absurditäten des herkömmlichen Religions- und Ethikverständnisses aufgedeckt. Vernunft und Natur sollten die Gewähr für eine neue Authentizität bilden. Fontenelles Schäferdichtung beschwor ein verlorenes goldenes Zeitalter herauf, als Mensch und Natur harmonisch zusammen lebten, während seine philosophischen Novellen, wie das religionskritische Mreo, ihn zutiefst prägten. Allein der Titel seiner nächsten Wochenschrift „Die Belusti6

Marie-Hélène Quéval: Le Contrat social dans l’œuvre de J. C. Gottsched, in: La Crise de la Modernité européenne, hg. von Barbara Koehn, Rennes 2000, S. 17–36.

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gungen des Verstandes und des Witzes“ (1741–1747) verkündete sein Programm: die Verbindung von Kultur, Wissenschaft und Lebensfreude. Ihm ging es darum, die neuen Erkenntnisse der akademischen Wissenschaft an eine breite Öffentlichkeit zu bringen, indem er die von ihm herausgegebenen Wochenschriften zum Sprachrohr der Aufklärung machte. In seinem Bestreben, die Gelehrsamkeit von der Theologie und der Kirche zu emanzipieren, sie aus dem engen Kreis der Universität einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, gründete er hoch gepriesene gelehrte Gesellschaften und Zeitschriften. Seine Tätigkeit als Publizist sollte vor allem den Frauen die Teilnahme am allgemein einsetzenden Emanzipationsprozess ermöglichen. Er förderte die poetischen Versuche junger Dichterinnen wie C. M. von Ziegler, Sidonia Hedwig Zäunemann (1711–1740), und nicht zuletzt die seiner eigenen Frau Luise. Im Anschluss an die französische von Mme de Sévigné und Ninon de Lenclos popularisierte Briefkultur7 war der Brief zum beliebtesten Mittel für Erziehung, Bildung, Freundschaft und Austausch über schwierige philosophische Materien geworden. Der junge Magister pflegte die Gattung in seinen moralischen Zeitschriften auf spielerisch satirische Art, während er seine Gedichte auch als Briefe verstand und deshalb „Poetische Sendschreiben“ betitelte.8 „Die Vernünftigen Tadlerinnen“ beriefen sich ausdrücklich auf das Vorbild von Melle de Scudéry (1607–1701) und Voiture (1598– 1648). Wie bei seiner Theaterreform war Frankreich lediglich der notwendige Umweg für die Rückeroberung der eigenen Identität. Mit der Theaterreform vollzog sich zusätzlich ein erheblicher Wandel der Beziehung zwischen Autor und Schauspielern. Als außerordentlicher Professor für Poesie, Logik und Metaphysik genoss der selbstherrliche Autor eine bis dahin unbekannte finanzielle Unabhängigkeit und intellektuelle Freiheit. Sie erlaubte ihm, der Geschäftstüchtigkeit der Schauspieler seine Vorstellung der Eigenständigkeit der Kunst entgegenzusetzen und seine Reform des deutschen Nationaltheaters nach dem Vorbild der fran7 Robert Vellusig: Aufklärung und Briefkultur. Wie das Herz sprechen lernt, wenn es zu schreiben beginnt, in: Kulturmuster der Aufklärung. Ein neues Heuristikum in der Diskussion, hg. von Daniel Fulda, Wolfenbüttel 2011, S. 154–171 (Das achtzehnte Jahrhundert 35, 2011, H. 2). 8 Johann Christoph Gottsched: Poetische Sendschreiben, in: Ders.: Ausgewählte Werke, hg. von Joachim Birke, Bd. 1: Gedichte und Gedichtübertragungen, Berlin 1968, S. 313.

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zösischen Klassiker Corneille, Molière, Racine und ihrer Epigonen Voltaire und Destouches durchzusetzen.9 So übernahm die von Friederike Caroline (1697–1760) und Johann Neuber (1697–1759) geleitete Truppe die wichtigsten Elemente der Reform: die strenge Einhaltung der drei Einheiten (Ort, Zeit, Handlung), die einfache einheitliche Kulisse (Einheit der Zeit) und das auf komplizierte Maschinen-Effekte verzichtende und dadurch asketisch wirkende Bühnenbild (Einheit des Ortes). Dank der drei Einheiten konnte die wichtigere, konfliktreiche innere Handlung auf einen Knotenpunkt fokalisiert werden. Der Alexandriner erforderte vom Schauspieler mehr Konzentration. Wegen der schwierigen Kunst der Deklamation musste sein Bildungsniveau erhöht werden. Dadurch vollzog sich eine ethische und soziale Aufwertung eines bisher eher verachteten Standes. Die Schauspielkunst wurde zu einer Berufung, das Theater zum Ort der moralischen Bildung. Schauspielschulen sollten entstehen, die das Amateurhafte von der Bühne vertreiben und das Berufsbild verbessern sollten; durch eine angemessene Entlohnung wollte Gottsched schließlich die finanzielle Selbständigkeit sichern und das mit ihr einhergehende Selbstwertgefühl der Schauspieler stärken. Nicht nur die Schauspieler mussten umlernen, sondern auch das an bilderreiche Bühneneffekte gewohnte Publikum. Trotz der schnellen Erfolge kam es bald zu Zerwürfnissen mit der Neuber’schen Truppe vor allem in der Kostümfrage. Weder das Publikum noch die Schauspieler selbst waren bereit, die Hofkostüme, Allongeperücken und die von ihm als lächerlich verworfenen Federhüte mit den historischen und nationalen Trachten zu tauschen. Mit dieser Forderung war Gottsched seiner Zeit voraus. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sollte sich das historische Kostüm mit Garrick (1717–1779), Melle Clairon (1723–1803) und Le Kain (1729–1778) in Paris durchsetzen.10 1731 kam es zu der triumphalen Uraufführung seiner mustergültigen regelmäßigen Tragödie „Sterbender Cato“ in Leipzig. Dabei meinte Gottsched, das Beste aus den französischen und englischen Traditionen über9

Roland Krebs: L’Idée de Théâtre National dans l’Allemagne des Lumières, Wiesbaden 1985. Marie-Hélène Quéval: Les paradoxes d’Eros ou l’amour dans l’œuvre de Johann Christoph Gottsched, Bern 1999. 10 Heinz Kindermann: Theatergeschichte Europas, 10 Bde., Salzburg 1957–1974, Bd. 4, Teil 1: Von der Aufklärung zur Romantik, S. 471–500.

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nommen zu haben: die formale Perfektion aus Frankreich und die Freiheitsliebe aus England. Im Anschluss an Voltaire versuchte er die französische Liebestragödie zugunsten des philosophisch politisch engagierten Trauerspiels zu überwinden und stellte statt der Liebe gesellschaftspolitisch relevante Themen in den Mittelpunkt. Um die Gefühle des Zuschauers zu wecken, wurde die politische Haupthandlung nach französischem Vorbild in eine private symbolträchtige Nebenhandlung verwickelt. Arsenes zärtliche Neigung zu Cäsar wirkt in der Tat wie eine Übertragung der Haupthandlung in die private Sphäre. Indem die junge Königin zu entsagen lernte, hob sie sich zur tragischen Figur empor. Kaum von der Pflicht befreit, die sie im Namen der absolutistischen Staatsräson zu einer unerwünschten Eheschließung zwang, musste sie auf die Erfüllung ihres Gefühls verzichten, um nach väterlichem Vorbild das Wohl des Staates über das eigene zu setzen. Als Catos Tochter legte sie die Krone ab, erkannte die gerechte gesetzmäßige Regierungsform und entwickelte sich zur edlen selbstlosen römischen Bürgerin. Mit ihrer Figur wurden zwei politische Modelle entgegengesetzt: das Ancien Régime mit seiner Bündnisund Heiratspolitik, die durch Heiratsallianzen lediglich dynastische Interessen verfolgte, einerseits, und die auf das allgemeine Wohl bedachte Staatsführung andererseits. Gleichzeitig werden mit Arsenens Königwürde, Catos bürgerlicher Gesinnung und Cäsars Imperium drei Regierungsformen vorgeführt: die absolutistische, die republikanische und die tyrannische.11 Die Monarchie wird nicht an sich angefochten, da die Königin vom Volk eine Macht erhalten habe, die selbst vom römischen Republikaner für legitim gehalten wird: „Nunmehr erwegt es wohl: Da Euer Vater fällt und Euch ein stolzes Volk die Krone zugestellt.“ (SC 79f.)12 Nach dem Muster der Corneille’schen Tragödie13 werden die Gefühle einem überpersönlichen Gesetz, der Vaterlandsliebe, unterordnet. Dem Staate opfert Cato das eigene und das familiäre Wohl, das Leben seines 11 Gaby Pailer: Cato und Cornelia. Das republikanische Rom als Aufklärungsmodell in den frühen Trauerspieladaptionen der Gottscheds, in: Ball [u.a.] (Hg.) [Anm. 1], S. 169–189. Horst Steinmetz: Nachwort, in: Johann Christoph Gottsched: Sterbender Cato, Stuttgart 1979, S. 132–143. 12 Johann Christoph Gottsched: Sterbender Cato, Stuttgart 1979. Fortan im Text zitiert unter der Sigle ‚SC‘+Vers. 13 Marie-Hélène Quéval: Convention et modernité. Johann Christoph Gottsched et Pierre Corneille, in: Pierre Corneille et l’Allemagne. L’œuvre dramatique de Pierre

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Sohns und das eheliche Glück seiner Tochter. Obwohl der stoische Übermut, das selbstlose Heldentum und die absurde Selbstaufopferung der Figur ihre tragische Dimension verleihen, wirkt diese übermenschliche Tugend befremdend: „Und muß die Tugend denn Natur und Trieb ersticken?“ (SC 1215) Genauso wenig strebt er die politische Macht an. Indem er Cäsars großzügiges Angebot der Machtteilung ablehnt, bewirkt er seinen Untergang, ohne damit Roms Verwüstung durch den Bürgerkrieg zu verhindern. Catos Freiheitsliebe ist unbedingt; sie macht ihn blind und führt ihn in den Tod. Ihre Kompromisslosigkeit verschließt sich jedem Friedensangebot, jedem Bündnis. Sein Selbstmord ist kein Akt der Verzweiflung, sondern ein Opfer, das er der republikanischen Ehre bringt: „Es ist ein großer Schimpf, wenn man Tyrannen glaubt/Und gar von ihrer Hand sein Leben will erhalten.“ (SC 950f.) Catos tragischer Irrtum besteht in der Annahme, er sei nur sich selbst und seinem Ehreverständnis verpflichtet. In den Augen des Autors ist aber das Individuum nicht nur sich selbst, sondern der Gesellschaft schuldig: Mit seinem Selbstmord hätte sich Cato der Aufgabe entzogen, die römische Republik gegen Cäsars Imperium weiterhin zu schützen. Andererseits teilte Gottsched als Verfechter des Gesellschaftsvertrags und des Naturrechts Catos patriotischen Eifer. Die Allianz zwischen Cato und Arsene zeigt, dass die Republik und die Monarchie nicht als unversöhnliche Staatsformen angesehen werden, solange man sich dem Recht der Natur, dem Jus naturae unterwirft. Die Macht wird allerdings nur durch den Willen des Volkes legitimiert. Mit seiner Tragödie veranschaulicht Gottsched Samuel Pufendorfs (1632–1694) Theorie des Gesellschaftsvertrags, der zwischen dem vom Volke unterzeichneten Unterwerfungsvertrag und dem vom König angenommenen Herrschaftsvertrag unterscheidet; dabei verpflichten sich beide Teile, sich dem Wohle des Ganzen zu widmen: „Das Recht beschützt Euch selbst; drum dämpfet Gram und Pein/Und bauet nur, wie Rom, hinfort auf mich allein.“ (SC 137–140) Gottsched wollte lediglich seine Mitbürger von der unrechtmäßigen Herrschaft willkürlicher Fürsten und vom abergläubischen Festhalten an überholten religiösen Dogmen befreien. Aus ihm einen Republikaner zu machen, wäre übertrieben: Sowohl Catos Vorstellung einer Corneille dans le monde germanique (XVIIe–XIXe siècles), hg. von Jean-Marie Valentin, Paris 2007, S. 243–258.

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freiheitlichen republikanischen Grundordnung als auch Agis’ Vision eines egalitären Staats sind zum Scheitern verurteilt. Vielmehr als das republikanische Modell vertritt Gottsched mit Pufendorf und Wolff die Idee des Rechtsstaates. Recht und Gesetz sollten die göttliche Autorität und die Willkür des Fürsten ersetzen.14 In Gottscheds zweiter Tragödie „Die parisische Bluthochzeit König Heinrichs von Navarra“15 nutzt die herrschsüchtige Catherine de Medicis die religiösen Konflikte zur eigenen Machtsicherung aus, während der tolerante Henri IV.16 das Schweigen lernt. Dies sollte nicht als Ablehnung der Monarchie an sich gedeutet werden, sondern als Kritik an den machiavellistischen Auswüchsen dieser Regierungsform. Wichtiger als die Frage, ob eine Republik oder eine Monarchie die beste Regierungsform sei, war das Jus naturae und die Gesetzestreue des Monarchen. Recht und Gesetz waren ihm wichtiger als Heldentum und Herrschaft. Auch der Monarch musste sich in dem Rechtsstaat dem Gesetz unterwerfen. Das naturrechtliche Denken der Aufklärung war im Ideal der bürgerlichen Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz verankert. Mit der Ständeklausel akzeptierte Gottsched die historische Einteilung des adligen Trauerspiels und des bürgerlichen Lustspiels. Die Tragödien spielten lediglich in der Welt des Adels und waren für die Hofgesellschaft bestimmt. Catos Persönlichkeit erhob jedoch das Bürgertum in die höhere Sphäre der Tragödie. Gerade in der Annäherung des Bürgertums an den Adel liegt das Neue seiner Reform. Mit Cato wurde der Adel moralisch gewertet: Nicht die Geburt, sondern die Tugend bestimmte den Adel des tragischen Helden. Wie bei Sophokles entsprang die tragische Dimension, das Leiden des Helden, aus seiner seelischen Größe, aus seinem geistigen Adel. Dabei wurde eine gewaltige Korrektur vollzogen, indem das Bürgertum an dem Spiel teilhaben und ein bürgerlicher Zuschauer sich mit Cäsar, Agis und Heinrich IV. von Navarra identifizieren durfte. Mit Cato ebnete 14 Cato: „Die Helden, welche sonst Gesetz und Rechte schützen,/Ersticken die Natur und schänden ihr Gebot.“ [. . .]//Cäsar: „Ihr wollt dem Siege stets Gesetz und Regeln geben:/Ach laßt mich doch nur selbst nach Ruhm und Ehre streben.“ (SC 899–920) 15 Johann Christoph Gottsched: Die parisische Bluthochzeit König Heinrichs von Navarra, Leipzig 1745. 16 Marie-Hélène Quéval: Les Noces de Sang du Roi Henri IV ou de l’Idée de la tolérance religieuse, in: L’Allemagne, des Lumières à la Modernité. Mélanges offerts à JeanLouis Bandet, hg. von Pierre Labaye, Rennes 1997, S. 39–51.

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Gottsched indirekt den Weg zum bürgerlichen Trauerspiel. Auch die Geschlechtscharaktere wurden im Sinne der Naturrechtslehre neu geschildert. So führte Thalestris als gleichberechtigte emanzipierte Frau einen unerbittlichen Krieg gegen die traditionelle Rollenverteilung und das männliche Geschlecht, dessen Mut und Tapferkeit sie in vollem Maße besaß. Nicht die Monarchie an sich kritisierte Gottsched, sondern ihre entartete Form der Tyrannei. Im Anschluss an den Monarchomachen vertrat er das Widerstandsrecht gegen die Tyrannen, d. h. gegen die uneingeschränkte Souveränität des Herrschers, wie sie von Bodin und Hobbes definiert wurde. Wenn ein Tarquin entspringt, sind hundert Bruti da, Die man noch nie gebückt zu deinen Füßen sah. Man spricht dereinst von uns wie wir von unsern Vätern: Sie straften Könige, wir tun es an Verrätern. (SC 961–964) Mit ihren ungeheuren Machtansprüchen stürzten Cäsar, Catherine de Medicis, Thalestris ihre Untertanen ins Unglück, statt sich um ihr Wohl zu bemühen. Gottscheds Tragödien, „Der sterbende Cato“ (1731), „Die parisische Bluthhochzeit König Heinrichs von Navarra“ (1745), „Agis, König zu Sparta“ (1745) und „Thalestris, Königin der Amazonen“ (1766), engagierten sich für die bürgerlichen Freiheiten in einem Rechtsstaat, gegen die willkürliche absolutistische Monarchie im Sinne eines Ludwig XIV., für die von Friedrich II. in Preußen vertretene Auffassung des aufgeklärten Monarchen, gegen die religiöse Intoleranz, für die Annäherung der Konfessionen, gegen die Unterdrückung der Frauen und für die Gleichstellung der Geschlechter. Bei allen Hauptfiguren bestand das Tragische in einem falschen übertriebenen Tugendverständnis. Denn der stoischen Selbstopferung und Weltabkehr zog der Aufklärer die eudaimonistische Moralvorstellung vor. Tugendhaft war die Haltung, die die eigene und allgemeine Glückseligkeit förderte. Aufgabe der neu entstehenden ästhetischen Wissenschaft war es nun, die verborgenen Mechanismen der Kunst zu verstehen. Dies war die Aufgabe des Kunstkritikers, der kein Kunstrichter war. „Critisch“ war Gottscheds Dichtkunst, weil sie sich mit dem Wunder des Kunstwerks rational auseinandersetzte. Nicht die Kunst war rational, sondern die sich mit ihr

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auseinandersetzende Philosophie: die Ästhetik. Das französische „Je ne sais quoi“ reichte nicht aus, um das Besondere am Kunstwerk zu definieren. Die Regeln – das hatte Goethe sofort erkannt – betrafen nur das äußerlich Formelle, das mit der Vernunft Fassbare. Das Talent – später Genie genannt – wurde vorausgesetzt. Es befand sich im Spannungsfeld zwischen Gefühl und Phantasie einerseits, Vernunft und Wissenschaft andererseits, und blieb ein Mysterium. Die Ästhetik wurde als eine akademische Wissenschaft betrieben; wie das Kunstwerk selbst entstand, blieb verborgen. Das Feuer der Leidenschaft gehörte dazu, da die Kunst eine sinnliche Erfahrung war. Doch: erst mit deren Bändigung durch die Vernunft entstand das Kunstwerk. Damit hatte Gottsched mit Diderot das Paradoxe an der Kunst erkannt: Der Dichter musste die wilden Leidenschaften selbst erfahren haben, bevor er zur Feder griff. Um sie in Kunst zu verwandeln, musste ihnen die Vernunft Einhalt gebieten. Denn nur im nüchternen Zustand konnte der Dichter über seine Gefühle und Leidenschaften schreiben. Das Wesen der Kunst bestand damit in dieser Wechselwirkung von Gefühl und Vernunft. Das Gefühl war die Grundvoraussetzung; die Vernunft schuf die nötige Distanz: der Dichter brauchte Maß und Gesetz, um nicht von der Leidenschaft vernichtet zu werden.17 Lange wurde Gottscheds Kritik an der Phantasie mißverstanden. Nicht gegen die Phantasie an sich richtete sich die Kritik, sondern gegen die Unfähigkeit, sie zu beherrschen und ihre Bilder in Kunst zu verwandeln. Der Dichter beschreibt mit seiner Vernunft die Leidenschaften, die er zwar selbst empfunden hat, nur nicht im Augenblick des Schreibens empfinden darf: Formell ist die Dichtung ein Werk der Vernunft, ihr Gehalt entstammt jedoch aus den wilden Leidenschaften und der Phantasie.18

17 „Wer seinen regellosen Trieben den Zügel schießen läßt, dem geht es wie dem jungen Phaethon. Er hat wilde Pferde zu regieren, aber wenig Verstand und Kräfte, sie zu bändigen und auf der rechten Bahn zu halten. Sie reißen ihn fort, und er muß folgen, wohin sie wollen, bis er sich in den Abgrund stürzet.“ (Gottsched [Anm. 2], S. 49.) 18 „Die guten Poeten nun, so ihre Einbildungs-Kraft durch die Vernunft in den Schranken zu halten und die hohe Schreibart durch die Regeln der Wahrscheinlichkeit zu mäßigen gewußt, sind auch bei einer vernünftigen hohen Art des Ausdruckes geblieben. Die schwachen Geister aber, die ihrer Phantasie folgen mußten, wohin sie wollte, verstiegen sich gar zu hoch, so daß Horaz sie beschuldiget, sie hätten bisweilen solche Rätsel als die delphische Priesterin gemacht [. . .].“ (Ebd., S. 169.)

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Im Gegensatz zur trockenen und rationalen Philosophie hatte die Kunst19 den großen Vorteil, tief in die Seele einzudringen und ihre Wirkung dadurch zu intensivieren.20 Und doch musste die Vernunft eingreifen, um die Gefühle in Kunst zu verwandeln. Solange sie es nicht tat, blieb man auf der Ebene der individuellen Erfahrung und des guten Geschmacks.21 Aus diesem Widerspruch der durch die perfekte rationale Form gezähmten Leidenschaft entstand das Erhabene. Zentral für Gottscheds Verständnis des Erhabenen war die Abhandlung „Peri hypsous“des Longinos; in dieser Schrift wurde das Erhabene als dasjenige beschrieben, das die Hörer verrückte und erschütterte. Als gründlicher Leser von Addison übernahm er von ihm die Unterscheidung zwischen dem Großartigen (great), dem Schönen (beautiful) und dem Ungewöhnlichen (uncommon). Dem Wunderbaren zog Gottsched das Erhabene vor: Die auf spektakulären Überraschungseffekten gründende Dramaturgie des Barock und der Wanderbühnen wurde zugunsten einer Wirkungsästhetik der Bewunderung und der Rührung aufgegeben, wie sie schon von Batteux (1713–1780) vertreten werden sollte. Für die aristotelische Katharsis als eine Reinigung der tragischen Leidenschaften „Furcht“ und „Mitleid“ zeigte er mit Corneille und Voltaire wenig Verständnis. 22 „Die meisten Gemüter sind viel zu sinnlich gewöhnt, als daß sie einen Beweis, der aus bloßen Vernunftschlüssen besteht, sollten etwas gelten lassen, wenn ihre Leidenschaften demselben zwider sind. Allein Exempel machen einen stärkeren Eindruck ins Herz.“ ( Johann Christoph Gottsched: Die Schauspiele und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen, in: Ders.: Schriften zur Literatur [Anm. 2], S. 3–11, hier S. 6.) 20 „Überhaupt sind die Musen nicht Göttinnen der Weisheit oder der Wissenschaften, sondern der Poesie, der Musik und der Geschichte, mit einem Worte, der freien Künste. Man muß also von ihnen nichts fordern, als was ihnen zugehört. Die Vernunftschlüsse gehören vor die Weise Pallas, der Feldbau vor die Feldgötter, als Sonn und Mond, Bacchus und Ceres, [vor] die Faunen und Nymphen, [vor] den Pan und Neptun, [vor] die Minerva und den Silvan usw.“ (Gottsched [Anm. 2], S. 111.) 21 „Denn soviel ist gewiß, daß ein Dichter zum wenigsten denn, wenn er die Verse macht, die volle Stärke der Leidenschaft nicht empfinden kann. Diese würde ihm nicht Zeit lassen, eine Zeile aufzusetzen, sondern ihn nötigen, alle seine Gedanken auf die Größe seines Verlustes oder Unglücks zu richten. Der Affekt muß schon ziemlich gestillet sein, wenn man die Feder zur Hand nehmen und seine Klagen, in einem ordentlichen Zusammenhange vorstellen will.“ (Ebd., S. 82.) 22 „Alle diese und unzählige andere Bilder rühren mich im innersten der Seelen. Ich bewundere solche Helden. Ich verehre ihre Vollkommenheit. Ich fasse den edlen Vor19

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Gerade diese Diskussion zog Gottsched in den fünfzehnjährigen Streit (1730–1745) mit den Schweizern Johann Jakob Bodmer (1698–1783), Johann Jakob Breitinger (1701–1776) (Genie gegen Vernunft) und dem Hallenser Jakob Immanuel Pyra (1715–1744) (Gefühl gegen Vernunft) hinein. Seit Ende des 20. Jahrhunderts wird im Rahmen der Rehabilitation Gottscheds dieser Streit neu bewertet. Gottscheds Bewunderung für Corneilles „Cid“ beweist, wie zwiespältig wahre Kunst sein kann. Gerade am Beispiel des „Cid“ zeigte sich, dass die Einhaltung der Regeln allein noch kein Kunstwerk ausmachen könnte, und dass das Ziel des Trauerspiels die emotionale Wirkung sei. Die rationalen Regeln standen gerade im Dienst des Gefühls! Ein anderer wichtiger Aspekt des Streites mit den Schweizern war die Religion: Obwohl Gottscheds Deismus heute noch nicht allgemein angenommen wird23, ist er kaum zu bestreiten.24 Aus dieser Position des Deismus heraus lehnte er religiöse Themen als Gegenstand der Literatur ab. Vielmehr als seine ästhetischen Ansichten, die sich nicht grundsätzlich von denen der Schweizer unterschieden, war seine Ablehnung des christlichen Epos entscheidend. Gottsched verband nämlich die Kritik am Wunderbaren mit dem Kampf gegen die Offenbarung. In diesem Sinne sollte man auch seine Stellungnahme in der zeitgenössischen Diskussion um John Miltons religiösen und von Bodmer 1732 übersetzten Epos „Paradise Lost“ (1667) und Klopstocks „Messias“ (1751) sowie auch seine Vorliebe für Schönaichs Nationalepos „Hermann“ (1751) verstehen.25 Nur so ist satz, sie nachzuahmen, und fühle einen heimlichen Ehrgeiz, nicht schlechter als sie befunden zu werden.“ (Gottsched [Anm. 19], S. 7.) 23 Andres Straßberger: Johann Christoph Gottsched und die „philosophische“ Predigt. Studien zur aufklärerischen Transformation der protestantischen Homiletik im Spannungsfeld von Theologie, Philosophie, Rhetorik und Politik, Tübingen 2010. 24 Eugen Wolff: Gottscheds Stellung im deutschen Bildungsleben, Kiel/Leipzig 1895. Quéval [Anm. 9]. Martin Mulsow: Freigeister im Gottsched-Kreis. Wolffianismus, studentische Aktivitäten und Religionskritik in Leipzig 1740–1745, Göttingen 2007. Günter Gawlick: Johann Christoph Gottsched als Vermittler der französischen Aufklärung, in: Zentren der Aufklärung III: Leipzig. Aufklärung und Bürgerlichkeit, hg. von Wolfgang Martens, Heidelberg 1990, S. 179–204. 25 „Was soll man also von denen denken oder sagen, die uns auf gut miltonisch mit der Geisterwelt, dem Cherubim und Seraphim, den Teufeln aller Arten und den Feien und Hexen plagen? Die uns in allen diesen Dingen Geheimnisse der Religion vortragen, die über alle Vernunft und folglich über alle Wahrscheinlichkeit sind? Dieses, daß

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Voltaires Unterstützung in diesem Streit zu verstehen: es ging nicht so sehr um eine ästhetische als um eine ideologische Auseinandersetzung. Gottsched und Voltaire einigten sich sowohl in dem Kampf gegen die Allmacht des Klerus als auch in der inhaltlich philosophischen, wenn nicht formellen Erneuerung der klassischen Tragödie französischer Prägung. Als Dichter und Theaterautor ist Gottsched in die Geschichte eingegangen. Wenig Beachtung fand dagegen sein philosophisches Werk. In der Tat ließ er sich gern mit Fontenelle und Voltaire vergleichen und zählte sich selber zu den „neuen Philosophen“. In ihnen fand er mutige Vorbilder, die sich öffentlich für die Toleranz gegen die Amtskirche und die von ihr verbreiteten religiösen Vorurteile eingesetzt hatten. Mit den „neuen Philosophen“ stellte er seine Position und sein Talent als Redner in den Dienst der Vernunft und Gerechtigkeit und bemühte sich ein Leben lang um die Aufklärung seiner Mitbürger. So nutzte er seine Stellung als Rektor und Professor, um nicht nur durch die eigenen Schriften und die Veröffentlichung verruchter Werke von Fontenelle26, Bayle27, Terrasson28, Helvétius29 u. a., sondern auch in seinen öffentlichen Reden meinungsbildend zu wirken. Durch sein entschiedenes Auftreten in der Öffentlichkeit entfernte er sich vom alten Modell des zurückgezogenen Schulgelehrten: Die Rhetorik pflegte er als eine Kunst, die er gern außerhalb des akademischen Lehrbetriebs in den von ihm neu gegründeten Gesellschaften lehrte. sie uns die Sphäre der Dichtkunst über den menschlichen Begriff hinaus erstrecken und sich alle Augenblick in die Gefahr begeben, wider die Wahrheit und Wahrscheinlichkeit zu verstoßen.“ (Gottsched [Anm. 2], S. 152f.) Die Kritik wurde 1751 in die 4. Auflage anstelle des Shaftesbury-Zitats eingefügt. 26 Bernard Le Bouyer de Fontenelle: Auserlesene Schriften, Leipzig 1760. 27 Peter Baylens Historisches und Critisches Wörterbuch. Ins Deutsche übersetzt, auch mit einer Vorrede und verschiedenen Anmerkungen versehen von Johann Christoph Gottscheden, nebst dem Leben des Herrn Bayle v. Desmaizeau, Leipzig 1742. Pierre Bayle: Herrn Peter Baylens, weyland Prof. Der Philosophie zu Rotterdam, verschiedene Gedanken bey Gelegenheit des Cometen, der im Christmonate 1680 erschienen: An einen Doctor der Sorbonne gerichtet, Hamburg 1741. 28 Des Abt Terrassons Philosophie nach ihrem allgemeinen Einfluße auf alle Gegenstände des Geistes und der Sitten. Aus dem Französischen verdeutschet. Mit einer Vorrede von Johann Christoph Gottscheden, Leipzig 1756. (Übersetzt von Luise A. V. Gottsched und mit einem ihr eigenen Exkurs über die Religion versehen.) 29 Claude Adrien Helvétius: Discurs über den Geist des Menschen. Übersetzt von Johann Christoph Gottsched, Leipzig 1760.

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Wegen der dort deistischen und gewagten vorgetragenen Thesen durfte allerdings nur eine kleine sorgfältig ausgesuchte Anzahl von Studenten und Freunden an seiner Societas Conferentium (1732–1734) teilnehmen. Gerade diese Erneuerung der Redekunst bewirkte den massiven Andrang bei seinen Vorlesungen: Seinen Vortrag über Opitz hielt er vor vierbis fünfhundert Studenten und von ihm eingeladenen Freunden.30 Hier drückte er vor einem begeisterten Publikum einen echten patriotischen Eifer aus; denn sein Anliegen bestand darin, ein neues Selbstwertgefühl bei seinen Landsleuten zu wecken, sie zur Eigenleistung zu ermuntern und zur Pflege der eigenen Sprache und Literatur zu ermahnen. Mit seiner Opitz-Rede31 zog er sich allerdings den Neid eines Heinrich Klausing (1675–1745) zu, der ihn wegen öffentlichen Ärgernisses anzeigte. Ärgerlich war sicherlich die Auslassung von Luthers Verdiensten für die Fortschritte der Wissenschaft und Philosophie, oder die direkte Attacke gegen die lateinische Sprache als Instrument der „Finsternis“ und gegen die Intoleranz der Kirchen. Am eigenen Leibe erfuhr er, wie gefährlich es war, den vorgegebenen akademischen Rahmen zu sprengen, und sein Mäzen Manteuffel musste sich für ihn einsetzen. Mit ihm löste sich die akademische Gelehrsamkeit von der Theologie. Und mit dem Begriff der Weltweisheit meinte er mehr als die Philosophie. Es ging ihm wirklich darum, die Physis zu erforschen und die Transzendenz als nutzloses Irren abzutun. Gleichzeitig gewann der Begriff der Vernunft ein neues Gewicht: Das Individuum sollte sich nicht mehr den Vorschriften der Theologie unterwerfen; Ziel der Moral war nicht mehr Gott, „Dès que j’en fus informé après mon retour de Weissenfels, je lui dis, que j’étais tenté de l’entendre. Il n’en fut pas faché, comme vous le croirez facilement et pour donner un peu plus de brillant à son auditoire, il fit avertir; non en cérémonie mais en particulier, plusieurs de ses amis; et nommément le Recteur d’à présent Mr Richter et le Doien de la faculté philosophique, Mr Olearius, qu’ils lui feroient plaisir de venir à la même heure, qu’il avoit indiquée pour ses leçons, dans ce vieux collège philosophique, où ces messieurs, comme moi-même, et 4 ou 5 centaines d’étudiants ne manquèrent point de se trouver à point nommé. [. . .] après quoi l’heure étant finie chacun se retira comme il était venu, c’est à dire sans l’ombre d’une cérémonie. Voici l’histoire de cette harangue.“ (Brief von Manteuffel an Holtzendorff, 25. 09. 1739, in: Gottscheds Korrespondenten. Universitätsbibliothek Leipzig, MS 0342, Bd. V, S. 967b.) 31 Johann Christoph Gottsched: Gedächtnisrede auf Martin Opitzen von Boberfeld, Leipzig 1739, in: Ders.: Schriften zur Literatur [Anm. 2], S. 212–238, hier S. 212. 30

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sondern das eigene Wohl in einer wohlhabenden Gesellschaft. In diesem Sinne war die Moral Ausdruck der Vernunft. Und vernünftig war nur die Natur. Die Aussicht auf Strafen und Belohnungen im Jenseits garantierte die Autorität der moralischen Regeln nicht mehr. Vernünftig war die Moral erst dann, wenn sie im Dienste des Lebens stand. Die Beziehung zum Jenseits wurde aufgegeben. Die Ethik regelte lediglich das Verhältnis der Menschen zueinander und das des Individuums zu sich selbst. Die Vernunft schrieb die Pflichten vor, indem sie das dem Menschen Nützliche erkannte. Die Tugend hatte nichts mehr mit Opfer und Disziplin zu tun. Die Regeln fand man nicht mehr in der Bibel, sondern im Buch der Natur. Gottsched befand sich an der Schwelle zwischen Tradition und Modernität: Traditionsbehaftet war seine Verbindung von Rhetorik und Poesie32; neu dagegen waren der sozial-politische Gehalt seines Werkes und die Suche nach Authentizität. Nicht seinem literarischen Talent verdankte Gottsched seinen Ruhm. Sehr schnell wurden seine poetischen Versuche Gegenstand der Satire. Dabei darf man nicht vergessen, dass selbst die edelsten Tragödien auf den Wanderbühnen parodiert wurden. Sein Verdienst ist es, durch seine klaren und mutigen Stellungnahmen gegen die Orthodoxie und den Obskurantismus für die natürliche Religion, die Wissenschaft und eine engagierte Literatur gefördert zu haben. Er wirkte in der privateren Sphäre des Salons, veröffentlichte Zeitschriften, die ein nicht akademisches Publikum erreichen sollten, und hielt öffentliche, manchmal sogar frei zugängliche und immer gut besuchte Vorlesungen, wo er sein wirkliches rhetorisches Talent entfalten konnte. Eine weltfremde akademische Wissenschaft lehnte Gottsched ab, und das Theater bot gerade die Möglichkeit, die Erkenntnisse der Aufklärung einer breiteren Öffentlichkeit näher zu bringen. Selbst offizielle Gelegenheitsreden gaben ihm die Möglichkeit, Einfluss auf das Zeitgeschehen zu üben. Mit Gottsched fand schließlich Christian Wolffs emanzipatorische Botschaft ihre Verwirklichung auf der Bühne. Nicht zufällig wurde der Spruch der Aletophilen „sapere aude“ mit Immanuel Kant zur Devise der Aufklärung erhoben. „Weil auch in der Tat ein Redner und Komödiant in diesem Stücke einerlei Pflicht haben, so können sich diese auch aus dem Traktate des Le Faucher ‚De l’action de l’orateur‘, so unter Conrarts Namen herausgekommen, auch ins Deutsche übersetzt worden, manche gute Regel nehmen.“ (Ebd. [Anm. 2], S. 175.) 32

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1768, wenige Monate nach dem Tod des Schriftstellers Laurence Sterne, veröffentlichte Johann Heinrich Cramer die deutsche Übertragung des letzten, unvollendet gebliebenen Werkes des Dichters unter dem Titel „Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien“. Im Vorbericht der Ausgabe teilt der Übersetzer Johann Joachim Christoph Bode eine Passage aus einem Brief von Gotthold Ephraim Lessing mit, die deshalb Beachtung gefunden hat, weil der Dramatiker als deutsche Entsprechung des englischen Begriffs „sentimental“ das Wort „empfindsam“ vorschlägt.1 Die Vokabel ist zwar bereits in den Jahren zuvor nachweisbar, etablierte sich aber erst nach der Publikation der deutschen Ausgabe des englischen Romans.2 Die Geschichte des Neologismus ist nicht allein deshalb interessant, weil in ihr die Genese eines ästhetischen Konzeptes erkennbar ist, das die Debatten der siebziger und achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts wesentlich bestimmt hat. Für die Frage nach dem Einfluss der Werke und Schriften Christian Fürchtegott Gellerts auf die Entwicklung der deutschen Empfindsamkeit ist die Beobachtung bedeutsam, weil sie sichtbar macht, dass der Schriftsteller, der 1769, also ein Jahr nach der Veröffentlichung der „Empfindsamen Reise“, verstarb, zwar nicht als Vertreter dieser literarischen Strömung gelten kann; sich aber in seinem Werk jene philosophischen Diskurse und ästhetischen Paradigmenwechsel abzeichnen, welche die prozesshaften Übergänge und Verwerfungen im Spannungsfeld von 1

Gotthold Ephraim Lessing: Gesammelte Werke [in zehn Bänden], hg. von Paul Rilla, Berlin 1954ff., Bd. 9: Briefe, Berlin 1957, S. 282. 2 Vgl. hierzu Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Bd. 1: Voraussetzungen und Elemente, Stuttgart 1974, S. 4–7.

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mittlerer und später Aufklärung, von literarischem Rokoko, Empfindsamkeit und Sturm und Drang charakterisieren. Dieser Befund zeigt sich bereits in den Urteilen, die der Leipziger über die frühen Werke von Christoph Martin Wieland und Friedrich Gottlieb Klopstock formuliert. So schreibt er über die „Empfindungen eines Christen“3: „Wielands Empfindungen haben, als Poësie betrachtet, große Schönheiten für die Einbildung; aber mein Herz weigert sich, seine Sprache zu reden, wenn es mit Gott redet.“4 Indem Gellert auf die „Schönheiten für die Einbildung“ eingeht und damit einen der zentralen Begriffe der Dichtungslehre des Schweizers Johann Jakob Breitinger aufgreift, erkennt er zwar an, dass Wielands Werk trotz seines religiösen Inhalts einen ästhetischen Eigenwert behauptet, gleichwohl vermag er dies nicht mit seinem eigenen Dichtungsideal zu vereinbaren.5 Die gleiche Dialektik spiegelt sich auch in Gellerts Urteilen über die Dichtungen Klopstocks. In einem Brief an Charlotte Sophie von Bentinck bezeichnet er den Dichter als ein „großes aber schwehrdenkendes Genie“.6 Die nachfolgend skizzierten Leseeindrücke antizipieren zwar die emphatischen Urteile, die Klopstocks Werk in den literarischen Zirkeln der Zeit hervorgerufen hat, stellen aber zugleich die Vorbehalte heraus, die Gellert gegenüber dem Jüngeren hegt. Indem er am Ende seines Schreibens feststellt, dass Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger Klopstock „zu hastig u. ausschweifend gelobt“ haben, während die „andre Partey“ den Dichter „zu seicht u. zu beleidigend getadelt“ hat, betont er seine eigene, vermittelnde Stellung zwischen jenen Positionen, deren Widerstreit den poetologischen Diskurs der Epoche bestimmt hat.7 In „Dichtung und Wahrheit“ schreibt Johann Wolfgang von Goethe über Klopstock und seinen Einfluss auf das Dichtungsverständnis seiner Epoche: „Nun sollte aber die Zeit kommen, wo das Dichtergenie sich 3 Christoph Martin Wieland: Empfindungen eines Christen: Lobe den Herrn du meine Seele, Zürich 1757. 4 Christian Fürchtegott Gellert: Briefwechsel, hg. von John F. Reynolds, 5 Bde., Berlin/New York 1983ff., Bd. 2, Berlin 1987, S. 109. 5 Johann Jacob Breitinger: Critische Dichtkunst. Worinnen die Poetische Mahlerey in Absicht auf die Erfindung im Grunde untersuchet und mit Beyspielen aus den berühmtesten Alten und Neuern erläutert wird, 2 Bde., Zürich 1740, Bd. 1, S. 128f. 6 Gellert [Anm. 4], Bd. 1, Berlin 1983, S. 272. 7 Ebd.

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selbst gewahr würde, sich seine eignen Verhältnisse selbst schüfe und den Grund zu einer unabhängigen Würde zu legen verstünde. Alles traf in Klopstock zusammen, um eine solche Epoche zu begründen.“8 Gellert ist einer der Wegbereiter dieser neuen ästhetischen Ideale, die Goethe im Werk Klopstocks erstmals in der Geschichte der deutschen Literatur in produktiver Weise ausgebildet findet.9 Indem er an dem rationalistischen Ordnungsbegriff der Aufklärung festhält, die das literarische Kunstwerk als die „Objektivation eines Regelsystems“ begreift, und bereits dem Subjektiven des Gefühls Ausdruck verleiht und mit diesem „empfindsamen“ Ansatz sowohl produktions- als auch wirkungsästhetische Potentiale des literarischen Schreibens entfaltet, wird der Übergang zweier Epochen in seinem Werk manifest.10 Wie sein akademischer Lehrer Johann Christoph Gottsched beharrt Gellert jedoch auf der Vorstellung, die Literatur müsse auf einer moralischen Überzeugung gründen und diese – im Sinne des Horazischen „aut prodesse volunt aut delectare poetae“ – auf eine ebenso angenehme wie ästhetisch überzeugende Weise vermitteln, denn neben den „Eigenschaften des Verstandes, die ein wahrer Poet besitzen und wohl anwenden muß, soll er auch von rechtswegen ein ehrliches und tugendliebendes Gemüth haben“.11

Die Morallehre: Vernünftige Gefühle Gellert überführt den rationalistischen Diskurs, der im frühen 18. Jahrhundert entwickelt worden ist, in eine praktische, lebensnahe Morallehre mit religiösen Momenten. In diesem Sinne definiert Christian Garve das philosophische Hauptwerk des Leipzigers, die „Moralischen Vorlesungen“, als ein System, eine „Reihe von Wahrheiten“ beinhaltend, die „zusammen8 Goethes Werke [Weimarer Ausgabe], hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Abt. I-IV, 133 Bde. in 143 Tln., Weimar 1887–1919, Abt. I, Bd. 27, Weimar 1889, S. 296. 9 Vgl. Wilhelm Große: Studien zu Klopstocks Poetik, München 1977, S. 24–62. 10 Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, Heidelberg 2004, Bd. 1, S. 9 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 210). 11 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, durchgehends mit den Exempeln unserer besten Dichter erläutert, Leipzig 1751, S. 109f.

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hängen, und davon die vorhergehenden zum Verstande oder zum Beweise der folgenden angewandt werden“.12 Der Popularphilosoph legt den Akzent seiner Betrachtung auf den argumentativen, dem deduktiven System rationalistischer Syllogismen verpflichteten Aufbau der Moralvorlesungen. Zugleich betont Garve den „Endzweck“, dem Gellerts Entwurf dient: die Befreiung von Vorurteilen sowie unrichtigen Anschauungen, welche die geistige und moralische Vervollkommnung des Menschen behindern und der Entwicklung einer auf den Grundsätzen der christlichen Lehre basierenden Gesellschaftsordnung im Wege stehen.13 Aufklärung ist für den Leipziger also ein politisch-sozialer Entwurf, der durch verbindliche Formen des sozialen Verhaltens ideale Zustände auf Erden schaffen will. Indem er die „Religion zum Grunde der Moral“ setzt, die „einzelnen Tugenden sorgfältig erklärt; ihre Bewegungsgründe auf die eindringendste Art“ darstellt und die „Mittel zu ihrer leichtern Ausübung aus der Erfahrung“ schöpft, zeigt sich zudem ein pädagogisches Moment, das seinem Denken eigen ist und das nicht nur die philosophischen Schriften kennzeichnet, sondern auch in den frühen literarischen Werken aufscheint.14 Neben diesen, die philosophischen Morallehren des Frührationalismus fortsetzenden Vorstellungen betont Gellert jedoch die paradigmatische Bedeutung der Empfindung für den Prozess der sittlichen und damit innerweltlichen Vervollkommnung des Menschen. Schon in der den „Moralischen Vorlesungen“ vorangestellten „Vorerinnerung an seine Zuhörer“ erklärt er sein Bestreben, „die vornehmsten Theile der Sittenlehre auf eine lebhaftere Art, nicht bloß durch Beweise der Vernunft, sondern zugleich durch die Aussprüche des Herzens und die Stimmen der innerlichen Empfindung und des Gewissens, durch Beyspiele und Gemälde“ zu erläutern.15 12 Christian Garve: Vermischte Anmerkungen über Gellerts Moral, dessen Schriften überhaupt, und Charakter, in: Der Philosoph für die Welt, hg. von Johann Jakob Engel, Leipzig 1775, Erster Theil, S. 198–252, hier S. 199f. 13 Vgl. ebd., S. 209. 14 Ebd., S. 199. Vgl. Friedrich Koch: Christian Fürchtegott Gellert. Poet und Pädagoge der Aufklärung, Weinheim 1992, S. 144f. 15 Christian Fürchtegott Gellert: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe, hg. von Bernd Witte, 7 Bde., Berlin/New York 1988–2008 [fortan zitiert unter der Sigle ‚GS‘+Band- und Seitenzahl], Bd. 6: Moralische Vorlesungen, moralische Charaktere, Berlin 1992, S. 7.

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Dass Reflexion und Emotion wechselweise aufeinander bezogen sind, ist deshalb für Garve der wesentliche Neuansatz, den Gellert mit seinen Vorlesungen über die Moral aus der englischen und schottischen Moralphilosophie übernommen und in den deutschen Diskurs überführt hat.16 Das philosophische System des Leipziger Aufklärers erweist sich somit als Werk einer Phase des Rationalismus, die in dem Versuch, die Zusammenhänge der Welt verstehbar zu machen, in jenen Grenzbereich seiner Möglichkeiten gelangt ist, den die Zeitgenossen nur durch einen Perspektivenwechsel von der sinnlichen Erfahrbarkeit zu der erfahrbaren Sinnlichkeit der Erscheinungen überschreiten zu können glaubten.17 Grundlage der in der Folge a priori gesetzten Annahme dieser bereits empfindsamen Anschauung ist die eines dem Menschen innewohnenden, natürlichen sittlichen Empfindens, das jedoch im individuellen Entwicklungsprozess durch die Bildung der regulierenden Verstandeskräfte erst zur Entfaltung gebracht zu werden bedarf. Im Spannungsverhältnis dieses Synthesegedankens von Vernunft und Gefühl, Sinn und Sinnlichkeit ist auch die begriffliche Definition der Moral zu verstehen, die Gellert an den Anfang der ersten „Moralischen Vorlesung“ stellt: Die Moral, oder die Kenntniß von der Pflicht des Menschen, soll unsern Verstand zur Weisheit und unser Herz zur Tugend bilden, und durch beides uns zum Glücke leiten. Niemand wird ein Glück suchen, das er nicht kennet, noch die Mittel dazu anwenden können, wenn er sie eben so wenig kennet, oder nicht überzeugt ist, daß sie die besten und einzigen sind. Die Moral soll uns also lehren, was unser wahres Glück, oder unser höchstes Gut sey, das ist, was für ein Geschöpf, das aus einem unsterblichen Geiste und aus einem hinfälligen Körper besteht, am zuträglichsten, der Ruhe der Seelen und der äußerlichen Wohlfahrt am gemäßesten sey, und auf was für einem Wege wir am sichersten zu diesem Ziele gelangen können.18

16 Garve [Anm. 12], S. 225. Vgl. Jan Engbers: Der „Moral-Sense“ bei Gellert, Lessing und Wieland. Zur Rezeption von Shaftesbury und Hutcheson in Deutschland, Heidelberg 2001, S. 59–63 (Germanisch-romanische Monatsschrift, Beiheft 16). 17 Vgl. Sikander Singh: Das Glück ist eine Allegorie. Christian Fürchtegott Gellert und die europäische Aufklärung, München 2012, S. 17–21. 18 GS, Bd. 6 [Anm. 15], S. 13.

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Indem Vernunftbetontheit und sittliches Verhalten sowohl Ziel als auch Voraussetzung des individuellen Glücks und, darauf beruhend, einer ideal geordneten Gesellschaft sind, scheint jener Widerspruch mit sich selbst auf, der charakteristisch ist für den optimistischen Glauben des aufgeklärten Zeitalters an die Möglichkeit einer diesseitigen Glückseligkeit. Gellerts Utopie ist die paradoxe Gewissheit immanent, dass die beste aller Welten nur von Menschen geschaffen werden kann, die Produkte der Bedingungen sind, welche sie selbst erst hervorzubringen versprechen.

Der Briefsteller: Empfindsame Selbstreflexionen In Gellerts „Briefen, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen“, die 1751 erschienen, spiegeln sich Ansätze empfindsamer Positionen in ästhetischen Betrachtungen über die „natürliche Schreibart“.19 Gellert, für den der Brief „die Stelle eines Gesprächs vertritt“, ist auch hier im Sinnzusammenhang jener empfindsamen Anschauungen zu verstehen, die im Spannungsfeld von Vernunft und Gefühl zu einem Ausgleich dieser divergierenden Paradigmen streben, dessen typisierende Gefühlsäußerungen aber gleichwohl ritualisierten Mustern folgen.20 Die Einsamkeit des Schreibenden, die mit der Einsamkeit des Lesenden korrespondiert, ermöglicht dem einzelnen eine selbstreflexive Vergewisserung der Empfindungen, die zugleich das Fühlen des anderen antizipiert. Die Konjunktion von Einsamkeit und Gemeinschaft, die dem Brief als Kommunikationsform eigen ist, die Gleichzeitigkeit von intimer Nähe und distanzierter Betrachtung, entspricht der Dialektik von Vernunft und Gefühl, reflexiver Erwägung und emotionaler Hingabe.21 Die dreiundsiebzig Briefe seiner Sammlung spiegeln nicht nur die Beziehungen des Verfassers zu den Empfängern der Schreiben, sondern thematisieren ebenso die Bedeutung und die Funktion der Freundschaft in 19

GS, Bd. 4: Roman, Briefsteller, Berlin 1989, S. 107. Ebd., S. 111. Vgl. Wilhelm Vosskamp: Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen. Zur Poetik des Briefromans im 18. Jahrhundert, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 45, 1971, S. 80– 116, hier S. 82. 21 Vgl. Uwe Hentschel: „Besuche in Briefen“. Die epistolare Praxis der Anakreontiker und Gellerts Briefreform, in: Orbis litterarum 56, 2001, S. 378–395. 20

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diesen frühen empfindsamen Diskursen. Dieses zentrale Thema zeichnet sich bereits in dem Brief „An den Herrn Rittmeister von B****“ ab, welcher der Auswahl vorangestellt ist. In dem Scheiben findet sich eine Feststellung, die die gesamte Auswahl programmatisch charakterisiert: „Können die Verliebten in ihren Briefen, ohne es überdrüßig zu werden, von nichts, als von Liebe, reden: so müssen auch gute Freunde von der Freundschaft reden können, ohne dabey müde zu werden.“22 Wenn die Korrespondenz „die Stelle eines Gesprächs vertritt“, wie Gellert erläutert, wirft das Schreiben die Frage auf, inwiefern eine Antwort auf das hier formulierte emphatische Bekenntnis überhaupt möglich ist.23 Müsste die Replik nicht den gleichen Ton aufnehmen, nicht mit vergleichbaren Worten ein Gelöbnis unverbrüchlicher Freundschaft aussprechen? Bereits dieser erste Brief zeigt daher, dass Gellerts epistolographisches Programm das dialogische Modell des Briefes unterläuft. Der Brief wird zum Ausdruck eines Gefühls, das in der Einsamkeit der Niederschrift in Nuancen und Abstufungen introspektiv ergründet und in der Nachempfindung geläutert und intensiviert wird. Das selbstreflexive Moment, das für den Prozess des Schreibens konstitutiv ist, gerinnt in einem Text, der das Gefühl übersteigernd in die Selbstreferentialität abzugleiten droht. Der empfindsame Brief ist nicht der individuelle Ausdruck eines spontanen Erlebens, das, dem Adressaten übermittelt, den Schreiber eine Antwort erwarten lässt, vielmehr liegt seine Bedeutung in einer auf den Verfasser selbst bezogenen Funktion, die über den Prozess der Kommunikation hinaus auf das Subjektive, bereits Vereinzelte und Monologische weist. Dies zeigt sich auch in den folgenden Schreiben. Der zweite Brief berichtet in humoristischem Ton von einer Fahrt mit der „Landkutsche“.24 Die hier vorgetragene Geschichte hält die Balance zwischen epischer Erzählung und epistolarem Bericht. Der retrospektiv resümierende Gestus des Schreibens vergegenwärtigt zwar die Unannehmlichkeiten einer Reise und berichtet von den erlittenen Beschwernissen, gleichwohl entschuldigt sich Gellert am Ende des Briefes mit den Worten: „Vergeben Sie mir, daß ich Ihnen schon so viel erzählt habe.“25 Das Erleben wird reflexiv gebro22 23 24 25

GS, Bd. 4 [Anm. 19], S. 155. Ebd., S. 111. Ebd., S. 155. Ebd., S. 158.

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chen und in dem dialektischen Prozess einer erzählten Erinnerung zu einem konstitutiven Bestandteil des Selbstentwurfes des Schreibenden. Dieser Selbstentwurf jedoch oszilliert zwischen einer Dialogizität, die durch das Medium des Briefes vorgegeben ist, und dem Soliloquium eines Tagebuches. Die Lektüre des Briefes ermöglicht nicht die unmittelbare Teilhabe an dem geschilderten Geschehen, sondern lässt den Leser an der Erinnerung des Schreibers teilnehmen. Der dritte und der vierte Brief, die beide an den Herrn von P*** gerichtet sind, sind ebenfalls Ausdruck dieser Haltung. „Was machen Sie? Was macht Ihre liebe Gemahlinn?“, fragt der Schreiber einleitend, um an sich selbst gewandt mit der rhetorischen Frage fortzufahren: „Doch kann ich mir diese Frage nicht selber beantworten?“26 Es schließt sich ein lyrischer Einschub an, der über das Glück einer erfüllten Paarbeziehung reflektiert.27 Indem Gellert an die Zeit erinnert, da er Zeuge des vertrauten Umganges der Eheleute geworden ist, entsteht eine Spannung, welche die Gemeinschaft des Paares mit der Einsamkeit des Schreibenden kontrastiert und den Brief als eine schmerzhafte Betrachtung über die eigene als defizitär empfundene Lebenssituation ausweist.28 Dem Schreiben ist zugleich ein kompensatorisches Moment immanent. Die Imagination einer Gemeinschaft zwischen Mann und Frau tritt hier an die Stelle der erlebten Wirklichkeit, übertrifft diese sogar, denn Gellert schließt mit der Aufforderung: „Schreiben Sie mir nur, daß Sie beide noch nach meinem Wunsche leben [. . .].“29 In dem nachfolgenden Kondolenzschreiben erfährt der Leser von dem Tod der Gattin des Herrn von P***. Indem der Brief den Schmerz des Ehemanns antizipiert („Weinen Sie, liebster Freund, ich weine zugleich.“30), betont Gellert nicht nur seine freundschaftliche Verbundenheit und die christliche Tugend des Mitleids, sondern zugleich eine empfindsam übersteigerte Bereitschaft zur Teilhabe an den Gefühlsregungen des anderen, welche die Empfindungen und Erfahrungen des Gegenübers dem eigenen Erleben anverwandelt.31 26 27 28 29 30 31

Ebd. Ebd., S. 159. Ebd. Ebd., S. 160. Ebd., S. 161. Vgl. die „Moralischen Vorlesungen“, GS, Bd. 6 [Anm. 15], S. 223.

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Dieses gesteigerte Moment der Selbstreferentialität wird in dem sich anschließenden Brief „An den Herrn von E***“ ironisch gebrochen. Halb ist es Rache, daß ich Ihnen so spät antworte, und halb Beschäfftigung. Rache? werden Sie sagen; Ist nicht mein langes Stillschweigen durch eine Menge verdrießlicher und trauriger Zufälle entschuldigt genug? Nein, mein lieber Herr von E – – Sie mußten doch Ihre Noth iemanden klagen warum haben Sie mich nicht dazu erwählt? Warum haben Sie mir nicht das traurige Vergnügen gemacht, mit Ihnen zu fühlen, indem ich Sie aufgerichtet hätte?32 In den ersten Briefen der Mustersammlung entsteht auf diese Weise ein zweifaches Spannungsverhältnis, das in jedem der dreiundsiebzig Schreiben erneut variiert wird. Zum einen werden die Gefühle und Leidenschaften des Schreibenden in dem reflexiven Prozess, welcher der Niederschrift vorausgeht, nicht nur in dem Sinne geläutert, die der englische Dichter William Wordsworth als „emotion recollected in tranquillity“ beschrieben hat33, sie werden zugleich gesteigert und überformt, so dass der niedergelegte Ausdruck der Leidenschaft nuancierter, intensiver und reichhaltiger ist als das reale Erleben, in dem er seinen Ursprung genommen hat. Zum anderen liegt die Bedeutung des Briefes nicht in seiner Funktion als Medium, das Ereignisse oder gemachte Erfahrungen dem Korrespondenzpartner mitteilt, sondern im Prozess des Schreibens. Die Wirklichkeit ist nur noch Anlass und Ausgangspunkt einer schreibenden Erkundung des Selbst. Indem aber die subjektive Reflexion Gegenstand und Absicht des Briefes ist, erfüllt sich seine Aufgabe in dem Augenblick, da die Niederschrift abgeschlossen ist. Damit befreit Gellert den Brief aus dem Zwang der traditionellen rhetorischen Epistolographie und konstituiert eine originär literarische Gattung. Der aus der Subjektivität erwachsenen Selbstreferentialität haftet jedoch bereits ein Moment jener Vorstellung von der Autonomie des Kunstwerkes an, die für das Dichtungsverständnis der nachfolgenden Generationen programmatisch werden sollte.

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GS, Bd. 4 [Anm. 19], S. 161f. William Wordsworth: The Prose Works, hg. von W. J. B. Owen und Jane Worthington Smyser, 3 Bde., Oxford 1974, Bd. 1, S. 148. 33

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Im achtundvierzigsten Brief der Sammlung wird dieser Gedanke in besonderer Weise betont. Das Schreiben ersetzt den Dank, den es abzustatten anhebt, durch eine Betrachtung über den Wert der Freundschaft. Ein jeder neuer Freund ist mir ein neues Glück, für das ich dem Himmel danke. Ich weis mir überhaupt kein edler Vergnügen zu machen, als wenn ich meine Freunde in Gedanken sammle, und mich mit diesen rechtschaffnen Männern so betrachte, als ob wir eine eigne Familie in der Welt ausmachten. Wie freue ich mich, wann ich von einem zu dem andern gehe, bey jedem verschiedne Gaben und Verdienste, und doch bey allen einerley guten Geschmack, bey allen ein empfindliches und großes Herz antreffe! 34 Die Vorstellung tritt an die Stelle der realen Begegnung. Die gedachte Zusammenkunft der Freunde in der Imagination ist nur auf die Gefühlsregungen des schreibenden Subjekts gerichtet, das sich der freundschaftlichen Verbindungen bewusst wird, in diesem Bewusstsein aber nicht mehr zu und mit seinem Briefpartner spricht, sondern diesem nur noch von derjenigen Vorstellung berichtet, die in der Reflexion über die Freundschaft in ihm aufsteigt. Während der Brief als Gebrauchstext Informationen übermittelt, eröffnen die literarischen Briefe Gellerts die Teilhabe an den Empfindungen des Verfassers. Der Leser antizipiert nicht die Wirklichkeit des Schreibenden, sondern die Reflexion über dessen subjektive Wahrnehmung der Wirklichkeit. Zudem entsteht die Gemeinschaft nicht in der unmittelbaren Zweisamkeit einer Begegnung, sondern vermittelt durch eine Lektüre. Der Text, der diese Gemeinschaft im imaginären Raum inszeniert, wird zu einem Substitut für eine als defizitär empfundene Wirklichkeit, ist eine Chiffre für die Sehnsucht nach der im Diskurs der Aufklärung verloren geglaubten Ganzheit. Der Widerspruch dieser Denkfigur liegt in dem unbedingten Glauben an die Möglichkeit, die empfindsame Seelengemeinschaft in einem künstlerisch durchformten und deshalb bereits zu Literatur gewordenen Text vollziehen zu können und so die Erfahrung von Getrenntheit durch die Trennung zu überwinden.35 34

GS, Bd. 4 [Anm. 19], S. 199f. „Die empfindsame Gemeinschaft stiftet sich wesentlich als eine textuelle, in der Lektüre und durch sie, und zehrt doch zugleich von der Vorstellung eines absolut 35

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Der Prozess der Kommunikation verlagert sich auf diese Weise in den psychischen Innenraum, wird zu einer sich steigernden Wechselrede empfindender Seelen, die als Gemeinschaft zweier Einsamkeiten auf eine paradoxe Weise zwischen Monolog und Dialog changiert und deshalb bereits ein Moment desjenigen entfremdeten Selbst- und Weltbezuges in sich trägt, der in der deutschen Literatur nach Johann Wolfgang von Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ wirkungsmächtig werden sollte.

Der Roman: Empfindsame Wirkungsästhetik In dem Roman „Leben der Schwedischen Gräfinn von G***“, den Gellert in den Jahren 1747 und 1748 veröffentlicht, ist die Funktion des Briefes für den empfindsamen Diskurs ebenfalls zu beobachten. In die Erzählung integrierte Briefe ermöglichen dem Leser die nachempfindende Teilhabe an einem anderen Leben und erschließen in feiner Nuancierung die noch intimsten Gedanken, Regungen und Gefühlsstimmungen. Indem aber die Briefe, von Einschüben, Erläuterungen und Reflexionen eines Erzählers in einen Zusammenhang gestellt und kommentiert, stets Dokument eines anderen Lebens bleiben, beinhalten sie auch die Möglichkeit des Rückzugs aus der dargestellten Situation. Diese Dialektik von emotionaler Antizipation und reflexiver Distanzierung ist ein wesentliches Element der „Schwedischen Gräfinn“ und zugleich Teil der ihr eingeschriebenen Wirkungsabsicht, deren erzähltheoretische Konzeption Wolfgang Bunzel untersucht hat.36 Die durch die Äußerungsform des Briefes fingierte Nähe zwischen Leser und Figur wird in dem Roman durch das alles Geschehen retrospektiv darbietende und damit auch kommentierend ordnende Eingreifen der Ich-Erzählerin unterlaufen. Die eingestreuten Briefe erfüllen zwar die Funktion, durch den Perspektivenwechsel die Mehrdimensionalität des Geschehens aufzuzeigen. Der seit der Neuzeit ausgebildeten und im transparenten, nicht-medialen Selbst im kommunikativen Austausch.“ (Susanne Komfort-Hein: Die Medialität der Empfindsamkeit. Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ und Lenz’ „Der Waldbruder. Ein Pendant zu Werthers Leiden“, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2002, S. 31–53, hier S. 36.) 36 Wolfgang Bunzel: Gellerts Roman „Das Leben der schwedischen Gräfinn von G***“: Erzählstruktur und Wirkungsabsicht, in: Wirkendes Wort 45, 1995, S. 377–395.

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18. Jahrhundert ausdifferenzierten Funktion der Textsorte, durch das intime Bekenntnis Inneneinsichten in die subjektive Befindlichkeit des Schreibenden im Moment des Schreibens zu gewähren und diese in der geschlossenen epischen Kleinform, als Miniaturen der Charakterzeichnung, der empathischen Lektüre eines Lesers zu überantworten, steht jedoch die relativierende Retrospektive der Erzählhaltung entgegen. Gleichwohl bezeugt Gellert indirekt, einerseits durch die Individualität der Figuren und andererseits durch ihre Briefe und Berichte, die Authentizität des Geschehens.37 Zudem zeigt sich in der Unmittelbarkeit des Romananfangs – der durch die Ich-Form die Vermutung nahe legt, die Erzählerin sei mit der schwedischen Gräfin von G*** identisch und eine Person des wirklichen Lebens – der für den Roman in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts charakteristische Versuch, durch den Verweis auf den Realitätscharakter sich möglichst deutlich von der Tradition des barocken Romans abzugrenzen und auf diese Weise dem immer noch verbreiteten Vorwurf der Romanhaftigkeit zu begegnen. Der Roman ist damit von einer grundlegenden Ambivalenz geprägt: Der stete Perspektivenwechsel, der durch die Zusammenstellung von Passagen entsteht, die in der ersten Person erzählt werden und solchen, die sich aus den eingeschobenen Briefen erschließen, bedingt, dass der Leser zwischen anteilnehmender Rührung und distanzierter Reflexion im Sinne des aufklärerischen Versuchs, Verstand und Gefühl in Übereinstimmung zu bringen, alterniert. Wolfgang Bunzel spricht in diesem Kontext davon, dass „nebeneinander zwei Erzählebenen existieren“.38 Die Charakterzeichnung der handelnden Figuren korrespondiert mit der von der Ästhetik der Zeit aufgestellten Forderung nach Natürlichkeit und Wahrheit und ermöglicht daher die Identifikation des Lesers mit ihnen. Er wird durch das individuelle Schicksal und das aus einer subjektiven Innensicht geschilderte Empfinden gerührt, so dass das eigene Fühlen zum Fühlen der Figuren werden kann und umgekehrt. Diese Dialektik, die den Prozess der Lektüre bestimmt und das Geschehen des Romans sowie das innere Geschehen des Lesers miteinander ver37

Vgl. Gottfried Honnefelder: Der Brief im Roman. Untersuchungen zur erzähltechnischen Verwendung des Briefes im deutschen Roman, Bonn 1975, S. 68–73 (Bonner Arbeiten zur deutschen Literatur 28). 38 Bunzel [Anm. 36], S. 390.

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schränkt, verweist auf ein didaktisches Moment, das dem Werk in besonderer Weise eigen ist.39 Gellert erzählt nicht die Bildungsgeschichte der Gräfin von G***, die keine Entwicklung durchlebt, weil die von ihr vertretenen Tugendideale sich lediglich in je unterschiedlichen Lebenssituationen bewähren, sondern er erzählt die Bildungsgeschichte seiner Leser, die durch die Lektüre zu einer Betrachtung über die Grundlage und Möglichkeit eines moralischen und tugendhaften Lebens angeregt werden. Während der empfindsame Roman die Fiktionen, welche die Authentizität der Handlung bezeugen, textimmanent nicht hinterfragt und so das Moment der Identifikation mit den handelnden Figuren in den Prozessen der Distanzierung und der teilnehmenden Lektüre dem Leser überantwortet, zeigt sich in der „Schwedischen Gräfinn“ ein für die Aufklärung charakteristischer Zug zum Pädagogischen. Der Roman zeichnet sich durch subtile Mechanismen der Leserlenkung aus, welche die anempfindende Teilnahme nicht dem Vorgang der Lektüre überlassen, sondern bereits im Modus des Erzählens präfigurieren. Das Werk ist insofern ein Vorläufer der empfindsamen deutschen Romanliteratur, als es den Leser zu einer im Sinne der kantischen Definition empfindsamen Lektüre erzieht. Als Bildungsroman seiner Leser ist das Werk jedoch keineswegs voraussetzungslos. In der Anlage der Wechselbeziehung zwischen der Erzählerin und den Lesern und ihrer Wirkung einerseits sowie zwischen Verstand und Gefühl andererseits bezieht sich Gellert auf pietistische Sprach- und Denkformen, deren Anverwandlung nicht nur ein wesentliches Moment der im Roman vertretenen moralischen Anschauungen ist, sondern auch die Schreibart beeinflusst hat.40 Indem die zur Darstellung kommenden affektiven Auf- und Abschwünge im Leser einen korrespondierenden Reflex evozieren, verweisen sie auf die Wiederholbarkeit der Empfindungen. Diese sind in stets gleicher Weise replizierbar, weil sie aus einer gefühlsbestimmten Religiosität erwachsen, deren Verbindlichkeit weder von der Erzählerin noch von den handelnden Figuren in Frage gestellt wird. Die 39 Vgl. Bernd Witte: Christian Fürchtegott Gellert: „Leben der Schwedischen Gräfinn von G***“. Die Frau, die Schrift, der Tod, in: Romane des 17. und 18. Jahrhunderts. Interpretationen, Stuttgart 1996, S. 112–149, hier S. 119. 40 Vgl. Eckhardt Meyer-Krentler: Der andere Roman. Gellerts „Schwedische Gräfin“: Von der aufklärerischen Propaganda gegen den „Roman“ zur empfindsamen Erlebnisdichtung, Göppingen 1974, S. 143–145 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 128).

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sprachlichen Wendungen, Begriffe und Bilder, die der religiösen Praxis des Pietismus entlehnt sind und die im zweiten Teil des Romans häufiger verwandt werden als im ersten, dienen nicht der Charakterisierung und Beschreibung eines Affektes der handelnden Figuren, sondern rufen diese Empfindung im Leser hervor.41 Das ebenso überraschende wie freudige Wiedersehen zwischen dem Grafen von G*** und seinem Freund Steeley, der, aus der russischen Gefangenschaft entlassen, seinen Leidensgefährten in Holland aufsucht, enthüllt diesen Mechanismus exemplarisch. Die Gräfin berichtet über die Szene: O was ist das Vergnügen der Freundschaft für eine Wollust, und wie wallen empfindliche Herzen einander in so glücklichen Augenblicken entgegen! Man sieht einander schweigend an, und die Seele ist doch nie beredter, als bey einem solchen Stillschweigen. Sie sagt in einem Blicke, in einem Kusse ganze Reihen von Empfindungen und Gedanken auf einmal, ohne sie zu verwirren.42 Die Anrede, welche die erinnerten Gefühle des glücklichen Augenblicks dem Leser unmittelbar überantwortet, verzichtet auf die Wiedergabe von Gefühlsnuancen ebenso wie auf die detaillierte Darstellung der beteiligten Personen und beschränkt sich darauf, in diesem die in der Situation durchlebten Gefühle hervorzurufen. Selbst Goethes „Werther“ verwendet an zentraler Stelle diesen Modus des Erzählens: In der Gewitterszene, die in der Evokation Klopstocks kulminiert, berichtet Werther von dem in ihm aufsteigenden Fühlen.43 Indem Goethe den Vorgang der erinnerten Empfindung mit dem Wort Losung bezeichnet, verweist er auf die religiöse Herkunft des Begriffs. Nikolaus Ludwig von Zinzendorf gab im Mai 1728 der versammelten Gemeinde von Herrnhut während der abendlichen Gesangsstunde eine Strophe aus dem Gesangbuch in der Absicht als Parole für den kommenden 41

Ebd., S. 139f. GS, Bd. 4 [Anm. 19], S. 74. 43 Goethes Werke [Anm. 8], 1. Abt., Bd. 19, Weimar 1899, S. 36. Vgl. Richard Alewyn: „Klopstock!“, in: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 73, 1979, S. 357–364; Arnd Bohm: „Klopstock!“ Once More: Intertextuality in Werther, in: Seminar: A Journal of Germanic Studies 38, 2002, S. 116–133. 42

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Tag mit, Gespräche und Meditationen über das Wort Gottes anzuregen.44 Die Übernahme dieser Tradition eröffnet der Literatur einen Assoziationsraum, der trotz seiner säkularisierenden Tendenz einen Unterton religiöser Bedeutung bewahrt. Damit erwecken Begriffe wie Herz, Empfindung, Rührung, Gelassenheit, Vorsehung im Leser ein vielschichtiges Geflecht emotionaler Nuancen, die durch ihren Ursprung in den Diskursen religiöser Innerlichkeit keine individuellen Gefühle bezeichnen, sondern auf ein allen empfindenden Seelen Gemeinsames verweisen. Zugleich spiegelt sich in dieser Vorläufigkeit und Zerbrechlichkeit der Empfindungen eine Skepsis gegenüber den Möglichkeiten, der Tiefe des Fühlens einen ihm angemessenen sprachlichen Ausdruck zu verleihen. Nach der Lektüre des Briefes, den der Graf von G*** auf dem Krankenlager während des Feldzuges von seiner Gemahlin Abschied nehmend geschrieben hat, wendet sich die Erzählerin mit dem Bekenntnis an den Leser: „Meinen Schmerz über diese Nachricht kann ich nicht beschreiben. Die Sprachen sind nie ärmer, als wenn man die gewaltsamen Leidenschaften der Liebe und des Schmerzes ausdrücken will.“45 Und über den Versuch, die Gefühle Marianes für Carlson in Worte zu fassen, schreibt sie: „Ich suche die Worte vergebens, mit denen ich ihre Zärtlichkeit gegen ihren Mann beschreiben will.“46 In den selbstreflexiven Gedanken der Erzählerin über ihr Erzählen wird nicht nur der rhetorische Unsagbarkeitstopos variiert, zugleich scheint hier die Vorstellung auf, dass ein Gefühl in seiner Totalität nur im Mitgefühl zu erfassen sei. Die Versenkung in das Erleben des anderen ermöglicht die Übersetzung seines Fühlens in den eigenen Innenraum, bedingt und relativiert zugleich dessen Subjektivität. Während jedoch die Figuren in ihrem Handeln die Gültigkeit des christlichen Weltbildes und die ihm immanente Vorstellung ihrer Vernunftgemäßheit explizieren, während die Erzählerin die Unmittelbarkeit des Mitfühlens durch die Erzählhaltung unterläuft und damit eine Dialektik von Antizipation und Reflexion akzentuiert, entwickelt der Roman eine von seinem moralischen und pädagogischen Anspruch unabhängige, diesem zuwiderlaufende Dynamik. Weil die wachgerufenen Empfindungen 44

Vgl. Heinz Renkewitz: Die Losungen. Entstehung und Geschichte eines Andachtsbuches, Hamburg 1967. 45 GS, Bd. 4 [Anm. 19], S. 16. 46 Ebd., S. 24.

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in dem Wechselspiel, das durch die Balance des Geschehens zwischen Realität und Fiktion entsteht, beständig hinterfragt werden, gewinnt der Leser eine Autonomie, die jenseits des moralischen Horizontes des Werkes liegt. Da die Erzählerin die ausgelösten Empfindungen durch Reflexion ihrer Unmittelbarkeit entkleidet, vermag der Leser zu einem autonomen Subjekt zu werden, das vor dem Hintergrund der nachempfundenen Gefühle zu einem Bewusstsein seiner Selbst findet. In dieser im Verlauf der Lektüre herangebildeten Urteilskraft und ausdifferenzierten Gabe der Empfindung scheint bereits jene Freiheit des Denkens und Fühlens auf, die, im philosophischen Diskurs des 18. Jahrhunderts in die letzte Konsequenz durchdacht und radikalisiert, auch den Glauben an die Möglichkeit positiver Bedeutungen hinterfragen lässt und den Menschen – der optimistischen Illusion der unbegrenzten Perfektibilität einer guten, in der Vernunft Gottes ruhenden Welt beraubt – den Aporien seiner Subjektivität überantwortet.47

Gellert: Unaufgelöste Widersprüche Wenngleich die Empfindsamkeit erst in den siebziger und achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts als literarisches wie soziales Phänomen wirkungsmächtig wird, sind ihre Anfänge bereits in philosophischen und ästhetischen Diskursen ab 1740 zu bestimmen.48 Gellert gehört als Verfasser von Fabeln, Lustspielen, geistlichen Liedern, brieftheoretischen und moralphilosophischen Schriften zu den einflussreichsten Schriftstellern seiner Zeit. Indem seine Werke das paradoxe Nebeneinander widerstreitender Strömungen des aufklärerischen Diskurses abbilden, dokumentieren sie auch die Genese der Kultur der Empfindsamkeit in Deutschland. Seine poetologischen Positionen sind einerseits dem vernunftbetonten Dichtungsverständnis Gottscheds verpflichtet.49 Andererseits spiegelt sich in seinem 47 Robert H. Spaethling: Die Schranken der Vernunft in Gellerts „Leben der schwedischen Gräfin von G.“: Ein Beitrag zur Geistesgeschichte der Aufklärung, in: Publications of the Modern Language Association of America 81, 1966, S. 224–235, hier S. 232. 48 Vgl. Theorie der Empfindsamkeit, hg. von Gerhard Sauder, Stuttgart 2003, S. 18. 49 Vgl. Werner Jung: „Die besten Regeln sind die wenigsten“. Gellerts Poetik, in: „Ein Lehrer der ganzen Nation“. Leben und Werk Christian Fürchtegott Gellerts, hg. von Bernd Witte, München 1990, S. 116–124.

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Werk noch einmal jener im 17. Jahrhundert in Frankreich ausgebildete und bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts nachwirkende Ansatz, demzufolge die Wissenschaften und Künste, die Erkenntnis und die Schönheit, komplementäre Paradigmen sind. Sein Werk hat damit Anteil an jenem Diskurs, welcher mit der frühen Aufklärung anhob, die verschiedenartigen Manifestationen des menschlichen Geistes und die diesen immanenten Möglichkeiten nicht nur zu entfalten, sondern auf das Ziel einer neuen Anthropologie auszurichten. Während jedoch das rationalistische Weltbild im Verlauf der philosophischen Debatten des 18. Jahrhunderts zu jenem Materialismus radikalisiert wurde, der die Materie als alleinige Substanz aller Wirklichkeit betrachtete, unternimmt Gellert – beeinflusst von den Schriften des englischen Sensualismus – den Versuch, Verstand und Gefühl als interdependente Manifestationen menschlicher Weltaneignung im Sinne eines ganzheitlichen Systementwurfes zu begreifen. Auf diese Weise zeigt sein Denken die Empfindsamkeit als eine der Tendenzen des Projektes der Aufklärung. Mit den Versuchen, den emphatisch-gefühlvollen und zugleich bereits ironisch gebrochenen Ton der Dichtungen Laurence Sternes in Deutschland nachzuahmen, mit Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ und Millers „Siegwart. Eine Klostergeschichte“, die „literarische Höhepunkte“ der empfindsamen Strömung markieren, gewinnt die Literatur jene ästhetische Autonomie, die das Verständnis des literarischen Kunstwerkes bis in die Gegenwart bestimmt.50 Demgegenüber verbindet Gellert die normative, von den Grundsätzen der Vernunft, der Moral und des durch die Tradition herausgebildeten Geschmacks bestimmte Regelpoetik mit sensualistischen Positionen. Zwischen der rhetorischen Auffassung von Poesie, der Gefühlskultur der Empfindsamkeit und dem emphatischen Subjektivismus des Sturm und Drang beruht das Problematische und damit literarhistorisch Relevante seiner Dichtungen und Schriften darauf, diese Spannungen nicht auflösen zu können.

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Sauder [Anm. 2], S. 234.

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In der Nacht vom 21. zum 22. Dezember 1759 gab es in Kopenhagen ein Erdbeben. Es dauerte nur kurz. Immerhin schepperten bei Klopstocks die Kupferstiche „laut genug“ an der Wand.1 Am 04. Januar 1760 berichtete der Dichter in der moralischen Wochenschrift „Der nordische Aufseher“ davon, wobei er eine Verbindung herstellte zu der gleichzeitigen Genesung des Königs, Friedrichs V. von Dänemark, von einer Krankheit. In beiden Ereignissen sei die Hand Gottes zu erkennen: Kann man sich überreden, dass Gott [das Erdbeben] ohne Ursache in diesen Tagen habe kommen lassen? Wir sollten desto feuriger für die Erhaltung des Königs danken können, weil wir zugleich für unsere eigne zu danken hatten.2 Da es unmöglich sei, „den Dank für solche Gnaden zu oft [zu] wiederholen“, habe er eine „Ode“ gedichtet, die seinen Lesern eine Anleitung dazu gibt.3 In diesem „Danklied für die Genesung des Königes von den Blattern“ heißt es:

1 Friedrich Gottlieb Klopstock: Oden, in: Ders.: Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Horst Gronemeyer, Elisabeth Höpker-Herberg, Klaus Hurlebusch und Rose-Maria Hurlebusch, 23 Bde., Berlin/New York 1974ff. [fortan zitiert unter der Sigle ‚HKA‘], Abteilung Werke [fortan zitiert unter der Sigle ‚HKAW‘], Bd. I.1: Oden. Text, hg. von Horst Gronemeyer und Klaus Hurlebusch, Berlin/New York 2010, S. 205. 2 Ebd., S. 200. 3 Ebd.

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Mengen erlagen! 4 Doch Ihn berührte Sanft deine Hand nur! [. . .] [I]n der Stunde deiner reichen Gnaden, Da Du ihn erhieltest, Da rührtest Du auch uns mit sanfter Hand an. Vater, die Erde Bebt’, und wir leben! [. . .] Des Richters Arm, der über andre Völker Fürchterlich sich ausstrekt! Die Städt’ erschütert, dass sie im Erdbeben Donnern, und fallen, Unterzugehen! Der itzt die Völker, Dass es sie würge, Dem Schwerte zuführt! Der Arm wird über unserm Haupt erhoben, Ach, dass er uns segne! Und, dass wir, auf des Segens Fülle, merken! Wecket er sanft uns Auf aus dem Schlummer! 5 Alle bekannten Ereignisse, in denen Gott seinen Zorn über die Menschen ausgeschüttet hatte, ließen die dem dänischen Reich erzeigte Gnade desto stärker hervortreten. Mit dem gegenseitigen „Würgen“ der „Völker“ war der Dritte Schlesische Krieg gemeint, der 1759 schon im vierten Jahre stand6; und der Hinweis auf die Heimsuchung „andrer Völker“ durch Er4 Von 4000 Erkrankten starb jeder vierte: so Klopstock an Salomon Geßner vom 02. 01. 1760, in: HKA, Abteilung Briefe [fortan zitiert unter der Sigle ‚HKAB‘], Bd. IV.1: Briefe 1759–1766. Text, hg. von Helmut Riege, Berlin/New York 2003, S. 58. 5 HKAW, Bd. I.1 [Anm. 1], S. 200–207, hier S. 204 und 206. 6 Klopstock verfolgte das Kriegsgeschehen aufmerksam: vgl. Meta Klopstock an ihre Schwestern, 16. 10. 1756, in: Meta Klopstock. Es sind wunderliche Dinger, meine Briefe. Briefwechsel 1751–1758, hg. von Franziska und Hermann Tiemann, München 1980, S. 371f.

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derschütterungen erinnerte an das Lissabonner Erdbeben vom 01. November 1755.7 Diese Katastrophe hatte manchem Zeitgenossen, so dem sechsjährigen (!) Goethe, „die Güte Gottes einigermaßen verdächtig“ gemacht.8 Klopstock dagegen war empört gewesen, dass viele darin nur die nachteiligen Folgen für den Handel und nicht ein „überaus merckwürdiges Gericht des allmächtigen Regierers der Welt“ erkennen wollten.9 Das Kopenhagener Beben vier Jahre später war eine willkommene Gelegenheit, sie zur Besinnung zu bringen. Die Gleichzeitigkeit von Krieg im Ausland, Frieden zuhause, einem von den Blattern verschonten König und einer von einem Erdbeben verschonten Stadt lasse sich nur als Wink der göttlichen Allmacht verstehen, aufzumerken und „des Segens Fülle“ in Demut zu empfangen. Dass die Kopenhagener dabei „aus dem Schlummer“ aufwachten, mag der schlichten Tatsache entsprechen, dass das Erdbeben während der Nacht stattfand. Wo aber alles seine Bedeutung hat, hat auch diese Einzelheit eine theologische Dimension. Das Leben, belehrt uns Klopstock in einem 1758 für den „Aufseher“ verfassten Aufsatz, lässt sich in „eigentlichen Schlaf“, „Schlummer“ und „wirkliches Wachen“ einteilen. „Das wirkliche Wachen“ ist nicht etwa der Alltagszustand zwischen Aufstehen und Zubettegehen. Es ist vielmehr „derjenige glückliche Zustand unsrer Seele, da wir [. . .] Gott denken“.10 In diesem Sinne war das Erdbeben als ein Denkanstoß zu 7

Vgl. HKAW, Bd. I.1 [Anm. 1], S. 205. Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. von Erich Trunz, Hamburg 1948ff. (ab 1972 im Verlag C. H. Beck, München), Bd. 9: Autobiographische Schriften, München 1981, S. 47; vgl. ebd., S. 29–31. 9 Klopstock an seine Eltern, vor dem 26. und am 26. oder 28. Dezember 1755, in: HKAB, Bd. III: Briefe 1753–1758, hg. von Helmut Riege und Rainer Schmidt, Berlin/ New York 1988, S. 30. 10 Friedrich Gottlieb Klopstock: Von der besten Art über Gott zu denken, in: Der nordische Aufseher, 3 Bde., Kopenhagen und Leipzig 1758–1761 [fortan zitiert unter der Sigle ‚NA‘], Bd. 1, S. 213–220, hier S. 213. Der Aufsatz ist in der Forschung mehrfach diskutiert worden. Zusammenfassend Dietmar Till: „Der Gräber Todesnacht ist nun nicht mehr! erwacht!“ Pietismus, Neologie und Empfindsamkeit in Klopstocks Bearbeitung von Nicolais ‚Wächterlied‘, in: Aufklärung 13, 2001, S. 70–102, hier S. 95–98; und Katrin Kohl: Die „beste Art über Gott zu denken?“ Auseinandersetzungen um das religiöse Potential der Dichtung im 18. Jahrhundert, in: Literatur und 8

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werten. Es sollte die Menschen aus Körper- und Seelenschlaf zum „Denken“, zur Andacht, wecken. Und wer das wirkliche Erdbeben verschlafen hatte, sollte wenigstens durch die Ode wachgerüttelt werden. Nun übersteigen alle Gedanken von Gott und seinem Verhältnis zu den Menschen in mehr als einer Hinsicht den Verstand. Alle „Kräfte“ der Seele müssen aufgeboten werden, um solchen erhabenen Gedanken gerecht zu werden. Über manches, was dem kalten Verstand als „unbegreiflich“ erscheint, muss man sich hinwegsetzen. Die Sprache versagt fast bei dem Versuch, das Gedachte auszudrücken; es ist ein „Gedränge“ von „schnellfortgesetzten Gedanken“, die das Auffassungsvermögen überwältigen.11 So scheint sich dem Impuls, allen Menschen zu dem wachen Bewusstsein Gottes zu verhelfen, das Hindernis entgegenzustellen, dass dem Gemüt dabei Anstrengungen abverlangt werden, zu denen nicht alle in gleichem Maße fähig sind. Dieser an sich „niederschlagend[en] und traurig[en]“ Erkenntnis trägt Klopstocks Dichtungsbegriff Rechnung, indem er zwischen „heiligen Gedichten“ zweierlei Art unterscheidet. Den von ihm so genannten „Gesängen“, womit seine eigenen freirhythmischen Oden gemeint sind, werden schlichtere geistliche „Lieder“ gegenübergestellt. Zeichnen sich jene durch eine schwierige, „erhabne Schreibart“ aus, sind diese in Gedanken und Stil „gemildert“ und damit dem Auffassungsvermögen der Menge angepasst.12 Wir sind gewohnt, in Lyrik vor allem Ich-Aussprache zu suchen. Manchen Lesern ist Klopstock in der steilen Erhabenheit seiner „Gesänge“ und des „Messias“ wie ein Solitär erschienen, der sich von Klagen über die „Dunkelheit“ seines Stils13 nicht beirren ließ, den eigenen Weg zu gehen, und damit einen noch für George und Rilke verbindlichen, elitären Dichtertypus schuf.14 Klopstocks eigenem Dichtungsverständnis wird das nur halb geTheologie im 18. Jahrhundert. Konfrontationen – Kontroversen – Konkurrenzen, hg. von Hans-Erwin Friedrich, Wilhelm Haefs und Christian Soboth, Berlin/New York 2011, S. 225–242 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 41). 11 Klopstock [Anm. 10], S. 218f. 12 HKAW, Bd. III.1: Geistliche Lieder. Text, hg. von Laura Bolognesi, Berlin/New York 2010, S. 3–5. 13 Werner Küster: Das Problem der „Dunkelheit“ von Klopstocks Dichtung. Ein Beitrag zur Geschichte des Verstehens von Dichtung im 18. Jahrhundert, Köln 1955. 14 Joachim Jacob: Klopstock – Ursprung des deutschen Ästhetizismus. Die KlopstockRezeption im George-Kreis, in: Wort und Schrift – Das Werk Friedrich Gottlieb Klopstocks, hg. von Kevin Hilliard und Katrin Kohl, Tübingen 2008, S. 255–272 (Hallesche

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recht. Die Beschwörung einer vornehm-empfindsamen Gemeinschaft „weniger Edler“15 war selbst in seiner weltlichen Dichtung eine vorübergehende Erscheinung, die sich sozialpsychologisch aus der unsicheren Versorgungslage einer Gruppe von jungen Männern zwischen Studium und Beruf erklären lässt. In der geistlichen Dichtung aber war ein konsequent elitäres Denken ausgeschlossen. Da gebot die Pflicht, alle Mitmenschen an ihre wahre Bestimmung zu erinnern. Dem „Vorwurf“, „es [. . .] nicht gethan“ zu haben16, mochte und durfte der Dichter sich nicht aussetzen. Das gilt in der Praxis auch für die freirhythmischen Oden, obwohl sie nach Klopstocks theoretischer Beschreibung an einen kleineren Kreis gerichtete „Gesänge“ sind, die der Dichter auch noch „zu sich erheben“ müsse, bevor sie „erhabner denken“ lernten.17 Dazu scheint zu passen, dass die Aufnahmebereitschaft für bestimmte Wahrheiten offenbar nur bei wenigen vorausgesetzt werden kann. In „Dem Allgegenwärtigen“ klagt Klopstock, dass Wenige nur, ach, wenige sind Deren Aug in der Schöpfung Den, der geschaffen hat, sieht! [. . .] Wenige Herzen erfüllt Mit Ehrfurcht und Schauer Gottes Allgegenwart!18 Forschungen 27). Katrin Kohl: „Ruf-Stufen hinan“: Rilkes Auseinandersetzung mit dem Erhabenen im Kontext der deutschen Moderne, in: Rilke und die Moderne, hg. von Adrian Stevens und Fred Wagner, London 2000, S. 165–180. Ich-Bezug und „elitäre[s] [. . .] Dichtungsverständnis“ diagnostiziert auch Hans-Georg Kemper in: Ders.: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 6.1: Empfindsamkeit, Tübingen 1997, S. 484–492. Vgl. auch: Klaus Hurlebusch: Klopstock, Hamann und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schreibens. Ein philologischer Beitrag zur Charakterisierung der literarischen Moderne, Tübingen 2001 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 86). 15 Friedrich Gottlieb Klopstock: Auf meine Freunde (1747), in: HKAW, Bd. I.1 [Anm. 1], S. 6–30, hier S. 28. 16 Friedrich Gottlieb Klopstock: Vorrede zum Erstdruck des „Allgegenwärtigen“, in: HKAW, Bd. I.1 [Anm. 1], S. 144. 17 HKAW, Bd. III.1 [Anm. 12], S. 3. 18 Friedrich Gottlieb Klopstock: Dem Allgegenwärtigen, in: HKAW, Bd. I.1 [Anm. 1], S. 144–158, hier S. 146.

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Damit hat es aber nicht sein Bewenden. Gerade die „Allgegenwart“ Gottes predigt dessen Absicht, alle Menschen aus dem Seelenschlaf zu erwecken und der Gnade teilhaftig werden zu lassen. Und so versucht auch Klopstocks Ode, sich über die eigene pessimistische Einschätzung (und über Matthäus 22,14: „Denn viel sind beruffen, aber wenig sind auserwählt“) performativ hinwegzusetzen, indem sie zwar von den wenigen spricht, sich aber an alle wendet. Die „Vielen“19 sollten lesen und sich betroffen fühlen, um schließlich die Zahl der „Wenigen“ so weit anwachsen zu lassen, bis diese Bezeichnung sich selbst aufhöbe. Klopstock hat sich immer gefreut, wenn seine „Arbeiten“ bei „Ungelehrte[n]“ Wirkung zeigten.20 Die Verbreitung in einer moralischen Wochenschrift – wie die anderen freirhythmischen Oden erschien auch „Dem Allgegenwärtigen“ zuerst im „Nordischen Aufseher“ – war in diesem Sinne folgerichtig.21 Auch das „Danklied für die Genesung des Königes“ gehört selbstverständlich hierher. Zu Klopstocks zweitem Typus des „Lieds“ gehörig und daher von vorneherein auf die „Meisten“ zugeschnitten22, bekam es einen weiteren medialen Anschub dadurch, dass ihm sowohl zur Beförderung der Eingängigkeit als auch zur Erleichterung der Wiederholung die Melodie eines bekannten Kirchenlieds untergelegt wurde.23 Klopstock legte überhaupt Wert auf Wiederholung. Zu den „Betrachtungen über die Allgegenwart Gottes“ (noch der Fettdruck des Originals leistet Überzeugungsarbeit) meinte er, dass sie zu den „grossen Gedanken“ gehören, an die „[m]an [. . .] sich und andre nie zu oft erinnern“ kann.24 In einem weiteren Beitrag zum „Aufseher“ schlachtete er – nach dem Grundsatz, dass „[w]ir [. . .] die Schwäche unsers Danks durch öftere Wiederholung desselben [. . .] ersetzen [müssen]“25 – das in der Genesungs-Ode 19

HKAW, Bd. III.1 [Anm. 12], S. 3. An J. A. Ebert u. a., 03. 09. 1776, in: HKAB, Bd. VII.1: Briefe 1776–1782. Text, hg. von Helmut Riege, Berlin/New York 1982, S. 55. 21 Auf „Dem Allgegenwärtigen“ (1758) folgten im zweiten Jahrgang 1759 „Das Anschaun Gottes“, „Die Frühlingsfeyer“, „Der Erbarmer“ und „Die Glückseligkeit Aller“ (hier nach den in späteren Ausgaben festgelegten Titeln benannt). 22 HKAW, Bd. III.1 [Anm. 12], S. 3. 23 HKAW, Bd. I.1 [Anm. 1], S. 200. 24 Vorrede zu „Dem Allgegenwärtigen“ im Erstdruck der „Oden“ [Anm. 1], S. 144. 25 Friedrich Gottlieb Klopstock: Gespräch von der Glückseligkeit, in: NA, Bd. 3, S. 164–174 und 187–210, hier S. 205. 20

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besungene Wunder noch einmal aus; und diese selbst war schon Wiederholung des Danks gewesen. Woher kommt aber dieses beharrliche, durch mediale Multiplikatoren verstärkte Einreden auf die Leser? Das hypertrophe nie zu oft – dem ein nie zu eindringlich als Summe der poetologischen Aufsätze hinzuzufügen ist26 – woher kommt es? Die naheliegende Antwort, das Gebot christlicher Nächstenliebe, greift zu kurz. Wenn die christliche Botschaft über Katechismus, Gottesdienst und Predigt hinaus der Verstärkung bedurfte, musste sie vorher geschwächt worden sein; wenn die Lektion ständig wiederholt werden musste, standen ihrer Erlernung offenbar hartnäckige Hindernisse im Weg; wenn das Erinnern solche Mühe bereitete, musste das Vergessen starke Fürsprecher haben; wenn viele ihr Leben im halbwachen Schlummer verbrachten, musste der Schlaf mächtige Reize besitzen. Die binnentheologische Begründung „das Fleisch ist schwach“27 mag als Ausdruck von Klopstocks eigenem Gefühl hingehen; als historische Erklärung ist sie ungenügend. Auf der Suche nach den wahren Ursachen müssen wir über das Ich des Dichters, über die konzentrischen Kreise der „wenigen“, der „vielen“, ja der „meisten“, die sein Publikum bildeten, hinaus, und nach den anderen fragen, die außerhalb standen: Denn von dieser dunklen Masse ging der Sog aus, von dem die Glaubensgemeinschaft bedroht war. Von diesen anderen ist bei Klopstock sehr wohl die Rede; nur seine Kommentatoren haben sich bisher kaum darum gekümmert, welche Rolle sie in seinem Denken spielten. Seine Dichtung aber ist um eine wichtige Dimension verkürzt, wenn man nicht erfasst, in welchem Ausmaß er sie zu einer Gegenoffensive gegen den Unglauben seiner Zeit mobilisierte. Und erst von hier aus lässt sich sein Verhältnis zu den geistigen Strömungen seiner Zeit und vor allem zur Aufklärung verstehen. Gleich zwei der „Geistlichen Lieder“ von 1758 haben den Titel „Die Feinde des Kreuzes Christi“.28 Beide greifen die Gegner des Christentums 26 Zur Poetologie vgl. Klopstock [Anm. 10] (zur dichterischen Anwendung vgl. die einleitenden Worte zu „Der Erbarmer“ in: HKAW, Bd. I.1 [Anm. 1], S. 182); Friedrich Gottlieb Klopstock: Einleitung zu den Geistlichen Liedern, in: HKAW, Bd. III.1 [Anm. 12], S. 3–8; Friedrich Gottlieb Klopstock: Von der heiligen Poesie, in: Ders.: Ausgewählte Werke, hg. von Karl August Schleiden, 2 Bde., München 1981, Bd. 2, S. 997–1009. 27 Klopstock: Dem Allgegenwärtigen, in: HKAW, Bd. I.1 [Anm. 1], S. 144, nach Markus 14,38. 28 HKAW, Bd. III.1 [Anm. 12], S. 20f. und 66f.

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an, die in „ihres Grübelns Täuscherey“ behaupten, dass „kein Versöhner Gottes sey“, und die mit dieser „Pest“ auch die Gläubigen vergiften, „die zu sicher schlummern“.29 „Dieser Lehre Pest“ Schleicht itzo nicht im Finstern mehr! Am Mittag, Herr! bricht sie hervor! Sie herrscht durch Grosse dieser Welt! Herr, Herr! wenn uns dein Arm nicht hält; So reißt sie uns zum Tod auch fort!30 Die Leugner des „Versöhners“ sind die Deisten und Freigeister, die zwar das Dasein Gottes anerkennen, nicht aber die Göttlichkeit Christi. Klopstock äußert die Vermutung (und legt sie im Lied der Gemeinde mitten im Gottesdienst in den Mund!), dass deistische Grundsätze in den höheren Kreisen der Gesellschaft Wurzel gefasst hatten, wenn sie sich nicht gar allerhöchster Protektion erfreuten – ein Verdacht, der im Hinblick etwa auf das Preußen Friedrichs II., der in ganz Europa gerade deswegen von sich reden machte, durchaus seine Berechtigung hatte. Ähnliche Klagen waren vielerorts zu hören. Ebenso sann man überall auf Abhilfe. Wenn die Freigeisterei weite Teile der Gesellschaft erfasst hatte, der Offenbarungsglaube in Bedrängnis war, die Kanzel aber versagte, musste man andere publizistische Mittel mit einer größeren Breitenwirksamkeit ergreifen. Solche Überlegungen waren es, die in Kopenhagen die Verfasser des „Nordischen Aufsehers“ zusammen treten ließen.31 Schon der Blick auf das Inhaltsverzeichnis macht deutlich, worum es ging. Einmal wird „das Vorurtheil von der Rechtschaffenheit ohne Religion“ widerlegt. Dann werden die „Einwürfe wider die Religion, und [die] Regeln, wie sie beurtheilt werden müssen“, behandelt. Ein fingierter Brief stellt die „Prahlerey einiger Freygeister“ an den Pranger. Die „moralische 29

Ebd., S. 20. Ebd., S. 66. 31 Vgl. Andre Rudolph: Klopstock und der Nordische Aufseher (1758–1761). Antideistische Apologetik und christliche Poesie im Zeichen Edward Youngs, in: Hilliard/ Kohl (Hg.) [Anm. 14], S. 21–40, hier S. 23–26. Zur Konjunktur des apologetischen Schrifttums um die Jahrhundertmitte vgl. Bernd Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen 2006, S. 239f. (Palaestra. Untersuchungen zur deutschen und skandinavischen Philologie 323) 30

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Güte der Glaubensgeheimnisse“ wird verteidigt. Die irrige Meinung, „daß die Offenbarung nicht gegeben sey, rechtschaffene Menschen zu machen“, wird berichtigt.32 Die „besondere“, d. h. die sich in Einzelfällen als Wunder äußernde „Vorsehung Gottes“ wird vindiziert. Aber auch andere, zunächst unverfänglich scheinende Beiträge haben oft einen theologischen Einschlag. In einer Art Ratgeberkolumne beantworten z. B. einige fiktive Mitarbeiterinnen die Gewissensfrage einer jungen Frau, ob sie „einen Freygeist heirathen“ dürfe, den sie „zu einem Christen zu machen hoff[t]“. Wenn sie sich, so die Antwort, einmal klargemacht hat, „daß ein Freygeist aufs höchste nur einige scheinbare gute Eigenschaften haben kann“, wird sie einsehen, dass sie es unterlassen müsse. „Lernen Sie ihn ganz kennen: So werden Sie aufhören, ihn zu lieben.“33 Dieses letzte Stück ist von Klopstock.34 Wie er hier in die Rolle eines weiblichen Ratgeberkollektivs schlüpft, sind seine sonstigen Beiträge – 26 von insgesamt knapp 200 – zugleich realiter als seine eigenen Werke anzusehen (und sind im Inhaltsverzeichnis als solche gekennzeichnet), als auch, auf der fiktionalen Ebene, als die des als Sohn von „Nestor Ironside“ aus dem „Guardian“ von Richard Steele (1713) sich ausweisenden „nordischen Aufsehers“.35 Durch die Fiktion des alleinigen Autors bzw. Herausgebers werden die wirklichen Autoren auf eine gemeinsame Identität und auf eine gemeinsam vertretene Linie eingeschworen. Was der Leser zu erwarten hat, macht auf der ersten Seite ein Stich deutlich, auf dem man eine schreibende Figur erkennt, die zu Füßen der allegorischen Gestalt der christlichen Religion sitzt; weitere Unterweisung gibt ein dazugetretener Engel.36 Die darauf folgenden Ausführungen „Arthur Ironsides“ bestätigen den Eindruck. Aus England habe er „die grossen Dieses Stück ist eine Replik auf Lessings Kritik des „Aufsehers“ im 49. der „Briefe, die neueste Litteratur betreffend“ (1759). 33 Auszug aus dem Protocolle der Unsichtbaren, in: NA, Bd. 2, S. 787–799, hier S. 790 und 792. 34 Und ist womöglich ein Stich gegen Lessings „Der Freigeist“, wo die fromme Juliane zuletzt den Freigeist Adrast heiratet. Das Lustspiel war 1755 in Bd. 5 von Lessings „Schrifften“ erschienen, die Klopstock wahrscheinlich kannte: vgl. HKA, Abteilung Addenda, Bd. 2: Arbeitstagebuch, hg. von Klaus Hurlebusch, Berlin/New York 1977, S. 233f. 35 NA, Bd. 1, S. 3–8. 36 Ebd., S. 3. 32

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Grundsätze der besten Religion“ in seine neue, „nordische“ Heimat mitgebracht.37 Sein „Vorsatz“ laute, „alle Menschen zu überführen, wie sehr es ihr eigner Vortheil erfodere, [. . .] an der Erhaltung und Ausbreitung der Gottseeligkeit [. . .] [und] der Tugend [. . .] zu arbeiten“.38 Was letztere betrifft, werde er sich von der Überlegung leiten lassen, dass die „Moral“ ihre Arbeit immer „zu den Füßen der Religion“ verrichte.39 In dem Vater habe man „einen Mann“ gefunden, der eben deshalb ein energischer „Bestreiter des Unglaubens“ gewesen sei.40 Ihm werde der Sohn nacheifern. Deswegen werde es ihm ein besonderes Anliegen sein, „Warnungen vor Schriften“ auszusprechen, „in denen entweder das Genie oder der Witz gemisbraucht sind, die Religion zu bestreiten oder verdächtig zu machen“.41 Gewiss wird man diese programmatischen Worte zuallererst auf die Rechnung des tatsächlichen Herausgebers Johann Andreas Cramer setzen müssen. Dessen wissenschaftliches Hauptwerk ist die 1748 in erster Auflage erschienene, ausführlich kommentierte Übersetzung von Bossuets „Discours sur l’histoire universelle“ (1682).42 Die Stoßrichtung gegen die „Freygeister“ ist bei Bossuet wie bei seinem Übersetzer deutlich.43 Es gibt jedoch keinen Grund zu glauben, dass Klopstock anders dachte. Er stand Cramer über Jahre hinweg nahe.44 Dieser war als einer der „Bremer Beiträ37

Ebd., S. 6. Zum kontroverstheologischen Sinn der englischen Einkleidung vgl. Rudolph [Anm. 31], S. 23f. 38 NA, Bd. 1, S. 8. 39 Ebd., S. 16. Der Kupferstich auf S. 3 ist womöglich als bildliche Ausdeutung dieser Stelle zu verstehen. 40 Ebd., S. 8. 41 Ebd., S. 14. Allein im ersten Jahrgang werden Voltaire, Bolingbroke, Hume, die Deisten Woolston, Tindal, Morgan und Chubb sowie La Mettrie namentlich angegriffen (S. 145f., 163 und 518). 42 Jacob Benignus Bossuets [. . .] Einleitung in die allgemeine Geschichte der Welt bis auf Kaiser Carln den Großen [. . .] uebersetzt [. . .] von Johann Andreas Cramer, 2. Auflage, Leipzig 1757. Die stark erweiterte 7. Auflage erschien 1786. 43 Ebd., S. 448f. 44 Diese Nähe wiegt m. E. schwerer als die in der Forschung seit Gerhard Kaiser immer wieder beschworene Affinität zur so genannten Neologie: vgl. Gerhard Kaiser: Klopstock. Religion und Dichtung, Gütersloh 1963, S. 28–104 (Studien zu Religion, Geschichte und Geschichtswissenschaft 1); Kemper [Anm. 14], S. 493; Till [Anm. 10]; Walter Sparn: „Der Messias“. Klopstocks protestantische Ilias, in: Protestantismus und deutsche Literatur, hg. von Jan Rohls und Gunther Wenz, Göttingen 2004, S. 55–80

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ger“ für das Erscheinen der ersten drei Gesänge des „Messias“ 1748 mit verantwortlich gewesen und hatte sich in der anschließenden Kontroverse für Klopstock eingesetzt.45 Im Gegenzug vermittelte dieser Cramers Berufung an eine Hofpredigerstelle in Kopenhagen.46 Dort hörte Klopstock regelmäßig seine Predigten47 (u. a. eine „starcke Predigt“ über das Lissabonner Erdbeben48). Als seine Frau 1758 starb, suchte er bei Cramer Trost und bat ihn, ihm „seine Gedanken über die Absichten Gottes bey einer so ausserordentlichen Prüfung mitzutheilen“.49 Wenn also der „nordische Aufseher“ Arthur Ironside zunächst eine Maske Cramers ist, so passt sie ebenso gut auch auf Klopstock: Auch er ist damit in emphatischem Sinne „Bestreiter des Unglaubens“. Von den Beiträgen zum „Aufseher“ wären hier neben den alsbald berühmt gewordenen freirhythmischen Oden besonders die „Betrachtungen über Julian den Abtrünnigen“ anzuführen, in denen Klopstock die Demontage einer Galionsfigur des freigeistigen 18. Jahrhunderts unternimmt.50 Von den geistlichen Liedern ist bereits die Rede gewesen. Auch die biblischen Dramen, „Der Tod Adams“, „Salomo“ und „David“, die in den Kopenhagener Jahren entstanden sind, waren nicht als bloßes „Musenspiel“ gedacht, sondern wollten die „Würkung der Religion“ in Szene setzen und den Spöttern „Baile, Morgan, Voltaire“ eins auswischen, wie Herder zurecht bemerkte.51 Noch in Klopstocks beiden Entwürfen für eine welt(Münchener theologische Forschungen 2). Vgl. dagegen Johann Anselm Steiger: Aufklärungskritische Versöhnungslehre. Zorn Gottes, Opfer Christi und Versöhnung in der Theologie Justus Christoph Kraffts, Friedrich Gottlieb Klopstocks und Christian Friedrich Daniel Schubarts, in: Pietismus und Neuzeit 20, 1994, S. 124–172 (hier S. 163f., Anm. 109). Klopstock sah sich als Vertreter der „wahre[n] Orthodoxie“ (HKAW, Bd. III.1 [Anm. 12], S. 97) – womit freilich zugleich gesagt ist, dass es für ihn auch eine falsche gab. Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, die entsprechenden Nuancen zu klären. 45 Vgl. Auerochs [Anm. 31], S. 135. 46 Klopstock [Anm. 34], S. 236. 47 Ebd., S. 10, 32, 36 und 46. 48 HKAB, Bd. III [Anm. 9], S. 30. 49 Brief von Gottlieb Benedikt Funk an Klopstock, 18. 12. 1758, in: HKAB, Bd. III [Anm. 9], S. 118. 50 NA, Bd. 1, S. 145–162. 51 Rezension des „David“ in der „Allgemeinen deutschen Bibliothek“ (1773), zit. nach HKAW, Bd. V: Biblische Dramen, hg. von Monika Lemmel, Berlin/New York

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liche Gelehrtenrepublik werden die Freigeister als Feinde des Gemeinwesens in Acht und Bann getan.52 In erster Linie ist aber in diesem Zusammenhang selbstverständlich sein Epos „Der Messias“ (1748–1773) zu nennen. Es war, wie ein anderer „Aufseher“-Beiträger zu Recht bemerkte, „ein Werk zur Verherrlichung der Religion“.53 Mit seinen 20 Gesängen und fast 20 000 Versen sollte es schon durch Masse wirken; noch mehr durch das Prestige, das ein in der Tradition des antiken Epos stehendes Gedicht beanspruchen durfte. Es ist vor allem aber die Konzeption, die im Ganzen und im Einzelnen auf eine Wiederherstellung des Offenbarungsglaubens ausgerichtet ist. Wenn die Wühlarbeit der Freigeister die Offenbarung in „einen großen Schauplatz von Trümmern“ zu verwandeln drohte, sollte sie der „Messias“ wieder zum „majestätischen Tempel“ machen.54 Wie dieses Vorhaben durchgeführt wird, kann hier nicht in allen Einzelheiten ausgeführt werden. Bernd Auerochs hat das Richtige getroffen, indem er auf die apologetische „Frontstellung“ des Werks und dessen Erbauungsfunktion sowie auf die dieser Absicht dienende theologische Durchsättigung der Erzählung hinweist55; und auch Johann Anselm Steigers These ist zuzustimmen, wonach „der Messias durch und durch in Dichtung gesetzte Dogmatik ist“ und eine „poetische Metakritik an der [. . .] Aufklärungstheologie“ vornimmt.56

2005, S. 372–373. Vgl zum „Salomo“ auch Kevin F. Hilliard: Der Skeptizismus in der deutschen Aufklärung und die literarischen Folgen, in: German Life and Letters 62, 2009, S. 1–20, hier S. 15f. 52 Klopstock [Anm. 34], S. 11 („Freygeisterey ist Hochverrat“); HKAW, Bd. VII.1: Die deutsche Gelehrtenrepublik. Text, hg. von Rose-Maria Hurlebusch, Berlin/New York 1975, S. 174f. („Gesez zur Steurung der Freygeisterey“) und S. 190–198 (Auffliegen eines ausländischen Komplotts zur Gründung einer „Kirche für die Freygeister in Deutschland“). 53 Funk [Anm. 49], S. 121. 54 Klopstock: Von der heiligen Poesie [Anm. 26], S. 1009. Vgl. Auerochs [Anm. 31], S. 204f. 55 Auerochs [Anm. 31], S. 119–260, bes. S. 205–242. 56 Steiger [Anm. 44], S. 164 und 167.

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Festmachen lässt sich die Absicht des „Messias“ zunächst an dem die Handlung beherrschenden Motiv des Triumphes.57 Das Leiden Christi bis zu seinem Tod am Kreuz in den ersten zehn Gesängen ist nur die dunkle Folie zu seiner umso glanzvolleren „Erhöhung“ (XIII, 842). Nur weil er einen „Sieger“ (XIII, 717) brauchte, ist überhaupt verständlich, warum Klopstock das epische Gedicht zur Einkleidung seiner Erzählung wählte. Wie die Helden des antiken Epos leistet sein Christus „große Taten“ (XIII, 875), um schließlich als „Überwinder“ (XVIII, 261; XIX, 245) aus dem Kampf mit seinen Feinden hervorzugehen; und wie ein christlicher Aeneas begründet er in dem diesen Triumph besiegelnden Weltgericht ein neues, großes, ja ewiges Reich.58 War noch innerhalb der irdischen Handlung mit den „Zweiflern“ abgerechnet worden59, werden auf dem überirdischen Schauplatz nicht nur die zeitlos-mythologischen Figuren, der Teufel oder die historischen Feinde Christi, sondern auch die philosophischen „Göttererfinder“ (XVIII, 657; vgl. 642–654), die „Spötter“ (XVIII, 253) und die „geistlichstolzen Halbchristen“60 (XIX, 35–87) verdammt: Die Repräsentanten also der freigeistigen oder von freigeistigen Strömungen erfassten Zeitgenossen Klopstocks.61 57

HKAW, Bd. IV.1,2: Der Messias. Text, hg. von Elisabeth Höpker-Herberg, Berlin/ New York 1974. Fortan zitiert im Text nach Gesang und Zeile. Vgl. den „Triumphgesang“ des XX. Gesangs (HKAW, Bd. IV.3: Der Messias. Text/Apparat, hg. von Elisabeth Höpker-Herberg, Berlin/New York 1996, S. 67–87). 58 Christus übersteigt dabei den römischen Helden, ebenso wie Klopstock mit dem „Messias“ die „Aeneis“ überwindet. Vgl. Auerochs [Anm. 31], S. 210f. und 220. 59 Vgl. Kevin F. Hilliard: Freethinkers, Libertines and Schwärmer. Heterodoxy in German Literature, 1750–1800, London 2011, S. 63–66. 60 So die in der Ausgabe von 1773 dem Gesang vorangestellte Inhaltsangabe: HKAW, Bd. IV.3 [Anm. 57], S. 160. 61 Die „Deutsche Gelehrtenrepublik“ hat auf der weltlichen Ebene einen ähnlich „judizialen Charakter“ (Kommentar des Herausgebers, in HKAW, Bd. VII.2: Die deutsche Gelehrtenrepublik. Text/Apparat, hg. von Klaus Hurlebusch, Berlin/New York 2003, S. 522): Nach diversen Säuberungen (u. a. der Freigeister: siehe oben) kulminiert die Handlung in einem neuen Bund zur Eroberung eines geistigen Reichs – auch dieses in Abgrenzung zur Romania. Dass Klopstocks Patriotismus christlich-apologetische Wurzeln hat, macht Klaus Hurlebusch anhand der Hermann-Dramen deutlich: vgl. Hurlebusch: Friedrich Gottlieb Klopstock, in: Deutsche Dichter, Bd. 3: Aufklärung und Empfindsamkeit, hg. von Gunter E. Grimm und Frank Rainer Marx, Stuttgart 1988, S. 150–176, hier S. 161–163.

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Bezeichnenderweise besteht die allererste Heldentat Christi, der erste „leise Tritt“ zu seiner „Erhebung“ (XIII, 874–875), in der Verdammung eines toten heidnischen Tyrannen (XIII, 856–874). Handlungslogisch und offenbarungsdogmatisch war das Gericht über die Sünder eine Notwendigkeit. Da nützt es nichts, dass im gleichen Augenblick Christus auf den auferstandenen Adam „liebend“ herabsieht (XIII, 855); oder dass Klopstock selber die Doktrin der Ewigkeit der Höllenstrafen bestritt und zum Zeichen davon im „Messias“ den reuigen Teufel Abbadona begnadigen ließ (XIX, 91–235).62 Das Gericht lässt sich nicht wegräsonnieren. Selbst für den mit Gott Versöhnten ist die Liebe nur der zurückgehaltene Zorn. Beim Kopenhagener Erdbeben war es nicht anders gewesen: Gottes Liebe erwies sich dort darin, dass sein Zorn an seinen Auserwählten vorüberging, um sich sichtbar an den Sündern zu entladen. Ohne dass an den anderen tatsächlich eine Strafe vollstreckt wurde, kann es kein Bewusstsein davon geben, dass man selber aus Liebe verschont wurde. Ebenso wie seine theologischen Zeitgenossen scheitert Klopstock „an der biblischen Dialektik von Zorn und Liebe, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit“.63 Der Widerspruch im „Messias“ – oder, wenn man will, das sich der Einsicht des Menschen noch entziehende Geheimnis64 – bleibt unaufgelöst stehen. Den Spielraum, der sich dabei ergab, konnte Klopstock aber in den üppig ausgemalten Gerichtsszenen der kulminierenden Gesänge ausnützen, um in einer Zeit realer Gefährdung wenigstens im Glauben und in der Fiktion Christi Sieg über die Feinde zu feiern und auszukosten. Das andere apologetische Moment des „Messias“ liegt in der konsequent nach typologischen Gesichtspunkten durchgeführten Verzahnung des Passionsberichts und der Himmelfahrt aus dem Neuen mit den Verheißungen aus dem Alten Testament.65 Das Geschehen wird von Anfang bis Ende von den wieder zum Leben erweckten Patriarchen und Propheten des Alten Bundes begleitet und kommentiert, die in dem leidenden, auferstandenen und triumphierenden Christus die Erfüllung des ihnen nur 62 Brief an Carl Friedrich Cramer vom 11. 01. 1791, in: HKAB, Bd. VIII.1: Briefe 1783–1794. Text, hg. von Helmut Riege, Berlin/New York 1994, S. 215. 63 Steiger [Anm. 44], S. 146. 64 Klopstock: Von der heiligen Poesie [Anm. 26], S. 1006f. 65 Vgl. Jörn Dräger: Typologie und Emblematik in Klopstocks „Messias“, Göttingen 1971; Auerochs [Anm. 31], S. 150–182.

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dunkel Offenbarten erleben. Zusammen mit den gleichfalls auftretenden Engeln und Teufeln erfüllen sie die Forderung des Epos nach übernatürlicher „Maschinerie“.66 Es ist jedoch vor allem die theologische Absicht, die hier bestimmend ist. Durch die Rückführung der Religion Christi auf die Anfänge der Schöpfung soll bewiesen werden, dass das Christentum keine menschliche Erfindung ist, wie die Freigeister behaupteten.67 Und durch das gegenseitige Abbildungsverhältnis von Altem und Neuen Testament will Klopstock noch einmal den Beweis der Göttlichkeit der Bibel führen: Denn muss nicht ein Werk göttlich sein, in dem Weissagung und Erfüllung so genau zueinander passen?68 Dass diese Verzahnung ein Artefakt willkürlicher Exegese und einer bewusst auf die Weissagungen hin berechneten messianischen Erwartungshaltung bei Protagonisten wie Redaktoren des Neuen Testaments sein könnte, wie die Bibelkritik es nahelegte, kommt ihm nicht in den Sinn. Was ist von all dem aufklärerisch? Für den Freund der Aufklärung und Bewunderer Klopstocks muss die Antwort ernüchternd ausfallen. Natürlich ist Aufklärung nicht mit Anti-Christentum zu verwechseln. Wenn aber auch innerhalb der Theologie und der Religion Skepsis, Bibelkritik, Aufkündigung der unbedingten Offenbarungshörigkeit und die Abkehr von orthodoxen Deutungsmustern (etwa bei Erdbeben!) zur Aufklärung gehören, kann bei Klopstock davon nicht die Rede sein.69 Gewiss: Nicht alle Facetten seines Schaffens sind damit erfasst.70 In erster Linie wollte Klopstock aber geistlicher Dichter sein71, und als solcher ist er hier behandelt worden. Ein christliches Epos sollte seinen Ruhm begründen.72 Wie der Messias den rechten Glauben in die Welt brachte, 66

Ebd., S. 124f. Vgl. Bossuet [Anm. 42], S. 457. 68 Ebd., S. 448f. 69 Auch die Begnadigung Abbadonas zählt nicht. Die „Wiederbringung aller“ ` pοkάstasiV pάntοn) ist nicht aufklärerisches, sondern heterodox-häretisches Ge(a dankengut (vgl. Gerhard Kaiser [Anm. 44], S. 174–184). 70 Dazu Kevin F. Hilliard: Klopstock, Friedrich Gottlieb, in: Encyclopedia of the Enlightenment, hg. von Alan Charles Kors, 4 Bde., Oxford 2003, Bd. 2, S. 333–335; Kemper [Anm. 14], S. 422–440 und 448–457. 71 Vgl. Klopstock an seinen Vater, zwischen dem 3. und 6. November 1756, in: HKAB, Bd. III [Anm. 9], S. 52. 72 Klopstock: An Freund und Feind, in: HKAW, Bd. I.1 [Anm. 1], S. 383–385. 67

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wollte die „Messiade“ helfen, ihn zu erhalten. Seinen Lesern rief er ein „wachet auf“73, kein „sapere aude!“ zu; als „Aufseher“ wollte er weiter die „Oberaufsicht“ über sie führen, anstatt sie aus der Vormundschaft in die „Mündigkeit“ zu entlassen.74 Das lässt freilich alle Fragen nach der dichterischen Qualität seines Schaffens noch offen.

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HKAW, Bd. III.1 [Anm. 12], S. 29f. und 197–199. Vgl. Till [Anm. 10]. Immanuel Kant: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ [1784], in: Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen, hg. von Ehrhard Bahr, Stuttgart 1981, S. 9–17, hier S. 9. 74

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1. Sophie von La Roche: Zwischen Aufklärung und Weimarer Klassik Sophie von La Roches (1730–1807) erster Roman, die „Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Von einer Freundin derselben aus Original-Papieren und andern zuverläßigen Quellen gezogen“1, erscheint 1771 anonym und setzt sich sofort durch. Dass der Text auf der Höhe seiner Zeit war, belegen nicht nur der Name und das Vorwort des Herausgebers Christoph Martin Wieland (1733–1813), sondern auch seine Entstehungsgeschichte und die Biographie der Verfasserin. Sophie von La Roche, 1730 in Kaufbeuren als erstes von 13 Kindern des Stadtarztes Georg Friedrich Gutermann (1705–1784) und seiner Ehefrau Barbara Regina, geb. Unold (1711–1748), geboren2, kennt verschiedene gesellschaftliche Berufs- und Lebenszusammenhänge, das Umfeld der Gelehrsamkeit und der zeitgenössischen Poetik ebenso wie das der höfischen Gesellschaft, in das sie ihre Eheschließung mit Georg Michael von La Roche (1720–1788) 1750 führt. Aufgrund der eige1

[Sophie von La Roche]: Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Von einer Freundin derselben aus Original-Papieren und andern zuverläßigen Quellen gezogen, herausgegeben vom C. M. Wieland, 2 Theile, Leipzig 1771. Fortan zitiert im Text unter der Sigle ‚GFS‘+Seitenzahl nach der von Barbara Becker-Cantarino herausgegebenen Ausgabe im Reclam-Verlag Stuttgart 1983. 2 Vgl. „Meine Freiheit, nach meinem Charakter zu leben“. Sophie von La Roche (1730–1807). Schriftstellerin der Empfindsamkeit, hg. von Jürgen Eichenauer, Weimar 2008 (Offenbacher Studien 2); Claudia Bamberg: Sophie von La Roche, Frankfurt a. M. 2007; Charlotte Nerl-Steckelberg und Klaus Pott: „Das wahre Glück ist in der Seele des Rechtschaffenen.“ Sophie von La Roche (1730–1807). Eine bemerkenswerte Frau im Zeitalter von Aufklärung und Empfindsamkeit [Katalog zur Ausstellung im Museum Sophie LaRoche], Bönnigheim [2000].

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nen Aus- und Weiterbildung ist sie auch nach dem Sturz des Ehemannes 1780, der am Trierer Hof bis zum Kanzler aufgestiegen war, in der Lage, auf die neue, nicht nur finanziell prekäre Situation der Familie zu reagieren.3 Im bewussten Anschluss an den Erfolg der „Sternheim“ baut sie ihr Schreiben aus. Sie veröffentlicht einen neuen Briefroman: „Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Von der Verfasserin des Fräuleins von Sternheim“.4 Sie lanciert 1783 eine Monatszeitschrift für Frauen: „Pomona für Teutschlands Töchter“5, publiziert die in sie eingerückten „Moralischen Erzählungen“6 und Briefe7 separat und erschließt sich im Zuge von Reisen in die Schweiz, nach Frankreich, Holland und England die dazugehörige Gattung. Die Verlagsverträge sind bereits vor Reiseantritt unterzeichnet, die Reiseberichte verkaufen sich mit Gewinn.8 3

Vgl. zu ihrer Biographie auch Helga Meise: Nachwort, in: Sophie von La Roche Lesebuch, hg. von ders., Königstein/Ts. 2005, S. 290–305. 4 [Sophie von La Roche]: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Von der Verfasserinn des Fräuleins von Sternheim, 3 Bde., Frankfurt und Leipzig 1779– 1781. Teile daraus waren unter dem Titel „Frauenzimmerbriefe“ in Johann Georg Jacobis Frauenzeitschrift „Iris“ 1775–1776 vorabgedruckt worden. 5 Sophie von La Roche: Pomona für Teutschlands Töchter. Nachdruck der OriginalAusgabe Speyer 1783–1784, hg. und mit einem Vorwort von Jürgen Vorderstemann, 4 Bde., München [u. a.] 1987. 6 [Sophie von La Roche]: Moralische Erzählungen der Frau Verfasserin der Pomona, Sammlung 1.2, Speier 1783–1784; dies.: Neuere Moralische Erzehlungen, Altenburg 1786. 7 [Sophie von La Roche]: Briefe an Lina, Speier 1785. Vgl. auch dies.: Briefe an Lina als Mädchen. Ein Buch für junge Frauenzimmer die ihr Herz und ihren Verstand bilden wollen von Sophie von La Roche. Erster Band. Zweyte, mit einem Anhange vermehrte Auflage, Leipzig 1788; Briefe an Lina als Mutter. Ein Buch für junge Frauenzimmer die ihr Herz und ihren Verstand bilden wollen von Sophie von La Roche. Zweyter Band. Mit einem Kupfer. Dritter Band. Mit einem Kupfer von Penzel, Leipzig 1795/ 1797. 8 [Sophie von La Roche]: Tagebuch einer Reise durch die Schweiz, von der Verfasserin von Rosaliens Briefen, Altenburg 1787; Journal einer Reise durch Frankreich, von der Verfasserin von Rosaliens Briefen, Altenburg 1787; Tagebuch einer Reise durch Holland und England, von der Verfasserin von Rosaliens Briefen, Offenbach 1788; Erinnerungen aus meiner dritten Schweizerreise. Meinem verwundeten Herzen zur Linderung vielleicht auch mancher traurenden Seele zum Trost geschrieben von Sophie, Wittwe von la Roche, Offenbach 1793. Vgl. auch Briefe über Mannheim von Sophie von La Roche, Mannheim 1791; Zürich 1791.

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1786 zieht die Familie von Speyer nach Offenbach am Main, wo La Roche im Einvernehmen mit seinem Schwiegersohn Peter Anton Brentano (1735– 1797), dem Ehemann Maximilianes (1756–1793), ein Haus erworben hatte. Nach dem Tod La Roches 1788 spitzt sich 1794 die finanzielle Situation der Witwe mit dem Wegfall ihrer Rente aus dem Bopparder Rheinzoll infolge der Besetzung der linksrheinischen Gebiete durch die französische Revolutionsarmee dramatisch zu. Sophie von La Roche setzt auf Kostgänger und die eigene Professionalisierung. In schneller Folge erscheinen Erzählungen9 und Romane10, die Autobiographie der Dorothea Friderika Baldinger (1739–1786)11, Reiseberichte12, ein „Amerika-Roman“13 sowie Texte,

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[Sophie von La Roche]: Geschichte von Miß Lony und der schöne Bund von Sophie, Wittwe von La Roche. Mit zwey Kupfern, Gotha 1789. 10 [Sophie von La Roche]: Rosalie und Cleberg auf dem Lande. Von Sophie, Wittwe von La Roche, Offenbach 1791; Schönes Bild der Resignation. Von Sophie von La Roche, Theil 1.2, Leipzig 1795–1796; Fanny und Julia. Oder die Freundinnen von Sophie von La Roche, Theil 1.2, Leipzig 1801–1802; Liebe-Hütten. Von Sophie von La Roche. Mit Kupfern von Penzel, Theil 1.2, Leipzig 1803–1804. 11 Lebensbeschreibung von Friderika Baldinger von ihr selbst verfaßt. Herausgegeben und mit einer Vorrede begleitet von Sophie, Wittwe von la Roche, Offenbach 1791. Vgl. den Nachdruck Dorothea Friderika Baldinger: Versuch über meine Verstandeserziehung, in: „Ich wünschte so gar gelehrt zu werden“. Drei Autobiographien von Frauen des 18. Jahrhunderts, hg. von Magdalene Heuser, Ortrun Niethammer, Marion Roitzheim-Eisfeld und Petra Wulbusch, Göttingen 1994, S. 7–25, 183–205. – Dorothea Friderika Gutbier heiratete 1763 Ernst Gottfried Baldinger (1738–1804), Arzt, Professor der Medizin in Jena (ab 1768), Göttingen (ab 1773) und Marburg (1785–1804), ab 1782/83 Lehrer der Arzneikunst am Collegium Carolinum in Kassel und Leibarzt des Landgrafen Friedrich II. von Hessen-Kassel (1720–1785). Sophie von La Roche an Elise zu Solms-Laubach, 04. 03. 1786: „Ich verlor indessen meine Freundin Baldinger in Kassel [. . .]“, in: „Ich bin mehr Herz als Kopf“. Sophie von La Roche. Ein Lebensbild in Briefen, hg. von Michael Maurer, München 1983, S. 280. 12 [Sophie von La Roche]: Reise von Offenbach nach Weimar und Schönebeck im Jahr 1799. Von Sophie von La Roche/Schattenrisse abgeschiedener Stunden in Offenbach, Weimar und Schönebeck im Jahr 1799, Leipzig 1800. 13 [Sophie von La Roche]: Erscheinungen am See Oneida, 3 Bde., Leipzig 1798. Zu dem Begriff vgl. Gudrun Loster-Schneider: „O nein, nein lieber sterben als erworbene Kenntnisse verlieren“. Sophie von La Roche als Feld-Pionierin des ‚Amerika-Romans‘?, in: „Ach, wie wünschte ich mir Geld genug, um eine Professur zu stiften“. Sophie von La Roche im literarischen und kulturpolitischen Feld von Aufklärung

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die verschiedene Gattungen14 zusammenführen, Lesefrüchte15 oder einen „Aufsatz über mein Leben“.16 Die Autorin etabliert sich als erste deutsche Berufsschriftstellerin.17 Rezeption und Wirkung sind indes lange durch die „Sternheim“ bestimmt. Schreibt Caroline Flachsland an Herder am 14. 06. 1771: „Ich habe köstliche, herrliche Stunden beym Durchlesen gehabt. Ach, wie weit bin ich noch von meinem Ideal von mir selbst weg! welche Berge stehn gethürmt vor mir! ach! ach, ich werde im Staub und in der Asche bleiben!“18, erlebt sie schon im Jahr darauf die Begegnung mit der Autorin als Enttäuschung: „[A]ber welch eine andere Erscheinung als die simple erhabene Sternheim! [. . .] kurz, sie hat uns mit ihrer allzuvielen Coketterie und Repräsentation nicht gefallen.“19 Während Wieland die Autorin zeitlebens auf Natürlichkeit, Weiblichkeit, Absichtslosigkeit und künstlerische Anspruchslosigkeit festlegt20, wird auch Mercks Rezension in den „Frankfurund Empfindsamkeit, hg. von Barbara Becker-Cantarino und ders., Tübingen 2010, S. 190–210. 14 [Sophie von La Roche]: Mein Schreibetisch, von Sophie von La Roche. An Herrn G. R. P. in D., Bändchen 1.2, Leipzig 1799. 15 [Sophie von La Roche]: Herbsttage. Von Sophie von La Roche. Mit einem Kupfer von Penzel und mit Musik, Leipzig 1805. 16 [Sophie von La Roche]: Aufsatz über mein Leben, in: Dies.: Melusinens Sommer= Abende. Hg. von Christoph Martin Wieland. Mit dem Portrait der Verfasserin, Halle 1806, S. I–LVI. Nachdruck der Ausgabe von 1806, in: Jenseits der „Sternheim“: Die unbekannteren Werke der Sophie von La Roche, hg. von Heide Menges, Karben 1997 (ReprintLit; Abt. 2. D, Bd. 1). 17 Vgl. Barbara Becker-Cantarino: Meine Liebe zu Büchern. Sophie von La Roche als professionelle Schriftstellerin, Heidelberg 2008, S. 201–204; Gudrun Loster-Schneider: „Ich aber nähre mich wieder mit einigen phantastischen Briefen“. Zur Problematik der schriftstellerischen Profession, in: Beruf: Schriftstellerin. Schreibende Frauen im 18. und 19. Jahrhundert, hg. von Karin Tebben, Göttingen 1998, S. 47–77. 18 Zit. nach Becker-Cantarino [Anm. 1], S. 365. 19 Zit. nach Günter Häntzschel: Nachwort, in: Sophie von La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim [. . .], hg. von dems., München 1976, S. 301–337, hier S. 335. Vgl. Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt a. M. 1979, S. 190–200. 20 Vgl. die Vorrede des Herausgebers zur „Sternheim“ (S. 9–17); Gudrun LosterSchneider: Sophie La Roche. Paradoxien weiblichen Schreibens im 18. Jahrhundert,

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ter gelehrten Anzeigen“ vom 14. 02. 1772: „Allein alle die Herren irren sich, wenn sie glauben, sie beurtheilen ein Buch – – es ist eine Menschenseele [. . .]“21 zur Hypothek für jedes weitere Schaffen. Die Identifikation von Titelfigur und Autorin wird zur Falle: Empfindsamkeit, Tugend, die Rolle der Frau in der sich umgestaltenden Gesellschaft des sich auflösenden Alten Reiches gelten als einzige Themen Sophie von La Roches, moralische Belehrung, das „Konventionelle“ und „Triviale“22 als Stilmerkmale. Hatte Goethe sich für „Die Leiden des jungen Werthers“ 1774 noch mit der Autorin der „Sternheim“ beraten23, schreibt er 1799, sie „gehört zu den nivellierenden Naturen, sie hebt das Gemeine herauf und zieht das Vorzügliche herunter und richtet das Ganze alsdann mit ihrer Sauce zu beliebigem Genuß an“.24 Berufsschriftstellerei und künstlerische Wertschätzung fallen auseinander; die Erfolgsautorin wird von der sich formierenden Weimarer Klassik überholt und übergangen. Ihre Texte vermögen deren Kunstanspruch nicht zu erfüllen, finden aber dennoch ihr vorwiegend weibliches Publikum. Die Falle schnappt von neuem zu.25

2. Die „Geschichte des Fräuleins von Sternheim“ und der Genderdiskurs Was begründet den Ruhm der Autorin, worin liegt die Originalität der „Geschichte des Fräuleins von Sternheim“? Der Roman erzählt die Geschicke der jungen verwaisten Landadeligen Sophie von Sternheim, die zu ihrer Tante an den Hof von D. ziehen muss, wo sie dem Fürsten als Mätresse zugespielt werden soll. Sie rettet sich durch die Flucht und die EheTübingen 1995, S. 48–89 (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft 26). 21 Zit. nach Becker-Cantarino [Anm. 1], S. 367. 22 Vgl. Häntzschel [Anm. 19], S. 335f. 23 Goethe an Sophie von La Roche, 7. oder 8. Mai 1774, in: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 in 45 Bänden in 2 Abteilungen – 2. Abteilung. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 1 (28): Von Frankfurt nach Weimar. 1764– 1775, hg. von Wilhelm Große, Frankfurt a. M. 1997, S. 364. 24 Goethe an Schiller, 24. 7. 1799, zit. nach Häntzschel [Anm. 19], S. 335f. 25 Vgl. Becker-Cantarino/Loster-Schneider (Hg.) [Anm. 13]; Becker-Cantarino [Anm. 17].

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schließung mit Lord Derby, einem Engländer, den sie am Hof kennengelernt hatte, ebenso wie seinen Landsmann Lord Seymour, den sie eigentlich liebt. Aber die Ehe erweist sich als Betrug, Derby als skrupelloser Verführer, der sich nach dem Scheitern einer Vergewaltigung nach England absetzt. Sophies Odyssee geht weiter: Sie findet mit ihrer Zofe Rosina, Tochter ihres Pfarrers, mit der sie schon nach D. aufgebrochen war, zunächst Zuflucht bei Emilia, Rosinas Schwester. In Rückbesinnung auf ihre Erziehung und die „wahren Güter unseres Lebens“ (GFS 236), nämlich Gutes zu tun, plant sie eine Mädchenschule und ein „Gesindhaus“ (GFS 238). Auf einer Reise lernt sie Lady Summers kennen, eine Engländerin, die sie auf ihren Landsitz einlädt. Hier verliebt sich Lord Rich, ein Schlossnachbar, in sie. Doch Derby, inzwischen mit einer Nichte Lady Summers’ verheiratet, fürchtet seine Entdeckung. Er lässt Sophie in die „schottischen Bleygebürge“ (GFS 303) entführen und, als sie sich weigert, zu ihm nach Windsor zu kommen, in einem Turm einkerkern. Sie wird von ihren Wirtsleuten gerettet, glaubt aber zu sterben. Unterdessen hat Seymour die Suche nach ihr aufgenommen und in England seinen Bruder Rich getroffen. Derby, auf den Tod erkrankt, bittet die Brüder zu sich, um sein Verbrechen zu gestehen. Seymour und Rich folgen seinen Angaben und finden die Totgeglaubte lebend. Beide wollen verzichten, aber Sophie und Seymour kommen zusammen. Das Paar lässt sich auf Seymourhouse nieder, Rich übernimmt die Erziehung ihres zweitgeborenen Sohnes. Der Roman knüpft in Form und Inhalt an den polyperspektivischen Briefroman an, mit dem Samuel Richardson (1689–1761) seit den 1740er Jahren den Kontinent erobert und den Jean-Jacques Rousseaus (1712–1778) „Julie ou La Nouvelle Héloïse“ 176126 erneuert hatte. Richardsons Romane umkreisen seit „Pamela, Or Virtue Rewarded“27 das Thema von der „ver-

26 Jean-Jacques Rousseau: Lettres de deux amans, habitans d’une petite ville au pied des Alpes, 6 Bde., Amsterdam 1761. 27 [Samuel Richardson]: Pamela, Or Virtue Rewarded, 2 vols., London 1740; Clarissa or the history of a young lady: comprehending the most important concerns of private life, and particularly shewing the distresses that may attend the misconduct both of parents and children. In seven volumes, London 1747–1748; The History of Sir Charles Grandison. In a series of Letters. Published from the Originals, 7 vols., London 1753– 1754. Zu den Übersetzungen von „Clarissa“ vgl. Thomas O. Beebee: Clarissa on the

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führten Unschuld“.28 Anders als Rousseau – Julie de Wolmar, „vor die Entscheidung zwischen Tugend und Liebe gestellt, heißt den Tod willkommen“29 –, koppelt Richardson am Beispiel eines „Bürgermädchens“ die Gleichsetzung von „Tugend“ und „körperlicher Unberührtheit“ auf der einen Seite mit der „‚Tugend‘ als sittlich-religiösem“ und letztlich unzerstörbaren „Ideal“30 auf der anderen Seite. Die „Sternheim“ greift dieses Modell auf, verschiebt aber die Koordinaten: Der Roman entfaltet die Geschichte der Titelfigur als Gegensatz zwischen dem Hof und der Unschuld vom Lande, als Kontrast zwischen einer nur auf äußeren Schein und individuellen Aufstieg bedachten höfischen Öffentlichkeit und einer empfindsamen tugendhaften Heldin, die trotz ihres Standes an bürgerlichen Werten festhält, von Aufrichtigkeit, Natürlichkeit und Einfachheit bis hin zum Bedürfnis, zum Wohle der Gesellschaft tätig zu sein. Dass Sophie sich aufgrund ihres inneren Widerstandes gegen ihre modische Zurichtung durch die Tante bei Hofe selbst wie eine „Gattung von Gespenstern“ (GFS 65) vorkommt, entspricht ihrer Wahrnehmung durch Lord Derby, der seine ganze Verführungsstrategie auf ihre Unangepasstheit, auf ihre Differenz zu anderen ihres Geschlechts gründet: „Das Mädchen macht eine ganz neue Gattung von Charakter aus!“ (GFS 142) Die polyperspektivische Anlage des Briefromans erlaubt, die Wünsche und Wahrnehmungen, Empfindungen und Gefühle aller Beteiligten in ihren Briefen ausführlich zu Wort kommen zu lassen. Während diese ihren Regungen beim Schreiben freien Lauf lassen, äußern sie sich doch einem Freund gegenüber, dem sie Vertrauen schenken, entsteht allein vor Leserinnen und Lesern ein Gesamtbild der Beweggründe der einzelnen und der Entwicklung der Titelfigur. Als das Fräulein an Derbys Verrat zugrunde zu gehen droht, legt sie sich selbst Rechnung ab: „Mein Herz ist unschuldig und rein; die Kenntnisse meines Geistes sind unvermindert; die Kräfte meiner Seele und meine guten Neigungen haben ihr Maß behalten; und ich habe noch das Vermögen, Gutes zu tun.“ (GFS 236f.) Unter dem continent. Translation and seduction, University Park 1990; zu La Roche und Richardson Becker-Cantarino, Nachwort [Anm. 1], S. 381–415, hier S. 403. 28 Hellmuth Petriconi: Die verführte Unschuld. Bemerkungen über ein literarisches Thema, Hamburg 1953. 29 Ebd., S. 48. 30 Ebd., S. 53.

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Namen „Madam Leidens“ (GFS 235) widmet sie sich fortan sozialen Aufgaben, insbesondere der Erziehung von Mädchen aus den unteren Schichten – tätige Tugend tritt an die Stelle der „verführten Unschuld“. Dass die Titelfigur diesem Verhalten nicht nur ihr Überleben verdankt, sondern auch die Ehe mit Seymour und damit die Verwirklichung ihrer Vorstellungen von einem tätigen tugendhaften Leben auf dem Lande, überdies in dem von ihr als vorbildhaft verehrten England, macht sie zur idealen Verkörperung eines neuen Weiblichkeitsideals. Die Voraussetzungen dafür macht der Roman selbst kenntlich. Da ist zum einen die Erziehung, die die Titelfigur dank des Selbstverständnisses ihrer Eltern erfahren hat. Diese konnten eine Liebesheirat schließen, trotz des Standesunterschiedes zwischen ihnen. Während Sophies Mutter aus adeliger Familie stammt, ihre Mutter wiederum aus englischem (!) Adel, ist ihr Vater lediglich bürgerlicher Herkunft, wenn auch vom Fürsten mit der Stelle eines Obersten und dem Adelstand ausgestattet. Der Bruder der Mutter, ein Freund Sternheims, dem er sich verpflichtet fühlt, hatte die Verbindung vermittelt, bezeichnenderweise gegen den Widerstand seiner Schwester, eben der Tante, die Sophie von Sternheim als Waise aufnehmen sollte. Das Paar hatte beider Tugenden zusammengeführt, seine „Edelmut, Größe des Geistes, Güte des Herzens“ (GFS 19), ihre „sanfte Liebenswürdigkeit“, englische Melancholie, Liebe zu „Einsamkeit“ (GFS 20) und Lektüre. Nach ihrer Heirat hatten sie sich auf der Basis ihres „mittelmäßigen, aber unabhängigen Vermögens“ (GFS 37) auf ihrer kleinen Herrschaft eingerichtet, mit dem Bestreben, „viele Familien des arbeitsamen Landmannes durch Hülfe zu erquicken, oder durch kleine Gaben aufzumuntern“ (GFS 37f.). Ihre einzige Tochter hatten sie in diesem Geist erzogen. Zum Unterricht in Philosophie, Geschichte und Sprachen, „von denen sie die englische zur Vollkommenheit lernte“ (GFS 51), kam der in Musik, Tanzen und „Frauenzimmerarbeiten“ (GFS 52): „[V]on ihrem sechszehnten Jahre an bekam sie auch die Führung des ganzen Hauses, wobei ihr die Tag- und Rechnungsbücher ihrer Mutter zum Muster gegeben wurden.“ (GFS 52) Sophie von Sternheim sieht sich selbst als gelungenes Ergebnis: „Willige Fähigkeiten, gute Beispiele und liebreiche Anführung haben mich so gut gemacht, als tausend andere auch sein könnten, wenn sich alle Umstände so zu ihrem Besen vereinigt hätten wie bei mir.“ (GFS 52) Eben diese Mitgift lässt sie die eigene Odyssee bestehen. Die erworbenen

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Techniken des Selbst taugen zugleich als Reformvorschläge, von der materiellen Unterstützung einzelner Familien über die Planung und Stiftung von Erziehungseinrichtungen wie „Mädchenschule“ und „Gesindhaus“ (GFS 238) bis zum Privatunterricht der unehelichen Tochter einer von Derbys Geliebten, die dieser in Schottland im Elend zurückgelassen hatte. Die Erziehung der Mädchen und ihre standesübergreifende Begründung bleibt ein stetig wiederkehrendes Thema in La Roches Werken. Einige Titel stellen das Anliegen direkt aus, allen voran die „Pomona für Teutschlands Töchter“. In „An meine Leserinnen“ heißt es: „Das Magazin für Frauenzimmer und das Jahrbuch der Denkwürdigkeiten für das schöne Geschlecht – zeigen meinen Leserinnen, was teutsche Männer uns nützlich und gefällig achten. Pomona – wird Ihnen sagen, was ich als Frau dafür halte.“31 Ausdrücklich wird die Erziehung der Frauen und die Erziehung durch Frauen kurzgeschlossen; die Autorin präsentiert sich als Erzieherin und Lehrerin, deren Kompetenzen das praktische Wissen einer Hausfrau und Wirtschafterin ebenso abdecken wie verschiedene gelehrte Wissensbereiche aus der Geschichte, den Künsten und den sich herausbildenden Naturwissenschaften. In ihrer zweijährigen Laufzeit behandelt „Pomona“ diese Gegenstände nicht systematisch, aber regelmäßig32, ebenso wie alle folgenden Schriften.33 La Roches Vorstöße stehen nicht allein. Sie finden ihre Entsprechung in unterschiedlichen Reformvorhaben zur Verbesserung der Mädchenund Frauenbildung34, die im deutschsprachigen Raum vor allem durch La Roche [Anm. 5], 1 (1783), fol. A2: „An meine Leserinnen“. Nikola Roßbach: Blumen pflücken. Bilder und Bildung in Sophie von La Roches Frauenzeitschrift Pomona – Anmerkungen zu Wissen und Geschlecht im 18. Jahrhundert, in: „Bald zierliche Blumen – bald Nahrung des Verstands“. Lektüren zu Sophie von La Roche, hg. von Monika Lippke, Matthias Luserke-Jaqui und ders., Hannover 2008, S. 105–121; Helga Meise: „Hirnkinder“. Gattungsvorgabe und hybride Schreibweise in Sophie von La Roches Pomona für Teutschlands Töchter, in: Dies. (Hg.), S. 123–141. 33 Ingrid Wiede-Behrendt: Lehrerin des Schönen, Wahren, Guten. Literatur und Frauenbildung im ausgehenden 18. Jahrhundert am Beispiel Sophie von La Roche, Frankfurt a. M. [u. a.] 1987 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur 997). 34 Zu „Frauenbildung in der Spätaufklärung und Umbrüche um 1800“ vgl. Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, hg. von Elke Kleinau und Claudia Opitz, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1996, Bd. 1, S. 327–469. 31 32

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Rousseaus „Émile ou De l’Éducation“ von 1762 angestoßen werden. Sofort übersetzt, wurde Rousseaus Verdikt vom natürlichen Unterschied zwischen den Geschlechtern – der Mann ist stark und aktiv, die Frau ist schwach und passiv35 – von den Philanthropen übernommen und in ihren Erziehungsanstalten erprobt. 1791 übertrug Johann Heinrich Campe Rousseaus Forderung nach der infolge ihrer Verschiedenheit notwendigen Ergänzung der beiden Geschlechter in der Ehe in die griffige Formel von der „dreifachen Bestimmung des Weibes“, der zur „beglückenden Gattin, zur bildenden Mutter und zur weisen Vorsteherin des innern Hauswesens“.36 Die Formel deckte sich mit der parallel zu den Diskussionen um eine richtige, an den Erfordernissen der Natur ausgerichteten Erziehung der beiden Geschlechter sich vollziehenden „Dissoziation von Erwerbsund Familienleben“.37 Diese brachte eine auf bestimmte Aufgabenbereiche festgelegte Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau hervor, die dem Mann das Berufsleben außer Haus, der Frau aber das Familienleben und das Haus zuwies, und damit eine „Polarisierung der Geschlechtscharaktere“.38 Die Rede vom Geschlechtsunterschied mündete in der Fixierung von „Geschlechtscharakteren“, in der Beschreibung und Abgrenzung nicht biologischer, sondern sozial zugeschriebener „Gender“.39 Der sich so etablierende Genderdiskurs bezog seine Stärke daraus, literarische und pädagogische Diskussionen mit gesellschaftlichen und sozialpolitischen Wandlungsprozessen zusammenzuführen.

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Vgl. Lieselotte Steinbrügge: Das moralische Geschlecht. Theorien und literarische Entwürfe über die Natur der Frau in der französischen Aufklärung, Stuttgart 1992, S. 67–91 und 105–115 (Ergebnisse der Frauenforschung 11). 36 Vgl. Johann Heinrich Campe: Vätherlicher Rath für meine Tochter [1789], 4. Auflage, Braunschweig 1791, S. 14, 81 und 85. 37 Vgl. Karin Hausen: Die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, hg. von Werner Conze, Stuttgart 1977, S. 363–384. 38 Ebd. 39 Vgl. Inge Stephan: Gender. Eine nützliche Kategorie für die Literaturwissenschaft, in: Zeitschrift für Germanistik N.F. 9, 1999, H. 1, S. 23–35; Gender Studien. Eine Einführung, hg. von Christina v. Braun und Inge Stephan, Stuttgart/Weimar 2000.

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3. Weibliche Leserschaft – Weibliche Autorschaft – Weibliche Identität Dass Sophie Gutermann mit Lektüre aus unterschiedlichen Wissensgebieten aufwächst, ist eine Ausnahme. Erst in dem Maße, in dem Lesen als Fertigkeit im bürgerlichen Leben unverzichtbar wird, verbreitet sich die Praktik. Gleichzeitig entstehen Lesepublikum und Literaturbegriff nach heutigem Verständnis. Der Aufstieg der Gattung Roman verdankt sich dabei Leserinnen, Caroline Flachsland ist nur eine von vielen.40 Lesen, insbesondere die Lektüre von Romanen, eröffnete den von Ausbildung und Studium ausgeschlossenen Mädchen vor allem bürgerlicher Herkunft die Möglichkeit zur „Teilhabe an Handlungszusammenhängen [. . .][,] zu affektiven Beziehungen zu fiktiven Figuren [. . .][,] empathischer Erfahrung und Übernahme fremder affektiver Zustände“.41 Genau dies rief zunehmend vor allem männliche Leselehrer und -kritiker auf den Plan. Mädchen und Frauen sollten richtiges Lesen lernen, als Mittel gegen ihre „Lesewut“.42 Auch bei Sophie von La Roche ist das Thema omnipräsent, auch angesichts ihrer Gratwanderung zwischen der Rolle der Erzieherin von „Teutschlands Töchtern“ und der der professionellen Autorin. Aber die „Sternheim“ lädt nicht nur durch Lesen zur Identifikation ein, sondern auch durch Schreiben. Seit den 1780er Jahren steigt die Zahl von Autorinnen an, ihre Texte erscheinen nicht länger anonym.43 Die auf den Markt drängenden Romane, zumeist von Verfasserinnen bürgerlicher Her40

Erich Schön: Weibliches Lesen. Romanleserinnen im späten 18. Jahrhundert, in: Untersuchungen zum Roman von Frauen um 1800, hg. von Helga Gallas und Magdalene Heuser, Tübingen 1990, S. 20–41, hier S. 21: „Von 1750–1800 erschienen in Deutschland über 5000 Romane. Gelesen wurden sie von Frauen.“ 41 Ebd., S. 28. 42 Campe [Anm. 36], S. 56; vgl. auch Helga Meise: Die Unschuld und die Schrift. Deutsche Frauenromane im 18. Jahrhundert, 4. Auflage, Frankfurt a. M. 1992, S. 57–71. 43 Das gilt auch für andere Gattungen, vgl. Anne Fleig: Handlungs-Spiel-Räume. Dramen von Autorinnen im Theater des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Würzburg 1999; Ulrike Weckel: Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit. Die ersten deutschen Frauenzeitschriften im späten 18. Jahrhundert und ihr Publikum, Tübingen 1998 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 61). Vgl. auch Corinna Heipcke: Autorhetorik. Zur Konstruktion weiblicher Autorschaft im ausgehenden 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. [u. a.] 2002 (Studien zur neueren Literatur II); Annette Keck und Ma-

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kunft, kreisen um weibliche Figuren, um Liebe, weibliche Unschuld und Tugend44, wie bereits die Titel verraten: „Tagebuch einer jungen Ehefrau“45, „Louise oder die unseligen Folgen des Leichtsinns“46, „Mollys Bekenntnisse oder so führt Unbefangenheit ins Verderben“.47 Die Titelfiguren nehmen, ganz im Sinne der „dreifachen Bestimmung des Weibes“, ihre Rolle als Gattin und Mutter an – idealtypisch „Elisa oder das Weib wie es sein sollte“48 – oder sie gehen daran zugrunde, selbst schuldlos, weil sie wie „Maria“49 an den falschen Mann geraten oder wie Sara Seldorf 50 in die Französische Revolution. Der sich so formierende „Frauenroman“51 hat wie andere Romanformen seinen Platz im literarischen Feld, gilt aber als trivial. Die Zuschreibung geht auf Friedrich von Blanckenburgs „Versuch über den Roman“ von 1774 zurück, der ersten gattungstheoretischen Abhandlung über den zeitgenössischen Roman des deutschsprachigen Raums. Ihre Kritik der gängigen Romane nimmt Bezug auf den Genderdiskurs, von der Liebesthematik über die vorwiegend weibliche Leserschaft bis zur Form des Briefromans und der Ablehnung Richardsons.52 nuela Günter: Weibliche Autorschaft und Literaturgeschichte: Ein Forschungsbericht, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 26, 2001, H. 2, S. 201–234. 44 Vgl. Lydia Schieth: Die Entwicklung des deutschen Frauenromans im ausgehenden 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Gattungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1987 (Helicon 5); Meise [Anm. 42]. 45 Susanne Barbara Knab: Tagebuch einer jungen Ehefrau, Stuttgart 1780. 46 Amalie Ludecus: Louise oder die unseligen Folgen des Leichtsinns. Eine Geschichte einfach und wahr, hg. von August Kotzebue, in: Kotzebue’s ausgewählte prosaische Schriften, Bd. XVIII, Wien 1843. 47 Judith Rave: Mollys Bekenntnisse oder so führt Unbefangenheit ins Verderben; eine wahre Geschichte zur Warnung für alle Wildfänge unter den heiratslustigen Mädchen, 2 Bde., Leipzig 1804. 48 Wilhelmine Karoline Wobeser: Elisa oder das Weib wie es sein sollte [1795], 3. Auflage, Leipzig 1798. 49 Dorothea Margarete Liebeskind: Maria. Eine Geschichte in Briefen, 2 Th., Leipzig 1784. 50 Therese Huber: Die Familie Seldorf. Eine Geschichte, 2 Bde., Tübingen 1795– 1796. Vgl. Mechthilde Vahsen: Die Politisierung des weiblichen Subjekts. Deutsche Romanautorinnen und die Französische Revolution 1790–1820, Berlin 2000. 51 Vgl. Schieth [Anm. 44]; Meise [Anm. 42]. 52 Angelika Schlimmer: Romanpoetik und Weiblichkeitsdiskurs. Zur Bedeutung der Kategorie gender im Romanverständnis von Therese Huber und Johanna Schopenhauer, Königstein/Ts. 2001, S. 57f.

Sophie von La Roche und der Genderdiskurs

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Ihnen stellt Blanckenburg sein an Wielands „Agathon“ von 1766/67 gewonnenes Modell gegenüber: Der Roman habe „die Handlungen und Empfindungen“ eines einzelnen Menschen darzustellen, die das „Seyn des Menschen“53 abbilden; sein Gegenstand sei die „innere Geschichte eines Menschen“.54 Blanckenburgs „Ausgrenzungsstrategie“ führt zur Aufteilung der Literatur in „elitäre und populäre Literatur“55; Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ von 1795–1796 verankert den Bildungsroman als Romanmodell und fungiert gleichzeitig als Verdikt aller anderen Romantypen. Dies trifft auch den „Frauenroman“ und seine Autorinnen – sie fallen, im Anschluss an Wielands Vorrede zur „Sternheim“, aus Literatur und Kunst heraus, Texte und Namen dem Vergessen anheim. Abschließend ist festzuhalten, dass der von Frauen verfasste Roman des 18. Jahrhunderts den Genderdiskurs der Zeit und damit den um die weibliche Identität nicht nur mit hervorbringt und anheizt, sondern auch unterläuft. Aus dieser Perspektive finden zum einen bislang wenig beachtete Texte La Roches von neuem Interesse. In den Fokus treten Briefe56 und Schreibweisen57, die Auseinandersetzung mit anderen Kulturen58, der Um-

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Angelika Schlimmer: Der Roman als Erziehungsanstalt für Leser. Zur Affinität von Gattung und Geschlecht in Friedrich von Blanckenburgs „Versuch über den Roman“ (1774), in: Gattung und Geschlecht, hg. von Anne Fleig und Helga Meise, Wolfenbüttel 2005, S. 209–222, hier S. 213 (Das Achtzehnte Jahrhundert 29, 2005, H. 2). 54 Ebd., S. 216. 55 Ebd., S. 221. 56 Patricia Sensch: „mich schmerzt dießer riß in der schönen Kette der 6 verdienstvollen Brüder“. Sophie von La Roche und die Familie Petersen, in: Becker-Cantarino/ Loster-Schneider (Hg.) [Anm. 13], S. 287–301. 57 Vgl. Alexander Košenina: Irrenhaus – Theater – Königspalast. Stilmischung in Sophie von La Roches England-Tagebuch (1788), in: Lippke [u. a.] (Hg.) [Anm. 32], S. 31–53; Helga Meise: Geschichtsschreibung in Sophie von La Roches „Pomona“ zwischen Hybridisierung und Pfropfung, in: Leben als Text. Sophie von La Roche und Bettine von Arnim – Weibliches Schreiben zwischen Aufklärung und Romantik, hg. von Miriam Seidler [im Erscheinen]. 58 Sitten der schönen Pariser Welt. Sophie von La Roche und das Monument du Costume, hg. von Erdmut Jost, Halle 2011; vgl. auch Wolfram Malte Fues: Rezension, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 36, 2012, H. 1, S. 137–141.

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gang mit Erinnerung59 und zeitgenössischem Wissen.60 Zum anderen richtet sich die Aufmerksamkeit auf andere Autorinnen, etwa Maria Anna Sager (1719–1805) und ihren zeitgleich zur „Sternheim“, aber in Prag, der Peripherie der Aufklärung, veröffentlichten Romanen. Auch „Die verwechselten Töchter“ und „Karolinens Tagebuch, ohne ausserordentliche Handlungen oder gerade so viel als gar keine“61 fragen nach der weiblichen Identität, experimentieren aber mit dem Modell des Briefromans, vor allem durch die Konstruktion einer mise en abyme, in der die weibliche Identität sich nicht als Ideal spiegelt, sondern bricht. Sagers Verfahren nehmen Schreibweisen der Romantik vorweg, berühren sich aber auch mit den „performativen Selbst-Einkleidungen“, die bei Sophie von La Roche begegnen.62

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Claudia Bamberg: Zwischen Souvenir, Freundschaftsgabe und Erkenntnisobjekt. Die Andenkensammlung der Sophie von La Roche im Kontext von Empfindsamkeit und Spätaufklärung, in: Lippke [u. a.] (Hg.) [Anm. 32], S. 141–168. 60 Sophie von La Roche und das Wissen ihrer Zeit. Tagung an der Université de Reims Champagne-Ardenne, 09.–10. 11. 2012. 61 [Maria Anna Sager]: Die verwechselten Töchter, eine wahrhafte Geschichte, in Briefen entworfen von einem Frauenzimmer, Prag 1771; dies: Karolinens Tagebuch, ohne ausserordentliche Handlungen oder gerade so viel als gar keine, Prag 1774. Nachdrucke, hg. und mit einem Nachwort versehen von Helga Meise, 2 Bde., Hildesheim 2012 [im Druck]. 62 Vgl. Linda Kraus Worley: „Lappen [. . .] die Puppen darin zu kleiden“. Performative Selbst-Einkleidungen in Sophie von La Roches „Tagebuch einer Reise durch England und Holland“, in: Becker-Cantarino/Loster-Schneider (Hg.) [Anm. 13], S. 161– 172; Maria E. Müller: „Da bin ich einfach paff“. Sophie von La Roche und Jakob Michael Reinhold Lenz, in: Seidler (Hg.) [Anm. 57].

Gotthold Ephraim Lessing Hugh Barr Nisbet

Lessing ist die zentrale und repräsentativste Gestalt der deutschen Aufklärung – zentral, sofern sein Leben beide Hälften des Jahrhunderts umspannt (1729–1781), repräsentativ dank des breiten Spektrums und der Wirkung seines Werks. Zwölf Jahre nach Leibniz’ Tod geboren, als Wolff und Gottsched auf der Höhe ihrer Geltung standen, starb er im Jahr von Kants „Kritik der reinen Vernunft“ und Schillers „Räubern“, zwei Jahre nach der ersten Fassung von Goethes „Iphigenie auf Tauris“. Sein ungewöhnlich breites Interessenspektrum kann es durchaus mit den führenden Autoren der französischen Aufklärung aufnehmen, mit Voltaire, Rousseau und Diderot, deren Bedeutung er früh erkannte. Er war Dichter und Dramatiker, Literaturtheoretiker, Kritiker, Historiker der Literatur, Kunst und Religion, klassischer und mediävistischer Philologe, Bibliothekar und Archivar, Philosoph und Ästhetiker, gut informierter Amateur in Theologie und Patristik, Übersetzer aus mehreren Sprachen und außerordentlich produktiv als Rezensent und Herausgeber. Er zeichnete sich in fast allen seinerzeit gängigen Literaturgattungen außer Roman und Versepos aus. Er gehörte in Deutschland der ersten Generation an, die sich ernstlich mit der englischen Literatur und Kultur beschäftigte; im Studium der spanischen Sprache und Kultur zählte er zu den Pionieren; die wichtigsten Sprachen des Altertums und die meisten Sprachen West- und Südeuropas waren ihm geläufig. Seine Gelehrsamkeit und sein Weitblick gingen über die nationalen Grenzen hinweg; durch Übersetzung und kritische Kommentierung machte er einen Großteil der Kultur der Antike und mehrerer moderner europäischer Länder in Deutschland bekannt. Was er zu Papier brachte, ist nur ein Bruchteil dessen, was er hätte schreiben können, wenn sein unruhiges Temperament, seine Lebensumstände und Gesundheit es erlaubt hätten (er starb im Alter von zweiundfünfzig Jahren).

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Lessings Leben ist dementsprechend nicht als organische Entwicklung vorzustellen: eher ist von einer episodischen Reihe von Reaktionen und Impulsen zu sprechen, von plötzlichen Ortsveränderungen und improvisierter Beantwortung von Situationen und Ansichten, die seine Begeisterung – oder öfter noch seinen Widerspruch – erwecken. Sobald dann die Langeweile einsetzt oder neue und stärkere Interessen in den Vordergrund treten, lässt er das eben noch verfolgte Projekt liegen, um ein anderes aufzugreifen. So gibt es in seinem persönlichen und schriftstellerischen Leben viel Unabgeschlossenes. In späteren Jahren hat er sogar seine Erkenntnistheorie dieser Lebensweise angepasst: sie entwickelt sich nicht in linearem Fortschreiten auf ein bestimmbares Ziel zu, sie besteht vielmehr aus einer Reihe von stets provisorischen Reaktionen auf jeweils neue Probleme und Situationen. Damit jedoch gewinnt sie an Abwechslung und Vielfalt, statt sie einzubüßen. Wenn Lessings Leben also durch keinen vorgefassten Plan oder professionellen Ehrgeiz bestimmt wird, so wird es durch einige beharrlich festgehaltene Grundsätze geleitet. Dazu gehört sein kompromissloser Glaube an die Autonomie des Einzelnen, der von seiner jugendlichen Rebellion gegen den Wunsch seiner Eltern, dass er sich der Theologie widmen sollte, bis zu seiner empörten Reaktion gegen die Auferlegung der Zensur in seinen letzten Jahren immer wieder zum Vorschein kommt. Damit eng verbunden ist seine Abneigung, ja Feindschaft gegen herrschaftliche Macht, besonders willkürlicher oder dogmatischer Art. Als demokratisch Gesinnter im Zeitalter des Absolutismus fühlte er sich nie recht wohl in Gesellschaft von Mitgliedern der herrschenden Klasse und gab sich wenig Mühe, diese Abneigung zu verheimlichen. Wie er einmal sagte, „ein Großer und ich merken es sehr bald, daß keiner für den andern gemacht ist“.1 Die gleiche Gesinnung ist für seine Missbilligung jeder Art von Heldenverehrung verantwortlich, wie z. B. in der heroischen Tragödie der französischen Klassik. Die Kehrseite dieser antiautoritären Ansichten ist seine fast grenzenlose Toleranz gegenüber Außenseitern und unterdrückten Minderhei1

Brief an Ernestine Reiske, 27. März 1777, in: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe, hg. von Wilfried Barner zusammen mit Klaus Bohnen, Gunter E. Grimm, Helmuth Kiesel, Arno Schilson, Jürgen Stenzel und Conrad Wiedemann, 14 Bde., Frankfurt a. M. 1985–2003 [fortan zitiert unter der Sigle ‚WB‘+Band und Seitenzahl], Bd. 12: Briefe von und an Lessing 1776–1781, Frankfurt a. M. 1994, S. 57.

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ten, die in mehreren seiner Dramen, z. B. in „Der Freigeist“, „Die Juden“ und „Nathan der Weise“, eine zentrale Rolle spielt; wie sein Bruder einmal bemerkte: „Die Verteidigung des Unglücklichen trieb er fast bis zur Sophisterei.“2 Was E. H. Gombrich seinen „unentwegten Non-Konformismus“ nannte3, machte es ihm unmöglich, sich irgendeiner Schule oder Bewegung anzuschließen; er blieb stets sein eigener Herr. Lessing ist der erste säkulare deutsche Schriftsteller, dessen Sprache heute noch mühelos zugänglich ist; seine drei letzten Dramen werden noch regelmäßig aufgeführt. Zu verdanken ist das seiner innovativen Handhabung der deutschen Sprache, die seine Zeitgenossen sofort als originelle Leistung erkannten, die zugleich aber auch dem heutigen Sprachgebrauch näher kommt als die der meisten seiner Zeitgenossen. Seine Sprache ist klar, lebhaft, treffsicher, unterhaltsam, konkret und direkt und oft auch umgangssprachlich; sie erregt Aufmerksamkeit und versteht, sie zu fesseln. In seinem frühen Journalismus erhebt er die Literaturkritik zu einer Kunstform; in seinen ästhetischen und dramaturgischen Schriften entwickelt er einen entspannten und kultivierten Prosastil, der demjenigen Diderots näher kommt als dem Stil seiner deutschen Vorgänger; seine polemischen Schriften verbinden logische Stringenz, umgangssprachliche Derbheit und vernichtende Satire in einer Art und Weise, die vor und nach seiner Zeit selten erreicht worden ist; und in seinen philosophischen und theologischen Werken kleidet er seine Gedanken in lebhafte Dialoge und eine ausdrucksvolle Bildlichkeit, die der Komplexität der behandelten Thematik gerechter wird als jedes abstrakte System. Im Rahmen dieser Einführung ist es natürlich unmöglich, Lessings Werke eingehend zu besprechen. Stattdessen will ich mich nur mit einigen Werken und Bereichen befassen, in denen Lessing als Schriftsteller und Denker wesentliche und dauerhafte Wirkungen erzielt hat. Was seine Dramen betrifft, kommt das bekannteste Stück, „Nathan der Weise“, gegen Ende dieses Aufsatzes etwas ausführlicher zur Sprache. Hier wird nur ein allgemeineres und immer wiederkehrendes Problem berührt, das daraus entsteht, dass von der frühen Komödie „Die Juden“ an nur 2

Karl Gotthelf Lessing: Gotthold Ephraim Lessings Leben, hg. von Otto Lachmann, Leipzig [1888], S. 242. 3 Ernst Hans Gombrich: Lessing. Lecture on a Master Mind, in: Proceedings of the British Academy 43, 1957, S. 133–156, hier S. 134.

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eines seiner Dramen, nämlich „Miss Sara Sampson“, Lessings eigenen oder den damals geläufigen dramatischen Theorien (in diesem Fall der Erweckung des Mitleids) zu entsprechen scheint. Der Hauptgrund für diese Diskrepanz liegt darin, dass Lessing in den meisten seiner Stücke stillschweigend dem Ziel folgt, moralische, politische, soziale oder religiöse Probleme zu behandeln, die in seinen dramatischen Theorien nicht vorgesehen oder mit denen sie sogar unvereinbar sind. Dazu gehören z. B. die Rechtlosigkeit der deutschen Juden in „Die Juden“, das jämmerliche Los der entlassenen preußischen Soldaten nach Ende des Siebenjährigen Krieges in „Minna von Barnhelm“, die Gefahren des Nationalismus und Militarismus in „Philotas“ und der Machtmissbrauch im absolutistischen Staat in „Emilia Galotti“. Die Behandlung dieser Probleme zeigt unmissverständlich, dass Lessing die Welt nicht bloß widerspiegeln, sondern auch verändern wollte. Aber das sehr ernste Problem jüdischer Rechtlosigkeit in „Die Juden“ passt nicht gut zum Untertitel des Werkes, „Ein Lustspiel“. In den Tragödien gibt es noch größere Schwierigkeiten. In „Emilia Galotti“ z. B. ist es bekanntlich schwierig, jenes Mitleid, das nach Lessing eine unentbehrliche Wirkung der Tragödie ist, voll und ganz zu empfinden, im Gegensatz zur Bestürzung und Fassungslosigkeit, die der Tod Emilias durch die Hand ihres Vaters bei den Zuschauern hervorruft. Und während Lessing in der „Hamburgischen Dramaturgie“ verlangt, dass die Tragödie ein organisches Ganzes sein soll, das durch Ursache und Wirkung als Vehikel einer wohltätigen Vorsehung determiniert wird, war er in „Emilia Galotti“ zu sehr mit den politischen Missständen einer aus den Fugen geratenen Welt beschäftigt, um seine eigenen Vorschriften zu befolgen. Das bedeutet aber nicht, dass die Nichtübereinstimmung von Theorie und Praxis zwangsläufig minderwertige Dramen zur Folge haben musste. Trotz der vielen Anspielungen auf besorgniserregende Zustände am Ende des Siebenjährigen Kriegs in „Minna von Barnhelm“ (von denen viele für das heutige Publikum kaum durchschaubar sind), bleibt das Stück eine glänzende Komödie mit düsteren Untertönen. „Nathan der Weise“ ist nicht weniger erfolgreich als didaktisches Parabelstück, eine völlig neue dramatische Gattung, für die es weder in Lessings theoretischen Schriften noch in der Theorie und Praxis seiner Vorgänger und Zeitgenossen nichts Vergleichbares und bis zum Theater Bertolt Brechts keine naheliegenden Parallelen gibt. Im Gegensatz zu Lessings anderen Dramen werden die inneren Spannungen in diesem Stück beim Namen genannt und ausführlich

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besprochen. Und obgleich sie innerhalb des Dramas in utopischer Weise aufgelöst werden, bleibt es eine offene Frage, ob die gleichen Spannungen in der realen Welt der Geschichte beseitigt werden können oder nicht. Auch im ästhetischen Bereich hat Lessing Pionierarbeit geleistet. Wie so oft war er auch hier über die neuesten Entwicklungen gut informiert: schon 1751 verwendet er den neuen Terminus „Ästhetik“ in Bezug auf den Baumgarten-Schüler Georg Friedrich Meier, der in seinen „Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften“ von 1748–1750 (gleichzeitig mit Baumgarten selbst in seiner „Aesthetica“ von 1750) die neue Disziplin auseinandersetzte.4 Dass Lessings „Laokoon“ viel bekannter ist und von der Forschung weit mehr beachtet wird als Baumgartens Schriften, ist zum Teil dadurch zu erklären, dass Lessings Schrift kein geschlossenes System enthält, sondern eher ein Werk im Werden ist, das nicht weniger Probleme aufwirft, als es zu lösen vermag. Auf der einen Seite liefert Lessings brillante Analyse von Homers epischer Kunst als endgültiges Muster der Poesie einen wichtigen Beitrag zur Poetik und Ästhetik der Dichtung. Andererseits aber beruht seine Analyse auf der Annahme, dass die definitive Aufgabe der Poesie die Nachahmung der Natur sei, was andere, nicht-epische Poesie ausschließt, z. B. die Lyrik als Ausdruck subjektiver Gefühle. Sogar das Drama, das Lessing in anderen Kontexten als höchste literarische Gattung betrachtet und dessen Hauptfunktion er sonst als Erweckung sympathischer Gefühle bezeichnet (wie in der tragischen Katharsis), wird durch diese Definition ausgeschlossen. Dieser wirkliche oder scheinbare Widerspruch ist aber für Lessing charakteristisch. In „Laokoon“ entwickelt er soweit wie nur möglich diejenige ästhetische Theorie (von der Kunst als Nachahmung der Natur), die für das behandelte Problem am besten geeignet scheint – d. h. um die verschiedene Weise zu bestimmen, in welcher Poesie und bildende Kunst mit der gleichen Aufgabe bewältigen, die objektive Wirklichkeit darzustellen. In diesem Zusammenhang ist es ihm gleichgültig, wie die verschiedenen Künste andere Funktionen erfüllen. Wie er im geplanten, aber nicht ausgeführten zweiten Teil von „Laokoon“ diese Inkonsequenz überwunden hätte, ist keineswegs klar. Zu ähnlichen nicht aufgelösten Schwierigkeiten in der „Hamburgischen Dramaturgie“ bemerkt er aber: „Meine Gedanken mögen immer sich weniger zu verbinden, ja wohl gar sich zu widersprechen scheinen: wenn es denn nur Gedan4

WB 2, S. 208; vgl. WB 1, S. 681–683.

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ken sind, bei welchen [meine Leser] Stoff finden, selbst zu denken.“ (WB 6, 655) Es gelang ihm jedoch in späteren Jahren, eine Erkenntnistheorie zu entwickeln, in der scheinbare oder wirkliche Widersprüche eine legitime Rolle spielen würden. In dieser und anderer Hinsicht stellte „Laokoon“ eine Reihe von Fragen, die weiterhin – und nicht selten bis in die Gegenwart – debattiert wurden. Dazu gehören z. B. die Entstehungszeit der berühmten Laokoon-Gruppe im Vatikan und welchen Augenblick in Laokoons Todeskampf das Steinbild darstellt5, sowie die Frage, ob Lessing der bildenden Kunst nicht allzu enge Grenzen setzt (wie E. H. Gombrich behauptet)6, um der Poesie einen um so größeren Wirkungsbereich zu gewähren. Dass in den letzten dreißig Jahren mindestens fünf Konferenzen über das Laokoon-Thema stattgefunden haben7, die sich nicht so sehr mit Lessing selbst als mit den ästhetischen und semiotischen Problemen befasst haben, die sein „Laokoon“ aufwirft, ist Beweis genug für die fortdauernde Relevanz dieses Werks. Der problematischste Teil von Lessings Gesamtwerk ist seine Beschäftigung mit Religion und Philosophie in seinen zehn letzten Lebensjahren. Er sagte gegen Ende seines Lebens, dass in beiden Bereichen eine große Umwälzung bevorstünde und auch nötig sei (WB 12, 591 [Religion])8, und hat selber dazu beigetragen, wesentliche Neuentwicklungen einzuführen. Im Falle der Religion waren seine Eingriffe vorsätzlich geplant und gründlich überlegt; sein philosophischer Einfluss war aber kaum vorgesehen und stellte sich größtenteils erst nach seinem Tode ein.

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Vgl. Hugh Barr Nisbet: Laokoon in Germany. The Reception of the Group since Winckelmann, in: Oxford German Studies 10, 1979, S. 22–63, hier S. 33–63. 6 Gombrich [Anm. 3], S. 140. 7 Vgl. Das Laokoon-Projekt. Pläne einer semiotischen Ästhetik, hg. von Gunter Gebauer, Stuttgart 1984; Laokoon und kein Ende. Der Wettstreit der Künste, hg. von Thomas Koebner, München 1989; Poetics Today 20, 1999, H. 2; Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert, hg. von Inge Baxmann, Michael Franz und Wolfgang Schäffner, Berlin 2000; eine weitere Konferenz, von Wolf Gerhard Schmidt und Jörg Robert organisiert, mit dem Titel: Diesseits des „Laokoon“. Funktionen literarischer Intermedialität in der frühen Neuzeit, fand vom 28. bis zum 31. März 2012 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt statt. 8 Lessing im Gespräch. Berichte und Urteile von Freunden und Zeitgenossen, hg. von Richard Daunicht, München 1971, S. 432 (Philosophie).

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Zuerst die Religion: was Lessing am lutherischen Glauben seiner Zeit am meisten auszusetzen hatte, war die sogenannte Neologie.9 Die Neologisten behaupteten im Einklang mit dem deutschen Rationalismus, dass die Grundwahrheiten der natürlichen Religion – vor allem die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der menschlichen Seele – mit Hilfe der Vernunft demonstriert werden könnten; andererseits aber behielten sie stillschweigend mehrere Offenbarungsdogmen bei – z. B. die Dreieinigkeitslehre –, deren Wahrheit sie nicht demonstrieren wollten oder konnten. Im Vergleich zu diesem unbefriedigenden Kompromiss fand Lessing sowohl den radikalen Rationalismus von Hermann Samuel Reimarus, der die Offenbarung rundweg ablehnte, als auch den bedingungslosen Glauben der lutherischen Orthodoxie, welche die Offenbarung voll und ganz anerkannte, konsequenter und daher vorzuziehen. Im Laufe der 1770er Jahre schien er manchmal den orthodoxen Glauben, manchmal den Rationalismus von Reimarus zu befürworten, was seine Freunde und seine Gegner gleichmäßig in Verwirrung brachte. Im Gegensatz zu seiner ursprünglichen Absicht, im Streit, den er nach Veröffentlichung der ReimarusFragmente als unvermeidlich voraussah, eine neutrale Stellung zu beziehen, wurde er durch die nicht nachlassenden Angriffe der Orthodoxen auf Reimarus – und auf Lessing selbst als dessen Herausgeber – gezwungen, sich immer enger mit Reimarus zu identifizieren. Der Fragmentenstreit hatte schließlich zur Folge, dass alle drei eben erwähnten Positionen untergraben wurden: nach der schonungslosen Kritik der Bibel durch Reimarus wurde der orthodoxe Glaube an die Unfehlbarkeit des biblischen Textes unhaltbar; der unsichere Kompromiss der Neologisten, die sich zwischen Rationalismus und Offenbarungsglauben nicht zu entscheiden vermochten, wurde ebenfalls hinfällig; und der dogmatische Rationalismus von Reimarus selbst, der bald durch Kants „Kritik der reinen Vernunft“ (1781) grundsätzlich in Frage gestellt wurde, erwies sich als logisch und hermeneutisch unzulänglich. Der Weg war jetzt offen für jene gefühlsbedingte Theologie von Schleiermacher und Kierkegaard, die Lessing in bescheidenem Maß vorweggenommen hatte, indem er mehrmals die unreflektierte Frömmigkeit einfacher Leute mit Beifall erwähnte.10 9

Vgl. Karl Aner: Theologie der Lessingzeit, Halle/Saale 1929, passim; auch Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie, München 2008, S. 673–681. 10 Vgl. Nisbet [Anm. 9], S. 710f.

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Lessings Religiosität wird noch einmal im Zusammenhang mit „Nathan der Weise“ zur Sprache kommen. Jetzt aber müssen seine zwei wichtigsten Beiträge zur Philosophie erwähnt werden, erstens sein Verhältnis zu Spinoza. Mehr als vier Jahre nach Lessings Tod veröffentlichte Friedrich Jacobi einen Bericht über seine Gespräche von 1780 mit Lessing. In diesen Gesprächen hatte Lessing – provokant und ironisch, wie so oft in Debatten – den Pantheismus Spinozas gegen Jacobis christliche Angstgefühle verteidigt und erklärt, dass er selbst Spinozist sei. Jacobis Veröffentlichung löste seine berühmte Kontroverse mit Lessings altem Freund Mendelssohn aus, der nicht wahrhaben wollte, dass Lessing sich einem System verpflichtet hatte, das Jacobi als gleichbedeutend mit Atheismus vorstellte. Diese Kontroverse, in welche Herder und Goethe als Parteigänger Spinozas verwickelt wurden, sorgte dafür, dass die Metaphysik Spinozas den Ansturm von Kants kritischer Philosophie überlebte und im romantischen Zeitalter den deutschen Idealismus produktiv beeinflusste. Im sogenannten „Spinozastreit“ erblickte Hegel z. B. ein wichtiges Moment in der Überwindung des Rationalismus.11 Ein zweiter Beitrag Lessings zur Philosophie bestand darin, dass er im Denken von Leibniz, dessen Werke er in der ersten Hälfte der 1770er Jahre eingehend studierte, eine Anschauungsweise entdeckte, die er sich aneignete und weiter entwickelte. Dies war Leibniz’ Perspektivismus, sein ständiger Gebrauch von optischen Metaphern, um die Ansicht zu vertreten, dass unsere Erkenntnis der Wahrheit nie absolut, sondern immer in einem relativen Verhältnis zum Gesichtspunkt oder Blickwinkel steht, aus dem wir sie betrachten. Lessing lobt diese Einsicht in einem Aufsatz von 1773 über Leibniz und übernimmt dabei Leibniz’ optische Metaphorik, um sie zu erläutern: Leibnitz nahm, bei seiner Untersuchung der Wahrheit, nie Rücksicht auf angenommene Meinungen; aber in der festen Überzeugung, daß keine Meinung angenommen sein könne, die nicht von einer gewissen Seite, in einem gewissen Verstande wahr sei, hatte er wohl oft die Gefälligkeit, diese 11

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bde. [Theoriewerkausgabe]. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu editierte Ausgabe [Red.: Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel], Bd. 20: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Frankfurt a. M. 1986, S. 311.

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Meinung so lange zu wenden und zu drehen, bis es ihm gelang, diese gewisse Seite sichtbar, diesen gewissen Verstand begreiflich zu machen. [. . .] Er setzte willig sein System bei Seite; und suchte einen jeden auf demjenigen Wege zur Wahrheit zu führen, auf welchem er ihn fand. (WB 7, 482f.) Zum gleichen Komplex gehört Lessings eigene Metapher des Wanderers im Vorbericht zur „Erziehung des Menschengeschlechts“, der von einem Hügel aus im Zwielicht des Sonnenuntergangs auf den weiteren Weg schaut, den er am folgenden Tag nehmen muss. Was Lessing bei Leibniz fand, war eine philosophische Gesinnung, die sehr gut zu seinem gewohnten Verfahren passte, einer Idee so weit nachzugehen, wie sie nur führen konnte, ohne darauf zu achten, ob die Ergebnisse mit anderen Ideen, die er nicht weniger ernst nahm, vereinbar war oder nicht; wie Goethe einsichtsvoll bemerkte: „Lessing hält sich, seiner polemischen Natur nach, am liebsten in der Region der Widersprüche und Zweifel auf.“12 Was ihm viel wichtiger schien als mögliche Widersprüche und Zweifel (abgesehen von denjenigen, die er bei seinen Widersachern erblickte), war das Bedürfnis, die Debatte in Gang zu halten, alle Möglichkeiten offen zu lassen; und was dieser intellektuellen Bewegungsfreiheit am meisten im Wege stand, war jede Art von Dogmatismus, der die eigenen fest verwurzelten Überzeugungen für exklusive Wahrheiten ausgab. Diese Geisteshaltung Lessings muss man im Auge behalten, wenn man die vielen Unstimmigkeiten und Richtungsänderungen in seinem Denken verstehen will: z. B. die Diskrepanzen zwischen der objektiven Theorie der künstlerischen Illusion in „Laokoon“ und der subjektiven Theorie der dramatischen Illusion in der „Hamburgischen Dramaturgie“, zwischen der Gefühlsethik seiner Theorie der Tragödie und der rationalen Ethik seiner Fabeltheorie und Geschichtsphilosophie, oder zwischen den Paragraphen 4 und 77 in der „Erziehung des Menschengeschlechts“. Diese Wechselhaftigkeit von Lessings Denken ist zum Teil dafür verantwortlich, dass es in der Forschung so wenig Einigkeit darüber gegeben hat, was er „wirklich“ glaubte, besonders in seiner Religionsphilosophie – trotz der Tatsache, dass er im Streit mit Johann Melchior Goeze unmissver12

Gespräch mit Eckermann, 11. April 1827, in: Goethes Gespräche mit Eckermann, hg. von Franz Deibel, Leipzig 1921, S. 304.

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ständlich erklärt hat, dass es schwierig oder unmöglich sei, in der Auslegung der Bibel objektive Wahrheit zu erreichen, weil jede Art von Hermeneutik letzten Endes provisorisch sei: Welches sind die rechten [Begriffe], die hervorgebracht werden sollen? Wer soll das entscheiden? Die Hermeneutik? Jeder hat seine eigene Hermeneutik. Welches ist die wahre? Sind sie alle wahr? oder ist keine wahr? Und dieses Ding, dieses mißliche, elende Ding soll die Probe der innern Wahrheit sein! Was wäre denn ihre Probe? (WB 9, 81) Man dürfte wohl sagen, dass Lessings einziges Dogma in seinen letzten Jahren darin besteht, dass kein Dogma unbezweifelbar sei. Deswegen ist sein einziger Versuch – der fragmentarisch und unveröffentlicht blieb –, sein eigenes Glaubensbekenntnis in Worte zu fassen, durch viele Vorbehalte eingeschränkt, wie folgender Auszug veranschaulichen mag: Ich habe gegen die christliche Religion nichts: ich bin vielmehr ihr Freund, und werde ihr Zeitlebens hold und zugetan bleiben. Sie entspricht der Absicht einer positiven Religion, so gut wie eine andere. Ich glaube sie und halte sie für wahr, so gut und so sehr man nur irgend etwas historisches glauben und für wahr halten kann. [. . .] Ich kann die Möglichkeit der unmittelbaren Wirkung des heiligen Geistes nicht leugnen: und tue wissentlich gewiß nichts, was diese Möglichkeit zur Wirklichkeit zu gelangen hindern könnte. Freilich muß ich gestehen – (WB 10, 241f.) Hier bricht das Fragment ab, gerade wo Lessing eine weitere Einschränkung hinzusetzen will. Mit einem Wort, er vertritt eine bedingte Skepsis – insofern bedingt, als er wie Leibniz bereit ist zuzugeben, dass viele verschiedene religiöse bzw. philosophische Positionen ein gewisses Maß von Wahrheit – aber nur einer relativen Wahrheit – enthalten. Wenige Menschen würden heutzutage leugnen, dass jedes Zeitalter die Vergangenheit im Lichte seiner eigenen Überzeugungen und Neigungen betrachten muss, und in der gegenwärtigen Zeit von Postmodernismus und radikalen Zweifeln ist es möglicherweise leichter als früher, dem relativistischen und perspektivistischen Charakter vom Denken des späten Lessing gerecht zu werden.

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Zur Illustration noch ein paar Bemerkungen über zwei Hauptwerke Lessings, in denen seine relativistische und perspektivistische Erkenntnistheorie sichtbar wird, nämlich „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ und „Nathan der Weise“. Die Erziehungsschrift ist vielleicht Lessings unergründlichstes Werk – erstens, weil seine eigene Einstellung dazu keineswegs eindeutig ist, und zweitens, weil der genaue Sinn des Werks alles andere als transparent ist. Lessing scheint von Anfang bis Ende bemüht, sich von diesem Werke zu distanzieren, weil er seine Autorschaft ständig leugnet und zugleich betont, dass der Inhalt nichts als eine Hypothese sei, die nur deswegen aufgestellt wird, um widerlegt zu werden. So schreibt er z. B. 1778: „‚Die Erziehung des Menschengeschlechts‘ ist von einem guten Freunde, der sich gern allerlei Hypothesen und Systeme macht, um das Vergnügen zu haben, sie wieder einzureißen.“13 Zwei Jahre später, wie Elise Reimarus berichtet, sagt er über das Werk, „[dass er] nicht mehr an diesen früher geträumten Traum geglaubt [habe]“.14 Diese Bemerkungen erwecken den Eindruck, dass das Werk und seine zentrale These (dass Judentum und Christentum sukzessive Stadien im Fortschritt der Menschheit zu Aufklärung und Vollkommenheit seien) keineswegs feste Glaubenssätze Lessings enthalten, sondern eher heuristische Mittel sind, um weiteres Denken anzuregen. Diese Vermutung wird durch den außerordentlichen Stil des Werkes bestätigt, der keiner bestehenden Gattung von Literatur oder Philosophie entspricht. Die runde Zahl von hundert Paragraphen, die auf den ersten Blick an eine wissenschaftliche oder philosophische Abhandlung denken lässt, passt nicht sehr gut zur vielfältigen Ausdrucksweise des Werks, das von der ersten und dritten Person Singular des Vorberichts zu Anreden in zweiter Person an den Leser (§§ 50, 68–71), an Gott (§ 82) und an die Vorsehung (§ 9), zur Anwendung des Dialogs (§§ 18, 76, 93–94) und inneren Monologs (§§ 95–100) und dem wiederholten Wechsel von dritter, zweiter und schließlich erster Person, vom Indikativ zum Konjunktiv und den vielen Ausrufen und rhetorischen Fragen im letzten Viertel des Werkes fortschreitet. Nicht zuletzt verwendet Lessing zahlreiche Metaphern, eine Gewohnheit, an der sein theologischer Widersacher Goeze besonderen Anstoß nahm. Lessing verteidigt seine Metaphorik wie folgt: 13 14

Brief an J. A. H. Reimarus, 6. April 1778, in: WB 12, S. 143. Daunicht (Hg.) [Anm. 8], S. 465.

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Ich suche allerdings, durch die Phantasie mit, auf den Verstand meiner Leser zu wirken. Ich halte es nicht allein für nützlich, sondern auch für notwendig, Gründe in Bilder zu kleiden; und alle die Nebenbegriffe, welche die einen oder die andern erwecken, durch Anspielungen zu bezeichnen. (WB 9, 350f.) Das Wort „Anspielungen“ ist aufschlussreich, weil Lessing es als etwas definiert, „was bloß die Neugierde reizen und eine Frage veranlassen sollte“ (WB 10, 87). Anspielungen lassen sich nicht leicht vereinfachen oder auf rationale Formeln reduzieren – und eben deswegen schätzt Lessing sie so sehr, nämlich wegen ihres heuristischen Wertes. Deswegen empfiehlt er sie und andere Arten von Mehrdeutigkeit und indirekter Rede ausdrücklich als notwendige Eigenschaften eines guten Lehr- oder Elementarbuchs. Ein solches Buch sollte bald plan und einfältig [sein], bald poetisch, durchaus voll Tautologien, aber solchen, die den Scharfsinn üben, indem sie bald etwas anders zu sagen scheinen, und doch das nemliche sagen, bald das nemliche zu sagen scheinen, und im Grunde etwas anders bedeuten oder bedeuten können. (WB 10, 88) Lessings Hauptmetapher der Erziehung ist zwar weit verbreitet im Zeitalter der Aufklärung: man denke z. B. an Schillers „Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen“. Die zwei Begriffe von Erziehung und Aufklärung sind ohnehin eng verwandt; aber kein anderes Werk illustriert und verkörpert den entsprechenden Vorgang so ausführlich wie Lessings Erziehungsschrift. Indem sie den Leser von einer Einsicht zur nächsten führt, stellt sie den Aufklärungsprozess in unmittelbarer Anwendung vor (das Wort „Aufklärung“ wird auch dreimal gebraucht) (WB 10, 96f.). Und obgleich viele Wendungen im Text als poetisch gelten dürfen (wie Lessing selbst in der eben zitierten Passage andeutet), bleibt das Werk im Grunde didaktisch und philosophisch. Es hat aber nicht zum Ziel, vorgefertigte Antworten zu vermitteln. Es will vielmehr die kritische Fähigkeit des Lesers ansprechen und zu freier Spekulation anregen – nicht zuletzt, indem es die scheinbar festen Schlussfolgerungen, die schon erreicht worden sind, in Frage stellt, wie z. B. durch die berüchtigte Diskrepanz zwischen den Paragraphen 4 und 77 über die Frage, ob die Offenbarung uns mehr

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als die Vernunft lehren kann oder nicht, oder durch die verschiedenen Paradoxa, die im Werk vorkommen, wie schon im lateinischen Motto von Augustinus auf der Titelseite: „All dies ist aus denselben Gründen in gewisser Hinsicht wahr, aus denen es in gewisser Hinsicht falsch ist.“ (WB 10, 73) Durch die komplexe Rhetorik, welche die scheinbar erreichten Schlüsse immer wieder relativiert, wird der Leser in die Lage versetzt, alle scheinbaren Gewissheiten in Frage zu stellen und gegenüber der Wahrheit selbst eine relativistische Einstellung anzunehmen. „Nathan der Weise“ hat viele Ähnlichkeiten mit der „Erziehung des Menschengeschlechts“, z. B. in seinem Ausblick auf die entfernte Zukunft der Menschheit und in der Bestimmung des moralischen Fortschritts als Hauptziel in der Geschichte der Religionen. Aber das Stück ist ein viel deutlicheres Beispiel für jenen Perspektivismus (der in diesem Fall eher als „Pluralismus“ zu bezeichnen wäre), den Lessing von Leibniz übernommen hatte. Auch hat er nie versucht, sich von diesem Drama zu distanzieren, wie er es im Falle der Erziehungsschrift getan hatte. Es gibt übrigens zuverlässige Indizien dafür, dass die Erziehungsschrift schon 1776 vollendet war – d. h. mehr als zwei Jahre vor Abschluss von „Nathan der Weise“ –, obgleich die zweite Hälfte erst 1780 veröffentlicht wurde.15 So hat das Schauspiel, das Lessing als Antwort auf die Angriffe seiner Kritiker im „Fragmentenstreit“ schrieb, einen viel stärkeren Anspruch als die frühere Abhandlung, für Lessings endgültige Aussage über die drei monotheistischen Religionen gehalten zu werden – besonders weil es nicht nur Judaismus und Christentum, sondern auch den Islam in die Diskussion einbezieht. Alle drei Religionen werden als prinzipiell gleichwertig vorgestellt und ihre Ansprüche auf die exklusive Wahrheit bleiben in gleichem Maße ungewiss. Nach der Rezeption des Stückes zu urteilen, muss „Nathan der Weise“ als Lessings erfolgreichstes Werk betrachtet werden: es ist noch heute neben Goethes „Faust“ wahrscheinlich das bekannteste deutsche Drama überhaupt. Es ist auch das kanonische Werk über Toleranz in deutscher Sprache, dem deutschen Publikum viel bekannter als die zwei vergleichbarsten Schriften dem englischen bzw. französischen Publikum, nämlich John Lockes „Letter concerning Tolerance“ (1689) bzw. Voltaires

15

Vgl. Nisbet [Anm. 9], S. 745f.

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„Traité sur la Tolérance“ (1763), die jetzt fast nur in Fachkreisen gelesen werden.16 Man darf aber nicht vergessen, dass „Nathan der Weise“ auch durch seine allzu große Bekanntheit leicht trivialisiert wird und dass seine Bedeutung in Deutschland fast immer umstritten gewesen ist. Es hat wiederholte Wellen von Begeisterung und Ablehnung ausgelöst, von dem frühen Beifall der deutsch-jüdischen Gemeinschaft bis zur Verurteilung durch die Zionisten im späteren 19. Jahrhundert, als die Hoffnung der deutschen Juden auf erfolgreiche Integration fehlschlug, von der Wiederaufnahme des Werkes nach dem Zweiten Weltkrieg als Versöhnungsstück bis zur erneuten Ablehnung durch George Tabori und andere als völlig unzulängliche Replik auf den Holocaust, und von den vielen Aufführungen nach 9/11 als Gegengewicht zum islamischen Fundamentalismus bis zur neueren Denunzierung z. B. durch Henryk M. Broder als sinnlosen Aufruf zur Toleranz gegenüber Handlungen, die nicht zu tolerieren sind.17 Hoffnung und Desillusionierung also – aber Desillusionierung ist oft das Ergebnis übermäßiger Hoffnung. Lessings heiterer Optimismus kann auch im Unglück Hoffnung erwecken: aber auf dem Hintergrund seines Relativismus ist diese nur eine bedingte Hoffnung, die vielleicht erst „in tausend tausend Jahren“ verwirklicht werden kann. Wie die „Zeit der Vollendung“ am Schluss der „Erziehung des Menschengeschlechts“ ist sie wohl eher eine regulative Idee im Sinne Kants, der sich die Menschheit in der Praxis höchstens nähern kann, ohne sie je zu erreichen, als die zuverlässige Weissagung einer bevorstehenden Utopie auf Erden. Zum Abschluss eine kurze Übersicht über Lessings Rezeption in den letzten zweieinhalb Jahrhunderten. Schon in den fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts brachte Lessing es zum führenden deutschen Literaturkritiker, der mit der Autorität Gottscheds und seiner Anhänger aufräumte, und während seiner zweiten Lebenshälfte war er der bedeutendste Dramatiker und die tonangebende Gestalt im literarischen Leben der deutschsprachigen Territorien. Mit seinen altertumskundigen Studien erreichte er eine 16

Für einen ausführlicheren Vergleich dieser drei Werke vgl. Hugh Barr Nisbet: On the Rise of Toleration in Europe. Lessing and the German Contribution, in: Modern Language Review 105, 2010, S. xxviii–xliv, hier S. xxviii–xxx und xliv. 17 Zur Kritik des Dramas durch Tabori, Broder und andere vgl. ebd., S. xliii–xliv.

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Autorität, die den Vergleich mit Winckelmann nicht zu scheuen brauchte; von Anfang an erkannte er den dichterischen Rang Klopstocks, mit dem er später befreundet war; und der junge Herder verehrte ihn und nahm sich in seinen ersten bedeutenden Schriften Lessingsche Werke zum Vorbild. Die Sturm-und-Drang-Bewegung, deren Dramen sich auf den ersten Blick erheblich von denen Lessings unterscheiden, ließ sich maßgeblich von seinen Werken, vor allem „Emilia Galotti“, beeinflussen. Seit Luther hatte kein deutscher Autor stärkere öffentliche Resonanz gefunden; und Lessing selbst war weitgehend an der Heranbildung jenes rapide anwachsenden, überwiegend bürgerlichen Publikums beteiligt, für das er schrieb. Wie seine literarischen Werke wirkten auch seine philosophischen und theologischen Schriften schon auf seine Zeitgenossen und dann auf spätere Entwicklungen in den entsprechenden Wissenszweigen ein. Verallgemeinernd kann man sagen, dass Lessing vorwiegend von Gruppen und Individuen verehrt worden ist, die sich für progressiv gehalten haben, von dem Sturm und Drang zur Frühromantik und dem Jungen Deutschland. Heine erklärte, „dass [Lessing] in der ganzen Literaturgeschichte derjenige Schriftsteller ist, den ich am meisten liebe“. Er wurde ebenfalls von Karl Marx und seinen Nachfolgern von Franz Mehring bis zu den Literaturkritikern der DDR als Geistesgröße bewundert.18 All dieses konnte aber nicht verhindern, dass er von den Nationalisten des 19. und 20. Jahrhunderts als Vorgänger gefeiert wurde – größtenteils auf Grund von Missdeutungen seiner Werke, besonders „Minna von Barnhelm“, „Philotas“, und seinen Angriffen auf die französische Hofkultur in der „Hamburgischen Dramaturgie“. Heutzutage leidet Lessings Ruf – vielleicht noch mehr im Ausland als in Deutschland – an der Spezialisierung der Wissenschaft. Denn obgleich besondere Teile seines Schaffens in verschiedenen Kreisen gut bekannt sind (etwa in der Literaturwissenschaft, Theologie, Philosophie oder Ästhetik), sind sein Werk und seine Persönlichkeit im Ganzen verhältnismäßig wenig bekannt. Nichtsdestoweniger genießt die Lessing-Forschung in den letzten Jahren noch Hochkonjunktur: die kommentierte Ausgabe seiner Werke 18

Für Auszüge aus relevanten Werken von Heine, Mehring und anderen vgl.: Lessing – ein unpoetischer Dichter. Dokumente aus drei Jahrhunderten zur Wirkungsgeschichte Lessings in Deutschland, hg. von Horst Steinmetz, Frankfurt a. M. 1969, S. 260–266, 402–414 und passim.

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von Wilfried Barner und anderen19, Wolfgang Albrechts fünf Bände von Briefen, Gesprächen, Berichten, Chronik und anderen Materialien zu Lessings Leben und Schriften20, das „Lessing-Portal“ der Lessing-Akademie in Wolfenbüttel mit seiner elektronischen Ausgabe von Lessings Übersetzungen aus verschiedenen Sprachen, die dritte, erweiterte Ausgabe von Monika Ficks vortrefflichem „Lessing-Handbuch“ mit ihren ausführlichen Forschungsberichten21 sowie viele andere Hilfsmittel haben Lessings Leben und Werk zugänglicher gemacht als je zuvor.

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Siehe Anm. 1. Lessing im Spiegel zeitgenössischer Briefe. Ein kommentiertes Lese- und Studienwerk, hg. von Wolfgang Albrecht, 2 Bde., Kamenz 2003; Lessing. Gespräche, Begegnungen, Lebenszeugnisse. Ein kommentiertes Lese- und Studienwerk, hg. von Wolfgang Albrecht, 2 Bde., Kamenz 2005; Lessing. Chronik zu Leben und Werk, hg. von Wolfgang Albrecht, Kamenz 2008. 21 Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Monika Fick, 3. Auflage, Stuttgart/Weimar 2010. 20

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Was ist Aufklärung? – „Ein paar Goldkörner aus Maculatur“ Als Christoph Martin Wieland 1789 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Der Teutsche Merkur“ die bekannte Frage „Was ist Aufklärung?“1 beantwortet, ist sein Unwillen über die gar zu platte Fragestellung in jeder Formulierung spürbar: Aufklärung, „das weiß jedermann, der vermittelst eines Paars sehender Augen erkennen gelernt hat, worin der Unterschied zwischen Hell und Dunkel, Licht und Finsterniß besteht“2, ist „die Erkenntnis des Wahren und Falschen, des Guten und Bösen“.3 Man braucht dazu „Licht genug“ und gesunde Augen, die „weder blind, noch gelbsüchtig“4 sind. Also tue man einfach alles, um das Licht zu vermehren, und richte es dann bis in die „finstern Winkel und Hölen“, um das „lichtscheue Völkchen“5 hervorzulocken, das seine dunklen Geschäfte lieber im Verborgenen verfolge. Diese Art von Aufklärung kenne naturgemäß keine Die Debatte wurde bekanntlich in den Jahren 1783 und 1784 in der „Berlinischen Monatsschrift“ geführt; Wielands Text „Ein paar Goldkörner aus – Maculatur oder sechs Antworten auf sechs Fragen“ bezieht sich indirekt auf diese Debatte. Der Artikel wurde von Wieland nicht in die von ihm selbst redigierte Ausgabe letzter Hand, die „Sämmtlichen Werke“, aufgenommen und wird hier deshalb nach dem Original im „Teutschen Merkur“ zitiert (April-Band 1789, S. 94–105; fortan zitiert unter der Sigle ‚TM‘). Alle weiteren Wieland-Texte werden mit der Sigle ‚SW‘ zitiert nach: Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. 39 Bände und 6 Supplementbände, hg. von der „Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur“ in Zusammenarbeit mit dem „Wieland-Archiv“, Biberach, und Hans Radspieler, Hamburg 1984. 2 TM 1789, S. 97. 3 TM 1789, S. 98. 4 TM 1789, S. 97. 5 TM 1789, S. 100. 1

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Grenzen – außer da, wo die Dinge schlechthin nicht mehr sichtbar sind – und könne deshalb von jedermann, „von Sokrates oder Kant bis zum obscursten aller übernatürlich erleuchteten Schneider und Schuster“6, praktiziert werden. Der Fortschritt der Aufklärung zeige sich dementsprechend darin, dass die Dunkelheit – die „Masse der Vorurtheile und Wahnbegriffe“ – verschwinden würde; im Lichte der Aufklärung hingegen wachse „die Scham vor Unwissenheit und Unvernunft, die Begierde nach nützlichen und edeln Kenntnissen, und besonders [. . .] der Respekt vor der menschlichen Natur und ihren Rechten unter allen Ständen“.7 Wielands kleiner Text ist mit Sicherheit die launigste Antwort auf die berühmte Frage: Allein ausgehend vom Bildgehalt des Begriffs entwickelt sie eine Reihe aufklärerischer Grundsätze, die so einfach und offensichtlich sind, dass es selbst den vernageltsten aller Dunkelmänner nicht einfallen würde, sie zu bestreiten. Gleichzeitig enthält sie jedoch auf einer tieferen Ebene genug Anregungen, um auch einem differenzierteren Konzept von Aufklärung gerecht zu werden: Sind tatsächlich alle Menschen gleichermaßen befähigt, andere aufzuklären, oder sollten wir uns doch besser auf Sokrates und Kant verlassen? Wer entscheidet in einer Welt von Sehgeschädigten darüber, wessen Augen gesund genug sind? Und schließlich: Was genau ist die „menschliche Natur“, die unter allen Umständen vom aufgeklärten Menschen zu respektieren ist, und welche Rechte ergeben sich aus ihr? Wieland wäre mit Sicherheit gern in diese Diskussion eingetreten. Er hätte sich dabei das eine oder andere Argument der dunklen Gegner zu Eigen gemacht; und er hätte vielleicht einen pointierten Dialog dazu geschrieben, einen ironisch getönten Essay, ein verspieltes Versepos oder gar einen philosophischen Roman. Die Beschäftigung mit der Frage „Was ist Aufklärung?“ durchzieht so sehr sein Werk, dass man eigentlich kaum eine Stelle entdecken kann, die sich vor dieser Frage versteckt hat.8 Sein gesamtes dichterisches wie sein weitgehend noch zu entdeckendes essayistisches Schaffen enthalten verschiedene mögliche Antworten, mit denen sich der mündige Leser auseinandersetzen muss. Nicht alle werden jedem 6

TM 1789, S. 103. TM 1789, S. 104. 8 So trägt die aktuellste Wieland-Biographie von Michael Zaremba bezeichnenderweise den Titel: Christoph Martin Wieland. Aufklärer und Poet (Köln/Weimar/Wien 2007). 7

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gefallen; und vielleicht entsteht bei der Lektüre sogar der Verdacht, dass Wieland selbst, ganz am Schluss, ein wenig skeptisch bezüglich der Erfolgsaussichten des Projekts „Aufklärung des Menschengeschlechts“ wird − eine Haltung, die für die Spätaufklärung durchaus nicht untypisch ist und aus einer der schwersten Übungen von Aufklärung schlechthin resultiert: sich selbst in Frage stellen zu können.

Gelebte Aufklärung I: Wielands „Metamorphose“ Wielands wurde am 05. September 1733 im schwäbischen Oberholzheim bei Biberach in eine wohlsituierte bürgerliche Familie von Pfarrern und Juristen hinein geboren.9 Er genoss alle Vorteile einer gezielten Frühförderung: Mit vier Jahren begann der Lateinunterricht, mit neun Jahren machte er bereits Verse in mehreren Sprachen. In der pietistisch geprägten Internatsschule Kloster Berge bei Magdeburg vertiefte er sich in Pierre Bayles „Dictionnaire historique et critique“; die erste Quelle von Wielands erstaunlich breiter, wenn auch nicht immer gleichermaßen tiefen Bildung. Von seinem anschließenden einjährigen Aufenthalt bei seinem Verwandten Johann Wilhelm Baumer in Erfurt ist ihm besonders die Lektüre des „Don Quijote“ von Cervantes im Gedächtnis geblieben – eine Figur, die zum Prototyp der Schwärmergestalten in seinen eigenen Romanen wird, die ständig gegen die Windmühlen ihrer Imagination kämpfen und nur mühsam auf den Boden der Realität zurückgeholt werden können. 1750 kehrt Wieland in die schwäbische Heimat zurück. Er beginnt ein – nur sehr kurzlebiges – Jura-Studium in Tübingen und verlobt sich mit seiner Cousine Sophie Gutermann von Gutershofen – was ebenfalls nicht lange währt. Sophie ist seine von etwas weltfremden platonischen Vorstellungen geprägte erste Liebe; für sie (die später unter ihrem ehelichen Na9 Vgl. die Biographie von Zaremba [Anm. 8]; Christoph Martin Wieland. Leben und Werk. Aus zeitgenössischen Quellen chronologisch dargestellt, 3 Bde., hg. von Thomas C. Starnes, Sigmaringen 1987; sowie den Artikel von Klaus Manger im Wieland-Handbuch, hg. von Jutta Heinz, Stuttgart/Weimar 2008. Im Wieland-Handbuch finden sich Einzelartikel zu den meisten Werken sowie Überblicksartikel zu Wielands verschiedenen Schaffensphasen und -gebieten mit weiterführender Literatur; im Folgenden werden deshalb nur die größeren Wieland-Monographien der letzten Jahre einzeln angeführt.

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men Sophie von La Roche selbst als Autorin bekannt wird) schreibt er sein erstes Werk: „Die Natur der Dinge in sechs Büchern“10, ein äußerst umfangreiches Lehrgedicht in der Tradition des Lukrez. Um seine schriftstellerische Karriere zu fördern, sucht Wieland zudem gezielt den Kontakt zu einem „Literaturpapst“ der Aufklärung, dem Schweizer Johann Jakob Bodmer.11 Es folgt ein längerer Aufenthalt in der Schweiz, zunächst in Zürich bei Bodmer, dann in Bern. Wieland lebt, wie so viele Dichter nach ihm, von einer Hauslehrerstelle; die pädagogische Tätigkeit interessiert ihn immerhin genug, dass er einen Plan für ein Erziehungsinstitut verfasst. Daneben arbeitet er an seinem poetischen Handwerkszeug und versucht sich z. B. im religiösen Hexameter-Epos in der Tradition Bodmers (eine eher aussterbende Gattung, die aber Wielands Virtuosität im Verseschmieden schult). Mit „Lady Johanna Gray“ (1751) beginnt die bemerkenswerte Reihe der Wielandschen Erstlinge: das erste Blankversdrama in deutscher Sprache. Mit seiner Schweizer Freundin Julie Bondeli liest Wieland in dieser Zeit Rousseau – das Aktuellste, was die Aufklärung zu bieten hat, und ein entschiedener Gegenpol zur materialistischen Philosophie in Frankreich. Dadurch überwindet er Schritt für Schritt die weltfremde Schwärmerei, die noch sein gesamtes Jugendwerk prägt: „Ich mußte entweder meinen Platonismus reformiren, oder eine Wüste in Tyrol aufsuchen, um da zu leben. Die Erfahrung hat mir einen Wahn nach dem andern benommen, und endlich kam ich ins Gleichgewicht“12, resümiert er später. Insofern ist diese „Metamorphose“ durchaus eine aufklärerische: Sie wird durch die „Erfahrung“ bewirkt, die den „Wahn“ behebt; und sie leitet zum harmonischen „Gleichgewicht“ über – einem antiken Konzept, das fortan Wielands Ethos der Mäßigung prägen wird.13

10 Vgl. dazu Margit Hacker: Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien. Christoph Martin Wielands „Natur der Dinge“, Würzburg 1989. 11 Vgl. dazu den Artikel von Dieter Martin zum Frühwerk im Wieland-Handbuch [Anm. 9], S. 150–168. 12 Brief an Julie Bondeli, in: SW XV: Wielands Leben, hg. von Johann Gottfried Gruber, S. 423. 13 Vgl. dazu Klaus Nolting: Die Kunst zu leben oder Die Natur weiß nichts von Idealen. Eine Untersuchung zur Grundhaltung der Mäßigung im Werk und Leben Christoph Martin Wielands, Frankfurt a. M. [u. a.] 1995.

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1760 kehrt Wieland in die oberschwäbische Heimat zurück. Bis zum Jahr 1769 wird er in Biberach eine Beamtenstelle als Kanzleiverwalter und Senator bekleiden. Dieser Lebensabschnitt steht ganz im Zeichen der bürgerlichen Konsolidierung, auch privat: Wieland heiratet Anna Dorothea von Hillenbrand, die ihm 14 Kinder gebiert und die nötige emotionale Stabilität vermittelt; eine klassische Vernunftehe, die sich als außerordentlich belastungsfähig erwies. Wiederum erweitert er in den Nebenstunden sein literarisches Spektrum gezielt. Seine Shakespeare-Übersetzung, die erste in deutscher Sprache, erscheint in sechs Bänden von 1762 bis 1766. Daneben arbeitet er an den beiden Genres, die fortan den wichtigsten Teil seines poetischen Œuvres bilden werden: der „Geschichte des Agathon“ (1766– 1767), bekannt als erster deutscher Bildungsroman14, und dem Versepos „Musarion oder die Philosophie der Grazien“ (1768).15 Letzteres kann durchaus als autorisiertes Selbstporträt gelesen werden, das die markanten Züge von Wielands aufklärerischer und literarischer Physiognomie trägt; im (später hinzugefügten) Vorwort bekennt er: Ihre Philosophie ist diejenige, nach welcher ich lebe; ihre Denkart, ihre Grundsätze, ihr Geschmack, ihre Laune sind die meinigen. Das milde Licht, worinn sie die menschlichen Dinge ansieht; dieses Gleichgewicht zwischen Enthusiasmus und Kaltsinnigkeit, worein sie ihr Gemüth gesetzt zu haben scheint; dieser leichte Scherz, wodurch sie das Überspannte, Unschickliche, Schimärische [. . .] auf eine so sanfte Art, daß sie gewissen harten Köpfen unmerklich ist, vom wahren abzuscheiden weiß; diese sokratische Ironie, welche mehr das allzustrenge Licht einer die Eigenliebe kränkenden oder schwachen Augen unerträglichen Wahrheit zu mildern, als andern die Schärfe ihres Witzes zu fühlen zu geben sucht; diese Nachsicht gegen die Unvollkommenheiten der menschlichen Natur – welche, (lassen Sie es uns ohne Scheu gestehen, mein Freund,) mit allen ihren Mängeln doch immer das liebenswürdigste Ding ist, das wir kennen.16 14 Vgl. dazu Walter Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Wielands „Agathon“-Projekt, Tübingen 1991. 15 Vgl. zu den Versepen Michael Hofmann: Reine Seelen und komische Ritter. Aspekte literarischer Aufklärung in Christoph Martin Wielands Versepik, Stuttgart/Weimar 1998. 16 Christoph Martin Wieland: An Herrn Creyßsteuereinnehmer Weisse in Leipzig, in: Wielands Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, Bd. 8.1, hg. von Klaus Manger, Berlin/New York 2008, S. 688.

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Gelebte Aufklärung II: Prinzenerziehung und politische Publizistik Für ein Zwischenspiel als Universitätsprofessor für Philosophie kehrt Wieland von 1769 bis 1772 nach Erfurt zurück. Er liest über alles, was ihn selbst auch interessiert, von der Kulturgeschichte über die Philosophiegeschichte bis hin zur Literaturgeschichte; und er beschäftigt sich ein weiteres Mal mit pädagogischen Entwürfen, diesmal für die Universitätsausbildung. Begleitend entsteht eine Reihe von „philosophischen Romanen“, die sich vor dem Hintergrund von Rousseaus kulturgeschichtlichen Theorien mit der Entwicklung der Menschheit beschäftigen. Wie bereits der „Agathon“ spielen sie nicht in der eigenen Gegenwart, sondern verlagern die Handlung in weit entfernte Zeiten und Weltgegenden – in die Antike, wie in den „Dialogen des Diogenes von Sinope“ (1770), oder in einen märchenhaften Orient, wie in „Der goldne Spiegel oder Die Könige von Scheschian“ (1772). Das hat nichts mit Realitätsflucht zu tun, sehr viel aber mit der für unparteiische Erkenntnis so nötigen Distanz, die einen Dialog zwischen einer gar nicht so fernen Vergangenheit und der allzu nahen Gegenwart ermöglicht; eine Übung in aufklärerischer Sehschärfe also, wie Wieland im Vorwort des „Goldnen Spiegels“ erläutert: Und um diese geübten Augen zu bekommen, – ohne welche das beste Herz uns nur desto gewisser und öfter der arglistigen Verführung in die Hände liefert –, ist kein bewährteres Mittel, als die Geschichte der Weisheit und der Thorheit, der Meinungen und der Leidenschaften, der Wahrheit und des Betrugs in den Jahrbüchern des menschlichen Geschlechtes auszuforschen. In diesen getreuen Spiegeln erblicken wir Menschen, Sitten und Zeiten, entblößt von allem demjenigen, was unser Urtheil zu verfälschen pflegt, wenn wir selbst in das verwickelte Gewebe des gegenwärtigen Schauspiels eingeflochten sind.17 Zwar war „Der goldne Spiegel“ – eine Anweisung zur Ausbildung des idealen Herrschers – noch nicht erschienen, als Wieland 1772 einen Ruf an den benachbarten Weimarer Hof erhielt, doch liest sich der Text im Nachhinein geradezu als Bewerbungsschrift. In Weimar wurde Wieland von der 17

SW II, Bd. 6, S. XIV.

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Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach, die den thüringischen Kleinstaat nach dem Tod ihres Ehegatten in Vertretung ihres noch nicht volljährigen ersten Sohnes, Carl August, regierte, als Prinzenerzieher angestellt. Seine pädagogischen Pflichten endeten vertragsgemäß mit dessen Volljährigkeit im Jahr 1775, und Wieland wurde eine lebenslange Pension in Weimar zugesichert. Diese Entscheidung war nicht nur ein Glücksfall für Wieland, dem sie eine stabile finanzielle Grundabsicherung und damit endlich genügend Freiraum für seine literarische Tätigkeit in Aussicht stellte, sondern auch für Anna Amalia und Weimar. Denn Wieland erzog nicht nur einen Prinzen zur aufgeklärten Menschenfreundlichkeit; er schrieb auch für das Weimarer Theater, und er gründete eine Zeitschrift nach dem großen Vorbild des „Mercure de France“: den „Teutschen Merkur“18, der unter seiner Herausgeberschaft bis 1789 als Kulturzeitschrift mit gesamteuropäischem Anspruch und nationalerzieherischer Tendenz erschien. In den 1780er Jahren in Weimar ist Wieland damit auf der Höhe seines Ruhms angelangt. Mit dem „Oberon“ legt er 1780 die klassische Version eines Versepos vor. Wie in seinen Märchen geht es auch in seinen Versepen immer wieder um das aufklärerische Generalthema des angemessenen Umgangs mit dem „Wunderbaren“ und seiner Beziehung zum Natürlichen. Zuvor hatte er sich mit der Satire ein weiteres wichtiges Genre der Aufklärung erschlossen: Seine „Geschichte der Abderiten“ (1774–1780) rechnete in der Tradition der Narrenliteratur mit dem kleinstädtischen Milieu in Biberach und anderswo ab. Parallel dazu erreicht auch die Aufklärung ihren Höhepunkt, bevor sie mit der Französischen Revolution und der Entwicklung der terreur immer stärker selbst in die Kritik gerät. Wieland setzt in dieser aufregenden Zeit zwei Schwerpunkte seiner Tätigkeit. Für seinen „Teutschen Merkur“ entstehen programmatische politische Essays, unter anderem „Über die Rechte und Pflichten der Schriftsteller“ (1785), „Über den freyen Gebrauch der Vernunft in Glaubenssachen“ (1788) oder „Das Geheimniß des Kosmopoliten-Ordens“ (1788).19 Dane18 Vgl. „Der Teutsche Merkur“ – die erste deutsche Kulturzeitschrift?, hg. von Andrea Heinz, Heidelberg 2003, sowie Thomas C. Starnes: Der Teutsche Merkur. Ein Repertorium, Sigmaringen 1994. 19 Vgl. dazu John A. McCarthy: The Poet as Journalist and Essayist. Christoph Martin Wieland, 2 Bde., in: Jahrbuch für internationale Germanistik XII, 1980, H. 1, S. 104–138, und Jahrbuch für internationale Germanistik XIII, 1981, H. 1, S. 74–137.

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ben widmet er sich langfristigen Übersetzungsvorhaben: 1782 erscheint seine Übertragung der „Episteln“ des Horaz, 1786 folgen die „Satiren“; daran schließt sich die Lukian-Übersetzung an (sechs Teile, 1788–1789). Während sich Wieland mit seinen Essays an aktuellen aufklärerischen Debatten um Meinungs-, Glaubens- und Pressefreiheit abarbeitet, führen die Übersetzungen den Leser einmal mehr in fremde Welten. Das Alte, das kulturell Tradierte darf nicht etwa im Angesicht des Neuen und des Fortschritts – der Aufklärung, der Revolution – vergessen werden, sondern es muss auf seinen Erkenntniswert für die eigene Zeit hin kritisch überprüft werden. Letztlich sind all diese Texte ein „Beytrag zur Geschichte des menschlichen Verstandes“20, der den gleichzeitig erscheinenden Titeln der spätaufklärerischen Anthropologie und Psychologie an die Seite gestellt werden kann.

Gelebte Aufklärung III: Hofbesitzer und Nationalautor Auch in seinem eigenen Leben unternimmt Wieland noch spät einen Versuch, ein antikes Ideal zum Leben zu erwecken: 1797 erwirbt er ein ehemaliges Rittergut mit Park für die inzwischen um einige Enkel vermehrte Großfamilie im nahe Weimar gelegenen Oßmannstedt. Es soll ihm zum „Osmantinum“ werden, einem ländlichen Rückzugsort nach dem Muster des Horazischen „Sabinum“, in dem man sich fern vom Hof und nahe der Natur den Musen widmen kann; ein Versuch auch in ökonomischer Autarkie, der scheitert. In Oßmannstedt muss Wieland zudem schweren Herzens die ihm ans Herz gewachsene Enkelin seiner Jugendliebe Sophie von la Roche, Sophie Brentano, begraben; ein Jahr später, 1801, wird seine Ehefrau an der gleichen Stelle an der Ilm bestattet. Die Oßmannstedter Jahre bringen jedoch auch ein reiches Spätwerk hervor: Dazu gehören der „Agathodämon“ (1799) und der mehrteilige Briefroman „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen“ (1800–1801).21 So im „Vorbericht zu den Abderiten“; SW VI, Bd. 19, S. 5. Vgl. dazu Jan-Philipp Reemtsma: Das Buch vom Ich. Christoph Martin Wielands „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen“, Zürich 1993; Jutta Heinz: Narrative Kulturkonzepte. Wielands „Aristipp“ und Goethes „Wilhelm Meisters Wanderjahre“, Heidelberg 2006. 20 21

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Nach seiner Rückkehr nach Weimar 1803 wird sich Wieland bis zu seinem Tod im Jahr 1813 mit seinem letzten Übersetzungs-Großprojekt beschäftigen, einer Übersetzung der Briefe Ciceros. In dieser Zeit gerät er zunehmend in Vergessenheit, von den stürmenden und drängenden Vertretern der jungen Romantiker-Generation wird er nur noch spöttisch belächelt. Gleichzeitig ist jedoch sein Ruhm als deutscher Nationalautor in monumentaler Form gefestigt: Ab 1794 erscheinen bei dem Verleger Göschen seine „Sämmtlichen Werke“, schon zu Lebzeiten, in vier auf verschiedene Lesergruppen und -bedürfnisse ausgerichteten Formaten.22 „Gelebte Aufklärung“ zeigt sich in Wielands Leben damit in zeittypischen, aber auch in einigen ganz für ihn spezifischen Formen. Dazu gehört, zum Ersten, die breite Aus- und Selbstbildung als unerlässliche Voraussetzung aller Aufklärung. Wieland versteht vor allem die Antike als vorbildlichen Kultur- und Lebensraum und eröffnet damit eine wichtige Perspektive auf ein Verständnis von Aufklärung als historisch weitausgreifende und letztlich nicht abschließbare menschheits- und kulturgeschichtliche Bewegung. Dazu gehört, nunmehr im engeren Sinn der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, ein Interesse an im weiteren Sinne „erzieherischen“ Aktivitäten23, sowohl in der konkreten pädagogischen Praxis als auch in der Tätigkeit am Weimarer Theater und als langjähriger Zeitschriftenherausgeber eines Kultur- und Nationaljournals. Dazu gehört, drittens, die enge Verbindung von Theorie und Praxis, die sich exemplarisch in der Verbindung von Literatur und Philosophie – beides im weitesten Sinne verstanden – in seinem Schaffen spiegelt. Dafür steht in seinem Werk speziell die Figur des Sokrates als Philosophentypus, der mit seiner Hebammenkunst seinen Gesprächspartnern bei der Geburt eigener Erkenntnisse zur Seite steht und so konkrete Erziehung zum Selbstdenken praktiziert. Zudem muss alles Wissen für Wieland letztlich – auch das ist einer der Grundsätze der späten Aufklärung – auf den Menschen und dessen praktische Existenz in der Welt ausgerichtet sein: „Die nöthigste und nützlichste 22 Vgl. zur Edition und Rezeption die Artikel von Hans-Peter Nowitzki im WielandHandbuch [Anm. 9], S. 26–52, sowie Peter-Henning Haischer: Historizität und Klassizität. Christoph Martin Wieland und die Werkausgabe im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2011. In Jena entsteht zurzeit eine von der DFG geförderte Historisch-Kritische Ausgabe von Wielands Werken. 23 Vgl. dazu Ludwig Fertig: Christoph Martin Wieland der Weisheitslehrer, Darmstadt 1991.

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aller Wissenschaften, oder, noch genauer zu reden, diejenige, in welcher alle übrigen eingeschlossen werden, ist die Wissenschaft des Menschen.“24 Diesem Anspruch muss sich auch sein eigenes Werk stellen; es ist deshalb „gestaltete Aufklärung“.

Gestaltete Aufklärung: Schwärmer und Kosmopoliten im Gespräch Gestaltete Aufklärung – das meint im Wesentlichen, dass ein zentrales Element der allgegenwärtigen Aufklärung in Wielands Texten in deren individueller Formgestalt liegt. Aufklärung zeigt sich nicht in künstlichen philosophischen Systemen – für Wieland die ungeeignetste Form der Vermittlung von Wissen schlechthin, da sie die empirische Erfahrung dem theoretischen Systemcharakter unterwirft und damit jegliche Diskussion verbietet: „Der eigentliche specifische Unterschied zwischen einem filosofischen Narren und einem gemeinen Narren“, so spottet er schon früh, bestehe lediglich darin, „daß jener seine Narrheit in ein System räsonirt, dieser hingegen ein Narr geradezu ist“.25 Eine Aufklärung, die ihren Namen verdient, muss mit der skeptischen Einsicht ernst machen, dass sich die Wahrheit jedem aufgrund seiner individuellen Disposition und seiner unterschiedlichen Stellung in der Welt in einem unterschiedlichen Licht präsentiert. Deshalb bevorzugt Wieland Darstellungsformen, die eine Sache von vielen Seiten möglichst umfassend beleuchten. Die Literatur wird damit zum Erprobungsfeld der Aufklärung − und je härter die Prüfungen, je größer die Hindernisse und je verschiedener die Charaktere und Situationen sind, desto heller wird ihr Licht leuchten. Es ist ein ganz bestimmter Charaktertyp, der im Zentrum vieler Wielandscher Romane steht: der Schwärmer nämlich, der sich − wie er selbst in seiner Jugend – durch einseitige Lektüre der Realität entfremdet und in seine eigene Phantasie zurückgezogen hat; ob er seine imaginäre Welt da24

Christoph Martin Wieland: Über die Rechte und Pflichten der Schriftsteller, in: Ders.: SW X, Bd. 30, S. 140. 25 Christoph Martin Wieland: Über die von J.J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche den wahren Stand der Natur des Menschen zu entdecken [. . .], in: Ders.: SW V, Bd. 14, S. 181.

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bei mit heroischen Rittern bevölkert (wie Don Quijote) oder mit Feen (wie sein Wielandscher Nachfahre Don Sylvio von Rosalva), ob er seine religiöse Verblendung bis zur Selbstverbrennung steigert (wie Peregrinus Proteus) oder zum Sektengründer wird (wie Agathodämon), macht nur einen graduellen Unterschied. Das Prinzip aller Schwärmerei benennt Wieland präzise als Aufklärungsdefizit: „Die ewige Quelle aller Schimären und Trugschlüsse, wodurch halb aufgeklärte Köpfe und aufgeklärte Halbköpfe sich selbst und andre täuschen, ist die Verwechslung willkührlicher Abstrakzionen mit den wirklichen Dingen dieser Welt.“26 Um den Schwärmer zu „heilen“, wie es im psychologischen Jargon der Zeit heißt, muss die Aufklärung also vollendet werden: Und das gelingt am besten, wenn man ihm keine abstrakten Vorträge hält, sondern ihn in lebensweltliche Situationen führt und verführt, in denen seine eigene Erfahrung ihn belehrt, dass er – eben nur geschwärmt hat. Durch den Einsatz verschiedener literarischer Mittel versucht Wieland dabei sicherstellen, dass aus seinen eigenen Lesern keine Schwärmer werden. Gleich in einem seiner ersten Romane, „Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva“, wird der Titelheld einem test of ridicule nach dem Vorbild von Shaftesbury unterzogen: Er wird mit einem so absurden Feenmärchen konfrontiert, dass sogar er erkennen muss, dass es sich hier bloß um Literatur handelt. Begleitend dazu macht er eine so intensive Erfahrung realer Liebe, dass ihm all seine Wunschträume von reizenden Feen nur noch als blasse Schatten erscheinen. Die „Geschichte des Agathon“ präsentiert das gleiche Thema auf philosophisch höher gelegenem Terrain: Zwar gerät der Titelheld in ähnliche erotische Bewährungsproben, muss jedoch nun sein idealistisches System in ausführlichen philosophischen Dialogen gegen den Materialisten und Hedonisten Hippias verteidigen. Ein reiner Dialogroman – wiederum: wohl einer der ersten in deutscher Sprache – ist schließlich die „Geheime Geschichte des Philosophen Peregrinus Proteus“. Im Dialog mit seinem Biographen Lukian bekommt der spätantike Erzschwärmer die Chance, sich mit der Erzählung seines Lebens aus seiner ganz individuellen Perspektive zu verteidigen; mit dem Erfolg, dass Lukian ihn am Ende nicht nur versteht, sondern sogar ein klein wenig beneidet. Es zeigt sich: Schwärmer müssen nicht immer für die Aufklärung gerettet 26

Christoph Martin Wieland: Antworten und Gegenfragen auf die Zweifel und Anfragen eines vorgeblichen Weltbürgers, in: Ders.: SW IX, Bd. 28, S. 316.

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werden; solange sie ihre Schwärmerei auf sich selbst beschränken und keinerlei gesellschaftlichen Schaden anrichten, ist die Ausprägung ihrer nun einmal von Natur gegebenen Persönlichkeit unter Umständen höher zu bewerten als die Verfolgung der reinen Lehre der Aufklärung. Am wichtigsten jedoch ist das Gespräch mit ihnen, das Wielands Werk deshalb in allen nur möglichen Formen prägt: zwischen Zweien und Mehreren, zwischen Männern und Frauen, zwischen Idealisten und Materialisten, zwischen Schwärmern und Nicht-Schwärmern. Es ist auch die äußere Form vieler seiner Essays zur französischen Revolution (z. B. in den „Göttergesprächen“), in denen gegensätzliche politische Positionen dargestellt und eben nicht vermittelt werden: Jeder darf bei seiner Meinung bleiben, muss sie aber hinreichend erläutern können. Wieland verfolgt auch hier ein sokratisches Aufklärungs-Prinzip, die exakte Begriffsklärung nämlich als erste Voraussetzung eines gelingenden Dialogs: „Alles kommt zuförderst darauf an, daß wir uns recht verstehen, d.i. bey den Worten, die wir gebrauchen, einerley denken, und die Frage in ihre einfachsten Bestandtheile auflösen.“27 Das Ziel ist klares gegenseitiges Verständnis, nicht ideologische Überzeugungsarbeit. Wielands Romane beschäftigen sich jedoch nicht nur mit Schwärmern und anderen Sonderlingen; im Verlauf der Zeit immer wichtiger werdende Themen sind die Auseinandersetzung mit der Entwicklung der Menschheit insgesamt und die Frage nach den ihrem jeweiligen Zivilisationsstatus angepassten staatlichen Organisationsformen.28 Als einen Gegenpol zum Schwärmer entwickelt Wieland dabei die Idealfigur des Kosmopoliten, wie ihn die Antike exemplarisch hervorgebracht hat: Die Kosmopoliten führen den Nahmen der Weltbürger in der eigentlichsten und eminentesten Bedeutung. Denn sie betrachten alle Völker des Erdbodens als eben so viele Zweige einer einzigen Familie, und das Universum als einen Staat, worin sie mit unzähligen andern vernünftigen Wesen Bürger sind, um unter allgemeinen Naturgesetzen die Voll-

27

Christoph Martin Wieland: Freymüthige Gespräche über einige neueste Weltbegebenheiten, in: Ders.: SW V, Bd. 15, S. 278. 28 Vgl. dazu Susanne Wipperfürth: Wielands geschichtsphilosophische Reflexionen, Frankfurt a. M. [u. a.] 1995.

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kommenheiten des Ganzen zu befördern, indem jedes nach seiner besondern Art und Weise für seinen eigenen Wohlstand geschäftig ist.29 Wenn man einen Passus sucht, der die inhaltliche Essenz von Wielands Aufklärungsverständnis am stärksten konzentriert, hat man hier wohl einen ernsthaften Kandidaten: Er enthält sowohl das Bekenntnis zur menschlichen Natur als auch zur menschlichen Vernunft; er sieht den Menschen gleichzeitig als biologisches Mitglied einer durch das universale Prinzip der „natürlichen Verwandtschaft und Sympathie“30 verbundenen Familie als auch als soziales Wesen − und das als „Bürger“ in einem Staat, in dem „so vollkommene Gleichheit, als mit ihrer individuellen Verschiedenheit nur immer bestehen kann“31, verwirklicht ist. Die Sache hat nur einen Haken: Kosmopolit wird man nämlich, so Wieland ganz explizit, nur durch Geburt, durch „substanzielle Form und innere Anlage“32, nicht durch Aufnahme wie etwa in einen Geheimbund (das Geheimnis der Kosmopoliten, so der eigentliche Witz des Textes, ist nämlich gar keines). Die Kosmopoliten als Speerspitze der Aufklärung werden deshalb immer eine Minderheit bilden; keine Aufklärung der Welt kann garantieren, dass alle Menschen Kosmopoliten werden.

Grenzen der Aufklärung: Diversität und Dialektik Damit ist gleichzeitig auch eine Grenze der spezifisch Wielandschen Aufklärung benannt; sie ist der Preis für die strenge Herleitung des Individualitätsgrundsatzes aus der (biologischen) Natur, den nur wenige aufklärerische Autoren zu zahlen bereit sind. Völlige Gleichheit gilt nur vor dem Gesetz, diesen Grundsatz würde Wieland mit seinem Leben verteidigen; im Leben jedoch kann sie nur approximativ erreicht werden. Es ist aber gar nicht nötig, dass alle Menschen gleich sind, es ist nicht einmal wünschenswert; das zeigen gerade Wielands späte Romane mit ihrer Fülle an 29

Christoph Martin Wieland: Das Geheimniß des Kosmopoliten-Ordens, in: Ders.: SW X, Bd. 30, S. 167f. 30 Ebd., S. 174. 31 Ebd., S. 172. 32 Ebd., S. 163.

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unterschiedlichen Individuen besonders eindrucksvoll. Der Briefroman „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen“ führt die Diversität schon im Titel; er erweitert die Dialogizität zur Vielstimmigkeit. Höchst unterschiedliche Korrespondenzpartner wechseln Briefe, in denen es um die Kunst, die Liebe, die Philosophie, die Politik und das Leben an sich geht. Einige von ihnen scheitern – darunter so hinreißende Gestalten wie Lais, das frühe Ideal einer vollständig emanzipierten Frau; einige von ihnen werden der Lächerlichkeit preisgegeben wie der platonische Schwärmer Speusipp, ein alter Bekannter aus Wielands Jugendzeiten; einige entwickeln sich weiter, wie die Titelfigur Aristipp. Ebenso vielseitig werden die Vorteile und Nachteile unterschiedlicher Staatsformen oder Kunsttheorien diskutiert: Das Ziel ist nicht, die ein für alle Mal „beste“ Lösung zu finden, sondern die den jeweiligen konkreten Umständen optimal angepasste. Die Spätaufklärung zeigt hier ihr relativistisches und fortschrittsskeptisches Profil in reinster Ausprägung, aber dafür in ihrer ästhetisch anspruchsvollsten Gestalt. Auch die Beschäftigung des alternden Wieland mit der Religion führt in Grenzbereiche aufklärerischen Denkens. Der Roman „Agathodämon“ (1796–1797) behandelt noch einmal Grundfragen der späten Aufklärung, die gleichzeitig Wieland’sche Lebensthemen sind – die Neigung der Menschen zum Wunderbaren und zum Aberglauben, die Entstehung religiöser Sekten und Schwärmer; er enthält darüber hinaus das Modell einer pantheistischen Allreligion als fortgeschrittenste Religionsform, sozusagen für die religiösen Kosmopoliten. Denn ganz ohne Religion ist der Mensch für Wieland letztlich nicht denkbar; für ihn unantastbare Glaubenswahrheiten sind und bleiben das ewige Daseyn eines obersten Grundwesens von unbegrenzter Macht, von welchem das ganze Weltall nach unveränderlichen Gesetzen mit Weisheit und Güte regiert wird – und die Fortdauer unsers eignen Grundwesens, mit Bewußtseyn unsrer Persönlichkeit und ewigem Fortschritt zu einer vollkommenern Art von Existenz.33

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Christoph Martin Wieland: Gedanken über den freyen Gebrauch der Vernunft in Gegenständen des Glaubens, in: Ders.: SW IX, Bd. 29, S. 26.

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Im Vertrauen auf eine sinnvolle Weltordnung und auf ein persönliches Weiterleben nach dem Tod findet die Aufklärung bei Wieland die letzte Grenze: Hier kann keine noch so hell strahlende Erleuchtung mehr weiterhelfen, da es hier keine sichtbaren Dinge mehr gibt – jedenfalls nicht auf derjenigen Entwicklungsstufe, die der natürliche Mensch einnimmt, und dieser ist das Maß aller Dinge für Wieland. Ja, es ist sogar möglich, dass allzu große Aufklärung wiederum in Verfinsterung umschlägt. Das Argument hat unter dem Namen „Dialektik der Aufklärung“ Karriere im 20. Jahrhundert gemacht, wird jedoch schon von einer der Wielandschen Figuren vorgetragen – gesprächsweise, versteht sich. Semiramis argumentiert im 12. „Göttergespräch“: „Was die Aufklärung betrifft, so gilt, däucht mich, auch von ihr, wenn man sagt, daß entgegen gesetzte Dinge mit ihren äußersten Punkten ineinander fließen.“34 Ihre Gesprächspartnerin Aspasia hält dagegen: „Das sicherste Mittel, die Wirkungen der furchtbaren und in gewissem Sinne unermeßlichen Energie des menschlichen Geistes unschädlich zu machen, ist, wenn man ihr freyen Spielraum läßt.“35 In genau dieser Dialektik bewegt sich Aufklärung bei Wieland: im ständigen Bewusstsein ihrer Vorzüge wie ihrer Gefahren, die in jedem Einzelfall aufs Neue von jedem Einzelnen zu jeder Zeit gegeneinander abgewogen werden müssen.

34 35

Ebd.: „Göttergespräche“; SW VIII, Bd. 25, S. 241. Ebd., S. 252.

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1. Einleitung, Begriffserklärungen, Forschungsstand Wie bei allen Strömungen der deutschen und europäischen Aufklärung wirft die präzise Begriffsbestimmung der ‚jüdischen Aufklärung‘ oder (nach der hebräischen Bezeichnung) der Haskala eine ganze Reihe von Fragen auf, die in der Forschung eher zu Debatten als zu einheitlichen Antworten führten.1 Wie bei der Aufklärung insgesamt, geht es zwar auch hier um die Herausbildung und Verbreitung fortschrittlicher Ideen (wie Kritik, Freiheit, Toleranz usw.), doch müssten diese bereits in ihrer spezifischen Ausprägung erfasst und philosophiegeschichtlich kontextualisiert werden. Gerade die Verbreitung solcher Ideen verweist darüber hinaus auf die komplexen sozialgeschichtlichen Bedingungen, welche sie ermöglichten und förderten.2 Ist die Frage nach dem Verhältnis zur Religion bereits für die französischen, britischen und deutschen Ausprägungen der Aufklärung von großer Bedeutung, um nationale Unterschiede zu verdeutlichen3, aber auch um gemeinsame Stoßrichtungen hervortreten zu las1 Vgl. Shmuel Feiner: Towards a Historical Definition of the Haskalah, in: New Perspectives on the Haskalah, hg. von dems. und David Sorkin, London 2001, S. 184–219. 2 Zu den sozialen Rahmenbedingungen: Steven M. Lowenstein: The Berlin Jewish Community – Enlightenment, Family and Crisis, 1770–1830, Oxford 1994. 3 Für die Unterschiede sei daran erinnert, dass die Lumières fast durchgängig religionskritisch, ja oft gar religionsfeindlich waren, wohingegen die deutsche Aufklärung von einer Schicht getragen wurde, die aus dem Protestantismus stammte, ihm oft noch nahe stand und diese Form des Christentums eher von innen erneuern wollte, statt sie von außen abzulehnen – ohne hier auf die Besonderheiten des englischen Deismus eingehen zu können.

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sen4, dürfte dieser Themenkomplex für die jüdische Aufklärung noch zentraler sein, denn ihr nie eindeutig bestimmtes Verhältnis zur rabbinischen Tradition des Judentums – um den beladenen Terminus der Orthodoxie zu vermeiden – steht in untrennbarem Zusammenhang mit den langfristigen und kontroversen Tendenzen der Modernisierung, der Pluralisierung und der Säkularisierung des Judentums.5 Wie bald deutlicher werden wird, gibt es in der Forschung zudem Debatten über die räumliche6 und besonders die zeitliche Verortung (Anfang, Ende, chronologischer Verlauf und inhaltliche Entwicklung) der jüdischen Aufklärung, ebenso darüber, wer zur Haskala gezählt werden darf, welches die Hauptvertreter bzw. die Randgestalten der Bewegung sind, usw. Es könnte so scheinen, als böten die historische Gestalt und die wirkungsmächtige Legende Mendelssohns einen einfachen Ausweg aus solchen Definitionsnöten, kann doch nicht daran gezweifelt werden, dass Moses Mendelssohn (1729–1786)7 im Zentrum der jüdischen Aufklärung stand. Der aus bescheidenen Verhältnissen in Dessau aufgestiegene, 1743 in Berlin angekommene, erst später sozusagen als zweiter Moses, als legendärer Begründer des modernen Judentums gefeierte Mendelssohn hatte es in den letzten Jahrzehnten seines Lebens nicht nur zu einer gutbürgerlichen Existenz gebracht8, sondern auch dazu, dass er von Juden wie Christen weithin geachtet wurde. Schon 1763, als Gewinner (vor Kant) der Preisfrage der Berliner Akademie der Wissenschaften9, dann als Autor des 4

Trotz aller regionalen Besonderheiten gibt es doch erhebliche Übereinstimmungen im Kampf gegen religiösen Dogmatismus und Fanatismus oder, positiv formuliert, für Religionsfreiheit und die Rechte Andersgläubiger. 5 Christoph Schulte: Die jüdische Aufklärung: Philosophie, Religion, Geschichte, München 2002, S. 20; vgl. Feiner [Anm. 1], S. 185. 6 Es geht dabei um Fragenbereiche wie: Ein (Berliner) Epizentrum? Mehrere Zentren? Ein europäisches Netzwerk? 7 Vgl. Alexander Altmann: Moses Mendelssohn – a biographical study, London 1973; Julius H. Schoeps: Moses Mendelssohn, 2. Auflage, Frankfurt a. M. 1989; Dominique Bourel: Moses Mendelssohn – Begründer des modernen Judentums, Zürich 2007; Shmuel Feiner: Moses Mendelssohn. Ein jüdischer Denker in der Zeit der Aufklärung, Göttingen 2009. 8 Zunächst als Buchhalter, später als Geschäftsführer und Teilhaber des Seidenhändlers und Fabrikanten Isaak Bernhard. 9 Moses Mendelssohn: Abhandlung über die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften [. . .] Nebst noch einer Abhandlung [von Kant: Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral], Berlin 1764.

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philosophischen Bestsellers „Phaedon oder über die Unsterblichkeit der Seele“ (1767)10 hatte er es zu weitem Ruhm gebracht. Gerade für den deutschen Kontext besiegelte die 1754 einsetzende, dann lebenslange Freundschaft mit Lessing diesen Ruhm.11 Schon bald nach ihrer ersten Begegnung verhalf ihm Lessing zur Publikation seiner „Philosophischen Gespräche“12, und die Tatsache, dass Mendelssohn Lessings „Nathan der Weise“ (1779) sozusagen als Prototyp diente13, verwandelte ihn endgültig in eine Ikone, den Inbegriff der jüdischen Aufklärung. Das berühmte Gemälde von Oppenheim (1800–1882)14, „Lessing und Lavater zu Gast bei Mendelssohn“, erst 1856 entstanden, die Konstellation also nachträglich rekonstruierend, ist der perfekte Ausdruck dieser mythenbildenden Überzeichnung.15 So verlockend eine personenorientierte Darstellung der jüdischen Aufklärung am Beispiel von Mendelssohn auch wäre, ergeben sich aus der neueren Forschung wichtige Gründe gegen diese Option. Die Fixierung auf Mendelssohn könnte dazu führen, dass die zahlreichen innerjüdischen Debatten um die Haskala vernachlässigt und die eigentliche Konstellation anachronistisch verzerrt würde, obwohl er, gelinde ausgedrückt, in bestimmten orthodoxen Kreisen keineswegs unumstritten war.16 Noch wich10

Moses Mendelssohn: Phaedon oder über die Unsterblichkeit der Seele: in drey Gesprächen, Berlin 1767. 11 Sechs Jahre nach Lessings Tod (1781) wird Mendelssohn noch über ihn sagen, „wird er doch für mich nie tod seyn“. (Die Psalmen [übers. von Mendelssohn], Frankfurt 1787, S. VI.) Zu dieser Freundschaft: Vera Forester: Lessing und Moses Mendelssohn: Geschichte einer Freundschaft, Darmstadt 2010; vgl. die Biographien zu Mendelssohn [Anm. 7] und die Standardwerke von Hugh Barr Nisbet: Lessing – eine Biographie, München 2008 und Monika Fick: Lessing-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, 3. Auflage, Stuttgart/Weimar 2010. 12 Moses Mendelssohn: Philosophische Gespräche, Berlin 1755. 13 Auch Recha, die in Lessings Stück als Nathans Tochter erzogen wurde, besaß ein Vorbild in Mendelssohns zweiter Tochter Recha/Reikel (ca. 1766–1831). 14 Vgl. Moritz Daniel Oppenheim – Die Entdeckung des jüdischen Selbstbewußtseins in der Kunst [anläßlich der gleichnamigen Ausstellung im Jüdisches Museum, Frankfurt/Main, 1999–2000], hg. von Georg Heuberger [u. a.], Köln 1999. 15 Vgl. Norbert Waszek: Moses Mendelssohn und die Haskala in zwei innerjüdischen Rückblicken des 19. Jahrhunderts: Moritz Daniel Oppenheim und Heinrich Heine, in: Kunst – Religion – Politik, hg. von Alain P. Olivier [u. a.] [im Erscheinen]. 16 Diese orthodoxe Kritik – durch die Rabbiner Ezekiel Landau (1713–1793), Raphael Cohen (1722–1803) und Pinchas Horowitz (1731–1805); vgl. die Ausführungen

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tiger ist es, die Vorstellung zu korrigieren, dass Mendelssohn die jüdische Aufklärung als „Einzelkämpfer“ durchgesetzt habe. In Wahrheit konnte die Haskala als Aufklärungsbewegung nur die Leistung einer ganzen Trägerschicht, einer Gruppe von Maskilim (wie sich selbst nannten; s. u.) sein – und so wird nachvollziehbar, dass sich die neuere Forschung verstärkt um die Vorgänger, Weggefährten und Nachfolger Mendelssohns kümmert. Dass Saul Ascher (1767–1822), Lazarus Bendavid (1762–1832), Isaac Euchel (1756–1804), David Friedländer (1750–1834), Markus Herz (1747–1803) und Salomon Maimon (1754–1800), um nur einige zu nennen, die jüdische Aufklärung nicht nur mitgetragen haben, sondern oft auch ein eigenständiges Profil aufwiesen, ist dann bald deutlich geworden. Ein paar Bemerkungen zur Terminologie und zum Forschungsstand mögen diese Einleitung abschliessen. Als terminis technicus für die jüdische Aufklärung ist die Bezeichnung Haskala erst im Rückblick auf die Bewegung üblich geworden – dieser spezifische Gebrauch des Wortes scheint erst 1831 zu erfolgen17 –, wohingegen Mendelssohn Haskala nur in einem unpräziseren Sinn, nämlich als Synonym für ‚Philosophie‘ zu benutzen scheint. Allerdings muss hinzugefügt werden, dass das hebräische Wort Haskala im unspezifischen Sinne – etymologisch geht es auf das Substantiv Sechel (= Vernunft oder Einsicht) zurück – schon viel älter war, denn es findet sich bereits in einem Kommentar (Midrasch) zum Buche der Genesis aus dem 5. Jahrhundert.18 Die Vertreter der jüdischen Aufklärung benutzten als Selbstbezeichnung lieber Maskilim (Plural von Maskil, was ursprünglich ein ‚Gelehrter‘ bedeutete; doch gewann der Terminus noch zu Mendelssohns Lebzeiten die spezifischere Bedeutung von ‚aufgeklärter Mann‘ oder ‚Anhänger der Aufklärung‘).19 Gab es seit seinem Tod zahlreiche Publikationen zu Mendelssohns Leben und Werk20, blieb die Haskala als ganze eher ein vernachlässigter bei Bourel [Anm. 7], S. 475ff. – richtete sich u. a. gegen Mendelssohns Bibelübersetzungen [siehe Anm. 48]. 17 In einem Aufsatz von Juda Loeb Jeiteles (1773–1838) in der hebräischen Zeitschrift „Bikkurej HaIttim“; vgl. Schulte [Anm. 5], S. 17. 18 Ebd., S. 17 und 223. 19 Ebd., S. 223. Schulte nennt als Beleg den Beitrag von Euchel zu der 1783 in Königsberg erschienenen Publikation „Nachal HaBesor“ (= Strom der guten Nachricht) (ebd.); ausführlicher zu Euchel jetzt: Isaac Euchel. Der Kulturrevolutionär der jüdischen Aufklärung, hg. von Marion Aptroot [u. a.], Hannover 2010. 20 Vgl. die umfangreichen bibliographischen Angaben bei Bourel [Anm. 7].

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Zweig der Forschung und was durch zwölf Jahre Hitlerregime gewaltsam unterbrochen worden war, kam in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten nur mühsam wieder in Gange. Erst ab den späten 1960er Jahren erschienen wieder wichtige Studien, zunächst von Michael Meyer, dann von Alexander Altmann und schließlich (schon zu Beginn der 1980er Jahre) ein Tagungsband von Norbert Hinske.21 In den 1990er Jahren gewann die Forschung zwar schon an Momentum22, doch hat sie sich erst in den letzten Jahren erheblich erweitert, verdichtet und ausgefächert. Darunter verdienen die Bände von Schulte und Feiner und die umfangreiche Studie von Dominique Bourel eine besondere Erwähnung.23

2. Zum Beginn der jüdischen Aufklärung Lange war es selbstverständlich, dass Mendelssohns Wirken in Berlin nicht nur den Anfang der Haskala, sondern auch deren eigentliches Zentrum markiert. Demgegenüber versucht neuerdings Feiner, Euchel als „wahren Gründer der Haskalabewegung“ durchzusetzen, „auch um den Preis einer

Michael A. Meyer: The Origins of the Modern Jew, Detroit 1967 – deutsche Übers.: Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz: jüdische Identität in Deutschland (1749–1824), München 1994; Altmann [Anm. 7]; Ich handle mit Vernunft . . . Moses Mendelssohn und die europäische Aufklärung, hg. von Norbert Hinske, Hamburg 1981. 22 Aufklärung und Haskala in jüdischer und nichtjüdischer Sicht, hg. von Karlfried Gründer [u. a.], Heidelberg 1990; Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit, hg. von Michael Albrecht [u. a.], Tübingen 1994; Ismar Schorsch: From text to context: the turn to history in modern Judaism, Hanover 1994; Michael Graetz: Jüdische Aufklärung, in: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, 4. Bde., hg. im Auftrag des Leo-Back-Instituts von Michael A. Meyer, München 1996f., Bd. 1: Tradition und Aufklärung, hg. von Mordechai Breuer [u. a.], München 1996, S. 249–358. 23 Schulte [Anm. 5]; Feiner veröffentlichte: Haskala – Jüdische Aufklärung. Geschichte einer kulturellen Revolution, übers. von Anne Birkenhauer, Hildesheim 2007 und gab mit David Sorkin den in Anm. 1 genannten Band heraus; Bourel [Anm. 7]. Zuletzt erschienen: Gerhard Lauer: Die Rückseite der Haskala: Geschichte einer kleinen Aufklärung, Göttingen 2008, sowie die Tagungsbände: Haskala et Aufklärung – Philosophes juives des Lumières allemandes, hg. von Stefanie Buchenau, Paris 2009 und Aptroot [u. a.] (Hg.) [Anm. 19]. 21

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gewissen Verminderung der Stellung Mendelssohns“24, weil letzterer nur als „theoretischer Schriftsteller“ gewirkt und die praktischen Konsequenzen seiner Texte noch zu ziehen geblieben wären; auch sei er „kein Lehrer“ gewesen – und hätte so nicht das Schulhaupt einer ganzen Bewegung werden können.25 Neben diesen kritischen Bemerkungen zu Mendelssohn stellt Feiner dann die konstruktiven Leistungen Euchels heraus, worunter die Gründung der Zeitschrift HaMe’assef (= Der Sammler) im Jahre 1783 zu Königsberg zuerst genannt werden muss. Tatsächlich handelt es sich dabei nicht nur um das früheste Publikationsorgan der Haskala, sondern auch um die erste moderne Zeitschrift in hebräischer Sprache – ein entscheidender Schritt zur Schaffung von Institutionen, aber auch auf dem Weg der Erneuerung des Hebräischen von einer Sakralsprache zur Wissenschaftssprache.26 Im Zusammenhang mit der Gründung dieser Zeitschrift, die Euchel leitete, stand auch die Schaffung einer Gesellschaft von Maskilim, welche die Zeitschrift tragen und ihr als Resonanzboden dienen sollte. So sei es Euchel gelungen, ein weites Netzwerk von jüdischen Aufklärern zu schaffen, welches Feiner als erstes „jüdisches Kommunikationsnetz“27 der Moderne feiert. So wichtig solche Errungenschaften sicher sind, kann die beabsichtigte Umkehrung der Rangordnung Mendelssohn-Euchel nicht ganz überzeugen, denn entscheidende Zeugnisse der Epoche, wie dasjenige von Bendavid28, sprechen dagegen. Nach dessen Rückblick des Jahres 179329 begann die Haskala als Aufklärungsbewegung um 1770 damit, dass Mendelssohn eine Gruppe von jungen Juden, darunter ihn selbst, um sich versammelte und mit ihnen, autodidaktisch (also unabhängig von universitären oder anderen Bildungseinrichtungen) wie jenseits der beruflichen Tätigkeit, de 24

Shmuel Feiner: Isaak Euchel und die jüdische Kulturrevolution im 18. Jahrhundert, in: Aptroot [u. a.] (Hg.) [Anm. 19], S. 13–27, hier S. 21 und 16. 25 Ebd., S. 19. 26 Ebd., S. 22f. Vgl. Andreas Kennecke: HaMe’assef. Die erste moderne Zeitschrift der Juden in Deutschland, in: Das achtzehnte Jahrhundert 23, 1999, S. 176–199. 27 Ebd., S. 23. 28 Über ihn: Dominique Bourel: A l’origine du kantisme juif: Lazarus Bendavid, in: La Philosophie allemande et les juifs, hg. von Gérard Bensussan, Paris 1997, S. 67–79. 29 Lazarus Bendavid: Etwas zur Charackteristick der Juden [Leipzig 1793]. Nachdruck mit hebräischer Übersetzung, einer Einleitung von Michael Graetz und einer Bibliographie von Dominique Bourel, Jerusalem 1994.

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facto also abends und nachts, „Weltweisheit“, d. h. nichtreligiöse Philosophie und Wissenschaften studierte, statt Talmud zu „lernen“. Aber nicht nur für Bendavid war Mendelssohn der entscheidende „Lehrer“ der Haskala gewesen, sondern gerade auch dessen erste Biographie, von Euchel selbst30, stellt den Berliner Moses durchgängig – angefangen vom Titel „rabbenu hechacham“ (= unseres weisen Lehrers) – „als Haupt- und Gründerfigur der Haskala“ dar.31 Auch wenn es also weiterhin sinnvoll erscheint, die Haskala damit beginnen zu lassen, dass Mendelssohn mit jüngeren Juden „Weltweisheit“ studierte, woraus dann eine ganze Bewegung entstand, sollten seine Vorgänger und Wegbereiter nicht vergessen werden. Hat es sich sonst in der Forschung durchgesetzt, von Frühaufklärung zu sprechen, warum nicht auch bei der Haskala?32 Selbst wenn dies noch keine Aufklärungsbewegung ergibt, hatte es früher immer wieder einzelne jüdische Gelehrte gegeben, die sich in den Wissenschaften auszeichneten. In diesen Rahmen gehören etwa Raphael Levi (1685–1779) und Aaron Gumpertz (1723–1769), welche durchaus als Vertreter der jüdischen Frühaufklärung zu betrachten sind. Der in Hannover wirkende Mathematiker und Astronom Levi, zeitweise Sekretär von Leibniz, war schon für Schwarzschild der Prototyp des jüdischen Frühaufklärers. Neuere Forschungen belegen, dass sich Levi nicht nur selbst nicht-religiöse Disziplinen und Fachgebiete eroberte, sondern diese auch an andere vermittelte, die später eine wichtige Rolle spielen sollten.33 Gad Freundenthal hat in ähnlicher Weise die Rolle des Berli30

Euchels Biographie erschien bald nach Mendelssohns Tod in hebräischer Sprache: Toldot Rabbenu Hechacham Mosche ben Menachem, Berlin 1788. Eine deutsche Übersetzung (von Reuven Michael) dieses wichtigen Dokuments erschien erst im Rahmen von Mendelssohns Gesammelten Schriften. Jubiläumsausgabe, begonnen von Ismar Elbogen, fortgesetzt von Alexander Altmann, Stuttgart-Bad Cannstatt 1971ff., Bd. 23: Die frühen Mendelssohn-Biographien (mit Isaak Euchels Mendelssohn-Biographie), Stuttgart 1998, S. 102–263. 31 Christoph Schulte: Euchel und Mendelssohn, anhand einer hebräischen Biographie, in: Aptroot [u. a.] (Hg.) [Anm. 19], S. 239–260, hier S. 245. 32 Schon Steven Schwarzschild sprach mehrfach von jüdischer Frühaufklärung, z. B. in seinem Aufsatz: Raphaël Levi de Hanovre [1685–1779] et la Frühaufklärung juive, in: Dix-Huitième Siècle 13, 1981, S. 27–36. 33 Rotraud Ries: Autobiographische Konstruktion und soziale Kontexte: Euchel und die Spuren der Haskala in Hannover, in: Aptroot [u. a.] (Hg.) [Anm. 19], S. 51–92, hier S. 62–64.

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ner Arztes und Wissenschaftlers Gumpertz hervorgehoben und ihn als jüdischen Frühaufklärer eingestuft, nicht zuletzt, weil er den jungen Mendelssohn förderte und ihn mit Lessing bekannt machte.34 Bei den eigentlichen Maskilim tritt ihr Selbstverständnis als „weltliche“ Gelehrte dann aber stärker hervor und ihr aufklärerischer Impetus, die weltlichen Wissensstoffe an alle Juden, ja an alle Menschen weiterzugeben, statt sie nur in einem engen Kreis zu pflegen.

3. Die geographische Lokalisierung der jüdischen Aufklärung und deren soziale Bedingungen Ob der Beginn der Haskala letztlich in Mendelssohns Berlin oder in Friedländers und Euchels Königsberg zu suchen ist – es kann jedenfalls sowohl ideen- als auch sozialgeschichtlich kein Zufall sein, dass sich die jüdische Aufklärung zunächst in preußischen Städten (auch an Breslau wäre zu erinnern) entfaltete. Wie die Aufklärung in anderen Gegenden Europas war auch die Haskala vorzugsweise eine urbane Erscheinung. Es waren die Städte, die den Maskilim die Gelegenheit boten, einerseits durch einen täglichen Umgang miteinander eine Gruppe zu bilden, andererseits die Berufe auszuüben, die sie als Kaufleute oder Unternehmer, wie Mendelssohn und Friedländer, als Ärzte, wie Markus Herz, als Lehrer, wie Bendavid, usw. innehatten. Ideengeschichtlich bot Preußen einen günstigen Nährboden, denn Berlin war gleichzeitig ein Zentrum der deutschen Aufklärung mit Diskussionsrunden wie dem bereits 1749 gegründeten ‚Montagsclub‘35, dann der berühmten ‚Mittwochsgesellschaft‘36 um Friedrich Nicolai (1733–1811), an welcher Mendelssohn Anteil nahm, und die über so 34 Vgl. Gad Freudenthal: New Light on the Physician Aaron Salomon Gumpertz: Medicine, Science and Early Haskalah in Berlin, in: Zutot: Perspectives on Jewish Culture 3, 2003, S. 66–77. 35 Vgl. Kenneth Keeton: The Berliner Montagsklub, a centre of German Enlightenment, in: Germanic Review 39, 1961, S. 148–153. 36 Vgl. Günter Birtsch: Die Berliner Mittwochsgesellschaft, in: Über den Prozess der Aufklärung in Deutschland im 18. Jahrhundert: Personen, Institutionen und Medien, hg. von Hans Erich Bödeker [u. a.], Göttingen 1987, S. 94–112; Birgit Nehren: Aufklärung – Geheimhaltung – Publizität: Moses Mendelssohn und die Berliner Mittwochsgesellschaft, in: Albrecht [u. a.] (Hg.) [Anm. 22], S. 93–111.

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bedeutende Mitglieder verfügte wie Ernst Ferdinand Klein (1744–1810) und Karl Gottlieb Suarez (1746–1798), die Schöpfer des Preußischen Landrechts. Auch so bekannte aufklärerische Publikationsorgane wie die „Allgemeine Deutsche Bibliothek“ (1765–1806)37 oder die „Berlinische Monatsschrift“38 waren dort beheimatet. Viele dieser Stränge der Berliner Aufklärung überschnitten sich in der schon erwähnten Freundschaft Lessing-Mendelssohn. Königsberg war nicht nur die Stadt Kants, der, worauf noch einzugehen ist, die zweite Generation der Maskilim entscheidend beeinflussen sollte, und ein wichtiges Zentrum der Aufklärung, sondern auch eine Stadt des internationalen Handels und das Herz des jüdischen Lebens in Ostpreußen.39 Unter den sozialen Bedingungen, die noch dazu beitrugen, dass Preußen der Haskala ein günstiges Umfeld bot, ist die Lage der dortigen Juden in den 1760er und 70er Jahren genauer anzusehen. Das 1750 von Friedrich II. erlassene ‚General-Reglement‘40 dürfte den Lebensstandard der Juden zwar kaum gesteigert haben41, doch sollten sich die ökonomischen 37 Vgl. Carsten Zelle: Nicolais ‚Allgemeine deutsche Bibliothek‘ und ihre Bedeutung für das Kommunikationssystem der Spätaufklärung, in: Friedrich Nicolai (1733– 1811), hg. von Stefanie Stockhorst [u. a.], Berlin 2011, S. 29–51. 38 Berlinische Monatsschrift (1783–1796). Auswahl, hg. von Friedrich Gedike und Johann Erich Biester mit einer Studie von Peter Weber, Leipzig 1986. 39 Vgl.: Königsberg. Beiträge zu einem besonderen Kapitel der deutschen Geistesgeschichte, hg. von Joseph Kohnen, Frankfurt a. M. 1994; Jörg H. Fehrs: Königsberg: ein Zentrum der Aufklärung, in: Deutsch-jüdische Passagen. Europäische Stadtlandschaften von Berlin bis Prag, hg. von Julius H. Schoeps [u. a.], Hamburg 1996, S. 211–227; Steffen Dietzsch: Euchel, das jüdische Leben in Königsberg und die Königsberger Gelehrtenrepublik, in: Aptroot [u. a.] (Hg.) [Anm. 19], S. 93–104. 40 Dessen Text in: Ismar Freund: Die Emanzipation der Juden in Preußen unter besonderer Berücksichtigung des Gesetzes vom 11. März 1812. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte der Juden in Preußen, 2 Bde., Berlin 1912, Bd. 2, S. 22–60. 41 Auch wenn in der jüdischen Historiographie lange eine beschönigende Wertung dieser Verordnung dominierte – von Freund [Anm. 40] und Selma Stern (Der preußische Staat und die Juden, 8 Bde., Tübingen 1962–1975) bis Mordechai Breuer ([Anm. 22], S. 85–247). Kritischer äußerte sich schon Friedrich Battenberg (Das europäische Zeitalter der Juden, 2 Bde., Darmstadt 1990, Bd. 1, S. 65f.) und zuletzt ist ein recht hartes Urteil über Friedrichs Judenpolitik gesprochen worden: Tobias Schenk: Wegbereiter der Emanzipation? Studien zur Judenpolitik des „Aufgeklärten Absolutismus“ in Preußen (1763–1812), Berlin 2010.

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Rahmenbedingungen Preußens nach dem Siebenjährigen Krieg verbessern und es zumindest den oberen Schichten der dort lebenden Juden erlauben, an dem erweiterten Wohlstand teilzuhaben. Der gut erforschte soziale Aufstieg Mendelssohns42 lässt sich in diesen Aufschwung und die steigenden Lebensstandards einordnen: Wurde er schon 1754 Buchhalter einer Seidenfabrik, musste er doch warten, bis ihm seine finanzielle Lage 1762 die Heirat ermöglichte; schließlich erlaubte sein wachsendes Einkommen es ihm, seine zahlreichen Kinder nicht nur zu ernähren, sondern auch in dem bürgerlichen Haus auf der Spandauer Straße großzuziehen und dort Gäste zu bewirten. Mit der Aufklärung auch sonst einhergehende Veränderungen der Lesekultur, des Buchdrucks und -handels, der Publikationsstrukturen und des Verlagswesens lassen sich in Berlin ebenso gut beobachten wie in Leipzig, dem traditionellen Zentrum dieser Branche in Deutschland. Auf der Basis der verbesserten wirtschaftlichen Lage intensivierten sich auch die geselligen Kontakte unter Juden und Nichtjuden. Solche sozialen Transformationen gingen der Haskala voraus und ermöglichten dann ihre Entfaltung. Von ihren Anfängen in Preußen aus hat sich die Haskala bald in weiten Teilen Europas verbreitet43, auch wenn es sich dabei, besonders bei den späten russischen Entwicklungen, eher um ein Nachwirken als um diese selbst handelt. Die Frage nach der geographischen Ausdehnung der jüdischen Aufklärung berührt diejenigen nach der Entwicklung und dem Ende der Haskala, auf welche noch einzugehen ist (siehe Teil 5).

4. Aufklärungsstrategien am Beispiel Mendelssohns Mendelssohn gebührt ein hervorragender Platz innerhalb der deutschen Aufklärung, wie es seine enge und langjährige Zusammenarbeit mit Lessing und Nicolai augenfällig zeigt. Seine zahlreichen Beiträge zur Ästhetik 42 Neben den Angaben der in Anm. 7 genannten Biographien vgl. Brigitte Meier: Jüdische Seidenunternehmer und die soziale Ordnung zur Zeit Friedrichs II.: Moses Mendelssohn und Isaak Bernhard, Berlin 2007. 43 „[R]äumlich erstreckten sich ihre [der Haskala; N.W.] Zentren von London im Westen bis Wilna und Odessa im Osten, von Kopenhagen im Norden bis ins französischsprachige Nordafrika im Süden. Vor allem in Rußland existierte die Haskala [. . .] bis etwa 1890.“ (Schulte [Anm. 5], S. 14.)

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und Literaturkritik gehören in diesen Zusammenhang. Darüber hinaus ließe sich Mendelssohn in die popularphilosophischen Bemühungen der Spätaufklärung einreihen, wie sie sonst etwa um Christian Garve (1742– 1798) betrieben wurden.44 Auch zur weiteren europäischen Aufklärung gibt es viele Berührungspunkte: von den frühen Arbeiten über Pope und Rousseau45 am Anfang seines philosophischen Weges bis zum Spinozastreit mit Jacobi, der seinen Lebensabend überschattete.46 Diese gut erforschten Leistungen mögen größtenteils zum „nichtjüdischen Außendiskurs“ (zu dem, was Mendelssohn für das nichtjüdische Publikum schrieb) gehören, von dem die spezifischen Beiträge zur jüdischen Aufklärung, sozusagen zum „jüdischen Binnendiskurs“47, deutlich abzusetzen sind. In jüdischer Perspektive sind also weniger und andere Texte Mendelssohns entscheidend als diejenigen, die er zur deutschen Aufklärung beitrug, zuallererst seine Bibelübersetzungen48 und das Buch „Jerusalem“.49 Explizit rechtfertigt Mendelssohn seine Übertragungen des Pentateuchs und der Psalmen „zum Nutzen der Kinder“, damit sich diese bereits der Bibel nähern können, auch wenn ihre Hebräischkenntnisse noch fehlen.50 44 Vgl. Norbert Waszek: Übersetzungspraxis und Popularphilosophie am Beispiel Christian Garves, in: Das achtzehnte Jahrhundert 31, 2007, S. 42–64. 45 Moses Mendelssohn: Pope ein Metaphysiker!, Danzig 1755; Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung von dem Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, aus dem Französischen von Mendelssohn [Berlin 1756], neu hg. von Ursula Goldenbaum, Weimar 2000. 46 Moses Mendelssohn: An die Freunde Lessing’s. Ein Anhang zu Herrn Jacobi’s Briefwechsel über die Lehre des Spinoza, Berlin 1786; vgl. Ursula Goldenbaum: Mendelssohns schwierige Beziehung zu Spinoza, in: Spinoza im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts, hg. von Eva Schürmann [u. a.], Stuttgart 2002, S. 265–317. 47 Schulte [Anm. 5], S. 30. 48 Die fünf Bücher Mose [. . .] nach der Uebersetzung des Herrn Moses Mendelssohn, Berlin 1780; Die Psalmen, übersetzt von Moses Mendelssohn [Berlin 1783], 2. Auflage, Frankfurt und Leipzig 1787. 49 Moses Mendelssohn: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, Berlin 1783. 50 Mendelssohns Brief an Avigdor Levi, vom 25. Mai 1779, in: Mendelssohn [Anm. 30], Bd. 19: Briefwechsel, Stuttgart-Bad Cannstatt 1974, S. 251–253; Bd. 20.2: Briefwechsel (1761–1785) in deutscher Umschrift und in Übersetzung aus dem Hebräischen, Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 370–374; vgl. Britta L. Behm: Moses Mendelssohn und die Transformation der jüdischen Erziehung in Berlin – eine bildungsge-

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Implizit dürfte das Projekt aber auch von der Absicht getragen sein, die jüdischen Leser an die deutsche Sprache als Brücke zur Aufklärung zu führen.51 Vielleicht steckte darin sogar noch das polemische Interesse, den orthodoxen Rabbinern das Auslegungsmonopol der Thora zu entziehen. So wurde seine Absicht wenigstens von seinen Nachfolgern gedeutet. Euchel, der hier als Beispiel der Schülergeneration stehen mag, hebt jedenfalls hervor, dass sich Mendelssohns Übertragungen am wörtlichen Schriftsinn (Peschat) orientieren und so der philologisch fragwürdigen „Wortstreiterei und Wortklauberei“ entgegenträten, die mit den polnischen Jeschivot assoziiert werden.52 Mag Mendelssohns Schrift „Jerusalem“, mit ihren Ausführungen über das Verhältnis von Religion und Staat, von außen betrachtet eine Abhandlung der politischen Theorie sein, wurde sie im innerjüdischen Kontext anders gelesen. Aus orthodoxer Sicht musste anstößig wirken, dass darin das Judentum letztlich als eine natürliche Religion erscheint, die eigentlich keiner Offenbarung bedürfe, welche nicht auch der Vernunft zugänglich sei. Selbst die Offenbarung, die Moses am Berge Sinai erfuhr, sei letztlich nichts anderes als eine vernünftige Legislation (eine Überzeugung, mit welcher er dem von der Orthodoxie verbannten Spinoza ziemlich nahe kommt). Für Mendelssohn kommt der Religion in Gewissensfragen ebenso wenig ein Zwangsrecht zu wie dem Staate. So für die Gewissens- und Religionsfreiheit eintretend, musste er gegen die Legitimität religiöser Sanktionen und ganz besonders gegen den Bann (cherem = Ausschluss aus der Gemeinde) in der rabbinischen Tradition argumentieren. Neben den eigenständigen Projekten, wie seinen Bibelübersetzungen und seiner Schrift „Jerusalem“, bestand für Mendelssohn doch immer wieder die Notwendigkeit, sein Judentum im christlichen Umfeld zu verteidigen. Ein Paradebeispiel solcher Reaktionen ist Mendelssohns offener Brief an Lavater (1741–1801).53 Im Rahmen seiner Übersetzung von Charles de schichtliche Analyse zur jüdischen Aufklärung im 18. Jahrhundert, Münster 2002, S. 209 und Bourel [Anm. 7], S. 460f. 51 Vgl. Schulte [Anm. 5], S. 24 und Bourel [Anm. 7], S. 451. 52 Schulte [Anm. 31], S. 252 – dort auch die Belegstellen aus Euchels MendelssohnBiographie [Anm. 30]. 53 Moses Mendelssohn: Schreiben an den Herrn Diaconus Lavater zu Zürich [Berlin 1770], in: Ders.: Schriften über Religion und Aufklärung, hg. und eingeleitet von Martina Thom, Berlin 1989, S. 309–323.

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Bonnets philosophischer Untersuchung der Beweise für das Christentum54 hatte Lavater ihn aufgefordert, Bonnet öffentlich zu widerlegen oder, sollte er dies nicht können, daraus die Konsequenzen zu ziehen, sich also, so ist die Aufforderung zu verstehen, taufen zu lassen.55 Dass dieses Ansinnen Mendelssohn in ein Dilemma stürzte, ist leicht verständlich. Eine überzeugende Widerlegung hätte ihm den Ruf eines Atheisten zuziehen können, auf jeden Fall aber seinen Status als geduldeter Jude im christlichen Berlin kompromittiert. Wäre ihm die Widerlegung nicht gelungen, hätte er seinen Ruf als Philosoph verspielt und vielleicht sogar zum Christentum konvertieren müssen. Mendelssohn selbst zog sich, wie Lessings Nathan, diplomatisch aus der Schlinge: Zu einer nur geduldeten Minderheit gehörend, stünde es ihm nicht an, öffentlich die Gründe darzulegen, warum er der Religion seiner Väter treu bliebe – eine solche Darlegung würde das friedliche Zusammenleben verschiedener Konfessionen und den Status der Juden in Preußen gefährden und er müsse von daher auf eine solche verzichten. Sein ganzes Sendschreiben ist ein gelungenes Plädoyer gegen Religionsstreit und Fanatismus. Ein weiteres Beispiel ist seine Vorrede zu der von Herz übersetzten Verteidigungsschrift des sephardischen Gelehrten Menasse Ben Israel (1604–1657)56, denn diese bot Mendelssohn die Gelegenheit, einem Grundzug der deutschen Aufklärung folgend57, Vorurteile über die Juden zu beseitigen oder, positiv gewendet, für die ‚bürgerliche Verbesserung‘ oder gar die staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden einzutreten. In diese Richtung zielt auch eine der wichtigsten praktischen Initiativen der Maskilim, die Gründung und Betreibung von Schulen, in denen jüdi-

54 Charles Bonnet: Philosophische Palingenesie. Oder Gedanken über den vergangenen und künftigen Zustand lebender Wesen [. . .], 2 Theile, aus dem Französischen übersetzt von Johann Kaspar Lavater, Zürich 1769. 55 In Bourels Biographie [Anm. 7, S. 279–318] finden sich viele Einzelheiten zur „Lavater-Affäre“, dort ist auch (S. 289) der genaue Wortlaut der Aufforderung Lavaters nachzulesen. 56 Manasseh Ben Israel: Rettung der Juden. Aus dem Englishen übersetzt [von Markus Herz], mit einer Vorrede von Moses Mendelssohn, Berlin 1782. 57 Vgl. Werner Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie, Stuttgart 1983.

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schen Kindern weltliche Bildung vermittelt wurde.58 Die noch von Mendelssohn selbst unterstützte, 1778 in Berlin eröffnete Jüdische Freyschule wurde in dieser Hinsicht zu einer paradigmatischen, dann an vielen Orten imitierten Einrichtung.59

5. Inhaltliche Entwicklung der Haskala und ihr Ende Wenn sich über den Beginn der Haskala als Bewegung ein weitgehender Konsens feststellen lässt, sind ihre Dauer und ihr Ende schwieriger zu bestimmen, auch wenn es Stimmen gibt, nach welchen ihre große Zeit schon um 1800 vorüber gewesen sei.60 Machte die Französische Revolution, deren Errungenschaften Napoleon zumindest teilweise in Europa verbreitet hat, die Haskala überflüssig? Oder war es der preußische Versuch, über Reformen einzuholen, was in Frankreich durch die Revolution erreicht worden war (vgl. das ‚Emanzipations-Edikt‘ von 1812)? Konnte oder brauchte die Haskala danach nur noch in „rückständigen“ Gebieten, wie etwa in Russland, bis weit ins 19. Jahrhundert überleben? War es die Romantik und/oder der aufkeimende Nationalismus, welche der Haskala wie der Aufklärung den Todesstoß versetzten? Und wie entwickelte sich die Haskala in den Jahrzehnten nach dem Tod Mendelssohns? Ohne so vermessen zu sein, diese Fragen abschließend beantworten zu wollen, soll am Ende der Versuch stehen, eine Einteilung der inhaltlichen Entwicklung der Haskala in drei Generationen vorzuschlagen.61 Dabei wird an das Standardwerk über die Aufklärung von Peter Gay angeknüpft.62 58

Vgl. hierzu: Behm [Anm. 50] und: Jüdische Erziehung und aufklärerische Schulreform – Analysen zum späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, hg. von ders., Münster 2002. 59 Vgl. „Zu Mendelssohns Beteiligung an [. . .] der Freischule [. . .]“, in: Behm [Anm. 50], S. 204–210 und die Dokumentation: Chevrat Chinuch Nearim. Die jüdische Freischule in Berlin (1778–1825) im Umfeld preußischer Bildungspolitik und jüdischer Kultusreform, 2 Bde., hg. von Ingrid Lohmann, Münster [u. a.] 2001. 60 Feiner [Anm. 1], S. 215; vgl. Schulte [Anm. 5], S. 43f. 61 Dazu ausführlicher: Norbert Waszek: Heinrich Heine et „les trois générations“ de la Haskala, in: Buchenau (Hg.) [Anm. 23], S. 147–157. 62 Peter Gay: The Enlightenment: An Interpretation, Bd. I: The Rise of Modern Paganism [1966]; Bd. II: The Science of Freedom [1969]; zitiert nach der Ausgabe London 1973.

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Darin beschrieb er die europäische Aufklärung als eine große Familie: Wie in einer Familie hätte es darin unterschiedliche Persönlichkeiten und manchmal stürmische Auseinandersetzungen gegeben, aber sie wäre eben doch eine Familie mit vielen Gemeinsamkeiten geblieben. In seiner Familiengeschichte der europäischen Aufklärung unterschied Gay dann drei Generationen.63 Auf die Haskala angewandt, wäre Mendelssohn die Zentralgestalt der ersten Generation. Der fast 70 Jahre (also zwei Generationen) jüngeren Gruppe des jüdischen Berliner ‚Kulturvereins‘ um Leopold Zunz (geb. 1794), Eduard Gans und Heinrich Heine (beide 1797 geb.) konnte der Berliner Moses nur als der Gründer(groß)vater vorkommen, den sie entsprechend lobten, der ihnen aber doch weit zurück zu liegen schien. In einer Rede vor diesem Verein (vom Mai 1823) äußerte sich Gans jedenfalls ausdrücklich in diesem Sinne: Es ist bekannt [. . .] daß vor ungefähr fünfzig Jahren von Berlin aus über die deutschen Juden das Licht einer besseren Cultur aufging [. . .]. [A]n die Stelle einer vollkommen fremdartigen Bildung trat die Morgenröthe einer bessern Erziehung [. . .]. Dieser Bruch [. . .] ging vornehmlich von Mendelssohn aus.64 Gans unterschied schon klar zwischen Mendelssohn und „seinen Jüngern“, und wenn er die „Wirkung“ von dessen Lehre erläutert, zielt er auch auf die weiteren Verbreiter dieser Lehre ab. Er hebt die kritische, negative Seite „The Enlightenment, then, was the work of three overlapping, closely associated generations. The first of these, dominated by Montesquieu and the long-lived Voltaire, long set the tone for the other two; it grew up while the writings of Locke and Newton were still fresh and controversial, and did most of its great work before 1750. The second generation reached maturity in mid-century: Franklin was born in 1706, Buffon in 1707, Hume in 1711, Rousseau in 1712, Diderot in 1713, Condillac in 1714, Helvétius in 1715, and d’Alembert in 1717. It was these writers who fused the fashionable anticlericalism and scientific speculations of the first generation into a coherent modern view of the world. The third generation, the generation of Holbach and Beccaria, of Lessing and Jefferson, of Wieland, Kant, and Turgot, was close enough to the second, and to the survivors of the first, to be applauded, encouraged, and irritated by both.“ (Ebd., Bd. I, S. 17.) 64 Eduard Gans (1797–1839): Hegelianer – Jude – Europäer, hg. von Norbert Waszek, Frankfurt a. M. 1991, S. 80. 63

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der ersten Etappe hervor, als reine Negation der früheren Zustände. Mag eine solche als erster Schritt notwendig sein, erschien es ihm unzureichend, in der bloßen Negation zu verharren.65 Tatsächlich kann kaum bezweifelt werden, dass die Generation der geistigen Söhne Mendelssohns, diejenige von Herz, Friedländer, Euchel, Bendavid und Ascher, die Leere einer „negativen Aufklärung“ mit Ideen und Inhalten von Kant zu füllen suchte.66 Anders ausgedrückt wollte die zweite Generation der Haskala auf Kants kritischer Revolution aufbauen, wohingegen Mendelssohn noch explizit an Leibniz und Wolff anknüpft.67 Kein geringerer als Heine, der Friedländer, Bendavid und Ascher noch persönlich kannte, markierte deren Kantianismus auf seine eigene, unnachahmliche Weise. Der „hochbejahrte“ Bendavid (damals gerade 60 Jahre alt!) erschien ihm als „pflichtgehärtet wie der Marmor des kategorischen Imperativs seines Meisters Immanuel Kant. [Er] war Zeit seines Lebens der eifrigste Anhänger der kantschen Philosophie“.68 Nicht nur am Beispiel dieses „eingefleischten Kantianers“, sondern auch an demjenigen von Ascher führt Heine die mittlere Generation der Haskala und deren Abhängigkeit von Kant plastisch vor Augen: [I]ch disputirte [. . .] oft mit dem Doctor Saul Ascher, wenn wir zu Berlin, im Café-Royal, wo ich lange Zeit meinen Mittagstisch hatte, zufällig zusammen trafen. [. . .] Während ich gut aß und gut trank, demonstrirte er mir fortwährend die Vorzüge der Vernunft. [. . .] [u]nd immer schloß er damit: ‚Die Vernunft ist das höchste Prinzip!‘ – Vernunft! Wenn ich jetzt dieses Wort höre, so sehe ich noch immer den Doctor Saul Ascher mit seinen abstrakten Beinen, mit seinem engen, transcendentalgrauen Leibrock [. . .].69 65

Ebd., S. 80f. Zum Kantianismus der zweiten Generation vgl. den Überblick von Schulte [Anm. 5], S. 157–171 und die speziellen Studien von Bourel [Anm. 28] und Stefanie Buchenau: ‚Der Grund zu allen liegt in Ihnen‘. Le kantisme de Markus Herz, in: Buchenau (Hg.) [Anm. 23], S. 53–67. 67 Vgl. Schulte [Anm. 31], S. 254. 68 Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke [Düsseldorfer Ausgabe], hg. von Manfred Windfuhr, Hamburg 1975ff., Bd. 14.1: Text. Apparat 43.– 58. Artikel, Hamburg 1990, S. 268. 69 Ebd., Bd. 6: Briefe aus Berlin, Hamburg 1973, S. 102f. 66

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Mit „Vernunft – Vernunft“ spielt Heine auf die beiden ersten Kritiken von Kant an, die „Kritik der reinen Vernunft“ (1781) und die „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788), und auch der „transcendentalgraue Leibrock“ ist wohl eine eindeutige Bezugnahme, wird Kants Philosophie doch auch „Transzendentalphilosophie“ genannt. Den orthodoxen Kritikern, die auch bei den leiblichen Kindern Mendelssohns gern stirnrunzelnd nachzählen, wie viele zum Christentum konvertiert seien, schien die Generation der Kantianer der Gefahr erlegen zu sein, die Substanz der jüdischen Religion zu Gunsten der Vernunft aufgegeben zu haben, selbst wenn ihr „Vater“ Mendelssohn streng orthodox gelebt hätte. Viele jüdische Denker des 19. Jahrhunderts, nicht zuletzt der große Hermann Cohen (1842– 1918), Zentralgestalt des Marburger Neukantianismus, betonten dagegen immer wieder die Affinität, ja geistige Verwandtschaft von Judentum und Kantianismus. Ohne diesem Thema hier weiter nachzugehen, sei doch darauf hingewiesen, dass der Zeitzeuge Heine die Glaubenstreue des „eifrigsten Anhängers der kantschen Philosophie“, Bendavids, keineswegs in Zweifel zog: [F]ür diese [die Philosophie Kants; N.W.] litt er in seiner Jugend die größten Verfolgungen, und dennoch wollte er sich nie trennen von der alten Gemeinde des mosaischen Bekenntnisses, er wollte nie die äußere Glaubenskokarde ändern. Schon der Schein einer solchen Verläugnung [sic!] erfüllte ihn mit Widerwillen und Ekel.70 Heine bestand allerdings auch darauf, dass die folgende Generation, seine eigene, die Berufung auf Kant durch diejenige auf Hegel ersetzt habe: Lazarus Bendavid war [. . .] ein eingefleischter Kantianer, und ich habe damit auch die Schranken seines Geistes angedeutet. Wenn wir von hegelscher Philosophie sprachen, schüttelte er sein kahles Haupt und sagte, das sey Aberglaube.71 Nach Heine hätte unter Mendelssohns Nachfolgern also so etwas wie ein doppelter Paradigmenwechsel stattgefunden: Bei aller Verehrung für ihn 70 71

Ebd., Bd. 14.1 [Anm. 68], S. 268. Ebd.

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hätte bereits die folgende Generation die Philosophie Kants in das Programm einer jüdischen Aufklärung einbezogen, bevor sich seine Generation anstelle von Kant entschlossen Hegel zugewandt hätte. So gelangte schon Heine zu einer Einteilung in drei Generationen: Die vor-kantische Aufklärung Mendelssohns; eine von Bendavid verkörperte, von Kant beherrschte Etappe; schließlich seine eigene, von Hegel geprägte Generation, die der jüdische „Oberhegelianer“72 Gans repräsentiert. Abgesehen davon, ob sich Mendelssohn in solchen Perspektiven wiedererkannt hätte (wenn er ein biblisches Alter erreicht und mit Heine über Hegel hätte diskutieren können), wären heute nur wenige Forscher bereit, eine Definition der Haskala zu akzeptieren, die bis ins Berlin der 1820er Jahre reicht. Zudem müsste berücksichtigt werden, dass sich Hegel über die deutsche Aufklärung (im Unterschied zu Enlightenment und Lumières, den britischen und französischen Vorbildern) in seinen Vorlesungen kritisch geäußert hat.73 Wie konnte Heine die Mitglieder des Kulturvereins also gleichzeitig als Hegelianer und als Erben Mendelssohns ansehen, auch wenn er bestrebt war, eine Kontinuitätslinie von Mendelssohn zu seiner eigenen, von Hegel inspirierten Generation zu ziehen? Obwohl weil Heine vielen der unmittelbar Beteiligten nahe stand und seine Informationen aus erster Hand bezog, enthält seine seine Sichtweise Widersprüche und wirft damit Fragen auf – doch wäre diesen nachzugehen ein anderes Thema.

72

Der Ausdruck stammt von Heine selbst; vgl. seinen Brief an K. A. Varnhagen von Ense (24. 11. 1826), in: Heinrich Heine: Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse [Säkularausgabe], hg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen Deutschen Literatur in Weimar und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris, später hg. von der Stiftung Weimarer Klassik, Berlin 1970ff., Bd. 2: Briefe 1815–1831 (Kommentar), hg. von Fritz H. Eisner, 2. Auflage, Berlin 1976, S. 273. 73 Kommt Mendelssohn selbst dabei zwar vergleichsweise gar nicht so schlecht weg, behandelt ihn Hegel doch im Kontext der deutschen Aufklärung und diese wird als schlechte Nachahmung der ausländischen Vorbilder negativ bewertet. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bde. [Theoriewerkausgabe]. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu editierte Ausgabe [Red.: Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel], Bd. 20: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Frankfurt a. M. 1986, S. 308ff.

Georg Forster – die Aufklärung und die Fremde Stefan Greif

Als Georg Forsters „Reise um die Welt“ 1778 und 1780 in zwei Bänden erscheint, macht sie den jungen Naturwissenschaftler schlagartig berühmt. Ausdrücklich lobt Wieland das „Werk der reichsten und glänzendsten Einbildungskraft“, gratuliert „unsere[m] neuen Argonauten“ zu seinem „aufgeklärte[n] Geist“ und empfiehlt das „Gedicht“ jedem „Landthier“ als „Quelle“ von „herzerhöhendem Selbstgefühl“.1 An dieser Würdigung des ‚Weltbürgers‘ hat sich bis heute wenig geändert. Noch immer wird Forster als Naturhistoriker, Anthropologe und Übersetzer geschätzt, der im Umgang mit fremden Kulturen das aufgeklärte „Ideal des Aufeinander-Zugehens“ mustergültig verkörpert.2 Schwieriger gestaltete sich die Beschäftigung mit dem Politiker und Jakobiner. Dass sich Forster gleich nach der Eroberung von Mainz mit General Custin über die Eingliederung des geistlichen Kurfürstentums in das revolutionäre Frankreich verständigt, handelt ihm Unverständnis und offene Feindschaft ein. So schreibt Wilhelm von Humboldt in einem Brief an Schiller, er könne es „Forster nicht verzeihen, daß er in dem jetzigen Zeitpunkt auf einmal ganz öffentlich zur französischen Partei übergegangen ist“.3 Kulminieren diese Anklagen im Verdacht, Forster sei „dem Kurfürsten“ als ehemaligem Gönner „untreu“ geworden, so präfiguriert Humboldt das Bild des 1 Christoph Martin Wieland: Auszüge aus Jakob Forsters Reise um die Welt, in: C. M. Wielands sämmtliche Werke, Bd. 29, Leipzig 1840, S. 353 –399, hier S. 355ff. 2 Hans-Jürgen Lüsebrink: Faszination und Wissensdurst. Zu den Grenzen und Möglichkeiten interkulturellen (Miss-)Verstehens in den Werken Georg Forsters und seiner Zeitgenossen, in: Georg-Forster-Studien XII, 2007, S. 77–97, hier S. 85. 3 Zit. nach Wolfdietrich Schmied-Kowarzik: Georg Forster, Kassel 1988, S. 43 (Kasseler Universitätsreden 6 [Sonderdruck]).

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‚Landesverräters‘, der das ‚Bollwerk Deutschlands‘ den Franzosen überlassen haben soll.4 Unschwer verrät sich hinter solchen Urteilen eine polarisierende Logik, die nicht frei bleibt von weltanschaulichen Vorbehalten. Und es ist genau diese Generierung von Erkenntnis, mit der sich Forster zeitlebens kritisch auseinandersetzt und die seinen Standort im Zeitalter des Lichts bestimmt. Als Kind in England aufgewachsen, steht er der schottischen Aufklärung nahe, die eine Kultur nicht allein an der Rationalität ihres Erkennntnishorizonts misst, sondern, eingedenk der eigenen politischen Unfreiheit, soziale Wohlfahrt von intellektueller und staatlicher Autarkie abhängig macht. Adam Fergusons Leitgedanke, Menschen, „welche die Freyheit gekostet, und ihre persönlichen Rechte gefühlt haben“, akzeptierten „nicht leicht die Eingriffe in eines von beyden“5, ist mitzulesen, wenn sich Forster bereits in der „Reise um die Welt“ von der kontinentaleuropäischen „Tyrannei der Vernunft“6 abgrenzt und seine Vorbehalte mit den Ferguson entlehnten Worten begründet, jedes universalistische Denken tendiere zum „Fanatismus“; außerdem zerreiße es die „Verhältnisse“ einer „Cultur“, um ihr ein „Ideal“ zu oktroyieren, das zwar „Gleichheit“ postuliert, gleichzeitig aber auch „alle Laster und alle Tugenden der höchsten Verfeinerung besitzt“ (AA V, 373). Wie im Folgenden zu zeigen ist, distanziert sich Forster ebenso entschieden von Rousseaus ‚edlem Wilden‘, der zivilisierte Kulturen an ihren unverdorbenen Naturzustand erinnern soll. Da sich jede „physische[] Existenz“ nach Forster nur auf dem Wege der Kultivation ihr Überleben sichert, ist ihm nicht einsichtig, warum eine vermeintlich noch unentwickelte Kultur, „gegen die complicirtere unseres gesitteten Welttheils gehalten, entscheidende Vorzüge haben soll“ (ebd.). Solche Ungereimtheiten werden abgelehnt, weil es sich um koloniale Vereinnahmungen einer exotisierten Fremde handelt. Forster deutet sie aber 4 Ebd. Zur soldatischen Metaphorik vgl. Ludwig Falck: Die Festung Mainz. Das Bollwerk Deutschlands – „Le boulevard de la France“, Eltville 1991. 5 Adam Ferguson: Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Leipzig 1768, S. 408. 6 Georg Forster: Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hg. von der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin [früher hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin], Berlin 1958ff. [fortan im Text zitiert unter der Sigle ‚AA‘+Band- und Seitenzahl], Bd. 17: Briefe 1792 bis 1794 und Nachträge, Berlin 1989, S. 345.

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auch als Sehnsucht, welche fahrlässig die geoklimatisch bedingte Diversität aller Kulturen ignoriert. Energisch lehnt Forster schließlich auch die Subjektfeindlichkeit der Aufklärung ab. So heißt es in Anlehnung an Herders Bestimmung des Menschen, Individualität zeichne sich durch ein ästhetisches Sichgewahrwerden aus. Zum Subjekt avanciere der Einzelne aber erst, wenn er an Kultur zu handeln beginnt. Statt sich folglich nur als deren Objekt zu verstehen, besinnt er sich auf eine ‚Welthaftigkeit‘, die es sinnlich und geistig auszugestalten gilt. Andernfalls verharre das Subjekt im Reproduzieren lokaler Stereotype und Sinndeutungsmuster. Wie radikal bereits Herder diesen Subjektbegriff gegen den Rationalismus verteidigt, lässt sich seiner 1769 niedergeschriebenen Studie „Zum Sinn des Gefühls“ entnehmen. Gegen Descartes’ Gleichsetzung von Ich und Denken heißt es dort: „Ich fühle mich! Ich bin! [. . .]: ich bin ein Gott in meiner Welt.“7 Forster übernimmt diese sensualistische Grundannahme als Kulturindex einer Gegenwart, an dem sich auch das Beharren auf logisch deduzierten Moral- und Vernunftvorschriften messen lassen muss.8 Um solch einer drohenden Immobilität im Geistigen gegenzusteuern, führt er bereits in der „Reise um die Welt“ einen Erzähler ein, der seinen Lesern kein gesichertes Wissen mehr über fremde Kulturen vermittelt. Nimmt er dennoch den Standpunkt des unbeirrbaren Rationalisten ein, der Alterität als unentwickelt charakterisiert, so überführt sich seine diskursive Logik auf einer fremdheitsästhetischen Metaebene der Reisebeschreibung als westliches Vormachtsstreben. Dass Forster in der „Reise um die Welt“ somit Aufklärung der Aufklärung betreibt, befreit den Leser von der Annahme, es sei der Autor persönlich, der hier aus naturkundlicher oder ethnographischer Perspektive berichtet. Über diese selbstverschuldete Borniertheit äußert sich Forster am umfassendsten in einer seiner Revolutionsschriften. Angesichts der Straßenkämpfe in Paris und endloser Parteidebatten im Jakobinerclub

7 Johann Gottfried Herder: Zum Sinn des Gefühls, in: Ders: Werke, hg. von Günter Arnold [u. a.], Frankfurt a. M. 1985ff., Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787, hg. von Jürgen Brummack und Martin Bollacher, Frankfurt a. M. 1994, S. 233–242, hier S. 236f. 8 Vgl. dazu Stefan Greif: Das Diskontinuierliche als Kontinuum. Aufklärung und Aufklärungskritik im Werk Georg Forsters, in: Georg-Forster-Studien XV, 2010, S. 70–95.

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notiert er 1793 in „Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit“, seitdem sich die Aufklärung als Machtdiskurs etabliert habe, müsse sie eine Unterdrückung subjektiver und kultureller Mannigfaltigkeit verantworten: Vorschriften und Formeln zum Auswendiglernen [. . .], widersinnige Vorstellungen von Belohnung und Strafe, Unterdrückung der Vernunft durch den seliggepriesenen Glauben an Unsinn [. . .]. Diese Werkzeuge der künstlichen Unwissenheit trugen die Erzieher des Menschheitsgeschlechts zusammen; ihrer bedienten sie sich, um, wo möglich, allen Menschen einerlei Oberfläche und Glätte zu geben, da doch das Naturgesetz [. . .] keine andere Bildung als jene gestattet, die in jedem einzelnen Menschen von innen heraus, nach Maßgabe seiner eigenthümlichen Kräfte geschieht. [. . .] Wie lange wird man den Regenten und Lehrern noch wiederholen müssen: was den Menschen tugendhaft und glücklich macht, kann keine Regierung und keine Erziehung ihm geben; es ist in ihm [. . .]. (AA X, 575f.)

1. Reiseleben Geboren wird Georg Forster am 27. November 1754 in Nassenhuben, einer kleinen Ortschaft in der Nähe von Danzig. Hier ist der Vater als Pfarrer tätig, seine eigentliche Leidenschaft gilt jedoch dem Studium verschiedener naturwissenschaftlicher Fächer. Wie Johann Reinhold Forster in mehreren Briefen berichtet, fällt sein Sohn früh schon durch verschiedene Begabungen auf. Unter anderem hilft er beim Botanisieren, mit zehn Jahren beginnt er dann mit dem Übersetzen von Reiseberichten. Als der Vater seine Pfarre am 05. März 1765 verlässt, um an einer russischen Inspektionsreise zu den deutschen Siedlungsgebieten an der Wolga teilzunehmen, begleitet ihn der noch nicht Elfjährige für die nächsten Monate. Über die Gründe, die Vater und Sohn dann bewegen, im August 1766 nach England aufzubrechen, ist wenig bekannt. Gesichert ist nur, dass Johann Reinhold der Royal Society noch im gleichen Jahr einen Bericht über die Wolgaexpedition vorlegt und der dreizehnjährige Georg in dieser Wissenschaftsakademie mit seiner Übersetzung von Michail W. Lomonossows russischer Geschichte (1760) reüssiert.

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Dass Johann Reinhold und Georg Forster an James Cooks zweiter Expedition teilnehmen, verdankt sich einem gesellschaftlichen Eklat. Nachdem die britische Admiralität Cook im Sommer 1771 mit den Vorbereitungen zu einer weiteren Weltumseglung beauftragt hatte, meldete der leidenschaftliche Naturaliensammler Sir Joseph Banks sein Interesse an, Cook ein weiteres Mal zu begleiten. Auf die Zustimmung seitens der Admiralität durfte Banks schon deshalb hoffen, weil er bereits die Ergebnisse von Cooks erster Forschungsfahrt in der Oberschicht erfolgreich popularisiert hatte. Zu Differenzen kommt es jedoch, als sich Cook aus nautischen und organisatorischen Gründen für englische Kohleschiffe entscheidet, die Banks unter seiner Würde findet. Umgehend finanziert er den Neuaufbau des Oberdecks für sein Forschungsteam. Als die Resolution jedoch während einer ersten Probefahrt zu kentern droht und Cook die baulichen Veränderungen wieder entfernen lässt, zieht Banks sich im Mai 1772 von allen weiteren Reiseplanungen zurück. Wenige Wochen später stellt die Admiralität Johann Reinhold Forster als naturwissenschaftlichen Begleiter der Weltumseglung und Georg als seinen Zeichner ein. Begleitet von ihrem Schwesterschiff Adventure, verlässt die Resolution am 13. Juli den Hafen von Plymouth. Ihr Ziel ist die Terra australis, der noch immer sagenumwobene Südkontinent. Im Verlauf der Reise legen die beiden Forsters den Grundstein für ihren späteren akademischen Ruhm. So entdecken und klassifizieren sie mehrere hundert Pflanzen und Tiere, von denen noch heute die meisten den von Johann Reinhold und Georg vorgeschlagenen wissenschaftlichen Namen tragen. Auch die mehreren tausend Exponate, darunter insbesondere die Ethnographica aus der Südsee, etablieren Vater und Sohn nach der Rückkehr im Juli 1775 wieder rasch im europäischen Gelehrtennetzwerk. Als Georg im Sommer 1778 seine Professur in Kassel antritt, endet freilich die langjährige Arbeitsgemeinschaft mit dem Vater, und bei allem Ansehen, das Forster weiterhin genießt, folgen nun Jahre, die ihn immer wieder an seinem Lebensweg irre gehen lassen. Zwar hat es Forster nicht weit nach Göttingen, wo inzwischen auch Georg Christoph Lichtenberg lehrt, den er in England zuvor bereits mehrfach getroffen hatte. Rasch freundet er sich zudem mit Christoph Gottlob Heyne an, einem renommierten Altertumsforscher, den Forster in zahlreichen Briefen als Vater anspricht. Mit Samuel Thomas Soemmering lernt er in Kassel einen der führenden Anatomen kennen, mit dem zusammen in den nächsten Jahren zahlreiche

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wissenschaftliche Experimente durchgeführt werden. Eher belastend gestaltet sich dagegen die Mitgliedschaft in der Freimaurerloge, später bei den Illuminaten. Unter den Selbstzweifeln, die Forster alsbald quälen, leidet auch die Liebe zu Heynes Tochter Therese, die Forster 1785 heiratet. Berufliches und ein familiär dauerhaftes Glück findet Forster auch nicht in Wilna, wo er von 1784 bis 1787 lehrt. Erst die Aussicht, eine vierjährige russische Forschungsreise in den Pazifik zu leiten, reißt Forster aus einer oft depressiven Stimmung. Der im August 1787 ausbrechende russischtürkische Krieg vereitelt seine Hoffnungen jedoch. Als Forster im April 1788 die hochdotierte Arbeit als erster Bibliothekar der Mainzer Universitätsbibliothek aufnimmt, verschärft sich seine Auseinandersetzung mit prominenten Vertretern der deutschen Aufklärung. Hatte er bereits 1786 die Rassentheorie Immanuel Kants zu widerlegen versucht, so schaltet er sich von Mainz aus nun auch in den politischen Widerstand gegen die kirchliche Orthodoxie und den Rationalismuskult der Berliner Aufklärer ein. Beiden wirft er ‚Proselytenmacherei‘ vor, mit der man das ‚Selbstgefühl‘ und die Freiheit des Einzelnen missachte. Unterstützt wird Forster von Wilhelm von Humboldt, der ihn mehrfach in Mainz besucht. Mit ihm und dem jüngeren Bruder Alexander von Humboldt geht es im Frühjahr 1790 auf eine Reise an den Niederrhein, in deren Verlauf man auch die belgischen Provinzen besucht, um die Auswirkungen der Französischen Revolution zu begutachten. Dem am 23. Oktober 1792, also zwei Tage nach dem Einmarsch der französischen Armee, in Mainz gegründeten Jakobinerclub tritt Forster nicht sofort bei. Erst als ihn die agitatorische Stimmung beunruhigt, die hier in den nächsten Wochen provoziert wird, bittet er am 04. November 1792 um die Aufnahme in die Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit. In seiner Ansprache „Über das Verhältnis der Mainzer gegen die Franken“ entwickelt Forster die politischen Perspektiven der ersten bürgerlich-demokratischen Republik auf deutschem Boden. Gemeinsam mit zwei weiteren Deputierten des Mainzer Nationalkonvents reist er schließlich Ende März 1793 nach Paris, um dort die Eingliederung der Mainzer Republik in den französischen Staat zu beantragen. Aufgrund heftiger Dispute zwischen Montagnards und Girondisten zögern sich die Verhandlungen allerdings hinaus. Am 14. Januar 1794 stirbt Georg Forster in einem Pariser Hotelzimmer, vermutlich an den Folgen einer Lungenentzündung. Angesichts der Massenhinrichtungen und eskalierenden Gewalt

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vergleicht er in seinem letzten Werk, den „Parisischen Umrissen“ (1793), die revolutionären Ereignisse mit einem Naturereignis, dessen Verlauf man weder eindämmen noch erklären könne. Seinem fingierten Briefpartner gibt Forster allerdings zu bedenken, sobald man „das Volk“ mit „Vernunft und Wille“ begabe, höre der „Patriotismus“ endgültig auf, „Tugend zu seyn“ (ebd., 598).

2. Die Aufklärung als das Weltfremde Forsters „Reise um die Welt“ ist kein Bericht im genrespezifischen Sinne. Nach Auskunft der Vorrede handelt es sich vielmehr um eine „fließende Erzählung“, die mit dem „Vergnügen über Werke der Litteratur“ konkurrieren will (AA II, 14). Bevor diese fiktionalisierten Fremdbegegnungen eingehender untersucht werden, scheint es sinnvoll, in einem ersten Schritt Forsters Kulturbegriff und Anthropologie am Beispiel einiger Aufsätze darzulegen, in denen das Verhältnis von Aufklärung und Moderne konkretisiert wird. Ihr impliziter Adressat ist Immanuel Kant, der am Ausgang des 18. Jahrhunderts noch einmal die optimistischen Forderungen der Vernunftphilosophie zusammenfasst: Der Mensch ist durch seine Vernunft bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaft zu cultiviren, zu civilisiren und zu moralisiren, wie groß auch sein thierischer Hang sein mag, sich den Anreizen der Gemächlichkeit und des Wohllebens, die er Glückseligkeit nennt, passiv zu überlassen, sondern vielmehr thätig, im Kampf mit den Hindernissen, die ihm von der Rohigkeit seiner Natur anhängen, sich der Menschheit würdig zu machen.9 Mit diesen Ausführungen verwirft Kant die pragmatische Anthropologie, zu deren Gegenständen eigentlich die Natur des Menschen gehört. Begrün9

Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Kants Werke: Akademie-Textausgabe. Unveränderter photomechanischer Abdruck der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften, IX Bde., Berlin 1968, Bd. VII: Der Streit der Fakultäten, Berlin 1968, S. 117–334, hier S. 324f.

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det wird diese Zurückweisung mit der Unfreiheit, der alles Physiologische unterstellt sein soll. Da Forster diese Grundlegung der Wissenschaft vom Menschen als Diskreditierung des empirischen Daseins und kultureller Eigentümlichkeiten rezipiert, veröffentlicht er 1786 und 1788 zwei Abhandlungen, in denen er auf die Widersprüche aufmerksam macht, in die das Perfektibilitätsstreben den vom sinnlichen Genuss dispensierten Menschen verwickelt.10 Sein dynamisches und antiharmonistisches Geschichtskonzept wird erstmals ausführlicher im Essay „Cook, der Entdecker“ vorgestellt. Unter Berufung auf Fergusons Gesellschaftslehre akzeptiert Forster den „sichern Fortgang“ unserer „Gattung“ zur „Vollendung“ als historisches Movens (AA V, 192). Indem er Fergusons Begriff des ‚Wohlwollens‘ (benevolence) jedoch auf das Streben des Subjekts nach individueller Glückseligkeit überträgt, anerkennt Forster die Verwirklichung einer gesamtgesellschaftlichen „Vollkommenheit“ nicht mehr als Telos der Kulturgeschichte. Begründet wird diese Überlegung mit der niemals zu domestizierenden Natur des Menschen. Was ihn nämlich im wie auch immer gearteten Fortschritt weiterhin bestimme, sei der ewige Widerstreit zwischen Sinnen und Vernunft: In einer Welt, wo die größte Mannichfaltigkeit der Gestalten nur durch das Vermögen einander zu verdrängen, bewirkt wird, hieße es in der That die einzige Bedingung ihres Daseyns aufheben, wenn man diesen immerwährenden Krieg und diese anscheinende Unordnung abgestellt wissen wollte. (Ebd., 195) Was die Aufklärung als Zielpunkt der Geschichte ausweist, die Freiheit von sinnlichen Trieben zugunsten reiner Vernunftfreiheit, entlarvt Forster angesichts einer von Kontingenzerfahrungen geprägten Moderne mithin als weltfremd. Verlogen erscheinen ihm auch die Einwände verschiedener europäischer Reiseliteraten, die von der Überlegenheit der Weißen überzeugt bleiben, aber dennoch die Folgen der westlichen Kolonisierung beklagen. Um diesen Widerspruch aufzulösen, werden Cooks geographische und nautische Entdeckungen als eine dem Menschen innwohnende Neugier verteidigt, die als solche noch nicht die kulturellen Leistungen anderer 10

Vgl. zum Folgenden Ludwig Uhlig: Georg Forster. Lebensabenteuer eines gelehrten Weltbürgers (1754–1794), Göttingen 2004, S. 208–211 und 227–229.

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Völker in Frage stellt. Dass die Entdeckung fremder Kulturen durch die Europäer dennoch Konsequenzen für die indigenen Südseevölker mit sich bringt, dessen ist sich Forster bewusst. Unter ihnen jedoch „absolute Gleichheit“ (ebd., 280) unter westlicher Aufsicht herzustellen, erscheint ihm so absurd wie qualifizierende Urteile über Gesellschaften, deren „Gemüthsart“, „Sitten“ und „Regierungsform“ noch weitgehend unbekannt sind (ebd., 209). Wie radikal Forster in „Cook, der Entdecker“ die aufgeklärte Emanzipationsdoktrin entzaubert, veranschaulicht der Hinweis, ohne das Recht auf „subjective Vervollkommung“ (ebd., 200) bringe auch die Zukunft neben „Genien“ maßlose „Ungeheuer“ hervor (ebd., 197). Nicht minder desillusionistisch wird jede Form von Kultur auch in „Über Leckereyen“ als Zweckgemeinschaft charakterisiert, deren Mitglieder sich nur deshalb gemeinsam organisieren, um das ihnen jeweils zugebilligte Quantum an sinnlichen Genüssen sicherzustellen. Wie nachhaltig die Gier nach Gaumenfreuden den sogenannten Fortschritt motiviert, führt Forster den Europäern vor Augen, indem er daran erinnert, es würde „Negerhandel“ betrieben, „um ein paar Leckereyen, wie Zucker und Kaffee, genießen zu können“ (AA VIII, 174). Wie Forster wissenschaftskritisch ergänzt, verdankt sich nicht zuletzt die zeitgenössische Debatte über Rassen und Zivilisiertheit dem genusssichernden Bedürfnis, alle „unaufhörlichen partiellen Disharmonien“ (ebd., 167) der jüngeren Geschichte zu vergessen. Gleiches gelte für die kulturellen Errungenschaften wie das „Gedächtniß“ und die „Beurtheilungsgabe“ (ebd., 173). Beide werden nach Forster nur deshalb stetig verfeinert, um den Wohlgeschmack an süßen Früchten zu befriedigen. Kants Bestimmung des Menschen als Vernunftwesen im Blick, führt Forster schließlich auch die Ideale aufgeklärter Humanität auf gustatorische Interessen zurück: Es wäre kurz von der Sache zu kommen, wenn man geradezu sagen dürfte, die Natur habe auf Zunge und Gaum die zarten Nervenwärzchen in bestimmter Gestalt und beträchtlicher Menge zusammengedrängt, damit sie durch mannichfaltigen Reiz gekitzelt, das angenehme Gefühl einer behaglichen Existenz, in schnellen und auffallenden Veränderungen erneuern sollten. (Ebd., 164f.) Allenfalls in der satirischen Dichtung des ausgehenden 18. Jahrhunderts finden sich vergleichbare Infragestellungen der Vernunftlehre. Und es ist kein Zufall, dass sich Forster mit „Über Leckereyen“ an „das schöne Ge-

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schlecht“ wendet, weil es „die edle Kochkunst“ (ebd., 164) beherrscht und deshalb den Männern den visionären „Sprung ins weite Blaue“ überlassen musste (ebd., 169). Führt er seinen Leserinnen jedenfalls vor Augen, die Perfektibilität des Menschen erschöpfe sich in der „instinktmäßigen Begierde nach Vervielfältigung“ (ebd., 171), so persifliert Forster nicht nur die „Selbsterhaltung im Entbehren und Dulden“ (ebd., 169). Implizit hinterfragt er eine Geschichtsschreibung, die an den Fortschritt unter der Führung prominenter Männer glaubt, um sich über die Tatsache hinwegzutrösten, dass allein „Rostbeef“ oder „Plumpudding“ (ebd., 171) die „Begriffe des Nützlichen, Guten und Schönen“ hervorgebracht haben (ebd., 173). Inwieweit diese Kulturgeschichte aus der unterprivilegierten Perspektive dazu angetan ist, den Zusammenhang von Vernunfturteil, Erkenntnisinteresse und Ressentiment zu durchschauen, versucht Forster in der Auseinandersetzung mit Kant zu verdeutlichen. Ausgangspunkt dieses Streits ist dessen 1785 veröffentlichte Studie „Die Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace“. Ihr begegnet Forster 1786 in „Noch etwas über Menschenraßen“ mit dem Argument, die von Kant geforderte Bestimmung des Begriffs der ‚Rasse‘ fokussiere die Beschäftigung mit fremden Kulturen lediglich auf den eigenen Wahrnehmungshorizont. In der jüngeren Forschung ist diese Debatte zwischen ‚armchair philosopher‘ und Weltreisendem dahingehend entschieden worden, dass es Forster nicht gelungen sei, seine Beweisführung ohne Zuhilfenahme metaphysischer Spekulationen vorzubringen.11 Was aus Sicht einer reinen Vernunftlehre zutreffen mag, wird indes kaum dem Anliegen gerecht, jede Form von Erkenntnis, also auch alles Wissen über Fremde, als Ergebnis akademischer Sprachregelungen zu durchschauen. So besteht für Forster kein Zweifel, dass sich ein wissenschaftliches Urteil nicht der „Unpartheylichkeit“ des Forschers verdankt, sondern dem konsequenten Verschweigen aller subjektiven und politischen Beweggründe (ebd., 133). Indem sie beim Formulieren sogenannter Wahrheiten ausgeklammert werden, imaginiere sich eine Objektivität, die Vgl. Gideon Stiening: „[E]s gibt gar keine verschiedenen Arten von Menschen.“ Systematizität und historische Semantik am Beispiel der Kant-Forster-Kontroverse über den Begriff der Menschenrasse, in: Klopffechtereien – Missverständnisse – Widersprüche?, hg. von Rainer Godel und Gideon Stiening, München 2012, S. 19–54, hier S. 43. 11

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beispielsweise jede „Feindschaft und Zerstörungswuth“ im Umgang mit okkupierten Kulturen unerwähnt lässt (ebd., 154). Auf Kant übertragen, wird der Philosoph folglich daran erinnert, Büchern fragwürdigen Inhalts ein Wissen entnommen zu haben, das der Realität in den Kolonien in vielerlei Hinsicht widerspricht. Darüber hinaus muss sich Kant die Frage gefallen lassen, ob er seinen Beweis, der Schwarze stehe dem Tier nahe, sowohl ethisch als auch akademisch verantworten kann: [I]ndem wir die Neger als einen ursprünglich verschiedenen Stamm vom weissen Menschen trennen, zerschneiden wir nicht da den letzten Faden, durch welchen dieses gemishandelte Volk mit uns zusammenhieng, und vor europäischer Grausamkeit noch einigen Schutz und einige Gnade fand? (Ebd.)

3. Modi des Fremden Wie sehr Forster daran gelegen ist, die Folgen einer Aufklärung herauszuarbeiten, die Unrecht legitimiert und dafür im Alltag fremdenfeindliche Auswüchse in Kauf nimmt, erschließt sich aus dem Resümee des Aufsatzes über Menschenrassen. In ihm heißt es, in der Welt sei „vieles Unheil“ entstanden, „weil man von Definitionen ausgieng, worein man kein Mißtrauen setzte, folglich manches unwillkührlich in einem vornhinein bestimmten Lichte sah, und sich und andere täuschte!“ (ebd., 132f.) Dieses Schlüsselargument grundiert auch vier Kategorien der Fremdwahrnehmung, die Forster in der Vorrede zu den von ihm übersetzten Memoiren des Grafen Moritz August von Benyowsky (1790) entwickelt. Da Benyowsky seinerzeit im Ruf stand, sein Leben als Hochstapler zugebracht zu haben, weist Forster zunächst den Einwand, nur das literarisch „Wahre“ sei „nützlich“, mit dem Argument zurück, allenfalls die „mechanische Gelehrsamkeit“ könne solch einen „Gemeinplatz“ von der Dichtung einfordern. Um im Gegenzug den Beweis anzutreten, „Schöpfung“ entfalte sich „in Mannichfaltigkeit“, wird im Folgenden zwischen zwei zivilisatorischen und zwei ästhetischen Formen des Fremdwahrnehmens unterschieden (AA VII, 37). Mit ihrer Hilfe lassen sich die in der „Reise um die Welt“ vorgestellten Kulturkontakte als adaptive beziehungsweise selbstkritische Alteritätsentwürfe analysieren. Zu berücksichtigen bleibt dabei immer die fiktionale Wirklichkeitsgestaltung des ‚Berichts‘.

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Zu den zivilisatorischen „Modi des Fremderlebens“ gehört nach Forster das Fremde als Gegenbild.12 Im Zuge solcher Abwehrreaktionen werde „alles Größere für Ungeheuer“ und „alles Freyere für Gesetzlos“ erklärt (ebd., 32). Sobald das Fremde nämlich künstlerisch, sittlich oder intellektuell den Horizont der „eigene[n] Urtheilskraft“ (ebd.) übersteigt, schütze sich eine vermeintlich bedrohte Kultur durch den Rückzug auf regionale Identitätsmuster. Ein entsprechendes Beispiel liefert der Erzähler in den Tahiti-Kapiteln der „Reise um die Welt“. Als er angelegentlich an einem Haus vorbeikommt, „in welchem ein sehr fetter Mann ausgestreckt da lag, und in der nachlässigsten Stellung [. . .] faulenzte“, notiert er verständnislos: „Inmittelst setzte sich eine Frauensperson neben ihn und stopfte ihm von einem großen gebackenen Fische und von Brotfrüchten jedes Mal eine gute Hand voll ins Maul, welches er mit sehr gefräßigem Appetit verschlang.“ (AA II, 249) In dieser Szene verrät sich das eigene bürgerliche Arbeitsethos, vor allem aber das fehlende Wissen über die religiösen Zeremonien der Tahitier. Denn was das fiktionalisierte Alter Ego so angewidert wahrnimmt, ist die Speisung eines Priesters, dem es strenge Tabu-Vorschriften untersagen, sich durch das Berühren von Speisen zu verunreinigen. Ereifert sich der Erzähler anschließend noch über den Frondienst, den die Insulanerinnen an ihren verwöhnten Männern leisten müssen, so unterstreicht dies zweifellos sein Engagement für Geschlechtergleichheit. Beide Gegenbilder helfen ihm in der konkreten Situation allerdings nicht, die kulturkonstitutive Tragweite der rituellen Handlung zu erschließen. Vom Fremden als Gegenbild ist der zweite zivilisatorische Modus des Lehrhaften zu unterscheiden.13 Forster versteht darunter die Vervollständigung des Wissens über fremde Kulturen sowie die Korrektur „mangelhafte[r] Berichte“ (AA VII, 35). Mit einer solchermaßen vertieften „Bekanntschaft mit den verschiedenen Erzeugnissen der Erde“ (ebd., 36) konterkariert er die „schwärmerischste Theilnahme“ am Exotischen (ebd., 34f.). In der „Reise um die Welt“ figuriert dafür an prominenter Stelle die seinerzeit in Mode gekommene Südsee-Begeisterung. Wird Tahiti zu12 Zum Terminus vgl. Ortfried Schäffter: Modi des Fremderlebens. Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit, in: Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung, hg. von dems., Opladen 1991, S. 11–42. Schäffters Ausführungen ist auch der Modus des ‚Gegenbildes‘ entnommen, allerdings handelt es sich hier nicht um einen literaturhistorischen Ansatz. 13 Forster selbst spricht vom ‚Nützlichen‘.

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nächst als Land vorgestellt, in dem eine reiche Flora für die Gutmütigkeit und Schönheit der Bevölkerung sorgt, so korrespondieren diese Ausführungen noch den Lesererwartungen. Beschreibt der Erzähler später jedoch umfassend, mit welchen Waffen und Schiffen die Bewohner des ‚Paradieses‘ in den Krieg ziehen, lässt sich das Bild unschuldigen Glücks nicht länger aufrechterhalten. Selbst vor dem in der damaligen Reiseliteratur schlagendsten Beweis für die Wildheit einiger Völker schreckt er nicht zurück. Obwohl man keine Anzeichen für den Kannibalismus der Insulaner findet, mutmaßt der Erzähler über jene „Kinnladen“, die er an einigen Hausfronten entdeckt, es müsse sich um „Siegeszeichen“ verspeister Feinde handeln (AA III, 62f.). Die beiden ästhetischen Wahrnehmungsweisen des Fremden dienen nicht mehr der eigenen kulturellen Selbstvergewisserung oder dem Kenntniserwerb, vielmehr sollen sie die Urteilsbildung des Lesers respektive seine Distanzierung von Stereotypen anregen. Sie gehören also zu den distanzschaffenden Mitteln im Umgang mit eigenen Sinndeutungsmustern. Auf den ersten ästhetischen oder auch xenologischen Fremdheitsmodus werden die Leser bereits in der Vorrede zur „Reise um die Welt“ vorbereitet. Gemeint ist die Omai-Episode, die von einem aufgeweckten Tahitier erzählt, der mit nach Großbritannien gereist war, wo man ihn unter anderem „eine Dreh-Orgel“ oder „eine Elektrisir-Maschine“ schenkt (AA II, 16). Auf Omai machen diese Präsente allerdings wenig Eindruck. Im Gegenteil: Statt die technischen Erzeugnisse der Briten als „Bereicherung mit Ideen aller Art“ anzuerkennen, goutiert er sie als „Nebensache“ (AA VII, 37). Diese Episode macht bereits früh schon das ästhetische Konstruktionsprinzip der „Reise um die Welt“ transparent: Auf der einen Seite steht der Erzähler als wackerer Aufklärer, der zunächst noch an die Überzeugungskraft der Errungenschaften einer hochentwickelten Gesellschaft glaubt, auf der anderen Seite reagiert Omai mit frappierendem Desinteresse auf deren Vorzüge.14 Will er sich nun nicht in xenologische Widersprüche verwickeln, muss der Erzähler im Weiteren entweder die Hypothese bestätigen, der ‚Wilde‘ sei schlichtweg unbelehrbar, oder es ist jene Vermutung zu verifizieren, derzufolge sich die männlichen Bewohner Ta14

Vgl. zum Folgenden Stefan Greif: Die Kunst des Episodischen. Literatur und Wissensvermittlung im Werk Georg Forsters, in: Georg-Forster-Studien XVI, 2011, S. 203–251.

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hitis im Müßiggang gefallen und entsprechend gelangweilt auf alles reagieren, was sie an Arbeit oder Fortschritt erinnert.15 Da beide Schlussfolgerungen aber lediglich die beschränkte Perspektive auf das Fremde konfirmieren, wird Omai eine „lebhafte Einbildungskraft“ und das Interesse attestiert, nicht nur die „Manieren“ des „geselligen Lebens“ kennenzulernen: Zwar mag er wohl öfters gewünscht haben, von unserm Ackerbau, unsern Künsten und Manufacturen einige Kenntniß zu bekommen; allein es fand sich kein freundschaftlicher Mentor, der diesen Wunsch zu befriedigen [. . .] gesucht hätte. (AA II, 15f.) Enttäuscht von dieser Nachlässigkeit, düpiert Forster den Umgang seiner Landsleute mit dem Exotischen und hält ihnen vor, mit ihrer einseitigen Demonstration „unseres civilisirten Systems“ hätten sie Omai die Chance genommen, sich auf Tahiti „zum Wohltäter, vielleicht zum Gesetzgeber seines Volks“ aufzuschwingen (ebd.). Den Lesern der „Reise um die Welt“ bietet diese xenologische Kritik zwei Deutungsvarianten an: Um sich nicht unbedarft mit der Naivität aufgeklärter Fortschrittsgläubigkeit zu arrangieren, könnten sie zur Einsicht gelangen, Omai habe weitsichtig die Nutzlosigkeit seiner Reisemitbringsel für das Leben auf Tahiti bedacht. Gesteht man ihm freilich kulturelles Selbstbewusstsein zu, so wäre es dem Tahitier gelungen, das Fremde als anregende Erfahrung, nicht aber gleich als berechtigte Infragestellung seiner Traditionen anzuerkennen. Besonders ausführlich wird in der Vorrede zu den Memoiren Benyowskys der zweite ästhetische Fremdheitsmodus besprochen, der hier als der metakulturelle bezeichnet werden soll. Mit ihm verbinden sich für Forster zwei Ziele: Erstens wird mit seiner Hilfe die Fiktionalität alles Wissens über das Fremde durchschaubar. Gemessen am metakulturellen Modus, erweisen sich also auch die zivilisatorischen Fremdheitsbeobachtungen als literarische Beschreibungsmuster. Zweitens erlaubt der metakulturelle Modus eine dezentrierende Sichtweise auf eigene Denk- und Sinndeutungsmuster. Dazu gehören die „persönlichen Beziehungen auf die verschiedenen Gesellschaften und Völker“ (AA VII, 36) sowie die Einsicht, 15

Zu dieser relationalen Argumentationsfigur vgl. Yomb May: Georg Forsters literarische Weltreise. Dialektik der Kulturbegegnung in der Aufklärung, Tübingen 2011, S. 9f.

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„das abstracte Denken“ forciere die „Unterdrückung“ fremder Kulturen (ebd., 37 u. 42). Um diesen Anspruch in der „Reise um die Welt“ transparent zu machen, problematisiert der Erzähler verschiedentlich das Verhältnis von Beobachtung und Deutung. So wird er im April 1773 Zeuge eines merkwürdigen „Gezänks“, in dessen Verlauf ein Maori auf zwei Frauen einprügelt, vermutlich Frau und Tochter. Als die jüngere der beiden sich handgreiflich zur Wehr setzt, urteilen die umstehenden Offiziere und Matrosen, man habe „in Neu-Seeland sehr verworrne Begriffe von den Pflichten der Kinder“ (AA II, 149). Der Erzähler wertet die Szene indes nicht im Rückgriff auf das Stereotyp des unbeherrschten Wilden, sondern bemüht seinen Subjektbegriff. Ihm zufolge gehorche das gedemütigte Mädchen „in allen Stücken gerade zu der Stimme der Natur, die sich gegen jede Art von Unterdrückung empört“ (ebd.). Diese und verwandte Passagen sind in der gendertheoretischen Forschung der letzten Jahren so ausführlich diskutiert worden, dass hier nicht alle Aspekte in Forsters Wahrnehmung von Weiblichkeit und Fremdheit behandelt werden können.16 Beachtenswert scheint jedoch, dass der Erzähler in der „Reise um die Welt“ die aufgeklärte Geschlechtertypologie variiert und Frauen mit Soziabilität sowie einer natürlichen Menschenliebe identifiziert, Männer dagegen mit einem gesellschaftlich gefährlichen Vernunftdrill.17 Ihre Berechtigung erhält diese Lesart, wenn besagtes Mädchen wenig später noch einmal auftritt: [D]ie jüngste Frauensperson hingegen, die während unsrer Anwesenheit in einem fort und mit so geläufiger Zunge geplaudert hatte, als sich keiner von uns je gehört zu haben erinnern konnte, fieng nunmehro an zu tanzen, und fuhr fort eben so laut zu seyn als vorher. Unsre Seeleute erlaubten sich dieses Umstandes halber einige grobe Einfälle auf Kosten des weiblichen Geschlechts, wir aber fanden durch dieses Betragen die Bemerkung bestätigt, daß die Natur dem Manne nicht nur eine Gespielinn gegeben, seine Sorgen und Mühseligkeiten zu erleichtern, sondern 16 Exemplarisch: Carola Hilmes: Georg Forsters Wahrnehmung und Beschreibung der fremden Frauen auf Tahiti, in: Physis und Norm. Neue Perspektiven der Anthropologie im 18. Jahrhundert, hg. von Manfred Beetz, Jörn Garber und Heinz Thoma, Göttingen 2007, S. 139–155. 17 Vgl. dazu Hans Uerlings: „Ich bin von niedriger Rasse“. (Post-)Kolonialismus und Geschlechterdifferenz in der deutschen Literatur, Bonn 2006, S. 28ff.

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daß sie dieser auch, durchgehends, die Begierde eingepflanzt habe, vermittelst eines höhern Grads von Lebhaftigkeit und Gesprächigkeit zu gefallen. (Ebd., 134) Die Tatsache, dass diese Maori mit den Europäern kommuniziert, widerlegt im Zusammenspiel mit dem schlechten Gedächtnis der Schiffsbesatzung die aus Europa mitgebrachte Hypothese, auf Tahiti begegne man einer zivilisatorisch nahezu gleichwertigen Kultur, wohingegen auf den zuvor besuchten Inseln nur Wilde mit unterentwickelter Sprachfähigkeit anzutreffen seien. Offensichtlich haben sowohl die Seeleute als auch das wissenschaftliche Begleitpersonal diese erkenntnisleitende Wahrnehmungsperspektive in einem Maße internalisiert, dass es ihnen auf Neuseeland noch nicht möglich ist, die Gesprächsangebote des Mädchens mit seiner kulturellen Kompetenz in Beziehung zu setzen. Prompt vergessen sie alle auf der Reise bislang geführten Dialoge mit anderen Inselvölkern. Das Wissen um die Fremde verdankt sich insofern einer ‚begriffsgeleiteten‘ Erkenntnisbeschränkung und problematischen Gedächtnisleistung. Für Forsters Leser impliziert diese ‚kommunikative Dramaturgie‘ ethnographischer Feldarbeit, das Fremde im Weiteren als ästhetisches Konstrukt zu rezipieren, das nicht frei bleibt von widersprüchlichen Inszenierungen. Weist der Erzähler überdies den Vergleich der Maori mit dem aus der Komödie bekannten Typus der schwatzhaften Frau zurück, so bestätigen ihm die beiden Szenen mit der jungen Neuseeländerin darüber hinaus, dass es ‚wohlgefällige‘ Bestrebungen wie das Kommunizieren oder Schmücken sind, mit denen jede Kultur ihren Anfang nimmt. An ihnen gemessen, veranschaulicht der Vater des Mädchens, welche Folgen der Intellekt als kulturelles Movens mit sich bringen kann: „Mißtrauen, Bosheit und Rachsucht.“ (Ebd., 267) Männlichkeit avanciert in dieser Diktion zur gesellschaftlichen Bedrohung und verlangt nach einer „femininen Zähmung“.18 Abschließend sei noch eine weitere Möglichkeit metakulturellen Fremdverstehens angeführt. Hierzu gehören episodische Schilderungen, denen das Publikum entnehmen kann, warum „Lob“ oder „Tadel“ des Erzählers nicht frei „von National-Vorurtheilen“ bleiben (ebd., 14). Als ‚episodisch‘ soll hier ein Beschreibungsverfahren bezeichnet werden, das seine histori18

Christoph Kucklick: Das unmoralische Geschlecht. Zur Geburt der Negativen Andrologie, Frankfurt a. M. 2008, S. 16.

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sche und weltanschauliche Bedingtheit thematisiert. Insofern veranschaulichen die entsprechenden Passagen nachdrücklich, welche Schwierigkeiten sich einem aufgeklärten Beobachter fremder Kulturen in den Weg stellen. Sinnfälligstes Beispiel ist die berühmte Feuerland-Episode, in der sich zunächst die Annahme, es gebe kulturlose Völker, zu bestätigen scheint. Bezeichnenderweise gehört die Beschreibung der sogenannten ‚Pesserähs‘ zu den letzten Entdeckungszielen der Resolution, die sich anschließend auf die Rückreise begibt. Mit den gleichen Indianern hatte sich wenige Jahre zuvor Bougainville in seiner „Voyage autour du Monde“ beschäftigt und die Feuerländer als ein zwar bedauernswertes, aber keineswegs apathisches Volk charakterisiert. Ausführlich berichtet er über unterschiedliche Waffen, ihre Kleider und die Methoden der Nahrungsbeschaffung. Besonderes Augenmerk lenkt Bougainville auf die Heilrituale der Indianer und ihre Fähigkeit, mit Fremden Mitleid zu empfinden. Zu einem gänzlich gegenteiligen Eindruck kommt der Erzähler in der „Reise um die Welt“. Seinen Ausführungen zufolge gehen die Feuerländer trotz schneidender Kälte weitgehend nackt umher, ferner soll sich ihre Ernährung auf Muscheln beschränken, die sie mit Hilfe eines primitiven Hakens aus dem Meer fischen. Völlig entsetzt reagiert der Erzähler jedoch auf eine Sprache, die sich auf den ungeschickt artikulierten Ausruf „Pesseräh“ beschränken soll. In der Summe heißt es über diese scheinbar erbärmliche Kultur: Dem Thiere näher und mithin unglückseliger kann aber wohl kein Mensch seyn, als derjenige, dem es, bey der unangenehmsten körperlichen Empfindung von Kälte und Blöße, gleichwohl so sehr an Verstand und Überlegung fehlt, daß er kein Mittel zu ersinnen weiß, sich dagegen zu schützen? der unfähig ist, Begriffe mit einander zu verbinden, und seine eigne dürftige Lage mit dem glücklichern Zustande andrer zu vergleichen? (AA III, 383) Die Unterschiede zwischen Bougainvilles und Forsters Beschreibungen sind so auffällig, dass sich die jüngst aufgestellte These, in Reiseberichten des 18. Jahrhunderts werde die „Lernfähigkeit und Lernwilligkeit aller Beteiligten“19 vorausgesetzt, zumindest für Forster nicht bestätigen lässt. 19

Jürgen Osterhammel: Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, 2. Auflage, Göttingen 2003, S. 242.

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Gleiches gilt für die Annahme, die reisenden Europäer hätten jede „vorübergehende[] Verständnistrübung“ zugunsten eines interkulturellen Verstehens zu überwinden versucht.20 Immerhin sind die in der „Reise um die Welt“ vorgestellten Pesserähs noch nicht einmal in der Lage, einer primitiven Zeichensprache zu folgen, mit der sich die Entdecker zuvor in der Südsee immer erfolgreich verständigen konnten. Erst als sich der Erzähler auf seine Überzeugung besinnt, menschliches Leben ohne kulturelle Repräsentationsformen des Denkens und Handelns sei unvorstellbar, entdeckt er, dass die Indianer eine Körperbemalung aufweisen. Als wackerer Aufklärer längst an den Grenzen seines intellektuellen Horizonts angelangt, ringt sich der Erzähler gleich im Anschluss zu der Erkenntnis durch, „daß die Begriffe von Schmuck und Zierrath älter und tiefgewurzelter bey uns sind“ (ebd., 381). Mit dieser kulturtheoretischen Revision werden die Pesserähs in eine ästhetische Menschheitsgeschichte reintegriert, die sich nicht länger an zivilisatorischen Indizes orientiert. Gleichzeitig bereitet sie den Kulminationspunkt der Feuerland-Episode vor. Um ihn angemessen herauszuarbeiten, greift der Erzähler auf ein rhetorisches Schlussverfahren zurück, das als ‚reductio ad absurdum‘ bezeichnet wird und alle zuvor getroffenen Aussagen widerruft, wenn mindestens zwei Argumente das Gegenteil beweisen. Sind mit der Entdeckung der Körperbemalung bereits die aufgeklärte Zivilisationstheorie und die Sehnsucht nach einem ursprünglichen Naturzustand widerlegt, so geht es im nun folgenden zweiten Beweis um die Korruptibilität der Europäer. Gegen die erzaufklärerische Hoffnung zielend, Glück ließe sich durch Wissenszuwachs mehren, wird den Feuerländern zugebilligt, über ihr Leiden an ihrer misslichen Lage habe man nichts in Erfahrung bringen können.21 Den „beredten Philosophen“, die in ihren Studierstuben das „Gegentheil“ beweisen wollen, sei demgemäß zu misstrauen (ebd., 384). Für diese Infragestellung spricht der Blick voraus auf jene Fremde, die den Reisenden bald wieder erwartet. Wie dem Schluss der episodischen Beschreibung zu entnehmen ist, gleicht die europäische Aufklärung einer Episode, die ihr Wissen mit Macht vertritt, dafür aber auch die Stigmatisierung anderer Lebensformen toleriert: 20

Vgl. ebd. Zum Wissensbegriff der Aufklärung vgl. Formen des Nichtwissens der Aufklärung, hg. von Hans Adler und Rainer Godel, Paderborn 2010. 21

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Möchte das Bewußtseyn des großen Vorzugs, den uns der Himmel vor so manchen unserer Mitmenschen verliehen, nur immer zu Verbesserung der Sitten, und zu strenger Ausübung unserer moralischen Pflichten angewandt werden! aber leider ist das der Fall nicht, unsre civilisirten Nationen sind vielmehr mit Lastern befleckt, deren sich selbst der Elende, der unmittelbar an das unvernünftige Thier gränzt, nicht schuldig macht. Welche Schande, daß der höhere Grad von Kenntnissen und von Beurtheilungskraft, bey uns nicht bessere Folgen hervorgebracht hat! (Ebd.) Mündet die Beschreibung der Feuerlandindianer in die Einsicht, das Beurteilen des Fremden im Geiste universaler Vernunftgesetze gehöre zu den diffamierendsten Formen kultureller Kontaktnahmen, so widersetzt sich die „Reise um die Welt“ einer zivilisatorischen Hierarchie, an deren Vorurteilen das eigene wie das andere Subjekt zu verrohen droht. Literatur avanciert damit zu einer Kunst, die dem „alten Dünkel“ aufseiten „der Autoritäten“ mit einer „Vervielfältigung des Dasyens“ begegnet (AA VII, 40ff.). Gezielt konstituiert sie „kulturelle Differenz“ zum eigenen Verstehen, um „Fremdheit zu akzeptieren“.22 Dass dafür der „Gränzpfahl“ des „soliden Wissens“ fast „ins Unerreichbare“ verschoben werden muss, gehört zum Anspruch einer Aufklärung der Aufklärung, die auch mit Blick auf das Fremde eine „große Masse des Menschengeschlechts“ vorm Terror einer „apodiktischen Wahrheit“ schützen will (ebd., 41 u. 39).

22

Michael Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung, Paderborn 2006, S. 8 und 12.

Georg Christoph Lichtenberg Arnd Beise Lichtenberg war dreyßig Jahre hindurch ein berühmter Lehrer auf einer berühmten Universität. Lange schon [. . .] ehrte man in ihm den umfassenden Kenner seiner Hauptwissenschaft, der Physik; lange schon war er durch seine geistvollen, von den verschiedenartigsten Erscheinungen seiner Zeit veranlaßten Aufsätze [. . .] so wie durch seine Erklärung der Hogarthischen Kupfer, als einer unserer witzigsten Schriftsteller und geschmackvollsten Gelehrten, als einer der glücklichsten Kämpfer gegen jede Thorheit bekannt und geschätzt.1 So beginnt die erste Biographie Lichtenbergs aus der Feder seines älteren Bruders Friedrich Christian. Das Resümee seines Ruhms präsentiert Lichtenberg als Aufklärer par excellence: Ein geachteter Naturforscher, der neben seiner akademischen Tätigkeit als populärer Autor Kenntnisse verbreitete und Irrtümer beseitigte. Als der Bruder die Biographie schrieb, gab er zusammen mit Lichtenbergs Schüler Friedrich Kries die erste Werkausgabe heraus, die mit einer ungewöhnlichen Neuerung aufwartete: Die ersten beiden Bände enthielten bis dato ausschließlich Unveröffentlichtes aus dem Nachlass, nämlich „Bemerkungen des Verfassers über sich selbst“, „Bemerkungen vermischten Inhalts“ und „Fragmente“. Erst danach folgten die erwähnten „Aufsätze“, die Lichtenbergs schriftstellerischen Ruhm zu Lebzeiten konstituierten. In den letzten vier der neun Bände wurden Lichtenbergs „Physikalische und mathematische Schriften“ gesammelt.2 1

[Friedrich Christian Lichtenberg:] Georg Christoph Lichtenberg, in: Nekrolog auf das Jahr 1799, hg. von Friedrich Schlichtegroll, Gotha 1805, Bd. 2, S. 97–220, hier S. 97f. 2 Georg Christoph Lichtenberg: Vermischte Schriften nach dessen Tode gesammelt und hg. von Ludwig Christian Lichtenberg und Friedrich Kries, 9 Bde., Göttingen 1800–1806. Fortan zitiert unter der Sigle ‚VS‘+Band- und Seitenzahl.

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Die genannten „Bemerkungen“ oder „Notate“ würden, so der Bruder, wahrscheinlich die Grundlage von Lichtenbergs Nachruhm werden, denn vorzüglich in ihnen lebe „dieser seltne Mann unter uns fort, und wird leben [. . .]; er steht mit seiner ganzen Individualität vor uns“. Und Lichtenbergs Bruder sollte Recht behalten. Es sind jene „unzählige[n] Reflexionen und Selbstbetrachtungen, die er täglich niederzuschreiben gewohnt war“3, die Lichtenbergs Ruhm heute ausmachen und seit 1967 unter dem Titel „Sudelbücher“ firmieren. Neben die „Sudelbücher“ sind inzwischen Lichtenbergs Briefe an die zweite Stelle in der Wertschätzung seiner Schriften getreten, also auch Texte, die zu Lebzeiten des Autors dem allgemeinen Publikum nicht zugänglich waren, sondern erstmals Mitte des 19. Jahrhunderts gedruckt wurden.4 Demgegenüber sind die „Aufsätze“, denen Lichtenberg seinen Ruhm unter den Mitlebenden verdankte, kontinuierlich in der Wertschätzung gesunken; auch die Standardausgabe von Wolfgang Promies bietet nur als kleine Auswahl den inzwischen herausgebildeten „Kanon jener Artikel, auf die ein Freund und Kenner Lichtenbergs ungern verzichtet“.5

Das Leben Lichtenberg wurde am 01. Juli 1742 in Ober-Ramstadt als siebzehntes und letztes Kind des Pfarrers Johann Conrad und seiner Frau Henriette Catharina Lichtenberg geboren. Er wurde vom Vater „so gleich wegen Schwachheit“ getauft6, gehörte aber zu den fünf Kindern, die die ersten Jahre überlebten. In Folge einer Rachitis im Kindesalter wuchs Lichtenberg als 3

[Lichtenberg] [Anm. 1], S. 98, 196 und 98. Georg Christoph Lichtenberg: Vermischte Schriften. Neue vermehrte, von dessen Söhnen veranstaltete Original-Ausgabe, 14 Bde., Göttingen 1844–1853, Bd. 7 und 8: Briefe, hg. von Chr[istian] W[ilhelm] Lichtenberg, Göttingen 1846–1847. 5 Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe, 4 Bde. und 2 KommentarBde., hg. von Wolfgang Promies, München 1968ff., Bd. 3: Aufsätze, Entwürfe, Gedichte, Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche, München 1972, S. 1061. Fortan zitiert unter der Sigle ‚SB 3‘+Seitenzahl. 6 Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) – Wagnis der Aufklärung. Katalog der Ausstellungen Darmstadt und Göttingen 1992, Konzeption: Ulrich Joost [u. a.], München 1992, S. 76. Fortan zitiert unter der Sigle ‚Kat‘+Seitenzahl. 4

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Kyphoskoliotiker auf, litt also fast zeitlebens an den Folgen der Seitausbiegungen der Brust-, Hals- und Lendenwirbelsäule. Durch seine Verwachsung blieb er auch als Erwachsener ein „Gnom“ (Henning Boëtius) von etwa 1,44m Körperhöhe.7 1752–1761 besuchte Lichtenberg das Darmstädter Pädagog, wo er zu den besten Schülern gehörte; 1763 erhielt er ein Stipendium für das Studium der Mathematik und Physik in Göttingen, wo er ebenfalls bald durch seinen „hervorragende[n] Verstand“ und „unermüdliche[n] Eifer“ auffiel (Kat 130f.). Die Prognose seines Lehrers Abraham Gotthelf Kästner, Lichtenberg könnte „den Ruhm unserer Hochschule heller erstrahlen lassen“ (ebd.), erfüllte sich. Als Lichtenberg am 24. Februar 1799 starb, war er einer der bekanntesten Professoren der Georg-August-Universität. Trotz eines Rufs an die hessische Landesuniversität fristete Lichtenberg nach seinem Studium das Leben lieber als Hofmeister für adlige Studenten aus England als nach Gießen zu gehen. 1770 reiste Lichtenberg in Begleitung eines von ihnen für knapp zwei Monate nach England, trifft dort am 22. April (der „glücklichste Tag seines Lebens“8) Georg III. – in Personalunion Kurfürst von Hannover und König von Großbritannien –, erreicht dabei seine Ernennung zum „Professor philosophiae extraordinarius“ in Göttingen. Bevor er aber 1776 seine Lehre aufnahm, führte er im Auftrag des Königs 1771–1773 geodätische Landvermessungen um Hannover, Osnabrück und Stade durch und erarbeitete eine Edition der astronomischen Werke seines 1762 verstorbenen Vorgängers Tobias Mayer, was ihm 1775 die Ernennung zum „Professor ordinarius“ einbrachte. September 1774 bis Dezember 1775 hielt er sich erneut in England auf: Lichtenbergs wichtigster Bildungseinfluss. 1780–1785 gab Lichtenberg zusammen mit Georg Forster, den er in London kennen gelernt hatte, das ambitionierte, bald aber nur noch sehr schleppend erscheinende „Göttingische Magazin der Wissenschaften und Litteratur“ heraus. Es war wie viele Schriften Lichtenbergs ein Versuch, zwischen Wissenschaft und Common Sense zu vermitteln, der aber nicht angenommen wurde. Schon 1777 hatte er von dem verstorbenen Johann 7

Horst Gravenkamp: Geschichte eines elenden Körpers. Lichtenberg als Patient, Göttingen 1989. 8 Lichtenberg in England. Dokumente einer Begegnung, hg. und erläutert von Hans Ludwig Gumbert, 2 Bde., Wiesbaden 1977, Bd. 1, S. XLI.

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Christian Polycarp Erxleben die Herausgabe des „Göttinger Taschen Calenders“ übernommen, den er bis zu seinem Tod betreute. Er schrieb die Beiträge „gröstentheils selbst“ (Bw 1, 664)9, was ihn häufig sauer ankam, da es „Schweiß genug, aber wenig Wercks“ bedeutete (Bw 3, 103).10 Die in dem Kalenderjahrgang 1784 begonnene Erklärung „einige[r] Züge aus den Werken“ des „unsterblichen“11 Hogarth stieß bei dem Lesepublikum auf das größte Interesse; Lichtenberg brachte nun jährlich bis zum Jahrgang 1796 Erklärungen zu insgesamt 28 Einzelblättern bzw. Zyklen. Schon seit 1785 erwog er, die Kalendererklärungen zu einem umfangreicheren Werk über Hogarths Werke auszubauen. Zwischen 1794 und 1799 erschienen dann die ersten fünf Lieferungen der „Ausführlichen Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche“ und wurden zum einzigen selbstständigen und über das gesamte 19. Jahrhundert erfolgreichsten Werk Lichtenbergs. Im Oktober 1789 erkrankte Lichtenberg schwer. Ein halbes Jahr lang blieb er so gut wie ans Bett gefesselt. Neben der zweiten England-Reise war dies die zweite „Revolution“ seines Lebens. „Meine Munterkeit, meine Furchtlosigkeit, meine Sorgenlosigkeit, meine Liebe zum lesen und zu schreiben wenigstens für mich selbst, Thätigkeit überhaupt, alles das blieb im Bette, und ist nun fort.“ (Bw 4, 306f.) Auf „reelle Wiederherstellung“ seiner Gesundheit hoffte er seit dem Frühjahr 1791 nicht mehr.12 Er nahm sich als „pathologischer Egoist“ ( J 337)13 wahr, seine Schriften werden immer mehr „in doloribus“ (Bw 4, 818) geschrieben, seine Skepsis erreichte ihren Höhepunkt. Ihn beseele 9

Georg Christoph Lichtenberg: Briefwechsel, hg. von Ulrich Joost und Albrecht Schöne, 5 Bde., München 1983–2004. Fortan zitiert unter der Sigle ‚Bw‘+Band- und Seitenzahl. 10 Vgl. insgesamt Günter Peperkorn: „Dieses ephemerische Werkchen“. Georg Christoph Lichtenberg und der „Göttinger Taschen Calender“, Göttingen 1992. 11 Lichtenbergs Hogarth. Die Kalender-Erklärungen. Von Georg Christoph Lichtenberg mit den Nachstichen von Ernst Ludwig Riepenhausen zu den Kupferstich-Tafeln von William Hogarth, hg. von Wolfgang Promies, München 1999, S. 8. 12 Wolfgang Promies: Georg Christoph Lichtenberg mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt, 5., verbesserte Auflage, Reinbek 1999, S. 114. 13 Der Nachweis der „Sudelbücher“-Zitate geschieht durch die Nummer in Lichtenberg: Schriften und Briefe, hg. von Wolfgang Promies, Bd. 1, München 1968; Bd. 2, München 1971.

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ein außerordentliches [. . .] Mißtrauen gegen alles menschliche Wissen, Mathematik ausgenommen, und was mich noch an das Studium der Physik fesselt, ist die Hoffnung etwas dem menschlichen Geschlecht Nützliches auszufinden. Wir müssen nämlich auf Ursachen und Erklärungen denken [. . .]. Aber ob das nun alles so ist, wie wir glauben? ( J 938) Schon als Knabe hatte er sich von der Religion verabschiedet und sich einer Art „Spinozismus“ ergeben, auf den „[s]ich selbst überlassene Vernunft“ zwangsläufig „hinausführe“ (H 143), so dass es für ihn keinen christlichen Trost mehr gab. Lichtenberg bedauerte zwar diesen „Verlust“, doch: „Ich glaube, es ist dieses eine notwendige Folge alles Studiums der Philosophie und der Natur.“ ( J 855) Philosophie und Naturstudium halfen aber auch nicht. Das Ganze der Natur widersetzt sich der Erkenntnis des Menschen; und wer räsoniert, räsoniere notwendig falsch, weil die Sprache aller Philosophie vorausgehe (H 146, H 151). Es gibt also niemanden, der „die Welt so erkennte, wie sie ist“ (H 147); vielmehr gelte: „Wohin wir nur sehen, so sehen wir bloß uns.“ ( J 569) In dieser Situation helfe nur, den „Theil des Plans des großen Ganzen, den wir deutlich übersehen“, gewissenhaft „mit Treue und Thätigkeit“ zu „bearbeiten“: „Uebung der Tugend eines jeden in seinem Kreise.“ (VS 7, 31, 29, 31)14 Lichtenbergs Kreis aber war nach seiner Rückkehr aus England sehr klein geworden. Während seine Tagebücher einen „düsteren, ja desparaten Ton“ haben, zeichnen sich seine Aufsätze durch eine „heitere, oft scherzende Anmut“ aus.15 Seine Hoffnung, noch „etwas dem menschlichen Geschlecht Nützliches“ zu (er-)finden, erfüllte sich nicht mehr.

Die Naturwissenschaft Dafür, dass Lichtenberg zu „seinen Lebzeiten [. . .] als einer der führenden deutschen Naturforscher“ galt16, sind seine tatsächlichen Leistungen in der 14 Vgl.: „Wenn ich je eine Predigt drucken lasse, so ist es über das Vermögen Gutes zu tun, das jeder besitzt.“ (H 156) 15 Franz H. Mautner: Lichtenberg. Geschichte seines Geistes, Berlin 1968, S. 355. 16 Claus Priesner: Lichtenberg (II), in: Neue Deutsche Biographie, hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 14, Berlin 1985, S. 458–463, hier S. 458.

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Geschichte der Naturwissenschaften eher gering einzuschätzen. Fachwissenschaftliche Veröffentlichungen hatte er wenig aufzuweisen. Zu nennen sind hier nur 1) die „Astronomischen Beobachtungen“ zu dem geodätischen Projekt (1776); 2) „Vorrede“ und „Beobachtungen“ in seiner Ausgabe von Mayers „Opera inedita“ (1773); 3) die zwei Abhandlungen „Über eine neue Methode, die Natur und Bewegung der elektrischen Materie zu erforschen“ (1778–1779), d. h. seine Mitteilungen über die Experimente, die 1777 zur Entdeckung der später nach ihm benannten elektrostatischen „Figuren“ führten.17 Dazu kommen knapp 50 Rezensionen (1778–1798) sowie eine ungedruckte Akademierede aus dem Jahr 1780. Seinen Ruhm als Naturforscher verdankte Lichtenberg den beiden lateinischen Abhandlungen über die Versuche mit dem Elektrophor bzw. die Entdeckung der genannten „Figuren“. Dabei geht es um elektrostatische Entladungen auf „anelektrische Körper“ (SB 3, 34), also das Prinzip der Xerografie.18 Für Lichtenberg selbst blieben diese Versuche ein „schönes lehrreiches Spiel“ (Bw 1, 783); erst im 20. Jahrhundert wurden sie industriell genutzt. Lichtenberg war vor allem von der Möglichkeit fasziniert, etwas in der Natur Unsichtbares evident machen zu können: ein ästhetisches Verfahren.19 Dieser Entdeckung verdankte Lichtenberg auch die Erlaubnis, das Kolleg über Experimentalphysik zu übernehmen (Bw 1, 794). Grundlage dieser Vorlesung, die Lichtenberg bis zu seinem Tod jedes Semester hielt, war das Lehrbuch seines jung verstorbenen Vorgängers und Kommilitonen Erxleben. Der Verleger Johann Christian Dieterich bat seinen Freund Lichtenberg, das Lehrbuch durch Bearbeitung dem „reissenden Fortgang der 17

Georg Christoph Lichtenberg: Observationes. Die lateinischen Schriften, übersetzt und hg. von Dag Nikolaus Hasse, Göttingen 1997. 18 Hans Joachim Schlichting: „Wo kein deutliches Bild ist, ist keine Vorstellung“. Georg Christoph Lichtenberg zwischen Physik und Literatur, in: Praxis der Naturwissenschaften – Physik in der Schule 57, 2008, H. 7, S. 5–10, hier S. 7: „Der Erfinder des Xerokopierverfahrens Chester F. Carlson beruft sich übrigens in seiner History of Electrostatic Recording ausdrücklich auf Lichtenberg.“ 19 Michael Gamper: Fiktionen und Experimente. Lichtenberg und die Elektrizität, in: „Es ist nun einmal zum Versuch gekommen“. Experiment und Literatur I: 1580– 1790, hg. von dems., Martina Wernli und Jörg Zimmer, Göttingen 2009, S. 359–389, hier S. 377f.

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Physik“ anzupassen.20 Lichtenberg widmete sich dieser Aufgabe von der dritten (1784) bis zur sechsten (1794) Auflage zunächst mit großer Pietät. Was ihm fraglich erschien, kennzeichnete er durch ein „(? L.)“21, Irrtümer berichtigte er in Anmerkungen, inzwischen gemachte neue Entdeckungen und Forschungen referierte er in Zusätzen; ansonsten blieb der Text unangetastet. Von 1787 bis 1789 trug sich Lichtenberg mit dem Gedanken an ein eigenes, besseres Kompendium.22 Er schrieb es nach seiner traumatischen Krankheit nicht mehr. Stattdessen griff er in der fünften und sechsten Auflage stärker in den Text ein, ohne dass ihn das Ergebnis befriedigt hätte. So wie dem Plan zu einem eigenen Lehrbuch ging es auch allen anderen fachwissenschaftlichen Projekten nach 1780. Keines wurde fertiggestellt, sehr zum Bedauern seiner Schüler und Kollegen. Georg Simon Klügel erwartete sich von dem Kompendium eine scharfsinnige Prüfung des Neuen „in seinem Zusammenhange“ (Bw 3, 1012) – doch Lichtenberg hatte längst die Hoffnung aufgegeben, den Zusammenhang jemals zu erkennen. Johann Friedrich Benzenberg sah ganz richtig, dass ein zustande gekommenes Lehrbuch „ein Meisterstük“ in „dreyfacher Hinsicht“ hätte werden müssen: „erstlich als Naturlehre – zweitens als Philosophie der Natur, und endlich als: Aestetik der Natur.“ (Bw 4, 926) Aber gerade die Philosophie und die Ästhetik legten dem Lehrbuchverfasser Lichtenberg das Handwerk.

Die Philosophie Ein gutes Lehrbuch, gleich zu welchem Fach, dürfe „nur den Kern seiner Wissenschaft oder Kunst in der gedrängtesten Kürze enthalten“ und müsse sich durch „aphoristische Kürze“ und „Präcision des Ausdrucks“ auszeich20 Georg Christoph Lichtenberg: Vorlesungen zur Naturlehre, hg. von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Bd. 1: Lichtenbergs annotiertes Handexemplar der vierten Auflagen von Johann Christian Polykarp Erxleben: „Anfangsgründe der Naturlehre“, Göttingen 2005, S. XIV. 21 Zum Beispiel ebd., S. 336 (§ 297). 22 Vgl. Horst Zehe: „Ich habe selbst offt über die Compendienschreibung gelacht“. Etwas über Georg Christoph Lichtenbergs Notizen zu einem Compendio der Physik, Berlin [u. a.] 1994.

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nen, notierte sich Lichtenberg (H 175). Aphoristische Qualitäten sind vielen seiner Notate nachgesagt worden, auch in seinen Aufsätzen finden sich immer wieder aphoristische Formulierungen23; und die Präzision seiner Formulierungen ist nachgerade ein Topos des Lichtenberg-Lobs. Sein Problem war eher der „Kern“ der Wissenschaft, den er mit seinen (physikalischen) Aphorismen umkreiste, aber nicht benennen konnte. Auch Lichtenberg träumte zeitweise von „einem allgemeinen System der Natur“24, welches es erlaubte, alle Naturerscheinungen aus einem Gesetz zu erklären. Diesem „größte[n]“ und „erhabenste[n]“ aller Träume hing er von 1780 bis 1796 mitunter nach, weil seine Einlösung möglich schien. Seit 1758 wartete die gelehrte Welt auf die immer wieder angekündigte „Theorie der Schwere“ des Genfer Mathematikers George-Louis Le Sage, die aber nie erschien. Es gab nur Andeutungen und Bruchstücke einer Gesamtdarstellung, welche die Newtonsche Gravitation als „Ursache“ oder „Grund aller Bewegung in der Natur“ beweisen zu können schien ( J 1419).25 In einem 1790 entstandenen Notat legte Lichtenberg Rechenschaft ab über seine Bewunderung für Le Sages Theorie. Sie sei „auf Analogie und strenge Geometrie gestützt“, umfasse „das Äußerste unseres ErkenntnisKreises“, verschlinge das „kleinliche hypothetische lokale Spielzeug“ und mache „alles weitere Träumen unnütz“ ( J 1416). Selbst wenn es nur ein Traum bliebe, könnte er aber, sofern er ebenso konsequent wie „zusammenhängend“ zu Ende geträumt würde, die „Lücke in unsern Büchern ausfüllen [. . .], die nur durch einen Traum ausgefüllt werden kann“, könne also „die Wahrheit selbst sein oder ihre Stelle vertreten“ (ebd.). Dieses Notat macht klar, warum Lichtenberg, der Zeit seines Lebens zwar kein „unsystematischer“, aber „ein antisystematischer Kopf“ war26, 23

Vgl. zum Beispiel Georg Christoph Lichtenberg: Verschüttete Aphorismen aus den Göttinger Taschen Calendern, herausgesucht von Horst Gravenkamp, Bargfeld 1996. 24 Lichtenberg in England [Anm. 8], Bd. 1, S. 182. 25 Vgl. Gottlieb Gamauf: Erinnerungen aus Lichtenbergs Vorlesungen über Erxlebens Anfangsgründe der Naturlehre, Wien/Triest 1808, Bd. 1, S. 292; Georg Christoph Lichtenberg: „Ist es ein Traum, so ist es der größte und erhabenste der je geträumt worden . . .“. Aufzeichnungen über die Theorie der Schwere von George-Louis Le Sage, hg. und erläutert von Horst Zehe unter Mitarbeit von Wiard Hinrichs, Göttingen 2003, S. 89. 26 Günther Patzig: Über den Philosophen Lichtenberg, in: Georg Christoph Lichtenberg (Red. Frauke Meyer-Gosau), München 1992, S. 23–26, hier S. 24 (Text+Kritik 114).

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von Le Sages System so fasziniert war, obwohl es auf den ersten Blick seinem Empirismus in Wissenschaft und Literatur völlig widersprach. Lichtenberg war klar, dass das präferierte Experiment keine Aussagen über das Ganze erlaubt; dafür brauchte es die theoretische Spekulation. In der Theorie aber war im neuzeitlichen Rationalismus die sogenannte geometrische Methode Bedingung für Wissenschaftlichkeit. Descartes, einer der Gründerväter der rationalistischen Wissenschaft, war sogar davon überzeugt, dass ein Satz umso gültiger wäre, desto weniger er von „den Vorurteilen der Sinne“ tangiert wäre, „sondern dem Lichte der Vernunft“ entsprungen sei, so dass seine „Wahrheit nicht bezweifelt werden“ könne.27 Diese Position wurde schon von Naturwissenschaftlern des 17. Jahrhunderts bestritten, doch es war klar, dass man sich, um empirische Experimente einordnen zu können, der theoretischen Analogie oder sogar ästhetischer Verfahren bedienen musste.28 Dies war auch Lichtenberg nur allzu bewusst. „Obgleich objektive Lesbarkeit von allem in allem überall statt finden mag, so ist sie deswegen nicht für uns, die wir so wenig vom Ganzen übersehen.“ (SB 3, 290) „Die Hauptsache“ bleibe „immer unsichtbar“ (VS 9, 305); ein Blick auf die Gravitation macht dies klar: Ist es begreiflich, daß die Erde sich in einem Kreis bewegt, weil in dem Mittelpunkte desselben sich etwas Sichtbares aufhält, da doch durch den ganzen Raum, durch welchen der Zug ausgeübt wird, nichts sichtbar ist? [. . .] Was unser Auge bey diesem Umlauf gewahr wird, ist nicht das, was den Planeten hält. (Ebd.) Lichtenberg spricht in diesem Zusammenhang von „der großen Eingeschränktheit unserer Sinnlichkeit“ (ebd.). Aber ohne das sichtbare Bild kommen wir zu keiner wahren Erkenntnis, denn „wo kein deutliches Bild ist, ist keine Vorstellung“ (F 582). Der Mensch sei gezwungen, sich „eine sinnliche Vorstellung zu machen“ (F 34), wenn er etwas verstehen wolle. 27 René Descartes: Die Prinzipien der Philosophie, hg. von Arthur Buchenau, 8., durchgesehene Auflage, Hamburg 1992, S. 64. 28 Vgl. Arnd Beise: Ohne Zweifel befindet sich unsere Welt nirgends. Otto von Guericke und seine „Experimenta de Vacuo Spatio“ (1672), in: Literatur in der Stadt. Magdeburg in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Michael Schilling, Heidelberg 2012 (Beihefte zum Euphorion 70).

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Lichtenberg hielt die Sehnsucht nach einer alles letztbegründenden Idee – sei es ein Gott oder eine Weltformel – für ein Anthropologikum. Die nach „Einheit strebende Vernunfft“29 suche nicht zahllose Ursachen, sondern die Ursache. Eine solche Idee aber kann nicht experimentell, sondern nur theoretisch oder ästhetisch hergestellt werden. Sie ist Fiktion, letztlich Literatur.30 Damit die literarischen Fiktionen aber nicht bloße Wahngebilde bleiben31, bedürfen sie intersubjektiver Verbindlichkeit, die einerseits durch die sprachliche Form garantiert wird, andererseits durch eine anerkannte Methode, d. h. in der (Natur-)Wissenschaft des neuzeitlichen Rationalismus die geometrische. Die sprachliche Form meint einerseits ihre sprachliche Verfasstheit an sich; andererseits ihre literarische Formung. Da wir uns nur sprachlich mitteilen können und in die Sprache hineingeboren werden, ist durch eine gemeinsame Sprache bereits ein gewisser Kanon an Meinungen und Überzeugungen gegeben. Die Vorurteile auszurotten und die Meinungen zu berichtigen, was die selbstgestellte Aufgabe der Aufklärung war, bedeutet also Sprachkritik zu betreiben.32 Wahre Philosophie sei „Berichtigung des Sprachgebrauchs, also, die Berichtigung einer Philosophie, und zwar der allgemeinsten“ (H 146), nämlich der des herrschenden Diskurses. Dieser aber ermöglicht erst intersubjektive Verbindlichkeit der Aussagen, oder wie Lichtenberg es ausdrückte: „Allein die gemeine Philosophie hat den Vorteil, daß sie im Besitz der Deklinationen und Konjugationen ist. Es wird also immer von uns wahre Philosophie mit der Sprache der falschen gelehrt.“ (H 146) Unter literarischer Formung wird hier die ästhetische Herstellung von Wahrscheinlichkeit verstanden, d. h. die bewusste Formulierung im Anschluss „an ein

29 Georg Christoph Lichtenberg: Noctes. Ein Notizbuch. Faksimile mit einem Nachwort und Erläuterungen hg. von Ulrich Joost, 3. Auflage, Göttingen 1993, S. 53. 30 Es stehe so, „daß heut zu Tage die Wahrheit ihre Sache durch Fiktion, Romane und Fabeln führen lassen muß“ (vgl. J 1030). 31 Jeder Wahnsinnige „ist eine Welt für sich, wovon keine der andern leuchtet und keine die andere verfinstert; jede hat ihr eigenes Licht“ und ihre eigene Sprache, ihre eigenen Bilder. „Wer noch nicht weiß, daß der Kopf die Welt macht, und nicht die Welt den Kopf, der sehe hieher“: Nämlich auf das achte Blatt der Hogarthischen Kupferstichserie „A Rake’s Progress“ (vgl. SB 3, S. 905f.) 32 Patzig [Anm. 26], S. 25.

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Ganzes“ ( J 1738)33, selbst wenn dieses virtuell bleibt. Nicht nur mit Blick auf die Physik notierte sich Lichtenberg, man könne nicht „eine Materie in der Natur abhandeln wie einen Paragraphen, erst den und dann den, ohne zu bedenken, daß sich keiner ohne den andern abhandeln läßt, und daß alles zusammen nur eins ist“ ( J 1748). Andererseits vertraute Lichtenberg aber auch auf die „Lesbarkeit von allem in allem“ (F 694); dies habe er „immer“ gepredigt (L 915). Die Maxime „Wer Augen hat der sieht alles in allem“ steht in unmittelbarer Verbindung mit seiner Überzeugung, dass die „Metapher weit klüger als ihr Verfasser“ ist (F 369), weil die ästhetisch-literarische Formulierung eines Gedankens diesen an das „Ganze“ anschließe, ohne es explizit formulieren zu müssen. Unter dem Einfluss seiner Kant-Lektüre gab Lichtenberg den Traum vom System wieder auf und sich ganz seinem Skeptizismus hin. „Zweifle an allem wenigstens Einmal, und wäre es der Satz: zweimal 2 ist 4“ (K 303), blieb Lichtenbergs lebenslang befolgte Maxime. Lichtenberg wusste, dass seine Stärke nicht die synthetisierende Theorie war, sondern die kritische Prüfung und das anschauende Denken. „Wenn auch meine Philosophie nicht hinreicht, etwas Neues auszudenken, so hat sie doch Herz genug, das längst Geglaubte für unausgemacht zu halten.“ (K 49)34 Die Einsicht, dass der „menschliche Verstand“ (wie Lichtenberg zu hoffen wagte: „noch“) nicht in der Lage sei, die vielfältigen Beobachtungen und Reflexionen „zu einem einförmigen Ganzen zu vereinigen“35, ließ ihn sich auf die kleine und kleinste Form beschränken. Lichtenbergs Denkform ist die des pointierten Notats, wie es vor allem die „Sudelbücher“ spiegeln. Hier konnte Lichtenberg ohne Rücksicht auf Gattungsnormen oder Lesegewohnheiten „mit Ideen experimentieren“ (K 308). Auf Resultate war Lichtenberg weniger aus denn aufs Problematisieren: „Ist das auch wahr“ (MH 34), „könnte auch dieses nicht falsch sein?“ (C 194). Häufig sind 33 Vgl. zum Wahrheitskriterium der Kohärenz ausführlich Smail Rapic: Erkenntnis und Sprachgebrauch. Lichtenberg und der Englische Empirismus, Göttingen 1999. 34 Vgl.: „Trotz meiner großen Armuth an Kenntnissen [. . .] finde ich mich oft nicht wenig durch den Gedanken beruhigt, daß ich [. . .] an einer Sache zweifeln kann, und wenn sie in tausend Büchern bejaht stünde, tausend Jahre durch geglaubt worden, und als untrüglich von schönen und häßlichen Lippen verkündigt worden wäre.“ (Bw 1, S. 695) 35 Lichtenberg: Vorlesungen [Anm. 20], S. 900.

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Überlegungen als Fragen oder Vermutungen formuliert, überdurchschnittlich häufig sind Sätze konjunktivisch gehalten, was Albrecht Schöne auf die Formel brachte: „Aufklärung aus dem Geist der Experimentalphysik“: „Daß ihn [. . .] der Zweifel zur Hypothese treibt, und daß er zugleich doch [. . .] die Skepsis einsetzt zum Zuchtmeister der Spekulation [. . .] weist ihn als Aufklärer aus.“36

Die Sudelbücher Lichtenbergs Philosophie ist literarischer Natur. Er weiß, dass die sprachliche Form den Gedanken mitbestimmt. Deswegen sei es wichtiger, seiner „Denkungs-Art eine gute Form zu geben“ (D 506), als Sachwissen anzuhäufen. „Wenn man die Menschen lehrt wie sie denken sollen und nicht ewig hin, was sie denken sollen“ (F 441), wäre schon viel geholfen. Lichtenbergs Stilideal verkörperte insbesondere Lessing, bei dem der „Ausdruck [. . .] dem Gedanken“ sitze „wie angegossen“ (E 204). „Ein guter Ausdruck ist so viel wert als ein guter Gedanke, weil es fast unmöglich ist sich gut auszudrücken ohne das Ausgedrückte von einer guten Seite zu zeigen.“ (E 324) „Ein gutes Mittel, gesunden Menschenverstand zu erlangen, ist ein beständiges Bestreben nach deutlichen Begriffen [. . .]; von jedem Wort muß man sich wenigstens einmal eine Erklärung gemacht haben, und keines brauchen, das man nicht versteht.“ (G 206) Die „Sudelbücher“, in denen diese Maximen beherzigt sind, sind Lichtenbergs Hauptwerk. Es handelt sich um circa 8.400 Notate, die Lichtenberg 1764–1799 auf zunächst lose Blätter, dann in Hefte eintrug. Er hatte, so seine ersten Herausgeber, von jeher die Gewohnheit alles aufzuschreiben, was ihm merkwürdiges vorkam. Er las sehr viel, aber er dachte noch weit mehr. [. . .] Lustige Einfälle, komische Ausdrücke, sonderbare Ereignisse, charakteristische Züge, Beobachtungen über sich und andere, kurz, was ihm des Bemerkens werth war, das schrieb er auf, alles unter einander, so wie es ihm eingefallen war. (VS 1, VIf.) 36

Albrecht Schöne: Aufklärung aus dem Geist der Experimentalphysik. Lichtenbergsche Konjunktive, München 1982, S. 141. (Schöne markierte damit den Abstand einerseits zu den französischen Moralisten und andererseits zu den Romantikern.)

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Lichtenberg schrieb zunächst für sich selbst (charakteristisch ist die Formel: „Ich verstehe mich“37), mitunter aber auch mit dem Gedanken an eine Veröffentlichung (davon zeugen Leser-Apostrophen38). Ich habe schon lange an einer Geschichte meines Geistes so wohl als elenden Körpers geschrieben, und das mit einer Aufrichtigkeit die vielleicht manchem eine Art Mitscham erwecken wird [. . .]. Es ist dieses ein noch ziemlich unbetretener Weg zur Unsterblichkeit [. . .]. Nach meinem Tod wird es der bösen Welt wegen erst heraus kommen. (F 811) Immerhin war es ein nicht ganz voraussetzungsloses Werk. Die radikale Selbstthematisierung konnte er bei Montaigne lernen39, die Reflexion in aphoristischen Texten bei den französischen Moralisten, die Aufmerksamkeit auf das Selbst aus den pietistischen Autopsychographien.40 Bei den „Sudelbüchern“ handelt es sich nicht um Tagebücher (die führte Lichtenberg separat und nur während den Englandreisen vermischte sich das) und auch nicht um Materialhefte, auch wenn zahllose Bemerkungen in die publizierten Texte einwanderten. Vielmehr handelt es sich um eine damals neuartige Form („Man muß etwas Neues machen um etwas Neues zu sehen“ [J 1770]) des Wissenserwerbs. Erst in der Verschriftlichung der Beobachtung versichert sich das durch keinen Gottesglauben41 mehr geborJ 1008, L 192, L 247, L 710, L 790, L 806, L 831, L 840, L 875, MH 36; vgl.: „Ich brauche es hier nicht zu beschreiben indem ich mich nur allzu wohl verstehe.“ (L 715); „Sehr verständlich, für mich wenigstens.“ (K 271) 38 Zum Beispiel: „Ich übergebe euch dieses Büchelgen [. . .].“ (D 617); „Es ist fast nicht möglich etwas Gutes zu schreiben ohne daß man sich dabei jemanden oder auch eine gewisse Auswahl von Menschen denkt die man anredet.“ (L 617) 39 Vgl. Michel de Montaigne: „Dieses Buch ist aufrichtig, geneigter Leser. Es erinnert dich gleich anfangs, daß ich mir dabey keine andere, als eine Privatabsicht, vorgesetzet habe. [. . .] Ich will, man soll mich darinnen [. . .], ohne Kunst und Verstellung, sehen: denn ich male mich selbst ab. Man wird meine Fehler, meine Unvollkommenheiten, und meine wahre Gestalt [. . .] abgeschildert finden.“ (Michel de Montaigne: Vorrede an den Leser [1580], in: Ders.: Essais [. . .], ins Deutsche übersetzt von Johann Daniel Tietz, 1. Theil, Zürich 1996, S. XLIIIf.) 40 Vgl. Ulrich Joost: „Schmierbuchmethode bestens zu empfehlen“. Sudelbücher?, in: Kat. 19–23, hier S. 20. 41 „Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, das heißt vermutlich der Mensch schuf Gott nach dem seinigen.“ (D 201) „Von der Religion“ habe der Pfarrerssohn 37

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gene Subjekt seiner Existenz in der umgebenden Welt und in der verlorenen Zeit ( J 26).42 Und auch die umgebende Welt erhält erst durch die Beschreibung ihre Existenz.43 Beides lässt sich allerdings kaum trennen. „Anstatt daß sich die Welt in uns spiegelt, sollten wir vielmehr sagen, unsere Vernunft spiegele sich in der Welt.“ ( J 1021) Die „Sudelbücher“ bilden einen Übergang zwischen wissenschaftlichem und literarischem Schreiben.44 Die Themen sind so vielfältig, dass die Notate unmöglich nach ihren Gegenständen beschrieben werden könnten. Die ersten Herausgeber hatten eine thematische Ordnung versucht, aber das Ergebnis fiel wenig überzeugend aus, so dass man seit der Edition von Leitzmann (1902–1908) auf eine Sortierung verzichtet und die Aufzeichnungen chronologisch abdruckt. Auch mit Blick auf die „Sprechhandlungstypen“ sind die „Sudelbücher“ von bis dato ungekannter Vielfalt: Es gibt „direkte und indirekte Fragen, Zweifel, Vermutungen, kontrafaktische Gedankenexperimente, Wünsche, Pläne, Absichtserklärungen, Empfehlungen und Selbstermahnungen, Beschimpfungen und Belobigungen – und darüber hinaus Satzfragmente“, Einzelwörter, Listen usw.45 Lichtenberg nimmt in den „Sudelbüchern“ oft sich selbst ins Visier. „Wir können von nichts in der Welt etwas eigentlich erkennen, als uns selbst.“ (H 151) Lichtenberg wollte sich kennenlernen. Nur wenn wir „unser Leben so beschreiben“, dass wir „alle Schwachheiten aufzeichnen, von denen des Ehrgeizes bis zum gemeinsten Laster“, meinte er, würden wir „einander lieben lernen. Hiervon hoffe ich eine gänzliche Gleichheit. Je „als Knabe schon sehr frei gedacht“, notierte sich der gerade einmal 27-jährige Lichtenberg in einem ersten Anlauf zu einer ‚Autobiographie‘ (B 81). Vgl. Paul Löhnert: „Gottesglaube, Wissenschaftsglaube, Aberglaube. Drei Orientierungssystem und ihr Zusammenhang bei Georg Christoph Lichtenberg, in: Georg Christoph Lichtenberg [Anm. 26], S. 27–38. 42 Vgl. Helmut Pfotenhauer: Um 1800. Konfigurationen der Literatur, Kunstliteratur und Ästhetik, Tübingen 1991, S. 5–26; Michael Dobstadt: Existenzmangel und schwankendes Ich. Georg Christoph Lichtenberg und Karl Philipp Moritz im Kontext einer Krisengeschichte neuzeitlicher Subjektivität, Würzburg 2009, S. 226–247. 43 Vgl. Rüdiger Campe: „Unsere kleinen blinden Fertigkeiten“. Zur Entstehung des Wissens und zum Verfahren des Schreibens in Lichtenbergs Sudelbüchern, in: Lichtenberg-Jahrbuch 2011, S. 7–32. 44 Joseph P. Stern: Lichtenberg. A Doctrine of Scattered Occasions, Reconstructed from his Aphorisms and Reflections [Bloomington 1959], London 1963, S. 110. 45 Harald Fricke: Aphorismus, Stuttgart 1984, S. 75.

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härter es wider den Strich geht, desto getreuer muß man gegen sich selbst sein“ (G 83). Durch diese ebenso ironische wie schonungslose Selbstbeobachtung entsteht bei der Lektüre das Bild einer tatsächlichen Individualität46, wie auch der einleitend zitierte Bruder betonte. Besonders gern bediente sich Lichtenberg witziger oder paradoxer Formulierungen, einer scharfsinnigen Metaphorik, des Wortspiels, einer überraschenden Kombinatorik. Außerdem hatte er einen Sinn für sprachliche Konnotationen und einen Abscheu vor klischierten Vorstellungen. Wichtiger als „Begriffe“ waren für Lichtenberg „Sprachbilder“, da nur in ihnen „der Einfluß der Sinne auf die Erkenntnis deutlich wird“.47 Daher rührt auch die enorme Wichtigkeit, die Lichtenberg den Träumen beimaß. Ich empfehle Träume nochmals; wir leben und empfinden so gut im Traum als im Wachen und sind jenes so gut als dieses, es gehört mit unter die Vorzüge des Menschen, daß er träumt und es weiß. [. . .] Der Traum ist ein Leben, das, mit unserm übrigen zusammengesetzt, das wird, was wir menschliches Leben nennen. (F 743) Diese besondere Aufmerksamkeit für die nicht „konventionsmäßig“ (K 85) funktionierenden Träume und ihr Erkenntnispotential hat dazu geführt, in Lichtenberg einen Vorläufer Freuds zu sehen.48 Wie an dem zitierten Sudelbuch-Eintrag zu sehen, waren sie für Lichtenberg aber vor allem einmal eine notwendige Ergänzung, ja Erweiterung der Vernunft. Sein anthropologisches Interesse am ganzen Menschen gehört nicht zuletzt zu dem, was Lichtenbergs „Sudelbücher“ so modern wirken lässt. „Zum Menschen rechne ich Kopf Herz Mund und Hände“ (D 195) – also Vernunft, Gefühl, Sprache und Tätigkeit – und im Körperlichen besonders die Sexualität, muss man ergänzen. 46 Vgl. Heinz Gockel: Individualisiertes Sprechen. Lichtenbergs Bemerkungen im Zusammenhang von Erkenntniskritik und Sprachkritik, Berlin [u. a.] 1973, S. 157– 174. 47 Michael Serrer: Lichtenberg, Bemerkungen vermischten Inhalts, in: Reclams Romanlexikon, hg. von Frank Rainer Max und Christine Ruhrberg, Bd. 1, Stuttgart 1998, S. 315–317, hier S. 317. 48 Helmut Heißenbüttel: „Neue Blicke durch die alten Löcher“. Essays über Georg Christoph Lichtenberg, hg. und mit einem Nachwort versehen von Thomas Combrink, Göttingen 2007, S. 97.

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Einer seiner modernsten Gedanken und zugleich einer, der zeigt, dass Lichtenberg als Aufklärer die Fähigkeit hatte, auch zentrale Positionen der Aufklärung kritisch zu hinterfragen, war der Zweifel an der Willensfreiheit des Menschen. Hier lassen sich beispielhaft verschiedene Reflexionsweisen bei Lichtenberg zeigen. Ironisch: „Ein Meisterstück der Schöpfung ist der Mensch auch schon deshalb, daß er bei allem Determinismus glaubt er agiere als freies Wesen.“ ( J 1491) Allgemein festgestellt: „Wie mechanisch der Mensch in allen seinen sogenannten freien Handlungen ist, wird von vielen dunkel gefühlt“, was sich zeige, wenn zum Beispiel „Witzige“ sagten, sie seien „nicht aufgelegt“ ( J 275). Tatsachenbehauptung: „In Absicht des Leibes sind wir evident Sklaven.“ (Ebd.) Witzige Pointe: „Bei Krankheiten kommen noch die Ärzte hinzu, beim Denken die Bücher.“ (Ebd.) Hypothetische Frage: „Wie wenn frei zu handeln glauben bloß in dem Gefühl bestünde daß nun die Uhr richtig geht?“ (Ebd.) Trotzdem: „Wie sind wohl die Menschen zu dem Begriff von Freiheit gelangt? Es ist ein großer Gedanke gewesen.“ ( J 276) Was ist in dieser Situation zu tun? Dazu eine generalisierende Überlegung: Daß zuweilen eine falsche Hypothese der richtigen vorzuziehen sei sieht man aus der Lehre von der Freiheit des Menschen. Der Mensch ist gewiß nicht frei, allein es gehört sehr tiefes Studium der Philosophie dazu sich durch diese Vorstellung nicht irre führen zu lassen; ein Studium zu welchem unter Tausend [die] nicht die Zeit und Gedult haben, und unter 100 die sie haben, kaum einer den Geist hat. Freiheit ist daher eigentlich die bequemste Form sich die Sache zu denken und wird auch allezeit die übliche bleiben, da sie so sehr den Schein für sich hat. ( J 278) In der letzten Überlegung wandelt sich die Perspektive: Zunächst eine Reflexion aus dem Gebiet der Pragmatik, wird daraus unter der Hand eine soziologische; zuletzt verteidigt ein Pessimist einen zentralen Wert der Aufklärung mit einer zweifelhaften Prognose. Für die happy few, die Lichtenberg verstehen wie er sich selbst, schiebt er noch eine seiner konjunktivischen Überlegungen nach: Sie beginnt damit, dass die Existenz einer falschen Annahme konstatiert wird, und zwar einhergehend mit der Beobachtung, dass eine für Lichtenberg unbezweifelte Wahrheit den Meisten weniger wahr erscheine als das Falsche. Dann erfolgt eine invertiert gestellte ‚Denksport‘-Aufgabe, die immer noch provoziert, weil sie Grundüberzeugungen der Aufklärung in Frage stellt, allerdings sehr indirekt:

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Wir wissen mit weit mehr Deutlichkeit, daß unser Wille frei ist, als daß alles was geschieht eine Ursache haben müsse. Könnte man also nicht einmal das Argument umkehren und sagen: Unsre Begriffe von Ursache und Wirkung müssen sehr unrichtig sein, weil unser Wille nicht frei sein könnte, wenn die Vorstellung richtig wäre? ( J 790) Die interpretative „Unerschöpflichkeit“49 von Lichtenbergs NotatenSammlung ist nicht zuletzt dieser, ihrer vertrackten Form geschuldet. Die zuletzt zitierte Bemerkung formuliert im Indikativ eine empirisch belegbare Behauptung, die der Autor nicht teilt, um konjunktivisch eine Problemlösung zu avisieren, die ihm ebenfalls nicht entsprach. Lichtenberg konfrontierte hier zwei allgemein geteilte Annahmen als widersprüchliche: die Postulate der Willensfreiheit und des Gesetzes von Ursache und Wirkung. Dies soll zum Selberdenken (ein Postulat der Aufklärung, das Lichtenberg bedingungslos teilte) anregen; ein didaktischer Ansatz, der bei Lichtenberg nie pädagogisch daher kommt, sondern immer literarisch. Der nur punktuelle Lichtenberg-Leser wird manche der vertrackten Gedankengänge kaum angemessen begreifen. Er delektiert sich an einzelnen Formulierungen, die zu seiner Denkart passen. Das ist in Ordnung, was die Zitierenden angeht. „Laßt die Menschen glauben, was sie wollen, wenns nur hilft.“50 Es ist nicht in Ordnung, was Lichtenberg angeht. Seine „Sudelbücher“ sind das beste Beispiel für die hermeneutische Grundregel, dass nur diejenigen das einzelne Notat verstehen, die auch den gesamten Text kennen.

Die Briefe Nächst den „Sudelbüchern“ erfreuen sich heute Lichtenbergs Briefe der höchsten Wertschätzung, weil sie „gewiß zum Besten gehören, was die deutsche Literatur in dieser Prosaform bereithält“.51 Das sahen auch man49

Fricke [Anm. 45], S. 75. Lichtenberg [Anm. 23], S. 23. 51 Ulrich Joost: „Briefe an Jedermann“. Lichtenberg als Briefeschreiber, in: Lichtenberg. Streifzüge der Phantasie, hg. von Jörg Zimmermann, Hamburg 1988, S. 193–210, hier S. 194. 50

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che Zeitgenossen schon so; Georg Forster nannte Lichtenbergs Briefe „herrlich“ und „delicieus“, der Romancier Johann Gottwerth Müller „leicht“ und „angenehm“ zu lesen.52 Obgleich nur etwa ein Viertel seiner Korrespondenz überliefert ist, machen die fast 1.800 erhaltenen Briefe aus Lichtenbergs Feder etwa 25 Prozent seines schriftlichen Nachlasses aus. Es ist also der weitaus umfangreichste Werkkomplex. Den Zusammenhang zwischen Werk und Korrespondenz thematisierte übrigens Lichtenberg selbst in einem nachgelassenen Fragment; hier wird das literarische Œuvre einem Brief gleichgesetzt, den der Verfasser „selbst überbringe“ (Bw 5.1, 45).53 Werk und Korrespondenz sah Lichtenberg in einem Kontinuum mit der mündlichen Mitteilung. „Was mich allein angeht denke ich nur, was meine guten Freunde angeht sage ich ihnen, was nur ein kleines Publikum bekümmern kann schreibe ich, und was die Welt wissen soll wird gedruckt.“ (B 272) Freilich wünschte sich Lichtenberg nichts mehr als einen Dialog über seine Meinungen, der ihn womöglich nötige, diese zu ändern. „Wäre es möglich auf irgend eine andere Art“ als mittels Druckerpresse mit der Welt „zu sprechen, daß das Zurücknehmen noch mehr statt fände, so wäre es gewiß dem Druck vorzuziehen“ (ebd.). Seine Korrespondenz lässt sich mithin als Medium zwischen Sudelbuchnotiz und gedrucktem Buch lesen, das Distanz und Nähe, Öffentlichkeit und Intimität, Behauptung und Rücknahme gleichermaßen zulässt. Die Themen in Lichtenbergs Korrespondenz sind nicht auf einen Nenner zu bringen; aber durchgängig spürt man den „Anspruch [. . .], literarisch zu sein“.54 Auch wenn alle Korrespondenzen dazu tendieren, „eher flüchtig verzahnte Monologe als Wortwechsel“ zu sein55, ist doch auffällig, wie stark Lichtenberg „sich auf Denkweise, Verständnishorizont und 52

Georg Forster: Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hg. von der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin [früher hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin], Berlin 1958ff., Bd. 13: Briefe bis 1783, Berlin 1978, S. 212; Johann Gottwerth Müller genannt von Itzehoe: Müller: Novantiken. Eine Sammlung kleiner Romane, Erzählungen und Anekdoten, Braunschweig 1799, S. 592. 53 Vgl. Ulrich Joost: Lichtenberg – der Briefschreiber, Göttingen 1993, S. 293–300. 54 Ulrich Joost: Nachwort, in: „Ihre Hand, Ihren Mund, nächstens mehr. Lichtenbergs Briefe 1765 bis 1799, hg. von dems., München 1998, S. 385–397, hier S. 388f. 55 Deutsche Briefe 1750–1950, hg. von Gert Mattenklott, Hannelore Schlaffer und Heinz Schlaffer, Frankfurt a. M. 1988, S. 15.

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Sprachebene des Empfängers einzustellen“ wusste.56 Man vergleiche die unterschiedliche Art der Mitteilung einer heilen Ankunft: Dem Publizisten Heinrich Christian Boie meldete Lichtenberg sachlich: „Vergangene Nacht um zwölf bin ich von Hamburg hier angelangt“; dem Freund Johann Andreas Schernhagen schrieb er vertraulich: „Sehr glücklich, vergnügt und gesund bin ich hier angelangt“; eine selber gern „unterhaltende“ Erzählerin, die Osnabrücker Freundin Marie Tietermann, bekommt die gleiche Mitteilung in literarischer Form: „Vergangene Nacht in der Stunde, wo ausser Gespenstern nur Reisende, krancke und verliebte allein noch wachen, bin ich von Hamburg hier gesund angelangt.“ (Bw 1, 263–269, 303) Nach 1776 hat Lichtenberg Göttingen und seine Umgebung nicht mehr verlassen („Ein Mädchen, 150 Bücher, ein paar Freunde und ein Prospekt von etwa einer deutschen Meile im Durchmesser, war die Welt für ihn“ [G 214]). Die Kommunikation mit Freunden, Bekannten, Gelehrten und Schülern war daher auf die Korrespondenz verwiesen, die Lichtenberg mit gleichbleibender Intensität bis zu seinem Tod pflegte.

Die Aufsätze So sehr dominierte der Brief als tentative Form Lichtenbergs Denken, dass auch seine Abhandlungen oder seine Aufsätze mitunter als Briefe daherkamen, explizit zum Beispiel seine „Briefe aus England“ (1776–1778: über das englische Theater) oder das „Gnädigste Sendschreiben der Erde an den Mond“ (1780: gegen empfindsame Mondschwärmerei). Aber auch nicht ausdrücklich als Briefe bezeichnete Schriften sind häufig im brieflichen Konversationston gehalten. Ein Musterbeispiel ist der „Timorus“ (1773), der in der Tradition der Dunkelmännerbriefe (1515) Lavater und andere Prosyletenmacher angriff, indem er deren Position als scheinbarer Parteigänger so übertrieben bezog, dass deren Haltlosigkeit unmittelbar einleuchtet. Die genannten frühen Aufsätze Lichtenbergs machten ihn als Satiriker und Polemiker unter seinen Zeitgenossen berühmt, berüchtigt und „gefürchtet“.57 56

Joost [Anm. 51], S. 199. Ulrich Joost: Georg Christoph Lichtenberg, in: Deutsche Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren, hg. von Gunter E. Grimm und Frank Rainer Max, Bd. 3, Stuttgart 1988, S. 367–386, hier S. 380. 57

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Die gegen Lavaters „Physiognomische Fragmente“ (1775–1778) gerichtete Streitschrift „Ueber Physiognomik“ (zuerst im „Göttinger Taschen Calender für das Jahr 1778“) war einer seiner größten Erfolge. Noch im Winter 1777–1778 wurde ein vermehrter Separatdruck hergestellt.58 Lichtenberg lief hier zu großer Form auf, weil ihn der Gegenstand seiner polemischen Kritik persönlich anging: Aber nicht, weil er selbst bucklig war (so eine etwas naive Erklärung), sondern weil die Physiognomik seinem Denken so nah stand, dass er sich gegen die falsche Verwendung eigener wissenschaftlicher Maximen verwahren wollte.59 Gert Sautermeister meinte daher in dieser Schrift die Quintessenz des Lichtenbergschen Denkens, Fühlens und Schreibens erkennen zu können. Dieser Text spiegle Lichtenbergs erfahrungsgesättigte Vernunft, die der Welt- und Selbstkenntnis entspringt; ‚konjunktivische‘ Behutsamkeit, Zweifel und Skepsis, welche der Vereinnahmung einer vielgestaltigen Empirie durch ein logisches ‚System‘ mißtrauen; hellwacher Sinn für die Eigentümlichkeit der Einbildungskraft und Bilder-Produktion; hermeneutischer Tiefenblick in die Entstehung von Vorurteilen und Allgemeinweisheiten; provokativ-anschaulicher Stilwille, der mit ‚Witz‘ und sinnlichen Beispielen dem Alltagsbewußtsein in die Parade fährt und den Blick des Lesers ins Offene, Ungedachte, Vieldeutige und Rätselhafte lenkt: Ermutigung zur Selbstreflexion und Selbsterfahrung.60 All die genannten Eigenschaften prägen auch Lichtenbergs Hogarth-Erklärungen (1784–1796 kurze Aufsätze im „Calender“61; 1794–1799 eine erweiterte „Ausführliche Erklärung“62), die man ebenfalls als „Anti-Lavater“ 58 In Lichtenberg-Ausgaben findet sich stets nur der erweiterte Separatdruck, z. B. SB 3, S. 256–295. 59 Vgl. Carl Niekerk: Zwischen Naturgeschichte und Anthropologie. Lichtenberg im Kontext der Spätaufklärung, Tübingen 2005, S. 162f.; vgl. auch Dobstadt [Anm. 42], S. 261–278. 60 Gert Sautermeister: Georg Christoph Lichtenberg, München 1993, S. 83. 61 Lichtenbergs Hogarth [Anm. 11]. 62 SB 3, S. 657–1048.

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interpretieren kann.63 Lichtenberg besaß seit seiner zweiten Englandreise das vollständige Kupferstichwerk des englischen Malers und Grafikers. Ihn affizierte der satirische Realismus des Künstlers, den dieser explizit in Beziehung zu Henry Fieldings neuartigem Romanstil gesetzt hatte.64 Er war nicht der erste Hogarth-Kommentator in deutscher Sprache, aber „der erste“, der keine „prosaische“, sondern eine „poetische“ Erklärung lieferte, d. h. er sagte nicht „bloß mit kurzen und dürren Worten, was die Dinge bedeuten“, sondern wollte seinen „Vortrag“ mit einer „Laune“ beleben, die „mit der des Künstlers so viel Ähnlichkeit hätte als möglich“ (SB 3, 660–62). Es ging ihm um ein literarisches Pendant zu den Bildern, das zugleich deren Verständnis sicherstellt, also um eine Hermeneutik in Schleiermachers Sinn, bei dem das Verstehen als kongeniale Reproduktion der ursprünglichen Produktion gilt.65 Dabei ging Lichtenberg mit großer „Behutsamkeit“ (SB 3, 257) vor.66 Auch die Hogarth-Erklärungen wimmeln von „Vorbehaltssignalen“67, mit denen Lichtenberg deutlich macht, dass er mit seiner „Erklärung [. . .] keines Menschen Urteil vorgreifen“68, sondern dieses erst ermöglichen „wolle“, und zwar durch einen Kommentar, dem er „so viel Vollständigkeit“ als möglich „zu geben“ trachtete (SB 3, 660). In seiner geistreichen Ausführlichkeit läuft der Kommentar allerdings Gefahr, in „eine Folge witziger Aperçus auseinanderzufallen“69, die „um ihrer selbst willen“ da zu „stehen“ scheinen.70 Schon seinerzeit hat man Lichtenberg gelegentlich den Vorwurf gemacht, er habe „zuviel geseErnst-Peter Wieckenberg: Lichtenbergs „Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche“ – ein Anti-Lavater, in: Georg Christoph Lichtenberg [Anm. 26], S. 39–56. 64 Arnd Beise: „Meine scandaleusen Exkursionen über den Hogarth“. Lichtenbergs Erklärungen zu Hogarths moralischen Kupferstichen, in: Kat. S. 239–257, hier S. 245. 65 Vgl. ebd., S. 249; vgl. dagegen Hans-Georg von Arburg: Kunst-Wissenschaft um 1800. Studien zu Georg Christoph Lichtenbergs Hogarth-Kommentaren, Göttingen 1998, S. 229–232. 66 Vgl. Wieckenberg [Anm. 63], S. 45–48. 67 Schöne [Anm. 36], S. 43. 68 Der Fortgang der Tugend und des Lasters. Daniel Chodowieckis Monatskupfer zum Göttinger Taschenkalender mit Erklärungen Georg Christoph Lichtenbergs, hg. von Ingrid Sommer, 2. Auflage, Frankfurt a. M. 1977, S. 8. 69 Wieckenberg [Anm. 63], S. 53. 70 Gunter E. Grimm: Nachwort, in: Satiren der Aufklärung, hg. von dems., Stuttgart 1975, S. 325–398, hier S. 342; vgl. Beise [Anm. 64], S. 247f. 63

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hen“.71 Lichtenberg hielt dagegen: „Man könnte mir leicht vorwerfen ich hätte zuviel gesehn wo man sagen sollte ich hätte zu stark analysiert.“ (MH 78) Das Stichwort verweist auf eine grundlegende Eigenart des Lichtenbergschen Stils, nämlich ohne Rücksicht auf den „Totaleindruck“ Gegenstände in ihre „Bestandtheile zu zerlegen“ und die eigenen „Empfindungen“ darüber „zu Buch zu bringen“ (Bw 1, 588). Tatsächlich werden viele Leser die Erfahrung machen, dass ihnen während Lichtenbergs subjektiver Analyse die Bilder von Hogarth leicht aus dem Bewusstsein schwinden. Es ist dies eine Folge der antiklassizistischen Tendenz in Lichtenbergs Schreiben, bei der es darum geht, „sich selbst auszusprechen so individuel als möglich“ (Bw 4, 427), und nicht darum, eine selbstständige und in sich geschlossene „Ganzheit“ künstlerisch herzustellen, wie Goethe forderte72, der die Hogarth-Erklärungen hasste.73 „Lichtenberg ist einer der großen Anti-Klassiker der deutschen Literatur.“74 Lichtenbergs Antiklassizismus machte sich in eigentlich allen Aufsätzen geltend, bei denen manche sich schon ganz äußerlich in einzelne „Bemerkungen“ und Listen auflösen: z. B. der „Vorschlag zu einem Orbis pictus für deutsche dramatische Schriftsteller, Romanen-Dichter und Schauspieler“ (1780/85) oder das „Verzeichniß einer Sammlung von Geräthschaften“ (1797).75 Literarisch besonders bemerkenswert umgesetzt ist Lichtenbergs Antiklassizismus in seinem Kalenderbeitrag „Von den Kriegs- und Fast-Schulen der Schinesen“ (1796). Die Erzählung ist maskiert als Übersetzung eines Berichts des Butlers einer englischen Gesandtschaftsreise 71

Helfrich Peter Sturz: Die Reise nach dem Deister. Prosa und Briefe, hg. von Karl Wolfgang Becker, Berlin 1976, S. 360. 72 Vgl. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden [1948ff.], hg. von Erich Trunz, Neubearbeitung, München 1981, Bd. 12: Schriften zur Kunst. Schriften zur Literatur. Maximen und Reflexionen, textkritisch durchgesehen von Erich Trunz und Hans Joachim Schrimpf, kommentiert von H. J. Schrimpf und Herbert von Einem, S. 58 und Bd. 14: Naturwissenschaftliche Schriften II, textkritisch durchgesehen und kommentiert von Dorothea Kuhn, S. 41. 73 Vgl. Arnd Beise: „Wenn man auch nicht lichtenbergisieren kann noch will . . .“. Goethes Gegenentwurf zu Lichtenbergs Manier, Bilder zu erklären, in: LichtenbergJahrbuch 1993, S. 56–77, hier bes. S. 61f. und 68f. 74 Dieter Lamping: Das ‚Grenz-Genie‘ Georg Christoph Lichtenberg und die europäische Literatur, in: Angermion 1, 2008, S. 33–50, hier S. 43. 75 SB 3, S. 377–403 und 451–457.

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nach China, der durch einen Dritten dem Herausgeber zugespielt wurde, mitsamt einer Einleitung, Anmerkungen und einem Schlusswort des Letztgenannten. Der Herausgeber ist scheinbar der des „Calenders“, tatsächlich aber ein fiktiver Dummkopf. Der „Bericht“ des Butlers handelt von der Vorführung chinesischer Drillanstalten, in denen der „Passivkrieg“ (das Erdulden von Leiden) trainiert und das Volk gleichgeschaltet wird. Die Fiktion des Reiseberichts wird gestört durch seine Unglaubhaftigkeit, die einerseits aus den satirisch-grotesken Übertreibungen resultiert, andererseits aus kalkulierten narrativen Brüchen (etwa, dass mitgeteilt wird, was der Dolmetscher tatsächlich übersetzt, obwohl der Butler dies naturgemäß nicht wissen kann, da er „kein Schinesisch“ versteht).76 Franz K. Mautner hat dies einmal als „totale Ironie“ bezeichnet.77 Es ist eine in jeder Hinsicht ‚unzuverlässige‘ Erzählung78, wie sie typisch für die Romantik und die Postmoderne ist, aber eben auch einem skeptischen Aufklärer wie Lichtenberg zu Gebot stand. Lichtenberg kann als exemplarische Gestalt der Spätaufklärung begriffen werden. Einerseits dem Aufklärungsprojekt verhaftet, reflektiert er es zugleich kritisch. In mancher Hinsicht wirkt er sehr heutig; dazu gehören seine Ansichten zur „Interdependenz von Körper und Geist“, „die Relativität moralischer und ästhetischer Urteile“, das Misstrauen gegen „dogmatische und systematisch formulierte Wahrheiten“.79 Andererseits ist er Kind seiner Epoche; seine Aufzeichnungen demonstrieren „noch einmal die Fähigkeit der Aufklärung, das Streben nach Mündigkeit, Vernunft und Wahrheit mit einer skrupulösen Selbstreflexion des rationalen Erkenntnisanspruchs zu verbinden“.80 Bisweilen bleibt er aber auch ‚unter seiner Zeit‘.81 „Der Denker, der in vielerlei Hinsicht für seine Zeit sehr undogmatisch dachte, war in man76

SB 3, S. 440–450. Mautner [Anm. 15], S. 403. 78 Und keineswegs Ausdruck von China-Feindlichkeit (so Willy Richard Berger: China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, Köln [u. a.] 1990, S. 127); zu Lichtenbergs China-Bild vgl. auch Karl S. Guthke: Lichtenberg und die Exoten. „Ozeanisch in Göttingen“, in: Lichtenberg-Jahrbuch 1996, S. 90–124, hier S. 120f. 79 Michael Hofmann: Aufklärung. Tendenzen – Autoren – Texte, Stuttgart 1999, S. 244. 80 Ebd., S. 247f. 81 Vgl.: „Bemühe dich, nicht unter deiner Zeit zu sein.“ (D 474) 77

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chen Punkten auch sehr dogmatisch“82; zwar hing Lichtenberg einer toleranten Theorie der Alterität und menschlicher Diversität an, andererseits schob „er gelegentlich ohne allzugroße Gewissensbisse seinen Respekt vor dem Anderen zugunsten wenig aufgeklärter Vorurteile beiseite“.83 Das prominenteste Beispiel ist dafür sicher sein Antisemitismus.84 Ein anderes Beispiel sind seine Obsessionen, denen kürzlich Ernst Osterkamp nachging. Lichtenberg faszinierte die menschliche Sexualität jenseits der Moral, doch die von seiner Sinnlichkeit hervorgerufenen Entgrenzungsfantasmen verlangen komplementär nach gesellschaftlichen Stabilisierungsfaktoren, deren Notwendigkeit ihm die Vernunft vorschreibt. So oszilliert Lichtenbergs Aufklärung zwischen deren obsessiv beobachteten Grenzphänomenen: der Hure und dem Galgen.85 Lichtenberg hing schon einmal jakobinischen Fantasien nach („wenn doch die Welt einmal erwachte, und wenn auch drei Millionen am Galgen stürben, so würden doch vielleicht 50 bis 80 Millionen dadurch glücklich“ [A 119]); daneben blieb für ihn immer die englische Monarchie ein Ideal. Lichtenberg tendierte zum Atheismus, pflegte aber einen privaten „Aberglauben, der ihn bald im Scherz, bald im Ernst“ (H 42) leitete. Dergleichen Ambiguitäten sind eine Folge von Lichtenbergs Willen zur „Aufrichtigkeit“ (F 811) bei gleichzeitiger Einsicht in die Krisenhaftigkeit der eigenen Subjektivität. „Das Ich anzunehmen“ oder sogar „zu postulieren“ sei zwar ein „praktisches Bedürfnis“, doch eigentlich sei die Behauptung „Ich denke“ doch etwas stark: „Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt.“ (K 76) Lichtenberg ließ zu, dass es in ihm dachte, und er schrieb alles auf, unbekümmert um die mitunter fehlende gedankliche Konsistenz seiner Texte. „Habe ich geirrt, gut, was ists dann? Es ist unser aller Los, zu irren.“ (F 737)

82

Niekerk [Anm. 59], S. 222. Ebd., S. 246f. 84 Vgl. Frank Schäfer: Lichtenberg und das Judentum, Göttingen 1998. 85 Ernst Osterkamp: Der Galgen und die Hure. Lichtenbergs Obsessionen, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 5, 2011, H. 3, S. 65–90, hier S. 74. 83

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1. Literarhistorischer Umriss. Der Roman der Frühaufklärung Das 18. Jahrhundert ist das Jahrhundert des Romans. Auch wenn Protoformen der Gattung bereits in Antike und Mittelalter existieren, beginnen die ersten ‚Originalromane‘ nicht vor dem 16. Jahrhundert zu entstehen. Die eigentliche – und bis heute ungebrochen fortdauernde – Konjunktur des Romans setzt allerdings erst im letzten dritten Drittel des 18. Jahrhunderts ein und mündet in eine regelrechte ‚Romanflut‘.1 Angesichts dieser sprunghaft gewachsenen Produktion merkt Friedrich Schlegel ausgangs des 18. Jahrhunderts kritisch an: „Auch enthält jeder Mensch, der gebildet ist und sich bildet, in seinem Innern einen Roman. Daß er ihn aber äußre und schreibe, ist nicht nötig.“2 In der Übergangszeit vom Barock zur Aufklärung beginnt sich die Gattung des Romans mehr und mehr von den ästhetischen Konventionen des 17. Jahrhunderts zu emanzipieren. Werden im Barock Großformen wie der heroische, pikareske und schäferliche Roman gattungstypologisch voneinander abgegrenzt, „so findet im 18. Jahrhundert ein Prozeß der Autonomisierung, Differenzierung und Individualisierung der Formen 1 Vgl. Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770–1910, Frankfurt a. M. 1970, S. 36–39. Zu den Erscheinungszahlen der Romangattungen vgl. Michael Hadley: The German Novel in 1790. A Descriptive Account and Critical Bibliography, Bern/Frankfurt a. M. 1973. 2 Friedrich Schlegel: Kritische Fragmente. Nr. 78, in: Ders.: Kritische Ausgabe seiner Schriften, hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner, Bd. 2: Friedrich Schlegel, Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), hg. von Hans Eichner, München [u. a.] 1967, S. 156.

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statt“.3 Trotz der sukzessiven Überwindung der vielfach normativen Gattungsvorgaben sind aber auch die Kontinuitäten in der Konzeptualisierung des Romans zwischen Barock und Aufklärung nicht zu übersehen.4 Beispielsweise werden die pikaresken Helden in den Romanen von Johann Beer und Christian Weise in bürgerliche Lebensbereiche überführt5, oder knüpft der Aufklärungsroman an den Darstellungsrealismus bürgerlicher Szenen und psychologisch komplex angelegter Figuren an, wie er schon im galanten Roman der Barockzeit zu beobachten ist.6 Allerdings darf die Feststellung struktureller und ästhetischer Entwicklungszusammenhänge nicht über den sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Wandel hinwegtäuschen, der mit dem Anwachsen des bürgerlichen Lesepublikums einsetzt. So steht die „programmatische Realitätsnähe“ des Romans in Wechselwirkung mit den Leseansprüchen eines praxisorientierten, da handeltreibenden und kapitalbesitzenden Bürgertums.7 Indem der Roman die fiktiven Erlebnisse seiner Protagonisten präsentiert, vermittelt er exemplarische Fallgeschichten, die beim Lesepublikum einen Zuwachs an Erfahrungs- und Weltwissen generieren. Diese didaktische Erweiterung des Kenntnis- und Reflexionshorizonts kann zum einen von der seelischen Disposition der Hauptfigur ausgehen. Durch die Teilnahme an den narrativ inszenierten Gemütsbewegungen des epischen Helden wird dem Leser Einblick in die anthropologisch-psychologischen Bewusstseinsprozesse gewährt wie etwa in Karl Philipp Moritz’ autobiographisch grundiertem Roman „Anton Reiser“ (1785–1786, 1790). Zum anderen gestattet es der Roman, fiktive Szenarien gleichsam als experimentellen Gegenentwurf zur politischen-sozialen Erfahrungswirklichkeit zu konzipieren. Noch im Horizont von Thomas Morus lateinischem Dialog „Utopia“ (1516) erweist sich der Roman im 18. Jahrhundert als ein literarischer Ort, 3 Barbara Potthast: Die verdrängte Krise. Studien zum ‚inferioren‘ deutschen Roman zwischen 1750 und 1770, Hamburg 1997, S. 78. 4 Vgl. Dieter Kimpel: Der Roman der Aufklärung, Stuttgart 1967, S. 23. 5 Vgl. Arnold Hirsch: Barockroman und Aufklärungsroman, in: Etudes Germaniques 9, 1954, S. 97–111. 6 Vgl. John A. McCarthy: The Gallant Novel and the German Enlightenment (1670– 1750), in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 59, 1985, H. 1, S. 47–78. 7 Peter-André Alt: Aufklärung. Lehrbuch Germanistik, 3., aktualisierte Auflage, Stuttgart 2007, S. 276.

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um die Tauglichkeit konkreter etatistischer Modelle zu erproben. Beispielsweise synthetisiert Johann Gottfried Schnabel in seinen „Wunderlichen Fata einiger See-Fahrer“ (1731–1743, seit 1828 unter dem Titel „Die Insel Felsenburg“) den utopischen Entwurf mit dem Idealbild einer harmonischen und gottesfürchtigen Gemeinschaft. Trotz des fiktiven Charakters seiner Inselwelt besteht Schnabel auf der moralischen Wirkungsdimension seiner Darstellung und fragt provokant in der Vorrede: „Warum soll denn eine geschickte Fiction [. . .] so gar verächtlich und verwerfflich seyn?“8 Mit dieser Frage reagiert Schnabel auf die zeitgenössische poetologische Diskussion, in der wiederholt moralische Argumente gegen den Roman vorgebracht werden. Zwar betont der französische Bischof Pierre-Daniel Huet in seinem „Traité de l’Origine des Romans“ bereits 1670 die Gemeinsamkeiten von Epos und Roman9, doch polemisiert der Schweizer Theologe Gotthard Heidegger in seiner „Mythoscopia romantica“ (1698) scharf gegen das Fiktionspotential der neuen Gattung: „Es seyn einige Romans, die den Zettel auß wahrhafften Historien entlehnen/[. . .] aber indem sie ihn mit erlognen Umständen durchweben/[. . .] werden sie vil schlimmer [. . .]/denn sie machen die wahrhaffte Geschichten zu Lügen.“10 Heideggers Kritik richtet sich gegen die unstatthafte Verfremdung objektiv gültiger Fakten durch die in der literarischen Fiktion hinzugefügten ‚erlogenen Umstände‘. Sein zentraler Vorwurf betrifft allerdings das Phänomen der Zeitvergeudung, da die oft ausufernde Romanhandlung die Lektüre zu einem zeitraubenden Akt werden lasse, der nur von nützlicher Arbeit abhalte.11 Indem er das dauerhafte Lesen von Romanen als Lektürekrankheit stigmatisiert, wertet Heidegger die rezeptive Aufnahme der neuen Gattung nicht nur als Kennzeichen moralischer Instabilität, sondern weist gleichzeitig auf die gegen Ende des 18. Jahrhunderts wiederholt 8 Johann Gottfried Schnabel: Wunderliche Fata einiger See-Fahrer [. . .], 4 Bde., Nordhausen 1731–1736, Frankfurt a. M. r1973, Bd. 1, S. 3v. 9 Vgl. Wilhelm Voßkamp: Huets Romantheorie und ihre Rezeption in Deutschland, in: Ders.: Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von Blanckenburg, Stuttgart 1973, S. 72–95. 10 Gotthard Heidegger: Mythoscopia Romantica oder Discours von den so benannten Romans. Faksimileausgabe nach dem Originaldruck von 1698, hg. von Walter Ernst Schäfer, Bad Homburg [u. a.] 1969, S. 73f. 11 Vgl. ebd., S. 63.

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diagnostizierte und im Regelfall mit der Gattung ‚Roman‘ verbundene Lesesucht voraus.12

2. Typologischer Aufriss. Formen des Romans in Hoch- und Spätaufklärung Seit den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts beginnen sich mehrere charakteristische Romanformen herauszubilden, die bis in die Spätaufklärung hinein Nachahmer finden. Während sich die ersten vier der hier vorgestellten Modelle an die von Peter-André Alt formulierte Typologie anlehnen13, beschreiben das fünfte und sechste Modell Romanformen, die sich erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts etablieren. 2.1 Die Robinsonade Im Anschluss an Daniel Defoes Erfolgsroman „The Life and Strange Surprising Adventures of Robinson Crusoe“ (1719) wird der deutsche Buchmarkt von einer Flut an Robinsonaden und Pseudo-Robinsonaden überschwemmt.14 Auch wenn Johann Christian Ludwig Haken im Rückblick auf diese literarische Mode vernichtend schreibt, „daß eine Robinsonade und ekler Unsinn schier als gleichbedeutend gelten“ können15, befriedigt die Romanform in erster Linie den Publikumswunsch nach literarischer Unterhaltung. Schon bald wird die Titelfigur nicht mehr vorrangig mit einem Schiffbrüchigen, sondern vielmehr mit einem „Avanturier“ identifiziert, dessen Schicksal „in der Welt allerhand ausserordentliche[n] Glücksund Unglücks-Fällen unterworffen“ ist.16 In den Entwürfen oftmals exoti12 Vgl. Helmut Kreuzer: Gefährliche Lesesucht? Bemerkungen zu politischer Lektürekritik im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Leser und Lesen im 18. Jahrhundert. Colloquium der Arbeitsstelle 18. Jahrhundert, Heidelberg 1977, S. 62–75. 13 Vgl. Alt [Anm. 7], S. 286–292. 14 Vgl. Jürgen Fohrmann: Abenteuer und Bürgertum. Zur Geschichte der deutschen Robinsonaden im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1981. 15 Johann Christian Ludwig Haken: Bibliothek der Robinsone. In zweckmäßigen Auszügen vom Verfasser der grauen Mappe, 5 Bde., Berlin 1805–1808, Bd. 1, S. III. 16 Wilhelm Retchir [= Richter]: Der Sächsische Robinson [. . .], Leipzig 1722, Frankfurt a. M. r1970, S. 2v.

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scher Inselwelten gewinnt zugleich die experimentelle Verwirklichung alternativer Wirklichkeitsvorstellungen Kontur. Dieses Vergegenwärtigungsprinzip wird insbesondere in Schnabels „Wunderlichen Fata“ sichtbar, wo der insulare Zufluchtsort ein Gegenbild zu den europäischen Gesellschaftsverhältnissen bildet und zu einem „Asyl der Redlichen“ avanciert.17 Noch in der Spätaufklärung bezeugen Johann Karl Wezels Neubearbeitung „Robinson Krusoe“ (1779–1780) sowie Joachim Heinrich Campes „Robinson der Jüngere, zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung für Kinder“ (1779–1780) die Popularität dieser Romanform.18 Im Gegensatz zum aufklärerischen Perfektibilitätsdenken nimmt der bei Wezel geschilderte Zivilisationsprozess dystopische Züge an. Die Insel degeneriert zu einer „menschenleere[n] Wüste, wie ein tragisches Theater, auf welchem ein barbarischer Dichter gewürgt hat“.19 Damit scheint die Romanform an ihr vorläufiges Ende gekommen zu sein: Zwar wird die Robinsonade in ihrer Eigenschaft als Sozialutopie noch einmal aufgerufen, gleichzeitig aber unterläuft der desillusionierende Romanschluss das bis dahin erfolgreiche Literaturmodell. 2.2 Der empfindsame Familienroman Ab der Jahrhundertmitte beginnt sich der gesamteuropäisch wirksame Romantypus des empfindsamen Familienromans nachhaltig durchzusetzen. Als modellbildend für diese Entwicklung sind in erster Linie Samuel Richardsons Briefromane „Pamela or Virtue Rewarded“ (1740) und „Clarissa or The History of a Young Lady“ (1747) anzusehen, die anhand exemplarischer Verführungsfälle die Kritik des englischen Bürgertums am moralischen Verhalten des Adels entfalten. Gleichzeitig ermöglicht die Briefform die gefühlsbetonte Selbstaussprache der Figuren, die wiederum 17 Fritz Brüggemann: Utopie und Robinsonade. Untersuchungen zu Schnabels Insel Felsenburg, Berlin 1903, Hildesheim r1978, S. 17. 18 Vgl. Jörg Schönert: Johann Karl Wezels und Joachim Campes Bearbeitungen des Robinson Krusoe. Zur literarischen Durchsetzung des Wertkomplexes ‚Arbeit‘ in der Literatur des späten 18. Jahrhunderts, in: Deutsche Literatur in sozialgeschichtlicher Perspektive. Ein Dubliner Symposion, hg. von Eda Sagarra, Dublin 1989, S. 18–34. 19 [Johann Karl Wezel:] Robinson Krusoe. Neu bearbeitet, 2 Bde., Leipzig 1779– 1780, Bd. 2, S. 304.

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auf die wirkungsästhetisch kalkulierte, emotionale Partizipation des Lesers zielt. Wie sehr diese angestrebte Rührung dem tatsächlichen Empfinden des zeitgenössischen Lesepublikums entsprochen hat, beschreibt Albrecht von Haller in seiner Rezension der „Clarissa“ von 1749: „Die unempfindlichsten Gemüther haben die Würkung des unwiederstehbarn Pathos empfunden, und Augen haben geweint, die bey wahren Unglücken ihrer Freunde beständig trocken geblieben sind.“20 Im deutschen Raum ist es zunächst Christian Fürchtegott Gellert, der mit seinem Roman „Leben der schwedischen Gräfin von G***“ (1747–1748) dem neuen literarischen Muster folgt, dabei aber die Briefform nicht adaptiert, sondern einzelne Briefe in ihrer Funktion als beglaubigende Dokumente in den Erzählzusammenhang integriert.21 Als Vehikel zur Entfaltung einer empfindsamen Moralistik entwickelt sich der Familienroman im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zu einer bevorzugten Binnengattung, der sich insbesondere weibliche Autoren zuwenden. So rekurriert Therese Huber in ihrem Debütroman „Die Familie Seldorf“ (1795–1796) zwar auf gängige Stoffmuster, bindet aber die Schilderung einer schicksalsträchtigen Familiengeschichte an die zeitgeschichtlichen „Wirrnisse und Schrecken der Französischen Revolution“.22 In ähnlicher Weise bilden auch bei August Lafontaine die aktuellen politischen Ereignisse den thematischen Hintergrund für seinen Roman „Klara du Plessis und Klairant“ (1794), in dem er in empfindsamer Überhöhung von der Emigration einer französischen Aristokratenfamilie berichtet.23

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Albrecht von Haller: Beurtheilung der berühmten Geschichte der Clarissa [1749], in: Sammlung kleiner Hallerischer Schriften, 2., verbesserte und vermehrte Auflage, Erster Teil, Bern 1772, S. 293–315, hier S. 307. 21 Vgl. Eckhardt Meyer-Krentler: Der andere Roman. Gellerts „Schwedische Gräfin“: Von der aufklärerischen Propaganda gegen den ‚Roman‘ zur empfindsamen Erlebnisdichtung, Göppingen 1974. 22 Mechthilde Vahsen: Die Politisierung des weiblichen Subjekts. Deutsche Romanautorinnen und die Französische Revolution 1790–1820, Berlin 2000, S. 115. 23 Vgl. Dirk Sangmeister: August Lafontaine oder Die Vergänglichkeit des Erfolges. Leben und Werk eines Bestsellerautors der Spätaufklärung, Tübingen 1998, S. 426–430.

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2.3 Der Staatsroman Ähnlich wie die Robinsonade besitzt auch der Staatsroman utopischen Gehalt, da er im Gegensatz zu den realen Gegebenheiten einen fiktionalen Idealstaat literarisch verwirklicht und eine alternative Gesellschaftsordnung samt vorbildhaften Herrscherfiguren musterhaft veranschaulicht. Indem der Staatsroman eine konkrete ‚Herrscherlehre‘ entwirft, schreibt er sich in die Tradition des Fürstenspiegels ein.24 Aufgrund zunehmender Debatten über das Naturrecht und der im Rahmen der Aufklärung wiederholt diskutierten Frage nach der Stellung des Herrschers zu Kirche und Gesellschaft erlebt der Staatsroman vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine beachtliche Konjunktur.25 Im Vordergrund steht insbesondere die Frage, wie das höfisch-absolutistische Machtbewusstsein des Souveräns in ein aufgeklärtes Herrschaftsdenken transformiert werden könne. Als einer der einflussreicheren Staatsromane ist Johann Michael von Loens „Der Redliche Mann am Hofe“ (1740) anzusehen, worin exemplarisch vorgeführt wird, wie die individuellen Tugenden angesichts der am Hof herrschenden moralischen „Unordnung“ zu bewahren seien.26 Bis 1771 erlebt der Roman fünf Auflagen und stiftet überdies das „politische Wunschbild“ vom „patriotischen Minister“.27 Im gleichen Jahr beginnt Albrecht von Hallers auflagenstarke Romantrilogie zu erscheinen, die aus den Teilen „Usong“ (1771), „Alfred“ (1773) und „Fabius und Cato“ (1774) besteht. Mit diesen drei Staatsromanen beabsichtigt Haller, die im ersten Abschnitt von Montesquieus „De l’Esprit des Loix“ (1748) 24

Vgl. Wolfgang Biesterfeld: Von der Prinzenerziehung zur Emanzipation des Bürgers. Der Fürstenspiegel als Roman im Zeitalter der Aufklärung, in: Pädagogische Rundschau 42, 1988, H. 4, S. 387–401. 25 Vgl. Hans-Jürgen Schings: Der Staatsroman im Zeitalter der Aufklärung, in: Handbuch des deutschen Romans, hg. von Helmut Koopmann, Düsseldorf 1983, S. 151–169. 26 Der redliche Mann am Hofe, oder, Die Begebenheiten des Grafens von Rivera. In einer auf den Zustand der heutigen Welt gerichteten Lehr- und Staats-Geschichte. Faksimiledruck nach der Ausgabe Frankfurt a. M. 1742, hg. und mit einem Nachwort von Karl Reichert, Stuttgart r1966, S. 22. 27 Helga Meise: Der Hofroman im 18. Jahrhundert. Höflichkeit versus Augensprache, in: Der gepflegte Umgang. Interkulturelle Aspekte der Höflichkeit in Literatur und Sprache, hg. von Dorothee Kimmich und Wolfgang Matzat, Bielefeld 2008, S. 33–47, hier S. 34.

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entfalteten Staatsmodelle literarisch zu profilieren: „die gemilderte Despotie im Usong, die gemäßigte Monarchie im Alfred sowie die aristokratische Republik in Fabius und Cato.“28 Hallers Orientierung an der orientalen Welt wird von Christoph Martin Wieland aufgenommen, der die Handlung seines indo-chinesischen Staatsromans „Der Goldne Spiegel“ (1772) ebenfalls im asiatischen Raum ansiedelt. Darin verfolgt der Erzähler Danischmend große pädagogische Ziele, indem er vermittels seiner Schilderung der Herrschaftsgeschichte Schechians den Sultan SchachGebal zu einem aufgeklärten Souverän erziehen will. Letztlich scheitert er jedoch an der Trägheit des Sultans sowie an der Missgunst der Priesterkaste.29 Schließlich entstehen im Anschluss an Montesquieus einflussreiche „Lettres Persanes“ (1721) mit Johann Pezzls „Marokkanischen Briefen“ (1784) und „Abdul Erzerums neuen persischen Briefen“ (1787) Adaptionen der französischen Vorlage, die im Rahmen der Briefform eine alternative Gesellschaftswirklichkeit entfalten. 2.4 Der satirische Roman Während der Staatsroman vielfach Gegenentwürfe zur gesellschaftlichen Wirklichkeit entfaltet, stellt der satirische Roman bestehende Ordnungsstrukturen vermittels enthüllender Komik und Kritik bloß. Mit dieser Entlarvungstechnik wird ein konstruktiver Zweck verfolgt: „Die Satire ‚straft‘ nicht mehr die Narren, die sich ihre Erlösung im Jenseits verscherzen, sondern versucht durch die soziale Erziehung des Einzelnen eine für alle Individuen glückliche gemeinsame Existenz aufzubauen.“30 Ein signifikantes Beispiel dieser „soziale[n] Erziehung des Einzelnen“ bildet Wielands Roman „Die Abentheuer des Don Sylvio von Rosalva“ (1764), in dessen Verlauf der Protagonist von der zeittypischen ‚Krankheit‘ der Schwärmerei ge28 Florian Gelzer und Béla Kapossy: Roman, Staat und Gesellschaft, in: Albrecht von Haller. Leben – Werk – Epoche, hg. von Hubert Steinke, Urs Boschung und Wolfgang Proß, Göttingen 2008, S. 156–181, hier S. 156. 29 Vgl. Michael Titzmann: Wielands Staatsromane im Kontext des utopischen Denkens der Frühen Neuzeit [1994], in: Ders.: Anthropologie der Goethezeit. Studien zur Literatur und Wissensgeschichte, hg. von Wolfgang Lukas und Claus-Michael Ort, Berlin/Boston 2012, S. 111–128, hier S. 120–126. 30 Jörg Schönert: Roman und Satire im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Poetik, Stuttgart 1969, S. 51.

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heilt wird. Während Wieland einerseits an Cervantes anknüpft, indem er bei Don Sylvio – als Resultat der übermäßigen Lektüre von Feenmärchen – „die poetische und bezauberte Welt in seinem Kopf an die Stelle der würklichen“ treten lässt31, integriert er andererseits im Anschluss an Shaftesbury den ‚test by ridicule‘32, der im satirischen Roman der Aufklärung wiederholt als ‚Schwärmerkur‘ zur Anwendung kommt. Ist es im „Don Sylvio“ noch der vernunftgeleitete Don Gabriel, der den Titelhelden zu kurieren versucht, werden in Johann Karl Wezels „Wilhelmine Arend, oder die Gefahren der Empfindsamkeit“ (1784) zwei Ärzte präsentiert, die unterschiedliche medizinische Heilmethoden zur Therapierung der Protagonistin vorschlagen. Indem Wezel vorführt, dass Wilhelmine an der Empfindsamkeit wie an einer „Art von Stockschnupfen“ leidet, nutzt er das Modell des satirischen Romans, um epochenkritisch gegen die „gefährlichen Seite[n]“ der Empfindsamkeit zu polemisieren.33 Auch Adolph Knigge liefert mit „Benjamin Noldmann’s Geschichte der Aufklärung in Abyssinien“ (1791) eine „diagnostizierende und prognostizierende Selbstanalyse der deutschen Aufklärungsbewegung“34, integriert aber die satirischen Ausfälle gegen die kulturpolitische Entwicklung der Fiktionswelt Abyssinien in die literarische Form des Reiseromans.

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Christoph Martin Wieland: Wielands Werke. Oßmannstedter Ausgabe, hg. von Klaus Manger und Jan Philipp Reemtsma, Bd. 7.1: Der Sieg der Natur über die Schwärmerey, oder die Abentheuer des Don Sylvio von Rosalva/Comische Erzählungen, hg. von Nikolas Immer, Berlin/New York 2009, S. 14. 32 Vgl. Jutta Heinz: Von der Schwärmerkur zur Gesprächstherapie – Symptomatik und Darstellung des Schwärmers in Wielands ‚Don Sylvio‘ und ‚Peregrinus Proteus‘, in: Wieland-Studien 2, 1994, S. 33–53; Mark-Georg Dehrmann: Das „Orakel der Deisten“. Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, Göttingen 2008, S. 328–338. 33 Johann Karl Wezel: Wilhelmine Arend, oder die Gefahren der Empfindsamkeit, 2 Bde., Karlsruhe 1783, Bd. 2, S. 106; Bd. 1, S. 2r. 34 Jürgen Walter: Adolph Freiherrn Knigges Roman „Benjamin Noldmanns Geschichte der Aufklärung in Abyssinien“. Kritischer Rationalismus als Satire und Utopie im Zeitalter der deutschen Klassik, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.F. 21, 1971, S. 153–180, hier S. 158.

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2.5 Der Reiseroman Mit der Zunahme großer Forschungsexpedition im 18. Jahrhundert, wie sie insbesondere von Louis Antoine de Bougainville oder James Cook durchgeführt werden, beginnt auch die Zahl der Reisebeschreibungen rasant zu wachsen. Dabei geht es weniger um die Präsentation exotischer Schauplätze als vielmehr um die Vermittlung ethnologischer und kulturgeographischer Einsichten. So „beobachtet, interpretiert, analysiert und beschreibt“ Georg Forster in seiner publikumswirksamen „Reise um die Welt“ (1778) „die verstreute Vielfalt der Sitten, Gewohnheiten und Merkwürdigkeiten, um von hier aus die das 18. Jahrhundert skandalisierende Frage: Was ist der Mensch? zu bestimmen“.35 Parallel dazu erleben auch jene Reiseschilderungen erheblichen Auftrieb, in denen – wie Friedrich Nicolais zwölfbändiger „Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781“ (1783–1796) – die Darstellung nationalgeographischer Gebiete im Zentrum steht und die unter dem Begriff der „pädagogischen Reise“ zusammengefasst werden können.36 Neben diesen Reiseschilderungen, denen dezidiert didaktische Absichten eingeschrieben sind, etabliert sich die Binnenströmung der ‚empfindsamen Reisen‘, die in der unmittelbaren Nachfolge von Laurence Sternes „A Sentimental Journey Through France and Italy“ (1768) stehen.37 Die breite Rezeption, die bereits nach der Veröffentlichung von Sternes experimentellem Roman „The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman“ (1759–1767) einsetzt38, intensiviert sich mit der „Sentimental Journey“. Darin postuliert der Titelheld Yorick eine neue Zweckbestimmung des Reisens: „[E]s ist eine ruhige Reise des Herzens, nach Natur und nach solchen Regungen, Uwe Japp: Aufgeklärtes Europa und natürliche Südsee. Georg Forsters ‚Reise um die Welt‘, in: Reise und Utopie. Zur Literatur der Spätaufklärung, hg. von Hans Joachim Piechotta, Frankfurt a. M. 1976, S. 10–56, hier S. 26. 36 Michael Maurer: Die pädagogische Reise. Auch eine Tendenz der Reiseliteratur der Spätaufklärung, in: Europäisches Reisen im Zeitalter der Spätaufklärung, hg. von Hans Wolf Jäger, Heidelberg 1992, S. 54–70, hier S. 68f. 37 Vgl. Gerhard Sauder: Sternes „Sentimental Journey“ und die „Empfindsamen Reisen“ in Deutschland, in: Reise und soziale Realität am Ende des 18. Jahrhunderts, hg. von Wolfgang Griep und Hans-Wolf Jäger, Heidelberg 1983, S. 302–319. 38 Vgl. Peter Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts, 2., durchgesehene Auflage, Göttingen 1972. 35

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welche aus ihr entspringen, und uns treiben, einander zu lieben.“39 Ein charakteristisches Beispiel der vielfach epigonalen und wenig originellen Nachbildungen, die Sternes Vorlage imitieren, stellen Johann Gottlieb Schummels „Empfindsame Reisen durch Deutschland“ (1771–1772) dar, in denen der Erzähler bereits zu Beginn einräumt, den Duktus des „unnachahmlichen Yorick nachzuahmen“.40 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts verstärkt sich wie in Knigges „Reise nach Braunschweig“ (1792) die Tendenz, über eingearbeitete Satiren konkrete erzieherische Intentionen zu verfolgen. 2.6 Der philanthropische Roman Die Veröffentlichung von Jean-Jacques Rousseaus Roman „Émile ou de l’Éducation“ (1762) wird in Deutschland sofort mit Blick auf dessen pädagogischen, philosophischen und poetologischen Gehalt diskutiert.41 Besonderen Einfluss übt der „Émile“ auf den deutschen Erziehungsroman aus, dessen Autoren vielfach die volksaufklärerische Absicht verfolgen, dem Leser philanthropische Ideen unterhaltsam und eingängig zu präsentieren. Exemplarisch führt der Pädagoge Christian Gotthilf Salzmann in „Carl von Carlsberg oder über das menschliche Elend“ (1783–1788) vor, wie eine solche populäre Vermittlung aussehen kann. Im Vordergrund steht die praktische Bewährung des Titelhelden, den Salzmann „tatkräftig gegen bestehende Übel agieren läßt“.42 Mit dem Sachregister am Ende des 39

Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien. Aus dem Englischen übersetzt [von Johann Joachim Christoph Bode], 4 Bde., 2. Auflage, Hamburg/Bremen 1769, Bd. 2, S. 57. 40 [Johann Gottlieb] S[chummel]: Empfindsame Reisen durch Deutschland, 2 Bde., Wittenberg/Zerbst 1771–1772, Bd. 1, S. 5. Zu den Nachbildungen der „Sentimental Journey“ vgl. die Übersicht bei Kimpel [Anm. 4], S. 105. 41 Vgl. Wilhelm Voßkamp: „Un Livre Paradoxal“. J.-J. Rousseaus ‚Émile‘ in der deutschen Diskussion um 1800, in: Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption, hg. von Herbert Jaumann, Berlin/New York 1994, S. 101– 113, hier S. 102. 42 Günter Häntzschel: Vorwort, in: Christian Gotthilf Salzmann: Carl von Carlsberg oder über das menschliche Elend [6 Bde.]. Faksimiledruck der Ausgabe Leipzig 1783– 1788, hg. und mit einem Vorwort versehen von Günter Häntzschel, Bern [u. a.] r1977, Bd. 1, S. 5*–38*, hier S. 17*.

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sechsten Bandes, das Begriffe wie „Gesundheitspflege“ oder „Schnürbrüste“ enthält, konzipiert Salzmann den Roman zugleich als einen Ratgeber für konkrete Alltagsfragen. Ähnlich wie Rudolph Zacharias Beckers in ungewöhnlich hoher Auflage vertriebenes „Noth- und Hülfs-Büchlein für Bauersleute“ (1788)43 scheint der Roman breiten Anklang beim zeitgenössischen Lesepublikum gefunden zu haben. Doch auch wenn Johann Gabriel Büschel bestätigt, dass „Carl von Carlsberg“ „mehr verschlungen als gelesen“ wurde, stellt er doch heraus, dass das Interesse der Leserschaft im Grunde der Liebesbeziehung von Karl und Henriette gegolten habe: „[A]ber um das, was eigentlich der Verfasser durch sein Buch bewirken wollte, bekümmerte man sich so wenig, als wenn es gar nicht da gewesen wäre.“44 Die distanzierte Haltung gegenüber der Vermittlung philanthropischer Ideen wird wiederum selbst zum Gegenstand des Romans, wenn Schummel in seiner ‚komisch-tragischen Geschichte‘ „Spitzbart“ (1779) das „Idealistenvolk“ der Volksaufklärer ironisch zu entlarven trachtet.45 Gleichwohl bleibt das Erzählmodell Salzmanns weiterhin in Geltung, da es im pädagogischen Dorfroman wiederholt aufgegriffen und variiert wird.

3. Poetologischer Grundriss. Friedrich von Blanckenburgs „Versuch über den Roman“ Spätestens seit den 1990er Jahren ist es Konsens der Forschung, dass Friedrich von Blanckenburgs „Versuch über den Roman“ (1774) „als Schlüssel zum Verständnis der spätaufklärerischen Romantheorie“ anzusehen ist.46 Der Verfasser der Abhandlung ist ein preußischer Offizier, der parallel zu 43 Vgl. Reinhart Siegert: Aufklärung und Volkslektüre. Exemplarisch dargestellt an Rudolph Zacharias Becker und seinem „Noth- und Hülfsbüchlein“. Mit einer Bibliographie zum Gesamtthema, Frankfurt a. M. 1978. 44 [Johann Gabriel Büschel:] Ueber die Charlatanerie der Gelehrten seit Menken, Leipzig 1791, S. 134. 45 Johann Gottlieb Schummel: Spitzbart. Eine komi-tragische Geschichte für unser pädagogisches Jahrhundert, hg. und mit Nachwort und Erläuterungen versehen von Eberhard Haufe, Weimar 1974, S. 5. 46 Manfred Engel: Der Roman der Goethezeit, Bd. 1: Anfänge in Klassik und Frühromantik: Transzendentale Geschichten, Stuttgart/Weimar 1993, S. 91.

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seiner militärischen Laufbahn literarische Ambitionen zeigt, jedoch mit seinen dramatisch-dichterischen Versuchen zunächst scheitert.47 Der Großgattung ‚Roman‘ nähert er sich daher als ein dilettierender Liebhaber und räumt in seinem Vorbericht ein, „nicht Willens [. . .] und auch nicht fähig“ zu sein, „eine vollständige Theorie für eine Gattung von Schriften zu schreiben, die so mancherley Gestalten annehmen können“.48 Gleichwohl gründet sein Ansatz auf einer philanthropischen Grundhaltung, da er mit seiner Gattungsreflexion dazu beitragen möchte, die literarische Qualität des Romans zu fördern. 3.1 Blanckenburgs Autor-, Darstellungs- und Figurenkonzept Bereits in der Vorrede wird der Roman entschieden aufgewertet: „Ich gesteh’ es sehr aufrichtig, daß ich glaube, ein Roman könne zu seinem sehr angenehmen, und sehr lehrreichen Zeitvertreibe gemacht werden; und nicht etwan für müßiges Frauenzimmer, sondern auch für den denkenden Kopf.“49 Das doppelte Wirkungsziel, das darin besteht, dem Leser ein ‚angenehmes‘ und ‚lehrreiches‘ Lektüreerlebnis zu bereiten, gründet auf der im 18. Jahrhundert vielzitierten Horaz-Formel des prodesse et delectare.50 Während der Roman weiterhin dem Unterhaltungszweck dienen soll, gewinnt er gleichzeitig die Funktion, auch den gebildeten Leser intellektuell anzuregen. Aus dieser „poetologischen Rehabili[ti]erung des Romans für den ‚denkenden Kopf‘“ folgt eine Neuformulierung des Autorkonzepts51, da der Romanautor herausgefordert ist, sein Werk dementsprechend ‚lehrreich‘ zu gestalten:

47 Zur Biografie Blanckenburgs vgl. Jürgen Sang: Christian Friedrich von Blanckenburg und seine Theorie des Romans. Eine monographische Studie, München 1967, S. 14–31, hier S. 30. 48 Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Faksimiledruck nach der Originalausgabe Leipzig [u. a.] 1774, bearbeitet und mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert, Stuttgartr 1965, S. IV. 49 Ebd., S. VII. 50 Vgl. Engel [Anm. 46], S. 97. 51 Jutta Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung, Berlin/New York 1996, S. 136.

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Ich glaube nicht, daß der Dichter auf eine andre Art füglich Lehrer seyn könne, als indem er unsre denkende Kraft und Empfindungsvermögen durch die Kunst in der Anordnung und Ausbildung seines Werks beschäftigt. Er muß sich nicht geradeswegs zum Lehrer aufwerfen; noch weniger müssen es seine Personen. Wir selbst, ohne sein Vordociren, müssen an ihm lernen können [. . .].52 An der Warnung des Autors vor dem Präsentationsmodus direkter Belehrung ist Blanckenburg so sehr gelegen, dass er sie an späterer Stelle verallgemeinernd wiederholt.53 Mit der vehementen Abkehr vom Modell eines ‚vordocirenden‘ Autors macht Blanckenburg deutlich, dass der Roman nicht dazu diene, nur ein Vehikel eines moralischen Lehrsatzes zu sein, sondern dass die Großgattung über das Potenzial verfüge, diesen Lehrsatz vermittels der künstlerischen Werkkomposition zur Geltung zu bringen. Das heißt nichts weniger, als dass Blanckenburg die tradierte delectareFunktion neu instrumentalisiert: Weil der Roman unterhält, vermag er lehrreich zu wirken. Angesichts des komplexen Beschreibungsanspruchs eines Romans liegt es auf der Hand, dass es mit spezifischen Anweisungen zum künstlerischen Arrangement nicht getan ist, um die Lektüreansprüche des ‚denkenden Kopfes‘ zu befriedigen. Folglich präzisiert Blanckenburg sein Darstellungskonzept, indem er die prominente Forderung erhebt, der Roman solle „die möglichen Menschen der wirklichen Welt“ schildern.54 Mit dieser Formulierung lehnt sich Blanckenburg unmittelbar an das klassische Dichtungsmodell des Aristoteles an, der in Abgrenzung von der Historiografie bestimmt hatte, „daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche“.55 In beiden Fällen wird der dichterischen Kreativität ein begrenzter Spielraum zur fiktionalen Bewährung zugestanden, was den Autor von der Bindung an konkrete faktische Vorgaben befreit. Der Maßstab der ‚Wirklichkeit‘ bzw. ‚Wahrscheinlichkeit‘ „verpflichtet ihn“ dagegen zur „Orientierung an psy52

Blanckenburg [Anm. 48], S. 253. Vgl. ebd., S. 416. 54 Ebd., S. 257. 55 Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch, übersetzt und hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1996, S. 29. 53

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chologischer Genauigkeit und an der naturgesetzlichen Kategorie der Kausalität“.56 Eine solche Konzeption wirft wiederum die darstellungspraktische Frage auf, inwiefern ein wirklichkeitsgetreuer und damit unendlich komplexer Kausalzusammenhang überhaupt im Rahmen eines Romans vergegenwärtigt werden könne. Blanckenburgs Antwort liegt in der Notwendigkeit zur Beschränkung: „Das Werk des Dichters muß eine kleine Welt ausmachen, die der großen so ähnlich ist, als sie es seyn kann. Nur müssen wir in dieser Nachahmung der großen Welt mehr sehen können, als wir in der großen Welt selbst, unsrer Schwachheit wegen, zu sehen vermögen.“57 Die Vorstellung vom schöpferischen Dichter, der eine ‚kleine‘ Welt hervorbringt, verweist dabei auf Shaftesburys Konzept vom Künstler als second maker.58 Indem Blanckenburg des Weiteren unterstreicht, dass sich in der ästhetisch hervorgebrachten Welt „nirgends ein Sprung oder eine Lücke finden“ dürfe59, wird die seit Leibniz bestehende ontologische Vorstellung von der ‚prästabilierten Harmonie‘ unausgesprochen auf die Beschaffenheit der fiktionalen Wirklichkeit übertragen.60 Doch während die göttliche Anlage der ‚großen Welt‘ dem Menschen verschlossen bleibt, wird ihm die ‚kleine Welt‘ aufgrund der Reduktion komplexer Zusammenhänge sowie der Ausstellung kausaler Strukturen einsichtig gemacht. Aus diesem Darstellungskonzept leitet Blanckenburg wiederum spezifische Bestimmungen für die Figurenanlage ab. Um den sukzessiven Entwicklungsprozess des Protagonisten veranschaulichen zu können, fordert er, dass der Roman die „innre Geschichte des Menschen“ behandeln müsse.61 Aus diesem übergeordneten Postulat ergeben sich drei Merkmale, die eine Romanfigur nach Blanckenburg aufzuweisen habe.62 Erstens müsse die Romanfigur eine individuelle Charakterdisposition besitzen. Damit schließt Blanckenburg an die dramentheoretisch vorausliegende Vorstellung vom ‚gemischten Charakter‘ an, was seine ausdrückliche Ab56

Heinz [Anm. 51], S. 137. Blanckenburg [Anm. 48], S. 314. 58 Zur Rezeption von Shaftesburys second maker-Konzept vgl. Dehrmann [Anm. 32], S. 341–388. 59 Blanckenburg [Anm. 48], S. 315. 60 Vgl. Engel [Anm. 46], S. 97. 61 Blanckenburg [Anm. 48], S. 391. 62 Vgl. Heinz [Anm. 51], S. 138. 57

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lehnung des ‚vollkommenen Helden‘ erklärt. Zweitens müsse das Verhalten der Romanfigur Resultat einer inneren Motivation sein. Blanckenburg versucht auf diese Weise auszuschließen, dass die Protagonisten zu bloßen „Maschienen des Dichters“ degradiert werden63, die nurmehr einer abstrakten Idee, nicht aber ihrer natürlichen Veranlagung folgen. Drittens müsse die psychische Entwicklung der Romanfigur anschaulich vergegenwärtigt werden. Dabei dringt Blanckenburg dezidiert auf die charakterspezifische Entfaltung des Protagonisten, die für den Leser als „Geschichte“ seiner „Denkungs- und Empfindungskräfte“ erfahrbar werden solle.64 3.2 Wielands „Geschichte des Agathon“ als Blanckenburgs Paradigma Blanckenburgs „Versuch“ wäre ohne Wielands „Geschichte des Agathon“ (1766–1767) „ganz und gar unmöglich gewesen, hätte er nicht gedacht werden können, könnte er nicht gedacht werden“.65 Dieses für Blanckenburgs Romantheorie paradigmatische Werk repräsentiert Ende der 70er Jahre des 18. Jahrhunderts den Typus des modernen Romans. Wieland integriert nicht nur verschiedene Elemente der in Abschnitt 2 entfalteten Romanformen in seine Komposition, sondern rekurriert auch auf eine Vielzahl traditioneller und moderner romanliterarischer Vorlagen. Dazu zählt in erster Linie Henry Fieldings „The History of Tom Jones. A Foundling“ (1749), den Blanckenburg bereits im Vorbericht seines „Versuchs“ ansatzweise mit dem „Agathon“ vergleicht und dabei zu dem Ergebnis kommt, Wieland habe Fielding „unstreitig [. . .] einen Schritt zur Vollkommenheit voraus“.66 Daneben ist es Laurence Sternes „Tristram Shandy“, den Wieland mit Blick auf die Technik digressiven Erzählens für seinen Roman auswertet.67 Die konzeptionelle Bearbeitung des „Agathon“ ist allerdings mit der Erstpublikation nicht abgeschlossen, da 1773 und 1794 zwei wei63

Blanckenburg [Anm. 48], S. 282. Ebd., S. 395. 65 Kurt Wölfel: Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman, in: Deutsche Romantheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Romans in Deutschland, hg. und eingeleitet von Reinhold Grimm, Frankfurt a. M./Bonn 1968, S. 29–60, hier S. 32. 66 Blanckenburg [Anm. 48], S. VIII. 67 Vgl. Klaus Manger: Geschichte des Agathon [1996], in: Wieland-Studien 6, 2010, S. 83–94, hier S. 87f. 64

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tere Fassungen folgen, die sich grundsätzlich vom ersten Entwurf unterscheiden.68 In seinem Roman präsentiert Wieland die Lebensgeschichte seines fiktiven Protagonisten Agathon, die er zeitlich in der nachklassischen Periode der griechischen Antike ansiedelt. In einer gleichsam experimentellen Versuchsanordnung führt Wieland vor69, wie es seiner schwärmerisch veranlagten Titelfigur gelingt, sich in wechselnden Lebenssituationen zu bewähren. Dabei kommt es zur Begegnung mit verschiedenen Mit- und Gegenspielern, die ihn mit diversen ideengeschichtlichen Konzepten konfrontieren. So verkörpert Hippias einen materialistisch orientierten Philosophen, der mit Agathon über die Natur des Menschen sowie über Fragen der Moralität diskutiert, gleichzeitig aber versucht, dessen idealistische Tugendhaftigkeit vermittels einer besonderen Schwärmerkur auf die Probe zu stellen. Dazu bedient er sich der Hetäre Danae, deren Verführungskünsten Agathon aufgrund seiner „über das Normalmaß hinausgehende[n] Empfindlichkeit“ tatsächlich erliegt.70 Am Hof zu Syrakus entwickelt Agathon in der Folge ein reges Engagement für die athenische Demokratie, wird aber schon bald aufgrund der Intrigen seiner politischen Gegner eingekerkert. Dank eines glücklichen Umstands gelangt Agathon schließlich nach Tarent, wo er Danae wiederbegegnet. Mit diesem idyllischen Schlussbild endet der Roman, das der Erzähler insofern ironisch kommentiert, als er nachhaltig bekräftigt, „zu Gunsten unsers Helden alles getan zu haben [. . .], was die zärtlichsten Freunde [. . .] nur immer zu seinem Besten wünschen konnten“.71 68

Vgl. Robert Kiehl: Das Experiment des aufgeklärten Bildungsromans. Ein Vergleich der Fassungen von Christoph Martin Wielands „Geschichte des Agathon“, Würzburg 2008. 69 Vgl. Andreas Seidler: Die experimentelle Struktur von Ch. M. Wielands Geschichte des Agathon. Zur Koevolution von Naturwissenschaft und Literatur im 18. Jahrhundert, in: „Es ist nun einmal zum Versuch gekommen“. Experiment und Literatur I: 1580–1790, hg. von Michael Gamper, Martina Wernli und Jörg Zimmer, Göttingen 2009, S. 438–453. 70 Till Dembeck: Texte rahmen. Grenzregionen literarischer Werke im 18. Jahrhundert (Gottsched, Wieland, Moritz, Jean Paul), Berlin 2007, S. 205. 71 Christoph Martin Wieland: Werke in zwölf Bänden, hg. von Gonthier-Louis Fink [u. a.], Bd. 3: Geschichte des Agathon. Erste Fassung von 1766/67, hg. von Klaus Manger, Frankfurt a. M. 1986, S. 554.

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Dass die „Geschichte des Agathon“ für Blanckenburg als idealtypisches Modell erscheint, um daran die eigene Romantheorie zu entfalten, legt bereits Wielands Vorbericht nahe. Darin betont er, wie er die spezifische Anlage seiner Figuren poetologisch begründet. Den Orientierungsmaßstab bildet dabei die künstlerische ‚Wahrheit‘: Die Wahrheit, welche von einem Werke, wie dasjenige, [. . .] gefordert werden kann und soll, bestehet darin, daß alles mit dem Lauf der Welt übereinstimme, daß die Charakter nicht willkürlich, und bloß nach der Phantasie, oder den Absichten des Verfassers gebildet, sondern aus dem unerschöpflichen Vorrat der Natur selbst hergenommen; in der Entwicklung derselben so wohl die innere als die relative Möglichkeit, die Beschaffenheit des menschlichen Herzens, die Natur einer jeden Leidenschaft [. . .] aufs genaueste beibehalten [. . .] und also alles so gedichtet sei, daß kein hinlänglicher Grund angegeben werden könne, warum es nicht eben so wie es erzählt wird, hätte geschehen können, oder noch einmal wirklich geschehen werde.72 Allein dieser Auszug macht einsichtig, wie eng sich Blanckenburg an Wielands Romankonzeption anlehnt. Auf der einen Seite verweist die Orientierung am „Lauf der Welt“ auf die Wirklichkeit als geltenden Darstellungsmaßstab, auf der anderen Seite bezieht sich das Postulat, stets einen „hinlängliche[n] Grund“ für die präsentierten Einzelmomente angeben zu können, auf die Fundierung des Erzählten mit einer kausalen Ereignisfolge. Dass Wieland den selbst erhobenen Anspruch mustergültig erfüllt habe, bestätigt Blanckenburg schon eingangs seines „Versuchs“.73 In der zitierten Passage spricht Wieland außerdem über die Konstitution der Romanfiguren, die nicht nur eine psychologisch authentische „Entwicklung“ durchlaufen, sondern auch von natürlichen Motivationen geleitet werden sollen. Der skizzierte figurenspezifische Entfaltungsprozess rückt damit in die Nähe von Blanckenburgs Postulat, die „innre Geschichte des Menschen“ darzustellen. Mit Blick auf den „Agathon“ bekräftigt Blanckenburg die Favorisierung der ‚inneren Umstände‘ gegenüber den ‚äußeren‘: „Die bloßen äußern Umstände eines Menschen sind es nie, 72 73

Ebd., S. 11f. Vgl. Blanckenburg [Anm. 48], S. 9.

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die ihn vermögen, eine Sache zu thun. Wenn dies möglich wäre: so müßten Agathon und Danae in Marmor gehauen, sich eben so herzlich lieben können, als die Personen selbst.“74 Wären die Figuren aber „in Marmor gehauen“, wie es Blanckenburg imaginiert, verlören sie ihre Vitalität und damit ihr gesamtes ‚inneres Leben‘. Wielands prinzipielles Anliegen ist es darüber hinaus, vermittels Agathon das „Bild eines wirklichen Menschen“ zu vergegenwärtigen, „in welchem viele ihr eigenes erkennen sollten“.75 Daher gestaltet er seinen Protagonisten nicht als moralisch vollkommene Idealfigur, sondern als ‚gemischten Charakter‘ mit typisch menschlichen Schwächen. Die wirkungsästhetisch bewusst forcierte Annäherung des Romanhelden an den Leser wird bei Blanckenburg nochmals intensiviert: Wer lernt nicht [. . .] am Agathon, wie ein rechtschaffener Mann am Hofe sich betragen könne; wer lernt es nicht um desto ehe, da er das ganze Innre des Agathons aufgedeckt sieht, und sein eigenes mit ihm vergleichen, und darnach modeln kann, um ihm ähnlich zu werden? 76 Während Wieland noch auf die Selbsterkenntnis des Lesers zielt, die aus dessen Selbstvergleich mit der literarischen Figur hervorgehen soll, stilisiert Blanckenburg den Protagonisten bereits zu einem quasi-menschlichen Vorbild, dem der Leser in seiner moralischen Entwicklung nacheifern soll. Sowohl wegen der besonderen ästhetischen Qualität des „Agathon“ als auch wegen der psychologisch ausgereiften Disposition der Titelfigur spricht Blanckenburg den Wunsch aus, dass „alle Romane ihm gleich [. . .] werden“ sollten.77 Mit seinem eigenen Roman, der den umständlichen Titel „Beyträge zur Geschichte deutschen Reichs und deutscher Sitten“ (1775) trägt, kommt er diesem Wunsch zwar nicht nach. Anhand des gewählten niederen Personals veranschaulicht Blanckenburg jedoch, dass er die poetologischen Forderungen seines „Versuchs“ im Rahmen eines romanpoetischen Entwurfs selbständig zu realisieren imstande ist.78 74 75 76 77 78

Ebd., S. 260. Wieland [Anm. 71], S. 13. Blanckenburg [Anm. 48], S. 364. Ebd., S. 9. Vgl. Heinz [Anm. 51], S. 142–144.

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4. Konzeptueller Umriss. Der pragmatische und der anthropologische Roman In Anknüpfung an die poetologischen und wissenschaftstheoretischen Debatten des 18. Jahrhunderts sind in der Forschung zwei Konzepte des spätaufklärerischen Romans voneinander abgegrenzt worden, die unter den Begriffen ‚pragmatischer Roman‘ und ‚anthropologischer Roman‘ firmieren. Der erste Romantyp zeichnet sich durch einen der Historiografie vergleichbaren Wahrheitsanspruch aus.79 Das heißt, dass mit dem im Titel oder Untertitel ausgestellten Hinweis, eine ‚Geschichte‘ wiederzugeben, bereits versichert wird, auf narrativer Ebene eine kausal stringente Struktur von Ursache- und Wirkungsverhältnissen zu bieten.80 Darüber hinaus veranschaulicht der pragmatische Roman eine „psychologische Entwicklung aus menschlichen Triebfedern“, die „Anschaulichkeit einer idealen Gegenwart“ und „die Ablehnung der Trennung von Erzählung und Reflexion“.81 Anders formuliert: Mit dieser Bestimmung scheint ein Romantyp beschrieben, wie ihn Wielands „Geschichte des Agathon“ exemplarisch repräsentiert und Blanckenburgs Romantheorie nachhaltig einfordert.82 Der anthropologische Roman hingegen rekurriert auf die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bedeutungstragende Wissenschaft der Anthropologie, die der Leipziger Mediziner und Philosoph Ernst Platner als Lehre vom Körper und der Seele „in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen“ definiert.83 Mit dieser literarischen Fixierung auf das Modell des Commercium mentis et corporis schwindet das Vertrauen der Dichter in metaphysische Begründungskonzepte und wächst die 79

Vgl. Georg Jäger: Empfindsamkeit und Roman. Wortgeschichte, Theorie und Kritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Stuttgart 1969, S. 114–126. 80 Vgl. Engel [Anm. 46], S. 98f. 81 Jäger [Anm. 79], S. 115. 82 Vgl. Daniel Fulda: Der Pragmatismus in Roman und Romantheorie, in: Ders.: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860, Berlin/New York 1996, S. 100–103, hier S. 102f. 83 Ernst Platner: Vorrede, in: Ders.: Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Erster Theil [mehr nicht erschienen], Leipzig 1772, S. III–XXVIII, hier S. XVII. Vgl. Wolfgang Riedel: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 6, 1994 (Sonderheft), S. 83–157.

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Skepsis gegenüber umfassenden Weltentwürfen.84 Dass eine solche Haltung allerdings nicht erst bei spätaufklärerischen Autoren wie Johann Karl Wezel manifest wird85, hat Hans-Jürgen Schings mit Blick auf den „Don Sylvio“ und „Agathon“ dargelegt.86 Während er für Don Sylvio das Desillusionserlebnis als prägenden Faktor herausarbeitet, konstatiert er mit Blick auf Agathon ebenfalls eine „Serie von Enttäuschungen und Niederlagen, in eroticis wie in politicis“, die dort sogar zur „anthropologischen Demütigung“ ausarten.87 Angesichts der Wechselwirkungen zwischen Körper und Geist, die von der wissenschaftlichen Anthropologie in hoher Differenziertheit untersucht und beschrieben werden, tritt die Haltlosigkeit einer auf rein geistigen Prozessen fundierenden Moral zutage, wie sie von Agathon verteidigt wird. In dieser doppelten typologischen Perspektive wird jedoch offenbar, dass sich ein Roman wie Wielands „Geschichte des Agathon“ beiden Formkonzepten zuordnen lässt: Auf der einen Seite vergegenwärtigt er – als pragmatischer Roman – die Anlehnung an die erzählerischen Darstellungsverfahren der zeitgenössischen Historiografie, auf der anderen Seite – als anthropologischer Roman – die ideengeschichtliche Beeinflussung durch die kontemporäre Anthropologie. Prinzipiell ist daher ein fließender Übergang zwischen beiden Modellen zu konstatieren: Denn der anthropologische Roman profitiert, wie Jutta Heinz aufgewiesen hat, nicht nur vom empfindsamen und philosophischen, sondern dezidiert auch vom pragmatischen Roman, von dem er die „Verpflichtung auf nationale und zeitgemäße Gegenstände, auf die kausalen Verknüpfungsmodi der Handlung sowie auf die Erziehung des ‚denkenden Kopfes‘“ erbt.88 In ähnlicher Weise kann auch Blanckenburgs Romantheorie eine solche Zwischenstellung zuerkannt werden, zumal sie in der Forschung beiden Romankonzepten zugeordnet wird.89 84

Vgl. Engel [Anm. 46], S. 99. Vgl. Cornelia Ilbrig: Aufklärung im Zeichen eines „glücklichen Skepticismus“. Johann Karl Wezels Werk als Modellfall für literarisierte Skepsis in der späten Aufklärung, Hannover 2007. 86 Vgl. Hans-Jürgen Schings: Der anthropologische Roman. Seine Entstehung und Krise im Zeitalter der Spätaufklärung, in: Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen, hg. von Bernhard Fabian, Wilhelm Schmidt-Biggemann und Rudolf Vierhaus, München 1980, S. 247–275. 87 Ebd., S. 255. 88 Heinz [Anm. 51], S. 336. 89 Vgl. Fulda [Anm. 82], S. 102; Schings [Anm. 86], S. 256f. 85

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Trotz Blanckenburgs programmatischer Absicht, die moderne Gattung des Romans theoretisch zu fundieren, erweist sich sein „Versuch“ keineswegs als bindend für die Romanautoren der Spätaufklärung.90 Spätestens Jean Paul wendet sich in seiner „Vorschule der Ästhetik“ (1804) gegen Wielands und Blanckenburgs poetologisch-anthropologische Voraussetzungen, indem er offensive Kritik an ihrem Kausalitätspostulat übt.91 Doch schon vor 1800 finden sich Stellungnahmen gegen Blanckenburgs theoretische Vorgaben, die jedoch im Vergleich mit Jean Paul eine weniger avancierte Argumentation aufweisen. So reaktiviert Daniel Jenisch noch 1797 die Genieästhetik des Sturm und Drang, um gegen Blanckenburg zu polemisieren.92 Unabhängig von solchen Grabenkämpfen um die Deutungshoheit der modernen Erzählgattung hat sich der Roman spätestens mit dem Beginn der Spätaufklärung als ein eminent bedeutsames Diskursmedium etabliert. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wird seine spezifische Leistung nochmals ausdrücklich von Johann Adam Bergk resümiert: Durch anziehende Handlungen und anschauliche Beispiele lernen uns Romane das menschliche Leben kennen. Sie kündigen ein Spiel an, und nuzzen mehr als die ernsthafteste Beschäftigung. Auf eine angenehme Weise lernen sie uns das, was wir in den Wissenschaften mit saurer Mühe und Arbeit erkämpfen müssen.93 Wenn Bergk schließlich die entscheidende Qualität des Romans in der spielerischen Vermittlung von Bildung sieht – dann ist in dieser Perspektive schon fast an die Aktivierung des Spieltriebs zu denken, die Friedrich Schiller zeitgleich ins konzeptuelle Zentrum seiner ‚Ästhetischen Erziehung des Menschen‘ rückt.

90 Vgl. Wilhelm Voßkamp: Blanckenburg und Blanckenburgrezeption. Probleme der Romanpoetik im 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, 2, 1976, H. 3, S. 193–200. 91 Vgl. Schings [Anm. 86], S. 259–264. 92 Vgl. [Daniel Jenisch:] Der allezeit-fertige Schriftsteller, oder kurze, doch gründliche Anweisung, wie man mit dem möglichst-kleinen Aufwande von Genie und Wissenschaft ein großer und fruchtbarer Schriftsteller werden könne, Berlin 1797, S. 107. 93 Johann Adam Bergk: Die Kunst, Bücher zu lesen. Nebst Bemerkungen über Schriften und Schriftsteller, Jena 1799, S. 209.

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Die philosophische Anthropologie der Frühen Neuzeit bietet ein „zerklüftetes Terrain“, weil viele einschlägige Werke „noch der Sichtung“ harren.1 Für das 18. Jahrhundert sieht die Lage aufgrund der im Folgenden vorzustellenden „anthropologischen Wende“2 in der Aufklärungsforschung zwar besser aus, doch ist auch hier unklar, „welche Gegenstandsbereiche die Anthropologie überhaupt umfasst“.3 Eine frühere Studie zum interdis1 Gideon Stiening: Verweltlichung der Anthropologie im 17. Jahrhundert? Von Casmann und Magirus zu Descartes und Hobbes, in: Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit, 3 Bde., Berlin/New York 2002, Bd. 2: Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus. Wissenschaftsprozesse im Zeitraum von 1500 bis 1800, hg. von Lutz Danneberg [u. a.], Berlin 2002, S. 174–218, hier S. 175 und 204, Anm. 13. 2 Wilhelm Schmidt-Biggemann und Ralph Häfner: Richtungen und Tendenzen in der deutschen Aufklärungsforschung, in: Das achtzehnte Jahrhundert 19, 1995, S. 163–171, hier S. 168. Meines Wissens handelt es sich hier um den Erstbeleg dieser gleichermaßen vielzitierten wie vielgescholtenen Formel. Vgl. Walter Erhart: Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Eine Fallstudie, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 25, 2000, H. 1, S. 159–168. Die Rede von einer „anthropologische[n] ‚Wende‘“ in der Literaturwissenschaft bei Doris Bachmann-Medick (Einleitung, in: Dies. [Hg.]: Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1996, S. 7–64, hier S. 10) zielt dagegen auf die „Entdeckung ethnographischer Dimensionen in literarischen Texten“. Der von Wolfgang Iser (Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven einer literarischen Anthropologie [1991], Frankfurt a. M. 1993) entwickelte Typus einer ‚literarischen Anthropologie‘, der das Fiktive und Imaginäre als „anthropologische Dispositionen“ (S. 15) unterstellt bzw. von einer „menschliche[n] Fiktionsbedürftigkeit“ (ders.: Fingieren als anthropologische Dimension der Literatur, Konstanz 1990, S. 7) ausgeht, bleibt hier außer Betracht. 3 Yvonne Wübben: Aufklärungsanthropologien im Widerstreit? Probleme und Perspektiven der Anthropologieforschung am Beispiel von Hans-Peter Nowitzkis „Der

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ziplinären, ‚eklektischen‘ Wissensdiskurs der Aufklärung hat sogar im Blick auf eine „Koalition von Medizin und Philosophie“ aufgrund der „geringen Prägnanz und Konsistenz des Begriffs“ auf ihn verzichten wollen.4 Eine Begriffsklärung wird daher an den Anfang gestellt.

1. Anthropologie Das Wort ‚Anthropologie‘ ist ein frühneuzeitlicher Neologismus, der auf Werke von Magnus Hundt (1449–1519), Galeazzo Capella (1487–1532) und Otto Casmann (1562–1607) zurückgeht.5 Casmanns dualistische Anthropologie, die die Beschreibung des Menschen in Geist („Psychologia Anthropologica; sive Animae Humanae Doctrina“ [Hanau 1594]) und Körper („Secunda Pars Anthropologiae: hoc est; fabrica humani corporis; medhodice descriptiva“ [Hanau 1596]) aufspaltet und damit Merkmale vorwegnimmt, die gemeinhin mit Descartes (res cogitans/res extensa) verbunden werden, führt dazu, dass bis ins 18. Jahrhundert Anthropologie gleichbedeutend mit Anatomie bzw. Physiologie ist.6 Demgegenüber führt die „Beziehung zwischen Naturrecht und Medizin“ in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu einer „neue[n] Anthropologie“, „deren zentrales Merkmal die Verbindung von Körper und Geist ist“, wie sie für die weitere Entwicklung bis Ernst Platner (1744–1818) charakteristisch sein wird.7 Sein 1772 in der „Anthropologie für Aerzte und Weltweise“ publizierter Vorschlag wurde prägend für das Gros der heutigen Forschung. Einerseits greift er die gegenläufige Bestimmung des ‚ganzen Menschen‘ als einer perwohltemperierte Mensch“, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 159, 2007, S. 3–26, hier S. 3. 4 Matthias Reiber: Anatomie eines Bestsellers. Johann August Unzers Wochenschrift „Der Arzt“ (1759–1764), Göttingen 1999, S. 45 und 52. 5 Vgl. Stiening [Anm. 1]; Mareta Linden: Untersuchungen zum Anthropologiebegriff des 18. Jahrhunderts, Bern 1976; Udo Benzendörfer und Maike Rotzoll: Zur „Anthropologia“ (1533) von Galeazzo Capella. Die früheste bislang bekannte Verwendung des Begriffs Anthropologie, in: Medizinhistorisches Journal 26, 1991, S. 315–320. 6 Simone de Angelis: Anthropologien. Genese und Konfiguration einer „Wissenschaft vom Menschen“ in der Frühen Neuzeit, Berlin/New York 2010, S. 198ff., 204f. und 398. 7 Ebd., S. 362, 393, 401 und passim.

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sona mixta auf, andererseits engt er den Begriffsumfang von Anthropologie entscheidend ein, indem er Wissenschaften, die den Menschen entweder ausschließlich als physisches (Anatomie, Physiologie) oder ausschließlich als seelisches Wesen (Psychologie, Logik, Ästhetik, Moralphilosophie) behandeln, aus der Betrachtung ausschließt. Platner lässt Anthropologie nurmehr als Commercium-Wissenschaft gelten, insofern er darauf abzielt, „Körper und Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zusammen [zu] betrachten“.8 Platners Engziehung ist einerseits als „klassische Gründungsformel der aufklärerischen Anthropologie“ gefeiert9, andererseits als „Monopolisierung“ eines bestimmten Anthropologiebegriffs, der das Spektrum anderer Diskursformen anthropologischen Wissens marginalisiere, getadelt worden.10 Abgeschattet werden z. B. die vorangehende, von Platner aus gesehen „limitierte Anthropologie“11 der ‚vernünftigen Ärzte‘ in Halle (u. a. Johann Christian Bolten [1727–1757]; Johann Gottlob Krüger [1715– 1759]; Johann August Unzer [1727–1799]), die um einen Ausgleich zwischen Friedrich Hoffmanns (1660–1742) mechanistischem und Georg Ernst Stahls (1659–1734) animistischem Menschenmodell bemühlt sind und dadurch Anschlussmöglichkeiten zur empirischen Psychologie, zur Ästhetik, Diätetik und Psychotherapie eröffnen12, oder die physische Anthropologie Johann Friedrich Blumenbachs (1752–1840) oder Georg 8

Ernst Platner: Vorrede, in: Ders.: Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Erster Theil [mehr nicht erschienen], Leipzig 1772, S. III–XXVIII, hier S. XVIf. 9 Jutta Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung, Berlin/New York 1996, S. 29. 10 Maximilian Bergengruen, Roland Borgards und Johannes Friedrich Lehmann: Einleitung, in: Dies.: Die Grenzen des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800, Würzburg 2001, S. 7–14, hier S. 8. Vgl. Tanja van Hoorn: Das anthropologische Feld der Aufklärung. Ein heuristisches Modell und ein exemplarischer Situierungsversuch, in: Natur – Mensch – Kultur. Georg Forster im Wissenschaftsfeld seiner Zeit, hg. von Jörn Garber und ders., Hannover 2006, S. 125–141. 11 Yvonne Wübben: Limitierte Anthropologie. Grenzen des medizinisch-anthropologischen Wissenstransfers am Beispiel von Johann August Unzer, in: Physis und Norm. Neue Perspektiven der Anthropologie im 18. Jahrhundert, hg. von Manfred Beetz, Jörn Garber und Heinz Thoma, Göttingen 2007, S. 49–68. 12 Vgl. „Vernünftige Ärzte“. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung, hg. von Carsten Zelle, Tübingen 2001; Stefan Borchers: Die Erzeugung des ‚ganzen Menschen‘. Zur Entstehung von

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Forsters (1754–1794), die sich u. a. um die Stellung des Menschen unter den Tieren und die Klassifikation des Menschen in Rassen dreht.13 Die wirkungsmächtigste Beschreibung des leib-seelischen Zusammenhangs, der der Mensch nach der Anthropologie des 18. Jahrhunderts ist, bietet jedoch ein dichterischer Text, und zwar des Schweizer Arztes Albrecht von Haller (1708–1777), der den Menschen als Grenz- und Mischwesen fasst, der ein „Zweideutig“ bzw. „Unselig Mittel-Ding von Engeln und von Vieh!“ sei.14 Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) spitzt diese ‚Grenzstellung‘ zu, dass „der Mensch halb Affe und halb Engel ist“15, und Friedrich Schiller (1759–1805) greift sie in seiner medizinischen Dissertation „Über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen“ (1780) wieder auf.

2. Was ist der Mensch? Dass die Aufklärung von jenseitigem Heil auf diesseitiges Glück umschaltet, d. h. von Theologie auf Anthropologie, wird in Alexander Popes (1688–1744) Lehrgedicht „Essay on Man“ (1733/34) deutlich, wo es eingangs der zweiten Epistel über einen solchen Perspektivwechsel heißt: „KNOW but theyself, presume not God to scan;/The proper study of ManAnthropologie und Ästhetik an der Universität Halle im 18. Jahrhundert, Berlin/New York 2011. 13 Vgl. Tanja van Hoorn: Dem Leibe abgelesen. Georg Forster im Kontext der physischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts, Tübingen 2004; Ludwig Uhlig: Hominis historia naturalis. Georg Forsters Vorlesung von 1786/87 im Zusammenhang seiner Anthropologie, in: Studien zur Wissenschafts- und Religionsgeschichte, hg. von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin/New York 2011, S. 159–222. 14 Albrecht von Haller: Über den Ursprung des Übels [1734], in: Ders.: Die Alpen und andere Gedichte, hg. von Adalbert von Elschenbroich, Stuttgart 1965, S. 53–79, hier S. 63 (Zweites Buch, Zeile 107), und ders.: „Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben“ [1729], S. 23–37, hier S. 24 (Zeile 17). 15 Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe, 4 Bde. und 2 KommentarBde., hg. von Wolfgang Promies, München 1968ff., Bd. 1: Sudelbücher I, München 1968, S. 361, E 96. Vgl. Albrecht Beutel: Halb Affe und halb Engel. Der „ganze Mensch“ als konstitutive Utopie der Anthropologie Georg Christoph Lichtenbergs, in: Der „ganze Mensch“. Perspektiven lebensgeschichtlicher Individualität. Festschrift für Dietrich Rössler, hg. von Volker Drehsen [u. a.], Berlin/New York 1997, S. 19–36.

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kind is Man.“16 Nicht Gott, sondern der Mensch ist Gegenstand menschlicher Erkenntnis und diese Selbsterkenntnis soll nicht auf Spekulation (to presume: mutmaßen), sondern auf Erfahrung aufbauen. Popes Text wird „zur Chiffre für die Erforschung eines selbstbewußten Diesseits“.17 Anthropologie bzw. – wie es bei Johann Karl Wezel (1747–1819) heißt – „Kenntniß des Menschen“18 wird zum Ausgangspunkt aller weiteren aufklärerischen Überlegungen, wenn etwa Johann Gottfried Herder (1744–1803) die „Einziehung der Philosophie auf Anthropologie –“19 früh zum Leitprogramm seines Werks macht. Immanuel Kant (1724–1804), der in seinen Anthropologie-Vorlesungen (seit dem Wintersemester 1772/73) auf der Grundlage von Alexander Gottlieb Baumgartens (1714–1762) empirischer Psychologie die Anthropologie „zu einer ordentlichen academischen disciplin“ zu machen gedenkt20, wird schließlich in seinem 1800 veröffentlichten „Logik“-Handbuch das „Feld der Philosophie“ mit ihren Teilfächern Meta16 Alexander Pope: Peotical Works, hg. von Herbert Davis, London [u. a.] 1966, S. 239–279, hier: Epistel II, Verse 1 und 2, S. 250. 17 Rainer Baasner: Alexander Popes „An Essay on Man“ in deutschen Übersetzungen bis 1800, in: Das achtzehnte Jahrhundert 27, 2003, H. 2, S. 189–214, hier S. 190. 18 Johann Karl Wezel: Versuch über die Kenntniß des Menschen, 2 Bde., Leipzig 1784–1785 (wieder abgedruckt in: Ders.: Gesamtausgabe in acht Bänden. Jenaer Ausgabe, hg. von Klaus Manger, Bd. 7: Versuch über die Kenntniß des Menschen. Rezensionen, hg. von Jutta Heinz; Schriften zur Pädagogik, hg. von Cathrin Blöss, Heidelberg 2001, S. 7–281). Vgl. Hans-Peter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit, Berlin/New York 2003, S. 251ff.; Gideon Stiening: Ein „Sistem“ für den „ganzen Menschen“. Die Suche nach einer ‚anthropologischen Wende‘ der Aufklärung und das anthropologische Argument bei Johann Karl Wezel, in: Aufklärung durch Kritik. Festschrift für Manfred Baum, hg. von Dieter Hüning, Karin Michel und Andreas Thomas, Berlin 2004, S. 113–139. 19 Johann Gottfried Herder: „Wie die Philosophie zum Besten des Volks allgemeiner und nützlicher werden kann“ [1765], in: Ders.: Werke, hg. von Günter Arnold [u. a.], Frankfurt a. M. 1985ff., Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1772, hg. von Ulrich Gaier, Frankfurt a. M. 1985, S. 101–134, hier S. 132. Vgl. Wolfgang Proß: Nachwort: Herder und die Anthropologie der Aufklärung, in: Johann Gottfried Herder: Werke, hg. von Wolfgang Proß, Bd. 2, Darmstadt 1987, S. 1128–1216; Ulrich Gaier: Humanität als Aufgabe. Physis und Norm bei Johann Gottfried Herder, in: Beetz [u. a.] (Hg.) [Anm. 11], S. 13–28. 20 Immanuel Kant an Marcus Herz (gegen Ende 1773); abgedruckt in: Immanuel Kant: Gesammelte Schriften. Akademieausgabe, Bd. 10: Briefwechsel 1747–1788, Berlin 1900, Nr. 79, S. 145.

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physik, Moral und Religion auf Anthropologie hin ausrichten: „Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen [. . .].“21 Man forciert also nicht, wenn man sagt, dass das Jahrhundert der Aufklärung bzw. Kritik zwar vordergründig auf Selbstdenken (sapere aude) setzt, ‚im Grunde‘ aber dadurch auf Selbsterkenntnis (nosce te ipsum) zielt. Kants anthropologische Grundfrage führt am Ende des 18. Jahrhunderts zwei tief in die Epoche zurückführende Diskurse zusammen, und zwar die Debatte über die ‚Bestimmung des Menschen‘ seit Spalding und die dynamische Entwicklung der empirischen Psychologie seit Wolff.22 2.1 Bestimmung des Menschen In „Über die Frage: was heißt aufklären“ (1784) hatte Moses Mendelssohn (1729–1786) „Maß und Ziel“ aller Bestrebungen und Bemühungen um die gesellschaftliche Bildung durch Aufklärung und Kultur an die „Bestimmung des Menschen“ gebunden: Dies sei der „Punkt, worauf wir unsere Augen richten müssen, wenn wir uns nicht verlieren wollen“.23 Mendelssohn konnte in der Berliner Mittwochsgesellschaft mit dem Vertrautsein der Implikationen dieses Leitworts rechnen, hatte es doch der Nestor der Gesellschaft, Johann Joachim Spalding (1714– 1804), 1748 in einem „Betrachtungen“ genannten Selbstgespräch, das zu den „meistgelesenen Büchern der deutschen Aufklärung“24 gehört, in die Diskussion gebracht. Spalding zielt auf positive „Grundregeln [. . .], zu wissen, warum ich da bin, und was ich vernünftiger Weise seyn soll?“25 21

Immanuel Kant: Immanuel Kants Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen, Königsberg 1800, A 25f. 22 Vgl. Norbert Hinske: Eine antike Katechismusfrage. Zu einer Basisidee der deutschen Aufklärung, in: Die Bestimmung des Menschen, hg. von dems., Hamburg 1999, S. 3–6, bes. S. 6 (Aufklärung 11, 1999, H. 1). Eine Gesamtdarstellung dazu fehlt. 23 Moses Mendelssohn: Über die Frage: was heißt aufklären, in: Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen, hg. von Ehrhard Bahr, Stuttgart 1981, S. 3–8, hier S. 4. 24 Norbert Hinske: Mendelssohns Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? oder Über die Aktualität Mendelssohns, in: Ich handle mit Vernunft . . . Moses Mendessohn und die europäische Aufklärung, hg. von dems., Hamburg 1981, S. 85–117, hier S. 95. 25 Johann Joachim Spalding: Die Bestimmung des Menschen. Textedition [eingerichtet von Karl Eibl mit Unterstützung von Cornel Zwierlein], in: Hinske (Hg.)

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Die Menschen seien zwar unaufhebbar verschieden, doch auf Entfaltung ihrer erkennenden, handelnden und empfindenden Fähigkeiten, d. h. innerweltliche Vervollkommnung (und Unsterblichkeit) hin angelegt. „Sinnlichkeit“, „Vergnügen des Geistes“, „Tugend“, „Religion“ und „Unsterblichkeit“ sind die Stichworte, die Spaldings unmittelbar an Shaftesburys (1671–1713) Moral Sense-Lehre anknüpfendes Menschenbild charakterisieren: Als entscheidende Instanz für moralische und ästhetische Wahrheit fungiert hierin die Empfindung. Die Rückwendung auf sich selbst – und nicht länger auf Offenbarung, Gnade oder das Mittlertum Christi – wird zum Anker von Erkenntnis und handlungsbestimmendem Willen und öffnet dadurch eine „völlige Aufklärung“ in die Weisheit, „welche das Ganze verwaltet“.26 Spaldings Reflexionen zeichnen sich durch ihre literarische Form aus. Rezipiert wird nicht nur der Gehalt der englischen Moral-Sense-Philosophie, sondern auch die charakteristische Gestalt des Reflexionsmediums nach dem Vorbild von Shaftesburys „Soliloquy“ (1710). Der stilistische Mittelweg, den Spaldings Text zwischen der „erhitzte[n] Einbildungskraft“ pietistischer Gefühlsintensität und der „trockene[n] Spitzfindigkeit“ theologischer Orthodoxie einschlägt, soll die Natur unverstellt zur Sprache kommen lassen, so dass das Ich dieses inneren Monologs nur noch auf sie zu horchen und auf sie aufmerksam zu sein braucht: Im Rückgang auf sich selbst wird der moralische Sinn vernehmbar: „Hier gebe ich also auf mich selbst Acht [. . .].“27 Das anthropologische Wissen, dessen Gewissheit auf der Erfahrung eines inneren Sinns beruht, erhält Evidenz durch die gewählte Darstellungsform. Noch Jean-Jacques Rousseaus (1712–1778) „Rêveries“ (posthum 1782), in denen die „Erforschung meiner selbst“ mit der unmittelbaren Evidenz eines Selbstgefühls verbunden ist, folgen der Form des Soliloquiums. Die Praxis der Selbstbeobachtung entspringt dabei keineswegs religiöser Verinnerlichung, sondern sie ist vielmehr dem Methodenarsenal des Empiris[Anm. 22], S. 69–95, hier S. 71. Ediert wird die 9. Auflage, Leipzig 1768 mit den Varianten des anonym erschienenen Erstdrucks, Greifswald 1748. 26 Ebd., S. 85. Vgl. Mark-Georg Dehrmann: Das „Orakel der Deisten“. Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, Göttingen 2008, bes. S. 139ff. Zur ‚Theologie der Lessingzeit‘ vgl. insgesamt jetzt Albrecht Beutel: Aufklärung in Deutschland, Göttingen 2006 (Die Kirche in ihrer Geschichte. Ein Handbuch, Bd. 4, Lieferung O 2). 27 Spalding [Anm. 1], S. 72; vgl. S. 75, 79 und 85.

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mus entnommen. Bezogen auf seine Gefühle und Gedanken führt Rousseau „ähnliche Messungen durch, wie sie Naturforscher verrichten, die den täglichen Zustand der Luft beobachten“, und die so gewonnenen Daten in chronologisch geführten Kladden niederschreiben. Ohne ein Aufschreibesystem ist weder die Empirie des täglichen Luftdrucks noch der Blick ins Innere des Herzens zu haben.28 2.2 Empirische Psychologie Vom frühneuzeitlichen Empirisierungsschub bleibt auch die Untergliederung der Metaphysik nicht unberührt. In sie baut Christian Wolff (1679–1754) eine neue Wissenschaft, die ‚empirische Psychologie‘, ein, die die Aussagen der rationalen Psychologie über das Wesen des Geistes um Aussagen ergänzt, die durch Erfahrung, d. h. Beobachtung und Experiment, gewonnen sind.29 Das neue und das alte Wissen wird in eigenständigen Werken, „Psychologia empirica“ (1732, 2. Auflage 1738) und „Psychologia rationalis“ (1734, 2. Auflage 1740), ausführlich entfaltet. Die von Wolff initiierte empirische Psychologie entwickelt sich über Krügers „Experimental=Seelenlehre“ (1756), Johann George Sulzers (1720– 1779) Sammlung „Vermischte philosophische Schriften“ (1773/81), die Einblick in die dunkleren Seiten der menschlichen Seele suchen, und Karl Philipp Moritz’ Projekt eines „Magazins zur Erfahrungsseelenkunde“ (1783–1793) zu einer neuen Leitwissenschaft im 18. Jahrhun28

Jean Jacques Rousseau: Träumereien eines einsamen Spaziergängers. Übersetzt von Ulrich Bossier und mit einem Nachwort versehen von Jürgen von Stackelberg, Stuttgart 2003, S. 14 und 16f. Wie protokollarische Aufschreibesysteme aus den Naturin die Menschenwissenschaften übertragen werden, geht Gunhild Berg ( Johann Georg Lorenz Brackebuschs Tagebuch des Menschenbeobachters. Die moralische Erzählung als fiktives Protokoll empirischer Anthropologie, in: Kleine anthropologische Prosaformen der Goethezeit [1750–1830], hg. von Carsten Zelle und Alexander Košenina, Hannover 2011, S. 229–254) nach. 29 Christian Wolff: Vernünfftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt [= Deutsche Metaphysik] [1720]. Nachdruck der 11. Auflage, Halle 1751, Hildesheim [u. a.] 1983, 3. Kap. „Von der Seele überhaupt, was wir nehmlich von ihr wahrnehmen“; 5. Kap. „Von dem Wesen der Seele und eines Geistes überhaupt“. Vgl. Fernando Vidal: Les sciences de l’âme. XVIe–XVIIIe siècle, Paris 2006, bes. S. 103–112 (Kap. „Une psychologie nouvelle: Christan Wolff“).

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dert.30 Vor allem hat sie Anteil an der Ausprägung zweier neuer, gleichursprünglicher Wissenschaften des 18. Jahrhunderts – Ästhetik und Anthropologie. Die von Wolff vorgegebene Taxonomie greift Baumgarten in seiner erstmals 1739 gedruckten „Metaphysica“ (7. Auflage 1779) auf. Er unterscheidet wie Wolff „Erfahrungspsychologie“ und „vernünftige Psychologie“ und teilt erstere wiederum in eine Untersuchung des „untern“ und des „obere[n] Erkentnißvermögen[s]“ auf.31 Diese Zergliederungen sind folgenreich: Zum einen für Baumgarten selbst, der zur Einsicht kommt, dass zwar die „facultatis cognoscendi pars superior“, d. h. die ‚obere Erkenntnis‘, seit alters her Gegenstand der Logik ist, die „facultatis cognoscendi pars inferior“ dagegen bis dato verwaist, d. h. ohne zugeordnete Wissenschaft sind, die diesen Erkenntnismodus näher untersucht und Anstrengungen unternimmt, ihn auszubilden und zu perfektionieren. Diese Aufgabe ordnet er der Ästhetik zu, zu deren Begründer er wird.32 Zum andern für Kant, insofern der Königsberger Philosoph das Kapitel zur Erfahrungspsychologie aus der vierten Auflage der „Metaphysica“ (1757) Baumgartens seiner Anthropologie-Vorlesung als „Leitfaden“ zugrundelegt, da „es kein anderes Buch über die Anthropologie giebt“.33 „Eine Psychologie der Beobachtungen könnte man Anthropologie nennen. –“34 30

Vgl. Carsten Zelle: Experimentalseelenlehre und Erfahrungsseelenkunde. Zur Unterscheidung von Erfahrung, Beobachtung und Experiment bei Johann Gottlob Krüger und Karl Philipp Moritz, in: Ders. (Hg.) [Anm. 12], S. 173–185; Johann Georg Sulzer (1720–1779). Aufklärung zwischen Christian Wolff und David Hume, hg. von Frank Grunert und Gideon Stiening, Berlin 2011; „Fakta, und kein moralisches Geschwätz“. Zu den Fallgeschichten im „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ (1783–1793), hg. von Sheila Dickson, Stefan Goldmann und Christof Wingertszahn, Göttingen 2011; Anthropologie und empirische Psychologie um 1800. Ansätze einer Entwicklung zur Wissenschaft, hg. von Georg Eckardt [u. a.], Köln [u. a.] 2001. 31 Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysik. Übersetzt von Georg Friedrich Meier, Halle 1766, §§ 382ff., 164ff. und §§ 462ff., 409ff. 32 Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten. Sinnliche Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus, hg. von Alexander Aichele und Dargmar Mirbach (Aufklärung 20, 2008 [Themenschwerpunkt]). 33 Immanuel Kant: „Menschenkunde“, Winter 1781/82 [?], in: Ders.: Gesammelte Schriften [Anm. 20], Bd. 25.2: Vorlesungen über Anthropologie II, Berlin 1997, S. 859. 34 Immanuel Kant: „Metaphysik-Mrongovius“, Winter 1782/83, in: Ders.: Gesammelte Schriften [Anm. 20], Bd. 29.1,2: Ergänzungen II, Berlin 1983, S. 757. Vgl. Nor-

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3. ‚Literarische Anthropologie‘ als Forschungsprogramm Anthropologisches Wissen besitzt in der Aufklärung einen zentralen Stellenwert. Die Generierung dieses Wissens erfolgt mit den Mitteln der neuen empirischen Naturforschung, d. h. durch Experiment, Beobachtung bzw. Selbstbeobachtung und darauf komplementär bezogene Aufschreibesysteme, die unhintergehbar literarisch bzw. rhetorisch verfasst sind.35 3.1 Der ‚ganze Mensch‘ Das anthropologische Wissen des 18. Jahrhunderts ist in der (germanistischen) Aufklärungsforschung in den letzten Dezennien zunehmend erforscht worden. Während die zweite Auflage des „Merker/Stammler“ (1958–1988) ‚Anthropologisches‘ noch so gut wie nicht thematisiert, enthält die dritte Auflage ein eigenes Lemma zur „literarischen Anthropologie“, die „das hohe interdisziplinäre Potential“ des neuen Forschungsfelds eigens herausstellt.36 Kam die Anthropologie des 18. Jahrhunderts forschungsgeschichtlich zunächst als Antidot aufklärerischer Geschichtsphilosophie in den Blick37, haben fundierende Werke zur Erfahrungsseelenbert Hinske: Wolffs empirische Psychologie und Kants pragmatische Anthropologie, in: Ders. (Hg.) [Anm. 22], S. 97–107; ders.: Kant und Alexander Gottlieb Baumgarten. Ein leider unerledigtes Thema der Anthropologie Kants, in: Aufklärung 14, 2002, Themenschwerpunkt: Aufklärung und Anthropologie, S. 261–274. 35 Vgl. Carsten Zelle: Experiment, Beobachtung, Selbstbeobachtung. Empirie bei den ‚vernünftigen Ärzten‘ der Frühaufklärung, in: Literatur der Frühen Neuzeit und ihre kulturellen Kontexte – eine Bochumer Ringvorlesung, hg. von Andreas Beck und Nicola Kaminski, Bern [u. a.] 2012, S. 209–228. 36 Wolfgang Riedel: Literarische Anthropologie, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung, hg. von Klaus Weimar, 3 Bde., Berlin [u. a.] 1997ff., Bd. 2, hg. von Harald Fricke, 3., neubearbeitete Auflage, Berlin [u. a.] 2000, S. 432–434, hier S. 434. Vgl. Markus Fauser: Einführung in die Kulturwissenschaft, Darmstadt 2003, S. 41–65 (Kap. „Literarische Anthropologie“). 37 Vgl. Odo Marquard: Zur Geschichte des philosophischen Begriffs „Anthropologie“ seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts [1965], in: Ders.: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Aufsätze, Frankfurt a. M. 1982, S. 122–144 und 213–248 (Anm.). Vgl. dagegen die (hinterlassene) Studie von Werner Krauss (Zur Anthropologie des 18. Jahrhunderts. Die Frühgeschichte der Menschheit im Blick-

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kunde philosophischer Ärzte der Spätaufklärung und zur Geschichte der Autobiographie (u. a. zu Rousseau, Adam Berndt, Karl Philipp Moritz und Goethe) den Grundstein für eine literarische Anthropologie des Aufklärungszeitalters gelegt, in der die spezifische Leistung von Literatur in ihrer ästhetisch gestalteten Aufmerksamkeit für die Innenansicht des ‚ganzen Menschen‘ in seinem leib-seelischen Zusammenhang, die ‚unteren‘ Erkenntnis- und Begehrungsvermögen sowie deren Pathologien hervorgehoben wurde.38 Das anthropologische Konzept des ‚ganzen Menschen‘ ist 1994 in einem Symposionsband, der die Forschungen der damaligen ‚anthropologischen Wende‘ in der Literaturwissenschaft versammelte, zusammengefasst worden: „Im Gegenzug gegen die cartesianische Trennung von res cogitans – res extensa und die metaphysischen Versuche ihrer Bewältigung bildet sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts eine neue Erfahrung vom Menschen und mit ihr eine ‚Wissenschaft‘ vom“, wie es nun mit dem Titel der Dissertation des Mediziners Schiller heißt, ‚Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen‘, die sich gezielt den Namen ‚Anthropologie‘ [. . .] gibt. Man hat von der „Erfindung des Menschen“ gesprochen. Entschlossen nimmt die neue Anthropologie Tendenzen der Aufklärung auf: Rückgang auf Empirie, Naturalisierung des Menschen, ‚Rehabilitation der Sinnlichkeit‘. [. . .] Am Ende des Jahrhunderts entwickelt sich aus der ‚Anthropologie‘ die Lehre von der Bildung des ganzen Menschen, das Ideal der Humanität.39 punkt der Aufklärung [1978], hg. von Hans Kortum und Christa Gohrisch, Frankfurt a. M. [u. a.] 1987), die die deutsche Anthropologie am Ende des 18. Jahrhunderts mit Iselins ‚Menschheitsgeschichte‘ (1764) einsetzen lässt (S. 103ff.). Vgl. für das französische ‚siécle des lumières‘ die Pilotstudie von Sergio Moravia: Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung [1970], Frankfurt a. M. [u. a.] 1977. 38 Vgl. Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes, Stuttgart 1987, bes. S. 1–28; Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977. Skeptisch dagegen Wolfgang Proß: Ideologie und Utopie einer neuen Disziplin: Kritische Bemerkungen zur ‚Anthropologischen Wende‘ der Geisteswissenschaften, in: Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 46, 1999, H. 4, S. 508–518. 39 Hans-Jürgen Schings: Vorbemerkung des Herausgebers, in: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992, hg. von

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Eine Fortschreibung der 1994 von Wolfgang Riedel vorgelegten Topik der ‚Forschungslandschaft‘ zur literarischen Anthropologie in der deutschen Spätaufklärung40 kann hier nicht geleistet werden. Dafür ist das Gebiet zu umfangreich, umfasst es mit der ‚Rehabilitierung der Sinnlichkeit‘, der ‚Entdeckung des Unbewussten‘, der ‚Naturalisierung des Menschen‘, des ‚Prozesses der Zivilisation‘, den ‚Wilden und den Zivilisierten‘ und der ‚Ordnung der Geschlechter‘ Themenfelder, die sich seither zu eigenständigen Forschungsgebieten ausdifferenziert haben. Allein eine Bestandsaufnahme der literarischen Anthropologie Friedrich Schillers würde einen eigenen Forschungsbericht beanspruchen, insofern sein gesamtes Gattungssystem auf anthropologischer Grundlage steht.41

dems., Stuttgart/Weimar 1994, S. 1–6, hier S. 1. Vgl. die „Auswahlbibliographie zur Erforschung der (literarischen) Anthropologie im 18. Jahrhundert (1795–1993)“ von Alexander Košenina, ebd., S. 755–768. Vgl. den bereits zuvor publizierten Band: Anthropologie und Literatur um 1800, hg. von Jürgen Barkhoff und Eda Sagarra, München 1992, in dem ebenfalls „die leib-seelische Doppelnatur des Menschen“ und eine das 18. Jahrhundert prägende Neubewertung bzw. „Rehabilitation der Sinnlichkeit“ im Mittelpunkt standen (S. VI). Neuere Forschungsinventuren bieten die Bände: Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung. Anthropologie im 18. Jahrhundert, hg. von Jörn Garber und Herinz Thoma, Tübingen 2004; Beetz [u. a.] (Hg.) [Anm. 11]. 40 Wolfgang Riedel: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 6, 1994 (Sonderheft), S. 93–157. Weiterführend jetzt: Alexander Košenina: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen, Berlin 2008 (darin weitere Literatur). 41 Vgl. Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der „Philosophischen Briefe“, Würzburg 1985; Gilles Darras: L’âme suspecte, le corps complice. L’anthropologie littéraire dans les premières oeuvres de Schiller, Paris 2005; Holger Bösmann: ProjektMensch. Anthropologischer Diskurs und Moderneproblematik bei Friedrich Schiller, Würzburg 2005; zuletzt: Marina Mertens: Anthropoetik und Anthropoiesis. Zur Eigenleistung von Darstellungsformen anthropologischen Wissens bei Friedrich Schiller. Unveröffentlichte Phil. Diss. Bochum 2012.

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3.2 Wissenspoetik – anthropologisches Wissen der Literatur Gegenüber den Untersuchungen, die das anthropologische Wissen der Literatur herausarbeiteten und den Wechselwirkungen von Anthropologie und Literatur nachgingen42, ist kritisch vorgerechnet worden, das Forschungsprogramm der literarischen Anthropologie habe zwar zu reichem Kontext- und Quellenwissen geführt, es sei aber theoretisch selbstgenügsam, d. h. positivistisch begrenzt geblieben.43 Die Situation der Spätaufklärung ist freilich durch eine „diskursive Gemengelage“44 charakterisiert, in der literarische, paraliterarische und expositorische Textsorten sich überschneiden und durchmischen. Ist z. B. Schillers „Verbrecher aus Infamie“ (1786) eine literarische Kriminalerzählung oder ein Beitrag zur empirischen Psychologie? Spontan wird man ‚beides‘ sagen und benennt damit ein zentrales Problem der zur Diskussion stehenden Forschungssituation. Hier setzen unterschiedliche Spielarten einer ‚Wissenspoetik‘ bzw. ‚Wissenspoietik‘ an, die sich auf die diskursiven, pikturalen, tabellarischen u. ä. Darstellungsformen des anthropologischen, empirisch-psychologischen oder medizinischen Wissens konzentrieren. Achtgegeben wird dabei auf die diskursiven, gegebenenfalls literarischen Darstellungsformen von Wissen bzw. Wissenschaft, d. h. untersucht wird, in welchen Textsorten Wissen auf welche Weise kommuniziert wird, ob und wenn ja, in welcher Form in wissenschaftlichen Texten erzählt wird, ob und wenn ja, welche modellleitende Metaphern dabei benutzt werden und mit welchen rhetorischen Strategien Evidenzen erzeugt und Wahrheitseffekte produziert werden. Indem danach gefragt wird, wie Wissen und eben auch: ‚wissenschaftliches Wissen‘ dargestellt wird, ist man mit der Beobachtung konfrontiert, 42 Vgl. Jutta Heinz: Literarische oder Historische Anthropologie? Zur Möglichkeit interdisziplinären Arbeitens am Beispiel von Literatur und Anthropologie im 18. Jahrhundert, in: Innovation und Transfer. Naturwissenschaften, Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, hg. von Carsten Zelle, Dresden 2004, S. 195–207. 43 Vgl. Ingo Stöckmann: Traumleiber. Zur Evolution des Menschenwissens im 17. und 18. Jahrhundert. Mit einer Vorbemerkung zur literarischen Anthropologie, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 26, 2001, H. 2, S. 1–55, bes. S. 4–15. 44 Rainer Godel: Vorurteil – Anthropologie – Literatur. Der Vorurteilsdiskurs als Modus der Selbstaufklärung im 18. Jahrhundert, Berlin/New York 2007, S. 23.

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dass ein so genanntes Faktum nicht einfach ‚gegeben‘ ist, sondern etwas ist, dass ‚gemacht‘ wird. Insbesondere Lutz Danneberg hat sich in den letzten 15 Jahren mit Nachdruck der „terra incognita“45 der verschiedenen Darbietungsformen wissenschaftlicher Texte und dem Wissenstransfer zwischen Wissenschaft und Literatur gewidmet. Zugleich hat Joseph Vogl die Aufmerksamkeit auf die Eigenleistung bzw. Formationskraft der Darstellung gelenkt und herausgearbeitet, dass „jede epistemische Sachlage [. . .] mit einer ästhetischen bzw. darstellungslogischen Entscheidung verknüpft“ sei.46 In beiden Ansätzen kommt dadurch neben der Mikrostruktur modellbildender Figuralität (z. B. auf der Ebene der Metaphorik47) die Makrostruktur der Gattungen, Textsorten bzw. Formulare, d. h. das in der vorgegebenen Architextualität geronnene System an epistemisch relevanten Voraussetzungen ins Spiel, z. B. bestimmte Zeit/Raum-Strukturierungen im anthropologischen Roman oder ein deduktiver Logik querstehendes „reasoning in cases“48 in anthropologischen Fallerzählungen. In solchen Studien stehen Literatur und anthropologisches Wissen nicht als „zwei getrennte Sphären“49 nebeneinander, deren gegenseitige Rezeptionsprozesse untersucht würden, vielmehr erscheint die Literatur als Technologie, Wissen über den Menschen zu gewinnen. Michel Foucault (1926–1984) hat zu zeigen versucht, wie „Aufzeichnungsverfahren“ in Spitälern, Schulen oder Gefängnissen im 18. Jahrhundert anthropologisches Wissen produziert haben: „Die Geburt der Wissenschaften vom Menschen 45

Lutz Danneberg: Darstellungsformen in Geistes- und Naturwissenschaften, in: Geist, Geld und Wissenschaft. Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaft, hg. von Peter J. Brenner, Frankfurt a. M. 1993, S. 99–137; Darstellungsformen der Wissenschaften im Kontrast. Aspekte der Methodik, Theorie und Empirie, hg. von Lutz Danneberg und Jürg Niederhauser, Tübingen 1998; Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert, hg. von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt, Tübingen 2002. 46 Joseph Vogl: Poetologie des Wissens, in: Einführung in die Kulturwissenschaft, hg. von Harun Maye und Leander Scholz, München 2011, S. 49–71, hier S. 55. 47 Vgl. Tropen und Metaphern im Gelehrtendiskurs des 18. Jahrhunderts, hg. von Elena Agazzi, Hamburg 2011 (Archiv für Begriffsgeschichte 10, 2011 [Sonderheft]). 48 John Forrester: If p, then what? Thinking in cases, in: History of the Human Sciences 9, 1996, S. 1–25, hier S. 3. 49 Georg Braungart und Dietmar Till: Wissenschaft, in: Handbuch Literaturwissenschaft, 3 Bde., hg. von Thomas Anz, Stuttgart/Weimar 2007, Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe, S. 407–419, hier S. 407.

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hat sich wohl in jenen ruhmlosen Archiven zugetragen, in denen das moderne System der Zwänge gegen den Körper, die Gesten, die Verhaltensweisen erarbeitet worden ist.“50 So geraten z. B. Erziehen, Beobachten, Schreiben und Erzählen in einen komplementär verketteten Kreislauf, wie er z. B. in Wezels doppeltem Imperativ eines „beobachtet, schreibt!“51 greifbar wird. Wie in solcher Verkettung um 1800 anthropologisches Wissen geschaffen wurde, hat Nicolas Pethes in einer methodisch bemerkenswerten Studie zu zeigen versucht, in der er fünf Stadien eines pädagogischen Menschenexperiments verschaltet hat: „die Isolation der Versuchspersonen von unkontrollierbaren Einflüssen, ihre gezielte Irritation durch Reizzuführung oder -entzug, die Observation ihrer Reaktionen auf diese Eingriffe, das Protokoll dieser Beobachtungen und schließlich die Interpretation der gewonnenen Daten.“52 Literaturgeschichtliche Fragen, wie sie traditioneller Weise in der Gattungslehre verfolgt werden, fügen sich in den skizzierten Forschungskontext ein. Die Erforschung des anthropologischen Wissens in der Aufklärung hat sich bisher vor allem auf den Roman und das Drama bzw. Theater konzentriert.53 Die „Neuentdeckung des Menschen“54 generiert bzw. modelliert im 18. Jahrhundert Textsorten auf signifikante Weise. Der Zusammenhang von Anthropologie und Erzählliteratur wirkt formbildend, prägt die Art der Personendarstellung, verknüpft Inneres und Äußeres, strukturiert den Geschehensablauf zur Kausalität einer inneren Ge50

Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses [OA, frz.: 1975], Frankfurt a. M. 1977, S. 238–250 („Die Prüfung“), hier S. 246. 51 Johann Karl Wezel: Über die Erziehungsgeschichten, in: Pädagogische Unterhandlungen. Philanthropisches Journal für die Erzieher und das Publicum 2, 1778/79, S. 21–43, hier S. 43 (wieder abgedruckt in: Ders.: Gesamtausgabe, Bd. 7 [Anm. 18], S. 429–441). 52 Nicolas Pethes: Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts, Göttingen 2007, S. 11. Vgl. Grégoire Chamayou: Les corps vils. Expérimenter sur les êtres humains aux XVIIIe et XIXe siècles, Paris 2008. 53 Zum Roman vgl. u. a. Hans-Jürgen Schings: Der anthropologische Roman. Seine Entstehung und Krise im Zeitalter der Spätaufklärung, in: Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen, hg. von Bernhard Fabian, Wilhelm Schmidt-Biggemann und Rudolf Vierhaus, München 1980, S. 247–275; Heinz [Anm. 9]; zum Drama vgl. Alexander Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur „eloquentia corporis“ im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995. 54 Košenina [Anm. 40], Untertitel und passim.

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schichte, erprobt polyperspektivische und digressive Gestaltungsmittel, bedient sich dialogischer Erzählformen und bevorzugt eine personale Erzählweise. Im Unterschied zum anthropologischen Roman im 18. Jahrhundert ist der Erzählung mittlerer Länge „bislang kaum“55 eine eingehendere Untersuchungen zuteil geworden. Doch blieb auch die literarische Kurzprosa von der allgemein zu beobachtenden „Anthropologisierung der Diskursformen“56 nicht unberührt. Die Zusammenführung narrativer Muster medizinischer57, juristischer58 und moralischer59 Fallerzählungen 55

Gunhild Berg: Erzählte Menschenkenntnis. Moralische Erzählungen und Verhaltensschriften der deutschsprachigen Spätaufklärung, Tübingen 2006, S. 12–18, hier S. 12. Vgl. Erzählen im Umbruch. Narration 1770–1810. Texte, Formen, Kontexte, hg. von Rainer Godel und Matthias Löwe, Hannover 2011 (Wezel-Jahrbuch. Studien zur europäischen Aufklärung 12/13, 2009/2010); Košenina/Zelle (Hg.) [Anm 28]. 56 Berg [Anm. 55], S. 7. 57 Zum Beispiel Friedrich Hoffmann: Medicina Consultatoria: Worinnen Unterschiedliche über einige schwehre Casus ausgearbeitete Consilia, auch Responsa Facultatis Medicæ enthalten, 12 Bde., Halle 1721–1739. Vgl. Carsten Zelle: „Die Geschichte bestehet in einer Erzählung“. Poetik der medizinischen Fallerzählung bei Andreas Elias Büchner (1701–1769), in: Zeitschrift für Germanistik 19, 2009, H. 2, S. 301–316 (Themenheft: Fallgeschichten – Von der Dokumentation zur Fiktion, hg. von Alexander Košenina); Der ärztliche Fallbericht. Epistemische Grundlagen und textuelle Strukturen dargestellter Beobachtung, hg. von Rudolf Behrens und Carsten Zelle, Wiesbaden 2012. 58 Zum Beispiel Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit. Nach dem Französischen Werk des Pitaval durch mehrere Verfasser ausgearbeitet und mit einer Vorrede begleitet herausgegeben von Schiller, 4 Bde., Jena 1792–1795. Vgl. Eckhardt Meyer-Krentler: „Geschichtserzählungen“. Zur ‚Poetik des Sachverhalts‘ im juristischen Schrifttum des 18. Jahrhunderts, in: Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920, hg. von Jörg Schönert, Tübingen 1991, S. 117–157; Nicolas Pethes: Vom Einzelfall zur Menschheit. Die Fallgeschichte als Medium der Wissenspopularisierung zwischen Recht, Medizin und Literatur, in: Popularisierung und Popularität, hg. von Gereon Blaseio, Hedwig Pompe und Jens Ruchatz, Köln 2005, S. 63–92; Alexander Košenina: Recht – gefällig. Frühneuzeitliche Verbrechensdarstellung zwischen Dokumentation und Unterhaltung, in: Zeitschrift für Germanistik N.F. 15, 2005, S. 28–47; Harald Neumeyer: „Schwarze Seelen“. Rechts-Fall-Geschichten bei Pitaval, Schiller, Niethammer und Feuerbach, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 31, 2006, H. 1, S. 101–132. 59 Jean François Marmontel: Contes moraux. 1755ff. Vgl. Gunhild Berg: Der Prozeß der ‚anthropologischen Zwänge‘ (Michel Foucault). Juristische, moralische und psy-

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prägt die Schreibweise der „anthropologische[n] Erzählung“60 im Allgemeinen und die Gattung der „Kriminalerzählung“ im Besonderen.61

4. Ausblick Die ‚literarische Anthropologie‘ hat sich in den letzten Jahrzehnten als dynamisches Forschungsfeld erwiesen, das gegenüber textimmanenten poststrukturalistischen bzw. dekonstruktivistischen Lektüren in der Literaturwissenschaft an dem durch die Sozialgeschichte der Literaturgeschichtsschreibung seit 1970 eröffneten Weg, literarische Werke in lebensweltliche Kontexte zu stellen, festgehalten und zu einem interpretativen Ansatz, nach dem anthropologischen Wissen der Literatur zu fragen, fortentwickelt hat. Inzwischen hat sich dieses in seinen Ergebnissen kaum noch überschaubare Gebiet zugunsten der Erforschung von Literatur und Wissen weiter ausdifferenziert, so dass anthropologisches Wissen nurmehr einen von vielen möglichen Wissenskontexten bildet, dessen Wechselwirkung mit Literatur es zu erforschen gilt. Statt ‚Wissen‘ den Gattungen, Schreibweisen, Formen oder Figuren der ‚Literatur‘ gegenüberzustellen, gilt das Interesse dabei zunehmend den verschiedenen Darstellungsformen, in denen Wissen generiert, vermittelt und gestaltet wird. Der Blick der Literaturwissenschaft weitet sich von fiktiver Literatur (z. B. Romane) auf ein breites Textkorpus nicht hintergehbar literarisch bzw. rhetorisch geformter Fachliteratur. chologische Verhandlungen am Beispiel der spätaufklärerischen Kriminalerzählung August Gottlieb Meißners, in: Sexualität – Recht – Leben. Die Entstehung eines Dispositivs um 1800, hg. von Maximilian Bergengruen, Johannes F. Lehmann und Hubert Thüring, München 2005, S. 195–215; dies.: Beiträge zur Menschenkenntnis. ‚Anthropologisierte‘ Erzählstrategien in Moralischen Erzählungen der deutschsprachigen Spätaufklärung. In: Beetz [u. a.] (Hg.) [Anm. 11], S. 354–372. 60 Alexander Košenina: Schiller und die Tradition der (kriminal)psychologischen Fallgeschichte bei Goethe, Meißner, Moritz und Spieß, in: Friedrich Schiller und Europa. Ästhetik, Politik, Geschichte, hg. von Alice Stašková, Heidelberg 2007, S. 119– 139, hier S. 124f. 61 Vgl. die von Alexander Kos ˇenina mit Nachworten herausgegebenen Anthologien von August Gottlieb Meißner: Ausgewählte Kriminalgeschichten, St. Ingbert 2003 und Karl Müchler: Kriminalgeschichten. Aus gerichtlichen Akten gezogen, Hannover 2011.

Die radikale französische Philosophie im Spiegel der deutschen Aufklärungsliteratur Roland Krebs

Die grundsätzlichen Unterschiede zwischen den französischen Lumières und der deutschen Aufklärung sind oft betont worden. So stellt man gern der antireligiösen und antiklerikalen Einstellung der ersteren die religiöse Dimension der letzteren entgegen. Diese Tatsache scheint von vornherein jeden dauerhaften und tieferen Einfluss der sensualistischen beziehungsweise atheistisch-materialistischen Gedankenrichtung französischer Provenienz in Deutschland auszuschließen. Das Anliegen dieses Beitrags ist zu zeigen, dass die radikale Philosophie zwar oft abgelehnt wurde, dass sie dennoch allgemeiner verbreitet war als bisher angenommen. Sie hat die deutschen Schriftsteller genügend beschäftigt und beunruhigt, um sie zu veranlassen, sie in einer Anzahl von fiktionalen Werken zu thematisieren. Auch blieb sie nicht ohne Wirkung auf die allgemeine Entwicklung der deutschen Aufklärungsliteratur. Die deutsche Rezeption der Werke der drei Hauptvertreter des philosophischen Materialismus: La Mettrie, Helvétius und d’Holbach war von unterschiedlicher Intensität. Der bekannteste und meist gelesene war ohne Zweifel Claude-Adrien Helvétius, dessen beide Hauptwerke „De l’esprit“ (1758) und „De l’homme“ (posthum 1772) eine weite Verbreitung fanden und leidenschaftliche Debatten auslösten.1 La Mettrie wurde selten ganz ernst genommen und oft als Wüstling oder Halbverrückter diskreditiert. Seine Radikalität brachte ihn selbst bei den führenden Vertretern der Aufklärung in Frankreich in Misskredit und schränkte seinen

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Vgl. Roland Krebs: Helvétius en Allemagne ou la tentation du matérialisme, Paris 2006.

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Einfluss ein.2 D’Holbach galt oft als abstrakt und doktrinär und die Aggressivität seiner antiklerikalen und atheistischen Meinungen schockierte viele Leser. Doch auch er wurde in Deutschland rezipiert.3 Sogar der bekannte Ausspruch Goethes in „Dichtung und Wahrheit“, nach dem „Le Système de la nature“ „ohne Wirkung“ auf ihn und seine Gefährten blieb4, muss relativiert werden. Es gibt genug Berührungspunkte in der Auffassung der Natur zwischen der hermetischen Tradition, die Goethe zu dieser Zeit beschäftigte, und dem Materialismus, um mindestens auf ein gewisses Interesse schließen zu lassen.5 Helvétius’ erstes Werk, „De l’esprit“, fand zunächst eine überwiegend positive Aufnahme in der Kritik.6 Die Tatsache, dass es in Frankreich gleich von drei Instanzen, der Sorbonne, der Kirche und der königlichen Zensur verdammt und sein Autor zu einem demütigenden Widerruf gezwungen wurde, brachte ihm schon eine gewisse Sympathie in Deutschland ein. Für viele war Helvétius zunächst ein Opfer der Willkür und der Despotie, die in dem Nachbarland herrschten. Er galt dazu als geistreich und unterhaltend. Als Erbe der Moralisten des Grand Siècle, eines La Rochefoucauld etwa, sprach er sowohl die adlige Leserschaft als auch die Literaten an. Denn Helvétius spricht vor allem vom Menschen und von den Triebfedern seiner Handlungen und deckt die geheimen Gesetze des menschlichen Zusammenlebens auf. Er sieht überall das Wirken der 2

Sogar ein Diderot schreckte nicht vor den ärgsten Beschimpfungen zurück. Nach ihm sei La Mettrie „dissolu, impudent, bouffon, flatteur“ (Denis Diderot: Essai sur les règnes de Claude et de Néron, in: Œuvres complètes, hg. von Jules Assézat, Bd. 3, Paris 1875, S. 218). 3 Martin Schmeisser: Baron d’Holbach in Deutschland. Reaktionen in deutschen Zeitschriften der Aufklärung, in: Geheimliteratur und Geheimbuchhandel in Europa im 18. Jahrhundert, hg. von Christine Haug, Franziska Mayer und Winfried Schröder, Wiesbaden 2011, S. 84–98. 4 Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in vierzehn Bänden [Hamburg 1948–1969], hg. von Erich Trunz, Bd. 9: Autobiographische Schriften I, 11. Buch, Hamburg 1959, S. 490. 5 Vgl. Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts, Bd. 2, München 1979, S. 413–419. 6 Albrecht von Haller, dessen Abneigung gegen materialistische Schriften konstant blieb, bietet hier eine Ausnahme. Vgl. seine negative Besprechung von „De l’esprit“ in den „Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen“ 1759, S. 1034f.

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Eigenliebe, die dem Individuum befiehlt, sein Wohl zu suchen und das Leid zu fliehen. Jede Moral, die nicht auf diese anthropologische Grundlage Rücksicht nimmt, ist für ihn nur ein ohnmächtiges Hirngespinst. Helvétius relativiert die sittlichen Normen, die für ihn alle gesellschaftsbedingt sind, denn jede Gesellschaft belohnt nur, was ihr nützlich ist. Er betont die Macht der äußeren Bedingungen auf die Entwicklung der Persönlichkeit: Sie ist durch die „Erziehung“ bestimmt, nicht durch die individuellen angeborenen Anlagen. Diese Gedanken wurden alle eifrig diskutiert und oft bestritten, aber sie mussten notwendigerweise die Schriftsteller ansprechen; befasste sich doch Helvétius’ Werk mit dem wichtigsten Gegenstand der Literatur, dem Menschen in seiner Ganzheit. Kaum zwei Jahre nach seinem skandalumwitterten Erscheinen in Frankreich kam schon eine deutsche Übersetzung von „De l’esprit“ zustande.7 Der Herausgeber war kein Geringerer als Johann Christoph Gottsched. Es mag überraschen, dass gerade ein überzeugter Anhänger der Leibniz-Wolffschen Philosophie, der gewöhnlich als ein etwas zahmer Aufklärer betrachtet wird, diese kühne Initiative ergriff. Aber man darf nicht vergessen, dass Gottsched in früheren Jahren schon die Verantwortung für die Verbreitung von Bayles „Wörterbuch“ übernommen und die Hauptwerke Fontenelles in Deutschland eingeführt hatte.8 In seiner zweiten „moralischen Wochenschrift“, „Der Biedermann“, hatte er den Aberglauben aktiv bekämpft und war für die religiöse Toleranz eingetreten. Gelegentlich geriet er so mit der evangelischen Geistlichkeit in Konflikt. Schützenhilfe bei den Franzosen zu suchen, die ihrerseits gegen die katholische Geistlichkeit polemisierten, war deswegen ein geschickter Schachzug. Doch bemühte sich Gottsched bei seinen verschiedenen Transfers einen direkten Konflikt mit der Zensur zu vermeiden, indem er sich von den kühnsten Gedanken der Franzosen distanzierte. Im Falle von Helvétius verwarf er in seiner Vorrede die Hypothese der Materialität der Seele und ließ das Übrige um so mehr gelten. 7 Diskurs über den Geist des Menschen. Aus dem Französischen des Herrn Helvetius, Ihro Maj. der Königinn von Frankreich ersten Leibarztes. Mit einer Vorrede Herrn Joh. Christoph Gottscheds [. . .], Leipzig und Liegnitz 1760. 8 Vgl. Roland Krebs: Gotttsched, traducteur et commentateur de Fontenelle, in: Aufklärung als Mission. Akzeptanzprobleme und Kommunikationsdefizite, hg. von Werner Schneiders, Marburg 1993, S. 207–219.

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Über den Inhalt hinaus dürfte die Form, die die französischen Lumières benutzen, Gottsched stark interessiert haben. Er schätzte den neuen Prosastil, den sie in den „gelehrten Sachen“ eingeführt hatten. Sie versuchten immer, ihre Gedanken durch eine verständliche, unpedantische und elegante Form dem Leser leicht zugänglich zu machen. Bei der Schaffung einer modernen „weltlichen“ Kultur in Deutschland – und dies bildete ohne Zweifel das große Anliegen Gottscheds – war dieser Stil ein Vorbild und es war nötig, auch auf diesem Gebiet eine Zeitlang bei den Franzosen in die Lehre zu gehen. Es ging insbesondere darum, die Gattung des anspruchsvollen Essays einzuführen. Und mit dem Essay befand man sich in jenem Grenzgebiet zwischen Philosophie und Literatur, das von einem Montesquieu oder einem Voltaire meisterhaft beherrscht wurde. Unter die ersten Autoren, die sich bemühten, sich diesen Stil anzueignen, gehört Thomas Abbt, dessen Untersuchung „Vom Verdienst“ nach dem Zeugnis Friedrich Nicolais bewusst als Pendant zu „De l’Esprit“ konzipiert wurde.9 Er übte sich im prägnanten Ausdruck, der pointierten Formulierung und verzichtete auf jede schwerfällige Beweisführung. Allerdings zog er sich deswegen von seinen engsten Freunden, Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn, den Vorwurf zu, seine Sprache wirke gekünstelt und dunkel.10 Anscheinend konnten sie sich zunächst nicht mit dieser neuen Art von Vortrag anfreunden. Doch die Schaffung eines neuen Stils im schöngeistigen Bereich ohne gelehrte Pedanterie stand von nun an an der Tagesordnung; und der Einfluss der französischen philosophes hat ohne Zweifel zu seiner Entwicklung beigetragen. 1774 erschien Friedrich von Blanckenburgs „Versuch über den Roman“, die erste Poetik des Romans. Er äußerte darin den Wunsch, dass die Darstellung der „inneren Geschichte“ eines Menschen im Vordergrund stehen solle. Das Verhältnis zwischen Geist und Körper solle gezeigt und die Abhängigkeit der literarischen Gestalt von den äußeren Umständen unterstrichen werden. So definierte Blackenburg eigentlich das, was man später den „anthropologischen Roman“ nennen wird.11 9 Friedrich Nicolai: Ehrengedächtniß Herrn Thomas Abbts. An Herrn D. Johann George Zimmermann, Berlin und Stettin 1767, S. 16f. 10 Thomas Abbts freundschaftliche Correspondenz. Neue und mit Anmerkungen von Moses Mendelssohn vermehrte Auflage, Berlin und Stettin 1782, Brief 60, S. 265. 11 Hans-Jürgen Schings: Der anthropologische Roman. Seine Entstehung und Krise im Zeitalter der Aufklärung, in: Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestim-

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Der Dichter muß bei jeder Person seines Werks gewisse Verbindungen voraussetzen, unter welchen sie in der wirklichen Welt das geworden ist, was sie ist. [. . .] Durch diese Verbindung nun, das heißt, mit anderen Worten, durch die Erziehung, die sie erhalten, durch den Stand, den sie bekleidet, und die Personen, mit denen sie gelebt, durch die Geschäfte, welchen sie vorgestanden, wird sie gewisse Eigenthümlichkeiten erhalten; und diese Eigenthümlichkeiten in ihren Sitten, in ihrem ganzen Betragen, werden einen Einfluß auf ihre Art zu denken, und ihre Art zu handeln, auf die Äußerung ihrer Leidenschaften u.s.w. haben.12 In diesem Kontext empfiehlt Blanckenburg dem Romancier die Lektüre von „De l’esprit“, durch die er lernen könne, „mögliche“, d. h. wahrscheinliche Gestalten der „wirklichen Welt“ zu schaffen. Der Psychologe und Anthropologe Helvétius kann also dazu verhelfen, eine quasi wissenschaftliche Behandlung der Entwicklung einer Gestalt zu geben und die „Kette von Ursachen und Wirkungen“, die sie bestimmt, ausgehend von den verschiedenen Determinationsfaktoren, zu rekonstruieren. Helvétius hatte seinerseits behauptet: „Nous sommes uniquement ce que nous font les objets qui nous entourent“, denn was er „Erziehung“ nennt, bezeichnet eigentlich das bestimmende Milieu.13 Blanckenburg übernimmt aber diesen Determinismus nicht völlig, da er der Entwicklung ein Ziel, das der sittlichen Vervollkommnung, zuweist. Diese Ambivalenz wird auch den späteren Bildungsroman charakterisieren.

mung des Menschen, hg. von Bernhard Fabian, Wilhelm Schmidt-Biggemann und Rudolf Vierhaus, München 1980, S. 247–275. 12 Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Faksimiledruck nach der Originalausgabe Leipzig [u. a.] 1774, bearbeitet und mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert, Stuttgart 1965, S. 208. 13 Der Baron d’Holbach glaubt auch an die Determiniertheit der menschlichen Handlungen, auch wenn er anders als Helvétius die inneren Anlagen – die aber auch von der Natur bestimmt wurden – in Betracht zieht: „En un mot les actions des hommes ne sont jamais libres, elles sont toujours des suites nécessaires de leur tempérament, de leurs idées reçues, des notions vraies ou fausses qu’ils se font du bonheur, enfin de leurs opinions fortifiées par l’exemple, par l’éducation, par l’expérience journalière.“ (Paul-Henri Thiry, baron d’Holbach: Système de la Nature [réédition], hg. von Josiane Boulad-Ayoub, Paris 1990, Bd. 1, S. 228.)

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Blanckenburg stützt seine Ausführungen auf Wielands „Geschichte des Agathon“, deren erste Fassung 1766–1767 erschienen war. Schon in der Vorrede formuliert Wieland das Hauptprinzip des „anthropologischen Romans“: Es sei unmöglich zu beweisen, dass sein Held „unter den besonderen Umständen, unter welchen [er] [. . .] sich von seiner Kindheit an befunden, nicht so denken oder handeln könne [. . .]“.14 Und am Ende wird die Macht der Umstände noch stärker betont. Die Absicht des Verfassers – so Wieland – sei gewesen, dem Leser begreiflich zu machen, wie ein solcher Mann – so geboren – so erzogen – mit solchen Fähigkeiten und Dispositionen – mit einer solchen besonderen Bestimmung derselben – nach einer solchen Reihe von Erfahrungen, Entwicklungen und Veränderungen – in solchen Glücks-Umständen – an einem solchen Ort und in einer solchen Zeit – in einer solchen Gesellschaft – unter einem solchen Himmels-Strich – bei solchen Nahrungs-Mitteln (denn auch diese haben einen stärkern Einfluß auf Weisheit und Tugend, als sich manche Moralisten einbilden) – bei einer solchen Diät – kurz, unter solchen Umständen [. . .] ein so weiser und tugendhafter Mann habe sein können.15 Aber auch thematisch weist Wielands Roman eine starke Abhängigkeit von dem französischen Materialismus auf. Im zweiten und dritten Buch versucht der skeptisch-hedonistische Sophist Hippias seinen Sklaven, den jungen Idealisten Agathon, von seiner „Schwärmerei“ zu heilen. Die Überschriften des dritten und des fünften Kapitels des dritten Buchs: „Die Geisterlehre eines echten Materialisten“ und „Der Antiplatonismus in Nuce“ kennzeichnen die Orientierung seines Denkens. Hippias verwirft sowohl die Hypothese der Existenz Gottes als auch die der Unsterblichkeit der Seele. Das Weltall könne aus Zufall entstanden sein oder die Materie habe seit jeher existiert. Die Metaphysik schaffe lediglich Phantome, die Einbildung Wahnvorstellungen, allein auf die Erfahrung unserer Sinne sei Verlass. Doch seien die leeren Vorstellungen ein Hindernis für unser Wohl, weil sie imaginäre Pflichten schaffen und nutzlose Ängste hervorrufen. 14

Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon. Erste Fassung von 1766/ 1767, in: Ders.: Werke in zwölf Bänden, hg. von Gonthier-Louis Fink [u. a.], Bd. 3: Geschichte des Agathon, hg. von Klaus Manger, Frankfurt a. M. 1986, S. 12f. 15 Ebd., S. 516.

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Sie entfernten uns von der Natur, der wir folgen müssen, um glücklich zu leben. Das Streben nach dem Glück sei die große Beschäftigung der Menschen und das Glück impliziere eine weise Behandlung der Triebe und der Leidenschaften, nicht ihre Unterdrückung. Alle Genüsse und sogar die anscheinend abstraktesten und uneigenützigsten Gefühle (Vaterlandsliebe, Bewunderung, Mitleid) seien von den „sinnlichen Empfindungen“ abhängig. Der Commercium mentis und corporis rechtfertigt und erklärt diesen Reduktionismus. Für Hippias gibt es auch keine zeitlosen universellen Normen der Sittlichkeit. Jede Gesellschaft erklärt für tugendhaft die Handlungen, die ihr nützlich sind, und stempelt das als Laster ab, was ihr schadet. Das Prinzip des Eigeninteresses wird auf diese Weise auf die Gesellschaft ausgedehnt. Anders als bei Helvétius oder d’Holbach versucht Hippias nicht, das Eigeninteresse mit dem Gemeinwohl in Einklang zu bringen. Ganz im Gegenteil. Sein asozialer Hedonismus macht aus ihm einen perfekten Egoisten, der sogar die Schwächen seiner Mitmenschen zynisch ausnutzt. So schmeichelt er den Leidenschaften und den Meinungen der anderen zu seinem eigenen Vorteil. Diese Abweichung signalisiert wohl Wielands Kritik gegenüber den von Hippias vorgetragenen Meinungen. Agathon lässt sich zwar durch Hippias’ geschickte Rhetorik nicht überreden. Aber er kann dem gut argumentierten Diskurs seines Herrn nur sein intimes Gefühl entgegensetzen, das ihm die Existenz eines Gottes und die Unsterblichkeit der Seele garantiert. Auch scheint ihm dieser Glaube eine Bedingung seines Glücks und seiner seelischen Zufriedenheit zu sein. Für Hippias gewährt aber das Gefühl keine Gewissheit: Glaubt nicht der Wahnsinnige an die Realität seiner Vorstellungen? Und das Glück lasse sich nur erreichen, wenn man den Geboten der Natur folgt, wobei der Glaube an die realitätslosen Gebilde der Metaphysik nur hinderlich sein könne. Agathons theoretische Position in diesem Streitgespräch erscheint also schwach genug. Doch er wirft eine heikle Frage auf: Wenn alles an sich recht ist, was meine Begierden wollen, wenn die ausschweifenden Forderungen der Leidenschaft unter dem Namen des Nützlichen, den sie nicht verdienen, die einzige Richtschnur unserer Handlungen sind [. . .] was hindert die Kinder, sich gegen ihre Eltern zu verschwören? Was hindert die Mutter, sich selber und ihre Tochter dem

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meistbietenden Preis zu geben? Was hindert mich, wenn ich dadurch gewinnen kann, den Dolch in die Brust meines Freundes zu stoßen, die Tempel der Götter zu berauben, mein Vaterland zu verraten, oder mich an die Spitze einer Räuberbande zu stellen; und wenn ich anders Macht genug habe, ganze Länder zu verwüsten, ganze Volker in ihrem Blut zu ertränken?16 Diese provokante Frage wird die deutschen Autoren im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts immer wieder beschäftigen und sie wird sich literarisch als äußerst fruchtbar erweisen. Sie wird auch die Debatte über „wahre“ und „falsche“ Aufklärung nähren, indem sie die Gefahren einer amoralischen Rationalität beschwört. Sie entspricht zwar nicht der Position von Helvétius und d’Holbach, die eine neue Sozialethik begründen wollten, deckt aber eine Potentialität ihres Denkens auf, die de Sade später entwickeln wird. Hippias’ Diskurs schien manchen Zeitgenossen so überzeugend, dass sie im Roman selbst eine Widerlegung oder mindestens ein theoretisches Gegengewicht forderten, denn man erkannte mühelos hinter der antiken Verkleidung eine höchst aktuelle Philosophie. So schreibt Issak Iselin in seiner Besprechung des Romans: „Das dritte Buch enthält das verführerische Lehrgebäude des Hippias, und wir finden darinn die Lehre des H[errn] Helvetius ungemein wohl ausgeführt.“17 Auch stellte man sich die Frage des persönlichen Standpunkts des Autors: Glaubt er selbst noch wirklich an die Tugend oder teilt er die skeptische Haltung seiner Gestalt? Endlich verlangte man einen Gegenpol gegen die mögliche „Verführung“, die von Hippias’ Lehrgebäude ausging. Fritz Jacobi insbesondere verlangte von seinem Freund verschiedene Änderungen in diesem Sinn, die Wieland in den Ausgaben von 1773 und 1794 auch gehorsam vornahm.18 In der letzten Ausgabe entwickelt dann der weise Archytas, der über die utopische Republik Tarent herrscht, ein idealistisches Weltbild und ein dualistisches Menschenbild als Antwort auf die sensualistisch-materialistische Philosophie des Hippias.

16 17 18

Ebd., S. 109f. Allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. 6, St. 1, Berlin und Stettin 1768, S. 193. Vgl. Krebs [Anm. 1], S. 92–100.

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Auch im zweiten Roman von Fritz Jacobi, „Woldemar“ (Erstausgabe 1779), spielt der Materialismus eine wichtige Rolle. Im Laufe der zahlreichen philosophischen Diskussionen, die der Roman enthält, wird die französische Philosophie heftig kritisiert. Nach einem der Gesprächspartner des Romans sei sie als bloße Philosophie des Verstandes dem Materialismus verfallen: So bald ihre Philosophie eigentliche bloße Philosophie wurde, und aufhörte, zugleich den Volksglauben unterstützen zu wollen, wurde sie materialistisch und verwarf immer mehr alles, was sich aus mechanischen Gesetzen nicht erklären, dem Verstand, wie sie sagen, nicht deutlich machen ließe.19 Indem der Materialismus die Autonomie des Gewissens und die Absolutheit der sittlichen Normen in Frage stellt, das Wohl des Einzelnen und der Gesellschaft zum einzigen Kriterium der Sittlichkeit erhebt, untergräbt er jede echte Moralität. Der Hedonismus und der Utilitarismus verkennen nicht nur das wahre Wesen des Menschen, sie rechtfertigen auch jede unsittliche Handlung des Individuums sowie jede machiavellistische politische und gesellschaftliche Praxis: Wenn uns [. . .] nur unsere Glückseligkeit obliegt, und der Mensch sich selbst und Gott dadurch allein gefällt, daß er für sein Wohlergehen recht zu sorgen, und sich mit seinen Mitmenschen über diese gemeine Angelegenheit gehörig zu verstehen weiß, so giebt es keine eigentliche Moral mehr, weder eine philosophische noch theologische. Jeder Mensch darf alsdann, um sich selbst ein größeres Gut zu verschaffen, dem Mitmenschen ein geringeres Übel mit dem besten Gewissen zufügen. Treulosigkeit, Raub und Betrug, Völlerei und Unzucht werden nur darum Laster seyn und heißen, weil sie uns selbst oder andern schaden. Um den Zustand der Menschen zu verbessern, dem Wohl ein bedeutendes Übergewicht über das Weh zu verschaffen, werden Verrätherey, Meyneid, Meuchelmord, das schrecklichste Blutvergießen, alle Gräuel nicht allein erlaubt, sondern Pflicht und Tugend seyn. Dahin führt offenbar die Meynung, daß das Wohl des einzelnen Menschen und das Beste der 19

Friedrich Heinrich Jacobi: Woldemar, in: Ders.: Werke. Gesamtausgabe, hg. von Klaus Hammacher und Walter Jaeschke, Bd. 7.1, hg. von Carmen Götz, Hamburg 2007, S. 246. Der Text folgt der Ausgabe von 1796.

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Gesellschaft einziges Prinzip der Sittlichkeit, so wie uneingeschränkte Güte – der Charakter, das eigentliche Wesen Gottes und die Wurzel seiner Gerechtigkeit, Wahrheit und Weisheit sey.20 Als Gegenmodell wird die schottische Philosophie der Sympathie und des moral sense ins Feld geführt21 sowie Jean-Jacques Rousseau, der Jacobi stark beeinflusst hat.22 Doch scheint die materialistische Philosophie einen regelrechten Triumphzug durch Europa angetreten zu haben, da sie dem Geist der Zeit perfekt entspricht. Als Hauptexponent dieser Gedankenrichtung wird einmal mehr Helvétius genannt: Und nun [. . .] stand ein Mann auf, der es frey heraus sagte: Wir schätzten nur die Wollust, wir hätten nur unsere Sinne, gerade fünf an der Zahl, und kein Herz und keinen Geist: nur Begierden, und kein unmittelbares Gefallen am Menschen, keine Liebe: die Tugend, die sich selbst lohne, sey ein Hirngespinst. Wer Ohren hatte zu hören, der hörte. Ganz Europa fiel der neuen Lehre zu. Man wußte ihren Urheber nicht genug zu rühmen und nicht genug ihm zu danken. Und in der That war es ein großes, den Geist seiner Zeit zu fassen, wie es Helvetius getan hat; die leeren Schatten vollends zu verjagen, alle bloßen Dunstgestalten zu zerstreuen, und aus den einzig wirklich vorhandenen Materialien ein neues System von Tugend und Glückseligkeit aufzuführen, das so schön und bündig war, als es aus dergleichen Materialien nur immer werden konnte.23 Die Philosophie des Eigennutzes (intérêt personnel) und der Eigenliebe (amour-propre) musste nach dieser scharfen polemischen Charakterisierung notwendigerweise die Zustimmung einer überfeinerten gesellschaftlichen Elite finden, die schon lange jeden Sinn von echter Moralität verloren hatte. Die Leistung Helvétius’ bestand nach Jacobi darin, ihre Erwartung 20

Ebd., S. 259. Adam Fergusons „Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft“ wird genannt. 22 Kurt Christ: F. H. Jacobi – Rousseaus deutscher Adept. Rousseauismus im Leben und Frühwerk Friedrich Heinrich Jacobis, Würzburg 1998. 23 Jacobi [Anm. 19], S. 170. 21

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mit sicherem Gespür erfüllt zu haben, indem er als erster ihrer egoistischen Gesinnung die theoretische Begründung lieferte. Der Erfolg des Materialismus ist also das Symptom eines moralischen Bankrotts, das eine scharfe Sozial- und Kulturkritik rechtfertigt. So wird Friedrich Schiller noch in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts im fünften seiner „Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen“ den „verfeinerten Ständen“ vorwerfen, mit Blick auf die französische Philosophie, „die Verderbnis durch Maximen“ zu befestigen und der Natur, die man sonst verleugnet, durch eine „materialistische Sittenlehre“ die „entscheidende Stimme zu verleihen“: „Mitten im Schoß der raffiniertesten Geselligkeit hat der Egoismus sein System gegründet, und ohne ein geselliges Herz mit heraus zu bringen, erfahren wir alle Ansteckungen und alle Drangsale der Gesellschaft.“24 Auch Klinger hat in seinem Zeitroman „Geschichte eines Deutschen der neusten Zeit“ von 1798 den Erfolg von „De l’esprit“ als ein bedenkliches Symptom von Erschlaffung des sittlichen Willens interpretiert: Dieses Buch ist durch vielerlei Beziehungen merkwürdig. Der Verfasser stellt uns in demselben ein treues, aufrichtiges Gemälde der Denkungsart seines Zeitalters, seines ganz in Sinnlichkeit versunkenen Volkes dar; und so systematisch geordnet, daß wenn die Zeit es allein dem Vergessen entrisse, es den späten Nachkommen zu einem sichern Leitfaden dienen könnte, die Ursache der bald darauf erfolgten schrecklichen Ereignisse aufzufinden. Ohne alle Scheu und Rücksicht entschleiert uns dieser Mann in dem dogmatischen Ton der Überzeugung alle Triebe seiner Zeitgenossen, des Eigennutzes, der Selbstigkeit, Sinnlichkeit und aller ihrer zahllosen Gefährten, als wären sie die einzigen nothwendigen Gesetze der menschlichen Natur.25 Das Buch spiegle die Zersetzung der Moral in den höheren Ständen Frankreichs wider, die zum Sturz des Ancien Régime geführt habe. Die Revolu24 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: Sämtliche Werke. Auf Grund der Originaldrucke hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, 5 Bde. und ein Register-Bd., München 1962–1975, Bd. 5, 4. Auflage, München 1965, S. 580f. 25 Friedrich Maximilian Klinger: Geschichte eines Deutschen der neusten Zeit, in: Ders.: Sämmtliche Werke in zwölf Bänden, Stuttgart und Tübingen 1842, Bd. 2, S. 109f.

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tion selbst mit ihren zahlreichen Gewalttaten drücke den Sieg der egoistischen Triebe der Individuen aus. Dabei sei das von Helvétius entworfene Menschenbild höchst einseitig, weil es sich auf die Beobachtung einer entarteten Gesellschaft stütze. Ganz anders Rousseau, dessen sittlicher Idealismus den jugendlichen Helden Ernst von Falkenburg ständig stützt und vor der Verzweiflung rettet. Es besteht kein Zweifel, dass Jacobi wie Schiller oder Klinger die wahren Absichten von Helvétius und d’Holbach verkennt. Ihre Befürchtungen markieren aber in einer philosophiegeschichtlichen Perspektive die Auseinandersetzung zwischen der gemäßigten Aufklärung und ihrem radikalen Flügel. Die Tatsache, dass die verderbliche und trostlose materialistische Philosophie größtenteils aus Frankreich kam, verlieh der Debatte notwendigerweise eine nationalkulturelle Dimension. Man betrachtete den Materialismus gern als ein typisches Produkt der Pariser Geisteswelt, der man die eigene idealistische Ausrichtung entgegenstellen konnte. So machte noch Wilhelm von Humboldt, als er sich auf der Schwelle zum neuen Jahrhundert in Paris aufhielt, die Bemerkung, dass die Moral des Eigennutzes und der Utilitarismus dort die Geister so weitgehend beherrschten, dass er bei dem Versuch, seinen französischen Gesprächspartnern die Ethik Kants und Fichtes verständlich zu machen, völlig scheitern musste.26 Einige Jahre später behauptete Germaine de Staël in dem Kapitel „De la morale de l’intérêt personnel“ ihres berühmten Deutschlandbuchs, nichts sei der deutschen Gesinnung entgegengesetzter als das materialistische System, das in Frankreich florierte. Ihre besten Schriftsteller und Philosophen, Kant,

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Wilhelm von Humboldt: Materialien. Erster Band. 1797. 1798, in: Wilhelm von Humboldts gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 14 = Abt. 3: Tagebücher, Bd. 1: 1788–1798, hg. von Albert Leitzmann, Berlin 1916, S. 359. Ders.: Tagebuchnotizen von 1799, in: Wilhelm von Humboldts gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 15 = Abt. 3: Tagebücher, Bd. 2: 1799–1835, hg. von Albert Leitzmann, Berlin 1918, S. 1–46. Vgl. Roland Krebs.: Guillaume de Humboldt à Paris. Entre anthropologie comparée et stéréotypes nationaux, in: Gallophilie und Gallophobie in der Literatur und den Medien in Deutschland und Italien, hg. von Raymond Heitz, York-Gothart Mix, Jean Mondot und Nina Birkner, Heidelberg 2011, S. 249–261.

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Fichte und Jacobi, hätten es siegreich bekämpft, so dass sich zur Zeit niemand mehr dazu bekenne.27 Die schroffe Kontrastierung muss selbstverständlich relativiert werden. Sie markiert vor allem die Tendenz eines zunehmenden Abgrenzungswillens gegenüber Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts. Das erstarkte Selbstbewusstsein der deutschen Intellektuellen führte sie häufig dazu, sich der französischen Art zu philosophieren gegenüber kritischer als früher zu verhalten. Es ist bezeichnend, dass „De l’homme“ in der deutschen Kritik weniger positiv aufgenommen wurde als „De l’esprit“. Der lockere essayistische Stil, die witzigen Formulierungen, die pikanten historischen Anekdoten, die merkwürdigen ethnographischen Beobachtungen bestachen weniger. Man beklagte jetzt oft bei den französischen philosophes einen Mangel an Gründlichkeit und Tiefe. Ein Johann Gottfried Herder spricht fast immer von seinen französischen Zeitgenossen mit fühlbarer Ironie, so wenn er von einem „flüchtigen Räsonnement à la Voltaire“ spricht, während Helvétius von ihm als „französischer Sophist“ tituliert wird.28 Der Philosoph Dietrich Tidemann fragt sich sogar, warum man sich die Mühe gegeben hat, D’Holbachs „Système de la nature“ ins Deutsche zu übersetzen29: „Nun des seichten Gewäsches haben wir ja in unserem Vaterlande genug, wozu sollen wir auch noch das Ausländische uns zueignen.“30 Der Vorwurf der „Sophisterei“ wird häufig gegen die französische Philosophie erhoben, sogar gegen den sonst so bewunderten JeanJacques Rousseau. Diese ostentativ zur Schau getragene Abgrenzung verhindert aber weder die Rezeption noch die Beeinflussung. Sogar bei den Stürmern und Drängern, bei denen ein antifranzösischer Affekt unverkennbar ist, sind manche positive Bezüge feststellbar. Der Begriff der Energie bzw. der „Kraft“ verbindet sie mit den französischen 27 Germaine de Staël: De l’Allemagne. Chronologie et notes de Simone Balayé, Bd. 2, Paris 1968, S. 209. 28 Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, in: Ders.: Werke, hg. von Günter Arnold [u. a.], Frankfurt a. M. 1985ff., Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Kunst und Altertum 1774–1787, hg. von Jürgen Brummack und Martin Bollacher, Frankfurt a. M. 1994, S. 13. 29 Die Übersetzung erschien 1783: System der Natur oder von den Gesetzen der Physischen und Moralischen Welt, Frankfurt und Leipzig 1783. Eine zweite Ausgabe erschien 1791. 30 Allgemeine Deutsche Bibliothek 58 (1784), S. 500.

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„secondes Lumières“31 und prägt ihre Sprach- und Dichtungstheorie.32 Andererseits behaupten sie unermüdlich die Positivität der starken Leidenschaften, wie es Diderot, Helvétius und d’Holbach taten, die wiederholt die Ansicht vertraten, dass nichts Großes ohne Leidenschaft verwirklicht werden kann.33 Die Stürmer und Dränger preisen die außergewöhnlichen Persönlichkeiten, die „Genies“. Versucht Herder, Größe und Genie mit der Tugend in Einklang zu bringen34, so verherrlicht der skandalöse Wilhelm Heinse in seinem Künstlerroman „Ardinghello“ die amoralische Größe, deren Faszination sich auch der junge Schiller nicht immer entziehen konnte. Gerade das Jugendwerk Schillers bietet das Beispiel einer ständigen Auseinandersetzung mit dem Materialismus. Man weiß nicht, welche genaue Kenntnis Schiller von den Schriften der französischen Materialisten besaß. Fest steht nur, dass er schon in der Karlsschule durch seinen Lieblingslehrer Johann Friedrich Abel mit der Gedankenwelt von Helvétius in Berührung kam.35 Andere Schriften dürften ihm bekannt gewesen sein, etwa durch Rezensionen in den Zeitschriften, die gewöhnlich einen ziemlich präzisen Überblick über die besprochenen Werke boten, auch wenn sie sie negativ beurteilten. In Schillers unvollendet gebliebenen Briefroman „Die Philosophischen Briefe“ erlebt ein junger Idealist, Julius, den Zusammenbruch seiner geistigen Welt nach der Entdeckung des Materialismus. Er schreibt an seinen Freund Raphaël: „Ich forsche nach den Gesetzen der Geister, schwinge mich zu dem Unendlichen, aber ich vergesse zu erweisen, daß sie vorhan31

Michel Delon: L’Idée d’énergie au tournant des Lumières (1770–1820), Paris 1988. 32 Vgl. Roland Krebs: Herder, Goethe und die ästhetische Diskussion um 1770. Zu den Begriffen „énergie“ und „Kraft“ in der französischen und der deutschen Poetik, in: Goethe-Jahrbuch 112, 1995, S. 83–96. 33 Ralph-Rainer Wuthenow: Die gebändigte Flamme. Zur Wiederentdeckung der Leidenschaften im Zeitalter der Vernunft, Heidelberg 2000. 34 Johann Gottfried Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele, in: Ders.: Werke [Anm. 28], Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767–1781, hg. von Gunter E. Grimm, Frankfurt a. M. 1993, S. 711. Allerdings verwerfen die Stürmer und Dränger die These von Helvétius, nach der das Genie das Resultat der Erziehung oder gar des Zufalls sei. 35 Wolfgang Riedel: Johann Friedrich Abel. Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773–1782), Würzburg 1995.

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den sind, ein kühner Angriff des Materialismus stürzt mein Gebäude ein.“36 Die Aktion des Verstandes – die mit der verhängnisvollen Neugier des Oedipus verglichen wird – hat ihn seinem glücklichen Traum entrissen und in eine entzauberte trostlose Welt gestürzt. Aber diese Krise – das Wort muss auch in seinem medizinischen Sinne verstanden werden – war von seinem Freund vorbereitet und überwacht worden: Er hat ihm den Materialismus „inokuliert“, ihn also für alle Zukunft dagegen geimpft und geschützt. Das Schicksal des Prinzen im „Geisterseher“ ist weniger glücklich. Er wird zum Opfer einer teuflischen Manipulation, die darauf hinzielt, ihm zunächst seine religiösen Gewissheiten zu nehmen, um ihn dann zum willenlosen Werkzeug einer verbrecherischen politischen Intrige zu machen. Der Prinz entkommt „den Machtsprüche[n] eines blinden ungeprüften Glaubens“ nur, um dann zunächst ein „Zweifler“ und zuletzt ein „ausgemachter Freigeist“ zu werden, ohne jedoch je die echte geistige Mündigkeit zu erreichen. So durchschaut er die „feinen Trugschlüsse“ der „verdammlichen Philosophie“, mit der man ihn absichtlich bekannt macht, und die als ein „schreckliches Korrosiv“ „beinahe alles verzehrt, worauf seine Moralität ruhen sollte“, nicht.37 Denn die „neue Philosophie“ erschüttert jeden festen Glauben: „Ernsthafte Empfindungen und ehrwürdige Wahrheiten fingen an, Gegenstände seines Spotts zu sein.“38 Das Herz des Prinzen wurde durch den Kopf verdorben. Das gleiche gilt für Franz Moor, den Schurken der „Räuber“. Er ist ein „räsonnirender Bösewicht“39, „ein metaphysisch-spitzfündiger Schurke“.40 Seine Bosheit ist „das Resultat eines aufgeklärten Denkens und liberalen Studiums“41, das 36

Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 5 [Anm. 24], S. 344. Über dieses Werk vgl. Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der „Philosophischen Briefe“, Würzburg 1985. 37 Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 5 [Anm. 24], S. 108f. 38 Ebd., S. 111. 39 Brief an Dalberg vom 06. Oktober 1781, in: Friedrich Schiller: Briefe. Kritische Gesamtausgabe, hg. und mit Anmerkungen versehen von Fritz Jonas [1892–1896], Bd. 1: Brief 1–239 [1772–1787], Stuttgart [u. a.] 1892, S. 42. 40 Brief an Dalberg vom 12. Dezember 1781, in: Ebd., S. 49. 41 Friedrich Schiller: Selbstbesprechung im Wirtembergischen Repertorium. Die Räuber. Ein Schauspiel von Friedrich Schiller. 1782, in: Ders.: Sämtliche Werke [Anm. 24], Bd. 1: Gedichte/Dramen I, S. 619–635, hier S. 627.

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Ergebnis einer pervertierten Aufklärung also. Seine Diskurse, durch die er seine Verbrechen rechtfertigt, übernehmen zahlreiche Elemente der „neuen Philosophie“, d. h. der radikalen Aufklärung. So dekonstruiert er die „natürlichen“ Gefühle der Vater- und Bruderliebe als bloße gesellschaftliche Konventionen. Die Gesetze seien nur da, um die gewöhnlichen Menschen in Schach zu halten. Aber der Starke oder der Listige könne und solle sich darüber hinwegsetzen. Er verneint die Unsterblichkeit der Seele und damit den Gedanken einer Belohnung oder Bestrafung im Jenseits. Die Materie, die in einer ständigen Bewegung von Schöpfung und Zerstörung begriffen ist, bilde die einzige Realität. Die Existenz des Individuums verliere deshalb jede Bedeutung. Geburt und Tod des einzelnen seien im ewigen Zyklus der Natur belanglos. So rechtfertigt Franz den Mord an seinem Vater. Nachdem er ihn aus der Welt geschafft und das Regierungsgeschäft übernommen hat, entwickelt er sich logischerweise zu einem furchtbaren Despoten. Die Despotie ist nämlich die unvermeidliche Folge der Verabsolutierung des Eigennutzes und einer monströs gewordenen Selbstliebe. Schon in der „Theosophie des Julius“ war zu lesen: „Liebe ist die mitherrschende Bürgerin eines blühenden Freistaates. Egoismus ein Despot in einer verwüsteten Schöpfung.“42 In Franz Moors Diskurs erkennt man mühelos in überspitzter polemischer Form wichtige Philosopheme der radikalen halb-klandestinen europäischen Aufklärung, wie sie sich seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entwickelt hat und durch den französischen Materialismus systematisiert und verbreitet wurde.43 Doch die Folgen, die aus ihnen gezogen werden, überraschen durch ihre Radikalität. Warum wird sie hier als die Philosophie des Verbrechens dargelegt? Was bedeutet diese Kriminalisierung einer Gedankenrichtung, die doch auf eine ehrwürdige, bis in die Antike reichende Tradition zurückschauen kann? Wie kam man von dem noch halbwegs gutmütigen Sybariten Hippias zum Vater- und Brudermörder Moor? Hat die Spätaufklärung jeden Kontakt mit der radikalen Philosophie verloren? Sicher nicht. Bei Schiller wie bei anderen Autoren der Zeit kann die Kriminalisierung zum Teil als eine Abwehrreaktion be42

Friedrich Schiller: Philosophische Briefe, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 5 [Anm. 24], S. 351. 43 Vgl. Jonathan I. Israël: Enlightenment, Philosophie and the Making of Modernity (1650–1750), Oxford 2001.

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trachtet werden gegen Gedanken, die man sich vom Leibe halten wollte, aber die einen um so tiefer beschäftigten und beunruhigten, als man keine völlig überzeugende Antwort fand auf die Fragen, die sie aufwarfen. Bekanntlich brachte erst die Moralphilosophie Kants für Schiller die erwünschte befriedigende Lösung. Die Heftigkeit der Abwehrreaktion zeugt auch von der Faszination, die eine Zeitlang von dem Materialismus ausging, von der Versuchung, die er darstellte. Befürchtungen hinsichtlich der sozial-politischen Konsequenzen eines allzu radikalen Aufräumens mit „nützlichen“ Vorurteilen und tradierten religiösen Vorstellungen lassen sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts auch öfter vernehmen. So verurteilt Friedrich II. entschieden das „Système de la Nature“, weil der absolute Determinismus – der Preußenkönig spricht von „fatalisme“ –, der darin herrscht, jede gesellschaftliche Moral zerstören muss.44 Sogar Wieland bedauert jetzt, dass die Übersetzung von „De l’homme“ ohne jede kritische Stellungnahme in die Welt gesetzt worden sei.45 In einer populären Erzählung vergleicht Johann Jakob Engel den Leser, der aus Neugier d’Holbachs Hauptwerk aufschlägt, mit einem unvorsichtigen Entdeckungsreisenden, der sich in eine glitschige Kluft wagt.46 Und doch war in diesen Jahren der Einfluss des Sensualismus und sogar des Materialismus in der Aufklärungsliteratur paradoxerweise besonders stark. Denn jetzt wagen es einige Autoren und Publizisten, sich offen zu Helvétius oder d’Holbach zu bekennen. So preist Karl von Knoblauch, ein enger Mitarbeiter Wilhelm Ludwig Wekhrlins, den Autor des „Système de la Nature“ als einen der „größten und kühnsten Denker unserer Zeit“.47 Er verteidigt die Theorie der Eigenliebe: „Man hat gegen La Rochefoucault 44

Frédéric II, roi de Prusse: Examen critique du système de la nature, in: Oeuvres philosophiques, Paris 1985, S. 395. Auch „L’Essai sur les préjugés“ (Du Marsais) wird von ihm abgelehnt, ebd., S. 361–385. 45 „Werke von diesem Schlage müssen entweder gar nicht, oder von Männern übersetzt werden, welche Genie, Gelehrsamkeit, guten Willen und Muße genug haben, sie, durch gehörige Scheidung des Guten und Bösen, unschädlich und gemeinnützig zu machen.“ (Christoph Martin Wieland, in: Teutscher Merkur 6, 1774, S. 361f.) 46 Johann Jacob Engel: Die Höle auf Antiparos, in: Der Philosoph für die Welt. Erster Theil, Berlin 1775, S. 34–56. 47 Zit. nach Jean Mondot: Wilhelm Ludwig Wekhrlin. Un publiciste des Lumières, Bd. 2, Lille/Bordeaux 1986, S. 621.

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und Helvetius deklamiert, weil sie Eigenliebe zum Ressort der moralischen Welt machten, wie Bewegung die Seele der physischen ist“48 und zitiert eine Sentenz aus dem „Système d’Epicure“ von La Mettrie.49 In einem anonymen Aufsatz, der in Wielands „Teutschem Merkur“ erschien, verteidigt er den Spinozismus, dessen Anhänger weiterhin verfolgt werden, obgleich er allein den Widerspruch zwischen Materialismus und Spiritualismus überwindet.50 In Johann Carl Wezels Romanen ist die Präsenz des materialistischen Denkens unverkennbar. In der Vorrede seines berühmten Romans „Belphegor“, ein radikalisierter „Candide“, wird der Mensch als „eine Maschine des Neids und der Vorzugszucht“ definiert, sie sind „die zu allen Zeiten, an allen Orten, in allen Ständen der Menschheit und Gesellschaft, bey allen Charakteren allgemeinsten Triebfedern der menschlichen Natur [. . .]“.51 Der Krieg aller gegen alle ist die unvermeidliche Konsequenz dieser anthropologischen Konstante und der Spruch von Hobbes – bellum omnium contra omnes – dient mit gutem Recht dem Roman als Motto. Wezel übernimmt auch von Helvétius das allegorische Bild des Habichts, der sich auf die Taube stürzt, die ihrerseits ein Insekt verschlingt, um die grausamen Gesetze der Natur zu verdeutlichen.52 Eine der drei Hauptgestalten, Fromal, sieht überall in der Welt das Wirken der Notwendigkeit, wie sie d’Holbach auffasst, und gewinnt aus dieser Beobachtung eine große Seelenruhe. Belphegor selbst ist ein glühender Idealist und der etwas einfältige Medardus glaubt an die Vorsehung. Aber im Grunde haben die drei Meinungen nur einen relativen Wert als Ausdruck der verschiedenen Temperamente. Auch dem Weltbild, das der Roman entwirft, darf kein absoluter Wert zugesprochen werden. Es ist eher als ein literarisches Experiment oder eine Denkübung zu betrachten.53

48

Ebd., S. 622. Ebd. 50 Vgl. Über das Denken der Materie, in: Der Teutsche Merkur, September 1787, S. 185–197. 51 Johann Carl Wezel: Belphegor oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne, Frankfurt a. M. 1967, S. 9. 52 Ebd., S. 18. Vgl. Helvétius: De l’esprit, Paris 1989, S. 321. 53 Vgl. Michael Hofmann: Agathons unglücklicher Bruder. Wielands konsequenter Nachfolger. Radikalisierende Zuspitzung aufklärerischer Literaturkonzepte in Wezels 49

Die radikale französische Philosophie im Spiegel der deutschen Aufklärungsliteratur

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Der erste Roman Wezels, „Tobias Knaut“54, könnte seinerseits als ein Kommentar zum Satz von Helvétius dienen: „J’ai fait, je crois, suffisamment sentir que l’absence totale de passions, si elle pouvait exister, produirait en nous le parfait abrutissement.“55 Der wunschlose Tobias läuft als „stoische Karikatur“ durch die Welt, bis endlich auch bei ihm der „Ehrtrieb“ als Manifestation der „Eigenliebe“ erwacht, den er dann auf eine groteske Art befriedigt. Im Laufe seines abenteuerlichen Lebens entdeckt Tobias das Gut des „weisen“ Empator, wo der auf der Eigenliebe beruhende Ehrgeiz systematisch gefördert wird. Empator ist überzeugt, die Formel für die Errichtung einer glücklichen und wohlhabenden Gemeinschaft gefunden zu haben, da sie auf einer gesicherten anthropologischen Basis beruht: Nach seinen Begriffen war die Eigenliebe die einzige allgemeine Triebfeder der Menschen bey ihren Handlungen; diese muß in Bewegung gesetzt werden, sagte er, wenn sie nur eine Hand oder ein Fuß zu einem gewissen Zwecke rühren sollen. Im menschlichen Herzen sind verschiedene kleinere Räder, die in das große Rad der Eigenliebe greifen, und von diesem umgetrieben werden – Ehre, Patriotismus, Ruhmbegierde und andre, deren Bewegung eigentlich nichts ist, als die mitgetheilte Bewegung der Eigenliebe.56 Doch ist Empators Gut alles andere als eine glückliche Utopie. Die Beschreibung ist ironisch gebrochen und es ist offenbar, dass Eupator vor allem ein ausgeklügeltes System von Ausbeutung erfunden hat, aus dem er allein Nutzen zieht! Wichtig ist, dass bei dieser Gelegenheit Wezel den wahren Sinn des Wortes „Eigeninteresse“ erklärt, wie es Helvétius benutzt. Das Wort habe leider zu groben Missverständnissen geführt: „[M]an verstund das Wort in der eingeschränkten Bedeutung, in welcher es seine Feinde, die Jesuiten, nahmen“57 und verkannte die gesellschaftsethische Absicht, die Helvétius verfolgte. Roman „Belphegor“, in: Johann Carl Wezel (1747–1819), hg. von Alexander Košenina und Christoph Weiß, Würzburg 1989, S. 62–92, bes. S. 77. 54 Johann Carl Wezel: Lebensgeschichte Tobias Knauts, des Weisen, sonst der Stammler genannt. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1773–1776, 4 Bde., Stuttgart 1971. 55 Helvétius [Anm. 52], S. 287. 56 Wezel [Anm. 54], Bd. 4, S. 143f. 57 Ebd., S. 155.

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Der „komische“ Roman „Herrmann und Ulrike“ demonstriert dann, wie der Ehrgeiz eines Individuums dem allgemeinen Wohl dienen kann. Der Lebenslauf des aus ärmsten Verhältnissen stammenden Herrmanns, der zum aufgeklärten Minister eines Duodezfürsten avanciert, zeigt die glückliche Verbindung von Eigeninteresse und Wohl der Mitmenschen. Die erste Erziehung Herrmanns durch seinen Lehrer Schwinger hat seinem Ehrtrieb die richtige Orientierung gegeben, was die Bedeutung der Erziehung erneut beweist.58 Die Rezeption des französischen Materialismus im Deutschland des 18. Jahrhunderts erscheint als höchst ambivalent. Seine Einführung hat unverkennbar zur Bildung der deutschen Literatursprache beigetragen und das Menschenbild des „anthropologischen Romans“ beeinflusst. Man nahm aber oft Anstoß an seiner Ethik, deren gesellschaftstheoretische Dimension meistens verkannt blieb. Diese Ethik wurde deswegen literarisch thematisiert und Anlass zu einem sozial- und kulturkritischen Diskurs. Der Widerstand nahm im Laufe der Zeit eher zu. Paradoxerweise war aber der Einfluss des französischen Materialismus nie spürbarer als zu der Zeit, als er am bittersten bekämpft wurde. Während die kanonisierten Vertreter der „gemäßigten“Aufklärungsliteratur sich meistens von ihm distanzierten, wagten es einige Außenseiter, sich mehr oder weniger offen zu ihm zu bekennen. Aber in beiden Fällen hat der französische Materialismus auf die deutsche Literatur gewirkt. Öffentliche Ablehnung bedeutet keineswegs Wirkungslosigkeit und die Stellungnahmen, zu denen er die deutschen Autoren ständig zwang, bilden einen nicht wegzudenkenden Bestandteil der Aufklärungsliteratur.

58

Auch in seinen pädagogischen Schriften unterstreicht Wezel die Bedeutung des „Ehrtriebs“. Vgl.: Noch eine Apologie des Ehrtriebs, in: Ders.: Pädagogische Schriften, hg. von Phillip S. McKnight, Frankfurt a. M. 1996, S. 122–142.

Friedrich Schiller und die Aufklärung Volker C. Dörr

In älteren Literaturgeschichten oder auch in schematischen Epocheneinteilungen wird Friedrich Schiller (1759–1805) meist nicht der Aufklärung zugerechnet, sondern zwei folgenden ‚Epochen‘: Sein Jugendwerk, beginnend mit seinem Erstlingsdrama „Die Räuber“ (1781), fällt (noch) in die Zeit des sogenannten ‚Sturm und Drang‘, während der spätere Schiller ein Autor der sogenannten ‚Weimarer Klassik‘ (die auch, meist in noch älteren Darstellungen, ‚Deutsche Klassik‘ genannt wird) gewesen sei. Daran ist einiges problematisch1: Wenn tatsächlich sinnvoll von einer Epoche des ‚Sturm und Drang‘ gesprochen werden kann, dann ist sie zum Zeitpunkt des Erscheinens der „Räuber“ eigentlich schon vorüber. Andererseits gilt es schon seit längerer Zeit als mehr denn zweifelhaft, ob der ‚Sturm und Drang‘ eine eigene Epoche ausmacht (die sich noch dazu radikal von der Aufklärung abgrenzte); viel sinnvoller ist es, ihn als radikalisierende Bewegung einiger Autoren innerhalb der Grenzen der Aufklärung zu deuten. Und auch Schillers Beiträge zur ‚klassischen‘ Literatur stehen zur philosophischen Bewegung der Aufklärung alles andere als im Widerspruch. Von seinen beiden wichtigen ästhetischen Konzepten lässt sich sogar zeigen, dass es sich um Unternehmungen der Aufklärung im engeren Sinne handelt: von seinem Projekt einer Ästhetischen Erziehung des Menschen2 und von seiner Tragödientheorie. Beide Konzepte Schillers sind durch 1 Vgl. dazu auch Michael Hofmann: Aufklärung. Tendenzen – Autoren – Texte, Stuttgart 1999, S. 46f. 2 Vgl. zu Schillers Briefen „Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen“, die hier nicht betrachtet werden sollen, Hans-Jürgen Schings: Schiller und die Aufklärung, in: Friedrich Schiller, hg. von Hans Feger, Heidelberg 2006, S. 13–34; Rolf-Peter Janz: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: SchillerHandbuch, hg. von Helmut Koopmann in Zusammenarbeit mit der Deutschen

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und durch aufklärerisch: weil sie den zentralen Punkt der Aufklärung, die Beantwortung der Frage, wie die Welt dadurch verbessert werden kann, dass der (einzelne) Mensch verbessert wird, nie aus dem Blick verlieren. Schiller, der gern Pfarrer geworden wäre, war ausgebildeter Mediziner. Dabei kann die Prägung seines Denkens durch seine Ausbildungsstätte, die „Karlsschule“, und vor allem seinen philosophischen Lehrer Jakob Friedrich Abel kaum überschätzt werden.3 In der kurzen Zeit, in der er im bürgerlichen Sinne einen Beruf ausgeübt hat, bevor er so schwer krank wurde, dass an eine regelmäßige Berufstätigkeit nicht mehr zu denken war, war er als Professor für Geschichte an der Universität Jena tätig. Seine dortige Antrittsvorlesung „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ hielt er geradezu vor Massen von Publikum, Ende Mai 1789, also kurz vor Beginn der Französischen Revolution. Zu diesem Zeitpunkt ist sein Blick auf die Geschichte noch von einem aufklärerischen Optimismus geprägt, der aber die Französische Revolution nicht unbeschadet überstehen sollte: von dem Glauben daran, dass „die stille Hand der Natur schon seit dem Anfang der Welt die Kräfte des Menschen planvoll entwickelt“.4 Diese Konzeption ist insofern typisch aufklärerisch, als sie eine auf lange Sicht notwendigerweise zur Freiheit führende Selbstvervollkommnung der menschlichen Gattung voraussetzt, die Schiller sogar für – in Europa – weitgehend abgeschlossen hält. Dementsprechend scheint ihm, noch am Vorabend der Revolution, das „Zeitalter der Vernunft“ erreicht und „die europäische Staatengesellschaft [. . .] in eine große Familie verwandelt“.5 Universalgeschichte in diesem Sinne ist dann die Vorgeschichte des (scheinbaren) Friedens; aber diese Vorgeschichte ist dem Menschen mit seinem beschränkten Verstand nur eingeschränkt zugänglich: Schillergesellschaft Marbach, 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage, Stuttgart 2011, S. 649–666. 3 Vgl. dazu Peter-André Alt: Schiller. Leben – Werk – Zeit, 2 Bde., München 2000, Bd. 1, S. 141–150. 4 Friedrich Schiller: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?, in: Schillers Werke. Nationalausgabe, hg. von Julius Petersen und Gerhard Fricke; seit 1948: hg. von Julius Petersen und Hermann Schneider; seit 1961: hg. von Norbert Oellers und Siegfried Seidel; seit 1992: hg. von Norbert Oellers, Weimar 1943ff. [fortan zitiert unter der Sigle ‚SW‘+Band- und Seitenzahl], Bd. 17: Historische Schriften. Erster Teil, hg. von Karl-Heinz Hahn, Weimar 1970, S. 359–376, hier S. 375. 5 Ebd., S. 366f.

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Es zieht sich [. . .] eine lange Kette von Begebenheiten von dem gegenwärtigen Augenblicke bis zum Anfange des Menschengeschlechts hinauf, die wie Ursache und Wirkung in einander greifen. Ganz und vollzählich überschauen kann sie nur der unendliche Verstand; dem Menschen sind engere Grenzen gesetzt.6 Dass dieser Gedanke in seinen Konsequenzen mit einem zentralen Punkt aus Lessings „Hamburgischer Dramaturgie“ zusammenstimmt, sieht man, wenn man einen Blick auf Schillers erstes historisches Drama wirft: „Die Verschwörung des Fiesko zu Genua“ (1783). Dort geht es dem Dramatiker um alles andere als um historische Exaktheit, wie sich besonders am Schluss zeigt. Fiesko, der ursprünglich für eine Revolte gegen den Genueser Dogen Andreas Doria gewonnen worden ist, beansprucht plötzlich, im krassen Widerspruch zu den republikanischen Zielen seiner Mitverschwörer, die Herzogwürde für sich selbst. Und während das historische Vorbild Fiesco (1524/25–1547) Opfer des blinden Zufalls geworden ist – er ist nach einem Sturz ins Hafenbecken ertrunken –, setzt Schiller ein anderes Ende: Der Mitverschwörer Verrina ertränkt Fiesko, weil er dessen Tyrannei verhindern will, und liefert sich selbst dem Dogen aus. Warum verändert Schiller das historische Geschehen auf so entscheidende Weise? In der „Vorrede“ zum „Fiesko“ weist Schiller auf einen entscheidenden Punkt hin, den er aus Lessings „Hamburgischer Dramaturgie“ übernommen hat: Die „Natur des Dramas“ dulde den „Finger des Ohngefährs oder der unmittelbaren Vorsehung nicht“.7 Weder der Zufall noch die (göttliche) Vorsehung dürfen im Drama agieren – und zwar, weil sich das dramatische Geschehen dann nicht in sich zum Ganzen rundet; denn beides bricht ja von außen ein und hat keine Ursache im Drama selbst. Dass die Universalgeschichte ein solches Ganzes ist, das aber vom beschränkten menschlichen Verstand nicht zu überblicken ist – dieser Gedanke der Antrittsvorlesung taucht bereits hier, in der „Vorrede“ zum „Fiesko“ auf:

6

Ebd., S. 370. Friedrich Schiller: Die Verschwörung des Fiesko zu Genua, in: SW, Bd. 4: Die Verschwörung des Fiesko zu Genua, hg. von Edith Nahler und Horst Nahler, Weimar 1983, S. 9 (Vorrede). 7

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Höhere Geister sehen die zarten Spinneweben einer That durch die ganze Dehnung des Weltsystems laufen und vielleicht an die entlegensten Gränzen der Zukunft und Vergangenheit anhängen – wo der Mensch nichts, als das in freien Lüften schwebende Faktum sieht. Die Forderung, das Historische im Drama zu einem in sich geschlossenen Ganzen zu machen, ergebe sich, so Schiller weiter, aus dem letztlich moralischen Auftrag des Dramas: „[D]er Künstler wählt für das kurze Gesicht der Menschheit, die er belehren will [. . .].“8 Auch damit folgt Schiller Lessings „Hamburgischer Dramaturgie“, wo es über den „ewigen unendlichen Zusammenhang aller Dinge“ heißt: In diesem ist Weisheit und Güte, was uns in den wenigen Gliedern, die der Dichter herausnimmt, blindes Geschick und Grausamkeit scheinet. Aus diesen wenigen Gliedern sollte er ein Ganzes machen, das völlig sich rundet, wo eines aus dem anderen sich völlig erkläret, wo keine Schwierigkeit aufstößt, derentwegen wir die Befriedigung nicht in seinem Plane finden, sondern sie außer ihm, in dem allgemeinen Plane der Dinge suchen müssen [. . .].9 Die Idee ist also, dass man nur alle Wirkfaktoren sehen muss um einzusehen, dass alles sich letztlich zum Guten fügt (oder dass wenigstens das Böse bestraft wird). Dem Menschen ist diese Erkenntnis im Blick auf die Welt unmöglich; die kleine Welt des Dramas soll daher so eingerichtet sein, dass man es dort sehen kann – und dann im Glauben bestärkt wird, dass es auch im großen Ganzen so ist. Wenn Schiller sich im „Fiesko“ auf den Zusammenhang zwischen Moral und dem Charakter der Hauptfigur konzentriert, dann stellt er damit zudem sein Drama direkt in den Dienst einer moralischen Verbesserung des Menschen – und zwar in einem viel direkteren Sinne, als Lessing das vorgesehen hat. Will dieser den Menschen bessern, indem er vor allem des8

Ebd. Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, in: Ders.: Werke, in Zusammenarbeit mit Karl Eibl hg. von Herbert G. Göpfert, 8 Bde., München 1970ff., Bd. 4: Dramaturgische Schriften, hg. von Karl Eibl, München 1973, S. 229–720, hier S. 374. 9

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sen Mitleid optimiert, greift Schiller auf ein älteres Modell zurück: auf die Idee der abschreckenden Wirkung. Indem er zeigt, wie das moralische Vergehen bestraft wird, stiftet er also einerseits, wie Lessing, eine Verbindung zur Realität (womit er behauptet, dass das Laster, genau besehen, auch im wirklichen Leben bestraft wird); zum anderen will er die Furcht vor solchen Folgen dazu nutzen, den Zuschauer zu bessern. Damit setzt Schiller das Theater an die Funktionsstelle der bereits durch die Aufklärung geschwächten Religion. Wie Schiller in seiner Rede „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?“ (die später unter dem Titel „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“ berühmt geworden ist) ausführt, soll das Theater seine „Gerichtsbarkeit bis in die verborgensten Winkel des Herzens fort[setzen]“10 und damit als „schrecklicher Richterstuhl“ für moralische Verfehlungen fungieren.11 Das einfache, frühaufklärerische und – im Blick auf die Realität des Theaters – verspätete12 Wirkungsmodell der Abschreckung durch Darstellung von Strafe hat Schiller dann bald aufgegeben, das Interesse an Psychologie nicht. Als Autor poetischer Werke ist Schiller immer auch Psychologe geblieben. Dabei ist er hauptsächlich als Dramenautor und Theoretiker sowie als Lyriker in Erscheinung getreten; ein großer Erzähler war er nicht. Sein einziger Roman, „Der Geisterseher“, erschien 1787–1789 in Fortsetzungen in seiner Zeitschrift „Thalia“ und war zwar ein großer Erfolg beim Publikum; vollendet hat Schiller ihn dennoch nicht. Hier bedient sich Schiller ausführlich des Inventars der Schauer- und der Geheimbundromane, bleibt dabei aber ein ganz der Aufklärung verpflichteter Autor: Geheimnisvolle Phänomene wie etwa Spukerscheinungen werden ausführlich (und gelegentlich etwas langatmig) auf rationale Weise erklärt: als technische Tricks. Das „Experiment mit dem Phantastischen“ bleibt „eingebunden in eine stabile Ordnung der Vernunft“.13 Damit treibt Schiller den scheinbaren Geheimnissen das Geheimnisvolle aus – ganz anders als später E. T. A. Hoffmann, bei dem Geistererscheinungen meist in dem Sinne phantastisch sind, dass in der Schwebe bleibt, ob es nicht doch eine 10 Friedrich Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?, in: SW, Bd. 20: Philosophische Schriften I, unter Mitwirkung von Helmut Koopmann hg. von Benno von Wiese, Weimar 1962, S. 87–100, hier S. 91. 11 Ebd., S. 93. 12 Vgl. Hofmann [Anm. 1], S. 114. 13 Alt [Anm. 3], Bd. 1, S. 579.

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rationale Erklärung gibt. Schiller leistet damit weiter dem zentralen Mythos der Aufklärung Vorschub, letztlich ließe sich alles mit rationalen Begründungen erklären. Skeptischer als im Blick auf die Theorie der Aufklärung war Schiller, vor allem, nachdem die Französische Revolution einen blutigen Verlauf genommen hatte, stets im Blick auf die Praxis: auf die soziale Realität seiner Zeit – und auf das Aufgeklärtsein seiner Zeitgenossen. Mit seinem ersten Drama „Die Räuber“, das zugleich seinen Ruhm als Dramenautor begründet, schreibt Schiller sich verspätet in die Traditionslinie des ‚Sturm und Drang‘ ein und überbietet ihn zugleich in seinem aufklärungskritischen Anliegen. Wenn, als Aufhänger der Handlung, Franz, der zweitgeborene Sohn des Grafen von Moor, die Ungerechtigkeit beklagt, die in der kruden Tatsache begründet liegt, dass er bloß der Zweitgeborene und deswegen nicht der Erbe des väterlichen Besitzes ist, dann lässt sich dies als implizite aufklärerische Kritik an der Primogenitur, also dem Erstgeburtsrecht, deuten; dies situiert Schillers Text im Zentrum eines Zeitalters, das zunehmend auf eine Bewertung des Menschen nach seinen (Verstandes-)Leistungen setzt und das dem „Zufall der Geburt“, wie es in Lessings „Nathan der Weise“ heißt14, im Blick auf die Bestimmung des Lebenswegs ein immer geringeres Gewicht zugesteht. Primogenitur ist ein Grundprinzip des Adels, der sich ja vollständig über das Moment der Geburt organisiert und erhält, und steht damit im Widerspruch zu dem protestantischen leistungsethischen Prinzip, das die rasante Entwicklung des Kapitalismus im 19. Jahrhundert vorantreiben wird.15 Dass es gerechter und weniger willkürlich scheint, wenn jemand aufgrund seiner Leistung wichtigen Einfluss hat, ist auch ein Effekt des durch Aufklärungsdenken vorangetriebenen Umbaus der Gesellschaft, der sich um 1800 beschleunigt vollzieht: hin zu einer Gesellschaft, in deren Spitze man nicht mehr, im Rahmen einer gottgegebenen statischen Weltordnung, hineingeboren wird, sondern auf die man sich hinaufarbeitet.16 Dass ausgerechnet Franz Moor sich im Einklang mit solchen Positionen befindet, macht diese aber 14 Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise, in: Ders.: Werke [Anm. 9], Bd. 2: Trauerspiele. Nathan. Dramatische Fragmente, hg. von Gerd Hillen, München 1971, S. 205–347, hier S. 274 (III, 5). 15 Vgl. Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1920, S. 17–206. 16 Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1984.

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nicht eben stärker, sondern bedeutet ein erstes Moment der Kritik an Aufklärung und Säkularisierung. Franz Moor will sich an der scheinbar gottgegebenen väterlichen Ordnung rächen und sich selbst als Herrscher einsetzen und setzt dazu einen perfiden Plan ins Werk: Mit Hilfe eines gefälschten Briefs macht er den Vater glauben, Franz’ Bruder Karl sei zum steckbrieflich gesuchten Räuber geworden; in einem Brief, den er im Namen des Vaters an Karl schreibt, fingiert er dessen unwiderrufliche Verstoßung – was diesen dazu veranlasst, das Angebot anzunehmen, Hauptmann einer Räuberbande zu werden. In dieser Rolle versucht Karl, die von ihm und den Räubern ausgeübte Gewalt durch die „Wohltätigkeit des guten Herrschers“ gegenüber Unterprivilegierten auszugleichen17, was sich durchaus als Spur eines aufklärerischen Anschlusses an die Tradition des Fürstenspiegels deuten lässt: an diejenige Literatur also, mit der Fürsten die Tugenden gerechten Regierens nahegebracht werden sollten. Franz versucht in der Zwischenzeit den Vater zu töten, indem er ihm, psychologisch kalkuliert, mit der fingierten Nachricht vom Tode Karls einen Schock versetzt; doch der Vater lebt weiter: in einem Turm, in den ihn Franz hat werfen lassen. Er stirbt aber schließlich doch an einem Schock: als er seinen zum Räuber gewordenen Sohn Karl (der aus Liebessehnsucht inkognito nach Hause zurückgekommen ist) erkennt. Franz wird in der Folge von unerträglichen Alpträumen gequält und erdrosselt sich selbst (was allerdings physiologisch unmöglich ist). Karls Geliebte Amalia, die einsehen muss, dass ihr geliebter Karl zum Räuber geworden ist, wünscht sich den Tod von dessen Hand, während Karl, von den Räubern an seine Verpflichtung erinnert, erkennen muss, dass es für ihn kein Zurück gibt. Er tötet Amalia tatsächlich und liefert sich, mit den berühmten Schlussworten des Dramas, einem Tagelöhner aus: „Man hat tausend Louisdore geboten, wer den grossen Räuber lebendig liefert – dem Mann kann geholfen werden.“18 Die „moralisierende Überkonstruktion“ dieses Schlusses19 hat, auf den ersten Blick, vieles mit der Aufklärungstragödie gemein: Das moralische 17 Hans Richard Brittnacher: Die Räuber, in: Schiller-Handbuch [Anm. 2], S. 344–372, hier S. 353. 18 Friedrich Schiller: Die Räuber. Ein Schauspiel, in: SW, Bd. 3: Die Räuber, hg. von Herbert Stubenrauch, Weimar 1953, S. 1–137, hier S. 136 (V, 2). 19 Klaus R. Scherpe: Die Räuber, in: Schillers Dramen. Neue Interpretationen, hg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1979, S. 9–36, hier S. 15.

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Fehlverhalten wird bestraft (oder es bestraft sich selbst) und damit unmissverständlich als falsch ausgewiesen. Allerdings verwendet das Drama seine Hauptenergie ganz offenbar nicht darauf, dem Publikum eine moralische Einsicht zu vermitteln. Die berühmten zeitgenössischen Berichte von der Mannheimer Erstaufführung vermerken auch keinen Erkenntnisfortschritt beim Publikum und keine heftigen Diskussionen, sondern vielmehr heftige Affekte – und das ist nicht unproblematisch: „Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschreie im Zuschauerraum!“20 Franz Moor, der so kaltblütig auf seine eigenen Interessen bedacht ist, handelt alles andere als irrational, sondern durchaus vernünftig, aber im Sinne einer einseitig theoretischen, rein instrumentellen Vernunft: indem er genau das tut, was ihn seinen Zielen näher bringt. Was er nicht im Blick hat, sind die Interessen anderer – deren Vermittlung mit den eigenen Interessen das Ziel der praktischen Vernunft ist –, weil sie seinen eigenen entgegenstehen. Er verwirft „alle religiösen, moralischen und sozialen Begriffe als Fiktionen“21 und erweist sich damit als ebenso konsequenter wie radikaler Vertreter einer Kritik im Sinne Kants: Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion, durch ihre Helligkeit, und Gesetzgebung, durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.22 20

Anton Pichler: Chronik des Großherzoglichen Hof- und Nationaltheaters in Mannheim, Mannheim 1879, S. 67f., zit. nach Norbert Oellers: Die Räuber, in: Erstlinge. Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist, Musil, Benn, Kafka. Kleist-Archiv Sembdner in Verbindung mit den Herausgebern der Brandenburger Kleist-Ausgabe, hg. von Günther Emig und Peter Staengle, Heilbronn 2004, S. 26–40, hier S. 32 (Heilbronner Kleist-Kolloquien 3). 21 Harald Steinhagen: Der junge Schiller zwischen Marquis de Sade und Kant. Aufklärung und Idealismus, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 56, 1982, S. 135–157, hier S. 139. 22 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe hg. von Raymund Schmidt, Hamburg 1993, S. 7, Fn.* (Vorrede zur ersten Auflage).

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Die Frage, die Franz Moor beantwortet, ist: Können wir eigentlich sicher sein, dass nach einer solchen kritischen Prüfung von Religion und Gesetzgebung, wie von Kant postuliert, eine Begründung der Moral aus Vernunftgründen übrig bleibt: die Überzeugung, das Gute müsse getan werden, weil es eben als das Gute erkannt ist? Franz Moor beantwortet die Frage praktisch negativ, indem er das nur theoretisch, zur Erreichung des Ziels, Richtige tut. Die Intention der Anlage der Figur Franz ist ganz offenbar, dem Zuschauer sinnfällig vorzuführen, dass eine solche „Loslösung der Vernunft von der Moral“, eine Verabsolutierung der theoretischen bei gleichzeitiger Negation der praktischen Vernunft, nicht nur bestraft wird, sondern sogar eigentlich „menschenunmöglich“ ist23, dass Franz sich also zwangsläufig am Ende selbst richten muss. Dies sieht auf den ersten Blick nach einer prototypisch aufklärerischen Absicht aus; genau besehen ist es das in doppelter Hinsicht nicht: weil es in sich inkonsequent ist und zudem auf eine Weise umgesetzt wird, die der Intention massiv widerspricht. Franz Moor wird ja nicht etwa durch Einsicht, also durch seine eigene Rationalität, auf den Pfad der Tugend zurückgeführt; vielmehr muss ein Moment des Irrationalen die Gewalt über ihn erlangen24: die Angst vor göttlicher Strafe im Jüngsten Gericht, die durch ein Gespräch mit dem Pastor Moser verstärkt wird. Damit aber fällt Schiller hinter sein später formuliertes Programm der Schaubühne als einer „moralischen Anstalt“, das offenkundig für die „Räuber“ schon Geltung haben sollte, zurück; denn dort wird gerade gefordert, dass das Theater diese Funktion von der absterbenden Religion übernehmen solle. Paradoxerweise also soll das Theater seine Macht hier beweisen, indem es die Macht desjenigen Systems vorführt, von dem es die Macht übernommen haben soll: der Religion. Das heißt, Schillers Drama vollzieht letztlich denselben inkonsequenten Rückfall nach wie sein ‚Held‘ Franz, der ja auch die verlorene Geltung der Religion behauptet, um dann am Ende sich selbst der Religion wieder zu überantworten. In einem anderen Punkt folgt das Drama jedoch der Konsequenz seines Antagonisten Franz Moor – weil der seinem Autor folgt. Die Überlegungen, die Franz anstellt, um seinen Vater töten zu können, ohne sich die 23 24

Ebd., S. 143. Vgl. ebd.

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Hände schmutzig zu machen, seine Pläne für einen „psychosomatisch ausgeklügelten Mord“25, entsprechen zum einen den Überlegungen Schillers in seiner (zweiten) medizinischen Dissertation „Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen“26; zum anderen benutzt Schiller dann exakt dieselben Triebkräfte, um – freilich mit einer völlig anderen Absicht – sein Publikum zu beeinflussen. Dass Schiller diese psychische Beeinflussung im Dienst einer guten Sache, der aufklärerischen Moralphilosophie, vornimmt, ändert wenig daran, dass er sein Publikum damit letztlich zum Objekt seiner eigenen Absichten erniedrigt, indem er es als bloßen Reiz-Reaktions-Mechanismus begreift. Schiller erweist sich also einerseits als genauso „bewußter und konsequenter Materialist“ wie seine Figur Franz Moor.27 Indem er seine als höchst legitim vorausgesetzten Zwecke zur Rechtfertigung illegitimer Mittel heranzieht, gerät er andererseits in die Nähe des Marquis Posa im späteren Drama „Don Carlos“. Wie dieser auch versucht Schiller hier, aufklärerische Ziele auf tendenziell antiaufklärerischen Wegen zu erreichen. Anders als den „Räubern“ liegt seinem Drama „Don Carlos“, wie dem späteren „Fiesko“-Drama (und einigen anderen auch), ein historischer Stoff zugrunde, und Schiller hat, wie immer bei seinen historischen Dramen, ausführliche Quellenstudien betrieben. Dabei aber geht es ihm letztlich, obwohl er später Professor für Geschichte geworden ist, nie um die historischen Fakten, mit denen er meist eben recht frei umgeht. Ein Hauptzug seines tatsächlichen Interesses am Historischen betrifft die Frage des Zusammenhangs von Psychologie und Politik. Besonderes Anliegen ist ihm dabei die Aufdeckung der Mechanismen, mit denen Macht den Menschen verändert. In „Don Carlos“ geht es vordergründig um Machtkämpfe am spanischen Königshof im 16. Jahrhundert. Da gibt es die Prinzessin Eboli, die – einerseits aus enttäuschter Liebe zum Thronfolger Carlos, andererseits aus Furcht vor Entdeckung ihres Liebesverhältnisses mit dem König – diesen gegen seinen Sohn aufzubringen sucht. Zentraler, und vielschichtiger, 25 Dieter Borchmeyer: Kritik der Aufklärung im Geiste der Aufklärung: Friedrich Schiller, in: Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, hg. von Jochen Schmidt, Darmstadt 1989, S. 361–376, hier S. 365. 26 Vgl. Steinhagen [Anm. 21], S. 153. 27 Ebd., S. 139.

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aber ist die Figur des Marquis Posa. Er benutzt seine Freundschaft mit Carlos zu einem politischen Komplott gegen den König, mit dem Ziel, die Niederlande von der spanischen Herrschaft zu befreien. Eine ganz wichtige Rolle spielt dabei ein Gespräch zwischen dem König und dem Marquis Posa im dritten Akt des Dramas. Der König will ausgerechnet Posa als Spitzel gegen dessen Jugendfreund Carlos einsetzen. Posa wiederum konfrontiert den König mit aufklärerischen (und daher natürlich anachronistischen) Positionen: mit einer eindeutig von Jean-Jacques Rousseau und Montesquieu beeinflussten Kritik an höfischer Verstellung. Das von ihm als Gegenmodell entworfene Programm eines Verfassungsstaates, der auf Toleranz gegründet sein soll, gipfelt in der Aufforderung „Geben Sie/Gedankenfreiheit.“28 Gedankenfreiheit ist ein geradezu uraufklärerisches Ideal, das auch in Immanuel Kants berühmter „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ eine zentrale Rolle spielt. Und auch ein anderer Aspekt, der oft übersehen wird, ist in beiden Fällen – in Posas Forderung, wie in Kants theoretischer Schrift – wesentlich: dass der König (bei Kant ist es der preußische König Friedrich II.) die Gedankenfreiheit gibt und garantiert. Aufklärung ist nicht per se ein Unternehmen, das jede Autorität in Frage stellt. Obwohl Kants Schrift in einer berühmten Formulierung den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ fordert, was konkret bedeuten soll, dass er „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen [. . .] bedien[t]“29, sind zwei Autoritäten davon ausgeschlossen, als unnötige Vormünder zurückgewiesen zu werden: explizit der König und implizit Gott. Posas Satz ist nicht nur oft falsch zitiert (durch die hinzuerfundene Anrede „Sire“), sondern auch zur Phrase verkürzt worden. Angeblich habe es während des Dritten Reichs in deutschen Theatern an dieser Stelle heftigen Szenenapplaus gegeben – woraus dann geschlossen werden soll, die Deutschen seien in der Mehrzahl Regimegegner gewe28 Friedrich Schiller: Dom Karlos (Erstausgabe 1787), in: SW, Bd. 6: Don Karlos, hg. von Paul Böckmann und Gerhard Kluge, Weimar 1973, S. 5–340, hier S. 191 (III, 10). 29 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Kants Werke: Akademie-Textausgabe. Unveränderter photomechanischer Abdruck der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften, IX Bde., Berlin 1968, Bd. VIII: Abhandlungen nach 1781, Berlin 1968, S. 33–42, hier S. 35.

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sen.30 Die Figur des Posa ist in der Rezeption zum Sprachrohr einer einfachen (und etwas billig daherkommenden) Aufklärungsmaxime verengt worden – analog zu der zuweilen begegnenden Fehleinschätzung, die Aufklärung habe in Person von Kant, gewissermaßen von einem Tag auf den anderen, den Glauben an Autoritäten abgeschafft. Dabei ist das Bild der aufklärerischen Rationalität, das der Marquis verkörpert, durchaus dialektisch. Posa nämlich nutzt seine Position als Vertrauter des Königs im Sinne seines Ziels aus, und das ist nicht schon dadurch gerechtfertigt, dass es sich bei diesem Ziel um eines der höchsten handelt: Freiheit. Statt seinen Freund Carlos einzuweihen, wie es das bürgerlich-aufklärerische Ideal empfindsamer Kommunikation gefordert hätte, behandelt er ihn wie einen schwer kalkulierbaren Faktor – und lässt ihn verhaften. Der Plan geht nicht auf, weil Carlos sich der intriganten Eboli anvertraut. Posa versucht noch, die Schuld allein auf sich zu nehmen, wird aber erschossen, und Carlos wird der Inquisition übergeben. Dass nicht jeder hohe Zweck alle niedrigen Mittel heiligt, hat kaum jemand deutlicher formuliert als Schiller selbst: in einer ausführlichen Kritik zum eigenen Drama. Darin macht er deutlich, dass für Posa das Erreichen seines Ziels, „die Befreiung eines unterdrückten Volkes“, stets wichtiger ist „als die kleinen Angelegenheiten seines Freundes“ Carlos: „Fest und beharrlich geht der Marquis seinen großen kosmopolitischen Gang, und alles, was um ihn herum vorgeht, wird ihm nur durch die Verbindung wichtig, in der es mit diesem höhern Gegenstande steht.“31 Carlos ist weniger sein Freund als vielmehr sein Projekt, d. h. er instrumentalisiert ihn und benutzt ihn als „Werkzeug“ für seine Zwecke.32 Gezeigt werden solle damit am Beispiel Posas, „daß der uneigennützigste, reinste und edelste Mensch aus enthusiastischer Anhänglichkeit an seine Vorstellung von Tugend und hervorzubringendem Glück sehr oft ausgesetzt ist, ebenso willkürlich mit den Individuen zu schalten, als nur immer der selbstsüchtigste Despot [. . .]“.33 Schiller erklärt sich dies 30 Vgl. Georg Ruppelt: Schiller im nationalsozialistischen Deutschland. Der Versuch einer Gleichschaltung, Stuttgart 1979, S. 113–115. 31 Friedrich Schiller: Briefe über Don Karlos, in: SW, Bd. 22: Vermischte Schriften, hg. von Herbert Meyer, Weimar 1958, S. 137–177, hier S. 151. 32 Ebd., S. 154. 33 Ebd., S. 170.

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aus dem Bedürfnis der beschränkten Vernunft, sich ihren Weg abzukürzen, ihr Geschäft zu vereinfachen und Individualitäten, die sie zerstreuen und verwirren, in Allgemeinheiten zu verwandeln; aus der allgemeinen Hinneigung unsers Gemütes zur Herrschbegierde oder dem Bestreben, alles wegzudrängen, was das Spiel unsrer Kräfte hindert.34 Damit aber benennt er eigentlich einen der zentralen Punkte (aufklärerischer) Aufklärungskritik: den Zug der Vernunft zum Absolutismus, zur Unterwerfung von allem und allen unter ihre als unbedingt vernünftig vorausgesetzten Zwecke. Dass sie dabei dazu neigt, verwirrende „Individualitäten [. . .] in Allgemeinheiten zu verwandeln“, oder moderner gesprochen, die Realität einer massiven Komplexitätsreduktion zu unterziehen, indem sie sie zum Beleg allgemeiner Gesetzmäßigkeiten erklärt, macht zum einen das Erfolgsprinzip der Rationalität aus – schließlich ist dies genau das Vorgehen mathematisch-technischer Naturwissenschaften. Zum anderen steckt darin auch der Kern dessen, was Max Horkheimer und Theodor W. Adorno 1944 unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Judenverfolgung in ihrem gleichnamigen Buch als „Dialektik der Aufklärung“ beschrieben haben: das Umschlagen des Freiheitsstrebens der Aufklärung in einen instrumentell-gesetzmäßigen Zwang. (Diese Gefahr ist den Denkern der Aufklärung selbst nicht ganz unbekannt gewesen.35) An Posa lässt sich also ablesen, dass nicht nur „politische Aktivität [. . .] die Transformation der Idee in das immer gleiche Gesetz der Macht [bewirkt]“36, sondern dass diese Transformation mindestens im Verdacht steht, in der Idee selbst bereits angelegt zu sein – ein in seiner radikalen Aufklärungskritik radikal aufklärerischer Gedanke. Schiller selbst beschreibt sein konkretes Anliegen als einen Versuch, [. . .] Wahrheiten, die jedem, der es gut mit seiner Gattung meint, die heiligsten sein müssen, und die bis jetzt nur das Eigentum der Wissenschaften waren, in das Gebiet der schönen Künste herüberzuziehen, mit Licht und Wärme zu beseelen und, als lebendig wirkende Motive in das Menschenherz gepflanzt, in einem kraftvollen Kampfe mit der Leidenschaft zu zeigen.37 34 35 36 37

Ebd., S. 172. Vgl. Borchmeyer [Anm. 25], S. 362. Alt [Anm. 2], Bd. 1, S. 464. Schiller [Anm. 31], S. 168.

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Damit weist er sein Drama „Don Carlos“ selbst als Aufklärungsdrama aus, denn wissenschaftliche Wahrheiten auf dem „Gebiet der schönen Künste“ zu „beseelen“ und auf diese Weise „in das Menschenherz“ zu pflanzen – also: moralisch wirksam werden zu lassen –, ist das Hauptanliegen der Aufklärungsliteratur. Der „kraftvolle Kampf“ der Leidenschaften mit den wissenschaftlichmoralischen Wahrheiten bleibt auch in der Folge ein zentraler Punkt von Schillers dramaturgischen Konzepten – wie sich besonders seinen theoretischen Schriften zur Tragödie ablesen lässt. Schillers erste dramentheoretische Schrift, die Rede „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“, hat nicht nur eine häufig zitierte Formel in die Welt gesetzt: unzählige Dinge sind seitdem, vor allem vom Feuilleton, als „moralische Anstalt“ bezeichnet worden; sie gibt auch, genau besehen, das Leitmotiv für alle späteren tragödientheoretischen Überlegungen Schillers vor. Denn eine „moralische Anstalt“ wird Schillers Theater, mindestens in der Theorie, immer bleiben – freilich nicht in dem Sinne, wie er noch Gottsched vorschwebte: dass die Tragödie tatsächlich eine konkrete Moral zeige (indem sie einen moralischen Satz illustriere), aber doch in dem Sinne, dass der Zusammenhang zwischen dem Handeln und den Prinzipien für das Handeln immer höchste Priorität behält. In diesem Sinne ist Schillers Tragödientheorie immer mindestens die Theorie einer ethischen Anstalt geblieben. Ihre Leitfrage, wie Freiheit unter den Bedingungen der Unfreiheit möglich ist, ist eine durch und durch aufklärerische. Dabei verabschiedet sich Schiller dann, zumindest vordergründig, von dem Modell einer entmündigenden Beeinflussung des Zuschauers, wie sie eines Franz Moor würdig gewesen ist. In allen tragödientheoretischen Aufsätzen Schillers, die in den Jahren 1792–1794 in seiner Zeitschrift „Neue Thalia“ erschienen (sowie dem 1801 erschienenen, wohl früher entstandenen „Ueber das Erhabene“), geht es um die Frage der Wirkung des in der Tragödie dargestellten Leidens auf den Zuschauer. Aus der Beobachtung, dass der Zuschauer nicht nur, was für Lessing das entscheidende Moment gewesen ist, Mitleid mit den leidenden Protagonisten empfindet, sondern auch ein ästhetisches Vergnügen an der Darstellung des Leidens selbst hat, leitet er eine spezifische Leistung der Tragödie ab. Dabei soll nicht, wie bei Gottsched, die Tragödie zur bloßen Illustration eines moralischen Satzes degradiert werden; denn dieser Mechanismus erregt kein sinnliches Vergnügen beim Zu-

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schauer – im Gegenteil, dieser fühlt sich bevormundet, in seiner Freiheit eingeschränkt. Das Vergnügen an tragischen Gegenständen kann aber nicht, im Anschluss an Kants Bestimmung der Wahrnehmung des Schönen, als ‚interesseloses‘ „Wohlgefallen“38 an der Schönheit einer Tragödie bestimmt werden; denn Schiller stimmt mit Kant überein, dass der Eindruck der Schönheit eines Gegenstands von dessen innerer Zweckmäßigkeit erweckt wird: Wohlgefallen an der ‚in sich selbst vollendeten‘, zweckmäßigen Einrichtung des Schönen resultiert in einem ‚freien‘ Vergnügen des Betrachters. Menschliches Leiden aber ist zweckwidrig, weil es der Bestimmung des Menschen zu widersprechen scheint – es sei denn, es erfüllte einen höheren Zweck als denjenigen der bloßen Existenz des Menschen. Und das ist genau der archimedische Punkt der Argumentation Schillers, dem es ganz wesentlich darum geht, den Menschen nicht materialistisch als organischen Zusammenhang zu begreifen (dann eben wäre dessen [Selbst-]Erhaltung der höchste denkbare Zweck), sondern als Träger höherer Ideen – wie derjenigen der Freiheit. Auf diese Weise wird das Vergnügen an einen höheren Zweck gekoppelt: einen moralischen. Im Anschluss an Kant stellt Schiller fest, dass sich die wirkliche Macht der Sittlichkeit erst dann beweist, wenn sie unter Druck gerät, dass also „das höchste Bewußtseyn unsrer moralischen Natur nur in einem gewaltsamen Zustand, im Kampfe, erhalten werden kann“.39 Indem die Tragödie den Sieg der Tugend gerade im Moment ihrer Bedrohung zeigt (und dies meist noch unter Aufopferung der körperlichen Unversehrtheit oder sogar des Lebens des Helden selbst), erregt sie beim Zuschauer ein Vergnügen an der darin sichtbar werdenden Macht der Moral. Das Vergnügen erwächst aus der Verdeutlichung eines moralischen Siegs und ist daher ein „Mittel zur Sittlichkeit“.40 Indem Schiller aber die Sittlichkeit des Zuschauers befördern will, erweist er sich als Fortsetzer aufklärerischer Tragödienprogramme. Zwar will er nicht einfach einen moralischen Gehalt versinnlichen (wie Gottsched) und er will auch nicht auf 38 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, hg. von Karl Vorländer, Hamburg 1993, S. 40 (§ 2). Kant spricht genauer vom „Wohlgefallen [. . .] ohne alles Interesse“. 39 Friedrich Schiller: Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, in: SW, Bd. 20 [Anm. 10], S. 133–147, hier S. 130f.; vgl. dazu Helmut Koopmann: Kleinere Schriften nach der Begegnung mit Kant, in: Schiller-Handbuch [Anm. 2], S. 611–624, hier S. 611f. 40 Schiller [Anm. 39], S. 135.

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dem Weg über die Affekte eine moralische Wirkung erreichen (wie Lessing); aber um eine moralische Wirkung geht es ihm allemal. Dass es Schiller vor allem darum geht, den Menschen als moralisch souveränen, also als freien, ins Zentrum seiner Überlegungen zur Tragödienwirkung zu setzen, lässt sich bereits daran ablesen, dass er dazu den Begriff des Erhabenen verwendet. Dieser hat in der Ästhetik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allgemein Konjunktur und dient dazu, den besonderen Reiz, den nicht im üblichen Sinne schöne, sondern vor allem beeindruckende Gegenstände erwecken, zu beschreiben. In Kants „Kritik der Urteilskraft“ wird Erhabenheit als Form einer souveränen Reaktion der subjektiven Vernunft auf überwältigende Sinneseindrücke beschrieben: Es entsteht zunächst eine „Unlust“, weil man sich sinnlich überwältigt fühlt; diese Unlust ermöglicht aber wiederum eine lustvolle Erfahrung: Gegenüber den Möglichkeiten der menschlichen Vernunft, die z. B. das Zustandekommen der Eindrücke erklären kann, erweist sich die Natur zuletzt immer als beschränkt; im Bereich des Übersinnlichen, jenseits dessen, was sinnlich wahrgenommen wird, zeigt sich stets, „daß wir reine selbständige Vernunft haben“.41 „Erhaben“ heißt für Schiller dementsprechend „ein Objekt, bey dessen Vorstellung unsre sinnliche Natur ihre Schranken, unsre vernünftige Natur aber ihre Ueberlegenheit, ihre Freyheit von Schranken fühlt; gegen das wir also physisch den Kürzern ziehen, über welches wir uns aber moralisch d.i. durch Ideen erheben“.42 Die Handlung der Tragödie nun soll keine materiellen Gegenstände, sondern Vorgänge, denen der Mensch sinnlich unterliegt, die er sich aber geistig unterwerfen kann, zeigen – und sie soll vor allem diesen Prozess vorstellen und zur Bewunderung, aber auch zur Nachahmung empfehlen. Damit sich der Effekt des „Pathetischerhabenen“, der für die Tragödie einschlägigen Spezifizierung des Erhabenen, einstellt, darf nicht bloß Leiden vorgestellt werden, das im Zuschauer ein moralisch positiv wirksames Mitleid erweckt (wie dies schon Lessing und wohl auch bereits Aristoteles vorsahen); gegenüber Lessing reduziert Schiller das Mitleid (wieder) auf ein reines Mit-Leiden, an dem er nicht wirklich interessiert ist. Die moralische Funktion, die das Mitleid bei Lessing hat, überträgt er dem Moment des 41

Kant [Anm. 38], S. 103 (§ 27). Friedrich Schiller: Vom Erhabenen, in: SW, Bd. 20 [Anm. 10], S. 171–195, hier S. 171. 42

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Erhabenen. Daher geht es ihm um die „moralische Selbstständigkeit“ des Helden – und zwar „im Leiden“.43 Den Helden der Tragödie macht deswegen nicht etwa Unempfindlichkeit gegenüber dem Leiden aus, sondern „moralischer Widerstand gegen das Leiden“.44 Und der Zuschauer wird „durch die objektive Darstellung der erhabenen Freiheit des Helden dazu herausgefordert [. . .], sich seine eigene subjektive Gemütsfreiheit spontan bewußt zu machen“.45 Konkret bedeutet das, dass dem Menschen zuweilen, wenn die „Naturkräfte“ übermächtig werden, nichts anderes übrigbleibt, als „eine Gewalt, die er der That nach erleiden muß, dem Begriff nach zu vernichten“, was wiederum letztlich bedeutet, sich einer solchen Gewalt aus moralischen Gründen „freywillig [zu] unterwerfen“.46 Da es der Bestimmung des Menschen einerseits widerspricht, etwas zu müssen – denn die Freiheit, sich zu weigern, unterscheidet ihn gerade vom Tier47 –, es andererseits aber Zwänge gibt, denen man sich schlechterdings nicht entziehen kann, zieht Schillers Tragödienpoetik den Schluss, dass in diesen Fällen die Freiheit letztlich darin besteht, zu wollen, was man muss. Wenn man aber die Frage stellt, warum es eigentlich moralisch besser ist, sich einer überwältigenden physischen Gewalt „freywillig“ zu fügen als sich etwa mit körperlicher Gegengewalt zu wehren, dann ist man auf moralphilosophische Erwägungen verwiesen; diese Frage kann nicht innerhalb der Ästhetik beantwortet werden. Dass die Tragödie, wie alle anderen poetischen Gattungen auch, ihre Letztbegründung aus der Moralphilosophie erhält, ist aber ein Charakteristikum der Aufklärungsästhetik. Hinter diese fällt Schillers Theorie aber in einem anderen Punkt sogar noch zurück: Wenn er offen davon spricht, dass es letztlich um „Resignation in die Nothwendigkeit“48 geht, dann verweist das direkt auf den Neostoizismus des Barockzeitalters zurück: Dessen Ziel war weniger die Souveränität 43

Ebd., S. 195. Friedrich Schiller: Ueber das Pathetische, in: SW, Bd. 20 [Anm. 10], S. 196–221, hier S. 200. 45 Paul Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen, Berlin 2004, S. 167. 46 Friedrich Schiller: Ueber das Erhabene, in: SW, Bd. 21: Philosophische Schriften II, unter Mitwirkung von Helmut Koopmann hg. von Benno von Wiese, Weimar 1963, S. 38–54, hier S. 39. 47 Ebd., S. 38. 48 Ebd., S. 40. 44

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der Vernunft als vielmehr die „Einübung von geistigen Überlebensstrategien“49 angesichts einer von übermenschlichem Leid (vor allem in Folge des Dreißigjährigen Kriegs) geprägten Welt. Wie Lessing auch will Schiller im Zuschauer durch die Darstellung auf der Bühne eine „Fertigkeit“ erwecken; aber nicht, indem das Mitleid des Zuschauers in eine Tugend transformiert wird, sondern in Form einer „Inokulation“, einer Impfung, wie der Mediziner Schiller mit einer medizinischen Metapher sagt.50 Der Zuschauer soll „einen resignativen Habitus ein[]üben“51, indem ihm die Unausweichlichkeit gewisser Zwänge als Anlass zum (bloß) moralischen Widerstand vorgestellt wird. Es werden „Techniken der Immunisierung gegen Schicksalsschläge“ vorgestellt und „Strategien des vernunftautonomen Widerstands“ eingeübt52, wobei wichtig ist, dass dieser „Widerstand“ sittlich-moralisch-ideell bleibt und sich nicht etwa tätlich äußert. Bei aller Betonung des Moments der Freiheit durch Schiller ist die Metapher der „Inokulation“ doch verdächtig: Zu Ende gedeutet reduziert sie den Zuschauer zum Impfling, zum Objekt einer souveränen Handlung anderer. Es droht also auch hier der Posasche Absolutismus der Vernunft. Das ist aber nur die eine Seite des Dramatikers Schiller. Auf der anderen stehen die Dramen der folgenden, wenigen Lebensjahre, in denen es um ganz andere Probleme geht – nicht zuletzt immer wieder darum, dass eine instrumentelle Vernunft des Machterhalts den Menschen radikal reduziert. Damit folgen diese Dramen – „Wallenstein“, „Maria Stuart“, „Wilhelm Tell“ – einem ebenso aufklärungskritischen wie aufklärerischen Programm. Vor allem aber loten sie die Möglichkeiten der Gattung Tragödie aus, und damit verabschieden sie sich letztlich – indem sie einerseits implizit einer autonomen Bestimmung der Poesie zuarbeiten und andererseits ein realistischskeptisches Bild der Geschichte propagieren53 – vom optimistischen Programm der Aufklärung, das die Welt verbessern wollte, indem es sich anschickte, vor allem den einzelnen Menschen moralisch zu bessern. 49

Alt [Anm. 2], Bd. 2, S. 96. Schiller [Anm. 46], S. 51. 51 Carsten Zelle: Über das Erhabene (1801), in: Schiller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Matthias Luserke-Jaqui unter Mitarbeit von Grit Dommes, Stuttgart/ Weimar 2005, S. 479–490, hier S. 486. 52 Alt [Anm. 2], Bd. 2, S. 96. 53 Vgl. Norbert Oellers: Schiller. Elend der Geschichte, Glanz der Kunst, Stuttgart 2005, S. 382. 50

Informationen Zum Buch Dieser Sammelband mit 14 Originalbeiträgen ausgewiesener Experten aus dem In- und Ausland gibt einen repräsentativen Überblick über die wichtigsten Entwicklungen und Autoren der Aufklärung. Die Beiträge beschäftigen sich u.a. mit Gottsched, Gellert, Sophie von La Roche, Klopstock, Lessing, Wieland, Moses Mendelssohn, Georg Forster und Lichtenberg.

Informationen Zum Autor Michael Hofmann, geb. 1957, ist Professor für neuere deutsche Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der Universität Paderborn.