Aufklärung, Band 34: Das Singspiel im 18. Jahrhundert 9783787343560, 9783787343577

Dieses Themenheft leistet einen Beitrag zu einem interdisziplinären Gespräch über die Musikdramatik des 18. Jahrhunderts

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Aufklärung, Band 34: Das Singspiel im 18. Jahrhundert
 9783787343560, 9783787343577

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AUFKL ÄRUNG   Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des BAND 34 ·JAHRGANG 2022

18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte

Das Singspiel im 18. Jahrhundert abhandlungen  von Thomas Betzwieser, Katrin Dennerlein, Bernhard Jahn, Estelle Joubert, Jörg Krämer, Adrian Kuhl, Benedikt Leßmann, Livio Marcaletti, Herbert Schneider und Tilman Venzl kurzbiogr aphie  Friedrich Wilhelm Gotter (1746–1797) diskussion  über Markus Gabriels Vorschlag zur Gestaltung universaler Werte im 21. Jahrhundert: Beiträge von Stefan Klingner, Rudolf Meer, Fernando Moledo, Roberta Pasquarè und Gideon Stiening sowie Repliken von Markus Gabriel

AUFKLÄRUNG Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte

Herausgegeben von Martin Mulsow, Gideon Stiening und Friedrich Vollhardt Redaktion: Udo Roth

Band 34 · Jg. 2022

Thema: Das Singspiel im 18. Jahrhundert Herausgegeben von Benedikt Leßmann und Tilman Venzl

F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M B U RG

ISBN 978-3-7873-4356-0  ·  ISSN 0178-7128 Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch für die Erforschung des 18. Jahrhunderts und sei­ ner Wirkungsgeschichte. – Herausgegeben von Martin Mulsow, Gideon Stiening und Friedrich Vollhardt. – Redaktion: Dr. Udo Roth, Ludwig-Maximilians-Universität München. © Felix Meiner Verlag 2022. Das Jahrbuch und alle in ihm enthaltenen Beiträge sind urheber­ rechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts­gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindung: Stückle, Ettenheim. Printed in Germany. www.meiner.de/aufklaerung

I N H A LT

Sch w er pu n k t Benedikt Leßmann / Tilman Venzl: Einleitung: Das Singspiel im 18. Jahrhundert. Interdisziplinäre Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bernhard Jahn: Zur Dramaturgie des Theaterabends im 18. Jahrhundert. Das Beispiel des Hamburger Stadttheaters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Jörg Krämer: Der Abdruck der Musik im Text. Überlegungen zum Status von Melodramen-Libretti des 18. Jahrhunderts am Beispiel von Medea (Gotter/Benda) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Estelle Joubert: Quantitative Approaches to Transnational Studies of Opera, 1785–1810 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Thomas Betzwieser: Transformationen ins Ähnliche. Grétrys Opéras comiques in Singspiel-Vertonungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Katrin Dennerlein: Rührung durch moralisches Fühlen in der europäischen Sattelzeit. Das Erfolgsstück Zémire et Azor (1771) von Marmontel und Grétry . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Herbert Schneider: Bernhard Anselm Webers Singspiel Die Wette. Beispiel eines französisch-deutschen Kulturtransfers . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Adrian Kuhl: Anspruchsvolle Effekte? Integrationsstrategien zeitgenössischer Spektakelästhetik in Die Geisterinsel von Gotter und Freiherr von Einsiedel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Tilman Venzl: Der Soldat in den Winterquartieren. Zu einem Leipziger ­Singspiel aus dem Siebenjährigen Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Livio Marcaletti: Deutsches Singspiel vs. italophile Gesangslehre in Johann Adam Hillers Musiktheater- und Lehrwerken . . . . . . . . . . . . . . . 211 Benedikt Leßmann: Hillers Singspiel und die Nachahmungsästhetik . . . . 229 Benedikt Leßmann / Tilman Venzl: Auswahlbibliografie zum Singspiel im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Aufklärung 34 · © Felix Meiner Verlag 2022 · ISSN 0178-7128

4 Inhalt

k u r zbiogr a ph i e Martin Schneider: Friedrich Wilhelm Gotter (1746–1797) . . . . . . . . . . . . 269 disk ussion Rudolf Meer: Was ist und kann der Neue Moralische Realismus? Eine Diskussion über Markus Gabriels Vorschlag zur Gestaltung ­ universaler Werte im 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Stefan Klingner: Ausgerechnet „Aufklärung“. Anmerkungen zum ­Aufklärungsbegriff in Markus Gabriels Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Fernando Moledo: Überlegungen zu Gabriels Begriff der moralischen ­Tatsache. Kommentar zu Markus Gabriel: Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . 289 Gideon Stiening: „Zeit für eine neue Aufklärung“? Markus Gabriels Plädoyer für „Moralischen Fortschritt in dunklen Zeiten“ . . . . . . . . . . . . 297 Roberta Pasquarè: Der Neue Moralische Realismus und Ethische Dilemmata. Ein Deutungsversuch in vier Fragen . . . . . . . . . . . . 303 Markus Gabriel: Repliken auf Klingner, Moledo, Stiening und Pasquarè . 315 R ezension en Daniel Fulda (Hg.): Aufklärung fürs Auge. Ein anderer Blick auf das 18. Jahrhundert (Liliane Weissberg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Corine Pelluchon: Das Zeitalter des Lebendigen. Eine neue Philosophie der Aufklärung (Gideon Stiening) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334

Notiz in eigener Sache Aufgrund eines bedauerlichen Fehlers wurde der Autor des Nachrufes auf ­Werner Schneiders im letzten Band unseres Jahrbuchs, Dr. Frank Grunert (IZEA Halle), nicht genannt. Wir bedauern dieses Versehen ausdrücklich. In der eBook-Version des Bandes ist der Name des Verfassers umgehend nachgetragen worden. Herausgeber und Redaktion

Benedikt Lessmann / Tilman Venzl Einleitung: Das Singspiel im 18. Jahrhundert Interdisziplinäre Studien

Als Wolfgang Amadé Mozart im Frühjahr 1781 nach einem geeigneten Libretto suchte, um im kaiserlichen Auftrag ein Stück für das wenige Jahre zuvor gegründete Wienerische ‚Teutsche Nationalsingspiel‘ in Musik zu setzen, hoffte er darauf, dass Gottlieb Stephanie der Jüngere „selbst für mich eine oper schreiben wird“.1 Der einflussreiche Regisseur des ‚Hof- und Nationaltheaters‘ schlug ihm stattdessen Christoph Friedrich Bretzners Stück Belmont und Constanze, oder: Die Entführung aus dem Serail vor, das zuvor bereits von Johann André vertont worden war. Mozart war von dem Stück zunächst begeistert, doch im Arbeitsprozess zeigte sich bald, dass es seinen musikdramatischen Vorstellungen nicht entsprach. In der Folge entwickelte sich eine intensive Kooperation mit Stephanie, der das Libretto, sehr zum Missfallen Bretzners, stark überarbeitete. Die Entführung aus dem Serail feierte am 16. Juli 1782 Premiere, „schlug“ nach einem berühmten Wort Goethes „alles nieder“ und ist,2 neben der Zauberflöte, das einzige noch heute aufgeführte Singspiel des 18. Jahrhunderts. Die Literatur- und Musikwissenschaft haben die Leistungen Bretzners und Stephanies meist gering veranschlagt. Oftmals erscheint die Entführung Mozarts, auch in textlicher Hinsicht, als ein Kunstwerk im engsten Sinn, das ‚selektionslose Aufmerksamkeit‘3 rechtfertigt, während die Entführung Bretz1 Wolfgang

Amadé Mozart an Leopold Mozart, 16. 06. 1781, zit. nach ders., Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe. Erweiterte Ausgabe hg. von Ulrich Konrad, Kassel u. a. 2005, Bd. 3: 1780 – 1786, 130 – 133, hier 132. – Über die Entstehungsbedingungen der Entführung aus dem Serail informieren u. a. Thomas Allen Bauman, W. A. Mozart. Die Entführung aus dem Serail, Cambridge u. a. 1987; Jörg Krämer, Mozart und seine Librettisten, in: Gernot Gruber, Dieter Borchmeyer (Hg.), Das Mozart-Handbuch, Bd. 3: Mozarts Opern, Teilbd. 1, Laaber 2007, 79 – 112, hier 97 – 100; Gerhard Croll, Vorwort, in: W. A. Mozart, Die Entführung aus dem Serail. KV 384, hg. von dems., Kassel u. a. 2012 (Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie 2, Werkgruppe 5, Bd. 12), VI–XXV. 2 Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, Bd. 15: Italienische Reise, München, Wien 1992, 522. 3 Vgl. zu diesem Begriff Steffen Martus, Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer

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Benedikt Leßmann / Tilman Venzl

ners und Stephanies allenfalls eine Randnotiz zu verdienen scheint.4 Dass ein musikdramatisches Werk aus Sicht der Musikwissenschaft als „unequivocal masterpiece“5 zum engsten Kanon zählt,6 in Literaturgeschichten aber fast nie erwähnt wird,7 ergibt sich aus den Interessendispositionen und Zuständigkeitsrationalitäten der Musik-‍ , Literatur- und auch der Theaterwissenschaft. Im Blick auf das Musiktheater, das Musik mit einem Dramen- und Theatertext verbindet, erweist sich die Perspektivenvielfalt dieser Disziplinen allerdings als ärgerliche „Zersplitterung“, wie Hans-Albrecht Koch kürzlich zugespitzt hat.8 Dieses Themenheft will einen Beitrag zu dem nach wie vor nur leise vernehmbaren interdisziplinären Gespräch über die Musikdramatik des 18. Jahrhunderts leisten. Dieses Gespräch ist umso nötiger, als – so Jörg Krämer und Cristina Urchueguía – „[r]‌eines Sprechtheater“ im 18. Jahrhundert „die große Ausnahme“9 und „Theater immer mehr oder weniger Musiktheater“10 war, und zwar bei der Darbietung einzelner Stücke wie auch bei der Gestaltung eines Theaterabends. Ohne uns hierauf zu beschränken, gehen wir dabei vom Singspiel aus, einem Stücketypus, für den in formaler Hinsicht eine Kombination Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin, New York 2007 (Historia Hermeneutica. Series Studia 3), 467 – 476. 4 Dem Herausgeber der Reclam-Ausgabe des Librettos etwa gilt Stephanie lediglich als „Mozarts Libretto-Schreiber“, während er ansonsten von „Mozarts Entführung aus dem Serail“ spricht. Vgl. Henning Mehnert, Nachwort zu Mozarts Entführung aus dem Serail, in: Wolfgang Amadé Mozart, Die Entführung aus dem Serail. KV 384. Singspiel in drei Aufzügen, Stuttgart 2005, 67 – 78, hier 71. Bisweilen wird Stephanie auch gar nicht erwähnt, so bspw. bei Jochen Hörisch, „Erst geköpft und dann gehangen …“. Der gute und der böse Fremde in Mozarts Singspiel Die Entführung aus dem Serail, in: ders., Klassiker und Lieblingsbücher. Das Wissen der Literatur, Bd. 2, Leiden, Boston 2017, 63 – 72. 5 Bauman, W. A. Mozart. Die Entführung (wie Anm. 1), 1. 6 „Heute hingegen haben Die Entführung aus dem Serail, Le nozze di Figaro, Don Giovanni, Così fan tutte und Die Zauberflöte in aller Welt kanonischen Rang.“ Dieter Borchmeyer, Mozarts Oper. Theater des musikalischen Augenblicks, in: Gernot Gruber, Dieter Borchmeyer (Hg.), Das Mozart-Handbuch, Bd. 3: Mozarts Opern, Teilbd. 1, Laaber 2007, 3 – 12, hier 3. 7 Vgl. u. a. Horst Albert Glaser (Hg.), Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, Bd. 4: Zwischen Absolutismus und Aufklärung. Rationalismus, Empfindsamkeit, Sturm und Drang, Reinbek 1980; Rolf Grimminger (Hg.), Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 3: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution, München, Wien 1980; Wolfgang Beutin u. a., Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart, Weimar 62001; Peter-André Alt, Aufklärung. Lehrbuch, Stuttgart, Weimar 32007. 8 Hans-Albrecht Koch, Von Musen und Musik. Zu Oper, Libretto und Singspiel, Berlin u. a. 2021, 116. 9 Jörg Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert. Typologie, Dramaturgie und Anthropologie einer populären Gattung, 2 Bde., Tübingen 1998 (Studien zur deutschen Literatur 149 f.), 9, Anm. 17. 10 Cristina Urchueguía, Allerliebste Ungeheuer. Das deutsche komische Singspiel 1760 – 1790, Frankfurt am Main 2015 (Nexus 99), 68.

Einleitung: Das Singspiel im 18. Jahrhundert 9



von musikalisch meist wenig komplexen Gesangsnummern mit gesprochenen Dialogen kennzeichnend ist.11 Der Begriff Singspiel ist lediglich faute de mieux zu gebrauchen, nicht nur weil er erst Mitte des 19. Jahrhunderts, also ex post als eigenständiger Gattungsbegriff gebraucht wurde und von der Vielfalt der zeitgenössischen Terminologie stark abstrahiert. Der formale Typus ist außerdem so weit gefasst, dass er Gattungen vom mittelalterlichen Mysterienspiel über die frühneuzeitlichen Passions- und Fastnachtsspiele und die Operette des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts bis hin zum Musical umfasst. Zudem haftet dem Terminus Singspiel spätestens seit dem 19. Jahrhundert ein nationalchauvinistischer Unterton an – etwa wenn er mit dem „rechten Weg“,12 der vom kulturellen Vorbild Frankreichs und Italiens abführe, oder, so in der NS-Zeit, mit einem rassistisch aufgeladenen „Bekenntnis zum Deutschtum“13 assoziiert wird. Derartigen Vereinnahmungsversuchen steht der Befund entgegen, dass das Singspiel „Bestandteil einer gesamteuropäischen Bewegung“14 ist und seine Entstehung und Entwicklung entschieden im Zusammenhang anderer europäischer Musiktheatertraditionen zu sehen ist. Wenn im Folgenden vom deutschsprachigen Singspiel des 18. Jahrhunderts die Rede ist, verstehen wir hierunter ein historisches Genre im Sinne einer musiktheatralen Institution:15 Neben den beschriebenen klassifikatorischen Formeigenschaften ist für das Singspiel in diesem Verständnis die Einbettung in transnationale sowie in konkrete zeitliche, räumliche und soziale Bezüge wesentlich. Es ist in der Forschung üblich, von der „Geburtsstunde“16 des deutschsprachigen Singspiels im 18. Jahrhundert zu sprechen. Tatsächlich verbindet sich der Beginn dieser Form des Musiktheaters mit einem Ereigniskomplex in Leipzig um 1750, der zugleich die Hybridität der Form sowie die eminente Bedeutung externer Einflüsse und unterschiedlicher Theatertraditionen ersichtlich werden lässt: Am 6. Oktober 1752 führte die Theatertruppe von Heinrich Gottfried Koch in Leipzig erstmals Der Teufel ist los oder Die verwandelten Weiber mit Text von Christian Felix Weiße und Musik von Johann Georg Standfuß auf. Es handelt sich um eine Übersetzung und Neuvertonung von Charles Coffeys überaus beliebter ballad-opera The devil to pay, or the wives metamorphos’d (1731), 11 Vgl.

zum Folgenden konzise Jörg Krämer, Singspiel, in: Jan-Dirk Müller (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, Berlin, New York 2003, 437 – 4 40. 12 Hans Michael Schletterer, Das deutsche Singspiel von seinen ersten Anfängen bis auf die neueste Zeit, Augsburg 1863, 148. 13 Gerhard Sander, Das Deutschtum im Singspiel Johann Adam Hillers, Würzburg 1943, 1. 14 Michael Klügl, Erfolgsnummern. Modelle einer Dramaturgie der Operette, Laaber 1992 (Thurnauer Schriften zum Musiktheater 13), 10. 15 Wir stützten uns hierbei auf die in der Literaturwissenschaft vorgeschlagene Unterscheidung von ‚Gattung‘ als systematischem Ordnungsbegriff und ‚Genre‘ als historisch-sozialer Institution. Vgl. Harald Fricke, Elisabeth Stuck, Textsorte, in: Jan-Dirk Müller (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, Berlin, New York 2003, 612 – 615. 16 So bereits Fritz Brüggemann, Bänkelgesang und Singspiel vor Goethe, Leipzig 1937, 15.

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die beispielsweise auch Michel-Jean Sedaine zu seiner (später von Christoph Willibald Gluck neu bearbeiteten) Opéra comique Le diable à quatre inspirierte. Der Teufel ist los oder die Verwandelten Weiber war zwar bereits 1743 in einer anderen, streng geheim gehaltenen Übertragung mit großem Erfolg in Berlin aufgeführt worden. Doch erst die Übertragung und Bearbeitung von Weiße und Standfuß löste eine heftige Debatte über die Legitimität der durch dieses Stück repräsentierten Form der Verbindung von Musik und Dialogen aus. Im sogenannten ‚komischen Krieg‘17 opponierte Johann Christoph Gottsched im Sinne seiner moraldidaktischen Theaterkonzeption publizistisch und politisch, letztlich allerdings erfolglos, gegen Stücke wie „der Teufel ist loß“, „qui au lieu d’epurer le gout des Spectateurs l’ont plutôt corrumpu“.18 Doch den endgültigen „Ausgangspunkt des neuen deutschsprachigen Musiktheaters“19 markiert erst eine weitere Neubearbeitung nach dem Ende des Siebenjährigen Kriegs, der das Kultur- und Theaterleben in den deutschen Staaten weitgehend zum Erliegen gebracht hatte. 1766 kam eine neue, abermals von Weiße besorgte Fassung des Stücks unter dem veränderten Titel Die verwandelten Weiber, oder Der Teufel ist los auf die Bühne. Das Stück enthielt nun eine vermehrte Anzahl an Musikstücken aus der Feder Johann Adam Hillers. Weiße und Hiller, aus deren Kooperation zahlreiche weitere breitenwirksame Stücke wie Lottchen am Hofe oder Die Jagd hervorgingen, setzten die Form im deutschsprachigen Raum durch, wobei weiterhin Einflüsse der französischen Opéra comique, aber auch der italienischen Opera buffa von Bedeutung waren. Im nord- und mitteldeutschen Raum erzielte die neuentstandene Musiktheatergattung große Publikumserfolge, die weiterhin von heftigen Kontroversen begleitet wurden. Sie fand in Komponisten wie Ernst Wilhelm Wolf, Christian Gottlob  Neefe, Anton Schweitzer oder Georg Benda zahlreiche Vertreter: „Alles componirt itzt Operetten“, konstatierte 1774 Johann Friedrich Reichardt.20 Dieser Boom ist in einer auch anderweitig produktiven und wandlungsvollen Musiktheaterlandschaft zu verorten, in der etwa auch das nach dem Vorbild Rousseaus konzipierte Melodram in Gestalt der Erfolgsstücke Georg Bendas entstand und die deutschsprachige Oper durch Alceste (1773) von Christoph Martin Wieland und Anton Schweitzer neue Impulse erhielt. Von reisenden Truppen, aber auch von städtischen und höfischen Theatern getragen, strahlte das Singspiel weit aus, zum Beispiel auch auf Kopenhagen, an dessen Nationaltheater von Johann Abraham Peter Schulz, Friedrich Kuhlau und anderen 17

Vgl. zuletzt Urchueguía, Allerliebste Ungeheuer (wie Anm. 10), 76 – 98. Christoph Gottsched an Carl Heinrich von Dieskau, 24. 02. 1753, zit. nach Jakob Minor, Christian Felix Weiße und seine Beziehungen zur deutschen Literatur des achtzehnten Jahrhunderts, Innsbruck 1880, 377 – 379, hier 377. 19 Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater (wie Anm. 9), 11. 20 Johann Friedrich Reichardt, Über die Deutsche comische Oper nebst einem Anhange eines freundschaftlichen Briefes über die musikalische Poesie, Hamburg 1774, 6. 18 Johann

Einleitung: Das Singspiel im 18. Jahrhundert 11



ein Pendant in dänischer Sprache gebildet wurde. Auch Goethe interessierte sich für das erfolgreiche Genre und schrieb mehrere Singspiele, unter anderem die von Johann Friedrich Reichardt vertonten Stücke Erwin und Elmire, Clau­ dine von Villa Bella und Jery und Bätely. Die Konjunktur des Singspiels steht im Kontext benachbarter musik- und literaturhistorischer Entwicklungen, wie insbesondere die zeitgenössische Debatte um das Lied zeigt.21 Außerdem steht sie im Zusammenhang übergeordneter ideen- und mentalitätsgeschichtlicher Tendenzen wie der Empfindsamkeit, die unter anderem zu einer Neubeurteilung und Aufwertung der Musik gelangte: Musik wurde nun in besonderem Maße als Ausdrucksform subjektiver Empfindungen gesehen. Jörg Krämer zufolge kann das Singspiel gar als „empfindsame Leitgattung“22 gelten. Parallel zu dieser nord- und mitteldeutschen Ausprägung und mit engen Wechselbezügen zu ihr wurde das Singspiel auch im süddeutsch-österreichischen Raum gepflegt, besonders in Wien. Die Gründung des Wiener Nationalsingspiels durch Joseph II., das 1778 mit Paul Weidmanns und Ignaz Umlauffs Die Bergknappen eröffnet wurde, lässt sich als bewusste Orientierung an der neuen Theaterform verstehen. Auch hier weist das Singspielrepertoire starke internationale Einflüsse auf und ist durch vielfältige Transfer- und Übersetzungsprozesse gekennzeichnet: Adaptationen stehen neben (partiellen oder vollständigen) Neuschöpfungen. Der Erfolg von Mozarts Entführung reichte weit über Wien hinaus, wie die eingangs zitierten Worte Goethes illustrieren, und auch die Stücke von Carl Ditters von Dittersdorf erregten weithin Begeisterung. Doch das Nationalsingspiel wurde bereits 1783 vorläufig und 1788 endgültig geschlossen, weshalb sich die Wiener Singspielproduktion auf die Vorstadttheater verlagerte. So erlebte Die Zauberflöte von Emanuel Schikaneder und Mozart ihre Uraufführung 1791 im Theater auf der Wieden. Ausgehend von diesen Kulturräumen und den jeweiligen vor allem musikalischen Charakteristika – Strukturierung als „Dialogoper“,23 Tendenz zur Schlichtheit und Fasslichkeit, liednaher Vokalstil – verbreite sich das Singspiel über den ganzen deutschsprachigen Raum. Trotz der „zentralen Bedeutung, die dem deutschen Singspiel in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Theaterbetrieb zukam“, ist die Forschung Bernhard Jahn zufolge allerdings noch immer in einem „desolat[en]“ Zustand.24 Dies liegt vor allem an den eingangs 21 Vgl.

zur Ästhetik des Lieds zuletzt am Beispiel Hamburgs Katharina Hottmann, „Auf! stimmt ein freies Scherzlied an“. Weltliche Liedkultur im Hamburg der Aufklärung, Stuttgart 2017, zum (teils unbefriedigenden) Forschungsstand bes. 13 – 31. 22 Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater (wie Anm. 9), 130. 23 Vgl. Thomas Betzwieser, Sprechen und Singen. Ästhetik und Erscheinungsformen der Dia­ logoper, Stuttgart, Weimar 2002. 24 Bernhard Jahn, [Rezension von] Cristina Urchueguía, Allerliebste Ungeheuer (wie Anm. 10) und Adrian Kuhl, „Allersorgfältigste Ueberlegung“ (wie Anm. 32), in: Arbitrium 36/1 (2018), 60 – 65, hier 60.

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konstatierten disziplinenspezifischen Perspektiven: An musikwissenschaftlichen Untersuchungen zu den Singspielkompositionen Mozarts herrscht ebenso wenig Mangel wie an literaturwissenschaftlichen zu den Libretti Goethes. Doch wenn schon transdiziplinäre – also gleichermaßen literatur-‍ , musik- wie theaterwissenschaftliche Aspekte berücksichtigende – Untersuchungen dieser ‚Spitzenwerke‘ selten sind, gilt dies erst recht für weniger kanonische Stücke und ihre Autoren und Komponisten. Die Forschung ist zu so bedeutenden Figuren wie Carl Ditters von Dittersdorf, Johann Adam Hiller, Johann Friedrich Reichardt, Emanuel Schikaneder oder Christian Felix Weiße schmal und zu noch weniger bekannten Künstlern oft kaum vorhanden. Die Situation wird auch dadurch erschwert, dass bis heute selbst die bekannteren Singspiele (wieder mit der großen Ausnahme Mozart) in der Regel nicht als Tonaufnahmen vorliegen, von theatralen Inszenierungen an Opernhäusern ganz zu schweigen.25 Im Ergebnis erfolgt die Singspielforschung, die der qualitativen und quantitativen Geringschätzung ihres Gegenstands entgegenwirken und erheblichen Aufwand zur Bewahrung des erreichten Wissensstands betreiben muss, oft genug insular. Dennoch sind, nachdem sich Hans-Albrecht Koch in den 1970er Jahren intensiv um eine literaturwissenschaftliche Erforschung des Singspiels verdient gemacht hatte,26 in den letzten Jahren und Jahrzehnten einige wichtige monographische Untersuchungen entstanden, die es erlauben, von einem „Aufschwung“27 der Singspielforschung zu sprechen. Die Arbeiten namentlich von Thomas Bauman,28 Michael Klügl,29 Jörg Krämer,30 Bodo Plachta,31 Adrian Kuhl32 und Cristina Urchueguía 33 haben nicht nur die Gründe und Ursachen der Marginalisierung des Singspiels in der Forschung herausgearbeitet, sondern auch und vor allem – mit ganz verschiedenen methodischen Ansätzen – die Forschung bedeutend vorangebracht: Die wesentlichen Züge der Gattungsentwicklung und der Theoriediskussion sind aufgearbeitet und wir besitzen nun auch statistisch aufbereitetes Datenmaterial zur Produktion und Rezeption des Singspiels. Die sozialhistorischen Ermög25 Die

Datenbank Operabase (www.operabase.com, Zugriff 23. 03. 2022) verzeichnet für die Jahre 2012 bis 2022 weltweit keine einzige Aufführung der Werke von Hiller, Reichardt, Benda oder Dittersdorf, gegenüber mehr als 140 Produktionen der Zauberflöte und über 40 der Entfüh­ rung. 26 Vgl. v. a. Hans-Albrecht Koch, Das deutsche Singspiel, Stuttgart 1974. 27 Koch, Von Musen und Musik (wie Anm. 8), 116. 28 Thomas Allen Bauman, North German Opera in the Age of Goethe, Cambridge u. a. 1985. 29 Klügl, Erfolgsnummern (wie Anm. 14). 30 Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater (wie Anm. 9). 31 Bodo Plachta, Ein „Tyrann der Schaubühne“? Stationen und Positionen einer literatur- und kulturkritischen Debatte über Oper und Operntext im 18. Jahrhundert, Berlin 2003. 32 Adrian Kuhl, „Allersorgfältigste Ueberlegung“. Nord- und mitteldeutsche Singspiele in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Beeskow 2015 (Ortus-Studien 17). 33 Urchueguía, Allerliebste Ungeheuer (wie Anm. 10).

Einleitung: Das Singspiel im 18. Jahrhundert 13



lichungsbedingungen des spektakulären zeitgenössischen Erfolgs dieser Theaterform sind mittlerweile ebenso bekannt wie die Bedeutung des Singspiels für „Öffentlichkeitsstiftung und Diskursbündelung“,34 in Bezug etwa auf das damals populäre Thema der Anthropologie, auf die im Entstehen begriffene Disziplin der Ästhetik, auf das ständeüberwölbende Paradigma der Empfindsamkeit oder auf die Verhaltenskunst der Galanterie. Ergänzend zu diesen werkübergreifenden Forschungserträgen liegen nun auch einlässliche Interpretationen zu verschiedenen, zuvor nicht mit diesem Grad an Interesse untersuchten Stücken vor. Diese Untersuchungen haben unsere Sensibilität für signifikante Konstellationen und Einzelfälle, für Aufführungsbedingungen und Wirkungspotenziale sowie für die detailgenaue Machart und die bestimmenden ästhetischen Zielvorstellungen geschärft. Das vorliegende Themenheft, das in seinen Grundzügen auf einen an der Universität Wien durchgeführten Workshop zurückgeht,35 knüpft an diese neueren Ansätze und Erträge der Singspielforschung an und sucht sie im Rahmen erkundender Fallstudien zu erweitern und zu vertiefen. Die einzelnen Beiträge, die von Forscherinnen und Forschern der Musik- und germanistischen Literaturwissenschaft stammen, gehen der interkulturellen, medialen und theaterhistorischen Einbettung des Singspiels nach, unterziehen einzelne Stücke intensiven Deutungen oder befassen sich mit Aspekten, die das Singspiel eher mittelbar berühren, als Kontextfaktoren aber von hoher Relevanz sind. Der Fokus auf das Singspiel weitet sich immer wieder gleichsam von selbst und lässt größere literatur-‍ , musik- und theaterhistorische Konstellationen in den Blick treten. Insgesamt wird deutlich, in welch vielfältige Diskurse und Sozialkonstellationen das Singspiel des 18. Jahrhunderts eingebunden ist und welche Bedeutung dieser oft unterschätzten Theaterform mithin für das kulturelle Leben im Zeitalter der Aufklärung beizumessen ist. Den Anfang machen Beiträge, die Grundlagen der Quellen- und Aufführungskontexte des Singspiels auf breiter Basis zu klären versuchen. Bernhard Jahn verortet die Singspiele in ihrem Aufführungskontext, dem Theaterabend des 18. Jahrhunderts, und lässt auf Grundlage einer Spielplananalyse für zwei beispielhafte Theater, nämlich das Hamburger Stadttheater und das Weimarer Hoftheater, die Vielfalt und den Variantenreichtum der damaligen Theaterabende deutlich werden, die der heutigen Theaterpraxis in vielem entgegenstehen. Jahn erörtert vier Thesen, mit denen sich die übliche Programmgestaltung erklären lässt. Singspiele, so wird deutlich, waren im 18. Jahrhundert ein wichtiges Element des Theaterabends. 34 Krämer,

Deutschsprachiges Musiktheater (wie Anm. 9), 4. Rund um das Singspiel. (Musik-)‌T heatergattungen des 18. Jahrhunderts in interdisziplinärer Interpretation. Interdisziplinärer Workshop am Institut für Musikwissenschaft der Universität Wien, 14.–15. Dezember 2018. 35

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Jörg Krämer blickt am Beispiel eines Melodrams – der seinerzeit ausgesprochen populären Medea von Friedrich Wilhelm Gotter und Georg Anton Benda – auf die Librettodrucke als ein zentrales Medium der historischen Überlieferung von Musiktheaterwerken. Krämer führt die Variabilität von Drucken ein und desselben Werks (untereinander wie auch gegenüber musikalischen Quellen) eindrücklich vor Augen. Der Befund stimmt skeptisch im Hinblick auf die oft stillschweigend vorausgesetzte ‚Stabilität‘ der Werke. Zugleich erlaubt er einigen Aufschluss über die vielgestaltige Theaterpraxis der Zeit. Grundsätzliche Überlegungen zur Verortung des Singspiels im zeitgenössischen Theaterkontext liefert auch der Beitrag von Estelle Joubert. Auf Basis umfangreicher Spielplandaten von Theatern des Reichs kann Joubert die Vielfalt und Vielsprachigkeit sowie die Trends und Konjunkturen jenes Opernrepertoires anschaulich machen, in dem das Singspiel angesiedelt ist. Ihr Beitrag unterstreicht einmal mehr die Notwendigkeit einer transnationalen Perspektive auf das (Musik-)‌Theater des 18. Jahrhunderts und hält zugleich ein Plädoyer für eine computergestützte, durch Visualisierungen anschaulich gemachte Repertoireforschung. Gleich mehrere Aufsätze dieses Themenhefts sind Aspekten des Kulturtransfers gewidmet, einer für das Singspiel eminent bedeutsamen Kategorie. Thomas Betzwieser behandelt Probleme, die sich üblicherweise bei der Übersetzung von Stücken der Opéra comique ins Deutsche gestellt haben und rückt damit ein Verfahren in den Fokus, dem viele Singspiele ihre Existenz verdanken. Am Beispiel deutscher Fassungen von Werken André-Ernest-Modeste Grétrys wird materialreich und in vergleichender Perspektive auf Text und Musik die Verschiedenheit der Adaptationsverfahren aufgezeigt, bei denen die originale Musik beibehalten oder durch Neuvertonungen ersetzt wurde. Die Bedeutung von Übersetzungen und Adaptationen wird im folgenden Beitrag von Katrin Dennerlein in Anknüpfung an Betzwieser anhand eines zeitgenössisch populären und wissenschaftlich einträglichen Beispiels weiter ausgeführt. Sie untersucht eine seinerzeit vielbeachtete Übersetzung von Marmontels Libretto Zémire et Azore, das in Frankreich ebenfalls zur Grundlage einer Opéra comique von Grétry geworden war und in Deutschland vielfach adaptiert wurde. Die deutschsprachige Übersetzung wird als literarischer Text sui generis vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Debatten über Empfindungen und Affekte auf seine dramaturgische Machart und die intendierten Wirkungsimpulse untersucht. Herbert Schneider bietet eine anders geartete Fallstudie zum französischdeutschen Transfer im Musiktheater und liefert damit ein weiteres Beispiel für die internationalen Konstellationen, in die das Singspiel eingebunden ist: Bernhard Anselm Webers Singspiel Die Wette basiert auf einer Übersetzung und Neuvertonung des Librettos der Opéra comique Un quart d’heure de silence. Wie Schneider aufzeigt, stimmt die deutschsprachige Bearbeitung kulturspezi-



Einleitung: Das Singspiel im 18. Jahrhundert 15

fische Details des Originals auf den Erfahrungshorizont des Zielpublikums ab, weist aber ansonsten in Text und Musik ein hohes Maß an Übereinstimmung mit dem Vorbild auf. Adrian Kuhl setzt die Reihe an Untersuchungen fort, die Fallstudien mit übergeordneten Aspekten verbinden. Er diskutiert mit der Frage nach der Legitimierbarkeit von Theatereffekten einen wichtigen, auch das Singspiel betreffenden ­Aspekt der theaterästhetischen Debatte. Anhand von Die Geisterinsel von Friedrich Wilhelm Gotter und Friedrich Hildebrand Freiherr von Einsiedel, einer Adaptation von Shakespeares The Tempest, zeigt er, auf welche Weise der Versuch einer dramaturgischen Rechtfertigung der vielfach kritisierten Effekte unternommen wurde, bei deren Realisierung die Musik eine besondere Rolle spielte. Auch Tilman Venzl stellt ein einzelnes Stück ins Zentrum seiner Überlegungen. Er untersucht ein weitgehend vergessenes Singspiel aus der kaum erforschten Phase zwischen Weißes und Standfuß’ Der Teufel ist los oder die Verwan­ delten Weiber und der Neubearbeitung von Weiße und Hiller. Der Soldat in den Winterquartieren stammt aus der Zeit des Siebenjährigen Kriegs und illustriert, dass das Thema Militär in einer belagerten Stadt überaus sozialrealistisch, aber im Rahmen der herrschenden ästhetischen Vorlieben behandelt wurde. Da das Stück zudem aus einer Umbruchphase des Militärdramas stammt, eines im 18. Jahrhundert überaus erfolgreichen Genres, wirft es die Frage auf, welche Rolle dem Singspiel für die Behandlung gesellschaftlich brisanter Stoffe zukam. Die folgenden Beiträge setzen die perspektivische Öffnung, die bei Venzl in der Relationierung des Singspiels mit anderen Theaterformen besteht, fort und beziehen verstärkt musikalische Praktiken und ästhetische Diskurse als Kontexte ein: Livio Marcaletti nimmt die musikalische Aufführungspraxis in den Blick, indem er sich auf die Gesangslehren Johann Adam Hillers, eines der wichtigsten Singspielkomponisten, stützt. Eingehend zeigt er Hillers Orientierung an italienischen Vorbildern, die in gewissem Maße der Forderung nach liedhafter Simplizität entgegenstehen. Außerdem weist er auf die Bedeutung improvisierter Verzierungen hin, die in heutigen, der historischen Aufführungspraxis verpflichteten Darbietungen eigentlich stärker zu berücksichtigen wären. Benedikt Leßmann bringt schließlich die Debatte über die Nachahmungsästhetik infolge der Übersetzungen von Charles Batteux’ Les beaux arts réduits à un même principe, an der Hiller ebenfalls aktiv teilnahm, in die Forschungsdiskussion zum Singspiel ein. An einem exponierten Beispiel, der ‚Gewittermusik‘ im Singspiel Die Jagd, zeigt Leßmann nicht nur auf, welche kompositorischen Konsequenzen aus einer um Aspekte der Sensibilität erweiterten Nachahmungsästhetik der Musik folgten. Auch und vor allem wird deutlich, welche zeitgenössischen Reaktionen diese Gewittermusik vor dem Hintergrund des Empfindungsparadigmas auslöste. Den Abschluss des Themenhefts bildet eine Auswahlbibliografie zum Singspiel im 18. Jahrhundert. Sie ist mit dem Ziel verbunden, die bisherige Forschung

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Benedikt Leßmann / Tilman Venzl

in ihren wichtigsten Ergebnissen und in ihrem historischen Verlauf zu dokumentierten. Sind die in diesem Heft versammelten Beiträge mit der Hoffnung versehen, der Erforschung des Singspiels neue Impulse zu verleihen, so hat die Bibliografie das Ziel, künftigen Forschungsanstrengungen einen verlässlichen Ausgangs- und Bezugspunkt anzubieten.

Bernhard Jahn Zur Dramaturgie des Theaterabends im 18. Jahrhundert Das Beispiel des Hamburger Stadttheaters

Der Wechsel von Sprechen und Singen, der für die Opéra comique und das deutsche Singspiel im 18. Jahrhundert konstitutiv ist1 und der heute wohl das Hauptproblem bei der Wiederaufführung von Singspielen darstellt, findet eine strukturelle Parallele, wenn man einen typischen Theaterabend betrachtet.2 Im 18. und noch weit bis ins 19. Jahrhundert hinein setzte sich der Theaterabend im deutschen Sprachraum an der Mehrzahl der Stadt- und Hoftheater aus mehreren Stücken zusammen, wobei es zu einem Cross-over der Genres kam. Angesichts dieses Befundes stellt sich die Frage, ob es genügt, bei der Beschreibung der Dramaturgie vom einzelnen Werk auszugehen und sich auf dieses zu beschränken. Das einzelne Werk, dem der emphatische Werkbegriff huldigte, diffundiert nicht nur, wenn man die für das Musik- wie Sprechtheater vorhandenen verschiedenen Pasticcio-Praktiken3 betrachtet, bei denen jeweils Teile, etwa Arien oder Szenen, ausgetauscht werden, sondern das einzelne Werk wird außerdem relativiert, indem es im Verbund mit weiteren Werken an einem Theaterabend in Erscheinung tritt. Zu fragen wäre demnach – und das soll im Folgenden geschehen – nicht nach der je spezifischen Dramaturgie etwa einer Tragödie, eines Einakter-Lustspiels oder eines Singspiels, sondern danach, was geschieht, wenn beispielsweise Werke dieser drei Gattungen im Verlaufe eines gemeinsamen Theaterabends präsentiert werden. Auch die Frage nach dem für das Musiktheater des 18. Jahrhunderts gattungskonstitutiven Lieto Fine wird durch den Blick auf den Theaterabend als Ganzes neu zu perspektivieren sein.4 1 Vgl.

dazu grundlegend Thomas Betzwieser, Sprechen und Singen: Ästhetik und Erscheinungsformen der Dialogoper, Stuttgart, Weimar 2002. 2 Zur Verflechtung von Musik- und Sprechtheater vgl. Cristina Urchueguía, Allerliebste Ungeheuer: Das deutsche komische Singspiel (1760 – 1790), Frankfurt am Main 2015. 3 Zur Pasticcio-Praxis vgl. Berthold Over, Gesa zur Nieden (Hg.), Operatic Pasticcios in th 18 -Century Europe. Contexts, Materials and Aesthetics, Bielefeld 2020 (Mainzer historische Kulturwissenschaften 45). 4 Zum Lieto Fine vgl. Ursula Kramer (Hg.), Lieto fine? Musik-theatralische Schlussgestaltung um 1800, Tübingen 2009 (Mainzer Forschungen zu Drama und Theater 40).

Aufklärung 34 · © Felix Meiner Verlag 2022 · ISSN 0178-7128

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Die hier aufgeworfene Fragestellung erinnert an den Theaterabend in Hugo von Hofmannsthals Ariadne auf Naxos: „Nach meiner Oper? Ein lustiges Nachspiel? Tänze und Triller, freche Gebärden und zweideutige Worte nach ‚Ariadne‘?“5 Allerdings entspringt die Vermischung der Genres bei einem typischen Theaterabend des 18. Jahrhunderts nicht den Launen eines bürgerlichen Kunstignoranten, wie Hofmannsthal insinuiert, sondern war eine allgemein etablierte Theaterpraxis, die im vorliegenden Beitrag nun näher dargestellt und befragt werden soll. Das Quellen- und Anschauungsmaterial für die nachfolgenden Überlegungen ist dem Spielplan des Hamburger Stadttheaters entnommen, für das im Rahmen eines DFG-Projektes eine Online-Datenbank mit dem kompletten Spielplan für die Jahre zwischen 1770 und 1850 erstellt wurde.6 Die Befunde werden außerdem mit dem ebenfalls online zugänglichen Spielplan des Weimarer Hoftheaters abgeglichen.7 Nun versteht sich von selbst, dass weder das ökonomisch basierte Hamburger Stadttheater noch das Weimarer Hoftheater sozusagen Normtheater für den deutschen Sprachraum darstellen. Vielmehr haben wir es in dieser Zeit mit lauter Sonderfällen zu tun, die sich wechselseitig relativieren, sobald sie zum normativen Modell für das 18. Jahrhundert erhoben werden. Doch auch wenn der Einzelfall nicht dem imaginären Prototyp eines Theaters und auch statistisch nicht dem Durchschnitt entsprach, kann er als historischer Einzelfall ein Recht darauf beanspruchen, in ein zukünftig noch zu entwerfendes Gesamtbild der Epoche mit einfließen zu dürfen. Im Folgenden werden vier Hypothesen zur Gestaltung des Theaterabends im 18. Jahrhundert vorgestellt, Thesen, die nicht alle gleichermaßen valide sind und für sich genommen als Erklärung nicht hinreichen, die aber zusammen vielleicht doch die Prinzipien der Theaterabendgestaltung im 18. Jahrhundert genauer zu erfassen in der Lage sind. I. Kohärenzthese Aus der Perspektive der Literatur- wie auch der Musikwissenschaft würde die Kohärenzthese, wenn sie denn zuträfe, sicherlich die meiste Freude auslösen, allen hier und da auftretenden dekonstruktivistischen Neigungen zum Trotz. Aus der Sicht der Kohärenzthese bildet ein aus mehreren Stücken bestehender 5 Hugo

von Hofmannsthal, Gesammelte Werke, Dramen V: Operndichtungen, hg. von Bernd Schoeller, Frankfurt am Main 1979, 190. 6 Hamburger Stadtheater 1770 – 1850: Digitaler Spielplan (21. 10. 2021). Der Spielplan wurde erstellt von Petra Eisenhardt, Friederike Mühle, Jacqueline Malchow und Martin Schneider. Zum Hamburger Stadttheater vgl. Bernhard Jahn, Claudia Maurer Zenck (Hg.), Bühne und Bürgertum. Das Hamburger Stadttheater (1770 – 1850), Frankfurt am Main u. a. 2016 (Hamburger Beiträge zur Germanistik 56). 7 Theater und Musik in Weimar 1754 – 1990 (21. 10. 2021).



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Theaterabend eine Einheit, weil die Stücke einen inhaltlich-thematischen Bezug aufweisen, sei es, dass es sich direkt um dasselbe Sujet handelt, wobei Stück b die Fortsetzung von Stück a bildet, oder sei es, dass in Stück b ein Thema, das schon in Stück a behandelt wurde, wieder aufgegriffen und vielleicht in anderer, aber auf Stück a bezogener Weise behandelt wird. Solche Entsprechungen kamen in Theaterabenden des 18. Jahrhunderts tatsächlich vor (vgl. Abb. 1).

Abb. 1: Theaterzettel des Hamburger Stadttheaters vom 9. Juli 1787 (Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky)

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Das Beispiel des Hamburger Theaterzettels vom 9. Juli 1787 zeigt Figaro’s Reue, ein Nachspiel von Friedrich Ludwig Schröder nach Pierre-Germain Parisau,8 ein „Lustspiel in einem Aufzuge“, das die Thematik des Hauptstückes, Figaro’s Heirath (nach Beaumarchais) wieder aufgreift, weiterspinnt und problematisiert.9 Wie dem Besetzungszettel vom 9. Juli 1787 zu entnehmen, wird der enge Bezug zum Hauptstück schon dadurch hergestellt, dass die Schauspielerinnen und Schauspieler des Hauptstückes dieselben Rollen auch im Nachspiel übernehmen. Das Nachspiel konterkariert die in die Ehe gesetzten Erwartungen des Hauptstückes: Susanne und Figaro sind nun verheiratet, aber die im Hauptstück herbeigesehnte Ehe erweist sich als so problematisch, dass Figaro sich sogar scheiden lassen möchte. Darüber hinaus gewinnt der Einakter seinen Witz durch permanente Anspielungen auf das Hauptstück. Wieder ist es Cherubin, der in Verdacht gerät, er muss sich in einem „Cabinet“ verstecken, was er mit dem Ausspruch kommentiert: „Von Herzen gern; die Cabinetsscenen sind mir nicht neu.“10 Nun ist es nicht der Graf, sondern Figaro, der, von Eifersucht gequält, wissen möchte, wer sich im „Cabinet“ verbirgt, den vermeintlichen Täter einsperrt11 usw. Insgesamt ergibt sich durch das gemeinsame Figurenpersonal von Hauptstück und Nachspiel sowie durch das Wiederaufgreifen der Ehethematik bzw. -problematik eine inhaltlich stringente Dramaturgie des Theaterabends. Das Nachstück bewirkt eine Desillusionierung: Eheprobleme gehören zur Ehe a priori dazu, und sie treten eben nicht nur bei Graf und Gräfin im Hauptstück auf, sondern auch beim jungen Ehepaar im Nachspiel. Durch die Konzentration des Einakters auf die Ehethematik wird die brisante politische Thematik des Hauptstücks, die durch Schröders Bearbeitung nicht reduziert worden war,12 für die Zuschauer des Theaterabends dann vielleicht doch etwas relativiert. Die Anhänger der Kohärenzthese können sich allerdings nicht lange freuen: Obwohl Figaro’s Reue einen ganz engen Bezug zu dem als Prätext fungierenden Hauptstück aufweist, wurde der Einakter in Hamburg nur ein einziges Mal zusammen mit Figaro’s Heirath aufgeführt, sonst aber mit anderen Hauptstücken als Vorspiel oder als Nachspiel kombiniert: so etwa am 9. Oktober 1786 mit Shakespeares eher ernster Komödie Der Kaufmann von Venedig, am 6. Oktober 1786 mit Diderots rührender Komödie Der Vater der Familie oder mit rei8 Vgl.

die Edition von Hauptstück und Nachspiel in Schröders Fassung: Friedrich Ludwig Schröder, Figaro’s Heirath und Figaro’s Reue. Nach Beaumarchais’ La folle journée ou Le mariage de Figaro und Parisaus Le repentir de Figaro. Kommentierte Edition der Handschriften von Nina und Gerhard Kay Birkner, Hannover 2016 (Theatertexte 52). 9 Zu Parisaus Nachspiel, das auch in Hannover und Mannheim gegeben wurde, vgl. Birkner, Birkner, Figaro’s Heirath (wie Anm. 8), 8 f. 10 Ebd., 148. 11 Ebd., 150. 12 So der Befund von Nina Birkner, ebd., 180 – 186.



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nen Lustspielen, so am 20. August 1795 mit Frederick Reynolds Lustspiel in vier Akten Die Schachma­ schine.13 Bei all diesen genannten Hauptstücken ist ein inhaltlich-thematischer Bezug kaum oder gar nicht gegeben.14 Wie wenig solche Kohärenz für den Theaterabend tatsächlich eine Rolle spielt, mag der Umgang mit Schiller zeigen (Abb. 2): Schillers erfolgreichstes „Lustspiel in einem Act“, Wallensteins Lager, beschloss den Theaterabend des 14. Juli 1808, der mit Goldonis Lügner begann. Doch auch wenn die Piccolomini gegeben wurden, bildete Wallensteins Lager meist das Nachspiel (!), nicht, wie von Schiller konzipiert, das Vorspiel. Bis 1850 wurde Wallensteins La­ ger 61-mal in Hamburg aufgeführt, dabei aber nur sechsmal in Kombination mit den Piccolomini. (Wallensteins Tod wurde immer als Einzelstück aufgeführt).15 Die übrigen Stücke, mit denen Wallen­ steins Lager kombiniert wurde, lassen kaum einen inhaltlichen Bezug erkennen, hier finden sich Singspiele wie Lustspiele. Nur gelegentlich ist über die militärische Thematik ein gemeinsamer inhalt13 Die

Abb. 2: Theaterzettel des Hamburger Stadttheaters vom 14. Juli 1808 (Staats- und Universitäts­ bibliothek Hamburg Carl von ­Ossietzky)

Theaterzettel sind bei Eingabe des Datums jeweils der in Anm. 6 genannten Datenbank zu entnehmen. 14 Es ist natürlich immer eine Frage des hermeneutischen Rahmens, ob für die Zuschauer Bezüge zwischen den einzelnen an einem Theaterabend gespielten Stücken gegeben sind. Wenn, wie bei einem verschwörungstheoretischen Ansatz, alles mit allem zusammenhängt, kann es keine kohärenzlosen Theaterabende geben. Aus pragmatischer Sicht sei hier indes nur dann von Kohärenzen gesprochen, wenn diese deutlich markiert werden. 15 Alle Daten auf der Basis der Datenbank Hamburger Stadttheater (wie Anm. 6).

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licher Bezug zu erkennen. Wallensteins Lager diente sogar bevorzugt als Baustein, wenn es um ein Programm der maximalen Variabilität ging (Abb. 3): Am 22. Dezember 1805 wurden vier Einakter mitein­ ander kombiniert, darunter Wallensteins Lager. Attraktiv ist Wallensteins Lager also nicht, so steht zu vermuten, als aufschließendes Vorspiel zum Verständnis der Picco­ lomini oder Wallensteins Tod, sondern wegen seiner revueartig angelegten szenischen Vielfalt. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Inhaltlich-thematische Kohärenz – und das ließe sich an zahlreichen weiteren Beispielen demonstrieren16 – scheint demnach bei der Spielplangestaltung keine große Rolle zu spielen. Bei gelegentlich auftretenden Kohärenzen ist meist schwer zu entscheiden, ob ein bewusster Spielplangestaltungswille zugrunde liegt oder bloßer Zufall waltet.

16 Vgl.

Abb. 3: Theaterzettel des Hamburger Stadttheaters vom 22. Dezember 1805 (Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky)

etwa als weiteres Beispiel Johann Wolfgang Goethes „Lustspiel in einem Aufzuge“ Der Bürgergeneral. Es handelt sich um eine Fortschreibung von Jean-Pierre Claris des Florians Nachspiel Les deux Billets, das Goethe in Gestalt der Übersetzung des französischen Stückes durch Christian Leberecht Heyne (Die beiden Billets) kannte. Heyne hatte zu diesem Stück schon selbst eine Fortsetzung verfasst (Der Stammbaum), so dass Goethes Bürgergeneral die zweite Fortsetzung darstellt. Gleichwohl wurden die drei Einakter, die inhaltlich aufeinander aufbauen, nur ganz selten gemeinsam gegeben, und das gilt sowohl für das Hamburger Stadttheater wie für das Weimarer Hoftheater unter Goethes Leitung. Vgl. dazu Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (Münchner Ausgabe), Bd. 4.1.: Wirkungen der Französischen Revolution 1791 – 1797, hg. von Reiner Wild, München 1988, 959 – 962.



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II. These vom notwendigen Lieto Fine Im 18. Jahrhundert und noch bis ins 19. Jahrhundert hinein scheint eine Abneigung dagegen bestanden zu haben, den Theaterabend tragisch enden zu lassen. Antonio Planelli entwickelte in seinem Traktat Dell’opera in Musica (Neapel 1772) sogar eine Art Kulturtheorie des Lieto Fine, nach der der traurig-schreckliche Ausgang der griechischen Tragödien mit dem rauen und kriegerischen Charakter der Griechen wie auch mit ihrer barbarischen Religion korrespondiert; der glückliche Ausgang der Melodramen des 18. Jahrhunderts hingegen sei auf die christliche Religion und die höheren zivilisatorischen Standards der Menschheit im 18. Jahrhundert zurückzuführen: Questo passagio fatto per la Tragedia dal tristo al lieto Fine é una pruova ben certa del progresso fatto del genere humano nelle placidezza, nella urbanità, nella clemenza, che che si dicano i nostri misantropi.17

Zwar hat Planelli bei seinen Überlegungen die Oper im Blick, doch lässt sich seine Theorie problemlos auf den Theaterabend als Ganzes übertragen. Auch Georg Wilhelm Friedrich Hegels berühmtes Diktum zu Schillers Trauerspiel Wallensteins Tod deutet die Erwartung eines glücklich endenden Theaterabends ex negativo an: „Dieß [das Ende von Wallensteins Tod] zerreißt das Gemüth, daraus kann man nicht mit erleichterter Brust springen!“18 Ziel eines Theaterabends wäre demnach, mit „erleichtertem Gemüth“ aus dem Theater zu „springen“. Hegel wusste, wovon er sprach, denn er war ein intimer Kenner und Liebhaber der Berliner Theaterszene, leider haben seine Schüler die zahlreichen Anspielungen auf Theaterabende aus ihren Mitschriften von Hegels Ästhetik getilgt, um den Meister nicht unter Trivialitätsverdacht geraten zu lassen.19 Wenn im 18. Jahrhundert überhaupt tragische Stoffe auf die Bühne gelangten, bestand die Tendenz, den Theaterabend insgesamt dennoch als Komödie zu gestalten, d. h. wenn ein Trauerspiel oder auch nur ein Schauspiel mit tragischen Elementen auf den Spielplan gesetzt wurde, musste dies sorgsam mit komischen Werken ausbalanciert werden. Als oberste Regel war dabei zu beachten, dass der Theaterabend möglichst heiter und unbeschwert ausklingen sollte. Ein Blick 17

Antonio Planelli, Dell’opera in Musica, Neapel 1772, 72 f. Vgl. dazu auch Ursula Kramer, „Wozu muß das Stueck einen froelichen Ausgang haben?“ Zum Finalproblem im deutschen Musiktheater des späten 18.  Jahrhunderts, in: Kramer, Lieto fine (wie Anm.  4), 35 – 70. [„Dieser Übergang der Tragödie vom traurigen zum glücklichen Ende ist ein sicherer Beweis für den Fortschritt, den das menschliche Geschlecht, was Sanftheit, Kultiviertheit und Milde betrifft, gemacht hat, was immer auch unsere Misanthropen dagegen sagen mögen“ (Übersetzung B.J.)]. 18 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ueber Wallenstein, in: ders., Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe, hg. von Hermann Glockner, Bd. 20: Vermischte Schriften aus der Berliner Zeit, Stuttgart-Bad Cannstatt 31958, 456 – 458, hier 458. 19 Vgl. dazu Stephan Kraft, Zum Ende der Komödie. Eine Theoriegeschichte des Happyends, Göttingen 2011, 284 – 314.

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auf die deutschen Theaterspielpläne ab den 1750er Jahren widerlegt en passant auch die immer noch virulente These von der Dominanz der ernsten Komödie im deutschen Sprachraum, eine These, die nur entstehen konnte, weil der germanistische Dramenkanon der Aufführungspraxis substitutiert wurde.20 Es lassen sich zahlreiche berühmte Bespiele für diese Dramaturgie des Lieto Fine finden, die heute irritieren, etwa die Uraufführung von Lessings Emilia Galotti am Braunschweiger Hoftheater am 13. März 1772, der eines der damals beliebten Ballette folgte: Philemon und Baucis oder Die belohnte Tugend.21 Gelegentlich wird eine solche Antiklimax schon innerhalb einzelner Werke eingebaut. Das bekannteste Beispiel dürfte Lorenzo da Pontes/Wolfgang Amadeus Mozarts Don Giovanni darstellen, ein „Dramma giocoso“, das eben nicht mit der Höllenfahrt des Protagonisten endet, sondern mit einem, wenn man so will, komischen Nachspiel als Scena ultima, in dem die überlebenden Figuren auf dieses unerhörte Ende des Protagonisten mehr oder weniger hilflos rea­ gieren.22 Im Sinne einer solchen Dramaturgie des Lieto Fine für den gesamten Theaterabend wurden am Hamburger Stadttheater Komödien und Singspiele eingesetzt. Wurde ein Trauerspiel gegeben, was selten genug der Fall war, musste der Abend auf jeden Fall mit einer echten Komödie ausbalanciert werden. Am 2. Mai 1813 etwa wurde in Hamburg, mitten im Befreiungskampf gegen Napoleon, zunächst Joseph August von Törrings vaterländisches Trauerspiel Kaspar der Thorringer 23 gespielt, beschlossen wurde der Abend jedoch mit Goldonis Diener zweyer Herren in Schröders Bearbeitung. Auch wenn kein 20 Vgl.

Helmut Arntzen, Die ernste Komödie. Das deutsche Lustspiel von Lessing bis Kleist, München 1968; Christian Neuhuber, Das Lustspiel macht Ernst. Das Ernste in der deutschen Komödie auf dem Weg in die Moderne: von Gottsched bis Lenz, Berlin 2003 (Philologische Studien und Quellen 180). Die Konzentration der germanistischen Forschung auf ernste Stoffe wie auch das Trauerspiel sieht allzu entschieden vom Theatergeschehen und der Dramenproduktion des 18. Jahrhunderts ab. Vgl. u. a. die bibliographischen Arbeiten von Reinhart Meyer: Das deutsche Trauerspiel des 18. Jahrhunderts. Eine Bibliographie, München 1977, etwa 19 f., und Bibliographia dramatica et dramaticorum. Kommentierte Bibliographie der im ehemaligen deutschen Reichsgebiet gedruckten und gespielten Dramen des 18. Jahrhunderts nebst deren Bearbeitung und Übersetzung und ihrer Rezeption bis in die Gegenwart, Tübingen, später Berlin, New York 1986 ff. Unter den Arbeiten, denen die Vielfalt der ‚heiteren‘ Komödien des 18. Jahrhunderts auf produktive Weise in den Blick gelangt, wären zu nennen: Wolfgang Lukas, Anthropologie und Theodizee. Studien zum Moraldiskurs im deutschsprachigen Drama der Aufklärung (ca. 1730 bis 1770), Göttingen 2005; Tilman Venzl, „Itzt kommen die Soldaten“. Studien zum deutschsprachigen Militärdrama des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2019 (Das Abendland N.F. 43). 21 Der Theaterzettel ist abgebildet in: 300 Jahre Theater in Braunschweig, hg. von der Stadt Braunschweig, Braunschweig 1990, 179. 22 Zu der langen Diskussion über den Sinn der Scena ultima nach der Höllenfahrt bzw. darüber, ob es besser wäre, den Don Giovanni direkt nach der Höllenfahrtszene zu schließen, vgl. Wolfgang Hildesheimer, Mozart, Frankfurt am Main 1977, 241 – 243. 23 Zum Typus des vaterländischen Schauspiels vgl. Katharina Meinel, Für Fürst und Vater-



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Trauerspiel den Theaterabend einleitete, sondern ein Rührstück mit glücklichem Ausgang wie am 2. Juni 1795 mit Schröders Erfolgsstück Der Vetter in Lissa­bon, einem „bürgerliche[n] Familiengemählde“, war ein echtes Lustspiel als Beschluss angesagt. Denn im Vetter in Lissabon, in dem es um einen versagenden Familienvater geht, der sich gegen seine böse, verschwenderische Frau nicht durchzusetzen vermag und seine Kinder falsch erzieht,24 geht zwar dank des titelgebenden Vetters alles noch gut aus, aber der ideale Zuschauer vergießt an vielen Stellen Mitleidstränen, so dass der Abend auf jeden Fall mit einer echten Komödie abgeschlossen werden musste, und wieder ist es Goldonis Diener zweyer Her­ ren.25 Noch besser als eine Sprechtheaterkomödie eignet sich freilich ein Singspiel als Abschluss für den Theaterabend (Abb. 4). Leitete eine Komödie den Theaterabend ein wie am 11. Juli 1785, dann beschloss meist ein Singspiel den Abend, hier Der Al­ chymist, eine einaktige Operette, wie die damalige Bezeichnung

Abb. 4: Theaterzettel des Hamburger Stadttheaters vom 11. Juli 1785 (Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky)

land. Begriff und Geschichte des Münchner Nationaltheaters im späten 18. Jahrhundert, München 2003 (Studien zur Münchner Theatergeschichte 2), 257 – 279. 24 Vgl. dazu Bernhard Jahn, Unterhaltung als Metatheater. Schröders Hamburgische Dramaturgie am Beispiel seiner „Originaldramen“, in: ders., Alexander Košenina (Hg.), Friedrich Ludwig Schröders Hamburgische Dramaturgie, Bern 2017 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik N. F. 31), 17 – 33, hier 27 f. 25 Zur Goldoni-Rezeption am Hamburger Stadttheater vgl. demnächst: Bernhard Jahn, Italienische Komödien am Hamburger Stadttheater im 18. Jahrhundert, in: Dirk Niefanger, Maurizio Pirro (Hg.), Komödie im 18. Jahrhundert.

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auf dem Theaterzettel lautet, von August Gottlieb Meister mit der Musik von Joseph Schuster.26 War ein Singspiel demnach in der Lage, das ohnehin schon heitere Komödienende nochmals zu steigern? Oder allgemeiner gefragt: Warum eignen sich gerade Singspiele so gut als Beschluss eines Theaterabends? Friedrich Ludwig Schmidt, Schauspieler und Regisseur am Hamburger Stadttheater, der auch zeitweise seine Leitung innehatte, bemerkte rückblickend zur erfolglosen Uraufführung von Louis Spohrs erster Oper Der Zweikampf mit der Geliebten 1812: [D]‌ie neuen Opern schlugen nicht zündend ein; leider versagte auch Spohrs „Zweikampf mit der Geliebten“. Die Musik hatte für die damaligen, nur erst an leichteste Musik gewöhnten Hörer einen zu vornehmen Charakter; man merkte: der Componist habe sich ein hohes Ziel gesteckt; man bewunderte das reiche Orchester (ein wahres Gewühl von Tönen) aber man vermißte die Melodie. Keine Nummer hing sich in’s Ohr; man konnte keine Arie, so zu sagen‚ „mit nach Hause nehmen“. Solche Arien aber müssen eigentlich in jedem Tonwerke vorhanden sein, wenn es sich auf der Bühne halten soll.27

Schmidts Forderung an das Singspiel, die Zuschauer müssten eine Arie ‚mit nach Hause nehmen‘ können, steigert oder spezifiziert Hegels Forderung, mit erleichterter Brust aus dem Theater springen zu können, und mündet bei Schmidt, immerhin noch 1812, in ein Plädoyer für Singspiele à la Hiller. Die These, dass der Theaterabend mit einem Lieto Fine zu schließen habe und dass eine solche Schlusswirkung am besten durch ein Singspiel erreicht werde, ließe sich anhand zahlreicher Beispiele belegen. Es gibt allerdings auch Gegenbeispiele. Gerade die großen Tragödien König Lear, Hamlet, Wallensteins Tod gelangten ab den 1770er Jahren jeweils als Einzelwerke in Hamburg und Weimar auf die Bühne. Bei Lessings Emilia Galotti lässt sich ab 1780 ein Wandel feststellen: Gab es vorher noch Ballette als Nachspiel, so wurde das Trauerspiel seit den 1780er Jahren meist ohne heitere Nachspiele präsentiert. Für Schillers am 20. März 1786 erstmals in Hamburg aufgeführtes Trauerspiel Kabale und Liebe gilt dies dann von Anfang an. Neben die Tendenz, den Theaterabend als Lieto Fine zu gestalten, tritt also auch schon, wenngleich statistisch ungleich weniger ins Gewicht fallend, die Tendenz, reine Tragödienabende zu schaffen. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass vor allem bei Shakespeare-Tragödien die Dosis des Tragischen in den Tragödien stark reduziert wird: Nicht nur in Bendas Oper,28 sondern auch 26 Zum

Alchymist vgl. Adrian Kuhl, „Allersorgfältigste Ueberlegung“. Nord- und mitteldeutsche Singspiele in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Beeskow 2015 (Ortus-Studien 17), passim. 27 Friedrich Ludwig Schmidt, Denkwürdigkeiten des Schauspielers, Schauspieldichters und Schauspieldirectors Friedrich Ludwig Schmidt (1772 – 1841). Nach hinterlassenen Entwürfen zusammengestellt und herausgegeben von Hermann Uhde, 2 Bde., Hamburg 1875, Bd. 2, 22 f. 28 Friedrich Wilhelm Gotter, Romeo und Julie. Ein Schauspiel mit Gesang in drey Aufzü-



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in den in Hamburg aufgeführten Sprechtheaterfassungen heiraten Romeo und Julia am Ende, und auch König Lear und seine Tochter Cordelia sterben nicht.29 III. Besetzungsthese Zwar trifft es prinzipiell zu, dass Schauspielerinnen und Schauspieler im 18. Jahrhundert eine sängerische Ausbildung oder zumindest sängerische Fähigkeiten besitzen mussten, wie auch umgekehrt von Sängerinnen und Sängern deklamatorische Fähigkeiten verlangt wurden. Dennoch lässt sich, gerade bei den Hauptpartien, eine Differenzierung der Fächer feststellen.30 Berühmte Schauspieler wie Friedrich Ludwig Schröder traten nicht als Sänger in Erscheinung. Schröder war allerdings ausgebildeter Tänzer und tanzte in seiner Jugend und noch als junger Mann in zahlreichen Balletten.31 Die Hauptpartien eines Sprechtheaterstückes und die eines Singspiels wurden in der Regel an großen Bühnen wie Hamburg durch verschiedene Interpreten verkörpert. Für das Ensemble bedeutete dies, dass, wenn der Abend aus nur einem Werk, etwa einem Trauerspiel, bestand, derjenige Teil des Schauspielerensembles, der auf das Musiktheater spezialisiert war, nicht zum Zuge kam. Bei einem gemischten Theaterabend jedoch konnte das ganze Ensemble eingesetzt werden. Betrachtet man den Theaterzettel für die Aufführungen am 6.  Juni 1787 (Abb. 5, folgende Seite), so wurde mit Schröders Vetter in Lissabon als Hauptstück zunächst ein ernstes Schauspiel gegeben, das nur durch eine deus ex machina-artige Wendung am Schluss die Tragödie vermeidet. Das „bürgerliche Familiengemählde“ enthält keinerlei Gesangsnummern, es gibt, mit Betzwieser gesprochen,32 keinerlei drameninhärente Musik. Ein Blick auf die Besetzungsliste33 ergibt, dass die beiden Paraderollen des Stückes, der schwache Familiengen, Leipzig 1779; zu den Romeo und Julia-Adaptationen vgl. Thomas Bauman, Opera versus Drama: Romeo and Juliet in Eighteenth-Century Germany, in: Eighteenth-Century Studies 11/12 (1977/78), 186 – 203. 29 Zu Schröders König Lear-Bearbeitung vgl. Martin Jörg Schäfer, Schröders und Bocks King Lear-Bühnenadaptionen der 1770er. Eschenburgs Kommentar als dramatischer Baukasten, in: Jahn, Maurer Zenck, Bühne und Bürgertum (wie Anm. 6), 517 – 539. 30 Zur Differenzierung durch Rollenfächer vgl. Anke Detken, Anja Schonlau (Hg.), Rollenfach und Drama. Europäische Theaterkonventionen im Text, Tübingen 2014 (Forum modernes Theater 42). 31 Wie wichtig die Tänzerausbildung für Schauspieler im 18. Jahrhundert war, zeigt das Beispiel Ifflands, vgl. Laura Bettag, Der Tanzmeister als Schauspiellehrer. Ifflands Bericht über Charles Hubert Mereau, in: Thomas Wortmann (Hg.), Mannheimer Anfänge. Beiträge zu den Gründungsjahren des Nationaltheaters Mannheim 1777 – 1820, Göttingen 2017, 151 – 168. 32 Betzwieser, Sprechen und Singen (wie Anm. 1), 117. 33 Einen schnellen und guten Zugriff auf die Biographien der Schauspielerinnen/Sängerinnen und Schauspieler/Sänger des Hamburger Stadttheaters bietet sich über Martin Schneider,

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vater Wagner sowie sein Freund Sievers, der sich dann als der Vetter in Lissabon herausstellen wird, von Schauspielern verkörpert werden, die eher oder sogar ausschließlich im Sprechtheater eingesetzt wurden: Franz Anton Zuccarini und Friedrich Ludwig Schröder. Das zweite Stück des Abends, der Singspieleinakter Lukas und Hannchen, eine der vielen An­ nette et Lubin-Varianten,34 hier in der Vertonung des Celler Stadtorganisten Johann Friedrich Gottlieb Beckmann auf einen Text von Johann Joachim Eschenburg, weist vier Rollen auf, die allesamt mit Interpreten besetzt werden, die im Hauptstück des Abends nicht auftreten. Gottfried Eule, Johanna Langerhans und Minna Brandes wurden sowohl als Schauspieler/innen wie als Sänger/innen eingesetzt, übernahmen aber eher Gesangsrollen. Johanna Langerhans war 1787 achtzehn Jahre alt und gerade erst für die Spielzeit 1786 engagiert worden, Minna BranAbb. 5: Theaterzettel des Hamburger Stadttheaters des trat in den anspruchsvolleren vom 6. Juni 1787 (Staats- und Universitätsbiblio- Sopranpartien auf, sie sang z. B. thek Hamburg Carl von Ossietzky) die Konstanze in Mozarts Ent­ führung aus dem Serail im selben Jahr. Erst durch die Aufführung des Singspieleinakters kann am 6.  Juni 1787 das ganze Ensemble des Hamburger Stadttheaters auf der Bühne seine Künste präsentieren. Der Hamburger Theaterskandal von 1801. Eine Quellendokumentation zur politischen Ästhetik des Theaters um 1800, Frankfurt am Main u. a. 2017 (Hamburger Beiträge zur Germanistik 57), 321 – 330. 34 Die bekannteste Bearbeitung im deutschen Sprachraum stellt Christian Felix Weißes Die Liebe auf dem Lande mit der Musik von Johann Adam Hiller dar (1768).



Zur Dramaturgie des Theaterabends im 18. Jahrhundert 29

Wurde der Theaterabend mit e­inem einzigen Sprechtheaterwerk bestritten (Abb. 6), wie am 8. Juni 1787 mit einer Aufführung von Lessings Emilia Galotti, dann traten die auf das Musiktheater spezialisierten Darstellerinnen Minna Brandes und Johanna Langerhans gar nicht auf, und die Männer, Herr Normann und Herr Eule, bekleideten winzige Nebenrollen. In der darauffolgenden Vorstellung – am 11. Juni 1787 gab es Carl von Dittersdorfs Singspiel Der Apotheker und der Doktor – erschienen die beiden Sängerinnen wieder auf der Bühne und die Hauptdarsteller des Sprechtheaters pausierten. Ausnahmen von dieser Besetzungsregel, die besagt, dass alle Mitglieder des Schauspieler­ e nsembles möglichst gleichmäßig eingesetzt werden müssen, gibt es kaum. IV. Varianzthese Die Besetzungsthese führt aufgrund ihrer Auswirkungen auf die Gestaltung des Theaterabends wie von selbst zur vierten These, die die Thesen 2 und 3 potenziert: Es handelt sich um die These der maximalen Varianz, die ein Theaterabend im Abb. 6: Theaterzettel des Hamburger 18. Jahrhundert aufweisen sollte. Stadttheaters vom 8. Juni 1787 (StaatsFür die Jahrzehnte um 1800 lässt sich und Universitäts­ bibliothek Hamburg eine Dominanz der kleineren Formen auf Carl von Ossietzky) den Theatern konstatieren. Der ungeheure Bedarf an Einaktern an deutschen Theatern ab den 1770er Jahren, der nur durch einen massiven Adaptationstransfer französischer und italienischer Werke zu stillen war, lässt sich mit dem Wunsch erklären, den Theaterabend möglichst ­variabel zu gestalten. Das führte in Hamburg besonders in den Jahren nach 1800 zu typischen Theaterabenden wie dem am 22. Dezember 1805 (vgl. Abb. 3). An diesem Abend wurden vier Einakter gegeben: Kotzebues Schauspiel Das ver­ lohrne Kind35 entfaltet eine eher ernste Thematik, es greift die biblische Para35 Vgl.

Jan Roidner, „Das verlohrne Kind“, in: Johannes Birgfeld, Julia Bohnengel, Alexander Košenina (Hg.), Kotzebues Dramen. Ein Lexikon, Hannover 2011, 235 – 237.

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bel vom verlorenen Sohn auf, wir finden davor zwei Lustspieleinakter von Kotzebue und Theodor Hell (i. e. Karl Gottfried Theodor Winkler) und mit Wallensteins Lager ein revueartiges Ausstattungsstück als bühnenwirksamen Beschluss. In solche Einakter-Programme konnten auch Singspiele integriert werden, wie etwa am 24. Januar 1806 (Abb. 7). An diesem Abend kam mit Peter von Winters Der Bettelstudent oder Das Donnerwetter, wie der normierte Titel von Der Reisende Student lautet, eines der populären Singspiele zum Zuge. Im Rahmen dieser um 1800 besonders beliebten gemischten Theaterabende wurden viele Lustspiele stark gekürzt, damit sie in diese Dramaturgie eines solchen Theaterabends eingefügt werden konnten. So kürzte etwa Friedrich Ludwig Schröder Carlo Goldonis Il servitore di due pa­ droni um über die Hälfte, und in dieser gekürzten Fassung, die immer noch als Reclam-Heft erhältlich ist,36 wurde das Stück zu einer der Abb. 7: Theaterzettel des Hamburger Stadttheerfolgreichsten Goldoni-Komödien aters vom 24. Januar 1806 (Staats- und Univerweit über Hamburg hinaus. sitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky) Bei Trauerspielen und Tragödien war es wohl schwerer, die Handlung zu komprimieren. Es gab auch kaum Trauerspieleinakter.37 Die Entfaltung der tragischen Wirkung benötigte Zeit, so dass Trauerspiele eher als abendfüllende Einzelwerke gegeben wurden. Die hier skizzierte These kann an neuere theaterwissenschaftliche Überlegungen zur Dramaturgie des Theaterabends im 18. und frühen 19. Jahrhundert 36 Carlo

Goldoni, Der Diener zweier Herren. Nach der deutschen Bearbeitung von Friedrich Ludwig Schröder, hg. von Otto C. A. zur Nedden, Stuttgart 2003. 37 Die wenigen Ausnahmen, etwa Lessings Philotas, waren auf dem Theater nicht sehr erfolgreich. Philotas wurde am Hamburger Stadttheater zwischen 1770 und 1850 dreimal gegeben, Minna von Barnhelm 57-mal.



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anschließen, die vor allem von Hans-Peter Bayerdörfer38 und Bettina BrandlRisi39 ausgehen. Sie behaupten für den Theaterabend eine Diversität, die noch nicht das Kriterium einer Einheit von Werk und Theaterabend kennt.40 Anstelle eines dramatischen Flusses, der durch die Aufführung eines einzigen Dramas entstehe, finde sich das Prinzip der Diversität und Variabilität, das vor allem durch einaktige Formen erzeugt wurde.41 Diesem Prinzip der gewollten Zusammenhanglosigkeit trete aber, so eine These von Erika Fischer-Lichte, im 18. Jahrhundert ein „Programm der Kohärenzbildung“ an die Seite.42 Allerdings kann sich dieses Programm der Kohärenzbildung im 18. Jahrhundert noch nicht durchsetzen, wäre gegen Fischer-Lichte angesichts der oben beschriebenen Situation einzuwenden. Oder präziser formuliert: Es kann sich zumindest an all jenen Theatern nicht durchsetzen – ganz gleich ob es Stadttheater wie Hamburg oder Hoftheater wie Weimar sind –, die einen theatralen Alleinvertretungsanspruch für eine Stadt oder Region behaupten müssen und noch nicht in Sparten aufgeteilt sind. Es steht also zu vermuten, dass in den großen Städten wie Paris, London oder Wien eine Homogenisierung des Programms schon früher auftritt, weil diese Städte schon früh je eigene Theater für die diversen Musikund Sprechtheatergenres aufweisen. Dies wäre aber noch zu prüfen. Allerdings stimmt an der These von der sich im Verlaufe des 18. Jahrhunderts herausbildenden Kohärenz des Theaterabends auch der damit verbundene Entwicklungsgedanke skeptisch. Betrachtet man das Programm der Hamburger Gänsemarktoper in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf das Kohärenzparadigma hin,43 wird man schnell feststellen, dass in den Jahrzehnten um 1700 mehr Kohärenz herrschte als in den Jahrzehnten um 1800. Wir finden ein reines Musiktheater ohne gesprochene Partien; die Ballette und komischen Szenen werden in die Opern integriert, auch wenn das manchmal ein wenig fadenscheinig wirkt, wie etwa im Falle der Schornsteinfeger-Szene, die in Johann Mat38 Hans-Peter

Bayerdörfer, Einakter mit Hilfe des Würfels? Zur Theatergeschichte der Klei­ nen Formen seit dem 18. Jahrhundert, in: Winfried Herget, Brigitte Schultze (Hg.), Kurzformen des Dramas. Gattungspoetische, epochenspezifische und funktionale Horizonte, Tübingen 1996 (Mainzer Forschungen zu Drama und Theater 16), 31 – 57. 39 Bettina Brandl-Risi, Dramaturgien der Unterbrechung und der Diversität: Tableaux, Intermezzi, Nachspiele, in: Peter W. Marx (Hg.), Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart 2012, 151 – 157. 40 Bayerdörfer, Einakter (wie Anm. 38) 35 – 37. 41 Brandl-Risi, Dramaturgien (wie Anm. 39), 151 – 153. 42 Erika Fischer-Lichte, Vom zerstreuten zum umfassenden Blick: Das ästhetische und zivilisatorische Programm in den Vorspielen der Neuberin, in: Herget, Schultze, Kurzformen des Dramas (wie Anm. 38), 59 – 86, hier 84. 43 Der Spielplan, soweit er sich aus der Tagespresse rekonstruieren lässt, findet sich in Hans Joachim Marx, Dorothea Schröder, Die Hamburger Gänsemarkt-Oper. Katalog der Textbücher, Laaber 1995, 469 – 507.

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thesons ansonsten ‚ägyptische‘ Oper Cleopatra eingebaut wurde.44 Intermezzi wurden in Hamburg erst ab den 1720er Jahren zwischen die Akte der ernsten Opern eingefügt. Aber wie dem auch sei: Die Dramaturgie eines aus mehreren Stücken bestehenden Theaterabends, wie sie in den Jahrzehnten um 1800 vorherrschte, zeitigte vermutlich Rückkoppelungseffekte bei den einzelnen Gattungen, die miteinander kombiniert wurden und die von der Forschung noch näher zu untersuchen wären. So sind etwa, wie oben skizziert, Singspiele für das Lieto Fine und die Affektbalance des Theaterabends insgesamt von eminenter Bedeutung. Die spezifischen Merkmale von Singspielen, beispielsweise die ihnen inhärente Kombination von Sprech- und Musiktheater, ihre komische Grundstimmung, die Dominanz der Liebesthematik, die Verwendung eingängiger Melodien usw., all dies sind Eigenschaften, die sie im Rahmen eines mehrteiligen Theaterabends zu wichtigen Bausteinen werden lassen, nicht nur weil sie das Mischungsprinzip des Theaterabends schon in sich verkörpern, sondern gerade auch wenn es um den heiteren Ausklang des Abends geht: Sie bilden den idealen Schluss eines Theaterabends, nach dem die Zuschauer – um noch einmal Hegel zu bemühen – mit „erleichtertem Gemüth“ nach Hause „springen“ können. Der vorliegende Beitrag geht von dem Befund aus, dass sich ein Theaterabend im 18. Jahrhundert meist aus mehreren Stücken zusammensetzte und diskutiert dann vier Thesen, die diese Zusammensetzung beschreiben und erklären können: Die Kohärenz­ these, nach der die an einem Abend gespielten Stücke inhaltlich zusammenhängen müssen; die These von der Notwendigkeit, den Theaterabend insgesamt mit einem Lieto Fine zu beschließen; die Besetzungsthese, nach der möglichst alle Mitglieder eines Ensembles an einem Abend auftreten müssen; und schließlich die These von der maximalen Varianz des darzubietenden Programms. A theater evening in the 18th century usually consisted of several plays being performed one after the other. The present article discusses four theses, each of which is able to describe and explain this arrangement: the coherence thesis, according to which the plays performed on one evening should be related content-wise; the thesis of the im­ perative to conclude the evening as a whole with a lieto fine; the cast thesis, demanding that ideally all members of an ensemble should be included in the theatrical action of an evening; and, finally, the thesis that the program should include plays of the widest possible variety. Prof. Dr. Bernhard Jahn, Universität Hamburg, Fakultät für Geisteswissenschaften, Fachbereich Sprache, Literatur, Medien I, Institut für Germanistik, Überseering 35, Postfach #15, D-22297 Hamburg, E-Mail: [email protected] 44 Es

handelt sich um die Szene II,2 aus Friedrich Christian Feustking, Johann Mattheson, Die betrogene Staats-Liebe/ Oder Die Unglückselige Cleopatra Königin von Egypten, Hamburg 1704. Vgl. Marx, Schröder, Die Hamburger Gänsemarktoper (wie Anm. 43), 85.

Jörg Krämer Der Abdruck der Musik im Text Überlegungen zum Status von Melodramen-Libretti des 18. Jahrhunderts am Beispiel von Medea (Gotter/Benda)

Gedruckte Textbücher von Werken des Musiktheaters konnten im 18. Jahrhundert sehr verschiedene Funktionen erfüllen: Sie konnten dem Publikum während einer Aufführung als Verständnishilfe, zum Mitlesen oder in der Funktion eines heutigen Programmheftes dienen, nach dem Aufführungsbesuch als Erinnerung, zum Nachlesen oder zur Dokumentation, seltener vielleicht auch bereits zuvor zur Vorbereitung oder Einstimmung auf den Aufführungsbesuch.1 Der Textdichter, das Theater als Institution (etwa ein Hoftheater in der überregionalen Konkurrenz mit anderen Bühnen) oder der Theaterträger (zum Beispiel der Prinzipal einer Wanderbühne)2 konnte sie auch zur Repräsentation und zur Mehrung des eigenen ‚symbolischen Kapitals‘ oder zur kulturellen Speicherung benutzen. In der Theaterpraxis wurden sie zudem bis ins 19. Jahrhundert hinein oft als Souffleur-‍ , Inspizienten- oder als Regiebuch3 verwendet oder dienten zum Einstudieren des Textes. Gedruckte Libretti konnten auch von anderen Theatern als Grundlage für Aufführungen oder Neuvertonungen hergenommen werden, da es kaum wirkungsvolle Schutzmöglichkeiten von Urheberrechten gab. Für den Textdichter stellten sie dennoch – zumindest am eigenen Wirkungsort – meist einen willkommenen Zusatzverdienst dar. Die häufigste Publikationsform war im 18.  Jahrhundert der aufführungsbezogene, lokale Einzeldruck eines Librettos, der bei den Aufführungen des 1

Theaterzettel, das wichtigste Werbemedium des 18. Jahrhunderts, vermerkten in der Regel, wo es das Libretto zu kaufen gab. Damit bestand oft die Möglichkeit, es auch vorab zu erwerben. 2 Der Druck des Medea-Librettos aus Neuwied (siehe Anhang II.16) enthält eine WidmungsVorrede des Prinzipals Karl August Dobler an den Erzbischof und Kurfürsten von Trier, in der er sich für dessen „höchste Gnade und Schuz“ bedankt und implizit um weitere Unterstützung bittet. 3 Vgl. Jörg Krämer, Perspektiven der Erforschung von Musiktheater-Regiebüchern. Skizziert am Beispiel von Regiebüchern des Stadttheaters Nürnberg, 1800 bis 1918, in: Martin Schneider (Hg.), Das Regiebuch. Zur Lesbarkeit theatraler Produktionsprozesse in Geschichte und Gegenwart, Göttingen 2021, 201 – 232, hier 204.

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Werks an einem Ort verkauft wurde; in den Titeln sind manchmal (vor allem bei Hoftheatern) Datum, eventuell auch Anlass der Aufführung vermerkt, beim Personenverzeichnis werden gelegentlich die Namen der Sänger des jeweiligen Abends abgedruckt. Bei stehenden Theatern wie Hoftheatern ließ der jeweilige Theaterdichter die Bücher bei einem der örtlichen Buchdrucker herstellen, und zwar in der Regel möglichst kurz vor der Aufführung, um noch auf eventuelle, theaterpraktisch bedingte Veränderungen reagieren zu können. Die Wanderbühnen brachten entweder gedruckte Exemplare mit oder ließen eine Druckvorlage beim lokalen Buchdrucker aktuell nachdrucken. Die direkte Bindung an die jeweilige Aufführung hatte zur Folge, dass sich verschiedene Librettodrucke eines Stücks mitunter erheblich unterscheiden, je nach der konkreten Aufführungssituation der lokalen Adaptation des Stücks, die zum Beispiel von unterschiedlichen Zensurbestimmungen, Aufführungskontexten, Werkkombinationen, Sängerbesetzungen, sprachlichen oder dialektalen Unterschieden bestimmt sein konnte. Neben diese Einzeldrucke von Libretti in geringer Auflage traten nach etwa 1770 zunehmend weitere Publikationstypen: Buchhandelsausgaben erfolgreicher Libretti,4 die Aufnahme von Libretti in überregional vertriebene Buchreihen (wie das Theater der Deutschen) oder in Sammel- oder autorbezogene Werkausgaben.5 Gelegentlich erschienen kürzere Libretti auch in Zeitschriftenabdrucken.6 Auch wenn diese Publikationsformen primär wohl andere Ziele hatten,7 war insgesamt die wichtigste Funktion eines Librettodrucks zweifellos die Verständnissicherung durch das Mitlesen bei der Aufführung im (nicht verdunkelten) Zuschauerraum. Davon zeugt ein spezieller Texttyp, den es nur im Musiktheater bis ins späte 19. Jahrhundert hinein gab: Textdrucke, die nicht den gesamten Text, sondern nur die vertonten Teile enthielten.8 Bei den gesprochenen Dialog-Teilen (solche ersetzten in der Opernpraxis oft Rezitative) war das Mitlesen nicht nötig, da man sie problemlos verstand; auf sie konnte also im Druck verzichtet werden – derartige, unvollständige Ausgaben waren damit jedoch außerhalb der Aufführungssituation unbrauchbar. Schließlich signalisiert der meist sehr einfache, kleinformatige (Oktav-Format), schmucklose, oft fehlerhafte und schnell produzierte Druck vieler Libretto-Einzelausgaben ihre 4 Den

Wunsch des Publikums, beliebte Libretti unabhängig von einer Aufführung im Buchhandel zu erwerben, beschreibt der Verleger Morgensäuler in der Vorbemerkung zu seiner Sammelausgabe von 1791 (s. Anhang I.5, [3]). 5 Im deutschsprachigen Bereich etwa von Christian Felix Weiße, Friedrich Wilhelm Gotter, Johann Gottlieb Stephanie d. J., Christoph Friedrich Bretzner, Johann Wolfgang von Goethe, August von Kotzebue. 6 Wolfgang Schimpf, Lyrisches Theater. Das Melodrama des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1988 (Palaestra 282), 38. 7 Eine mögliche Funktion nennt Schimpf (ebd.): „Die Adressaten dieser Veröffentlichungen waren in erster Linie potentielle Komponisten“. 8 Meist bereits im Drucktitel erkennbar, nach dem Muster „Arien und Gesänge aus […]“.



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Funktion als billige Gebrauchs- und Wegwerfartikel, was auch den insgesamt geringen Überlieferungsbestand dieser Texte erklärt, die meist nicht als aufbewahrenswert eingestuft wurden. Die Primärfunktion der Verständnissicherung wird bereits in zeitgenössischen Texten thematisiert. So bestimmte etwa Christian August Vulpius, einer der fleißigsten Übersetzer und Bearbeiter von Opern- und Singspiel-Libretti, 1793 (wohlgemerkt in der Vorrede eines Sammeldrucks) die Funktion der Textdrucke von Libretti: […] sie sind bloß da, damit man sie als Opernbücher zum Nachlesen im Schauspielhause gebrauchen kann. Dieses ist der richtige Gesichtspunkt aus welchem man die Erscheinung dieser Produkte betrachten muß.9

Noch 1818 mokierte sich E. T. A. Hoffmann ironisch über die Störung von Opernaufführungen durch die mitlesenden Zuschauer, die immer gleichzeitig laut „die Blätter der Opernbücher umwenden, welches Geräusch der Brandung des Meeres zu vergleichen“.10 Diese aufführungsbezogene Funktion vor allem der Einzeldrucke von Libretti führt nun dazu, dass verschiedene Librettodrucke ein- und desselben Werks nur in seltensten Fällen einen identischen Text präsentieren. Im Gegenteil ist es im 18. Jahrhundert der Normalfall, dass sich Librettodrucke im Text, in den Nebentexten und in den Paratexten unterscheiden. Zudem stimmen die Librettodrucke auch nur selten vollständig mit dem gesungenen oder gesprochenen Text in der zugehörigen Partitur bzw. in den Klavierauszügen überein. Die Unterschiede sind mitunter so erheblich, dass sich die Frage stellt: Was für einen Text bieten Librettodrucke eigentlich? Und wovon reden wir heute in der Forschung, wenn wir von „dem Text“ eines Musiktheater-Werks des 18. Jahrhunderts sprechen? Die Opernforschung hat sich (abgesehen von der musikwissenschaftlichen Editorik)11 9 Christian

August Vulpius, Vorrede, in: Opern aus verschiedenen Sprachen übersetzt, und für die deutsche Bühne neubearbeitet von Vulpius, Bd. 1, Leipzig 1794, *3 f. 10 E. T. A. Hoffmann, Einige Bemerkungen zu den Worten, die der Königl. Kammersänger Hr. Fischer […] zum Publikum ausgesprochen hat [1818], in: ders., Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 3, hg. von Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen, Frankfurt am Main 1985, 521 – 526, hier 522. 11 Vgl. bes. Thomas Betzwieser, Text, Bild, Musik: die multimediale Überlieferung des Melodrams ‚Lenardo und Blandine‘ (1779). Eine Herausforderung für die Editionspraxis, in: editio 25 (2011), 74 – 100; Esbjörn Nyström, Wann gehören Partiturtexte zum ‚Werkganzen‘ eines Opernlibrettos?, in: editio  26 (2012), 108 – 122; Janine Droese u. a., Musik – Theater – Text. Grundfragen der Musiktheaterphilologie im Spiegel der OPERA-Hybridausgaben, in: editio 27 (2013), 72 – 95; Thomas Betzwieser, Norbert Dubowy, Andreas Münzmay (Hg.), Perspektiven der Edition musikdramatischer Texte, Beihefte zu editio 43 (2017). Auch Dörte Schmidt, Medea lesen. Dramatische Form zwischen Text und Musik, in: Bettine Menke, Armin Schäfer, Daniel Eschkötter (Hg.), Das Melodram, ein Medienbastard, Berlin 2013 (Recherchen 98), 51 – 74 hat das Problem erkannt, ordnet ihre Quellentexte aber teilweise falsch zu.

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bisher wenig um die materielle Seite12 der Libretti gekümmert; vor allem in der Literaturwissenschaft versteht man unter „Libretto“ meist einen abstrakten Text im Sinne eines „Werks“, ohne zu fragen, woher dieser denn jeweils konkret stammt und was für ein Status ihm zukommt. I. Ich will diesen Fragen am Beispiel eines der erfolgreichsten Werke des deutschsprachigen Musiktheaters im späten 18. Jahrhundert nachgehen, der Medea von Friedrich Wilhelm Gotter (1746 – 1797) und Georg Anton (Jiří Antonín) Benda (1722 – 1795). Als Pionier- und Musterwerk der Gattung Melodram im deutschen Raum repräsentiert dieses Werk eine spezifische musiktheatrale Sonderform; doch durch seine große Verbreitung kann man die Problemstellungen im Bereich der Textbuchdrucke an ihm besonders gut und repräsentativ (auch für andere Bereiche des zeitgenössischen Musiktheaters) studieren. Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts entwickelte sich im deutschsprachigen Theater eine charakteristische Sondergattung: das Melodram als Kombination von gesprochenem Schauspiel und Orchesterbegleitung.13 Von 1775 bis etwa 1790 waren die Melodramen im deutschsprachigen Raum äußerst populäre und überall vielgespielte Erfolgsstücke, auf Hoftheatern ebenso wie bei Wanderbühnen oder Liebhabertheatern. Von Melodramentexten existieren daher zahlreiche Einzeldrucke, was selbstverständlicher klingt, als es eigentlich ist. Denn der Besuch eines Melodrams hätte eigentlich kein Mitlesen in der Aufführung erfordert: Da sich in den allgemein als vorbildhaft empfundenen Pionierwerken von Benda (Ariadne auf Naxos und Medea, beide 1775) Musik und gesprochener, unbegleiteter Text bis auf wenige punktuelle Ausnahmen stets abwechseln, existierte hier eigentlich kein Verständnisproblem. Dies gilt auch für die weni12

Generell zur Vernachlässigung der materiellen Basis von Musiktheater-Noten und -Texten vgl. Cristina Urchueguía, Allerliebste Ungeheuer. Das deutsche komische Singspiel 1760 – 1790, Frankfurt am Main 2015, 99 – 133. 13 Zum Melodram vgl. Schimpf, Lyrisches Theater (wie Anm. 6); Monika Schwarz-Danuser, [Art.] „Melodram“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl., hg. von Ludwig Finscher, Sachteil, Bd.  6, Kassel u. a. 1997, Sp.  67 – 99; Jörg Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert: Typologie, Dramaturgie und Anthropologie einer populären Gattung, Bd. 1, Tübingen 1998 (Studien zur deutschen Literatur 149), 293 – 353; Volker Corsten, Von heißen Tränen und großen Gefühlen. Funktionen des Melodramas im ‚gereinigten‘ Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1999 (Europäische Hochschulschriften Deutsche Sprache und Literatur 1727); Ulrich Kühn, Sprech-Ton-Kunst. Musikalisches Sprechen und Formen des Melodrams im Schauspiel- und Musiktheater (1770 – 1933), Tübingen 2001 (Theatron  35), bes.  123 – 140; Jacqueline Waeber, En musique dans le texte. Le mélodrame de Rousseau à Schoen­berg, Paris 2005, bes. 51 f.; Menke u. a. (Hg.), Das Melodram (wie Anm. 11); Urchueguía, Allerliebste Ungeheuer (wie Anm. 12), bes. 263 – 266.



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gen Höhepunkt-Stellen, an denen Musik gleichzeitig zum Text erklingt; an diesen sogenannten „Parakataloge“-Stellen14 sorgte Benda dafür, dass die Musik die Textverständlichkeit nicht gefährdete. Dass für Melodramen-Aufführungen dennoch aufführungsbezogene Einzeldrucke hergestellt und gekauft wurden, lässt erkennen, dass das Publikum der Zeit die dramatische Zwitterform15 der Melodramen nicht als Schauspiel mit Musikbegleitung, sondern als Musiktheater analog zu Oper und Singspiel auffasste – obwohl nicht gesungen wurde und auf der Bühne berühmte Schauspieler‍ (innen), keine Sänger‍ (innen) standen. Auch wenn die Melodramen als Einakter wegen ihrer Kürze in der Aufführungspraxis der Zeit oft mit Komödien oder anderen Werken aus dem Schauspielbereich verbunden wurden,16 setzte man einen Melodramen-Besuch offensichtlich einem Opernbesuch gleich, und dazu gehörte offenbar im Verständnis der Zeit Erwerb und Lektüre eines Librettodruckes. Bei Librettodrucken von Opern und Singspielen hatten sich im 18. Jahrhundert bestimmte typographische Konventionen ausgebildet, mit denen etwa Arientexte im Druckbild von Rezitativtexten oder Dialogen abgesetzt wurden oder mit denen das gleichzeitige Singen in Duetten und Ensembles angedeutet wurde. Für die Melodramen-Textdrucke waren diese Konventionen aber kaum brauchbar, da im Melodram des 18. Jahrhunderts das Zusammenwirken von Musik und Text grundsätzlich anderer Art war als im Singspiel oder der Oper. Die Drucke von Melodramen-Texten orientierten sich zwar im Format und in der äußeren Gestaltung an Librettodrucken aus Oper und Singspiel; sie standen aber nun vor dem Problem, wie man das neu- und eigenartige, gattungskonstitutive mediale Wechselspiel von Text und Musik im Druck abbilden konnte. II. Die Basis der folgenden Überlegungen bildet ein Corpus von 20 erhaltenen Einzel- oder Sammeldrucken des Medea-Textes aus den Jahren von 1775 bis 1806. Sie verteilen sich geographisch von Odense und Flensburg bis Wien, von Karlsruhe bis Königsberg und repräsentieren Aufführungen an Hoftheatern ebenso wie auf Wanderbühnen, enthalten aber auch nicht-aufführungsbezogene Drucke (siehe Verzeichnis im Anhang). Bis auf vier weitere Drucke, die ich nicht einse14 Zum

Begriff der ‚Parakataloge‘ vgl. Dirk Richerdt, Studien zum Wort-Ton-Verhältnis im deutschen Bühnenmelodram. Darstellung seiner Geschichte von 1770 bis 1820, Diss. Bonn 1986, 14 sowie Corsten, Von heißen Tränen (wie Anm. 13), 94 f. 15 „Das musikbegleitete Sprechen, welche das Melodram auszeichnet, lag auf der Schnittstelle von Schauspiel und Oper, ja es setzt diese Schnittstelle geradezu demonstrativ in Szene“ (Betzwieser, Text, Bild, Musik [wie Anm. 11], 74). 16 Vgl. den Beitrag von Bernhard Jahn in diesem Band.

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hen konnte,17 sind bislang keine weiteren Ausgaben nachweisbar. (Handschriften und Übersetzungen wurden nicht berücksichtigt.) Die Anzahl von 20 verschiedenen Drucken mag auf den ersten Blick hoch erscheinen, doch ist sie in Wirklichkeit angesichts der enormen Aufführungszahlen dieses Werks18 verschwindend gering. Auch wenn man berücksichtigt, dass nicht zu jeder Aufführung gedruckte Textbücher angeboten wurden, müssten dennoch sehr viel mehr Textdrucke erhalten sein – wenn man derartige Libretti nicht lange Zeit als kurzlebige Gebrauchstexte eingestuft hätte. Dennoch bieten die 20 erhaltenen Textdrucke eine genügend breite Basis, um Probleme des Textbuchdrucks im Musiktheater des 18. Jahrhunderts zu beschreiben. Die 20 hier untersuchten Texte weisen im Detail eine Vielzahl von Unterschieden in typographischer, orthographischer, lexematischer oder dialektaler Hinsicht auf. Darüber hinaus zeigt sich eine kategoriale Differenz, die es nahelegt, die Drucke grundlegend in zwei (etwa gleich große) Gruppen zu trennen. Bei dieser Differenz handelt es sich um die Abbildung des Verhältnisses von Text und Musik, das im Melodram konstitutiv aus dem ständigen, kurzgliedrigen Wechsel von gesprochener Sprache und kleinen „musikalischen Zwischensätzen“ (so die Terminologie der Zeit) besteht. Dieses Verhältnis unterscheidet sich in den Textbuchdrucken kategorial: Die Textbücher einer ersten Gruppe (in der Folge: I) präsentieren den gesprochenen Text, ohne den medialen Wechsel von Text und Musik exakt zu markieren; der Bezug zur Musik wird nur ungenau oder gar nicht angegeben. Diese Drucke präsentieren den Text Gotters somit unabhängig von der konkreten Vertonung Bendas; die meisten von ihnen enthalten zum Beispiel Textpassagen, die Benda gestrichen hatte. Obwohl diese Libretti eindeutig auch zum Mitlesen in konkreten Aufführungen gedacht waren (einige enthalten gedruckte oder handschriftlich ergänzte Schauspielernamen),19 abstrahieren sie tendenziell von der konkreten Aufführungssituation. Denn auch Nebentexte sind hier nur relativ sparsam angegeben, so dass der Fokus klar auf dem literarischen Haupttext liegt. Man könnte die Drucke dieser Gruppe als „literarisch-präskriptive“ Textbücher bezeichnen.20

17 Leipzig

1778, Preßburg 1779, Eutin 1782, Hamburg 1794; alle aufgeführt bei Schimpf, Lyrisches Theater (wie Anm. 6), 219 f., aber bibliographisch nicht greifbar. 18 Das derzeit umfassendste Verzeichnisse von Aufführungen bietet Urchueguía, Allerliebste Ungeheuer (wie Anm. 12), CD-Anhang 2: Werkliste, 206 f. (Nr. 1153). 19 Vgl. im Anhang die Drucke I.6, II.10, II.18; im Druck II.12 sind die Namen handschriftlich hinzugesetzt worden. 20 Siehe dazu meine Ausführungen im Vorwort zu: Friedrich Wilhelm Gotter, Georg Benda, Medea. Version 1784, hg. von Jörg Krämer, Kassel 2018 (OPERA – Spektrum des europäischen Musiktheaters in Einzeleditionen 3), bes. XXIV f.



Der Abdruck der Musik im Text 39

Demgegenüber markieren die Drucke einer zweiten Gruppe (II) den Medienwechsel von Sprache und Musik sehr viel genauer. Sie heben in der Regel diejenigen Textpassagen, die gleichzeitig mit der Musik gesprochen werden (Parakataloge), typographisch vom übrigen Text ab. Die Unterbrechungen des Textes durch die „musikalischen Zwischensätze“ Bendas sind meist präzise angezeigt. Diese Drucke nehmen zudem in ihre Textgestalt in größerem Umfang performative Elemente auf, etwa ausgeschriebene Textwiederholungen, die sich durch die Vertonung ergaben, oder ausführlichere und differenziertere Nebentexte. Zwingend setzen diese Textdrucke also die Kenntnis der konkreten Partitur Bendas voraus, bilden den medialen Wechsel von Text und Musik in der Partitur sowie ansatzweise die musiktheatrale Aufführung deskriptiv in ihrer Druckgestalt ab und unterscheiden sich darin grundlegend von den Drucken der Gruppe I. Man könnte sie daher „partiturbezogen-deskriptive“ Textbücher nennen. Aus der Sicht eines Editors ist dieser Typ von Textbüchern wichtig: „Solche Melodrambücher, die den Medienwechsel von Text und Musik fixieren, sind in editorischer Hinsicht besonders signifikant, da sie auch für die Edition der Musik von höchster Bedeutung sind, das heißt für die Textverteilung in der Partitur.“21 Doch die Bedeutung dieser Librettodrucke geht über die editorische Ebene hinaus – und sie entfaltet sich erst in der Zusammenschau mit dem anderen Typ von Textbuchdrucken und den musikalischen Quellen. III. Den eindeutigsten Fall eines „literarisch-präskriptiven“ Textbuchs repräsentiert ein Druck von 1800, der ohne Angabe von Druckort und Verleger erschien und vermutlich Berliner Provenienz ist (I.7).22 Wie Abb. 1 zeigt, enthält dieser Druck überhaupt keine Markierung der 26 „musikalischen Zwischensätze“, die Benda alleine für den Text dieser Seite (dritter Auftritt) komponiert hatte, und insgesamt nur äußerst wenig Nebentext. Dieses Libretto präsentiert den Text wie den Prosa-Monolog eines Sprechtheaterstücks; gäbe es nicht den Untertitel „ein Drama mit musikalischen Zwischensätzen“, käme man gar nicht auf die Idee, dass in diesem Werk auch Musik eine Rolle spielen könnte. 21 Thomas

Betzwieser, Andreas Münzmay, Textedition vs. Librettoedition: das Beispiel OPERA, in: Betzwieser u. a. (Hg.), Perspektiven (wie Anm. 11), 261. 22 Der Druck ist erhalten in einer Sammelbindung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (alte Signatur Mus. T. 88), in der einzeln erschienene Opern-, Singspiel- und Melodramen-Libretti aus dem Berliner Umfeld zusammengefasst sind (hauptsächlich Werke von Johann Friedrich Reichardt und Vincenzo Righini; Druckdaten zwischen 1780 und 1812). Der Band wird mit drei Libretti von Werken Bendas eröffnet (Ariadne auf Naxos, Riga 1782, Pygma­ lion, s.l. 1783, und Medea, s.l. 1800), was Bendas Popularität belegt.

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Diese Form eines völligen Ignorierens der Musik stellt freilich eine Ausnahme unter den Melodramen-Libretti dar. Ein weitaus häufigeres Modell repräsentiert der vermutlich älteste Textdruck der Medea, der 1775 in Gotha im Verlag von Carl Wilhelm Ettinger23 erschien (I.1). Höchstwahrscheinlich handelt es sich dabei um das Textbuch, das zur ersten Aufführungsserie des Werks in Gotha und Altenburg (6.  Juni bis 12.  September 1775) durch die Seylerische Theatertruppe24 verkauft wurde, vielleicht auch schon zur Uraufführung während der Leipziger Messe am 1.  Mai 1775. Anzunehmen ist, dass der in Gotha ansässige Textdichter Gotter diesen Textdruck veranlasste und besorgte;25 Gotter war Hausautor von Ettinger, in dessen Verlag die meisten seiner zahlreichen Werke erschienen. Im Druck fehlt zwar die Angabe von Textdichter und Komponist, doch mussten Gotter und Benda wohl aufgrund ihrer Bekanntheit vor Ort gar nicht im Druck genannt werden, weil jeder Theaterbesucher in Gotha wusste, von wem das Werk stammte. Die zweite Hälfte der Textpassage aus Abb. 1 wird im Gothaer Druck folgendermaßen wiedergegeben (Abb. 2): Abb. 1: s.l. 1800, 6. 23 Zum

Verlagsprofil des Druckers und Verlegers Ettinger vgl. Otto Küttler, Irmgard Preuß, Drucke Gothaer Verleger 1750 – 1850. Bestandsverzeichnis, Gotha 1965, 44 – 70. 24 Vgl. Thomas Bauman, Music and drama in Germany. A traveling company and its repertory, 1767 – 1781, Diss. Berkeley 1977, 2 Bde. Ann Arbor 1984, bes. Bd. 2, 659 – 687; ders., North German Opera in the Age of Goethe, Cambridge 1985, bes. 91 – 131. 25 Das Personal des Gothaischen Hoftheaters (etwa Conrad Ekhof oder Heinrich August Ottokar Reichard) kommt dafür nicht in Frage, da dieses erst im Oktober 1775 eröffnet wurde. Auf dem Spielplan des Gothaer Hoftheaters erscheint Medea erstmals 1779 (vgl. Rudolf Schlösser, Vom Hamburger Nationaltheater zur Gothaer Hofbühne 1767 – 1779. Dreizehn Jahre aus der Entwickelung eines deutschen Theaterspielplans, Hamburg, Leipzig 1895, 77). Gotter selbst, der das Theaterleben in Gotha zuvor maßgeblich mitgeprägt hatte, hatte ab der Neueröffnung Ende 1775 – sehr zu seinem Leidwesen – mit dem neuen Hoftheater offiziell nichts mehr zu tun; vgl. Rudolf Schlösser, Friedrich Wilhelm Gotter. Sein Leben und seine Werke. Ein Beitrag zur Geschichte der Bühne und Bühnendichtung im 18. Jahrhundert, Hamburg, Leipzig 1894, 87 – 99 sowie Richard Hodermann, Geschichte des Gothaischen Hoftheaters (1775 – 1779), Hamburg, Leipzig 1894.



Der Abdruck der Musik im Text 41

Abb. 2: Gotha 1775, 10.

Anders als im Druck von 1800 sollen hier die auffällig gehäuften Gedankenstriche den Einsatz der Musik zwischen den Textteilen anzeigen: ein neues typographisches Mittel für eine neuartige Problemstellung, die es so in konventionellen Opern- und Singspiellibretti nicht gab. (Auch die wenigen älteren Melodramen-Librettodrucke, etwa zu Rousseaus/Schweitzers Pygmalion oder Brandes’/Bendas Ariadne auf Naxos, setzen dieses Mittel noch nicht so ein.) Allerdings stimmen diese Gedankenstriche hier nicht (oder allenfalls partiell) mit den „musikalischen Zwischensätzen“ der Partitur überein.26 Benda setzte zum Beispiel den ersten Textabsatz von Abb. 2 fast komplett als Parakataloge, das heißt als gleichzeitiges Sprechen zur Musik. Diese Simultaneität ist im Druck nicht erkennbar; im Gegenteil erwecken die Gedankenstriche den falschen Eindruck, dass sich Musik und Text hier abwechseln würden. 26 Das

Autograph der Partitur von 1775 liegt in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Signatur Mus.ms.autogr.BendaG.2 (Digitalisat: https://digital.staatsbibliothekberlin.de/werkansicht/?PPN=PPN718937252). Im Folgenden zitiert als „Partitur 1775“.

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Noch klarer wird die Differenz von Librettodruck und Partitur am Beispiel aus dem ersten Auftritt. Im Textdruck von 1775 heißt es (Abb. 3):

Abb. 3: Gotha 1775, 7.

In der Partitur von 1775 verteilen sich Musik und Text dagegen wie folgt:   Unseelige Macht! [Musik] Die Elemente gehorchen meiner Stimme, und das Herz des Mannes, den ich liebe, verschließt sich ihr! [Musik] Schatten bring’ ich von Orcus zurück, und ein Herz kann ich nicht erhalten. [Musik] Städte wink’ ich hervor und habe keinen Winckel zu meiner Ruhe! [Musik, der folgende Text gleichzeitig zur Musik] Wo soll ich hin? in mein Vaterland zurück? verließ ichs nicht um seinetwillen, würden unsre Haußgötter nicht vor dem Schalle meiner Tritte fliehen? die Asche meines Vaters nicht erzittern? meine Brüder nicht die Schmach rächen, die ich über sie gebracht habe? [Musik] Auch der elendeste der Menschen hat doch irgend eine gute Seele, die an seinem Schicksal Antheil nimmt, aber wen hab’ ich? [Musik] für mich ist jede gesellige Freude vertilgt! [Musik] Ich bin allein in der Schöpfung! [Musik]27

Benda realisierte also nur vier der neun Gedankenstriche Gotters tatsächlich als Musik (fettgedruckt). Fünf andere ignorierte er, an vier Stellen (kursiv gedruckt) setzte er dagegen selbstständig Musik, ohne dass Gotters Text einen Gedankenstrich aufweist, und eine Stelle gestaltete er als Parakataloge. Noch ein weiteres Detail ist hier bemerkenswert: Benda ändert Gotters Text mehrfach ab. Dabei ist die Änderung von „Gebeine meines Vaters“ zu „Asche“ merkwürdig, weil das ursprüngliche Bild zweifellos stimmiger ist: Dass die Gebeine des Vaters wegen Medeas Verrat erzittern, scheint einleuchtender, als dass seine Asche erzittert. Vielleicht liegt es daran, dass nur ein einziger der 20 Librettodrucke den 27 Ebd.,

fol. 15v–19r.



Der Abdruck der Musik im Text 43

geänderten Wortlaut der Partitur übernimmt, nämlich II.12 (s. u. Anm. 46); alle anderen bleiben gegen die Partitur beim Text des Erstdrucks. Die Gedankenstriche geben also in Drucken dieser Gruppe keineswegs den realen Einsatz der Musik Bendas an,28 sondern spiegeln allenfalls die Vorstellungen des Textdichters Gotter wider, wo vielleicht Musik angebracht sein könnte. Zudem sind die Gedankenstriche als Zeichen semiotisch uneindeutig, denn sie können als Interpunktion durchaus auch konventionelle, etwa syntaktische oder ausdruckssteuernde Funktionen ohne Bezug auf Musik erfüllen (s. u.). Der Druck I.1 enthält schließlich an zwei Stellen Textteile, die in Bendas Partiturautograph von 1775 gar nicht enthalten sind (im letzten Auftritt)29 oder wieder gestrichen wurden (eine Passage am Ende des sechsten Auftritts).30 Zwar lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, wann diese Streichung erfolgte; doch deutet vieles darauf hin, dass sie vom Komponisten stammt und dass die Streichung sehr frühzeitig geschah (s. u.). Der Gothaer Librettodruck präsentiert also den Text insgesamt weitgehend unabhängig von seiner konkreten musikalischen Realisierung durch Benda. Dies deutet darauf hin, dass der Textdichter möglicherweise zum Zeitpunkt der Drucklegung die Partitur Bendas noch nicht kannte – also zum Beispiel gar nicht wusste, dass Benda den oben erwähnten Textabsatz in Abb. 2 als ParakatalogeAbschnitt vertont hatte. Eventuell war der Textdruck bereits eingerichtet oder abgeschlossen, bevor Gotter das Stück überhaupt erstmals auf der Bühne sehen und Bendas Musik hören konnte;31 der Druck könnte somit der Textvorlage entsprechen, die Gotter Benda ursprünglich zur Vertonung übergeben hatte.32 Die relative Distanz dieses Textdrucks zur Partitur Bendas könnte aber noch einen anderen Grund haben: Gotter begriff seinen Text grundsätzlich als selbständiges 28 Dies

wird in der Forschung immer wieder übersehen; vgl. z. B. Schmidt, Medea lesen (wie Anm. 11), 61. 29 Es handelt sich um die längere Dialog-Passage zwischen Medeas „Geh und begrabe sie! –“ und Jasons „Halt! Halt! Tödte mich auch, eh du fliehest! – […]“ (I.1, 22 f.). 30 „Wo ist nun die Herrlichkeit die dich füllte, du stolzer Pallast? Wo deine Wächterin die Freude? – Deine Marmorwände triefen von Blut – Verwesung brütet in den goldnen Gemächern – weg von dir, Höhle des Todes! –“ (I.1, 20 f.). Im Partiturautograph von 1775 wurde diese Passage zunächst mit Musik versehen, dann aber mit Rötel gestrichen und mit „vide“ markiert; vgl. Partitur 1775 (wie Anm. 26), fol. 68v–69v. 31 Am 29. April 1775 wurde das baldige Erscheinen des Textdrucks „im ettingerischen Verlage“ in den Gothaischen gelehrten Zeitungen angekündigt (34. Stück, S. 273), die ebenfalls in Ettingers Verlag erschienen. Gotters Anwesenheit bei den ersten Aufführungen am 1. Mai 1775 in Leipzig ist nicht belegt und unwahrscheinlich. Dann hätte Gotter Bendas Vertonung tatsächlich vollständig erst unmittelbar vor oder bei der Gothaer Premiere am 6. Juni erleben können, also zu einem Zeitpunkt, als der Textdruck bereits abgeschlossen sein musste. 32 Zu pauschal ist daher die Behauptung von Wolfgang Schimpf: „Überhaupt ist der reine Librettodruck ja nicht als Ursprung einer potentiellen, sondern als Dokument einer erfolgten Wirkung zu betrachten“ (Schimpf, Lyrisches Drama [wie Anm. 6], 38).

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Kunstwerk von eigenem literarischem Wert unabhängig von jeglicher BühnenAufführung. Dies wird besonders deutlich daran, dass er den Medea-Text 1788 in seine eigene Werkausgabe unter die Rubrik „Trauerspiele“ aufnahm, ihn aber dabei von der ursprünglichen Prosa in freie Verse umarbeitete. Dabei gliederte Gotter den Text neu in neun Szenen, indem er den ursprünglichen sechsten Auftritt in zwei Szenen aufteilte und mit neuem Text erweiterte.33 Er betonte damit explizit die literarische Autonomie und den Eigenwert des Textes als Lesetext jenseits seiner ursprünglichen Funktion als Vorlage eines musiktheatralischen Werks.34 In der Pionierausgabe I.1 von 1775 wurde der Text ursprünglich als durchlaufender Prosatext gedruckt; zwei Abschnitte sind jedoch typographisch in Versform abgesetzt (s.  u.). Das Gothaer Libretto zeigt schließlich noch eine charakteristische Besonderheit: Die durchnummerierten Auftritte des Einakters weisen eine Lücke in der Zählung auf. Auf den sechsten Auftritt (mit dem Höhepunkt des Kindermords) folgt direkt ein neunter (S. 21). Dies kann ein schlichtes Versehen des Druckers gewesen sein; es könnte eventuell aber auch indizieren, dass zwei weitere, ursprünglich vorgesehene Szenen zwischen dem Kindermord und Jasons Auftritt so kurzfristig vor dem Druck gestrichen wurden, dass die Zählung irrtümlich stehen blieb. Der Gothaer Druck bildete in seiner präskriptiven, textbetonten und partiturfernen Art die Vorlage für zahlreiche spätere Drucke (I.2–I.7). Der Hamburger Druck von 1776 (I.3), der vermutlich mit Aufführungen Friedrich Ludwig Schröders35 zusammenhängt, folgt dem Gothaer Modell eng, sogar in der fehlerhaften Zählung der Auftritte, verzichtet aber auf die Wiedergabe des unvertonten Teils der letzten Szene; die nachträglich gestrichene Passage der sechsten Szene ist dagegen abgedruckt. Der Königsberger Druck von 1776 (I.2) dagegen korrigiert die Zählung, behält aber die gestrichenen Texte der achten und der sechsten Szene bei. Der Karlsruher Druck von 1779 (I.4) dagegen enthält keine der gestrichenen Passagen. Die Buchhandels-Ausgabe Pilsen 1791 (I.5) behält den gestrichenen Text des ursprünglichen sechsten, aber nicht des letzten Auftritts 33

In der Versfassung fehlen zwar die von Benda gestrichenen Textteile, doch Gotter bemühte sich hier ersichtlich, aufführungsbezogene Elemente weitgehend zu tilgen: Der Musikeinsatz wird ebenso wenig markiert wie Parakataloge, Nebentexte sind reduziert, Textwiederholungen entfallen (außer der modifizierten Da-Capo-Struktur in Medeas Gebet in Szene 1, s. u.). 34 In der Vorrede des Bandes weist Gotter explizit auf die Unabhängigkeit dieses Textdrucks von der Theatersituation hin: „In Ansehung der Medea füge ich nur noch hinzu, daß ich deren Umschmelzung in ein Lyrisches Sylbenmaas, wenn dieses mit der vortreflichen Bendaischen Musik nicht auf das genaueste übereinstimmen sollte, dem Vergnügen des Lesers, ohne Anspruch auf theatralischen Gebrauch, gewidmet haben will“ (I.8b, XVIII). 35 Vgl. Berthold Litzmann, Schröder und Gotter. Eine Episode aus der deutschen Theatergeschichte. Briefe Friedrich Ludwig Schröders an Friedrich Wilhelm Gotter 1777 und 1778, Hamburg, Leipzig 1887, 38.



Der Abdruck der Musik im Text 45

bei und wechselt bei den Gedankenstrichen unsystematisch zwischen langen einfachen, doppelten kurzen, doppelten langen und dreifachen kurzen hin und her.36 Der Druck Odense 1792 (I.6) wiederum enthält den gestrichenen Text der achten, aber nicht den der sechsten Szene (vgl. Übersicht im Anhang B). Obwohl alle diese Drucke erkennbar dem Gothaer Libretto folgen, ist doch kein Druck dem anderen gleich – und ein Blick auf Details sprachlicher oder orthographischer Art könnte noch zahlreiche Unterschiede zu Tage fördern, so zum Beispiel hinsichtlich Groß-/Kleinschreibung, besonders nach Satzzeichen, in Bezug auf die Interpunktion (? statt !, ! statt Komma) oder auf Elisionen bzw. Apostrophsetzung. Gemeinsam ist aber all diesen Textdrucken, dass das Verhältnis zu Bendas Partitur vage und ungenau ist. IV. Deutlich anders sind nun die Textdrucke der anderen Gruppe gestaltet. Sie sind wesentlich genauer auf die Partitur Bendas bezogen und zeigen durch veränderte, meist erheblich ausgeweitete Nebentexte auch einen stärkeren szenischen Aufführungsbezug. Dies ist ein Indiz dafür, dass bereits die Musik beim Melodram starke szenographische Elemente enthält37 – während die Textdrucke der Gruppe I nicht nur von der Partitur abstrahieren, sondern auch mit szenisch bezogenem Nebentext sparsamer sind, bringt der präzisere Partiturbezug in Gruppe II auch einen engeren szenischen bzw. gestischen Aufführungsbezug mit sich. Bemerkenswert dabei ist, dass die erweiterten Nebentexte so nicht in der Partitur stehen. Hauptsächlich zwei Aspekte unterscheiden diese Drucke von denen der Gruppe I: die Angabe der Parakataloge-Passagen und die exaktere Anzeige der „musikalischen Zwischensätze“. Die seltenen Parakataloge-Passagen sind hier genau markiert, entweder durch verbale Zusätze im Nebentext („unter der Musik“ o. ä.) oder/und typographisch (zum Beispiel durch Einschließen in zeilenweise wiederholte Anführungszeichen). Abb. 4 zeigt ein Beispiel aus dem frühesten Druck dieser Gruppe aus der kurpfälzischen Nebenresidenz Fran36 Hier

wird konsequent „ck“ durch „kk“ ersetzt; zudem bietet dieser Druck noch einen zusätzlichen, szenisch effektvollen Nebentext am Ende: „(Der Donner brüllt; Flamme steigt aus der Erde empor; der Pallast stürzt ein.)“ (I.5, 74). 37 Dazu vgl. u. a. Arne Stollberg, Leitmotiv – Gebärde – Charakter. Zum Verhältnis von Körperausdruck und musikalischer Dramaturgie in Georg Bendas Melodrama ‚Medea‘, in: Musiktheorie 17/2 (2002), 135 – 150. Vgl. auch Ursula Kramer, „Ausdruck so mannigfaltiger Leidenschaften“: Zur Bedeutung von Georg Anton Bendas Melodram ‚Ariadne auf Naxos‘ im Kontext des musikalischen Theaters im späteren 18. Jahrhundert, in: Bettina Bosold-DasGupta, Charlotte Krauß, Christine Mundt-Espín (Hg.), Nachleben der Antike – Formen ihrer Aneignung, Berlin 2006, 489 – 503.

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kenthal38 1778. Es handelt sich um den Satz „Warum zittert mir jede Nerve – verläßt mich jede Kraft?“ in der Mitte der Seite; die kurze Simultaneität von Text und Musik ist hier verbal und zusätzlich typographisch durch Anführungszeichen angegeben (Abb. 4): Aufschlussreich ist, dass im Partiturauto­ graph hier eigentlich ein viel längerer Textabschnitt (bis „schuldlosen Seelen“) unter dieser Musik eingetragen ist. Der Druck setzt den Schluss der Parakataloge jedoch viel früher an (nach „Kraft?“) und liegt damit sicherlich richtig, denn in der Aufführungssituation benötigt der Text samt der zugleich angegebenen szenischen Handlung – „(sie sinkt ohnmächtig auf die Stufen.)“ – sehr viel mehr Zeit, als die knapp vier Takte der Musik dauern. Der Text ab „O du –“ wurde daher in der Aufführung vermutlich bereits ohne Musik gesprochen. Bemerkenswert ist weiterhin, dass im Libretto statt „unter der Musik“ der musikalische Fachbegriff „unterm pizzicato“ verwendet wird. In der Tat schrieb Benda hier einen viertaktigen Pizzicato-Abschnitt der Streicher.39 Wer auch immer diesen Textbuch-Druck eingerichtet hat,40 kannte also die Musik bis ins Detail oder hatte vielleicht sogar eine Partiturabschrift vor Augen. Dass der älteste Druck dieser Gruppe aus dem Jahr 1778 stammt, ist vielleicht kein Zufall: In genau diesem Jahr zeigte der Verleger Breitkopf in seinem Abb. 4: Frankenthal 1778, 13. 38 Frankenthal

war im 18. Jahrhundert die dritte Hauptstadt der wittelsbachischen Kurpfalz. Der Textdruck von 1778 dürfte ein Gastspiel dokumentieren (sei es einer Wanderbühne, sei es aus der Residenzstadt Mannheim), denn in dem calvinistisch geprägten Ort gab es 1778 kein eigenes Theater – weder ein Gebäude noch ein eigenes Ensemble. Melodramen eigneten sich wegen ihrer vergleichsweise geringen bühnentechnischen Anforderungen für Gastspiele in solchen Städten grundsätzlich besser als Opern oder Singspiele. 39 Angabe „un poco lento, pizzicato ma piano.“; Partitur 1775 (wie Anm. 26), fol. 62v f. 40 Der Buchdrucker Ludwig Bernhard Friedrich Gegel, bei dem das Textbuch gedruckt wurde, hatte seine Druckerei 1773 von Speyer nach Frankenthal verlegt. Er hatte bei den Zeitgenossen einen schlechten Ruf als Raubdrucker; vgl. Klaus Behrens, Der Buchdrucker Ludwig Bernhard Friedrich Gegel und der Nachdruck in Südwestdeutschland Ende des 18. Jahrhunderts, Speyer 1989. Von daher könnte dieser Druck auch auf einer verloren gegangenen Vorlage be­ ruhen.



Der Abdruck der Musik im Text 47

Copialien-Katalog erstmals Partitur und Stimmen der Medea als Leihmaterial an, so dass die Musikalien ab da vermutlich leichter zu bekommen waren als in den Jahren zuvor.41 Den zweiten zentralen Differenzpunkt zwischen den Textbuchgruppen bildet die Wiedergabe des Medienwechsels von Sprache und Musik. Der Höhepunkt des Stücks, der Kindermord, vollzieht sich bei Gotter bei Nacht und Unwetter im Off während leerstehender Bühne. Was im Sprechtheater etwa der französischen Klassik oder bei Gottsched als drastischer Normverstoß gegolten hätte, wird hier im Musiktheater durch die Musik möglich, die den verbotenen szenischen Leerstand der verwaisten Bühne überbrückt. Benda fügte hier ein längeres instru­ mentales Zwischenspiel von 54 Takten in c-Moll ein, eine Gewittermusik, die neben dem äußeren Gewitter wohl auch die rasenden Stürme in Medeas Seele abbilden soll. Die Textbuch-Drucke der Gruppe I registrieren dies nicht – dort heißt es an dieser Stelle nur: „([…] das Ungewitter dauert einige Zeit fort)“.42 In fast allen Drucken der Gruppe II steht dagegen (s. o. Abb. 4): „(Symphonie während welcher Nacht und Ungewitter fortdauren, gegen das Ende derselben läßt das Ungewitter nach! die Nacht bleibt.)“.43 Erneut wird hier ein Fachbegriff benutzt statt einer allgemeiner verständlichen Formulierung (wie „Musik, während welcher […]“). Der Terminus „Symphonie“, hier im begriffsgeschichtlich ursprünglichen Sinn, betont die Besonderheit, die ein längeres musikalisches Zwischenspiel im Melodram der Zeit darstellt. Zur Markierung der kurzen „musikalischen Zwischensätze“ wird auch in den Drucken der Gruppe II ansonsten meist das typographische Muster aus dem Pionierdruck Gotha 1775 verwendet, nämlich der Gedankenstrich. Damit übernehmen die Drucke aber zugleich das oben skizzierte, grundsätzliche Problem der semiotischen Uneindeutigkeit des Zeichens. Auch wenn insgesamt nun die Bezüge zur Musik erheblich genauer abgebildet werden, sind die Drucke dabei nicht völlig verlässlich, sofern sie nur den Gedankenstrich für die Musik nutzen. Ein erhaltenes Exemplar des Frankenthaler Drucks,44 das (offenbar in Mannheim) als Soufflierbuch genutzt wurde, zeigt dies sehr deutlich (Abb. 5). Hier wurden diejenigen Gedankenstriche, die einen Musikeinsatz bedeuten, zusätzlich mit einem roten Strich verstärkt. Dagegen wurden diejenigen Gedankenstriche, die andere Funktionen haben und nicht Musik indizieren, weiß übermalt: siehe den Satz „O du [–] wenn ich diese Hände voll Bluts noch gegen dich 41 Johann

Gottlob Immanuel Breitkopf, Copialien-Katalog, Supplement XII (1778), 44; vgl. The Breitkopf Thematic Catalogue. The Six Parts and Sixteen Supplements 1762 – 1787, hg. von Barry S. Brook, New York 1966, zit. nach Urchueguía, Allerliebste Ungeheuer (wie Anm. 12), 383. 42 Z. B. I.1, 19. 43 Z. B. II.9, 13; II.13, 13; II.15, 13; II.16, 17; II.18, 21; II.20, 13. Mit leichten Varianten auch in den Drucken II.10, 13 und II.11, 15. 44 Exemplar des Reiss-Engelhorn-Museums Mannheim, Signatur G32.

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Abb. 5: Soufflierbuch Frankenthal 1778, 13.

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ausstrecken darf [–] erbarme dich der reinen [–] schuldlosen Seelen, o, Juno! – ich war einen Augenblick lang ihre Mutter [–] sey du es nun ewig! –“. Für den Souffleur oder die Souffleuse war es in der Aufführungssituation am Abend von hoher Bedeutung zu wissen, wo der Text von Musik unterbrochen wurde und wo nicht; die gedruckten Gedankenstriche des Librettos alleine waren dafür aber zu ungenau.45 Praktische Lösungsversuche dieses Problems führten daher in anderen Drucken der Gruppe II zu unterschiedlichen Ergebnissen. Zwei Drucke (II.10 und II.12) sind in der Setzung der Gedankenstriche genauer: Gedankenstriche werden nur da gedruckt, wo sie Musik indizieren, ansonsten durch Kommata ersetzt oder ganz weggelassen.46 Man vergleiche den gerade zitierten Satz in der folgenden Abbildung (Abb. 6):

Am Ende dieser Seite und am Anfang der folgenden wurde der gedruckte Text überklebt und handschriftlich ersetzt; dadurch entfällt auch der oben beschriebene Textteil, der in der Partitur von 1775 gestrichen wurde, im Druck II.9 aber trotzdem noch enthalten war. 46 Der Druck II.12 (s. l., s. a. [ca. 1780]) ist ein Sonderfall: Hier fehlt die Markierung der Parakataloge und fast der gesamte Nebentext; dafür ist die gestrichene Passage nach dem Kindermord wiedergegeben. Doch folgt dieser Druck in der Setzung der Gedankenstriche als Zeichen der Musik höchst exakt der Partitur – und im Text dem Wortlaut der Partitur am engsten von allen. Als einziger Druck von allen gibt er in Szene 1 „Asche meines Vaters“ wie in der Partitur (s. o.) statt „Gebeine meines Vaters“ wie in allen anderen Drucken und auch den Klavierauszügen. Der Bearbeiter dieses Drucks muss also Bendas Partitur (oder eine Abschrift) zur Verfügung gehabt haben. Dass dieser Druck die Szenengliederung aufhebt und durch drei Großszenen (nach Auftritten) ersetzt, widerspricht dem nicht; denn auch die Partitur weist keine Szenengliederung auf, sondern vertont das Stück als durchlaufenden Einakter.



Der Abdruck der Musik im Text 49

Abb. 6: Stuttgart 1779, [17].

Abb. 7: Darmstadt 1778, [3].

Eine andere, originelle Lösung findet der Druck Darmstadt 1778 (II.17). Er trägt auf dem Titelblatt den Zusatz „Nach der Original=Ausgabe verfertigt“; falls sich das auf den Gothaer Druck von 1775 beziehen sollte, weist der Darmstädter Druck jedoch zahllose Änderungen auf. Er behält alle Gedankenstriche bei, setzt aber zusätzlich dort, wo tatsächlich Musik erklingt, einen Asterisk (Abb. 7). Das Verfahren wird in einer Fußnote erläutert, ebenso wie später die Markierung der Parakataloge. Wo kein Asterisk47 nach einem Gedankenstrich steht, erklingt keine Musik. Dadurch wird hier der Medienwechsel von Text und Musik sehr zuverlässig nach Bendas Partitur wiedergegeben und visualisiert. Einen anderen Weg gehen die drei Drucke aus dem habsburgischen Bereich (II.18–II.20).48 Die Wiener Drucke 1778 und 1806 verwenden für die Indikation der Musik vier Punkte anstelle der Gedankenstriche und behalten Gedankenstriche nur in ihren konventionellen Funktionen als Interpunktionsmittel bzw. als Zeichen für emphatische Exklamation bei (Abb. 8, folgende Seite). 47 Beim

Druck eines anderen Melodramentexts im selben Verlag werden 1779 ausschließlich Asterisken statt Gedankenstriche verwendet; vgl. Lampedo. Ein Melodrama. Von dem Hofe aufgeführt zur Feyer des 2ten Julii 1779. In Musik gesetzt von [Georg Joseph] Vogler, Darmstadt 1779. 48 In diesen drei Drucken ist die Parakataloge nur durch verbale Zusätze, nicht aber typographisch markiert.

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Abb. 8: Wien 1778, 22.

Abb. 9: Innsbruck 1782, [3].

Der (sehr druckfehlerreiche) Druck Innsbruck 1782 kombiniert dagegen drei Punkte mit ein- oder mehrfachen Gedankenstrichen, um Musik anzuzeigen; reine Gedankenstriche haben hier grundsätzlich keine musikanzeigende Funktion (Abb. 9). Bemerkenswert ist hier die erweiterte Formulierung im ersten Nebentext: „Medea (Erscheint zu Anfange des Allegro der Intrade auf ihren mit Drachen bespannten Wolkenwagen […])“. Auch wenn der Begriff „Intrade“ um 1780 bereits etwas altertümlich wirkt, ist dies sehr präzise, denn laut Partitur erscheint Medea tatsächlich genau zu Beginn des schnellen Allegro-Teils der Ouvertüre auf der Bühne. Der Bearbeiter des Innsbrucker Textbuch-Drucks zeigt somit eine sehr genaue Kenntnis der Partitur Bendas.49 In den Klavierauszügen und im Partiturautograph von 1784 ist dieser Auftritt als verbaler Nebentext vermerkt: 49 Der

Druck gliedert den Text abweichend in fünf Auftritte. Dies widerspricht nicht der Partitur, da in dieser gar keine Szenengliederung erkennbar ist.



Der Abdruck der Musik im Text 51

„(Hier erscheint Medea auf ihrem mit Drachen bespannten Wolkenwagen, steigt ab und winkt ihm zu verschwinden.)“.50 Im Partiturautograph von 1775 fehlt der Hinweis, aber auch ohne ihn verweist rein musikalisch der erstmalige Einsatz der Trompeten und der Pauke genau an dieser Stelle klar auf die Tradition eines Herrscher-Auftritts – wie auch die Ikonographie des Drachenwagens51 und der Auftritt mit Flugwerk von oben an die Auftritte von Göttern oder Herrschern in der barocken Oper anknüpft. Die unvertonte Dialog-Passage aus der Schlussszene enthält keiner der Drucke der II. Gruppe mehr. Der ursprünglich in Musik gesetzte, dann aber wieder gestrichene Text am Ende des sechsten Auftritts ist jedoch in den meisten Drucken erhalten geblieben;52 nur in den ‚habsburgischen‘ Drucken und dem Flensburger Libretto von 1782 fehlt dieser Textteil (siehe Übersicht im Anhang B). Auffällig ist, dass nur in den drei ‚habsburgischen‘ Drucken zudem ein Textteil zu Beginn des dritten Auftritts ausgelassen wurde: Medeas Vorstellung, sich bei Nacht in das Schlafzimmer von Jason und Kreusa zu schleichen, um sie „in der Wonne ihrer ehebrecherischen Umarmungen“ zu töten.53 Möglicherweise war dies mit den Vorstellungen der habsburgischen Zensur nicht vereinbar. (Sämtliche andere Drucke sowie die Partituren und Klavierauszüge enthalten diese Passage.)54 Noch einige andere Eigenheiten der Drucke dieser Gruppe verdienen Beachtung. Mit Ausnahme des Darmstädter Drucks (II.17) bieten alle Drucke der Textgruppe II grundsätzlich umfangreicheren Nebentext mit szenischen bzw. gestischen Hinweisen als die Drucke der Gruppe I. So enthält der erste Auftritt im Gothaer Druck I.1 von 1775 nur vier Nebentexte: „(kniend.)“ beim Gebet an 50 Gotter,

Benda, Medea 1784 (wie Anm. 20), 12. Während die Partitur im 18. Jahrhundert ungedruckt blieb, existieren vier zeitgenössische Drucke von Klavierauszügen: Medea, im Klavierauszuge. Der Dialog von Gotter. In Musik gesetzt von Georg Benda, Leipzig 1778; MEDEA im Clavierauszuge der Dialog von Gotter in Music gesetzt von Georg Benda, Mannheim [1779]; Medea. Et Duodrama af Gotter, sadt i Musik og indrettet for Klaveret af Georg Benda, Kiøbenhavn, trykt og forlagt af S. Sønnichsen. Kongl. privel. Nodetrykker. [Gedruckter Klavierauszug mit dänischem Text, 1782]; Medea, im Klavierauszuge. Der Dialog von Gotter. In Musik gesetzt von Georg Benda, Herzogl. Sachsen=Gothaischen Capelldirector. Neue Ausgabe, Leipzig s. a. Im Gegensatz zu den Behauptungen bei Schmidt, Medea lesen (wie Anm. 11), 59 u. ö. folgen alle diese Auszüge der Fassung des Werks von 1775. 51 Zu Medeas Drachenwagen vgl. allgem. Anna Cullhed, A New Medea: Staging Conjugal Passion in Eighteenth-Century Europe, in: Lessing Yearbook 44 (2017), 89 – 106, hier 90 – 93. 52 Auch das Darmstädter Libretto von 1778 (II.17) druckt diese Passage ab, während eine ebenfalls in Darmstadt überlieferte, möglicherweise dazugehörige Partiturabschrift an dieser Stelle zwar die ursprünglichen Musik Bendas enthält, aber mit dem Zusatz „bleibt weg“ als gestrichen markiert ist (Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, alte Signatur Mus. Ms. 91, fol. 68v–69v). 53 I.1, 9. 54 Nur in den beiden Wiener Drucken fehlt zudem ein Teilsatz Medeas im dritten Auftritt („– daß ich in der Angst der Gebährerin verschmachtet wäre!“); I.1, 11.

52

Jörg Krämer

Juno, danach „(sich erhebend.)“, „(Man hört von ferne die Musik des Aufzugs.)“ und „(Sie verliert sich im Säulengang.)“ am Ende.55 Demgegenüber bietet der Frankenthaler Druck (II.9) in dieser Szene zusätzlich noch folgende, szenisch bezogene Nebentexte: (Sie geht bewegt und nachdenkend umher.) (Sie lehnt sich an eine Säule.) (unruhig umhergehend; unter der Musik) (die Musik des Zuges läßt sich von ferne hören; Medea bricht in Wuth aus.)56

Dieser erweiterte Nebentext findet sich weder im Partiturautograph von 1775 noch in den gedruckten Klavierauszügen, aber mit geringen sprachlichen Varianten in fast allen Drucken der Gruppe II (mit Ausnahme von II.12, II.17 und II.19). Nicht nur der Bezug zur Musik Bendas, sondern auch zur szenischen Realisation ist somit in den Texten der Gruppe II erheblich enger als in den „präskriptiv-literarischen“ Drucken der Gruppe I. Dies zeigt auch der Umgang mit einer oben erwähnten Besonderheit des Gothaer Pionierdrucks. Der Druck I.1 präsentiert zwei kurze Stellen in Versform statt in der sonst üblichen Prosa: Medeas Gebet im ersten Auftritt57 sowie ihren Aufruf an die Eumeniden am Ende des sechsten Auftritts, Jason zur abschließenden Dialogszene her zu „peitschen“.58 In allen Drucken der Textgruppe  I wird diese Versform beibehalten, während in sämtlichen Drucken der Gruppe II die Verse in Prosa aufgelöst werden.59 Bei Medeas Gebet hat Dörte Schmidt zu Recht darauf hingewiesen, dass die typographische Hervorhebung durch die Versform für jeden mit Librettodrucken der Zeit vertrauten Rezipienten eine (Da-Capo-)‌A rie signalisierte; Schmidt bezeichnet die Stelle daher als „gesprochene Da-Capo-Arie“.60 In der Tat vertonte Benda Medeas Gebet im ersten Auftritt als miniaturhaften Da-Capo-Satz, bei dem der Gesang durch die SoloVioline ersetzt wird.61 Im Partiturautograph ist das durch ein „Segno“-Zeichen markiert, ebenso in den gedruckten Klavierauszügen; im Partiturautograph

55 I.1,

[5]–8. [3]–5. 57 I.1, 6. 58 I.1, 20. 59 Mit der einzigen Ausnahme des Drucks II.17 (Darmstadt 1778). Dieser Druck ist grundsätzlich sehr nah am Gothaer Druck, weicht aber in zwei signifikanten Aspekten von diesem ab (und teilt damit die Hauptmerkmale der Gruppe II): Markierung der Parakataloge und exakte Angabe des Musikeinsatzes (s. o.). 60 Schmidt, Medea lesen (wie Anm. 11), 58 – 6 4, hier 63. 61 Schon Heinrich Leopold Wagner bezeichnete die Stelle in seiner Aufführungs-Besprechung 1777 als „eine vollkommne Arie“; vgl. [Heinrich Leopold Wagner,] Briefe die Seylerische Schauspielgesellschaft und Ihre Vorstellungen zu Frankfurt am Mayn betreffend, Frankfurt am Main 1777, 115. 56 II.9,



Der Abdruck der Musik im Text 53

wurde der Segno-Teil allerdings wieder von Hand ausgestrichen.62 Die Drucke der Gruppe II lösen diese Verse nun im Druck in Prosa auf und integrieren sie in den fortlaufenden Text des Auftritts, wobei sie alle Text-Wiederholungen, die sich durch Bendas Vertonung ergeben, ausschreiben.63 Damit bilden diese Drucke zwar die konkrete Situation der Partitur genauer ab; durch die ProsaAuflösung des Gebetstextes fällt aber im Textdruck das optische Signal der Da-Capo-Arie64 weg.

Abb. 10 a und b: Gotha 1775, 6 vs. Frankenthal 1778, 4.

Zwei Details sind hier noch auffällig: Die Inversion von „Hier lieg ich jetzt / jetzt lieg ich hier“ (I.1 und Partiturtext) wird in II.9 zu einer Parallelisierung „Hier lieg ich jetzt – hier lieg ich jetzt –“ umgestaltet; zudem wird „Rache“ zu „Rach’“ elidiert. Beides steht in Gegensatz nicht nur zum Textdruck von 1775, 62 Partitur

1775 (wie Anm. 26), fol. 10v und fol. 13r. ist, dass die Drucke II.10 und II.14 zwar auch die Verse in Prosa auflösen, aber dabei die Wiederholung der ersten drei Zeilen am Ende eliminieren. Dies korrespondiert der Streichung des Dal-Segno-Abschnittes in der Partitur von 1775. 64 Schmidt, Medea lesen (wie Anm. 11), 69 f. 63 Bemerkenswert

54

Jörg Krämer

sondern vor allem auch zur Partitur. Dem Wortlaut des Frankenthaler Drucks folgen aber fast alle Drucke von II gegen die Partitur.65 Bei der zweiten Vers-Passage, die Gotter textuell erneut als miniaturhafte dreiteilige Form angelegt hatte, differenzieren sich die Drucke der Textgruppe II noch weiter aus. Sie geben alle die Stelle in Prosa wieder.66 Doch während zwei Drucke (II.14, II.20) den Text lediglich einmal in Prosa statt in Versen abdrucken, schreiben die meisten anderen Drucke alle Textwiederholungen analog der Partitur aus. Drei Drucke jedoch variieren das dadurch stereotyp achtmal wiederholte „Peitscht ihn her!“ sprachlich durch andere Formulierungen: „Treibt ihn her!“ (II.10, [17]), „Treibt ihn her! – Reißt ihn her! –“ (II.19, 19 f.), „Treibt ihn her! – Reißt ihn her! – […] Schleppt ihn her!“ (II.18, 23). Auch dies steht im Gegensatz zum Wortlaut in Bendas Partitur und den Klavierauszügen, ist aber möglicherweise Reflex von Aufführungsfassungen, die aus stilistischen Gründen in den Partiturtext eingriffen. Bemerkenswert scheint schließlich noch, dass die Drucke der Textgruppe I in der Gattungsbezeichnung schwanken,67 während die aufführungsbezogenen Drucke der Gruppe II ausschließlich und konsequent die Gattungsbezeichnung „mit Musik vermischtes Drama“ verwenden. V. Die verschiedenen Drucke lassen erkennen, dass es im 18. Jahrhundert anscheinend grundsätzlich als wichtig empfunden wurde, in einem Libretto den Medienwechsel von Text und Musik zu markieren. Offenbar erwarteten die Rezipienten das. Dafür standen aber im Melodram zunächst keine Konventionen zur Verfügung, so dass die einzelnen Drucke hier unterschiedliche Wege gingen. Kehrt man zurück zur Ausgangsfrage, welchen Text die gedruckten Melodramen-Libretti eigentlich bieten, so könnte man etwas zugespitzt formulieren: Bezugspunkte vieler Librettodrucke scheinen weniger die Partitur oder der real in der Aufführung vorgetragene Text gewesen zu sein als ältere Librettodrucke. Bestimmte Pionierdrucke bilden Gruppen von Nachfolgetexten aus. Diese Pionierdrucke können dabei zwei sehr unterschiedliche Zugänge repräsentieren, was ein abschließender kurzer Blick auf das Verhältnis der Textbuchdrucke zu den gesprochenen Texten in den musikalischen Quellen illustriert. 65 Lediglich

der ohnehin bemerkenswert partiturnahe Innsbrucker Druck von 1782 (II.19) verfährt hier anders und gibt den Wortlaut exakt nach der Partitur wieder. 66 Eine Ausnahme bildet wiederum der Darmstädter Druck, vgl. Anm. 59. 67 Es finden sich folgende Gattungsbezeichnungen: „Ein mit Musik vermischtes Drama“, „Duodrama“, „Ein musikalisches Drama“, „Ein Drama mit musikalischen Zwischensätzen“. Der heute übliche Begriff „Melodram“ wird nirgends verwendet (dafür allerdings in der zeitgenössischen Diskussion über die Gattung).



Der Abdruck der Musik im Text 55

Wie ausgeführt, bieten die Texte der Gruppe I den gesprochenen Text tendenziell so, wie ihn sich der Autor Gotter vorstellte, und zwar offensichtlich in einem Stadium vor der Vertonung durch Benda (oder bewusst unabhängig von dieser wie die Versfassung I.8). Entscheidend ist nun, dass sich der Komponist in der Verteilung von Musik und Text nicht an den durch die Gedankenstriche vorgegebenen Vorstellungen Gotters orientierte, sondern völlig selbständig vorging – so unterbrach er immer wieder längere Satzgefüge durch Musik, fasste umgekehrt durch Gedankenstriche getrennte Satzteile in geschlossene Textsegmente zusammen, wiederholte einzelne Textteile etc. Über eine etwaige Simultaneität von Musik und Sprache schließlich entschied der Komponist alleine und unabhängig von der Textvorlage (der Textdruck von 1775 enthält dazu keinerlei Angaben). „Die musikalische Attraktivität der Melodram-Komposition lag gerade in der völlig freien Disposition musikalischer Ausdrucksmöglichkeiten, welche keine Rücksichten auf traditionelle Formkategorien einerseits und auf musikalische Präfigurationen seitens des Textes andererseits nehmen musste.“68 Der Komponist Benda nutzte diese Freiheit ausgiebig. Die Textdrucke der ersten Gruppe, die auf den Pionierdruck I.1 zurückgehen, spiegeln also allenfalls die Vorstellungen des Textdichters Gotter wider, nicht aber die klangliche Realität der Benda’schen Vertonung. Dies ist für den Druck von 1775 insofern plausibel, als man ihn, wie oben ausgeführt, als ursprüngliche Vorlage der Komposition ansehen kann. Die späteren Drucke hätten dagegen eigentlich Bendas Vertonung berücksichtigen können; doch beim Druck dieser Texte folgte man ab 1776 ganz offensichtlich nicht der Partitur, sondern jeweils älteren Librettodrucken. Durch den Druck in der Reihe „Theater der Deutschen“69 1776 (I.2) war dieser Texttyp frühzeitig und vergleichsweise leicht überregional erhältlich. Es war in der Praxis offenbar einfacher, solch einen älteren Druck zu übernehmen, als den konkreten Text der Aufführung und vor allem die medialen Wechsel von Text und Musik im Druck neu darzustellen. Die Drucke der Textbuchgruppe II dagegen orientieren sich mehr an der Partitur Bendas als am ursprünglichen Text Gotters. Sie dokumentieren damit indirekt die Partitur und spiegeln sogar ansatzweise die jeweilige Aufführung wider.70 Ob der Frankenthaler Druck von 1778 (möglicherweise für Aufführungen 68 Betzwieser,

Text, Bild, Musik (wie Anm. 11), 75. Band von 1776 enthielt u. a. auch Goethes Stella. Eine Übersicht über diese große Sammlung bietet Reinhart Meyer, Bibliographia Dramatica et Dramaticorum. Kommentierte Bibliographie der im ehemaligen deutschen Reichsgebiet gedruckten und gespielten Dramen des 18. Jahrhunderts nebst deren Bearbeitungen und Übersetzungen und ihrer Rezeption bis in die Gegenwart, 1. Abteilung, Bd. 3, Tübingen 1986, 1429 – 1435. 70 Ein kleines, aber bezeichnendes Indiz für die zentrale Differenzen der beiden Textgruppen ist die Autorschaftszuschreibung im Titel: Während drei Drucke der I. Gruppe nur den Textdichter Gotter nennen, nicht aber den Komponisten Benda (I.2, I.6, I.8), verfahren zwei Drucke der II. Gruppe umgekehrt und erwähnen nur den Komponisten, nicht aber den Textdichter 69 Der

56

Jörg Krämer

in Mannheim?) tatsächlich der Pionierdruck für diese Textgruppe war, muss vorerst offenbleiben; jedenfalls bildet er nach gegenwärtigem Stand den ältesten Druck einer relativ einheitlichen Gruppe, zu der etwa die Libretti München 1779, Straßburg 1781, Ulm 1782 und Neuwied 1789‍ (?) gehören. Die anderen beiden Drucke aus dem Jahr 1778 (Darmstadt und Wien) gehen in manchen Punkten andere Wege und haben textgenetisch keine vergleichbare Nachfolge gestiftet. Es würde jetzt allerdings der historischen Realität widersprechen, ein einfaches, teleologisches Ablösungsverhältnis anzunehmen, wonach die ‚moderneren‘ Drucke der Gruppe II die konventionelleren der Gruppe I ersetzt hätten. Die erhaltenen Textbuchdrucke zeigen, dass die beiden unterschiedlichen Librettotypen der Gruppe I und II ab 1778 trotz ihres unterschiedlichen Textstatus parallel nebeneinander existierten. Offenbar erfüllten beide Formen Bedürfnisse der zeitgenössischen Rezipienten. Inwieweit möglicherweise die Textbuchdrucke durch den Akt der Lektüre bei der Aufführung auch die Wahrnehmung der Zuschauer beeinflussten bzw. steuerten, ist dabei noch völlig unerforscht. Bei den musikalischen Quellen ist schließlich bemerkenswert, dass der gesprochene Text dort an sich stabil bleibt. Der gesprochene Text in der Partitur von 1775 beruht grundsätzlich auf I.1, weicht aber in zahlreichen Details, insbesondere in Orthographie und Interpunktion, mitunter auch semantisch davon ab. Nebentexte sind dagegen in der Partitur kaum enthalten. Trotz der zahlreichen, oft erheblichen Änderungen der Musik, etwa zwischen den Partituren von 1775 und 1784, wirkt sich das jedoch kaum auf den notierten Sprechtext der Partituren aus; er bleibt fast unverändert konstant, und auch die drei verschiedenen, deutschsprachigen Klavierauszug-Drucke bieten den Text der Partitur von 1775 mit allenfalls geringen Varianten (allerdings typographisch71 unterschiedlich). Doch trotz dieser Stabilität des gesprochenen Textes in den musikalischen Medien präsentiert kein einziges der gedruckten Textbücher genau diesen Text,72 und in der jeweiligen historischen Aufführungssituation des Stücks hat man (II.18, II.20). Alle anderen Drucke nennen entweder keinen Autor oder beide. Die laut Rüdiger Nutt-Kofoth charakteristische „doppelte Autorschaft von Textdichter und Komponisten“ im Musiktheater, die zu einem „pluriautorschaftlichen und mehrmedialen Werk[]“ führt, ist hier also offenbar eher als sukzessive Abfolge denn als tatsächlich gemeinsame Autorschaft zu denken (Rüdiger Nutt-Kofoth, Autorschaft, Werk, Medialität. Editionstheoretische Annäherungen an pluriautorschaftliche und plurimediale Werkkomplexe – mit einem germanistischen Blick auf das Phänomen Oper/Libretto, in: Betzwieser u. a. (Hg.), Perspektiven [wie Anm.  11], 25 – 38, hier 31). Auch dies zeigt sich erst bei einem genauen Blick auf die Materialität der Werk-Überlieferung. 71 Dazu Schmidt, Medea lesen (wie Anm. 11) und allgem. Betzwieser, Text, Bild, Musik (wie Anm. 11), bes. 76 f. 72 Vgl. zum Problemfeld allgem. Esbjörn Nyström, Literaturwissenschaftliche Beobachtungen zum Problem der Vergleichbarkeit von Literaturtexten und Partiturtexten, in: Betzwieser u. a. (Hg.), Perspektiven (wie Anm. 11), 39 – 59 sowie Nyström, Partiturtexte (wie Anm. 11).



Der Abdruck der Musik im Text 57

ohnehin stets mit Veränderungen auf textlicher Ebene zu rechnen, wovon die Drucke der Gruppe II Zeugnis ablegen. Welchen Text überliefern nun also Librettodrucke des 18. Jahrhunderts von einem Musiktheaterstück? Das Beispiel Medea zeigt, dass man nicht von einem festen Text sprechen kann, sondern eher mit einem Bündel von Textvarianten umgehen muss.73 Man kann weder einfach davon ausgehen, dass die einzelnen Textbuchdrucke den genauen Wortlaut der Partitur wiedergeben, noch dass sie stets den tatsächlich gesprochenen Text einer Aufführung dokumentieren. Librettodrucke folgen offenbar zunächst eigenen textlichen Zusammenhängen, indem sie oft eher auf ältere Drucke zurückgreifen als auf die konkrete Partitur (oder andere Aufführungsgrundlagen wie Klavierauszüge). Aufschlussreich dafür sind die beiden im Partiturautograph eliminierten Textpassagen (s. o.). Obwohl Benda die lange Dialog-Passage in der Schlussszene Gotters überhaupt nicht in die Partitur aufgenommen hatte und sie daher vermutlich nie Teil der Aufführungspraxis wurde, wird sie in einzelnen Libretti der Gruppe I bis 1792 (I.6) abgedruckt, während die Drucke der Gruppe II sie konsequent eliminieren. Von daher erlauben allenfalls die Drucke des zweiten Typs also Rückschlüsse auf konkrete Aufführungen, während die Drucke der I. Gruppe überwiegend einer eigenen textuellen Traditionslinie folgen. Doch auch die Drucke der II. Gruppe sind nur begrenzt als verlässliche Dokumentationen historischer Aufführungen oder gar als eine Art „zweite Partitur“74 anzusehen. Das zeigt die andere gestrichene Passage in Szene 6. Hier ist zwar unklar, durch wen und wann die Streichung der ursprünglich vertonten Passage im Partiturautograph von 1775 erfolgte. Da diese Stelle aber in allen ab 1778 gedruckten Klavierauszügen ebenso wie in Bendas Partiturautograph der Neufassung von 1784 komplett fehlt, spricht vieles dafür, die Streichung im älteren Partiturautograph von 1775 erstens als authentisch anzusehen und zweitens spätestens auf 1778, eventuell auch bereits früher anzusetzen. Hier können die Textdrucke ein Indiz abgeben, denn sie überliefern diese Passage geschlossen bis 1778 (II.9, II.17): Die ersten Drucke ohne diese Passage sind II.18 (Wien 1778) und I.4 (Karlsruhe 1779). Andere Textbücher überliefern die Passage jedoch teilweise noch bis ins Jahr 1800 weiter, obwohl sie mutmaßlich in den Aufführungen nicht mehr vorkam75 (I.5, I.7; II.10–II.13, II.15, II.16). Auch in diesem Fall könnte die Orientierung beim Druck eines Librettos eher einem älteren Textdruck gegolten haben als der realen Aufführung. 73

Vgl. dazu auch Jörg Krämer, Paratextualität im Libretto der Frühen Neuzeit, in: ders., „Die wahrste aller Formen“ – Musiktheater als Herausforderung der Literaturwissenschaft, Berlin 2019 (Mikrokosmos 84), 35 – 68. 74 So zu optimistisch Betzwieser, Münzmay, Textedition (wie Anm. 21), 261. 75 Es sei denn, dass als Aufführungsgrundlage Partiturabschriften der Ur-Fassung von 1775 ohne die Streichung zirkulierten, was denkbar, aber nicht sehr wahrscheinlich ist.

58

Jörg Krämer

Eine Zusammenschau der 20 überlieferten Medea-Libretti zeigt, dass es neben dem Rückgriff auf ältere Textbücher immer wieder auch zu Neuansätzen bei einzelnen Librettodrucken kam (vgl. etwa II.9, II.12, II.17 oder II.19), die dann ihrerseits manchmal wieder eine spezifische Nachwirkung entfalteten, manchmal aber auch isolierte Versuche blieben. Jede Untersuchung eines historischen Librettos müsste also zunächst einmal versuchen, den konkreten Status dieses Textdrucks zu eruieren. Dazu aber müssen zwingend auch die musikalischen Quellentexte berücksichtigt werden, wie umgekehrt auch die genaue Untersuchung der überlieferten Libretti Erkenntnisse für die musikalischen Quellen ergeben kann. Reine ‚Librettologie‘ ohne Berücksichtigung der musikalischen Quellen kann dagegen kaum zu validen Ergebnissen führen. Zudem bietet jeder einzelne Textdruck, isoliert betrachtet, nur ein eingeschränktes, punktuelles Bild der historischen Theaterpraxis. Betrachtet man nur einen Druck aus der I. Gruppe, dann läuft man Gefahr, eine Fülle von historisch wichtigen Informationen über die Aufführungspraxis zu versäumen, die den Drucken der II. Gruppe entnommen werden können. Andererseits enthalten die Libretti der Gruppe I gerade in ihrer präskriptiven Art wiederum eigene Erkenntnispotentiale; nur ein Libretto aus Gruppe  II zum „Text“ des Werks zu erklären, würde daher andere Einsichten verbauen. Für die Einschätzung der theatralischen Realität eines musiktheatralen Werks wäre es also wichtig, über die Mediengrenzen hinweg möglichst die gesamte Breite der textuellen Überlieferung zu betrachten – zumindest bis sich ab dem mittleren 19. Jahrhundert die Librettodrucke immer mehr normieren und angleichen. Erst in der Gesamtbetrachtung lässt sich der konkrete Status eines einzelnen Textbuchdrucks im Spannungsfeld von Aufführung, Partitur (bzw. Klavierauszügen) und älteren Librettodrucken einigermaßen zutreffend einschätzen. Und erst dann können Librettodrucke über werk- oder autorbezogene Fragestellungen hinaus unser Bild vom Theater des 18. und frühen 19. Jahrhunderts erweitern.



Der Abdruck der Musik im Text 59

Anhang Verzeichnis der Textdrucke zu Medea Textgruppe I: literarisch-präskriptive Textbücher I.1 Medea. ein mit Musik vermischtes Drama. Gotha: Carl Wilhelm Ettinger 1775. 24 S.; Digitalisat urn:nbn:de:bvb:12-bsb11090345-0 I.2 Medea. Ein mit Musik vermischtes Drama. Vom Herrn Gotter. In: Theater der Deutschen. Sechszehnter Theil. Königsberg und Leipzig: Johann Jacob Kantor 1776, S. [317]–332. 16 S.; Digitalisat urn:nbn:de:bvb:12-bsb10925340-3 I.3 Medea. Ein Drama mit musicalischen Accompagnements, vom Hrn. Legations=Secretair Gotter. Die Musik ist vom Hrn. Capelldirecktor Benda. Hamburg 1776. 16 S. I.4 Medea. Ein mit Musik vermischtes Drama. Carlsruhe, gedruckt mit Macklottischen Schriften 1779. 15 S.; Digitalisat urn:nbn:de:gbv:9-g-4884658 I.5 Medea. Ein musikalisches Drama von Herrn Gottter [sic]. Die Musik ist von Herrn Georg Benda. In: Melodramen. Pilsen und Klattau: Joseph Johann Morgensäuler 1791, S. [52]–74. 22 S. I.6 Medea. Ein mit Musik vermischtes Drama. Vom Herrn Gotter. Odense: Laurits Nicolai Faber 1792. 6 S.; Digitalisat http://www5.kb.dk/e-mat/dod/115608001224_bw.pdf I.7 Medea. Ein Drama mit musikalischen Zwischensätzen. Das Drama ist vom Herrn Legationssecretair Gotter. Die Musik vom Herzogl. Gothai= | schen Capell=Direktor, Herrn George Benda. | [s. l.] 1800. 16 S.; Digitalisat http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/ SBB0000775000000000

60

Jörg Krämer

Versfassung I.8a I.8b

Medea. Melodrama. In: Gedichte von Friedrich Wilhelm Gotter. Zweyter Band. [Titelvignette: Medea mit ihren Kindern] Mit 2 Kupfern. Gotha: Carl Wilhelm Ettinger 1788, S. [485]–518.76 34 S.; Digitalisat http://data.onb.ac.at/rep/109710D0 Medea. Melodrama. In: Gedichte von Friedrich Wilhelm Gotter. Zweyter Band. [Titelvignette: Medea mit ihren Kindern] Mit 2 Kupfern. Gotha: Carl Wilhelm Ettinger 1788, S. 339 – 362. 24 S.; Digitalisat urn:nbn:de:bvb:12-bsb11260090-5

Textgruppe II: partiturbezogen-deskriptive Textbücher II.9

Medea, ein mit Musik vermischtes Drama. Frankenthal, gedruckt mit Gegelischen Schriften 1778. 16 S.; Digitalisat http://data.onb.ac.at/rec/AC09909265

II.10 Medea. ein mit Musik vermischtes Drama. Stuttgart, mit Mäntlerischen Schriften 1779. 16 S.; Digitalisat urn:nbn:de:bvb:12-bsb00053792-3 II.11 Medea, ein mit Musik vermischtes Drama. München 1779. 19 S.; Digitalisat http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/ SBB0000 A71400000000 II.12 Medea. Ein Duodrama von Gotter. In Musik gesetzt von Georg Benda. s. l., s. a. (späterer Vermerk mit Bleistift: „[ca 1780]“). 16 S.; Digitalisat http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/ SBB00006DFE00000000 II.13 Medea, ein mit Musik vermischtes Drama. Straßburg, gedruckt in der Kürßnerischen Buchdruckerey 1781. 16 S.; Digitalisat http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/ SBB0000BB1100000000 II.14 Medea, ein mit Musik vermischtes Drama. Flensburg, gedruckt mit Serringhausenschen Schriften 1781. 22 S.; Digitalisat http://www5.kb.dk/e-mat/dod/11560800121D.pdf

76 Ein

Reprint dieser dreibändigen Werkausgabe erschien 1971 in Bern (Verlag P. Lang).



Der Abdruck der Musik im Text 61

II.15 Medea, ein mit Musik vermischtes Drama. In: Catalogus auserlesener gebundener Bücher aus allen Theilen der Wissenschaften [neunter von insgesamt 16 Teilen]. Ulm: C. U. Wagner 1782, fol. 173 – 180. 16 S. II.16 Medea, ein mit Musik vermischtes Drama. Neuwied, gedruckt mit Hauptischen Schriften s. a. [1789(?)]. 20 S. II.17 Medea. Ein mit Musik vermischtes Drama. Nach der Original=Ausgabe verfertigt. Darmstadt, gedruckt in der Fürstl. Hof= u. Regier. Buchdruckerey, durch Joh. Jacob Will, d. Z. Factor. 1778. 16 S. II.18 Medea, ein mit Musik vermischtes Drama. Die Musik ist vom Herrn George Benda. Aufgeführt auf dem k. k. Nationaltheater. WJEN, zu finden beym Logenmeister 1778. 26 S.; Digitalisat http://data.onb.ac.at/rec/AC08532511 II.19 Medea. Verfaßt vom Herrn Gotter. Die Musik vom Herrn Georg Benda. Innsbruck, gedruckt bey Wagners sel. Wittwe u. Erben 1782. 23 S.; Digitalisat urn:nbn:de:bvb:12-bsb00076746-8 II.20 Medea. Ein mit Musik vermischtes Drama. Die Musik ist vom Herrn George Benda. Für die k. auch k. k. Hoftheater. Wien, Auf Kosten und im Verlag bey Johann Baptist Wallishausser 1806. 16 S.; Digitalisat http://data.onb.ac.at/rec/AC09909266

62

Jörg Krämer

Wiedergabe der in der Partitur von 1775 eliminierten Textteile

Jahr

Szene 6

Szene 8

I.1

1775

X

X

I.2

1776

X

X

I.3

1776

X



I.4

1779





I.5

1791

X



I.6

1792



X

I.7

1800

X



I.8a

1788





I.8b

1788





II.9

1778

X



II.10

1779

X



II.11

1779

X



II.12

1780 (?)

X



II.13

1781

X



II.14

1781





II.15

1782

X



II.16

1789 (?)

X



II.17

1778

X



II.18

1778





II.19

1782





II.20

1806







Der Abdruck der Musik im Text 63

Am Beispiel der 20 erhaltenen, verschiedenen Textbuchdrucke des Melodrams Medea von Friedrich Ludwig Gotter und Georg Anton Benda von 1775 bis 1806 geht der Bei­ trag der grundsätzlichen Frage nach, welchen Text Librettodrucke des 18. Jahrhun­ derts bieten. Die einzelnen Drucke unterscheiden sich deutlich in ihrem Verhältnis zur Partitur bzw. zur Aufführung. Sie bilden dabei unterschiedliche Traditionen der Markierung des Verhältnisses von Text, Musik und Szene aus. Insgesamt zeigt sich, dass kein einziger Druck den Text exakt nach der Partitur wiedergibt. Es lassen sich aber unterschiedliche Grade der Annäherung an das theatrale Ereignis einer Auffüh­ rung erkennen. Sie können damit unterschiedliche Informationen über die historische Theaterpraxis liefern. Examining the 20 existing, different libretto prints of the melodrama Medea by Fried­ rich Ludwig Gotter and Georg Anton Benda from 1775 to 1806, the article discusses which actual text the printed libretti of the 18th century offer. The individual prints clearly differ in their relationship to the score or the performance. In this way, they form different traditions of marking the relationship between text, music and staging. Most significantly, it can be seen that no single print exactly reproduces the text of the score. However, differing degrees of approximation to the theatrical event of a perfor­ mance can be discerned. They can thus provide diverse insights into historical theatre practice. Prof. Dr. Jörg Krämer, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Department Germanistik und Komparatistik, Bismarckstraße 1, 91054 Erlangen, E-Mail: [email protected]

Estelle Joubert Quantitative Approaches to Transnational Studies of Opera, 1785–1810

In his Skizze von Wien (1786), Johann Pezzl famously lists the wide variety of theatrical genres performed in late eighteenth-century Vienna: French comedy, Italian comedy, Italian opera, the grand Noverre ballets, and German opera.1 The cosmopolitan character of Vienna, and indeed many other German operatic centers, presents some unique challenges for scholars of late eighteenth-century music theatre. French and Italian operas were often performed in the German language; these ‚translations‛ typically receive less scholarly attention than their German operatic counterparts.2 Current transnational approaches to eighteenth-century music reveal that generic features of music theatre are not only near impossible to isolate, but indeed, that the musico-theatrical landscape is best understood as a web of networks of composers, performers, troupes and operatic works, continually interacting with one another.3 At the same time, the 1 „Keine

langweiligere Sache von der Welt, als eine Komödie, die zu lange dauert. Dieß ist der Fall nicht bloß mit den einzelnen Vorstellungen eines Theaterstükes, sondern mit jeder Art von Schauspiel überhaupt. Wien hatte deren schon von allen Gattungen: französische Komödie, wälsche Komödie, wälsche Oper, die grossen Noverrischen Ballette, deutsche Oper u. u.“ (Johann Pezzl, Skizze von Wien, vol. 1, Wien, Leipzig 1786, 421). 2 For studies on German opera in translation see for example Herbert Schneider, Das Repertoire des französischen Theaters und Beispiele für Übersetzungen französischer Opern für das deutsche Theater in Hamburg, in: Bernhard Jahn, Claudia Maurer Zenck (eds.), Bühne und Bürgertum: Das Hamburger Stadttheater (1770 – 1850), Frankfurt am Main 2016 (Hamburger Bei­ träge zur Germanistik 56), 223 – 278; Thomas Betzwieser, Sprechen und Singen. Ästhetik und Erscheinungsformen der Dialogoper, Stuttgart, Weimar 2002, 472 – 478; Thomas Betzwieser, Opéra comique als italienische Hofoper. Grétrys Zemira e Azor in Mannheim (1776), in: Ludwig Finscher u. a. (eds.), Mannheim – Ein Paradies der Tonkünstler? Kongressbericht Mannheim 1999, Frankfurt am Main 2002 (Quellen und Studien zur Geschichte der Mannheimer Hofkapelle 8), 435 – 466. 3 For a discussion of transnational studies of opera see Axel Körner, Dalla storia transnazio­ nale all’opera transnazionale. Per una critica delle categorie nazionali, in: Il saggiatore musicale 24 (2017), 81 – 98 and Körner’s related article: Transnational History: Identities, Structures, States, in: Barbara Haider-Wilson, William D. Godsey, Wolfgang Mueller (eds.), Internationale Geschichte in Theorie und Praxis. International History in Theory and Practice, Wien 2017 (Internationale Geschichte 4), 265 – 290.

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popularity of Singspiel, French opera (most often in German translation), and Italian opera (also often in German translation) underwent ebbs and flows, often dependent on changing political contexts. For example, scholarly narratives tend to assume that a resurgence of French opera (mainly comic but also heroic) truly ‚arrived‛ in Vienna in 1802 with Luigi Cherubini’s Les deux journées or Graf Armand, following the signing of the Treaty of Lunéville on 9 February 1801.4 Given the sheer amount of source material available, it can be difficult to get a nuanced sense of the presence of French opera, compared to German or Italian opera (in each case both comic and heroic genres appear in the German-speaking realm during this time). It is also challenging to gain sharp insights into how various operatic genres performed in Vienna compared to other cities, especially major centers such as Berlin. In this paper, I will employ quantitative approaches to investigate trends pertaining to operatic genres across the German-speaking realm, with a focus on cosmopolitan Vienna around 1800. My evidence is drawn from a database of opera performances across the German linguistic area, which has been generated by a research team based at Dalhousie University.5 As is the case with any quantitative study, the data set has its limitations, and my chapter focuses on areas where the dataset is most reliable and robust.6 First, performances across 4 John

Rice notes that „during the 1790s Viennese theaters reflected the state of war between Austria and France by consistently avoiding French opera, even in German translation“ (John Rice, Antonio Salieri and Viennese Opera, Chicago 1998, 565). Given the book’s publication date, I note that Rice did not have access to electronic resources available today. More recently, David Wyn Jones’ chapter also suggests that Cherubini’s Les deux journeés and his subsequent invitation to Vienna to compose Lodoïska signal the beginnings of a craze of French operas in Vienna. See David Wyn Jones, Music in Vienna, 1700, 1800, 1900, Woodbridge 2016, 134 f. 5 The database project is entitled Visualizing Operatic Fame and formed part of a larger project entitled Opera and the Musical Canon. See https://operacanon.io/. 6 The database from which this present dataset is drawn contains over 13,500 performances of opera (German, Italian and French opera in both the comic and serious genres) in the German-speaking realm from 1772 – 1798; and from 1799 – 1810 in Vienna. Central primary sources include Reichardt’s Theater Kalender, the Allgemeines europäisches Journal, Annalen des Theaters, and the Wiener Theater-Almanach. Secondary sources employed to fill out the data include Richard Hodermann, Geschichte des Gothaischen Hoftheaters 1775 – 1779, Hamburg, Leipzig 1894; Dorothea Link, The National Court Theatre in Mozart’s Vienna. Sources and Documents, 1783 – 1792, Oxford 1998; Michael Jahn, Die Wiener Hofoper von 1794 bis 1810. Musik und Tanz im Burg- und Kärtnerthortheater, Wien 2011 and Austin Glatthorn, The Theatre of Politics and the Politics of Theatre. Music as Representational Culture in the Twilight of the Holy Roman Empire, PhD Diss., University of Southampton, 2016. I am grateful to Austin Glatthorn for supervising much of the data entry for this portion of the database during his tenure as a postdoctoral research fellow on a project entitled Opera and the Musical Canon, 1750 – 1815. Anisha Netto has continued to fill out the Viennese data to also include the Theater auf der Wieden/Theater an der Wien and the Leopoldstadttheater. The Vienna portion of the database is slated to be published online at the University of Southampton, provisionally entitled Viennese Music Theater around 1800; this will feature music theatre performances in Vienna during the



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the German-speaking realm emphasize primary sources that have coverage for the Holy Roman Empire prior to 1798. After 1798, the sources focus strongly on Vienna. As such, my paper will contextualize queries for German, French, and Italian opera prior across the German-speaking realm prior to 1798, with Vienna as focal point, and queries limited to Vienna that extend from 1785 – 1810. Both comic and heroic genres are included in each of the three languages. French and Italian opera is defined both as operas performed in the French and Italian language, as well as German translations of what were originally French and Italian operas. This present data set is limited to operatic performances and does not include publications of operatic works. Like many databases in the humanities, the relative ‚completion‛ of data entry is often a moving target given that additional sources can almost always be found. As such, data of this nature are most effective in suggesting overall trends, rather than being celebrated as ‚complete‛, ‚closed‛, or ‚definitive‛ numbers of performances. I. Operatic Genres in the Late Eighteenth-Century German-Speaking Realm A broad overview of opera performances across the German linguistic area by genre from 1788 – 1798 is shown in Figure 1.7 Italian opera prevails prior to 1793 whereas Singspiel features most prominently from 1793 to 1797, when all three genres decline sharply, likely as a result of the Napoleonic wars. French opera is the least well represented compared to German and Italian opera. Figure 2, by comparison, features an overview of opera performances in Vienna between 1788 and 1810. The extended timeframe notwithstanding, some Viennese idiosyncrasies come to the fore. First, German opera disappears entirely between 1789 and 1791, owing to the disbanding of the ‚Nationalsingspiel‛ in 1788. While French opera was performed around the time of the French Revolution across the German-speaking realm, it experienced a period of absence in Vienna from 1787 to 1792 and again in 1798 to 1802, the latter corresponding to the War of the Second Coalition. As historian of diplomacy Hamish Scott explains, „France took the initiative [in early 1799], sending her forces across the Rhine and then declaring war in Austria (March).“8 In this case, it would seem, that Viennese theaters ceased to perform French operas whilst at war with France. More broadly, however, it is also evident that while French opera did not feature prominently late eighteenth and early nineteenth centuries. At the time of this present publication the data entry was still underway. I am grateful to the Social Sciences and Humanities Research Council of Canada for funding this research project. 7 To explore the database examples interactively, visit https://tabsoft.co/3s7Zfsx. 8 Hamish M. Scott, The Birth of a Great Power System, 1740 – 1815, London, New York 2006, 293.

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in Vienna prior to 1802, it was not entirely absent either. What Figures 1 and 2 suggest overall is that Vienna did not necessarily follow the broad generic trends prevalent throughout the German-speaking realm. Investigating the geographic reach of various genres requires geospatial analyses; Figures 3, 4, and 5 show performances of German, Italian, and French opera by composer across the German-speaking realm from 1785 to 1799. These visualizations allow us to see how prominent operatic performances of a particular genre were and they also show the make-up of composers for each genre. As Figure 3 shows, Berlin and Vienna were the most prominent centers for performances of German opera. In Berlin, Carl Ditters von Dittersdorf was by far the most performed composer, with Mozart as the second most frequently performed composer. The remaining share of performances is split between a range of composers including Paul Wranitzky, Johann André, Caspar Hellmich, and Johann Adam Hiller, among others. In Vienna Dittersdorf was most popular but did not occupy as big a ‚slice of the pie‛ as he did in Berlin. Vienna’s other prominent composers of German opera include Franz Süssmayr, Wenzel Müller, Peter von Winter, Johann Schenk, and Ignaz Umlauf, whose German operas were more frequently performed than those of Mozart in Vienna. Vienna and Berlin boasted by far the greatest variety of composers of German opera performances. Secondary hubs such as Prague, Frankfurt am Main, and Mainz offered fewer composers of German opera in their performed repertories. There is a curious preference for Wenzel Müller’s German operas in the East, most notably in Prague, Brno, Buda, Linz, Kraków and Karlovy Vary. This preference for Müller is concomitant with a comparatively small number of performances of German operas by Dittersdorf. The similar make-up of repertories in these Eastern theatrical centers may be a result of traveling troupes, who likely brought a similar repertory to the area. As such, the repertorial composition of opera in each location is ideally examined in the broader context of traveling troupes.9 As Figure 4 shows, Italian opera performances feature most prominently in Vienna, with the most frequently performed composers being Giovanni Paisiello, Domenico Cimarosa and Antonio Salieri; Mozart’s Italian operas occupy a comparatively small ‚slice‛ of Italian operatic repertory in Vienna. The city is followed by Berlin where Paisiello once again occupies the largest ‚slice‛, followed closely by Vicente Martín y Soler, Salieri, and Mozart. Mozart occupies the largest ‚slice‛ of Italian opera performances in Prague, followed by Martín y Soler and Salieri. Salieri dominates in the secondary hubs for Italian opera in 9

Broadly speaking, these patterns align with what Austin Glatthorn sees in a similar analysis of contemporary theatre journals. For more on the shared German-language repertoire and the network of theatre troupes at this time, see Austin Glatthorn, Music Theatre and the Holy Roman Empire. The German Musical Stage at the Turn of the Nineteenth Century, Cambridge 2022, 42 – 125.



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Frankfurt am Main and Mainz. Smaller Eastern centers of Italian opera include Buda, Krakau, Oels (Oleśnica), Danzig, and Königsberg. The geospatial visualization of performances of French operas across the German-speaking realm in Figure 5 gives a glimpse into repertory, with André-Ernest-Modeste Grétry enjoying tremendous popularity in Berlin and Vienna but also Frankfurt am Main, Mainz, and Hamburg, while also enjoying the widest geographic reach. Nicolas Dalayrac enjoyed far more popularity in Berlin, Mainz, Frankfurt, and Hamburg compared to Vienna; this composer boasts a geographic reach comparable to Grétry. Pierre-Alexandre Monsigny enjoyed almost equal popularity in Berlin and Vienna, with some performances also in Mainz, Frankfurt am Main, and Hamburg, as well as smaller centers such as Graz, Prague, Wels, Mannheim, Weimar, Braunschweig, Hanover, Schwerin, Güstrow, and Danzig. Composers such as Jean Baptiste Lemoy and Pierre Gaveaux are limited to only one small center. Aside from the geographic reach of particular composers of French opera, it is also possible to get a sense of the proportion of performances by composer in each city. Immediately obvious is the repertorial constitution of Vienna’s French opera performances, especially the largest proportion of performances by Gluck and distinct de-emphasis on Dalayrac, which occupies a large proportion of the French opera repertory in Berlin, Mainz, and Mannheim. Vienna is also among the most diverse in its French operatic repertory. Given this richness and unusual diversity, narratives detailing French opera in Vienna ca. 1800 would do well not to de-emphasize or omit the revolutionary period prior to 1802. Overall, these static geospatial representations reveal that Vienna’s cosmopolitanism, celebrated by contemporary writers such as Pezzl, was not unique, but instead, was the norm in major urban centers in the German-speaking realm. The most significant drawback of maps such as these is that they do not (at least in printed form) reveal change over time. For this, we turn to lists of opera performances by year and by city. Figures 6, 7, and 8 illustrate German, Italian, and French operatic performances across the German-speaking realm by city, troupe, and year. This allows for an assessment of whether a particular genre was performed continually in a given location or whether there are sporadic periods of absence. The norm for operatic performances of all three genres is that they are, for the most part, sporadic, with the exception of major urban centers such as Vienna and Berlin. The inclusion of troupes (when known) showcases the extent to which music theatre in the German-speaking realm was dependent upon traveling troupes and resident theatre companies.10 The sheer number of theatre troupes and companies 10 For

studies on theatre troupes in the German-speaking realm during the eighteenth century see Michael J. Sosulski, Theater and Nation in Eighteenth-Century Germany, Oxford 2007; Ian Woodfield, Performing Operas for Mozart. Impresarios, Singers and Troupes, Cambridge 2012; Glatthorn, Music Theatre and the Holy Roman Empire (see footnote 8).

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active in the German-speaking realm is remarkable. A glimpse across Figures 6, 7, and 8 also suggests that most theatre companies performed German, Italian, and French repertories. This evidence brings renewed urgency to examining opera in the German linguistic area from a transnational perspective. It also foregrounds the materiality of operatic performance; music theatre was highly dependent on traveling or resident theatrical performers, whose presence and availability to perform year after year could not necessarily be taken for granted. II. Operatic repertories in Vienna after 1800 The most decisive change in Viennese operatic repertories after 1800 is the sharp increase of French opera (see Figure 2). An overview of French opera performances in Vienna by year (Figure 9) reveals that not only did Cherubini’s Lodoïska, but really, Les deux journées begin the craze of French opera in 1802. His works represent the only French operas performed in von Braun’s theatres in Vienna in that decisive year. The pivotal work was also the one that enjoyed popularity year-after-year, a relatively permanent fixture providing stability against a tumultuous cultural and political context. While Cherubini’s other sensational success, Faniska, enjoyed annual performances following its 1806 premiere, Les deux journeés still ultimately proved to be the more popular work (in terms of number of performances). Vienna’s 1802 Cherubini sensation also spurred the import of numerous other French adaptations. In 1803, when, as David Wyn Jones notes, „diplomatic relations between Austria and France were at their most cordial“, five other French operas – Dominique Della Maria’s L’oncle valet, Étienne Méhul’s Helene, JeanFrançois Le Sueur’s La Caverne, Jean-Pierre Solié’s Le chapitre second and Cherubini’s L’Hôtellerie portugaise were added.11 The following year the addition of works by Angelo Tarchi, Charles Dumonchau, François Devienne, François-Adrien Boieldieu, Henri-Montan Berton, Nicolas Dalayrac, and Nicolas Isouard to the repertory began to signal something of a French cultural occupation, shortly before arrival of the French troops in the suburbs of Vienna in November 1805.12 Indeed, the signing of the Treaty of Preßburg on 26 December 1805 brought four years of relative peace and political stability to Vienna, even as Napoleon wielded control over Austria. The years following the so-called Third Coalition to the Peace of Preßburg inaugurated a new period in the Viennese French operatic repertory: one that was characterized by the mixture of old and new. Composers performed during the late eighteenth-century, most notably Grétry, Gluck, and Dalayrac, are re-in11

Wyn Jones, Music in Vienna (see footnote 4), 131 f. 134.

12 Ibid.,



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tegrated into the repertory, arguably transforming them into canonic composers. Grétry’s comeback is perhaps modest though nevertheless important as a French cultural icon. Whereas the pre-1800 Viennese repertory featured L’amant jaloux, La fausse magie, Richard Cœur-de-Lion and of course the ever-popular Zémire et Azor, the post-1806 repertory commences with a performance of Les mariages samnites (Die Samniterinnen), also briefly reviewed in the Journal des Luxus und der Moden in 1806.13 Set in fourth century BC, the tale by Marmontel, as David Charlton explains, „concerns the relation of love, the family and heroism in an ideal republic“,14 themes that could easily be repurposed on French-occupied Viennese soil. Another brief Grétry spell in 1809 features the following operas in order of popularity: four performances of La fausse magie, one of Le tableau parlant (a new introduction) and a single performance of Zémire et Azor, all at the Burgtheater. Perhaps even more significant is the return of another French operatic symbol, who defined the uniqueness of Vienna’s French repertory in the late eighteenth century: Christoph Willibald Gluck. While the pre-1800 Viennese stage enjoyed La recontre imprévue and L’arbre enchanté, the composer’s 1807 comeback broadens considerably to include: Alceste, Armide, Iphigénie en Aulide, Iphigénie en Tauride (with 56 performances between 1807 and 1810), and L’ar­ bre enchanté. A critic writing for the Zeitung für Theater, Musik und Poesie in 1807 lauds the return of this great masterpiece: „Of the purest joys which a work of art has ever given me is the staging of Gluck’s Iphigenie, which, with such careful arrangement, represents the new direction of the whole on stage here [Burgtheater], leaving almost nothing to be desired.“15 The critic then proceeds to compare Mozart and Gluck, treating both as „great masters“ and describing the French composer’s work as „high classical“, an explicit ascription of a timeless classic. Reviving Gluck in early nineteenth-century Vienna might well have served as a common ground for the French troupes as well as Vienna’s theater audiences: this is a renowned composer with whom both groups could identify. Returning to works based on classical mythology also kept potential friction in cultural transfer to a minimum. A final oddity in this movement to reincorporate French works popular in the late eighteenth century is the burgeoning of opera performances by Dalayrac. Recalling our earlier investigation of pre-1800 French repertories across the Ger13 Anonymous,

Journal des Luxus und der Moden, 16 April 1806, 284 – 291, here 287 f. Charlton, Grétry and the Growth of Opéra-comique, Cambridge 1986, 26. 15 „Zu den reinsten Freuden, welche mir je ein Kunstwerk gegeben, gehört die Darstellung der Iphigenie von Gluck, welche die neue Direktion mit einer so sorgfältigen Anordnung des Ganzen auf die hiesige Bühne [k.k. Hoftheater] brachte, daß fast nichts mehr zu wünchen übrig bleibt“ (anonymous, Schreiben an einen Freund über die schöne Darstellung der Oper Iphigenia auf Tauris. Auf dem k.k. Hoftheater, in: Zeitung für Theater, Musik und Poesie, 2 December 1807, 129). 14 David

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man-speaking realm, Dalayrac was extremely popular in Berlin, Mainz, Frankfurt am Main, and other smaller centers, but was notably absent in Vienna. Yet starting in 1804, the composer not only enjoys persistent performances but also has the highest number of operas in the French Viennese repertory (12 operas). Preceding the theatrical performances, it is well worth noting that Dalayrac’s music was advertised in the Wiener Zeitung starting in August 1803; whether there is a trend to acclimatize Viennese audiences to new French composers by making excerpts of their operatic music available prior to theatrical performances has yet to be systematically examined. Contemporary criticism in Vienna does not yield much insight into the composer’s popularity, save perhaps a critic remarking in the Wiener Theater-Zeitung of 1807 that the composer is „renowned and beloved“ (bekannt, beliebt). Having examined both the Cherubini sensations that have come to embody the French opera craze and the reintroduction of canonic opera composers from the previous century, I now turn to the remaining, more ephemeral works. Isouard’s L’intrigue aux fenêtres stands out as an opera premiered in the same year as Cherubini’s Faniska. Remarkably, Isouard’s work, which premiered in Paris the year prior, received 32 performances at the Burgtheater and Kärtnerthortheater compared to Faniska’s 29 at the same theaters. Both operas remained in the repertory in subsequent years. And yet, narratives of French opera in Vienna hardly mention Isouard’s triumphant success. Granted, Cherubini is the more renowned composer, had an initial success in 1802 with Lodoïska, performed at the Theater an der Wien, and his famed connection with Napoleon naturally catapults him into the foreground. At the same time, the value of quantitative approaches might lie in drawing our attention to cases such as Isouard’s L’intrigue aux fenêtres, about which we know comparatively little. A similar situation exists with Berton’s Aline, reine de Golconde, which, in 1804, exceeded performances of Cherubini’s Les deux journées. As the Cherubini premiere is generally considered a pivotal moment for French opera in Vienna, this rival opera deserves closer attention. Beyond these individual instances of operatic fame, it is clear that the period following the peace of Preßburg (1806 – 1810) generated a period of substantial expansion for French opera in Vienna. Comparative political stability seems to have spurred on the burgeoning of French opera, both in number of performances and a number of unique operas staged. While revolutionary favorites featured prominently, established canonic composers such as Gluck were performed anew, offering a diversified repertory of French operas ca. 1800. At the same time, German opera too benefited from the political stability following the peace of Preßburg. As Figure 9 shows, between 1800 and 1805, works such as Franz Xaver Süßmayr’s Soliman der Zweite and Johann Schenk’s Der Dorfbarbier, alongside Mozart’s Die Zauberflöte boast sustained performances. After 1805, the repertory becomes even more diverse and the overall number of performances also increases. Works by composers such as Adalbert



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Gyrowetz and Joseph Weigl come onto the scene, while operas by Süßmayr and Paul Wranitzky do not seem to be part of the post-Preßburg period. In contrast to French and German repertories, which increased sharply in the early nineteenth century, Italian opera experienced a sharp decline in the market share of operatic performances in Vienna, and after 1805, the diversity of the repertory suffered. As Figure 10 shows, the period of 1800 to 1805 reveals a variety of Italian works by Salieri, Paër, and Paisiello featuring prominently alongside a range of other works by other composers. After 1805, however, new composers such as Spontini and Francesco Gardi come onto the scene, though composers such as Sacchini, Cimarosa, Pietro Generali, Pietro Alessandro Gugliemi, and even the Italian operas by Mozart fall out of the performed repertory in Vienna. The new prominence of French opera thus seemed to impact the Italian repertory the most, while at the same time opening up new opportunities for composers of German opera. This notion harking back to ‚classics‛, potentially to establish a cultural identity, seems limited to the French repertory. This is perhaps a signal of the urgency of forging and sustaining a French cultural identity in a cosmopolitan context such as Vienna. III. Conclusion To conclude, the complexity and richness of theatrical life in the German-speaking realm makes it a good candidate for quantitative approaches. Data-driven investigations may be used to confirm and further nuance trends of which musicologists are already aware, and to uncover potential patterns and outliers, which might otherwise go unnoticed. Geospatial data visualizations of German, Italian, and French repertories prior to 1800 reveal a strongly transnational repertory, with numerous resident theatre troupes and traveling troupes performing works in all three languages and associated styles. It reinforces the mobility of music theatre in the late eighteenth century German-speaking realm. An analysis informed by visualizations reveals that despite a brief cessation from 1799 to 1802, French opera was not entirely absent in the decade following the French revolution. Instead, a subtle picture of the geographic reach of individual French operas prior to 1800 emerges along with a unique ‚constitution‛ of the French repertory in Vienna prior to 1800. As it turns out, the period immediately following the French revolution is important in laying the groundwork for the early nineteenth-century French operatic craze, as some composers are reintroduced, while others, such as Dalayrac, were previously overlooked, but feature prominently in the later repertory. Visualizing French operatic repertories across time and bringing these results into dialogue with major revolutionary events, suggest just how closely intertwined tumultuous revolutionary politics is connected to performances of French opera. Finally, nuanced insight into the ebbs and

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flows of the French operatic repertory in Vienna post-1800 suggests that alongside established landmark performances such as Les deux journées in 1802 and Faniska in 1806, other operas were also hugely popular, about which we know comparatively little. Ultimately, empirical results gained from computational methods are most valuable in prompting to us investigate these ‚moments‛ in opera history more closely. This paper employs quantitative methods to examine the transnational generic dimen­ sions of eighteenth-century opera, with a focus on Vienna ca. 1800. The visualizations are based on data from a large-scale computational research project entitled Visualizing Operatic Fame, carried out at Dalhousie University, Canada. Basic line graphs reveal the number of performances for German, Italian, and French operatic genres across the period. Geospatial analyses of composers performed across the German speaking realm reveal the make-up of the repertory by place. The inclusion of theatre troupes into queries reveals that most traveling companies performed German, Ital­ ian, and French opera, thereby emphasizing the need for transnational approach to studying opera in the late eighteenth-century Holy Roman Empire. Visualizations that display the ebbs and flows of operatic repertories over time are perhaps most revealing, as most operas did not enjoy constant performances and were instead subject to the fickle changes in public taste and political contexts. Overall, data-driven approaches are useful in quantifying and confirming (or dispelling) trends that musicologists have limited evidence for, and at times, identifying entirely new and unexpected findings. Auf der Basis quantitativer Methoden geht dieser Beitrag den transnationalen Gattungs­ eigenschaften der Oper des 18. Jahrhunderts nach, im Blick auf Wien um 1800. Die Visualisierungen stützen sich auf Daten aus dem Forschungsprojekt Visualizing Operatic Fame (Dalhousie University, Nova Scotia, Kanada). Liniendiagramme informieren über Aufführungszahlen deutscher, italienischer und französischer Opern im gesam­ ten Zeitraum. Raumbezogene Analysen anhand von Komponisten, deren Werke über den ganzen deutschen Sprachraum aufgeführt wurden, geben hingegen eine Übersicht über die geographische Verbreitung des Repertoires. Daten zu den Theatertruppen zeigen zudem, dass die meisten reisenden Ensembles gleichermaßen deutsche, italieni­ sche und französische Opern aufführten, was die Notwendigkeit eines transnationalen Ansatzes bei der Untersuchung der Oper des späten 18. Jahrhunderts unterstreicht. Zeitsensible Visualisierungen zum Auf und Ab des Opernrepertoires zeigen, dass die Aufführungshäufigkeit der meisten Opern nicht konstant war, sondern mit dem Publi­ kumsgeschmack und den politischen Kontexten schwankte. Insgesamt zeigt sich der Nutzen datengestützter Ansätze, mit denen sich Trends quantifizieren und bestätigen (oder widerlegen) lassen, die bislang unzureichend abgesichert waren, mit denen sich manchmal aber auch völlig neue und unerwartete Erkenntnisse erzielen lassen. Estelle Joubert, DPhil, Room 523, Dalhousie Arts Centre, 6101 University Avenue, PO Box 15000, Halifax, NS B3H 4R2, Kanada, E-Mail: [email protected]

Thomas Betzwieser Transformationen ins Ähnliche Grétrys Opéras comiques in Singspiel-Vertonungen Für David Charlton

Im ersten Jahrgang des in Gotha verlegten Taschenbuchs für die Schaubühne war 1775 eine Rubrik eingerückt, die sich auch in den Folgejahren wiederfindet: „Auswärtige Tonkünstler; deren Compositionen man sich auf deutschen Theatern bedient.“1 Dort waren diejenigen Komponisten verzeichnet, deren Werke in Deutschland in Übersetzungen gespielt wurden. Mit Ausnahme von Piccinni finden sich auf dieser Liste ausschließlich Komponisten französischer Opéras comiques wieder: Duni, Monsigny, Philidor und natürlich Grétry. Mit Blick auf den Letztgenannten schließt die Rubik mit der gleichermaßen lapidaren wie kuriosen Feststellung, dass der in Lüttich geborene Grétry ein Deutscher sei.2 Man könnte dieses Kuriosum als das Produkt einer topographisch-linguistischen Verirrung gegenüber dem durch und durch frankophonen Komponisten abtun, indes ist ein solches Zeugnis nicht singulär. So stellte beispielsweise Joseph Martin Kraus kurz danach fest, dass Grétry „auch ein Deutscher“ sei, den man von Frankreich zurückfordern sollte: „und wir haben mehr Ursache, auf seine Stücke, die wir in unsre Sprache übersetzt haben, als auf unsre Originalarbeiten stolz zu seyn“.3 Beide Zeugnisse belegen die Bedeutung, die Grétry für das deutsche (Musik-)‌Theater hatte: einerseits als wichtigster Vertreter der Gattung Opéra comique, die eine wesentliche Rolle bei der Etablierung eines ‚deutschen‘ Repertoires spielte, und andererseits sein musikalischer Einfluss auf deutsche Komponisten. Aus dieser Sicht scheint es nicht völlig abwegig, wenn einige musikjournalistische Stimmen versuchten, den Lütticher Musiker den einheimischen Tonkünstlern zuzuschlagen, was wiederum ein interessantes Licht auf die Rolle von Grétrys Opéras comiques in Deutschland wirft, insbesondere im Hinblick auf das sich entwickelnde Singspiel. 1 Taschenbuch

für die Schaubühne auf das Jahr 1775 [= Theater-Kalender] 1 (1775), 128 f. ist ein deutscher und aus Lüttich“ (ebd., 129). 3 Joseph Martin Kraus, Etwas von und über Musik fürs Jahr 1777, Frankfurt am Main 1778, Faksimile-Nachdruck München, Salzburg 1977, 82 f. 2 „Gretry,

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Die Opéra comique war neben der Opera seria und Opera buffa die dritte musikdramatische Gattung, deren Rezeption im 18. Jahrhundert als gesamteuropäisch bezeichnet werden kann. Ihre Wirkung war fraglos dort am stärksten, wo es an einer genuin eigenen Operntradition mangelte, d. h. in Deutschland, Skandinavien und Russland.4 In Deutschland wurde der Grundstein für die lang­ anhaltende Diffusion der Opéra comique in den frühen 1770er Jahren gelegt, insbesondere durch die Übersetzungen von Christian Friedrich Schwan und Johann Heinrich Faber für die Theatertruppe von Theobald Marchand.5 Besonders die zwischen 1772 und 1776 in sechs Bänden erschienene Sammlung der komischen Operetten, welche die wichtigsten Werke von Monsigny, Philidor und Grétry versammelte, setzte Maßstäbe für alle nachfolgenden Übersetzungen.6 Zweifellos bereiteten die Übersetzungen dieser französischen „Operetten“ dem Singspiel in ästhetischer wie dramaturgischer Hinsicht den Boden, nicht zuletzt figurierten die französischen Originalstücke Seite an Seite mit ihren deutschen Pendants im Repertoire der Wandertruppen.7 Der Einfluss der französischen Opéra comique auf das deutsche Singspiel war vielgestaltig, er reicht von einer losen Anverwandlung von Textbüchern und Stoffen bis hin zu dem, was man mit dem Begriff Neuvertonung fassen könnte, d. h. einer nochmaligen Vertonung des Librettos in übersetzter Gestalt. Die Übergänge zwischen den einzelnen Erscheinungsformen sind flie4 Vgl.

hierzu Bruce Alan Brown, La diffusion et l’influence de l’opéra-comique en Europe au XVIIIe siècle, in: Philippe Vendrix (Hg.), L’opéra-comique en France au XVIIIe siècle, Lüttich 1992, 283 – 343; Corinne Pré, Les traductions d’opéras-comiques en langues occidentales, 1741 – 1815, in: Philippe Vendrix (Hg.), Grétry et l’Europe de l’opéra-comique, Lüttich 1992, 251 – 265; Karin Pendle, Opéra-Comique as Literature: The Spread of French Styles in Europe, ca. 1760 to the Revolution, ebd., 229 – 250. 5 Zur Rezeption der französischen Opéra comique in Mannheim vgl. ausführlich Wilhelm Herrmann, Hoftheater – Volkstheater – Nationaltheater. Die Wanderbühnen im Mannheim des 18. Jahrhunderts und ihr Beitrag zur Gründung des Nationaltheaters, Frankfurt am Main 1999 (Quellen und Studien zur Geschichte der Mannheimer Hofkapelle 5), 179 – 209. 6 Zu den Mannheimer Übersetzungen vgl. Herbert Schneider, Übersetzungen französischer Opéras-comiques für Marchands „Churpfälzische Deutsche Hofschauspielergesellschaft“, in: Ludwig Finscher, Bärbel Pelker, Rüdiger Thomsen-Fürst (Hg.), Mannheim – Ein „Paradies der Tonkünstler“? Kongreßbericht Mannheim 1999, Frankfurt am Main 2002 (Quellen und Studien zur Geschichte der Mannheimer Hofkapelle 8), 387 – 434; sowie Thomas Betzwieser, Zwischen Kinder- und Nationaltheater: die Rezeption der Opéra-comique in Deutschland (1760 – 1780), in: Erika Fischer-Lichte, Jörg Schönert (Hg.), Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache, Göttingen 1999 (Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa 5), 245 – 264, hier 257 – 262. 7 Vgl. hierzu vor allem die instruktiven Repertoireanalysen bei Cristina Urchueguía, Aller­ liebste Ungeheuer. Das deutsche komische Singspiel 1760 – 1790, Frankfurt am Main 2015 (Nexus  99), passim; vgl. ebd. (228 – 231) auch die kumulierte Tabelle der Rubriken „Auswärtige Tonkünstler, deren Kompositionen man sich auf deutschen Theatern bedient“ aus verschiedenen Jahrgängen des Theater-Kalenders der 1780er Jahre.



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ßend.8 Hier exakte terminologische Grenzlinien ziehen zu wollen, würde dem Gegenstand kaum gerecht werden. Schon Thomas Bauman war in seiner Studie9 in dieser Hinsicht zurückhaltend, was allerdings dazu führte, dass sein Werkkatalog an manchen Stellen im Vagen bleiben musste, vor allem dort, wo es zwischen Übersetzung und Adaptation zu unterscheiden galt. So attestiert Bauman zum Beispiel für die Vorlage zu Neefes Zemire und Azor „translated from Marmontel“,10 beim Textbuch zur gleichnamigen Oper von Baumgarten hingegen heißt es „after Marmontel“.11 Die Kriterien, die zu dieser Einschätzung führen, bleiben allerdings unklar. Beim Rückgriff auf bereits existente Übersetzungen, so beispielsweise auf die Übertragungen von Schwan oder Faber, ließe sich der Begriff „translation“ noch nachvollziehen, aber bei Texten, welche die librettistische Grundlage für eine Neuvertonung bereitstellen, scheint der Begriff problematisch. Gleichwohl ist die Kategorie der librettistischen ‚Nachdichtung‘ natürlich unverzichtbar, lässt sich mit ihr doch ein Großteil der adaptierten französischen Opéras comiques beschreiben.12 Sie hat insbesondere dort ihre Berechtigung, wo in die originale Werkgestalt nicht unerheblich eingegriffen wurde oder das neugeschaffene Singspiel auf verschiedene stoffliche Quellen rekurrierte. Gleich zwei prominente Beispiele stehen für diese Praxis librettistischer Anverwandlung: Weißes und Hillers Die Jagd (1770), die auf Collés La partie de chasse de Henri IV und Sedaines Le roi et le fermier basiert, sowie Die Liebe auf dem Lande (1768), die Favarts Annette et Lubin (1762) und Anseaumes La clochette (1766) zum Vorwurf hatte. In der Frühzeit des Singspiels waren es vor allem Favarts Textbücher, die für die Mehrzahl der Adaptationen die Vorlage lieferten: Lisuart und Dariolette (1767) von Schiebeler und Hiller nach Favarts La fée Urgèle (1765), Weißes und Hillers Lottchen am Hofe (1767) nach Ninette

8 Generell

zu diesem Anverwandlungsprozess der „Import-Oper“ siehe auch Urchueguía, Allerliebste Ungeheuer (wie Anm. 7), 99 – 102 und 202 – 232. 9 Thomas Bauman, North German Opera in the Age of Goethe, Cambridge 1985. 10 Ebd., 409. 11 Ebd., 410. 12 Auch die literaturwissenschaftlichen Denkmodelle greifen in diesem Zusammenhang nur bedingt, z. B. Genettes Denkfiguren der Inter- bzw. Hypertextualität. Obgleich für Genette Intertextualität die „effektive Präsenz eines Textes in einem anderen Text“ darstellt und damit für unseren Zusammenhang fruchtbar gemacht werden könnte, scheint diese Begrifflichkeit nur bedingt für die Zwischenstufen von Übersetzung und Adaptation tauglich. Eher noch ließen sich diese Phänomene mit den Kategorien Transposition und Nachbildung fassen, obwohl auch diese mit einer nicht unbeträchtlichen Transformation einhergehen (eine Transposition wäre beispielsweise nach Genette Thomas Manns Doktor Faustus), die mit den hier zur Diskussion stehenden literarischen Produkten nur schwer kommensurabel ist. Vgl. Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, übers. von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, Frankfurt am Main 1993, 39 – 46.

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à la cour (1755) und andere mehr.13 In der librettistischen Gunst wurde Favart später von Sedaine und Marmontel abgelöst. Auf Sedaine basieren beispielweise Der Dorfbalbier (1771) von Hiller und Neefe nach Blaise le savetier (1759) oder etwa Schwanenbergers Der Deserteur (1784). Trotz Baumans beeindruckender Pionierarbeit, in der er einen Großteil der Vorlagen namhaft gemacht hat, scheint die Frage nach potentiell französisch inspirierten Textbüchern noch keineswegs umfassend geklärt zu sein. Die Annäherung des deutschen Singspiels an die Opéra comique war eine primär librettistische, insofern müsste hier beim Thema Rezeption in erster Linie von Textdichtern gehandelt werden und weniger von Komponisten.14 Zu sprechen wäre also nicht von Benda, Neefe, Baumgarten, sondern von Weiße, Schiebeler, Meißner und anderen. Aus dieser Sicht mutet die hier zu behandelnde Thematik wie ein Rückfall in die ältere Opernforschung an, bei der die musikalische Komponente im Vordergrund der Betrachtung stand und weniger die librettistische. Methodologisch ist die Fokussierung auf einen Komponisten und dessen Rezeption, die im Folgenden unternommen werden soll, auch kaum hinreichend zu rechtfertigen. Die Person Grétry taugt im Kontext der Rezeption französischer Opéras comiques somit allenfalls als Fallbeispiel, wenngleich als ein ganz instruktives, lässt sich doch an ihm die ganze Bandbreite des Phänomens aufzeigen. Nehmen wir also André-Ernest-Modeste Grétry genauer in den Blick, der im Laufe der 1770er Jahre mehr und mehr zum Protagonisten der Opéra comique avancierte und am Ende des Ancien Régime als deren unangefochtener Kopf galt.15 Schon für das frühe 19. Jahrhundert stand der Name Grétry paradigmatisch für die gesamte Gattung, die als das ‚französischste‘ aller musikalischen Genres angesehen wurde. Grétry selbst wurden Denkmale gesetzt, nicht nur architektonisch, sondern auch musikalisch: Nicolò Isouards Oper Jeannot et Colin aus dem Jahr 1814 war eine Hommage „à la gloire du premier compositeur français“.16 Stellt man in Rechnung, dass es die Werke der 1770er Jahre waren, die Grétry zunehmend in die erste Reihe der französischen Bühnenkomponisten beförderten, so lässt ein Blick auf den Verlauf der Grétry-Rezeption im deutschen Sing13 Zum

Beispiel Johann Joachim Eschenburgs Textbuch Lukas und Hannchen nach Annette et Lubin (1762) oder Johann Andrés Die Bezauberten (1777) nach Favarts Les ensorcelés, ou Jeannot et Jeannette (1757). 14 Die Abhängigkeit des Singspiels von der Opéra comique hat Herbert Schneider herausgearbeitet; vgl. hierzu das Kapitel „Das Singspiel vor Mozart“ in: Herbert Schneider, Reinhard Wiesend (Hg.), Die Oper im 18. Jahrhundert, Laaber 2001 (Handbuch der musikalischen Gattungen 12), 301 – 322, insbes. 306 – 315. 15 Siehe R. J. Arnold, Grétry’s Operas and the French Public. From the Old Regime to the Restoration, Farnham 2016. 16 Vorwort zur Partitur Paris: Bochsa, ca. 1814, unpag.



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spiel – gemeint sind notabene die Adaptationen, nicht die Übersetzungen – ein erstes interessantes Phänomen offenbar werden: Von Grétrys gesamtem Opéra comique-Schaffen wurden nur die frühen Werke adaptiert, also nur die Werke der späten 1760er und frühen 1770er Jahre. Die Übersicht im Anhang zeigt, dass sich die Rezeption auf genau vier Originalwerke beschränkte, die innerhalb von zwei Jahren, zwischen 1769 und 1771, in Paris herauskamen: Le tableau parlant (1769), Silvain (1770), Les deux avares (1770) und Zémire et Azor (1771). Dies sind immerhin vier von sechs Bühnenwerken, die Grétry in dieser Zeit verfasst hatte. Eine vergleichbare Rezeptionsdichte gibt es für keinen anderen Opéra comique-Komponisten, aber kein anderer Komponist ist auch nur so kurz ‚adaptiert‘ worden wie Grétry. Ein Blick auf die Daten der Singspiel-Vertonungen offenbart ferner, dass keine Adaptation weiter als sieben Jahre vom Originalwerk entfernt lag. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass sich die deutschen Singspiel-Versionen alle im Zeitraum zwischen 1775 und 1779 bewegen. Danach bricht die Adaptationspraxis Grétry’scher Werke buchstäblich ab, ganz im Gegensatz zur Rezeption der Originalwerke in Übersetzungen, die zu einer festen Säule im Repertoire des deutschsprachigen Theaters wurden.17 Ob es Respekt vor der stetig wachsenden Popularität des französischen Komponisten war oder ob es an den Stoffen lag, dass Grétrys Opern nur in den 1770er Jahren adaptiert wurden, ist schwer zu sagen. Vielleicht lag es an dem ungeheuren Erfolg von Zémire et Azor, dass sich die deutschen Tonsetzer nicht mehr mit dem jetzt berühmten Kollegen aus Lüttich messen wollten. Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass man der Adaptation französischer Opéras comiques nach 1780 generell skeptischer gegenüberstand und mehr als bisher die Schaffung von Originalwerken anstrebte – eine Tendenz, die mit derjenigen in Wien nach der Etablierung des Singspiels durchaus vergleichbar ist, obgleich dort noch länger Opéra comique-Übersetzungen das Repertoire bestimmten als im Norden.18 Wie erwähnt waren die populärsten französischen Opéras comiques in der Sammlung der komischen Operetten verfügbar, die in sechs Bänden zwischen 1772 und 1776 in Frankfurt am Main erschienen waren.19 Die Übersetzungen, 17 Vgl.

hierzu Herbert Schneider, Die deutschen Übersetzungen französischer Opern zwischen 1780 und 1820. Verlauf und Probleme eines Transfer-Zyklus, in: Hans-Jürgen Lüsebrink, Rolf Reichardt (Hg.), Kulturtransfer im Epochenumbruch Frankreich – Deutschland 1770 bis 1815, Leipzig 1997 (Deutsch-Französische Kulturbibliothek 9), Bd. 2, 593 – 676. 18 Julia Ackermann, Zwischen Vorstadtbühne, Hoftheater und Nationalsingspiel: Die Opéra comique in Wien 1768 – 1783, Diss. Universität für Musik und darstellende Kunst Wien 2018. 19 Sammlung der komischen Operetten so wie sie von der Churpfälzischen Deutschen Hofschauspielergesellschaft unter der Direction des Herrn Marchand aufgeführet wurden, Frankfurt am Main: Mit den Andreäischen Schriften 1772[–1776] (6 Bde.); von Grétry waren dort acht Opéras comiques vertreten: Lucile (Bd. 1, 1772); Die beiden Geizigen und Die Freundschaft auf der Probe (Bd. 2, 1772); Silvain und Zemire und Azor (Bd. 3, 1773); Der prächtige Freygebige und Der Hausfreund (Bd. 5, 1775); Das Rosenfest von Salency (Bd. 6, 1776).

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mehrheitlich von Johann Heinrich Faber, waren in jeder Hinsicht mustergültig, da sie sich durch einen hohen Grad an Werktreue auszeichneten.20 Diese Übertragungen dienten auch den Singspiel-Einrichtungen als Vorlage. Man musste also nicht den Umweg über das Originallibretto nehmen, sondern konnte sich bei den Adaptationen auf die Marchand’sche Sammlung stützen. Gerade bei der Einrichtung des gesprochenen Dialogs orientierten sich die Singspiel-Autoren ganz eindeutig an den früheren Texten von Schwan und Faber. Oftmals sind es nur geringfügige Änderungen im Dialog, die von den älteren Übersetzungen abweichen; die Musiknummern hingegen wurden meist neu übersetzt. Ob die Initiative, eine Opéra comique für das Singspiel zu adaptieren, von der Lektüre des originalen Textbuchs, dessen Übersetzung oder einer konkreten Aufführung ausging, lässt sich nur schwer sagen. In Betracht zu ziehen ist jedoch auch immer die Möglichkeit, dass die Anregung direkt von der originalen Partitur herrührte: Anders als die nur in Abschriften zirkulierenden italienischen Opere buffe lagen die französischen Bühnenwerke in Druckausgaben vor, was auch die Herstellung von Aufführungsmaterial erleichtert haben dürfte. (Für einige Opéras comiques gab es sogar gedruckte Stimmensätze.) Im Gegensatz zu den Textbüchern existierten allerdings keine Musikalien in Übersetzungen; der von Hiller eingerichtete Klavierauszug von Zemire und Azor dürfte neben der Einrichtung des Richard Cœur-de-Lion21 eine singuläre Überlieferungsform für Grétry im 18. Jahrhundert darstellen.22 Aufführungen der hier zur Diskussion stehenden Originalwerke Grétrys gab es (in Übersetzungen) zuerst in Frankfurt am Main und Mannheim, meist 1771 oder 1772, gefolgt von Gotha 1775/76, Berlin und Hamburg, meist im selben Jahr.23 Manche Singspiel-Adaptationen fallen zeitlich früher als die Rezeption 20

Zur Übersetzungsproblematik insgesamt und zu Faber im Besonderen vgl. Herbert Schneider, Zur Problematik der Opéras-comiques-Übersetzungen ins Deutsche, in: ders. (Hg.), Studien zu den deutsch-französischen Musikbeziehungen im 18. und 19. Jahrhundert, Hildesheim 2002 (Musikwissenschaftliche Publikationen 20), 40 – 140. 21 Mainz: Schott, ca. 1790; zur Rezeption dieser Oper vgl. Thomas Betzwieser, Grétrys „Richard Cœur-de-Lion“ in Deutschland: die Opéra-comique auf dem Weg zur „großen Oper“, in: Vendrix (Hg.), Grétry et l’Europe de l’opéra-comique (wie Anm. 4), 331 – 351. 22 Des Herrn Gretri Zemire und Azor […] mit einer deutschen Übersetzung in einem ClavierAuszug herausgegeben von Johann Adam Hiller, Leipzig s.a. – Zu erwähnen ist hier noch das Kuriosum, dass der von Carl David Stegmann angefertigte Klavierauszug zu Monsignys Der Deserteur Stegmann fälschlicherweise die Autorschaft des Werkes einbrachte (was schon Eitner bemerkt hatte; vgl. auch Bauman, North German Opera [wie Anm. 9], 366). Zwei Arien aus Die Freundschaft auf der Probe waren erschienen in Hillers Sammlung der vorzüglichsten, noch ungedruckten Arien und Duette des deutschen Theaters (Leipzig 1778, 3. Slg., 1 – 11). 23 Für die deutschsprachige Rezeption in den 1770er Jahren bietet sich folgendes Bild: Sil­ vain: Frankfurt am Main, Hamburg 1773, Hannover 1773 (als Walder), Berlin 1773 (als Erast und Lucinde), München 1778; Le tableau parlant: Mannheim 1771, Köln 1772, Berlin 1774, Gotha 1775, München 1776; Les deux avares: Frankfurt 1771, Gotha 1776, Dresden 1777, Hamburg



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der entsprechenden Originalwerke am jeweiligen Ort. So ist eine Aufführung in Gotha von Grétrys übersetztem Silvain vor Bendas Adaptation Walder (1776) nicht belegt. Doch erscheinen Aufführungszahlen, aus welchen der Anstoß für eine Neuvertonung abgeleitet werden könnte, angesichts der Existenz der Originalpartituren sowie gedruckter Übersetzungen ohnehin nur von bedingter Aussagekraft, um die Motivation für eine Neuvertonung zu erklären.24 Die nachfolgenden Betrachtungen werden sich der Frage widmen, inwieweit die Singspiel-Adaptationen von Grétrys Opéras comiques zu eigenen dramaturgischen wie kompositorischen Lösungen fanden. Dabei soll weniger die stoffliche als vielmehr die musikalische Seite fokussiert werden. Die Betrachtungen der einzelnen Werke stehen weitgehend unverbunden nebeneinander, denn ein verbindendes Element ist jenseits der beschriebenen temporären Beschränkung der Rezeption nicht auszumachen, zumal es auch keine erkennbaren Beziehungen der Adaptationen untereinander gibt. Das werkspezifische Beziehungsgeflecht aus Original, Übersetzung, librettistischer Adaptation und Vertonung ist jedoch nichtsdestoweniger aufschlussreich im Hinblick auf die Werkkonzeption des jeweiligen Singspiels. Expandierung des Originals: Das redende Gemählde Der erste größere Bühnenerfolg Grétrys war die Oper Le tableau parlant, die 1769 in Paris herauskam. Le tableau parlant war chronologisch gesehen auch die erste Opéra comique von Grétry, die für ein Singspiel adaptiert wurde. Carl David Stegmann hatte seine Oper Das redende Gemählde 1775 für Königsberg komponiert. Leider wissen wir über die Hintergründe zu diesem Werk nicht allzu viel, erhalten hat sich an Quellen nur der Klavierauszug.25 Stegmann, in erster Linie Sänger, der mit mehreren Singspielen kompositorisch in Erscheinung trat, hatte 1772 bei der Wäser’schen Gesellschaft in Breslau sein erstes Engagement angetreten, 1773 ging er nach Königsberg und von da aus 1775 nach Danzig.26 Das Vorwort des 1775 erschienenen Klavierauszugs ist auf April 1778; Zémire et Azor: Mannheim 1772, Gotha 1776, Münster 1777, Berlin 1778; nach Alfred Loewenberg, Annals of Opera, London 31978, passim. 24 Zu den hier zur Diskussion stehenden Originalwerken vgl. David Charlton, Grétry and the Growth of opéra comique, Cambridge 1986. 25 Das redende Gemählde, eine comische Oper in zwey Acten von Carl David Stegmann, Mitau, Hasenboth 1775. Das Werk ist Louise Caroline von der Gröben, geb. Reichsgräfin Truchses von Waldburg gewidmet. 26 Zu den wenigen Studien zu Stegmanns Singspiel-Schaffen zählt der Aufsatz von Adrian Kuhl, Vom Vaudeville zum Spektakel. Die Finalfassungen von Carl David Stegmanns „Der Kaufmann von Smyrna“, in: Wolfgang Auhagen, Wolfgang Hirschmann (Hg.), Beitragsarchiv zur Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung Halle an der Saale 2015: „Musikwissen-

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1774 datiert, so dass die Komposition zu diesem Zeitpunkt als abgeschlossen betrachtet werden kann. Sie fällt somit in Stegmanns Königsberger Jahre, ein Aufführungsdatum ist nicht überliefert. Stegmann hat seine Adaptation nicht am Originallibretto von Louis Anseaume vorgenommen, sondern sich ganz auf die bereits vorhandene Übersetzung aus Mannheim von Friedrich Ludwig Wilhelm Meyer gestützt.27 Wenngleich ein Klavierauszug selbstredend nicht den gesamten Dramentext überliefert, so lässt sich doch an den Musiknummern ablesen, dass die erstmals 1771 bei Schwan erschienene Übersetzung der Einrichtung von Stegmann zugrunde lag.28 Alle dort vorhandenen Musiknummern erscheinen bei Stegmann im genauen Wortlaut. Daraus darf geschlossen werden, dass sich auch die Dialoge an der früheren Übersetzung orientiert haben. Indes ist Stegmanns Singspiel nicht als ‚Doppelvertonung‘ zu verstehen, sondern durchaus als neue Einrichtung, denn der Klavierauszug enthält sechs zusätzliche Musiknummern, die in Le tableau parlant kein Vorbild haben. Mit anderen Worten: Grétrys Vorlage wurde nicht unbeträchtlich (auf insgesamt 19 Nummern 29) erweitert, was sich auch in der Umformung der ursprünglich einaktigen comédie-parade in eine zweiaktige Oper bei Stegmann niederschlägt. Diese Expansion des Originals legt nun die Beteiligung eines (anonym gebliebenen) Textdichters nahe, falls Stegmann nicht die ganze Einrichtung selbst bewerkstelligte. Der erste Akt zeigt kaum Veränderungen gegenüber Grétry, wohingegen der neugeschaffene zweite Akt von neuen Nummern gleichsam durchschossen ist. Signifikant an dieser Erweiterung ist der Umstand, dass sich die Expansion nur auf die Solonummern erstreckt, d. h. es gibt keine zusätzlichen Ensembles, sondern nur neue Arien. Drei von diesen sechs Arien entfallen auf die Figur des Frontin (im Original noch Pierrot), der damit deutlich aufgewertet wird. Dies ist insofern bemerkenswert, als damit eine Balance in der Arienverteilung der Nebenfiguren Colombine und Frontin hergestellt wird, die im Original nicht gegeben war. Mit dem Zuwachs von drei Arien – neben seiner großen ‚Sturmarie‘ – wird Frontin somit musikalisch zu einer Hauptrolle, die ebenso profiliert ist wie der Protagonist Cassander. In jedem Fall hat Stegmann den Dienerfiguren stärkeres Gewicht verliehen, das ‚hohe Paar‘ Isabelle und Leander wurde indes von der Adaptation weitgehend unberührt gelassen. Vor diesem Hintergrund kann mit Thomas Bauman angenommen werden, dass Stegmann diese Frontin-Arien schaft: die Teildisziplinen im Dialog“, Mainz 2016, (20. 10. 2021). 27 Herrmann, Hoftheater (wie Anm. 5), 176. 28 Das Libretto dieser Opéra comique, Das redende Gemählde, war bei Schwan in Mannheim sowohl als Einzeldruck als auch in dessen Librettosammlung verfügbar; vgl. Christian Friedrich Schwan (Hg.), Komische Opern für die Churpfälzische deutsche Schaubühne, Mannheim 1771 (und 1773). 29 Neben den Solonummern zwei Duette, ein Terzett, ein Quartett sowie ein Finale.



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in erster Linie für sich selbst geschrieben hat.30 Im Gegensatz zum Grétry’schen Original, wo die drei männlichen Rollen Tenorpartien waren, führte Stegmann ferner mit der Disposition Cassanders als Bass-Bariton eine Paarbildung (Isabelle-Leander/Colombine-Frontin) im Hinblick auf die Stimmverteilung herbei. Der alte Liebhaber Cassander blieb somit bereits stimmlich ‚außen vor‘. Trotz dieser Symmetriebildung innerhalb der Figurenkonstellation ist aber eine soziale Hierarchie, die sich musikalisch widerspiegelt, nicht festzustellen. Vor allem das Dienerpaar unterliegt keiner stilistischen Ständeklausel, dergestalt, dass für sie das Lied oder eine einfachere Arie reserviert wäre. Im Gegenteil: Die Dienerfiguren haben musikalisch großes Gewicht, nicht nur angesichts der Zahl ihrer Arien, sondern auch was deren Faktur betrifft. So sind denn auch solche Musiknummern, die textlich der (Lied-)‌Sentenz nahestehen, wie beispielsweise Frontins Arie No. 12 „Wohltun will ich meinem Leibe“, vor allem in Hinsicht auf die Begleitung stark individualisiert. Dies trifft auch auf die No. 14 „Wer Lust hat, mag auf Reisen gehn“ zu. In der ganzen Partitur findet sich überhaupt nur ein einziges Strophenlied, dies ist Colombines dreistrophiges „Unumwölkt ist unser Herz“ (No. 16 Aria), das Stegmann in ein tänzerisches all’inglese (2/4) kleidete. Ins Auge fällt jedoch am Anfang der Oper ein extrem kurzes Stück, dies ist die mit Canzonetta überschriebene zweite Nummer in Stegmanns Klavierauszug. Die Nummer umfasst gerade einmal 16 Takte und davon entfallen auf die Singstimme ganze acht Takte. Ein Blick in die Mannheimer Übersetzung offenbart, dass es sich um diegetische Musik handelt, d. h. Musik, die aus der Perspektive des Dramas als tatsächliche Musik aufzufassen ist. Das kurze Lied ist somit eher Teil eines solchen, denn es wird von gesprochenem Dialog unterbrochen und später auch nur fragmentarisch weitergeführt. Der Vergleich mit dem Original zeigt, dass an dieser Stelle ein Vaudeville figurierte, das die französischen Autoren hier einsetzten, um den ‚realen‘ Charakter der Musik zur Darstellung zu bringen. Colombine, entrant en chantant. (Fragment d’une Ariette de la Veuve indécise.) Il nous faut au village Un mari jeune et dodu; A cela près, femme sage Prend le premier venu. Isabelle [gesprochen]. De grâce, modérez ces transports d’allégresse; Vous voyez votre Maîtresse  la tristesse dans le cœur, Respectez du moins sa douleur. (Szene 2) 30 Vgl.

Bauman, North German Opera (wie Anm. 9), 144.

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Daraus wurde in der Übersetzung von Meyer: Colombine, läuft singend herein. Auf dem Dorfe muß man haben Einen jungen starken Mann, Der gut pflügen, hacken, graben, Und die Frau doch lieben kann. Isabelle: Sey doch nicht so lustig Colombine, du siehst ja daß ich äußerst betrübt bin.

Für den Mannheimer Übersetzer stellte sich an dieser Stelle ein Problem, das nicht lösbar war: Weder konnte er das französische Vaudeville adäquat verwenden – von den damit verbundenen intertextuellen Anspielungen ganz zu schweigen –, noch konnte er auf eine präexistente Musik deutscher Provenienz zurückgreifen, die gleichsam auf dieselbe Gattung, also hier das Singspiel, rekurrierte. Doch die ältere Übertragung, deren ‚Werktreue‘ im Übrigen vorbildlich ist, macht noch etwas ganz Anderes deutlich, nämlich die unterschiedliche Stilhöhe zwischen Original und deutscher Übersetzung. Die Existenz eines Dialogs in Versen produziert a priori eine andere Stilhaltung als dessen ProsaÜbertragung. Dies hat Meyer mit seiner Übersetzung augenscheinlich berücksichtigt, indem er im Textbuch von Anfang an einen anderen ‚Ton‘ anschlägt, wie sich nicht nur am Sprechdialog, sondern auch an Colombines Gesang leicht ablesen lässt. Dass Stegmann bei der Vertonung dieser Szene nicht nur auf die Mannheimer Übersetzung zurückgegriffen hat, sondern sich ferner auch am Original orientierte, scheint die Anlage dieser Nummer zu bestätigen. Selbstredend würde ein Komponist vier Verse in mehr als nur acht Takten vertonen. Die spezifische Situation dieser Szene, die eigentlich nur dem Original zu entnehmen war, erforderte jedoch ein solches diegetisches Liedfragment, wie es Stegmann dann auch in seiner Partitur umsetzte. Bei den von Anseaume/Grétry übernommenen Nummern hielt sich Stegmann weitgehend an die Mannheimer Übersetzung von 1771. Nur in einem Fall wich er in signifikanter Weise davon ab, als er den Mittelteil von Cassanders Aria No. 15 „Das tut ihr, ohne euch zu scheuen“ ins Rezitativ setzte. Meyers Übersetzung hatte die Arie analog Grétrys No. 11 „C’est donc ainsi que l’on m’abuse“ als gleichsam geschlossene Nummer wiedergegeben. Allerdings wich bereits die Übersetzung nicht unerheblich vom Original ab, wenn Cassander die Intriganten ganz konkret benennt, wo bei Anseaume vom Verrat nur in abstrakter Form die Rede war: Ihr dachtet, ich verreiste heut’, Da ließt ihr falsche Thränen sehen: Ihr schient halb todt für Gram und Leid – Doch was ich hier vor mir seh’ stehen, Zeigt, daß ihr schon getröstet seyd.



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Die Verwandlung dieser Passage ins Rezitativ lässt Cassanders Wut über die „falsche Verrätherei“ noch eindringlicher erscheinen. In jedem Falle versuchte Stegmann, die große Monologszene des Protagonisten im Hinblick auf die musikalisierte Figurenrede variabler zu halten; möglicherweise auch mit der Intention, der Stilhaltung des Originals dergestalt nahezukommen, die in der Übersetzung nicht existente Versifizierung des Sprechdialogs durch rezitativische Einschübe stilistisch zu kompensieren.31 Die völlige Absenz eines eigens für dieses Werk gedruckten Textbuches lässt somit auch die Vermutung wahrscheinlich werden, dass Stegmann die Einrichtung selbst vorgenommen hat. Die weitestgehende Orientierung an der früheren Übersetzung des Originals lassen zwar die dramaturgische Stringenz der zusätzlichen Musiknummern fragwürdig erscheinen, die musikalische Qualität der Partitur, in der nicht wenige Arien originell zu nennen sind, wird davon nicht berührt. Würde es sich hier um eine Übersetzung (mit beibehaltener Originalmusik) handeln, so würde man nicht zögern, die zusätzlichen Nummern als Einlagearien zu klassifizieren, da die originale Werkgestalt nur soweit angetastet wird, um den zusätzlichen Arien Raum zu verschaffen. Da eine grundsätzliche dramaturgische Modifikation der Handlungsstruktur nicht vorliegt und Stegmann seine Vertonung einer existenten Übersetzung anpasste, könnte man seine Oper durchaus als Doppelvertonung klassifizieren, obschon die Anzahl der zusätzlichen Nummern nicht unbeträchtlich ist. Von solcherart Erweiterungen sind genuine Einlagearien zu unterscheiden, also Nummern, die dem Originalwerk beigefügt wurden. Da solche Einlagen nicht selten lokalspezifischen Gegebenheiten unterworfen waren, ist deren Nachweis wie Lokalisierung gleichermaßen schwierig. Für Grétrys in Deutschland gespielte Werke haben sich diesbezüglich dennoch zwei interessante Zeugnisse erhalten: zum einen eine Einlagearie von Anton Schweitzer zu Das redende Gemählde32 sowie ein Textbuch zu Walder, das gleich mehrere Arien von fremder Hand enthält. Die Arie aus dem Singspiel das redende Gemählde war dem Taschenbuch für die Schaubühne 1775 beigegeben. Die Arie mit dem Titel „Die Liebe ist ein drollig Ding“ war nicht Bestandteil der älteren Übersetzung, d. h. sie ist als eine eindeutige Einlage zu klassifizieren. Interessant ist ihre musikalische Anlage in Form eines Rondos: Ein achttaktiger Refrain wird jeweils von drei Couplets zu 11, 19 und 14 Takten unterbrochen (Taktzählung Singstimme). Auch wenn Schweitzers Arie selbstredend nicht Bestandteil eines deutschen Singspiels ist, so dürfte es sich dennoch um eine der ersten Arien in Rondoform 31 Allgemein

zum Rezitativproblem im deutschen Singspiel vgl. Urchueguía, Allerliebste Ungeheuer (wie Anm. 7), 318 – 327. 32 Die MGG1 weiß noch von zwei weiteren als verschollen geltenden „Bearbeitungen“ zu berichten, nämlich zu L’amitié à l’épreuve und Zémire et Azor; vgl. Franz Peters-Marquardt, Wilhelm Pfannkuch. Art. Anton Schweitzer, in: Friedrich Blume (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 12, Kassel 1965, 374.

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im nord- und mitteldeutschen Kontext handeln. Bauman hat die erste Rondoarie in Bendas Walder (1776) namhaft gemacht.33 Inspiriert haben dürfte Schweitzer ebenso wie kurz darauf Benda das Rondo des Basile in Grétrys Silvain. Ein Kuriosum ist ohne Zweifel das 1773 erschienene Textbuch von Silvain, das den seltenen Fall eines Ariendrucks nebst Inhaltsangabe darstellt: Inhalt und Arien der Operette: Walder.34 Das Vorwort klärt den Leser über die Existenz fremder Arien in dieser Übersetzung auf: „Das Stück ist, außer dem ersten Auftritt, aus dem Französischen des Herrn Marmontel übersetzt, und der Text der Composition des Herrn Gretry untergelegt. Der Uebersetzer hat einige Arien eingeschoben, deren Composition besonders angezeigt sind.“35 In dieser Übersetzung befinden sich insgesamt drei Nummern fremder Komponisten: von Gaetano Pugnani, Tommaso Traëtta und Niccolò Piccinni.36 Interessant ist, dass bei diesen Nummern nur die Solostücke als echte Einlagen zu klassifizieren sind, denn das Duett von Traëtta (Szene 5) ersetzt das große Septett bei Grétry. Dieser ‚Eingriff‘ ist mit einem bloßen Addendum nicht mehr kommensurabel, da er nicht geringe Veränderung am Original vornimmt. Damit machte diese Übersetzung den ersten Schritt in Richtung Adaptation. Dialog statt Ensemble: Das Grab des Mufti Die Tendenz, die französischen Originalwerke zu erweitern, ließe sich bei genauerer Untersuchung wohl auch für andere Opéras comiques verifizieren, nicht nur im Zusammenhang mit Grétry. Die Gründe hierfür waren von Fall zu Fall verschieden, wie das Beispiel von Stegmanns Das redende Gemählde gezeigt hat. Während sie dort in erster Linie wohl beim Sänger Stegmann lagen, war die Motivation für die Adaptation von Grétrys Les deux avares primär librettistischer Natur gewesen. August Gottlieb Meißner nahm sich Mitte der 1770er Jahre dieser Aufgabe an, als er Grétrys Opéra comique von 1770 für die deutsche Bühne adaptierte.37 Als Meißner sich anschickte, den Text zu verfas33 Vgl.

hierzu weiter unten. 1773; Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung, Signatur Mus T. 24 (15). 35 Ebd., 1. 36 1. Szene: Helenes „Steige vom Himmel nieder/Hoffnung beglückter Tage“ von Pugnani (Textbuch, 4); 5. Szene: Duett Basil/Helene von Traëtta (14), sowie Szene 14 „Im Schooß der Ruh und Liebe“ (22) von Piccinni. Über die Herkunft der fremden Musik, die als präexistent anzunehmen ist, ist dem Textbuch nichts zu entnehmen. 37 Meißner hat insgesamt vier Opern für die deutsche Bühne adaptiert: Neben Falbaires Les deux avares waren dies Favarts La belle Arsène (Arsene, Leipzig 1778), Marc-Antoines Legrands L’amour diable (Der Alchymist, 1778) sowie Metastasios L’isola disabitata (Die wüste Insel, 1778). Vgl. Rudolf Fürst, August Gottlieb Meißner. Eine Darstellung seines Lebens und seiner Schriften mit Quellenuntersuchungen, Stuttgart 1894, 238 – 247. 34 s.l.



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sen,38 dürfte eine konkrete Vertonung des Stückes noch nicht absehbar gewesen sein. Im Vorwort zum Librettodruck 1776 weiß der Autor jedoch zu berichten, dass Hiller seine Arbeit im Manuskript gesehen hätte „und ihr nächstens durch seine Komposition Vorzüge zu geben versprach, die sie jetzt noch nicht besitzt“.39 In dieser Vorrede legte Meißner auch seine Intentionen im Hinblick auf die Anverwandlung des Originals von Fenouillot de Falbaire dar. Dieses Vorwort ist insofern aufschlussreich, als es exemplarisch die unterschiedlichen ästhetischen Ansätze von Opéra comique und Singspiel zum Ausdruck bringt, welche sich bei der Adaptation eines französischen Librettos auftaten. Mit wie viel Müh’ und gutem Willen ich auch an der Umarbeitung dieses bekannten französischen Stücks des Falbaire gefeilt habe, so fallen mir demungeachtet noch selbst eine Menge Unvollkommenheiten in die Augen. – Ich gesteh gern, daß der erste Akt weit weniger Handlung als der zweyte in sich fasse, und daß, bei getheiltem Interesse, auch die Oekonomie des Stückes in Ansehung der Scenen=Verbindung ziemlich nachlässig sey. Aber man sehe sich das französische Original an, und man wird finden, daß alle diese Fehler so tief mit dem ersten Plan dieses Singspiels verwebt sind, daß es unmöglich war, sie auch jetzt gänzlich zu vermeiden. – Ob es mir im Gegentheil gelungen sey, durch ganz neue Gesänge, durch ein Drittheil neuer Scenen, durch mehrern Dialog, anstatt des beynah immer fortwährenden Singens, und durch gänzliche Umarbeitung von Karls und Wilhelminens Charakter das Stück selbst zu verbessern, das mag das Urtheil der Kenner entscheiden; wenn sie anders diese Kleinigkeit der Mühe werth schätzen, sie mit dem Urbilde, oder wenigstens mit der wörtlichen Uebersetzung des Herrn Andre zu vergleichen. […] Ich wünsche übrigens zu meinem eignen Vergnügen, und zur Befriedigung meiner Leser, daß die Definition eines unsrer jetzigen witzigen Schriftsteller: Oper, Operette ist das Probestück junger Dichter, das sich weder singen noch lesen läßt; in Betracht dieser dramatischen Vorübung eben das sey, was schon mancher seiner Einfälle war: – ein Wortgetöne, bey dem sich zwar lachen, aber nichts denken läßt.40

Meißners Anspruch, das „Stück selbst zu verbessern“, ist kein geringer. Obschon Falbaires Textbuch sicherlich nicht zu den besten Büchern der Opéra comique zu zählen ist, zeichnete es sich durch eine ökonomische Dramaturgie aus, die mit ihren Verkleidungsszenen und Aktionsensembles deutlich an der Opera buffa orientiert ist. Diese Hinwendung zum italienischen Genre kennzeichnet streckenweise auch die Partitur, für die Grétry nicht von ungefähr die Gattungsbezeichnung opéra bouffon wählte. Gerade diese für die Opéra comique ‚neuen‘ Momente stießen jedoch augenscheinlich bei Meißner auf wenig Gegenliebe. Interessant ist deshalb vor allem die Strategie, mit der Meißner diesem ver38 Meißner

stützte sich auf die zweite Fassung von Grétrys Oper. Die Fassung der Uraufführung (Fontainebleau 27. Sept. 1770; Textbuch Paris: Ballard 1771) war vor der Pariser Erstaufführung entschlackt worden (Paris, 6. Dez. 1770; Textbuch Paris: Delalain 1770); zu den Fassungen vgl. Charlton, Grétry (wie Anm. 24), 74. 39 Das Grab des Mufti; oder: die zwey Geizigen, eine komische Oper in zwey Akten von A. G. Meißner, Leipzig 1776, [Vorwort], unpag. 40 Ebd.

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meintlichen Defizit entgegenzutreten versuchte, nämlich mit der Einschaltung völlig neuer Nummern sowie der Anreicherung mit gesprochenem Dialog. Die in den Augen des Dichters zu starke ‚Durchkomposition‘ wollte er also durch ein Mehr an Text auflockern. Auf der anderen Seite erweiterte Meißner die Zahl der Musiknummern, da er mit kleiner dimensionierten Gebilden wie Liedern und Arietten den dramatis personae stärkeres Profil zu verleihen suchte.41 Den 17 originalen Nummern bei Grétry stehen somit 26 Gesangsstücke in Meißners Singspiel-Adaptation gegenüber. Wie Rudolf Fürst in seiner Untersuchung gezeigt hat, ist der Autor weit hinter seinen selbstgesteckten Zielen zurückgeblieben. Die Charaktere der Figuren Karl und Wilhelmine, die nach Meißners Aussage einer grundlegenden Umarbeitung unterzogen wurden, blieben nahezu unverändert. Auch in den Dialogen sind die „Änderungen unwesentlich und gehen über die gewöhnliche breitere Ausmalung nicht hinaus“.42 Entgegen seiner Behauptung hat Meißner also keine wirklich neuen Szenen hinzugefügt, sondern nur durch eine veränderte Szenendisposition deren Anzahl vermehrt.43 Zwar wurde das Korpus an Arien erweitert, ob Meißner damit allerdings dem „immer fortdauernden Singen“ wirklich entgegentreten konnte, muss bezweifelt werden. Die Intention, die Ensembles zugunsten kleiner dimensionierter Nummern aufzubrechen, darf als realisiert betrachtet werden. Meißners Libretto erfuhr gleich zwei Singspiel-Vertonungen: in Breslau 1776 durch Gotthilf von Baumgarten44 und von Johann Adam Hiller 1779 in Leipzig. Trotz des späteren Aufführungsdatums hat Hiller bereits seit 1776 an dieser Oper gearbeitet, aus einer direkten Zusammenarbeit mit Meißner ist sie allerdings nicht hervorgegangen. Zumindest wusste Baumgarten bei der Abfassung des Vorworts zu seinem Klavierauszug (datiert 1. August 1777) von der Existenz des Hiller’schen Singspiels, allerdings war er bislang im Glauben, Hiller hätte es nach dem Zerwürfnis mit Seiler gänzlich weggelegt.

41 Zur

generellen Frage der musikdramatischen Disposition im Singspiel vgl. ausführlich ­ drian Kuhl, „Allersorgfältigste Ueberlegung“. Nord- und mitteldeutsche Singspiele in der A zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Beeskow 2015 (Ortus-Studien 17). 42 Fürst, Meißner (wie Anm. 37), 241. 43 Vgl. das Resümee von Fürsts Analyse, ebd., 242. 44 Person und Werk Gotthilf von Baumgartens liegen weitgehend im Dunkeln. Sowohl die alte als auch die neue Ausgabe der Musik in Geschichte und Gegenwart schweigen sich zu seiner Person aus. Baumgarten komponierte in der zweiten Hälfte der 1770er Jahre mehrere Bühnenwerke, darunter ein größeres Melodram. Nach Eitner war der 1741 in Berlin geborene Baumgarten seit 1779 Landrat des Groß-Strelitzer Kreises in Schlesien, vorher Stabskapitän beim Tauenzienschen Infanterieregiment in Breslau. Vgl. Robert Eitner, Biographisch-bibliographisches Quellen-Lexikon der Musiker und Musikgelehrten der christlichen Zeitrechnung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Graz 21959, Bd. 1, 386.



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Die Nachricht, daß Herr Hiller nunmehr seine Meynung geändert, und seine Arbeit aufs neue vor die Hand genommen, ist für den Verfasser zu neu, als daß sie ihm Zeit gäbe, die seinige zurück zu nehmen, und dadurch einer, für ihn vielleicht unangenehmen, Vergleichung aus dem Wege zu gehen.45

Das Verblüffende an Baumgartens und Hillers Vertonungen ist, dass sie Meißners Text gleichsam aufs Wort folgen. Die 26 Musiknummern von Meißners Libretto sind – mit einer Ausnahme bei Hiller, der den Janitscharenchor nicht wiederholt – in beiden Opern versammelt. Keiner der beiden Komponisten wagte offensichtlich eine Auslassung, beide sahen somit in dem Libretto Meißners eine ‚gültige‘ literarische Vorlage, die es zu respektieren galt. Sowohl Baumgarten als auch Hiller vertonten alle fünf Strophenlieder, die es im ersten Akt zusätzlich gegenüber Les deux avares gab. Dies zeigt, dass gerade an dem für das Singspiel typischen Liedgenre nicht gerüttelt wurde, auch wenn vielleicht die dramaturgische Relevanz der Lieder mitunter fragwürdig war. Aber darin sahen die Autoren augenscheinlich gar nicht das Problem, sondern wohl eher in der Tatsache, dass Grétrys Original eben keine einfachen Gesänge besaß und es diesem ‚Missstand‘ entgegenzutreten galt. Dass sich Meißner dezidiert von Falbaire absetzen wollte, zeigt ein Vergleich der beiden Eröffnungsszenen. Wenn der Vorhang aufgeht, sehen wir in Les deux avares zwei gegenüberliegende Häuser. Von der Wohnung des einen Hauses aus versucht Jérôme, Henriette im anderen Haus via Gesang zu erreichen: eine klassische Serenadensituation, allerdings nicht von ‚unten nach oben‘, sondern gleichsam von Haus zu Haus. Jérôme singt ein Lied, das von dem nächtlichen Nachtigallengesang handelt – ebenfalls ein klassischer Topos („Du rossignol pendant la nuit / La voix réjouit sa compagne“). Jérômes Romance gehört also in die Kategorie drameninhärenter Musik oder mit Goethe zu sprechen, „Lieder, von denen man supponieret, daß der Singende sie irgendwo auswendig gelernt und sie nun in ein und der andern Situation anbringt“.46 Solche Bühnenlieder (couplets, romances, chansons etc.), die auf derselben illusionistischen Ebene angesiedelt sind wie das Drama, waren in der Opéra comique immer strophisch bzw. mehrstrophisch. Zwischen die einzelnen Liedzeilen bzw. Strophen konnte gesprochener Dialog interkaliert werden, der Charakter einer geschlossenen Liednummer blieb jedoch in der Regel gewahrt. Im vorliegenden Fall nahmen Falbaire und Grétry Abstand von diesem Verfahren, möglicherweise zum ersten Mal in der Opéra comique. Textlich und musikalisch stellt sich die erste Nummer folgendermaßen dar:

45 Klavierauszug,

Breslau: Johann Ernst Meyer 1778, Vorbericht. Goethes an Philipp Christoph Kayser vom 29. Dezember 1779, hier zitiert nach ­Johann Wolfgang Goethe, Singspiele, hg. von Hans-Albrecht Koch, Stuttgart 1974, 309. 46 Brief

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Jérôme. Ariette. [Romance, Andante, 3/8, A-Dur, 35 T.] Du rossignol, pendant la nuit, La voix réjouit sa compagne: L’amour que la gêne accompagne, A parler dans l’ombre est réduit. Récitatif. [Allegretto, 4/4, a/e-Moll, 14 T.] Écoutons … Je n’entends rien … Non. Elle n’ouvre point sa fenêtre. Henriette n’ose y paraître. Ah! Gripon, son oncle Gripon Est sans doute dans la maison. Écoutons … non … voyons encor … Essayons de chanter plus fort. (Il recommence à chanter plus fort.) [Tempo primo, 3/8, A-Dur, 29 Takte] Du rossignol pendant la nuit, La voix réjouit sa compagne. Henriette, se mettant à la fenêtre avec Madelon, et chantant d’une voix plus basse. L’amour que la gêne accompagne Met l’absence et l’ombre à profit.

Bedeutsam ist, dass die außerhalb des Lieds liegende kommentierende Ebene hier ins Rezitativ gesetzt wird. Das heißt: Dem gesprochenen Dialog traditionellerweise überantwortete Textpassagen – und der Kontext eines Bühnenliedes verlangte geradezu zwingend diese Disposition – erscheinen hier in musikalisierter Gestalt. Die beiden narrativen Ebenen unterscheiden sich nicht nur in der Qualität der Figurenrede (‚gebundenes‘ Singen vs. Sprechgesang), sondern sie werden auch tonal gegeneinander abgegrenzt. Der Einfluss der Opera buffa wird somit bereits hier in der ersten Szene von Grétrys Oper manifest. Es überrascht kaum, dass Meißner dieser ungewöhnlichen Disposition nicht folgen wollte. Meißners Übertragung bleibt in jeder Hinsicht auf halbem Wege stehen und verfehlt somit den szenischen Effekt, welchen das Original auszeichnete. Meißner vermochte nicht zwischen den verschiedenen Ebenen der Figurenrede zu differenzieren, was dazu führt, dass die Aktionsmomente des Dialogs nicht von der musikalischen Nummer separiert werden. Meißner dagegen versucht das Unmögliche, indem er Aktionsmomente in die Nummer zwingt, wogegen prinzipiell nichts einzuwenden wäre. Nur verliert die Musik auf diese Weise ihren diegetischen Charakter, d. h. das Stück wird nicht als selbständiger Serenadengesang wahrgenommen, der sich gegenüber anderen Modi der Figurenrede abgrenzt. Indem Meißner die Aktion in das Lied verlegt („Süßes Liebchen, ach erscheine“), präfiguriert er die Qualität des Gesangs, der nun keineswegs mehr ein präexistentes Lied vorstellen kann. Dass Meißner aber dennoch einen Serenadencharakter intendiert, geht aus den Regieanweisungen



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(„singt von neuem“) hervor. Kurzum: Meißner bleibt in jeder Hinsicht hinter dem Original von Falbaire zurück. Karl (singt). Süßes Liebchen, ach, erscheine! Sieh, mein Lager flieht die Ruh. Stiller Schlummer deckt die Haine, Schließt des Städters Auge zu. Doch der Liebe Kummer Hat, mit kalter Hand, Ruh und Traum und Schlummer Von mir weggebannt. (horcht ein Weilchen.) Noch nicht? Frisch, Karl, frisch! (singt von neuem.) Leuchte wieder, wie Lucine Am entwölckten Himmel lacht! Schon dein Auge, Wilhelmine, Scheucht das Grau’s der Mitternacht; Und ein einzig Lächeln Macht die Wüste grün, Laue Zephyrs fächeln Und die Rosen blühn. Immer noch alles still? O! Ich seh schon, ich muß von vorne anfangen. (Wiederholt den ersten Vers, bald bey dessen Anfange macht Wilhelmine und Madelon das Fenster auf, und erstere singt mit von der Zeile: Doch der Liebe Kummer etc.) Wie! sang da nicht jemand mit? – Gieng das nicht das Fenster zu?

Betrachtet man nun die Vertonungen zu Meißners nicht eben glücklicher Umsetzung, so wird das ganze Dilemma offenbar, welches sich mit dieser librettistischen Präfiguration verbindet. Hiller versucht der Vorlage insofern nahezukommen, indem er die beiden Strophenhälften jeweils in zwei unterschiedlichen Metren setzt. Im 3/4-Teil wird das Aktionsmoment realisiert, wohingegen der 6/8-Takt einen liedtypischen Gestus aufrechterhalten soll. Hillers Nummer gliedert sich in vier Teile, die durchgängig in F-Dur stehen. I II III IV

3/4 6/8 3/4 6/8

16 T. 13 T. 12 T. 13 T.

„Süßes Liebchen, ach erscheine“ „Doch der Liebe Kummer“ „Leuchte wieder“ „Und ein einzig Lächeln“

Hiller versucht mit den 6/8-Abschnitten, einen Serenadencharakter zumindest ansatzweise zu realisieren, indes sind die textlichen Ebenen der 3/4- bzw. 6/8-Abschnitte nicht soweit individualisiert, dass ein Wechsel verschiedener Metren- respektive Ausdrucksebenen hier wirklich Sinn ergeben würde. Eine Gliederung in vier Teile findet sich auch in der Vertonung von Baumgarten (dort Wechsel zwischen 2/4 und 3/8, E-Dur). Allerdings ist Baumgartens Nummer konsequenter, indem sie mit den einzelnen Teilen keine unterschiedlichen

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Ausdruckshaltungen verbindet. Das Ganze ist durchgehend „schmachtend“ und damit einheitlicher, was letztlich konsequenter ist. Eine Meißners Vorlage adäquate Umsetzung zu finden, glich ohnehin einer Aporie, da diese schon im Ansatz verfehlt war. Dass Meißner sich den modernen Errungenschaften von Grétrys opéra bouffon geradezu verweigerte, wird am Beginn des zweiten Akts offenbar, der sich durch mehrere dicht aufeinanderfolgende Aktionsmomente auszeichnet.47 Henriette hat in einem Moment der Unachtsamkeit ihre Wertgegenstände, die sie keinesfalls nach geglückter Flucht aus dem Morgenland dort zurücklassen möchte, in den Brunnen fallen lassen. Deshalb wird Jérôme an einem Seil in den Brunnen hinabgelassen, um den Korb mit den Preziosen zu sichern. Just in dem Moment, als er wieder hochgeholt werden soll, erscheinen die beiden Geizigen, die das nahegelegene Grab des Mufti plündern wollen. Jérôme muss vorerst im Brunnen bleiben. Die gesamte Aktion – das langsame Hinablassen in den Brunnen, die Suche sowie das Erscheinen der beiden Alten – ist bei Grétry auskomponiert und bildet eine große musikalische Nummer, d. i. das Trio No. 9. Ihr voraus geht am Anfang des Akts nur ein kurzer Dialog, danach startet unmittelbar die Aktion. Bei Meißner beginnt der zweite Akt gleichsam versetzt, da das Aktende von Grétry hier an den Anfang des neuen Aufzugs gestellt wurde. Das Vorbeiziehen der Janitscharenwache bildet bei Meißner die zweite Nummer des zweiten Akts, der eine der unzähligen Sentenzarien („Die Taub’ auf Nachbars Dache“) vorausgeht. Analog zu Falbaires Handlung wird Meißner dann mit der dritten Szene, die jetzt aber keine Ariette von Henriette vorstellt, sondern eine erzählende Romanze („Zärtlicher als Tell und Lyda“).48 Allein der Umfang von sechs Strophen macht die Nummer zu einem retardierenden Moment, bevor die Handlung dann weitergehen kann.49 Doch die Aktion, nämlich das Hinablassen Jérômes am Seil, die bei Grétry in dem Trio minutiös in Musik umgesetzt wurde, wird bei Meißner gleichsam durch eine Reflexion über die Aktion ersetzt. Am Beginn der Nummer werden die Gefühle ob der heiklen Situation thematisiert („O! wie schlägt voll banger 47

Wie Adrian Kuhl zeigen konnte, ist die genuine Musikalisierung von Handlungsmomenten im Singspiel als ein Phänomen der späten 1770er Jahre anzusehen. Erste Ansätze finden sich in Gotters und Bendas Romeo und Julie (1776), paradigmatisch dann in Neefes Adelheit von Velt­ heim (1780) und Andrés Belmont und Constanze (1781). Vgl. hierzu das entsprechende Kapitel „Das Experiment der Handlungsvertonung“ bei Kuhl, „Allersorgfältigste Ueberlegung“ (wie Anm. 41), 293 – 466. 48 Die unterschiedlichen Vertonungen der Romanze sind instruktiv, weil Baumgarten und Hiller die Strophen jeweils anders konzipieren, um die Musik der Narration anpassen zu können. So setzen bei Hiller die Strophen 4 und 5 einen Dur-Moll-tonalen Kontrast zu den sie umgebenden Couplets. Baumgarten wiederum isoliert die vierte Strophe, während die Strophen 1 – 3 und 5 – 6 zur selben Musik zu singen sind. 49 Vgl. auch Bauman, North German Opera (wie Anm. 9), 142.



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Hoffnung“) und im letzten Teil das Handeln dann angekündigt („Nun wohlan! es muß geschehen“). In nur drei Verszeilen kommt innerhalb dieses Terzetts überhaupt die Aktion ins Blickfeld: „Immer fort! das Seil hernieder! / Halt! ach, halt dich fester an! / Gern so fest als ich nur kann“. Konsequenterweise musste Meißner dann die eigentliche Aktion in den nachfolgenden Dialog legen, denn dergestalt reduziert konnte die szenische Aktion logischerweise nicht vollzogen werden. Ein Blick auf die Vertonungen von Hiller und Baumgarten macht deutlich, dass diese verknappte Nummer kaum musikalische Freiheiten ließ, zumindest aber eine genuine Ensemblekomposition wie bei Grétry verhinderte (was durchaus in der Intention des Textdichters lag). Ein Terzett ist diese Nummer nur insofern, als hier drei Figuren beteiligt sind, die am Ende „alle drey“ zusammen singen. Sowohl Hillers als auch Baumgartens Musik ist in einem einheitlichen Duktus (4/4) gehalten, der kaum dazu angetan ist, Aktion umzusetzen. Die Musiknummern sind – immer Grétrys Trio vor Augen, das über 300 Takte lang ist – ausgesprochen kurz: Baumgartens Komposition zählt 67 Takte. Bedeutsam ist aber, dass Hiller und Baumgarten erst gar nicht versuchen, das Aktionsmoment im Mittelteil aufzunehmen. Die Entscheidung konnte somit nur zugunsten eines einheitlichen motivischen Materials fallen, d. h. zugunsten eines Affekts gegenüber Aktion. So ist denn auch Baumgartens Terzett nicht von ‚Betriebsamkeit‘ gekennzeichnet wie bei Grétry (dort Allegro), sondern von Bedacht und Vorsicht: „aengstlich, im gemäßigten Zeitmaaß“.50 Diesem Grundgestus ist die ganze Nummer unterworfen, auch der Mittelteil, welcher einen letzten Rest von Aktion enthält. Für die Verknappung von Aktionsmomenten steht das Terzett nicht singulär: Dasselbe Verfahren lässt sich auch in dem nachfolgenden Duo verifizieren, in dem Gripon und Martin versuchen die Steinplatte zu zerschlagen, um das Grab des reichen Mufti plündern zu können („Frappons, frappons à grands coups“). Aus einem textlich komplexen Ensemble, in dem Falbaire die Wiederholungen bereits ‚auskomponiert‘ und somit die Vertonung präfiguriert hatte, wird bei Meißner ein neunzeiliges Duo, das den wechselnden Situationen und den damit verbundenen Veränderungen in der Figurenrede nicht gerecht wird. Wiederum fallen die Aktionsmomente dieser Reduktion zum Opfer bzw. sie werden auf ein einziges reduziert: „Schlagt zu Gevatter!“ Dass diese Vorgabe der Vertonung kaum Raum für kompositorische Subtilitäten lässt, liegt auf der Hand, und weder Hillers noch Baumgartens musikalische Version versucht mittels Wiederholungen, eine andere als die vom Text vorgegebene Struktur zu realisieren. Die Konsequenzen von Meißners Singspiel-Adaptation treten somit immer klarer zutage: Erweiterung des Nummernkorpus bei gleichzeitiger Verkürzung der Nummern, starke Reduktion der Ensembles und strikte Verlagerung der Ak50 Vgl.

Klavierauszug, 47 – 50.

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tionsmomente in den Dialog. Diese Strategie wird von Meißner indes nicht ganz durchgehalten, denn er versieht die Figur der Wilhelmine – deren Charakterisierung er seinen eigenen Worten zufolge „verbessern“ wollte – mit einer großen Arie, die beide Komponisten, vor allem Hiller, zum Bravourstück ausbauten. Im Kontext einer Orientoper entspricht Wilhelmines Arie dem Abschied der Europäer aus der verhassten Sklaverei. Obwohl im Grab des Mufti der Kulturkonflikt keine Rolle spielt – die beiden Vertonungen entbehren im Übrigen auch jedweder Exotismen – wird die orientalische Sklaverei am Ende noch thematisiert: „Lebe wohl, du Land der Knechtschaft“ singt Wilhelmine, in Erwartung, kurz darauf „bessern Welten“ zueilen zu dürfen. Hiller macht daraus eine große dreiteilige Aria in Seria-Manier (143 Takte), die in völligem Kontrast zu den Liedern bzw. dem liedhaften Ton der anderen Nummern steht. Hier schwingt sich also eine Bühnenfigur zu einer Stilhöhe auf, die in der ganzen Oper vorher nicht erreicht wurde. Ob die vorletzte Nummer der ganzen Oper dafür der richtige Platz ist, sei dahingestellt. In jedem Fall hebt Hiller Wilhelmine mit dieser Nummer in eine Sphäre, die ihr vorher nicht eigen war.51 Fraglos hat Meißner sich mit dieser Singspiel-Fassung der Beiden Geizigen von Grétry entfernt, die Frage ist nur wohin: zu einem „Schauspiel mit Musik“? Dafür gibt es nun wiederum entschieden zu viel ‚unmotivierte‘ Musik in dieser Operette. Denn ob mit unspezifischen, der Situation der Bühnenfiguren kaum angemessenen Sentenzarien wie „Arbeit ist des Reichtums Preis / Arbeit ist das Salz des Lebens“ einer Personencharakteristik aufgeholfen werden kann, ist zu bezweifeln. Das eigentliche Problem stellte nicht die oben beschriebene Transformation von Musiknummern in gesprochenen Dialog dar, sondern eher die Tatsache, dass Grétrys opéra bouffon für eine Anverwandlung in Richtung „Schauspiel mit Musik“ schlicht das falsche Objekt darstellte. Die elaborierte Verwechslungskomödie war nicht das Feld, welches das deutsche Singspiel um 1770 zu bestellen suchte, schon gar nicht, wenn eine aktionsreiche Handlung dergestalt in Musik gesetzt war wie in Grétrys Oper. Werktreue und Imitation: Zemire und Azor Im Vergleich zu Les deux avares ist Grétrys Zémire et Azor gewissermaßen am gegenüberliegenden Ende des Koordinatensystems der Gattung Opéra comique angesiedelt. Jean-François Marmontel hob sich mit seinem Textbuch in einigen 51

Inwieweit diese Arie deshalb innerhalb von Hillers Œuvre als ‚fortschrittlich‘ zu bezeichnen ist, bleibt fraglich. Kyoko Kawada sieht in Hillers Grab des Mufti einen bedeutsamen Entwicklungsschritt, vor allem hinsichtlich der Individualität der Sologesänge, in welchen sie „reifere Thematik“ gegenüber den früheren Werken erkennt. Auch die „Duette, deren Thematik vergleichsweise bemerkenswerte Fortschritte aufweist, sind häufig groß angelegt“. Vgl. Kyoko Kawada, Studien zu den Singspielen von Johann Adam Hiller (1728 – 1804), Diss. Marburg 1969, 198.



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Punkten dezidiert vom komischen Genre ab. Zum einen hatte Marmontel sein Libretto als comédie-ballet konzipiert und nicht wie üblicherweise als comédie mêlée d’ariettes. Auch war der gesprochene Dialog – wie schon in Silvain und Le tableau parlant – in Versen abgefasst und somit auf einer höheren Stilebene angesiedelt. Ferner besaß Zémire et Azor eine für die Opéra comique untypische Ballettszene. Der größte Unterschied bestand aber zweifellos im Stofflichen, handelte es sich hier um einen der ersten Vertreter des Genres Zauber- bzw. Märchenoper, die einen Gegenpol zu den von der Alltagswelt geprägten Handlungen der Opéra comique darstellten. Die Betonung des Wunderbaren entfernt Zémire et Azor ein Stück weit vom traditionellen Genre, vor allem durch die Funktionalisierung der Musik im Kontext des „merveilleux“.52 Im Gegensatz zu den oben behandelten Opern war Zémire et Azor bis dato Grétrys größter Erfolg, der ihm schlagartig in ganz Europa zu Popularität verhalf und das Werk zu den meistgespielten Opern im 18. Jahrhundert machte. Insofern lagen hier die Dinge anders als bei den anderen aus der Opéra comique adaptierten Werken: Bei Zémire et Azor hatten es die Bearbeiter mit einem weithin bekannten und gefeierten Stück zu tun, das ferner nicht nur für die Singspielbühne anverwandelt worden war, sondern ebenso auch für die ‚große‘ Oper in italienischer Sprache: London, Mannheim und Esterháza waren hier die wichtigsten Stationen.53 Im Kontext des Singspiels erfuhr Grétrys Oper zwei Adaptationen, zum einen durch Moritz August von Thümmel und Christian Gottlieb Neefe in Leipzig 1776 und zum anderen durch Karl Emil Schubert und Gotthilf von Baumgarten in Breslau im gleichen Jahr. Beide Vertonungen dürften bereits ein bzw. zwei Jahre zuvor konzipiert worden sein. Obgleich ein Aufführungsdatum für Baumgartens Vertonung erst für 1776 belegt ist, waren bereits 1775 sowohl die Musik als auch das Textbuch54 (im selben Verlag) im Druck erschienen. Die Wäser’sche Schauspieler-Gesellschaft hatte damit im Jahr 1776 gleich zwei Grétry-Adaptationen von Baumgarten dem Breslauer Publikum präsentieren können: Das Grab des Mufti (ohne nachweisbares Datum) und Zemire und Azor 52

Diese Faktoren ermöglichten sogar eine Gattungstransformation in eine ‚große Oper‘, vgl. Thomas Betzwieser, Opéra comique als italienische Hofoper: Grétrys „Zemira e Azor“ in der Fassung von Verazi (1775), in: Mannheim – Ein „Paradies der Tonkünstler“? (wie Anm.  6), 435 – 466. 53 Zu Mannheim vgl. Betzwieser, ebd.; zu Esterháza vgl. Arnold Jacobshagen, Reduktion und Beschleunigung. André-Ernest-Modeste Grétrys „Zémire et Azor“ in Eszterháza, in: Ulrich Konrad (Hg.), Bearbeitungspraxis in der Oper des späten 18. Jahrhunderts, Tutzing 2007, 261 – 280. 54 Zemire und Azor, eine romantisch-komische Oper in 4 Aufzügen. Nach dem Französischen des Marmontel. Von dieser Oper ist eine geschriebene Partitur der Musik bei dem Verleger zu beziehen, und der Klavierauszug unter der Presse, Breslau 1775, bei Johann Friedrich Korn dem Älteren (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung, Signatur Mus Tg 962/2).

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(18. Mai 1776). Baumgartens Beziehungen zur Truppe von Wäser müssen somit engerer Art gewesen sein, wenngleich sie sich nicht rekonstruieren lassen.55 Die Existenz zweier Ausgaben des Klavierauszugs (1775 und 1781) deutet darauf hin, dass sich Baumgartens Zemire und Azor in Breslau offenbar größerer Beliebtheit erfreute. Die Einrichtung des Texts für Baumgartens Zemire-Oper besorgte Karl Emil Schubert, allerdings nur für die Musiknummern, den Dialog übernahm der Komponist selbst.56 Eigentlich hätte man es umgekehrt erwartet, dass der Komponist – wenn überhaupt – sich der Musiknummern annimmt und den Dialog dem Librettisten überlässt. Diese ungewöhnliche Konstellation lässt jedoch auf eine enge Zusammenarbeit der beiden Autoren schließen. Mehr noch offenbart das Textbuch selbst, dass sich beide Textdichter dem gleichen ästhetischen Prinzip unterwarfen, nämlich größtmögliche Werktreue zum Original herzustellen. Kein anderes Singspiel, das einer französischen Vorlage folgt, ist so nahe am Originaltext wie Baumgartens Zemire und Azor. Das Libretto folgt Marmontel aufs Genaueste: Die Dialoge sind kaum verknappt (trotz der Umwandlung in Prosa), vor allem aber blieb die originale Disposition der Musiknummern vollständig gewahrt: keine Streichung, keine Umstellungen, keine zusätzlichen Arien. Einzig die in Marmontels comédie-ballet inkorporierten Ballettnummern finden sich nicht in der Adaptation. Auch die Gattungsbezeichnung versucht dem Märchen-Libretto von Marmontel gerecht zu werden: Die Autoren nennen ihr Singspiel „romantisch-komische Oper“, womit dieses Textbuch – neben Daniel Schiebelers Lisuart und Dariolette (1767) – zu den frühesten Belegen für den Terminus „romantisch“ im deutschen Musiktheater zu zählen ist.57 Eine dergestalt intensive Bemühung, das Original zu ‚konservieren‘, wirft unweigerlich die Frage auf, ob und inwieweit Baumgarten auch in seiner Vertonung Grétry verpflichtet war. Stellt die Tatsache, dass alle Musiknummern ver55 Zu

Wäser vgl. Alfred Mai, Die Wäser’sche Schauspielergesellschaft in Schlesien (1772 – 97), Teildruck, Breslau 1928. 56 „Die Gesänge rühren von mir, die Prosa aber von dem würdigen Compositeur derselben, dem Herrn Lieutenant von Baumgarten her.“ Dieser Passus findet sich nur in der ‚Werkausgabe‘ von Karl Emil Schubert, Schauspiele mit Musik, Breslau, Leipzig 1779, Vorrede, fol. 5, hier zitiert nach der RISM-Titelaufnahme des Exemplars in der Fürst Thurn und Taxis Hofbibliothek und Zentralarchiv Regensburg, Signatur Bl. 319. Diese Ausgabe, die auch als identischer Separatdruck (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung, Signatur Yp 5318 – 68) erschien, zeigt gegenüber der Ausgabe von 1775 (Breslau: Korn d. Ä.) Textmodifikationen sowohl in den Dialogen als auch in den Musiknummern. Karl Emil Schubert wird auch bereits als Koautor von Faber für die in Frankfurt am Main 1775 erschienene Übersetzung genannt (Universitätsbibliothek der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Signatur Dk VI 279). Da in nicht wenigen Bibliothekskatalogen (verständlicherweise) Verwirrung herrscht ob der Übersetzung des Originals und der deutschen Singspiel-Adaptation, wurden oben die benutzten Exemplare mit Signatur angegeben. 57 Diesen Hinweis verdanke ich Gudrun Busch (†).



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sammelt sind und auch die Singstimmenverteilung nach dem Original disponiert ist, noch keinen hinreichenden Grund dar, der Neuvertonung eine Anlehnung an Grétry zu unterstellen, so ändert sich dies bei der genaueren Betrachtung der Musik. Baumgarten folgt in vielen Details dem französischen Meister, mehr noch: Er lehnt sich mitunter so stark an Grétry an, dass man versucht ist, von einer Imitation zu sprechen. Es scheint, als habe Baumgarten seine Oper mit der originalen Partitur des Franzosen neben sich liegend komponiert. War die Intention, der Stilhöhe der Vorlage gerecht zu werden, für die librettistische Seite durchaus angemessen, so wird sie bei der Komposition schlechterdings zum Problem. Es sind vor allem die Formdispositionen der Musiknummern, mit welchen Baumgarten seinem französischen Vorbild so verdächtig nahekommt. So ist die Form von Azors Arie am Ende des ersten Akts ganz Grétry verpflichtet, selbst die Tempowechsel finden sich an exakt denselben Stellen wie im Original, die – wenn man vom Text ausgeht – an diesen Stellen keineswegs zwingend sind. Ein paradigmatisches Beispiel, das zeigt, wie stark sich Baumgarten an Grétry orientierte, ist die erste Nummer der Oper, das Duett zwischen Ali und Sander „Das Wetter ist vorbey“. Analog Grétry hat dieses Ensemble eine Dal-segnoAnlage, was dem Libretto nicht abzulesen war, sondern einzig der Partitur. Auch die instrumentalen Zwischenspiele sind vollständig Grétry nachgebildet. Die stärkste Anlehnung offenbart jedoch der zweitaktige Themenkopf „Das Wetter ist vorbey“/„L’orage va cesser“, der in beiden Fällen durch einen markanten Oktavsprung charakterisiert ist (siehe Musikbeispiel 1). Vor allem aber übernimmt Baumgarten die ästhetische Grundidee dieser Eröffnungsnummer, in der Grétry dem Orchesterpart eine kommentierende Funktion zugewiesen hatte, insofern die Begleitung etwas der Figurenrede Nicht-Analoges zum Ausdruck bringen sollte. Auch diese Idee findet sich in Baumgartens Klavierauszug wieder. Die Nummer ist überschrieben wie im Original: „Die Musik widerspricht beständig dem Texte“. Schubert und Baumgarten folgen Marmontel und Grétry somit aufs Wort („L’accompagnement contrarie les paroles“). Dass nicht nur Baumgarten musikalisch versucht, Grétry nahezukommen, sondern bereits die librettistische Vorlage sich ganz und gar an Marmontel anlehnte, ist denjenigen Stellen zu entnehmen, die eine ungewöhnliche textliche Disposition aufweisen, wie beispielsweise in der dritten Szene des vierten Akts. Diese Soloszene von Azor ist bei Grétry als Accompagnato-Rezitativ plus Arie konzipiert und eben dieser Konzeption folgen auch Baumgarten und sein Textdichter Schubert. Den zwölf Versen der Arie (102 Takte) gehen vier Verszeilen (12 Takte) voraus, welche zur Arie überleiten. Allerdings versagen sich die beiden deutschen Autoren einen Rücksprung in den gesprochenen Dialog am Ende der Szene; der Arie folgt erneut ein kurzes Rezitativ (7 Takte), das zur nächsten

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Musikbeispiel 1: oben: Grétry, Beginn Duo; unten: Baumgarten, Beginn Duett.

Nummer (Arie der Zemire) überleitet.58 Diese Szene ist kein Einzelfall: Auch Sanders Récitatif obligé („Je vais faire encore un voyage“, 28 Takte), das bei Grétry isoliert ohne Arie stand, wird von Baumgarten analog als ‚freistehendes‘ Accompagnato-Rezitativ umgesetzt („Jetzt reiß’ ich noch einmal“, 22 Takte). Bei einer dergestalt gesuchten Nähe zum Original durfte der Zuschauer gespannt sein, wie sich Baumgarten in der Schlüsselszene von Grétrys Oper aus der Affäre zieht, nämlich in der berühmten Zauberspiegelszene, in der Azor noch einmal Zémires Familie in einem Zauberspiegel erscheinen lässt. Grétry bediente sich für dieses tableau vivant eines besonderen Kunstgriffs, indem 58 Die

Adaptation, die Thümmel für Neefe anfertigte, geht in dieser Hinsicht völlig pragmatisch vor: Sie gestaltet die Szene ganz traditionell als Sprechmonolog mit nachfolgender Arie (10 Verse).



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er die Begleitinstrumente (Klarinetten, Fagotte, Hörner) hinter der Szene postierte und so einen „Come-da-lontano“-Effekt erzeugte. Der außergewöhnliche Effekt dieser Szene beruht in der räumlichen Trennung von Vordergrundaktion und dem Geschehen im Zauberspiegel. Diese räumliche Aufspaltung konkretisiert sich auch in der Figurenrede der dramatis personae: Zémire und Azor (im Vordergrund) sprechen, während im Zauberspiegel gesungen wird. Die Fernwirkung der Bühnenmusik evoziert eine sphärenhafte Klanglichkeit, die dem prosaischen Sprechen diametral entgegensteht. Sprechen und Singen sind hier also in ein dramaturgisch bedeutsames Verhältnis gesetzt, das sich insbesondere dadurch konkretisiert, dass das Trio von Dialogtext unterbrochen wird. Die eigentliche kongeniale Idee Grétrys bestand jedoch darin, das Klangliche gleichsam ins Motivische zu überführen, d. h. das instrumentale Dreitonmotiv in die Gesangspartien einfließen zu lassen und zwar so, dass es die ganze Nummer über präsent bleibt. Nicht ein ‚Gesangsthema‘ strukturierte also dieses Trio, sondern einzig und allein ein klangliches Moment war für die Komposition entscheidend. Baumgarten operiert in diesem „Terzett mit gedämpfter Stimme“ (Textbuch) ebenfalls mit einem Sordino-Effekt – die Tonart Es-Dur spricht für die Beteiligung von Hörnern –, doch seiner Spiegelszene geht sowohl das dynamische wie das dramatische Moment der Vorlage ab: Baumgarten macht nämlich aus der Szene eine große Nummer. Indem er jeder Figur ein eigenes motivisches Gebilde zuweist, gibt er Grétrys Idee der motivischen Verdichtung samt deren origineller Echowirkung auf. Die Musiknummer mündet schließlich in ein terzenseliges Duettieren der beiden Töchter, vom dramatischen Appell der Widerkehr („Reviens“) keine Spur. Hier verließ Baumgarten nicht nur sein kompositorisches Vermögen, sondern mehr noch sein dramaturgisches Gespür. Gerade in dieser Szene hätte er dem französischen Vorbild folgen müssen, denn die besondere räumliche Disposition ergibt nur einen Sinn, wenn sie von dem Gegeneinander der verschiedenen Ausdrucksmodi, also Sprechen und Singen bzw. Dialog und Bühnenmusik, begleitet wird. Selbst mit einem Melodram wäre Baumgarten dem Original näher gekommen als mit diesem konventionellen Ensemblesatz, der darüber hinaus zu den schwächsten Nummern der ganzen Oper zählt. Doch gibt es in Baumgartens Partitur durchaus auch gelungene Nummern, wie zum Beispiel das Duett im ersten Akt „Es klärt sich auf“. Bei diesem Stück fällt es allerdings besonders schwer, sich vom Original freizumachen, gehörte doch das Grétry’sche Duo mit zu den eingängigsten Stücken seiner Oper. Den besonderen Reiz dieser Nummer machte vor allem das dialogische Gegeneinander zwischen dem aufbruchbereiten Sander und dem schon eingeschlafenen Ali aus. Mit einem geradezu triumphalen „Es klärt sich auf“ (Oktavbrechung in Vierteln, der sich zwei energisch aufwärts gerichtete Oktavläufe anschließen) wählte Baumgarten einen ganz anderen Weg als Grétry mit seinem quasi par­ lante des „Le temps est beau“. Auch die nachfolgende Antwort von Ali „Wenn

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ich gezecht / wollt ihr erlauben / so schlaf ich gern“ findet mit einem eigenen Themenkopf bei dem deutschen Komponisten eine musikalisch sinnfällige Realisierung. Auch ist der Grundgestus mit „munter“ ein ganz anderer als bei Grétry. Kurzum: Baumgarten kommt durchaus zu eigenen Lösungen, ohne sich dabei einem Liedtonfall zu verschreiben wie im Grab des Mufti oder wie beispielsweise Ernst Wilhelm Wolf in seiner Weimarer Pastorale Das Rosenfest59 (1770), das ebenfalls eine Adaptation aus der Opéra comique darstellte. In den 1770er Jahren gab es nur wenige Werke auf der europäischen Musikbühne, die eine vergleichbare Resonanz fanden wie Grétrys Zémire et Azor, vor allem in Deutschland. Im Repertoire der Seyler’schen Truppe, die zwischen 1775 und 1779 in Gotha weilte, erfuhr das Werk 19 Aufführungen und war damit das meistgespielte Stück in dieser Zeit. Ob Christian Gottlob Neefe, der seit 1776 als Musikdirektor der Truppe wirkte, die Grétry’sche Vertonung tatsächlich nicht kannte, als er seine eigene Komposition in Angriff nahm, scheint angesichts der weiten Rezeption von Zémire und Azor ziemlich unwahrscheinlich; dirigiert hat er das Originalwerk nach 1776 sicherlich mehrfach, zumal das Werk 1782/83 im Bonner Repertoire war. Wenn Neefe das Original respektive deren musikalische Qualitäten erst nach 1776 kennengelernt hat, ist darin möglicherweise der Grund zu suchen, warum seine eigene Zemire-Vertonung dann von der Bühne verschwunden ist; vielleicht hat er sie zurückgezogen. Dies würde auch die eingeschränkte Quellenlage erklären, denn eine Partitur bzw. ein Klavierauszug haben sich von Neefes Zemire und Azor nicht erhalten; überliefert ist eine einzige Arie.60 An dieser lässt sich indes ablesen, dass Neefe kaum einer Singspielästhetik verpflichtet war, welche auf Einfachheit und Singbarkeit setze.61 Die Arie „Der Blumen Königinn“ hat nichts von der gesuchten 59 Text von Gottlob Ephraim Heermann basierend auf La rosière de Salency (1769) von Favart, welche auch die Vorlage für Grétrys gleichnamige Oper von 1773 abgab. Textbuch Weimar: Hoffmann 1771; Klavierauszug Berlin: Winter 1771, (20. 10. 2021). Wolfs „Operette“ umfasst insgesamt 48 Musiknummern, davon sind 18 Nummern einfache Lieder. Aus dieser Konzeption konnte nur eine ‚Liederoper‘ vergleichbar Hillers Die Jagd resultieren. Die strophischen Gesänge in Wolfs Oper treten jedoch nicht in drameninhärent-diegetischer Gestalt in Erscheinung, wie die meisten Lieder, Romanzen und Balladen, sondern sie repräsentieren überwiegend den Ausdruck von Gefühlen, mehr noch von Leidenschaften. Im Sentenzhaften dieser Gesänge (z. B. „Was der Hagel in den Feldern, / Was der Donner in den Wäldern, / Was der Mehlthau den Saaten, / Das sind uns die Soldaten“) offenbart sich indes ein Rudiment der Bildlichkeit der Opera seria. Fast alle Seelenzustände der dramatis personae werden in Bildern oder Sentenzen ausgedrückt, die der (älteren) Opera seria nicht nur nahestehen, sondern geradezu von dort abgelauscht sind, allerdings ohne jede ironische Brechung. – Zum Problem der Komik in Wolfs Rosenfest vgl. Urchueguía, Allerliebste Ungeheuer (wie Anm. 7), 287 f. und 312 – 317. 60 Es handelt sich dabei um Zemires Rosenarie „Der Blumen Königinn“ aus dem zweiten Akt. Publiziert in: Johann Adam Hiller (Hg.), Zweyte Sammlung der vorzüglichsten, noch ungedruckten Arien und Duette des deutschen Theaters, Leipzig 1777, 40 – 4 4. 61 Vgl. Reinhart Meyer, Die Theorie des Deutschen Singspiels von Gottsched bis Reichardt –



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Simplizität des älteren Gattungsstils. Die Stilhaltung von Neefes Arie könnte man als anspruchsvollen Ariettenstil beschreiben, der zwar Koloraturen enthält, aber keine ausgesprochene Virtuosität impliziert. In Ermangelung weiterer Musik bleibt uns leider verborgen, welche musikalische Lösung Neefe für die Schlüsselszene der Oper gefunden hatte. Dies wäre vor allem deshalb interessant, weil sich das gesamte Textbuch62 – wie schon die Breslauer Adaptation – stark an Marmontels Vorlage orientiert und die Zauberspiegel-Szene auch als „Trio mit gedämpften Instrumenten“ konzipiert ist. Fest steht, dass Neefe die Musik zu Zemire und Azor wiederverwendet hat, und zwar für das von Friedrich Wilhelm Großmann verfasste Singspiel Was ver­ mag ein Mädchen nicht!63 Dieses Stück ist ein Kuriosum, nicht wegen der Übernahme existenter Musik, sondern weil diese Übernahme unter Wahrung der älteren Gesangstexte vonstatten ging. Mit anderen Worten: Großmann hat um die älteren Musiknummern herum buchstäblich eine ‚neue‘ Oper konstruiert. In seinem Werkkatalog hat Bauman bereits die Filiation dieses Stücks dargelegt,64 allerdings scheint er übersehen zu haben, dass es sich hierbei um eine veritable dramatische Parodie handelt. In diesem Stück finden nicht nur die ursprünglichen Arientexte Verwendung – ein bemerkenswertes Verfahren –, sondern Großmann parodiert auch Marmontels Zauberoper auf eine sehr feinsinnige Weise. Die Konstellation der dramatis personae65 sowie der Handlungsverlauf gleichen dem Original, obschon Großmann das Stück mit parodietypischen Ingredienzien anreichert, mit welchen der Zauber gleichsam auf den Boden der Tatsachen geholt wird. So entschweben Azor und Ali am Ende des ersten Akts nicht auf einer Wolke, sondern in einer Montgolfiere. (Wir schreiben 1789 und die Erfindung der Brüder Montgolfier, gerade ein paar Jahre alt, war die Attrakmit Blick auf die musikalische Praxis, in: Johann Friedrich Reichardt (1752 – 1814). Zwischen Anpassung und Provokation. Goethes Lieder und Singspiele in Reichardts Vertonung, hg. von Manfred Beetz u. a., Halle 2003 (Schriften des Händel-Hauses in Halle 19), 285 – 307. 62 Zemire und Azor. Eine komische Oper. Nach dem Französischen des Herrn Marmontel [hss.: „übersetzt von Moritz August von Thümmel. Musik von P.[!] G. Neefe. Zum ersten Male aufgeführt d. 5. März 1776 von der Koberweinschen Gesellschaft in Leipzig am Namenstage des Churfürsten von Sachsen.“], Frankfurt am Main, Leipzig 1776. 63 Zu Diffusion und Rezeption fremdsprachiger Stücke bei Großmann und Neefe vgl. das Fallbeispiel bei Urchueguía, Allerliebste Ungeheuer (wie Anm.  7), 103 – 106. Zu Großmanns Repertoire vgl. Thomas Betzwieser, Die Anfänge des „kurfürstlichen Nationaltheaters“: Gustav Friedrich Wilhelm Großmann in Bonn (1778 – 1783), in: Birgit Lodes, Elisabeth Reisinger, John Wilson (Hg.), Beethoven und andere Hofmusiker seiner Generation, Bonn 2018 (Veröffentlichungen des Beethoven-Hauses in Bonn. Reihe 4, Schriften zur Beethoven-Forschung 29; Musik am Bonner kurfürstlichen Hof 1), 95 – 112. 64 Bauman, North German Opera (wie Anm. 9), 357. 65 Hanold, ein Ritter, zuerst in Einsiedlerskleidung; Tanker, ein Handelsmann; Mathilde, Anne, Elvire: seine Töchter; Arnold, sein Diener; Ardulph, ein Ritter; Ein Luftschiffer; Gefolge von Damen und Rittern.

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tion schlechthin, die ihre Spuren auch auf dem Theater hinterließ.) Großmanns Was vermag ein Mädchen nicht! ist eine Parodie ganz im französischen Sinn, welche das Pathos und die Empfindsamkeit des Originals durchaus bewahrt, sie allerdings in einen anderen Kontext stellt, beispielsweise durch Veränderung des Schauplatzes oder anderer sozialer Positionierung der Figuren. Was die Entstehung dieser Parodie anbelangt, sind wir ganz auf die Darstellung von Großmann im Vorwort zu seinem Libretto angewiesen. Demnach ist dieses Singspiel das Resultat eines feuchtfröhlichen Abends bei Neefe gewesen, in dessen Verlauf die Idee geboren wurde – weil Frau Großmann zwei Arien von Neefe so gut gefielen –, eine Oper aus den vorhandenen Musiknummern zu machen, was Großmann dann auch bewerkstelligte. Bedeutsamer als die Genese dieses Werkes sind allerdings die ästhetischen und gattungsspezifischen Implikationen, die aus Großmanns Anmerkungen hervorgehen. Sie geben Auskunft über das Problem von Neu- bzw. Doppelvertonung, mehr aber noch über das Verhältnis von Opéra comique und Singspiel: Gretry’s und Neefens Musik zu Zemire und Azor erschienen fast zu gleicher Zeit in Deutschland, aber zu einer für Neefe gefährlichen Zeit! Die Deutschen, durch Hillersche und Wolfische Lieder eingelullt, waren durch Einführung der französischen Operetten, die Marchand von Strasburg brachte […], auf einmal durch die zaubernden Nasentöne hingerissen worden. Wer sonst im Mitgefühl ländlicher Freuden die Hillerschen Lieder […] sang, der naselte nun Sans chien & sans houlette etc. où peuton être mieux etc. Hillers Gesang unterlag bey unserm modeliebenden Publikum eben so der Mode, als der deutschen Mädchen blondes und braunes in Locken über den Busen wallendes Haar den französischen Kopfzeugen à la cherchez-moi, cache beauté, où êtez-vous, qui va là? Kein Wunder also, wenn Neefens Schale stieg und Gretry’s Schale sank, ob er gleich, wie Meister Forkel, witzig sein wollend, sagte, diesmahl nicht in Hillers Pantoffeln und Wolfs Schlafmütze ausgegangen, sondern von seinem Meister abgewichen war.66

Großmanns Ausführungen spiegeln paradigmatisch die Entwicklungslinien des deutschen Singspiels im Hinblick auf den Einfluss der Opéra comique wider. Die Rezeption des französischen Genres war notwendig, um der neuen Gattung Singspiel aufzuhelfen, sie von der Gebundenheit im Liedhaften zu befreien. Insofern spielte Grétry eine wichtige Rolle, hatten seine Werke doch die Nachbargattung auf ein neues musikalisches Gleis gesetzt. Der Einfluss der Opéra comique begann in dem Moment zu schwinden, als das Singspiel seinem französischen Pendant auch musikalisch ebenbürtige Produkte entgegenzusetzen vermochte. Und nicht zuletzt waren es die Impulse aus der süddeutschen Hemisphäre, die mehr und mehr eine stilistische Amalgamierung herbeiführten. Es darf aber nicht übersehen werden, dass Großmanns Befund ein Produkt der späten 1780er Jahre ist. Es liegt somit zeitlich nach dem Paradigmenwechsel des 66 Gustav

Friedrich Wilhelm Großmann, Was vermag ein Mädchen nicht!, Braunschweig 1789, Vorwort, unpag.



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deutschen Singspiels, der sich mit Mozarts Entführung aus dem Serail konkretisierte.67 Der Einfluss der südlichen Hemisphäre wurde im Laufe der 1780er Jahre immer größer, bis er schließlich mit der Zauberflöte seinen unbestrittenen Höhepunkt erreichte. Aus dieser Sicht ist Großmanns Einschätzung gegenüber der Opéra comique zu relativieren, denn sie hatte in den 1780er Jahren ihren ehedem starken Einfluss in der Tat weitgehend eingebüßt. Das paradigmatisch Neue: Silvain ‒ Walder Als die bedeutsamste Adaptation einer Grétry-Oper darf mit Fug und Recht Georg Bendas Walder bezeichnet werden, die am 23. Februar 1776 im Gothaer Schlosstheater erstmals aufgeführt wurde. Walder rekurrierte auf eine frühe Opéra comique von Grétry, nämlich auf Silvain aus dem Jahr 1770. Was diese Adaptation so interessant macht, ist die Tatsache, dass Grétrys Oper ihrerseits auf einer deutschen Vorlage basierte, denn Marmontel hatte seinem Textbuch den Erast von Salomon Gessner zugrunde gelegt. Gessners Erast war ein Werk der späten 1750er Jahre, publiziert worden war das Prosaidyll 1762.68 Marmontel hat den Familienkonflikt von Gessner nicht nur durch Hinzufügung einiger düsterer Farben dramatisiert, sondern er hat ihn vor allem ins Psychologische überführt.69 Der Konflikt bleibt ganz auf die Familie fokussiert, die von dem Protagonisten – seiner edlen Geburt entsagend – verlassen wird, um seiner Liebe zu folgen, die von der Familie aus Standesgründen nicht geduldet worden war. Vor allem gelingt es Marmontel, die Musik innerhalb dieser Psychologisierung in dramatisch sinnfälliger Weise zu funktionalisieren.70 Es überrascht somit nicht, dass die musiktheatrale Anverwandlung dieses ursprünglich ‚deutschen‘ Familiengemäldes vor allem in Deutschland auf fruchtbaren Boden fiel. Indes sind neben der Textfassung der Oper, die Friedrich Wilhelm Gotter 1775 vornahm, zwei weitere wichtige Zeugnisse zu berücksichtigen, welche die Adaptation von Grétrys Oper augenscheinlich beeinflusst haben. Zunächst ist dies Walder, ein Lustspiel in einem Aufzuge nach der Komischen Oper, Silvain von Herrn Marmontel von Christian Felix Weiße. Weiße muss sich der Prosaübersetzung dieser Schauspielbearbeitung umgehend nach der Publikation des Originals angenommen haben, denn sie erschien noch in demselben Jahr 67 Vgl.

hierzu vor allem Jörg Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert. Typologie, Dramaturgie und Anthropologie einer populären Gattung, Tübingen 1998 (Studien zur deutschen Literatur 149 f.), Bd. 1, 396 – 464. 68 Zur Genese von Silvain vgl. Charlton, Grétry (wie Anm. 24), 57 f. 69 Ebd., 57. 70 „[…] Silvain enlarges the inner and outer scope of its predecessor and the music undoubtedly follows suit in this respect“, ebd., 58.

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(Leipzig: Dyck 1770).71 Mehr aber noch ist es eine Besprechung dieses Einakters von Weiße, die ins Kalkül gezogen werden muss, wenn es darum geht, potentielle Einflusssphären für Gotters Textbuch namhaft zu machen. Das Nachspiel von Weiße wurde 1771 in Christian Heinrich Schmids Das Parterr eingehend diskutiert,72 das der Autor „einer mehr als flüchtigen Aufmerksamkeit würdig“ befand, da es sich hierbei um mehr als nur eine „Uebersetzung“ handelte.73 Für unseren Kontext ist diese Rezension insofern von Bedeutung, als Schmid dort die Bearbeitung einer Opéra comique in ein gesprochenes Drama erörtert und dabei grundsätzliche Fragen des damit verbundenen Gattungstransfers aufwirft. Schmid preist zunächst die Leistung Marmontels, der das Stück von Gessner verbessert, insbesondere den Dialog „natürlicher, geschmeidiger, simpler“ gemacht habe. Diese Dramatisierung habe durch Marmontel gewonnen, viele Szenen seien auf dem Theater effektvoller als bei Gessner. Nur aus Operetten, wie sie Marmontel macht, läßt sich ein Lustspiel zusammensetzen, und nur ein Uebersetzer, wie Herr Weiße, ist dazu fähig. Es war nicht damit gethan, die Arien auszulassen; viele schöne Züge aus denselbem mußten beybehalten werden, da die Franzosen die Handlung oft in ihren Arien fortrücken lassen, den ländlichen, unschuldigen und rührenden Ton nicht zu verderben, war eine zärtlichere Hand nöthig, als die abgehärteten Hände der gewöhnlichen Uebersetzer sind. […] Dies hat der Uebersetzer dies Stücks vollkommen beobachtet.74

Schmid ist voll des Lobes für Weiße, vor allem hinsichtlich der ‚Rückführung‘ der Arien in gesprochenen Dialog, wofür er die erste Szene als modellhaft ansieht und diese im Original und in der Übersetzung wiedergibt.75 Wenngleich natürlich der Normalfall die Umwandlung von Prosatext in eine Musiknummer darstellt, so war das umgekehrte Verfahren, das Schmid hier diskutiert, für die deutschen Textdichter gleichwohl äußerst aufschlussreich, da hier allgemeine Probleme der Übersetzungspraxis angesprochen wurden.76 Gerade in diesem Zusammenhang wird noch eine andere Besprechung von Schmid relevant, nämlich die Rezension von Eraste, comédie en deux actes et en vers; avec diffe­ rens morceaux à mettre en Musique; imitation libre de l’Eraste Allemand de Mr. Gessner (Paris: Hérissant 1770).77 Schmid bespricht dieses aus seiner Sicht 71 Schneider, 72 Christian 73 Ebd.,

Zur Problematik (wie Anm. 20), 56. Heinrich Schmid, Das Parterr, Erfurt 1771, 16 – 24.

16. Ebd., 17 f. 75 „Gleich in der ersten Scene unterbricht der deutsche Walder sehr oft durch eingeschaltete Reden die Sophie, die im Französischen fehlen, wo Silvain in einem forterzählt. Wie sehr dies die Erzählung belebe, empfindet ein jeder. Will man eine Probe, wie der Deutsche in Auflösung der Arien zu Werke gegangen sey: Hier ist eine aus derselben Scene“; ebd., 18. 76 Überhaupt durchziehen Übersetzungsfragen Schmids gesamtes Buch wie ein roter Faden; eine Zusammenschau mit den von Herbert Schneider (Zur Problematik, wie Anm. 20) für Faber beschriebenen Phänomenen wäre einmal angezeigt. 77 Schmid, Das Parterr (wie Anm. 72), 97 – 106. 74



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schlechte Stück nur – den anonymen Autor hält er für einen „wahren Stümper“ –, weil es ihm als willkommenes Demonstrationsobjekt dient: „Ich habe oben gezeigt, was ein Deutscher aus einer französischen Operette gemacht habe; jetzt wollen wir sehen, was für eine Operette ein Franzose aus einem deutschen Schauspiele geschaffen hat.“78 Schmid unterwarf seine Rezension insgesamt sieben Fragekomplexen, die für jeden Autor, der mit einer Adaptation befasst war, von zentraler Bedeutung waren. 1. Welche Sprache wird für Gessner gefunden? 2. In was für Arien wird Gessners Sprache überführt? 3. Welche Szenen von Gessner hat der Bearbeiter weggelassen? 4. Was hat er für eigene Szenen hinzugefügt? 5. Was für Stellen hat er dafür ausgelassen? 6. Welche Passagen sind hinzugefügt worden? 7. Was hat er für eigene Arien verfasst?79 Es scheint, als ob diese Betrachtungen von Schmid Gotters Textfassung des Walder80 nicht unbeeinflusst ließen, denn die meisten der von Schmid diskutierten Problemfelder sind im Walder-Libretto gleichsam positiv gelöst. In dramaturgischer Hinsicht zeigt das Textbuch81 keinerlei Defekte, was durchaus auf Schmids theoretische Einlassungen zu Übersetzung und Gattungstransformation zurückzuführen sein könnte. Es sind vor allem zwei Dinge, die Gotter von dort zur Kenntnis genommen haben dürfte und die sich jetzt in seiner Adaptation positiv konkretisieren: zum einen die Umformung einer Musiknummer in gesprochenen Dialog und zum anderen die Modellierung einer Arie aus einem solchen. Wenngleich beides auch bei Meißner anzutreffen war, so sind doch Gotters Realisationen ungleich gelungener zu nennen. Die Tendenz, ein aktionsreiches Ensemble in Dialog umzuformen, manifestiert sich in Walder in der fünften Szene, die bei Gotter vollständig gesprochen wird, wo in Grétrys Original ein großes Septett figurierte. Ferner eliminierte Gotter einige Musiknummern, indem er zwei originale Gesangspartien in Sprechrollen (Christel und Dorchen) umwandelte.82 Natürlich ist Gotter grundsätzlich von einer anderen literarischen Potenz als Meißner oder andere deutsche Operndichter. Walder besticht vor allem durch die Qualität seines Textes, wobei es Gotter in besonderer Weise gelingt, das empfindsame Pathos der in Versen gehaltenen comédie mêlée d’ariettes von 78 Ebd.,

97. 98. 80 Zum genauen Handlungsverlauf der Oper vgl. Bauman, North German Opera (wie Anm. 9), 117 f. 81 Walder, ein ländliches Schauspiel mit Gesang in einem Aufzuge, Gotha 1778; Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung, Signatur Yr 4319. Dieses Exemplar ist ein Soufflierbuch, aus dem hervorgeht, dass der Einakter auch als zweiaktige Oper gespielt wurde. Handschriftlich wurden hier die Akte aufgeteilt (Akt  1: Sz. 1 – 9, Akt  2: Sz. 10–Ende); ferner ist eine neue Arie (S. 44 f.) handschriftlich hinzugefügt. 82 Bauman, North German Opera (wie Anm. 9), 118. 79 Ebd.,

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Marmontel in Prosa zu übersetzen. Diese Stilhöhe wird von Gotter aufrechterhalten, was sich auch in der Übertragung der Musiknummern offenbart. Die Arie der Sophie (No. 2) liefert hierfür ein gutes Beispiel: Das Einverständnis unsrer Seelen, Geliebter Walder, ist gestört; Den Kummer, den ein Jedes nährt, Sucht es dem Andern zu verhehlen. Wie schlich sich dieser Kaltsinn ein? Weß ist die Schuld? Sprich, ist sie mein? Ließ ich es an Vertrauen fehlen? Ach, prüfe dich! ach, ist sie dein?

Der Text bezieht sich ganz und gar auf die Situation und impliziert weder Bildnoch Sentenzhaftes. Wesentlich ist aber, dass der Arie ein dialogisches Moment inhärent ist, welches sie mit dem sich anschließenden Sprechtext verzahnt, somit also einen realen Dialog provoziert. Mit anderen Worten: Musiknummer und Dialog begegnen sich hier nicht – wie so oft im Singspiel, wenn die Arie einen in sich abgeschlossenen Kontext vorstellt – auf zwei verschiedenen narrativen Ebenen. Allerdings geht Bendas Vertonung nicht so weit, dass die Arie mit der von Sophie gestellten Frage abschlösse („ist sie dein?“), da Benda die Arie in eine ABA’-Form einbettet. In puncto Form ist Benda hier sehr nahe bei Grétry, denn auch der Franzose hatte seiner Nummer eine klare ABA’-Ariettenform zugrunde gelegt, bei welcher nur die ersten beiden Verszeilen wiederholt werden. Es war nicht allein die sprachliche Qualität,83 welche die „ernsthafte Operette“ Walder im Besonderen auszeichnete, sondern auch Gotters dramaturgisches Geschick. Anders als Weiße oder Meißner hatte Gotter die Handlung nicht mit unmotivierten Liedern und Arien angereichert, wie überhaupt sentenzhafte Gesangstexte stark zurückgedrängt sind. Jedwedem ‚Einlagecharakter‘ der solistischen Gesänge wurde hier dezidiert entgegengearbeitet. Ferner verstand es Gotter in seiner Adaptation, die entscheidenden Szenen – im Kontext einer Musiknummer – auszuweiten und damit den musikalischen Anteil aufzuwerten. Die Wiedererkennungsszene am Ende der Oper, die Gotter als großes Quartett konzipierte, steht hierfür exemplarisch. Dem deutschen Textdichter gelang somit, was anderen Bearbeitern versagt blieb, nämlich das Original wirklich zu bereichern, vor allem im Hinblick auf die Darstellung der individuellen Befindlichkeit der Bühnenfiguren. Gotters dramatisches Gespür zeigt sich bereits in der Eingangsszene, wo er den gesprochenen Dialog Marmontels ersatzlos streicht und den Titelhelden in medias res gehen lässt. Gotter realisiert also genau das, was Schmid in seiner ErasteRezension diskutiert hatte, nämlich die Transformation von Dialog in eine Mu83 Gotter

orientierte sich viel weniger an bereits existenten Übersetzungen des Originals als andere Singspiel-Adaptationen.



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siknummer. Während Marmontel seinen Protagonisten erst nach und nach in den Zustand erhöhter Emotionalität führt, konfrontiert Gotter den Zuschauer sofort mit der hochgespannten Gefühlslage Walders. Anders als bei Marmontel wird damit der dramatische Konflikt nicht im gesprochenen Dialog exponiert, sondern mittels Musik. Gefaßt, gefaßt ist der Entschluß! Ich muß von hier, ich muß, ich muß! Ich, meines Vaters Zorn ertragen! Ich, vor sein Angesicht mich wagen! Das kann ich nicht! Du, welchen meine Blicke scheuen, Ach, dann wirst du mir doch verzeihen, Wann einst der Tod, nach trüben Tagen, Das Herz mir bricht.

Am Anfang der Oper steht damit nicht Konversation, sondern ein monologisches Bekenntnis sowie die damit verbundenen Gefühle des Titelhelden. Wie Forkel in seiner enthusiastischen Besprechung von Bendas Walder84 dargelegte, ist es vor allem die in dieser Arie zu beobachtende „Gradation, wo gleichsam stuffenweise von einem schwächern Satze zu einem stärkern fortgeschritten wird, und also der Ausdruck einer Empfindung steigt und zunimmt“.85 War diese Musiknummer bei Grétry ohne Vorbild und somit die gesamte Exposition von Gotter und Benda eine originäre Annäherung an das Drama, so zeigt sich eine solche genuine Adaptation auch in der großen Monologszene der Sophie im Zentrum der Oper. Wie im französischen Original ist diese Szene, in der Sophie allein ist und auf den Vater des Geliebten wartet, auch hier als Rezitativ und Arie gestaltet. Die Szene war von Marmontel indes noch in der traditionellen zweiteiligen Anlage récitatif et air disponiert worden. In Grétrys Nummer gibt es kein wiederkehrendes musikalisches Material, sondern das Rezitativ und die nachfolgende (zweiteilige) Arie bilden zwei in sich geschlossene Einheiten. Trotz dieser konventionellen Anlage wird hier ein wesentliches Moment der Dialogoper gewahrt, nämlich die aufsteigende Dynamik innerhalb der Figurenrede, zum einen vom Sprechen zum Singen (Dialog-Rezitativ) und zum anderen innerhalb des Gesangs (Andante-Allegro). Dennoch gehen Gotter und Benda einen entscheidenden Schritt über die Vorlage hinaus, indem sie Sophies Gesang zwischen Rezitativ und Arie oszillieren lassen und somit im Grunde nicht zu einer einheitlichen musikalischen ‚Fassung‘ gelangen, was die emotionale Situation der Bühnenfigur treffend versinnbildlicht. Bauman hat die Nummer als 5-teilig beschrieben,86 bei der sich 84 Johann

Nicolaus Forkel, Musikalisch-Kritische Bibliothek, Bd. 2, Gotha 1778, ND Hildesheim 1964, 230 – 274. 85 Ebd., 237. 86 Vgl. Bauman, North German Opera (wie Anm. 9), 119 f. (s. dort auch das Musikbeispiel).

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Rezitativ- und „Arioso“-Teile abwechseln, wobei das letzte Arioso den ersten Arioso-Abschnitt wiederaufnimmt. Die Formteile der Arie, die Bauman mit „Arioso“ bezeichnet, stehen stilistisch indes nicht zwischen Rezitativ und Arie, sondern sind durchaus als in sich konsistente Abschnitte zu interpretieren. Vor allem der langsamere, mittlere Abschnitt in c-Moll, der längere Koloraturenketten einschließt, kann kaum noch als „arios“ klassifiziert werden. Gleichwohl ist Bauman natürlich dahingehend zuzustimmen, dass es sich hier – zumal für die 1770er Jahre – um eine ungewöhnliche Formdisposition handelt. Text

Musik T. 1 – 12: instrumentales Vorspiel

I

11 Zeilen reimlos

T. 13 – 36: Recit. „So wird er kommen?“

II

4 Verse gereimt (a b c b)

T. 37 – 62: Allegro moderato „Ja, mein Vater“ (Es-Dur)

III 4 Zeilen reimlos

T. 63 – 68: Recit. „Die Kinder, die du siehst“

IV 8 Verse gereimt cdcd

T. 69 – 121: Un poco lento (c-Moll) „Einsam“

abcb

T. 122 – 151: Tempo primo „Ja, mein Vater” (Es-Dur)

Diese Struktur war im Textbuch präfiguriert, insbesondere die Wiederkehr des ersten Teils. Obgleich Gotter die Formteile Rezitativ und Arie nicht entsprechend indiziert hatte, war durch die Abfolge von reimlosen Versen und versifiziert-reimenden Abschnitten die musikalische Struktur im Text angelegt. Schon Forkel befand die Disposition von Sophies Monolog für so außergewöhnlich, dass er, „um die Einrichtung der Composition […] besser übersehen und beurtheilen zu können“, den ganzen Text der Nummer mitteilte.87 Allerdings nimmt Forkel bei seiner Textwiedergabe eine eindeutige Unterteilung in „Recitativ“ und „Arie“ vor, wobei er das Rezitativ als „mit Arien untermischt“ interpretiert. Forkel sieht die Priorität des musikalischen Ausdrucks in diesem Monolog also dem Rezitativischen inhärent und weniger der Arie.88 Nicht nur fand Benda zu einer originären Vertonung dieses Monologs, die den Vergleich mit Grétrys Oper nicht zu scheuen brauchte, sondern bereits Gotter hatte die Zweiteiligkeit der französischen Vorlage entscheidend modifiziert, indem er im Hinblick auf die poetische Faktur des Rezitativs von der gereimten Form der Vorlage abrückte. Sein Text steht – vor allem in Hinsicht auf die gesteigerte Emphase – dem Melodram nahe. 87 Vgl.

Forkel, Musikalisch-Kritische Bibliothek (wie Anm. 84), 263. so ist sein Erstaunen darüber zu erklären, dass auch die Arie „so sprechend und ausdrucksvoll“ ist, dass sie die „Wirkung“ des Rezitativs hier zu übertreffen scheint; vgl. ebd., 264. 88 Nur



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So wird er kommen! – und ich soll ihn hier Erwarten? – ich allein! – ach! Unglückselige! Wie wird es dir ergehen? Zitternd, stumm, Betäubt, werd ich zu seinen Füßen sinken. Er kömmt! – ich höre schon Die Stimme der beleidigten Natur: Das ist sie! räche dich! Das ist sie, die dir deinen Sohn entführte, Den besten Jüngling zum Empörer umschuf! Das ist die Feindin deiner Ruh, Die Quelle deines Grams!

Obwohl sich Gotter über weite Strecken an Marmontel orientierte, fand er an nicht wenigen Stellen zu einer überzeugenderen Lösung als der Franzose, insbesondere was das Zusammenspiel von Sprechdialog und Musik anbelangt. An zwei Stellen wich Gotter stärker von Marmontel ab: zum einen wie erwähnt in der Eröffnungsszene und zum anderen am Ende der Oper. Dem Librettodruck wurde 1778 eine zweite, alternative Schlusslösung („Anhang zum Gebrauch einiger Theater“) beigegeben. Bauman vermutet, dass Benda diese Arie speziell für seine Schülerin Sophia Elisabetha Preysing nachkomponierte, die die Rolle in Weimar von ihrer Vorgängerin Franziska Koch übernommen hatte,89 insofern wäre der Passus „zum Gebrauch einiger Theater“ dahingehend zu interpretieren, dass die Arie dort zur Aufführung gelangen sollte, wo eine entsprechend habile Sängerin zur Verfügung stand. Indes ist neben dieser aufführungspraktischen Variante auch eine dramaturgische Lesart möglich. Die angehängte Szene sollte dem Schlussquartett folgen, in welchem sich der jüngere Dolmon gänzlich unversöhnlich gezeigt hatte. Mit einem allgemeinen Schlussgesang wie bei Grétry konnte diese demonstrative Unversöhnlichkeit – eine gleichermaßen außergewöhnliche wie effektvolle theatralische Lösung90 – kaum kompensiert werden. Insofern ist es verständlich, dass diese emotionale Erschütterung noch ihren Widerhall finden sollte, und zwar in der Figur der Sophie. In der alternativen Schlussszene sehen wir Sophie, die sich „noch nicht erholen“ kann von dem gerade Geschehenen. Sie bleibt allein auf der Bühne zurück und bringt ihre Gefühle in einer großen Arie zum Ausdruck, die musikalisch, vor allem aber textlich alle Ingredienzien einer Seria-Arie besitzt („Wer dem Schiffbruch nahe war / Schwanket noch auf festem Lande“). Obwohl Gotter damit die familiäre Erschütterung treffend charakterisiert und somit einem ungetrübten lieto fine entgegenarbeitet, befremdet dieser solistische Ausklang. Der Text dieser Gleichnisarie ist der Situation angemessen, die virtuose Stilhaltung der Musik weitaus weniger. Bei der ausladenden Koloraturarie handelt es sich um das virtuoseste Stück von Bendas Partitur, 89 Bauman, 90 Ebd.

North German Opera (wie Anm. 9), 123.

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was die Platzierung dieser Nummer am Ende der Oper nicht unproblematisch macht. In textlicher Hinsicht nimmt die Arie eine merkwürdige Zwitterstellung ein, indem sie das vaudevillehafte Resümee von Marmontels Schlussgesang mit einer klassischen Seria-Topik zu synthetisieren sucht. War diese Verbindung ein typisches Phänomen der deutschen Singspiel-Librettistik, so darf demgegenüber die musikdramatische Erscheinungsform dieser Nummer gleichwohl als singulär bezeichnet werden. Wie Bauman an mehreren Musiknummern dargelegt hat, ist Bendas Partitur reich an originären musikalischen Ideen, zum Beispiel Sophies Arie „Selbst die glücklichste der Ehen“, die Bauman als frühestes Beispiel für eine Rondoarie im norddeutschen Singspiel reklamiert hat.91 Bendas musikalische Realisierungen von Gotters Textvorlage bestechen vor allem durch ihre Fokussierung auf die jeweilige Bühnenfigur. Die Musik ist fast immer situationsgebunden und selbst die wenigen Nummern, die noch sentenzhafte Rudimente enthalten, sind soweit individualisiert, dass sie mit dem Liedtypus des älteren Singspiels kaum mehr kommensurabel sind. Mit Gotters Walder war gleichsam der Idealfall für ein Singspiel-Libretto gegeben, das „lauter edle, rührende und interessante Situationen enthält, wodurch nicht nur der Hauptzweck theatralischer Vorstellungen am besten erreicht, sondern auch insbesondere der Musik Gelegenheit gegeben wird, am kräftigsten zu wirken, und in einer Würde zu erscheinen, die man ihr durchaus nicht benehmen muss, wenn man will, dass sie den nützlichen Einfluss beweisen soll, welchen man von ihr zu erwarten berechtigt ist“.92 In Gotters „ernsthafter Operette“ sah Forkel zu Recht eine neuartige Qualität im Singspiel, mehr noch: ein neues Genre innerhalb der Gattung vorliegen. Walder bewies in mehrfacher Hinsicht, dass die Anverwandlung einer französischen Opéra comique weder zu einer librettistisch problematischen Adaptation noch zu einer musikalischen Imitation führen musste. Mit dieser Oper hatten Gotter und Benda die Gattung Singspiel in der Tat auf ein neues Gleis gesetzt, indem sie nicht zuletzt Einflüsse aus der deutschen Hemisphäre, wie beispielsweise die Diktion des Melodrams oder andere Momente des Sturm und Drang, wirksam werden ließen. Die Oper von 1776 war insofern stilbildend, als sie ein Exempel für eine rundum gelungene Adaptation darstellte. Gleichwohl lässt sich mit dem Erfolg von Walder nicht das Abbrechen der GrétryRezeption im Hinblick auf die Adaptation von dessen Werken erklären. Hier ist der zunehmende musikalische Einfluss aus der süddeutschen Hemisphäre mit 91 Vgl.

ebd., 121. Bei Grétry ist es kein Rondo, jedoch dürfte Benda durch das Rondo des Basile (No. 6 in Silvain) angeregt worden sei, die hier wohl als direktes Vorbild fungiert haben dürfte. Vgl. hierzu auch die Diskussion weiter oben in diesem Beitrag im Zusammenhang mit Schweitzers Einlagearien. 92 Forkel, Musikalisch-Kritische Bibliothek (wie Anm. 84), 233.



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zu veranschlagen. Goethes berühmtes Diktum, dass Mozarts Entführung aus dem Serail nach 1782 alles niederschlug,93 lässt sich in gewisser Weise auch auf die künstlerische Rezeption der Opéra comique applizieren, die in den 1780er Jahren im Singspiel immer mehr versiegt. Obgleich die Opéra comique für das europäische Musiktheater bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ein bedeutsames stoffgeschichtliches Reservoir blieb, so hatte sie doch in Deutschland ihre ehedem wichtige Funktion als Wegbereiter für die Akzeptanz einer deutschsprachigen Oper weitgehend eingebüßt. Spätestens nach der Konnotierung der Gattung Singspiel als einem genuin ‚deutschen‘ Genre, die mit der Etablierung der Nationaltheater zusammenfällt, wurde die Notwendigkeit, Grétry in Ermangelung einheimischer Opernkomponisten von Rang als einen „deutschen Tonsetzer“ ansehen zu müssen, obsolet. Quellenverzeichnis Le tableau parlant (comédie-parade, 1 Akt, Louis Anseaume, Paris 1769) Carl David Stegmann: Das redende Gemählde Komische Oper, 2 Akte Textdichter unbekannt Königsberg 1775 Textbuch: Arien und Gesänge, s.l. [1776] Klavierauszug: Mitau und Hasenboth: Jacob Friedrich Hinz 1775 access.bl.uk/item/viewer/ark:/81055/vdc_100047164372.0x000001#? c=0&m=0&s=0&cv=0&xywh=-176%2C-994%2C3517%2C4401 Silvain (comédie mêlée d’ariettes, 1 Akt, Jean-François Marmontel, Paris 1770) Georg Benda: Walder Operette; Ländliches Schauspiel mit Gesang; Ernsthafte Operette; Singspiel, 1 Akt Gotha, Schlosstheater 23. Februar 1776 Text: Johann Friedrich Wilhelm Gotter Textbuch: s.l. [Gotha] 1776; Gotha 1778; Bamberg s.a. Klavierauszug: Gotha: Ettinger 1777 access.bl.uk/item/viewer/ark:/81055/vdc_100049638344.0x000001#? c=0&m=0&s=0&cv=0&xywh=-214%2C-1037%2C4280%2C5354

93 Vgl.

437.

Johann Wolfgang von Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 11, München 152002,

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Les deux avares (opéra bouffon, 2 Akte, Charles-Georges Fenouillot de Falbaire, Fontainebleau, Paris 1770) Gotthilf von Baumgarten: Das Grab des Mufti oder Die beyden Geizigen Komische Oper, 2 Akte Breslau, Wäser’sche Gesellschaft 1776 Text: August Gottlieb Meißner: Das Grab des Mufti oder Die zwey Geizigen Textbuch: Leipzig: Dyck 1776; auch in: Meißner, Operetten, Leipzig: Dyck 1778 Klavierauszug: Breslau: J. E. Meyer 1778 access.bl.uk/item/viewer/ark:/81055/vdc_100046867658.0x000001#? c=0&m=0&s=0&cv=0&xywh=-176%2C-1015%2C3512%2C4394 Johann Adam Hiller: Das Grab des Mufti Komische Oper, 2 Akte Leipzig, Theater am Ranstädter Tor, 17. Januar 1779 Text, Textbuch: Meißner, s. o. Partitur: Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung, Signatur Mus. ms. 10640 (ohne Ouvertüre) Klavierauszug: Leipzig: Dyck 1779 access.bl.uk/item/viewer/ark:/81055/vdc_100045933585.0x000001#? c=0&m=0&s=0&cv=0&xywh=-170%2C-897%2C3395%2C4248 Zémire et Azor (comédie-ballet, 4 Akte, Marmontel, Fontainebleau 1771) Gotthilf von Baumgarten: Zemire und Azor Romantisch-komische Oper, 4 Akte Breslau, Wäser’sche Gesellschaft, 18. Mai 1776 Text: Karl Emil Schubert (Musiknummern) und G. von Baumgarten (Dialoge) Textbuch: Breslau: J. Fr. Korn d. Ä. 1775; Breslau, Leipzig: Gutsch 1779 Klavierauszug: Breslau: J. Fr. Korn d. Ä. 1775, hg. von E. W. Wolf; 2. Aufl. ebd. 1781 access.bl.uk/item/viewer/ark:/81055/vdc_100046866631.0x000001#? c=0&m=0&s=0&cv=6&xywh=-1%2C-2779%2C6352%2C7946 Christian Gottlieb Neefe: Zemire und Azor Komische Oper, 4 Akte Leipzig, Koberwein’sche Gesellschaft, 5. März 1776 Text: Moritz August von Thümmel Textbuch: Frankfurt am Main, Leipzig 1776 Musik (bis auf eine Arie) verloren; übernommen in: Was vermag ein Mädchen nicht! Text: Gustav Friedrich Wilhelm Großmann Textbuch: Braunschweig: Schulbuchhandlung 1789



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Für die Entwicklung des deutschen Singspiels spielte die Rezeption der französischen Opéra comique eine bedeutende Rolle, sowohl in librettistischer wie musikalischer Hinsicht. Unzweifelhaft fanden dabei die Opern von André-Ernest-Modeste Grétry in Deutschland den größten Widerhall. Wie auch die Opéras comiques von Monsigny und Philidor wurden die Werke zunächst in Übersetzungen gespielt unter Wahrung der originalen Musik. Gleichzeitig bedienten sich die deutschen Textdichter aber auch französischer Libretti, um neue Stücke für das Singspiel zu generieren, meist aus un­ terschiedlichen Quellen. Eine besondere Art der Adaptation französischer Opéras co­ miques bestand in Neuvertonungen ganzer Opern, hier insbesondere von Werken Gré­ trys. Sechs solcher Singspiel-Adaptationen – basierend auf Le tableau parlant, Les deux avares, Zémire et Azor und Silvain – werden aus librettistischer und musikalischer Perspektive betrachtet. Sie alle hatten sich mit dem jeweiligen Original auseinander­ zusetzen, mit mehr oder weniger großem Erfolg. Besondere Bedeutung kommt hier der Oper Walder (1776) von Friedrich Wilhelm Gotter und Georg Benda zu, die auf Grétrys Silvain basiert. Aufgrund seiner spezifischen poetischen und musikalischen Qualitäten kann dieses Werk als eine überzeugende Neuvertonung einer existenten Opéra comique angesehen werden. The reception of French opéra comique played a pivotal role in the development of the German Singspiel, both librettistically and musically. Undoubtedly, the operas of An­ dré-Ernest-Modeste Grétry were among the works that attracted the most attention and found the strongest resonance in German-speaking countries of the 18th century. Like the operas of Monsigny and Philidor, these works were initially staged in translations with the original music. However, German playwrights had already begun to create new Singspiele by simply lifting individual numbers from different French libretti. Composing complete new musical settings for existing opéras comiques was another re­ markable way to make use of French models, especially those by Grétry. In this article, the dramaturgy and music of six singspiel adaptations, which are based on Grétry’s Le tableau parlant, Les deux avares, Zémire et Azor, and Silvain, are investigated. All six adaptations explore the respective original works – with varying degrees of success. A noteworthy example is Walder (1776) by Friedrich Wilhelm Gotter and Georg Benda, a work that is based on Grétry’s Silvain. Due to its poetic and musical qualities, Walder can be considered a convincing adaptation of the original opéra comique. Prof. Dr. Thomas Betzwieser, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Institut für Musikwissenschaft, Rostocker Straße 2, D-60323 Frankfurt am Main, E-Mail: [email protected]

Katrin Dennerlein Rührung durch moralisches Fühlen in der europäischen Sattelzeit Das Erfolgsstück Zémire et Azor (1771) von Marmontel und Grétry

Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts macht in Europa Zémire et Azor, eine französische Opéra comique, Furore. Sie wird am 9. November 1771 vor dem französischen Hof in Fontainebleau uraufgeführt und hat ihre Erstaufführung an der Comédie-Italienne in Paris am 16. Dezember 1771.1 Es handelt sich um eine Ballettoper zu einem Libretto von Jean-François Marmontel, zu der AndréErnest-Modeste Grétry die Musik komponiert und für die Gaetano Vestris die Choreographie entwirft. Für das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts sind allein 271  Aufführungen in Paris nachgewiesen, alle einflussreichen europäischen Opernstätten geben das Werk und in den 1780er und 1790er Jahren wird es sogar in Amerika gespielt.2 Zémire et Azor ist zugleich auch auf den deutschsprachigen Bühnen das am häufigsten gespielte Werk von 1770 bis 1790, wie 1 David

Charlton, Grétry and the Growth of opéra comique, Cambridge u. a. 1986, 98. Das Libretto in derjenigen Fassung, in der es vor dem Hof in Fontainebleau gegeben wird, erscheint als letztes Werk in der Pariser Sammlung Recueil des Fêtes et Spectacles donnés devant Sa Majesté à Versailles, à Choisy, & à Fontainebleau, pendant l’année 1771 (s.l. 1771). Die Fassung der Uraufführung an der Pariser Comédie-Italienne erscheint eigenständig im Druck: Zémire et Azor, Comédie-Ballet, en Vers, et en quatre Actes; Mêlée de Chants & de Danses; Représentée devant Sa Majesté à Fontainebleau le 9 novembre 1771, & sur le Théâtre de la Comédie Italienne, le Lundi 16 Décembre suivant. Par M. Marmontel, de l’Académie Françoise. La Musique de M. Grétry, Paris 1771. Zu den Unterschieden zwischen diesen beiden Fassungen vgl. Charlton, 108. Die wichtigsten beiden Veränderungen im Kontext des vorliegenden Beitrages sind die folgenden: In der zweiten Szene des ersten Aktes kommt Azors Aussage hinzu, dass Sander für den Diebstahl der Rose sterben müsse, sowie Sanders Sorge um das Wohl seiner Töchter. Sander wird auf diese Weise mehr mit Vaterliebe assoziiert, Azor erscheint durch mangelnde Affektkontrolle bedrohlicher. Am Ende des Librettos wird zudem Sander in seiner Rolle als Vater gestärkt und Azor noch einmal als bescheiden und respektvoll charakterisiert, wenn er bei Sander um Zemires Hand anhält. 2 Charlton, Grétry and the Growth of opéra comique (wie Anm. 1), 108; vgl. Thomas Betzwieser, Opéra comique als italienische Hofoper: Grétrys „Zemira e Azor“ in der Fassung von Verazi (1775), in: Ludwig Finscher, Bärbel Pelker, Rüdiger Thomsen-Fürst (Hg.), Mannheim – Ein „Paradies der Tonkünstler“? Kongreßbericht Mannheim 1999, Frankfurt am Main 2002 (Quellen und Studien zur Geschichte der Mannheimer Hofkapelle 8), 435 – 466, hier 436.

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Cristina Urchueguía jüngst empirisch belegt hat.3 Sie hat zudem gezeigt, dass es in diesem Zeitraum durchaus ausreichend dramatische Werke deutschsprachiger Autoren gegeben hätte, die auch gespielt wurden.4 Allerdings hatten diese signifikant weniger Bühnenerfolg als die fremdsprachigen. Was also hat dieses Werk so populär gemacht? Ein Grund für den großen Erfolg von Zémire et Azor ist die musikalische Gestaltung und die Tatsache, dass das Werk durch verschiedene wunderbare Elemente sehr bühnenwirksam und unterhaltend ist.5 Den Hauptanteil der Handlung, der dramaturgischen Wendungen und der verhandelten Themen machen jedoch moralische Dilemmata und starke Emotionen aus. Im Folgenden soll gezeigt werden, inwiefern die Emotionswechsel und die moralischen Aspekte in Zémire et Azor im Dienst der Rührung stehen. Der vorliegende Beitrag versteht sich somit auch als Baustein zu einer Geschichte der Rührung, einer wichtigen Kategorie der Sattelzeit.6 Als Sattelzeit bezeichnet man üblicherweise den Zeitraum von 1750 bis circa 1850. Der Begriff wurde bekanntlich vom Historiker Reinhart Koselleck in den 1970er Jahren geprägt und meint eine Übergangszeit zwischen Früher Neuzeit und Moderne.7 Das Bild des ‚Sattels‘ verweist dabei auf die Verbindung zwischen zwei Berggipfeln und 3 Vgl.

Cristina Urchueguía, Allerliebste Ungeheuer. Das deutsche komische Singspiel 1760 – 1790, Frankfurt am Main 2015 (Nexus 99), 267. Bis 1800 wird dieses Singspiel in seiner Popularität nur durch Mozarts Entführung aus dem Serail (1782) übertroffen. Vgl. Betzwieser, Opéra comique als italienische Hofoper (wie Anm. 2), 436. 4 Urchueguía, Allerliebste Ungeheuer (wie Anm. 3), 225 ff. 5 Charlton, Grétry and the Growth of opéra comique (wie Anm. 1); Philippe Vendrix (Hg.), L’opéra-comique en France au XVIIIe siècle, Lüttich 1992; Robert James Arnold, Grétry’s Operas and the French Public: From the Old Regime to the Restoration, Farnham, Burlington 2016. 6 Krämer hat die Bedeutung der Rührung als Konzept für die Rechtfertigung der Musik im Singspiel herausgearbeitet (vgl. Jörg Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert. Typologie, Dramaturgie und Anthropologie einer populären Gattung, Tübingen 1998, 634 – 673). Eine solche Geschichte der Rührung hätte anzuschließen an Horst Albert Glaser, Das bürgerliche Rührstück. Analekten zum Zusammenhang von Sentimentalität mit Autorität in der trivialen Dramatik Schröders, Ifflands, Kotzebues und anderer Autoren am Ende des achtzehnten Jahrhunderts, Stuttgart 1969 (freilich ohne die Rubrizierung als affirmative Kunst); Lothar Pikulik, Bürgerliches Trauerspiel und Empfindsamkeit, Köln, Wien 21981; Antje Arnold, Rhetorik der Empfindsamkeit. Unterhaltungskunst im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin 2012; Caroline Torra-Mattenklott, Metaphorologie der Rührung: ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert, München 2002; Klaus Garber, Ute Szell (Hg.), Das Projekt Empfindsamkeit und der Ursprung der Moderne. Richard Alewyns Sentimentalismus-Forschungen und ihr epochaler Kontext, München 2005; Manuela Günter, Im Vorhof der Kunst. Mediengeschichte der Literatur im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2008 (als Weiterführung im 19. Jahrhundert); Stefano Castelvecchi, Sentimental Opera. Questions of Genre in the Age of Bourgeois Drama, Cambridge 2013. 7 Reinhart Koselleck, Einleitung, in: ders., Otto Brunner, Werner Conze (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, XIII–XXVII; ders., Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit, in: ders., Reinhart Herzog (Hg.), Epochenschwelle, Epochenbewußtsein, München 1987 (Poetik und Hermeneutik 12), 269 – 282.



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soll einen allmählichen Übergang im Gegensatz zu einem plötzlichen Abbruch oder Anstieg bezeichnen. Koselleck geht davon aus, dass im Zeitraum von 1750 bis 1850 bestimmte gesellschaftliche Begriffe einen grundlegenden Bedeutungswandel durchgemacht haben (z. B. ‚Bürger‘, ‚Familie‘ und ‚Staat‘) beziehungsweise einige neue entstehen, die für die folgenden Jahrhunderte von prägender Bedeutung sind (z. B. ‚Imperialismus‘, ‚Klasse‘, ‚Kommunismus‘). Als Gründe für den Wandel gibt Koselleck gesellschaftlich-politische Umwälzungen an. Das Konzept der Sattelzeit wird in der germanistischen Literaturwissenschaft im Bereich des Dramas üblicherweise dazu verwendet, diejenigen Werke der Aufklärung, des Sturm und Drang und der Klassik semantisch zu kontextualisieren, die man auf moderne historisch-politische Konzepte wie ‚Staat‘, ‚Individuum‘ und ‚Bürger‘ beziehen kann.8 Daneben gibt es jedoch auch eine Linie der Untersuchung von Übergängen im anthropologischen Bereich.9 Dies soll hier fortgesetzt werden, indem der Blick auf bisher noch nicht in ihrem mentalitätsgeschichtlichen Einflus auf den deutschsprachigen Raum untersuchte Werke gelenkt wird: Zémire et Azor ist Teil einer von 1772 bis 1776 erscheinenden, äußerst einflussreichen Sammlung von ins Deutsche übersetzten Opéras comiques, deren Hauptziel Rührung beziehungsweise moralisches Empfinden ist.10 Krämer hat für die Linie des deutschsprachigen Musiktheaters rekonstruiert, inwiefern Affektdramaturgie und Diskursmuster der Empfindsamkeit diese Gattungen bestimmen und ist auch auf einige französische Vorbilder eingegangen.11 Eine genaue Untersuchung der wichtigsten deutschsprachigen Übersetzungen aus der Sammlung der Komischen Operetten in Bezug auf diese Aspekte ist jedoch ein Desiderat. Diese Werke stellen das Muster für eigene deutschsprachige Werke bereit, machen jedoch auch als Übersetzungen einen Großteil des Repertoires aus und sind damit ein Faktum der deutschsprachigen Dramen- und Theatergeschichte, das man berücksichtigen muss, wenn man etwas über Moral, Anthropologie und Emotionen, kurz gesagt über den normativ-affektiven Übergang zur Moderne aussagen möchte. Die drei grundlegenden Begriffe ‚Moral‘, ‚Gefühl‘ beziehungsweise ‚Emotion‘ und ‚Rührung‘ seien einleitend kurz in der relevanten historischen Bedeutung erläutert. 8 Feldman

hat ganz richtig hervorgehoben, dass Koselleck auf Brüche anstatt auf Kontinuitäten fokussiert, vgl. Karen S. Feldman, Arts of Connection. Poetry, History, Epochality, Berlin u. a. 2021, 153 – 169. 9 Wolfgang Riedel, Die anthropologische Wende. Schiller als Denker der ‚Sattelzeit‘, in: Teresa Rodrigues Cadete (Hg.), Schiller, cidadão do mundo, Lissabon 2007, 13 – 34; Wolfgang Riedel, Monument der Sattelzeit: Goethes „Faust“ und das moderne Wissen, in: ders., Um Schiller. Studien zur Literatur- und Ideengeschichte der Sattelzeit, hg. von Markus Hien, Michael Storch und Franziska Stürmer, Würzburg 2017, 431 – 4 41. 10 Sammlung der komischen Operetten so wie sie von der Churpfälzischen Deutschen Hofschauspielergesellschaft unter der Direction des Herrn Marchand aufgeführet wurden, Frankfurt am Main 1772[–1776] (6 Bde.). 11 Vgl. insbes. Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater (wie Anm. 6).

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Der Begriff ‚Moral‘ umfasst im 18. Jahrhundert ein sehr weites Bedeutungsspektrum, das im Französischen durch zwei verschiedene Wörter bezeichnet wird. Einerseits gibt es das maskuline Nomen le moral, das zur Bezeichnung von Sitte beziehungsweise Tugend, von Verboten und Geboten des Verhaltens verwendet wird.12 Andererseits das feminine Nomen la morale, dessen Bedeutungsspektrum von den geistigen, seelischen oder psychischen Tatsachen über ‚Vermögen‘, ‚Neigungen‘ bis hin zu ‚Tendenzen‘ reicht und mit ‚Seele‘, ‚Psyche‘, ‚Geist‘, ‚Mut‘ oder ‚Gemüt‘ umschrieben wird.13 Die Moral im zweiten Sinn ist mit der Empfindungsfähigkeit und den Emotionen aufs Engste verbunden. Die Idee, dass das Gefühl die eigentliche Grundlage der Tugend sein könnte, wird seit Anfang des 18. Jahrhunderts von Shaftesbury, Hutcheson und Hume bis Adam Smith vertreten. Die ‚natürliche‘ moralische Richtschnur des Menschen ist ihnen zufolge nicht die Vernunft, sondern das ‚Gefühl‘ (sentiment) – eine angeborene Fähigkeit, gleichsam eine Synthese aus Sinn und Empfindung. Ein gesunder Mensch soll ein ideales Gleichgewicht zwischen Vernunft und Gefühl aufweisen und einen ‚moralischen Sinn‘ haben, der den physischen Sinnen entspricht und als angeborener nicht weniger natürlich ist als diese.14 Nicht immer wird in der deutschen Debatte der Begriff ‚Gefühl‘ verwendet und auch in anderen europäischen Sprachen gibt es zahlreiche ähnliche Begriffe.15 Das englische Adjektiv ‚sentimental‘, das zwischen den 1740er und 1760er Jahren gebräuchlich wird, setzt sich schneller durch als die ihm nachempfundenen Adjektive im Französischen und Italienischen, die ab 1769 beziehungsweise 1790 belegt sind; die Substantive sentiment und sentimento haben jedoch in allen drei Sprachen eine viel längere Geschichte.16 Der Terminus ‚Affekt‘ (oder affec­ tus, affectio, ‚Gemütsbewegung‘) bezeichnet starke und schnelle Veränderungen von Empfindungszuständen, die häufig mit der Vorstellung ihrer Auswirkungen 12 Horst

Gundlach, Das Wort ‚moralisch‘ als Diener zweier Herren, nicht nur bei Schiller und der Schaubühne, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 69 (2019), 265 – 279, hier 267 f. 13 Vgl. ebd. 14 Vgl. R. F. Brissendsen, Virtue in Distress. Studies in the Novel of Sentiment from Richardson to Sade, London 1974, 42 f. 15 In Deutschland wird der Begriff ‚Gefühl‘ beispielsweise seit dem Ende des 17. Jahrhunderts vereinzelt verwendet, im 18. Jahrhundert in seiner Bedeutung diskutiert und erst um 1800 als Begriff für emotionale Zustände im Allgemeinen verwendet (vgl. Otto Ewert, Gefühl, in: Jochim Ritter u. a. [Hg.], Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Darmstadt 1974, 82 – 96; Beate Kellner, Affektenlehre, in: Klaus Weimar u. a. [Hg.], Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin, New York 2007, 23 – 25, hier 23). 16 Vgl. Erik Erämetsä, A Study of the Word ‚Sentimental‘ and of Other Linguistic Characteristics of Eighteenth-Century Sentimentalism in England, Helsinki 1951 (Annales Academiae Scientiarum Fennicae, series B, 74/1); Philip Stewart, L’invention du sentiment. Roman et économie affective au XVIIIe siècle, Oxford 2010 (Oxford University Studies in the Enlightenment 2010:02), 191 f. sowie „Sentimentale“, in: Tullio De Mauro (Hg.), Grande dizionario italiano dell’uso, Bd. 5, Turin 2000, 1124.



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verbunden sind.17 Abgelöst wird er vom Begriff der ‚Leidenschaften‘, der stärkere und subjektivere Empfindungen bezeichnet.18 Im Folgenden soll als Oberbegriff für solche Zustände der metasprachliche Begriff ‚Emotion‘ verwendet werden. Im Anschluss an Monika Schwarz-Friesel werden unter Emotionen intern repräsentierte und subjektiv erlebte Syndromkategorien verstanden, die vom Einzelnen sowohl mental als auch physisch wahrgenommen werden und die sich auf verschiedene Weise sprachlich und körperlich äußern können.19 Mit ‚Rührung‘ ist Adelung zufolge „die Wirkung des Rührens [gemeint], d. i. eine jede sanfte Empfindung, besonders so fern sie von außen veranlasset wird.“20 Im Grimm’schen Wörterbuch wird sie im Sinne einer „sanften, weichen bewegung der seele, der erregten theilnahme, wehmuth, liebe“ verstanden.21 In der folgenden Analyse von Zémire et Azor soll gezeigt werden, wie der Text Rührung sprachlich, dramaturgisch und musikalisch als Wirkung von moralischem Fühlen propagiert. I. Zémire et Azor wurde in die französische, aber auch in die internationale Gattungsgeschichte des Musiktheaters eingeordnet. Man hat vorwiegend die Errungenschaften und Erfolge Grétrys beschrieben und von dort aus auch punktuell die Gestaltung des Librettos in den Blick genommen.22 In der Geschichte des deutschsprachigen Dramas wurde das Werk jedoch bisher nicht berücksichtigt, obwohl hier durchaus auch Singspiele erforscht worden sind. Die Arbeiten zum Singspiel fokussieren jedoch auf die Entwicklung des deutschsprachigen Singspiels.23 17

Vgl Reinhold Grimm, Affekt, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1, Stuttgart 2000, 16 – 49, hier 29. 18 Vgl. Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater (wie Anm. 6), 701. 19 Monika Schwarz-Friesel, Sprache und Emotion, Tübingen 2007. 20 Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen, Wien 1811, Bd. 3 (M‒Scr), 1209 f. 21 „Rührung“, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hg.), DWDS. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, , abgerufen am 07. 02. 2022. 22 Charlton, Grétry and the Growth of opéra comique (wie Anm. 1); Ronald Lessens, André-Ernest-Modeste Grétry ou Le triomphe de l’Opéra-Comique (1741 – 1813), Paris 2007; Janet Kristen Leavens, Figures of Sympathy in Eighteenth-century Opéra comique, Diss. University of Iowa 2010, ; Arnold, Grétry’s Operas and the French Public (wie Anm. 5); vgl. Thomas Betzwiesers Beitrag im vorliegenden Heft. 23 Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater (wie Anm. 6); Adrian Kuhl, „Allersorgfältigste Ueberlegung“. Nord- und mitteldeutsche Singspiele in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Beeskow 2015 (Ortus-Studien 17); Urchueguía, Allerliebste Ungeheuer (wie Anm. 3).

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Der Inhalt von Zémire et Azor sei kurz skizziert.24 Die Handlung spielt in Persien, der Schauplatz wechselt aktweise zwischen einem Feenpalast und einem einfachen Landhaus an der Straße von Hormus.25 Zu Beginn kommt der Kaufmann Sander mit seinem Diener Ali beim prächtigen Feenpalast vorbei. Er hat im Hafen soeben erfahren, dass auch seine letzte Schiffsladung verloren gegangen ist. Damit hat er keine Möglichkeit mehr, für seine drei Töchter ein Auskommen zu finden. In dem offenbar verlassenen Palast ruht er sich gerne aus. Er isst zusammen mit seinem Diener Ali von einem mit Wein und köstlichen Speisen gedeckten Tisch. Gestärkt will er nach Hause aufbrechen, pflückt jedoch zuvor noch eine Rose für seine Tochter Zémire, die er ihr als Mitbringsel versprochen hatte. In diesem Moment taucht Azor in schrecklicher Gestalt auf und will Sander für diesen Diebstahl mit dem Tod bestrafen. Nachdem Sander von der besonderen Tugend und Tochterliebe Zémires geschwärmt hat, schlägt Azor einen Handel vor: Eine seiner Töchter muss an Sanders Stelle zu Azor ins Schloss kommen. Daraufhin fliegen Sander und Ali auf Azors verzauberter Wolke nach Hause. Zurück in seinem einfachen Landhaus an der Straße von Homus überbringt Sander seinen Töchtern die Nachricht von seinem finanziellen Ruin. Zémire tröstet ihn mit dem Versprechen, sich auch mit Wenigem zu begnügen, während die anderen beiden ihr Unglück beweinen. Sander bedauert Zémire und gibt ihr die Rose. Von Azor und seinem Handel erzählt er zunächst nichts. Zémire hat allerdings aufgrund der gedrückten Stimmung des Vaters bereits Verdacht geschöpft und Ali in der Zwischenzeit dazu gebracht, ihr alles zu berichten. Sie entschließt sich, sich für ihren Vater zu opfern und bricht zum Palast von Azor auf. Währenddessen erfahren wir in einem Monolog Azors von dessen Schicksal. Eine Fee hat ihm einst als Strafe für seine übertriebene Eitelkeit eine hässliche Gestalt gegeben. Von dieser kann er nur dann erlöst werden, wenn jemand seine Liebe trotz seines abstoßenden Äußeren erwidert. Zémire wird dann bei seinem ersten Anblick zwar zunächst ohnmächtig, Azors Großzügigkeit und Kultiviertheit überzeugen sie jedoch schnell. Azor kommt auch ihrer Bitte nach, ihre Familie noch einmal zu sehen, indem er den Vater und die beiden Schwestern in einem großen verzauberten Spiegel erscheinen lässt. Zu Hause beziehungsweise auf einer zweiten Bühne singen die Drei dann ein Trio, in dem die Schwestern beteuern, dem Vater Zémire durch Liebe und Fürsorge ersetzen zu wollen. Sie äußern jedoch auch den Wunsch, Zémire möge zurückkehren. Sobald sich Zémire bei Azor verbotenerweise auf das Bild zubewegt, verschwindet es. Zémire kann nun allerdings erreichen, dass sie noch einmal 24 Eine

Inhaltsangabe aus musikwissenschaftlicher Sicht, die die Musiknummern mit anführt, findet sich bei Charlton, Grétry and the Growth of opéra comique (wie Anm. 1), 98 f. 25 Zémire et Azor ist das einzige Libretto Marmontels, in dem nicht alle drei Einheiten gewahrt sind.



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für einen Tag nach Hause reisen darf, um ihrem Vater mitzuteilen, dass es ihr gut geht, ihr Leben nicht bedroht ist und dass Azor auch für das Auskommen ihrer Familie sorgen werde. Azor droht ihr jedoch damit, dass er sterben werde, sollte sie nicht zurück sein, bevor die Sonne vollständig untergegangen ist. Er gibt ihr einen Ring, der seine Macht über Zémire einschränkt, sodass sie gehen kann. Um zurückzukehren, soll sie den Ring einfach vom Finger ziehen. Zu Besuch bei ihrer Familie versucht Zémire, dieser die Furcht zu nehmen, erzählt von Spiegel und Ring, davon, wie angenehm sie es im Palast hat und wie groß ihr Mitleid mit Azor ist. Sander fleht sie an, den Ring am Finger zu lassen und nicht zu Azor zurückzukehren. Zémire aber entscheidet sich dafür, ihn zu retten, streift den Ring vom Finger und wird dadurch wieder in Azors Welt versetzt. Da die Sonne dort schon untergeht, hat Azor sich bereits zum Sterben hingelegt. Zémire sucht Azor und wird sich in einem Monolog darüber klar, dass sie ihn liebt. Sobald sie dies ausgesprochen hat, verwandelt sich der Schauplatz in einen prächtigen Palast und Azor erscheint als wunderschöner Prinz. Zémire soll seine Königin werden und ihre Familie wird umgehend mit ihr vereint. Zémire et Azor ist formal eine Opéra comique.26 Der Terminus ‚comique‘ in der Gattungsbezeichnung bezieht sich ausschließlich auf das Standeskriterium und soll signalisieren, dass nicht Adelige, sondern Bürgerliche die Protagonisten dieser Werke sind. Die Handlung enthält häufig keinerlei komische Elemente und ist durch eine Konzentration auf das Rührende und Gefühlsselige bestimmt. Die inhaltliche Ausrichtung dieser Libretti und ihre Dramaturgie gehen auf Diderots Konzeption des drame bourgeois zurück. In den beiden theoretischen Abhandlungen Entretiens sur le fils naturel (1757), einem Epilog des im Titel genannten Dramas, und De la poésie dramatique, die als Ergänzung zum Drama Le père de famille 1761 erscheint, spricht Diderot von einem neuen Genre, das 26 Im

Untertitel wird sie als „comédie mêlée d’ariettes“ bezeichnet, was auf die formale Gestaltung des Wechsels von gesprochenem Dialog mit Gesangseinlagen verweist. Eine solche Form gibt es in Paris bereits im Théâtre de la Foire, das seit 1715 in dieser Form die erfolgreichen ernsten Opern der Pariser Oper parodiert. Während in den sogenannten Comédies en Vaudevilles die Melodien beibehalten und nur der Text parodistisch verändert wird, ist die etwa zeitgleich zum ersten Mal auftretende Opéra comique ein eigenständiges Genre mit eigenem Text und eigener Musik. An Bedeutung gewinnt dieses Genre, als man in Paris versucht, dem Erfolg einer italienischen Operntruppe, die 1752 in die Stadt kommt, etwas Eigenes entgegenzusetzen. Rousseau schreibt und komponiert deshalb mit Le devin du village im gleichen Jahr die erste Oper, in der Rezitative und Gesangseinlagen einen französischen Text haben. In der Folge wird die Frage, ob sich das Französische für Opern eigne oder ob man Italienisch singen müsse, heftig diskutiert (sog. ‚Buffonistenstreit‘). Vgl. zum Aufstieg und Erfolg der Gattung Opéra comique Bruce Alan Brown, La diffusion et l’influence de l’opéra-comique en Europe au XVIIIe siècle, in: Vendrix (Hg.), L’opéra-comique en France au XVIIIe siècle (wie Anm. 5), 283 – 343; Corinne Pré, Les traductions d’opéras-comiques en langues occidentales, 1741 – 1815, in: Vendrix (Hg.), Grétry et l’Europe de l’opéra-comique (wie Anm. 5), 251 – 265; Karin Pendle, Opéra-Comique as Literature. The Spread of French Styles in Europe, ca. 1760 to the Revolution, ebd., 229 – 250.

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sich weder der Tragödie noch der Komödie zuordnen lasse. Er bezeichnet es zunächst als drame bourgeois, später nur noch als drame. Als Tragödie lässt es sich deshalb nicht fassen, weil es immer gut endet, selbst wenn die Konflikte zwischendurch sehr ernst sind, und weil die Figuren nicht von hohem Stand sind. Eine Komödie im eigentlichen Sinn ist es schon deshalb nicht, weil keine Dienerfiguren und keine Komik vorkommen.27 Diderot plädiert in Abgrenzung von der stark höfisch orientierten Dramatik in Frankreich für eine alltagsnähere Dramatik, die sich durch eine Handlung auszeichnet, die in der bürgerlichen Welt spielt, widersprüchliche Gefühle und innere, beziehungsweise bürgerliche Familienkonflikte thematisiert und in Prosa gehalten ist.28 Das drame zeichnet sich durch viel Pantomime und detaillierte Regieanweisungen aus. Es hat einen Helden oder eine Heldin, der oder die zumeist familiäre Pflichten hat. Er beziehungsweise sie widersteht erfolgreich bestimmten Versuchungen. Mit der Darstellung der erfolgreichen Tugendprobe ist ein starkes moralisches oder erzieherisches Ziel verknüpft.29 Jean-François Marmontel vertritt in Artikeln, die er zwischen 1753 und 1758 für die Encyclopédie von Diderot und d’Alembert verfasst und später in seiner Poétique françoise verarbeitet, Ansichten zum Drama, die denen von Diderot ähneln.30 Er versteht das drame zwar als Tragödie und ist jedoch der Meinung, dass eine Tragödie nicht zwingend Figuren von hohem Stand zeigen müsse. Er unterscheidet zwei Arten der Tragödie und stellt Könige und Helden dem einfachen Volk, die öffentliche Sphäre dem Privaten und Häuslichen, den Staat der Familie gegenüber. Beide Formen der Tragödie haben seiner Meinung nach ihre Berechtigung. Während eine Tragödie mit Figuren hohen Rangs eine politische Lektion effektiver vermitteln könne, seien moralische Botschaften mithilfe eines Personals, das der Mehrheit der Zuschauer:innen näherstehe, besser zu vermitteln.31 Marmontel fundiert sein Argument für die Gleichheit der beiden tragischen Gattungen in einer empfindsamen Grundhaltung: Un Roi dans le bonheur est pour nous un Roi; dans le malheur il est pour nous un homme, d’autant plus à plaindre qu’il étoit plus heureux, & que chacun de nous se mettant a sa place, sent tout le poids du coup qui l’a frappé. […] La même cause qui répand la desolation dans un état peut la répandre dans une famille: l’amour, la haine,

27 In

diesem Punkt weichen einige Werke, die Diderots Poetologie ansonsten folgen, ab und nehmen Komik auf. Diderots eigene Musterwerke für das drame bourgeois, Le fils naturel (UA 1757) und Le père de famille (UA 1761), haben auf der französischen Bühne zunächst keinen Erfolg. 28 Vgl. im Folgenden Alain Ménil, Diderot et le drame. Théâtre et politque, Paris 1995. 29 Vgl. auch Karin Pendle, The Opéras-Comiques of Grétry and Marmontel, in: The Musical Quarterly 62 (1976), 409 – 434, hier 412 f. 30 Jean-François Marmontel, Poétique françoise, 2 Bde., Paris 1763. 31 Ebd., Bd. 2, 143 – 150.



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l’ambition, la jalousie, & la vengeance, empoisonnent la source de la bonheur domestique comme celles du bonheur public.32

Laut Marmontel gibt es folglich Verhältnisse und Reaktionsweisen, die allen Menschen unabhängig von ihrer sozialen Stellung gemeinsam sind und die in einem Drama dementsprechend an Figuren jeden Standes gezeigt werden können: C’est faire injure au cœur humain & méconnoître la Nature, que de croire qu’elle ait besoin de titres pour nous émouvoir & nous attendrir. Les noms sacrés d’ami, de pere, d’amant d’époux, de fils, de mere, d’homme enfin: voilà les qualités pathétiques: leurs droits ne prescriront jamais.33

Er belegt dies mit einer Passage aus Edward Moores bürgerlichem Trauerspiel The Gamester (1753): Qu’importe quel est le rang, le nom, la naissance du malheureux, que sa complaisance pour d’indignes amis, & la séduction de l’exemple, ont engagé dans les piéges [sic!] du jeu, qui a ruiné sa fortune & son honneur, & qui gémit dans les prisons, dévoré de remords & de honte? Si vous demandez quel il est; je vous répons: Il fut homme de bien, & pour son supplice il est époux & pere, sa femme, qu’il aime & dont il est aimé, languit, réduite à l’extrême indigence, & ne peut donner que des larmes à ses enfans qui demandent du pain. Cherchez dans l’histoire des héros une situation plus touchante, plus morale, en un mot plus tragique; & au moment où ce malheureux s’empoisonne, au moment, où après s’être empoisonné il apprend que le ciel venoit à son secours; dans ce moment douloureux & terrible oú à l’horreur de mourir se joint le regret d’avoir pu vivre heureux; dites-moi ce qui manque à ce sujet pour être digne de la Tragédie?34 32

Ebd., Bd. 2, 145. „Ein König, der Glück hat, ist für uns ein König; im Unglück ist er für uns ein Mensch, der umso mehr zu bedauern ist, je glücklicher er war, und jeder von uns, der sich an seine Stelle setzt, fühlt das ganze Gewicht des Schlages, der ihn getroffen hat […]. Dieselbe Ursache, die in einem Staat Verzweiflung verbreitet, kann sie auch in einer Familie verbreiten: Liebe, Hass, Ehrgeiz, Eifersucht und Rache vergiften die Quelle des häuslichen Glücks ebenso wie die des öffentlichen Glücks“ (eigene Übersetzung). 33 Ebd., 147. „Es ist eine Beleidigung für das menschliche Herz und eine Verkennung der Natur, wenn man glaubt, dass sie Titel braucht, um uns zu rühren und zu erweichen. Die heiligen Namen Freund, Vater, Geliebter, Ehemann, Sohn, Mutter, ja Mensch – das sind die pathetischen Eigenschaften, deren Rechte niemals verjähren werden“ (eigene Übersetzung). 34 Ebd., 147 f. „Was zählt der Rang, der Name, die Herkunft des Unglücklichen, der durch seine Gefälligkeit gegenüber unwürdigen Freunden und durch die Verführung des Beispiels in die Falle des Glücksspiels gezogen wurde, der sein Vermögen und seine Ehre ruiniert hat und der im Gefängnis stöhnt, verzehrt von Reue und Schande? Wenn Ihr fragt, wer er ist, so antworte ich: Er war ein ehrlicher Mann, und zu seinem großen Leidwesen ist er Ehemann und Vater; seine Frau, die er liebt und von der er geliebt wird, schmachtet, ist in äußerste Armut gestürzt und kann ihren Kindern, die um Brot bitten, nur Tränen geben. Suchen Sie in der Geschichte der großen Helden nach einer Situation, die rührender, moralischer – mit einem Wort, tragischer ist. Wenn dieser Unglückliche sich vergiftet; wenn er, nachdem er sich vergiftet hat, erfährt, dass der Himmel ihm zu Hilfe kommen würde [Beverley wäre freigelassen worden]; und in dem Moment, in dem dieser Unglückliche sich vergiftet, in dem Moment, in dem er nach der Vergiftung erfährt, dass der Himmel ihm zu Hilfe gekommen ist; in diesem schmerzhaften und schreckli-

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Marmontel geht davon aus, dass der/die Zuschauer:in durch die Rührung über das Unglück eines an sich guten Menschen eine moralische Einsicht haben beziehungsweise fühlen kann.35 Familiäre Bindungen spielen dabei eine ganz besondere Rolle. In denjenigen Werken, die er zusammen mit Grétry gestaltet, thematisiert er insbesondere die Liebesheirat, die häufig in Kontrast zu familiären Interessen steht und stellt ausführlich die Segnungen des Familienlebens dar.36 Die Familien in Lucile, Silvain und Zémire et Azor sind besonders gute Beispiele für diejenige Art von Elternliebe und kindlicher Hingabe, die von den führenden Schriftstellern der Zeit gepriesen wird, und alle Ehen in Marmontels Opéras comiques basieren auf gegenseitiger Liebe. Zudem bekommen alle jungen Paare am Ende immer den Segen ihrer Eltern oder Vormunde. Das Libretto von Zémire et Azor basiert auf dem Märchen La Belle et la Bête von Jeanne-Marie Leprince Beaumont.37 Es handelt sich um ein moralisches, ja moralisierendes Märchen, in dem eine mit allen Tugenden ausgestattete Heldin gegen ihre eitlen und egoistischen Schwestern antritt.38 Marmontel hat die eifersüchtigen Schwestern, die im Original versuchen, Zémires Rückkehr zu verzögern, jedoch in freundliche und harmlose Familienmitglieder verwandelt. Die Familie erscheint dadurch als geschlossene Einheit, das Unglück (finanzieller Verlust) und das Böse (das Magische) sind gänzlich ins Außen verlagert. Charltons These, die Oper La fée Urgèle von Charles-Simon Favart und Egidio Duni (1765) habe zudem als Formgerüst gedient, ist plausibel.39 In dieser vierchen Moment, in dem sich mit dem Schrecken des Todes das Bedauern darüber verbindet, dass er glücklich leben konnte; sag mir, was diesem Stoff fehlt, um einer Tragödie würdig zu sein?“ (eigene Übersetzung). 35 Marmontel selbst setzt diese Konzeption wirkungsvoll in moralischen Erzählungen um. Die sogenannten Contes moraux, die Marmontels Ruhm in ganz Europa begründen, werden seit 1755 einzeln in der Zeitschrift Mercure de France veröffentlicht, 1761 erstmals in einer Sammelausgabe gedruckt und bis 1787 in alle europäischen Sprachen übersetzt. In seinen Contes wendet sich Marmontel über das Gefühl an den gesunden Menschenverstand seiner Leser:innen (vgl. Pendle, The Opéras-Comiques of Grétry and Marmontel [wie Anm. 29], 412). Wie Diderots Dramen zielen auch die Contes unter anderem darauf ab, die Menschen in moralischen Werten zu unterweisen. Inhaltlich ist die Nähe zum Drame so groß, dass jede Erzählung schnell und mindestens einmal dramatisiert wird (vgl. Clarence Dietz Brenner, Dramatizations of French Short Stories in the Eighteenth Century, in: University of California Publications in Modern Philology 30 [1947], 13 – 23). 36 Vgl. für das Folgende Pendle, The Opéras-Comiques of Grétry and Marmontel (wie Anm. 29), 417. 37 Diese Geschichte wird bereits zuvor von Mme de Villeneuve unter demselben Titel in der Sammlung La jeune américaine et les contes marins im Jahre 1740 veröffentlicht. Für die beiden Vorlagen vgl. ausführlich Patrick Taïeb, Judith Le Blanc, Merveilleux et réalisme dans Zémire et Azor. Un échange entre Diderot et Grétry, in: Dix-huitième siècle 43 (2011), 185 – 201, hier 187 f. 38 Vgl. ebd., 188. 39 Egidio Duni, Charles-Simon Favart, La fée Urgèle, ou Ce qui plaît aux dames. Comédie en quatre actes en vers […], Paris 1766. Hier ist das Setting umgekehrt: Der Protagonist muss – wie



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aktigen Opéra comique finden sich die gleiche Struktur der Schauplatzwechsel, wie sie auch in Zémire et Azor gestaltet ist, zudem die Einbindung von Tänzen und Chören und das Motiv einer magischen Transformation eines hässlichen Partners nach bestandener Tugendprobe.40 Als weitere Vorlage führt Charlton die Komödie Amour pour amour (1742) von Pierre-Claude Nivelle de La Chaussée an.41 Ihr liegt eine ähnliche Konstellation zu Grunde, weil hier ein verzauberter Genius erst dann von seiner Menschengestalt erlöst wird, als sich jemand in ihn verliebt. Der Genius darf jedoch selbst nicht von Liebe sprechen, sodass hier die Initiative der Heldin sehr im Vordergrund steht. Aus diesem Versdrama stammen die Wahl des Schauplatzes im Nahen Osten und die Namen der Protagonisten, Zémire und Azor.42 Eine Opéra comique ist zwar typischerweise nicht als Zauber- beziehungsweise Märchenoper gestaltet, weil in Anlehnung an Diderot die Realitäts- beziehungsweise Alltagsnähe besonders wichtig sind.43 Bereits in den französischen Feenmärchen entwickeln sich jedoch auch Formen, die die Darstellung von etwas Wunderbarem für die rationalitätsorientierten Zwecke der Aufklärung funktionalisieren. Die Zauberelemente ermöglichen es Marmontel, den tierhaften Azor in Absetzung von der Figur der Vorlage mit Intelligenz auszustatten und aus ihm einen Mann der Aufklärung zu machen, der vernünftig, das heißt moralisch fühlt.

später Papageno in Mozarts Zauberflöte – eine alte Frau heiraten, die sich dann in eine junge verwandelt. 40 Vgl. auch Charlton, Grétry and the Growth of opéra-comique (wie Anm. 1), 100; Lessens, André-Ernest-Modeste Grétry (wie Anm. 22), 90. 41 Pierre-Claude Nivelle de La Chaussée, Amour pour amour, comédie, Paris 1753. 42 Zur Rekonstruktion der Quellen vgl. bereits Charlton, Grétry and the Growth of opéra comique (wie Anm. 1), 101 f. 43 Vgl. Taïeb, Le Blanc, Merveilleux et réalisme dans Zémire et Azor (wie Anm. 37), 185. Die Tradition der Nutzung des Wunderbaren ist zwar ein struktureller Bestandteil der französischen Opernkunst, der sowohl mit der Tragédie lyrique, die wiederum auf die Maschinentragödien des 17. Jahrhunderts zurückgeht, als auch mit der allegorischen Ader, die in den Schauspielen reichlich genutzt wurde, verbunden ist. Sie ist jedoch keine Besonderheit der Opéra comique (vgl. ebd.). Opéras comiques enthalten normalerweise auch keine Ballette. Marmontel und Grétry bezeichnen ihre Oper deshalb als „comédie-ballet mêlée de chants et de danses“. Taïeb und Le Blanc verstehen die inhaltliche Gestaltung in Kombination mit moderner italienischer Musik als einzigartige Zwischenposition. Mit dem Ballett ordnen sich die Künstler der Tradition Rameaus zu, mit der Mischung aus Gesang und gesprochenem Wort, der Wahl der Schauspieler der Co­ médie italienne. Mit der Wahl eines moralischen Stoffes mit häuslicher Komponente, dem Ausdrucksstil in Anlehnung an die Encyclopédisten stellen sie sich Rameau jedoch entgegen. Für die Opéras comiques sind zudem eher Prosadialoge als Versdialoge kennzeichnend. Marmontel verwendet jedoch bereits für die Opéras comiques Silvain und Le tableau parlant Versdialoge. Taïeb und Le Blanc gehen davon aus, dass alle zuvor genannten Gestaltungsaspekte der Tatsache geschuldet sind, dass das Werk anlässlich der Verlobung von Marie-Antoinette mit dem Dauphin uraufgeführt wurde (vgl. ebd., 185 f.).

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Für die Umsetzung als empfindsames Musiktheaterwerk von durchschlagender Wirkung ist die Zusammenarbeit von Marmontel und Grétry entscheidend.44 Marmontel schreibt einerseits besonders gut vertonbare Gesangsnummern, die musikalisch bereits viel an Phrasierung vorgeben.45 Er versucht in der Regel, seine Musiknummern gleichmäßig über das Werk zu verteilen und die Stimmung, die Figur‍ (en) oder die Art des Musikstücks von einem Text zum nächsten zu variieren.46 Von 1768 bis 1775 erschafft Grétry mit Marmontel zehn Opern.47 In den frühen Werken komponiert er sehr kantabel und syllabisch. Tonwiederholungen, Dreiklänge und umgekehrte Punktierungen dienen dem Ausdruck von emotionaler Bewegtheit; Triolen und große Sprünge innerhalb eines weiten Tonumfangs verwendet er zum Ausdruck von Konflikten und negativen Gefühlen.48 Grétry verwendet die Begleitung aus der Verstärkung oder Verneinung der Gefühle des Textes sowohl durch die Klangfarbe des Orchesters als auch durch den musikalischen Inhalt. Er stellte Theorien über die emotionalen Konnotationen der verschiedenen Instrumente, Tonarten und Rhythmen auf.49 Das Orchester hat bei ihm zumeist nur begleitende Funktion, seltener wird es eingesetzt, um auf einen Wahrheitsgehalt des Textes hinzuweisen, wie in Alis „L’Orage va cesser“, in dem der instrumentale Sturm die optimistischen Worte Alis konterkariert.50 Grétry schreibt in den Mémoires und den Réflexions d’un solitaire ausführlich über seine Musikästhetik, mit der er eng an die Enzyklopädisten, insbesondere an Diderot, anschließt. Besonders in Zémire et Azor hat er nach eigenen Aussa44 Die

Frage, ob die Musik oder der Text wichtiger für die Wirkung auf die Zuschauer:innen gewesen sei, wird bereits von den ersten Rezipient:innen und Chronist:innen sowie von Marmontel und Grétry selbst in ihren Memoiren kontrovers diskutiert (vgl. Lessens, André-ErnestModeste Grétry [wie Anm. 22], 108 – 110). 45 Vgl. Pendle, The Opéras-Comiques of Grétry and Marmontel (wie Anm. 29), 422 ff. 46 Vgl. ebd., 412 und Scipion Lenel, Marmontel, d’après des documents nouveaux & inédits. Un homme de lettres au XVIIIe siècle, Paris 1902, ND Genf 1970, 425. Marmontel ist seit 1745 in Paris als Autor, Herausgeber, Enzyklopädist, Regierungsbeamter und Historiker tätig und ist Mitglied der Académie Française. Als Beiträger der Encyclopédie vertritt er viele der kulturpolitischen Anliegen der Philosophes. Als Grétry 1765 in Paris eintrifft, hat er bereits in allen literarischen Genres veröffentlicht und ist bekannt für seine Mémoires. Seine Karriere als Librettist beginnt er 1751, als er für Rameau das Ballett La Guirlande und die Pastorale Acante et Céphise schreibt. Erst ab 1768, mit Le Huron, beginnt er, regelmäßig Opern zu schreiben (vgl. Pendle, The Opéras-Comiques of Grétry and Marmontel [wie Anm. 29], 411 – 413). 47 Pendle, The Opéras-Comiques of Grétry and Marmontel (wie Anm. 29), 416. Insgesamt schreibt er zwischen 1768 und 1813 mehr als 50 Bühnenwerke zu den Texten 28 verschiedener Librettisten (vgl. ebd., 414). 48 Vgl. ebd., 428 f. 49 Martin Cooper, Opéra Comique, London 1949, 40. 50 Zu Gewittermusiken im französischen und deutschen Singspiel vgl. den Beitrag von Benedikt Leßmann im vorliegenden Heft.



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gen versucht, die Konzepte Diderots umzusetzen.51 Er strebt nach einem besonders wahrheitsgetreuen Ausdruck, insbesondere nach der richtigen Deklamation und diskutiert zahlreiche Mittel der musikalischen Gestaltung von Gesang ausführlich.52 Tatsächlich ist es auch Grétry, der die Szene des magischen Tableaus vorschlägt, die zur meistbewunderten Nummer in Zémire et Azor wird.53 II. Im deutschsprachigen Raum beginnt der Einfluss der Opéra comique auf die Librettistik in den 1760er Jahren mit der Rezeption der Textbücher Charles-Simon Favarts. Ab den 1770er Jahren werden Sedaine und Marmontel die wichtigsten Vorbilder. Unter den Komponisten ist Grétry das prominenteste Vorbild für das deutsche (Musik-)‌Theater.54 Man schreibt und komponiert im Anschluss an dessen erfolgreiche Musik deutschsprachige komische Singspiele, bevor man sich an eigenen Werken versucht. Besonders vier Opern von Grétry werden in den Jahren 1775 – 1779 als Vorlage für Singspieladaptionen verwendet: Le tableau parlant (1769), Silvain (1770), Les deux avares (1770) und Zémire et Azor (1771). Dabei wird der gesprochene Text der Libretti fast identisch aus der ersten Übersetzung übernommen, die Gesangsnummern werden jedoch oftmals neu übersetzt und in den 1770er Jahren auch neu vertont.55 In Deutschland ist der Erfolg von Zémire et Azor besonders groß;56 wie eingangs bereits erwähnt avanciert das Werk zwischen 1770 und 1790 zu demjenigen Singspiel, das am häufigsten aufgeführt wurde, ja sogar vermutlich zum am häufigsten aufgeführten Werk überhaupt.57 Zu Zémire et Azor gibt es auch zwei deutschsprachige Singspieladaptationen. Die erste Adaptation ist von Karl Emil Schubert und Gotthilf von Baumgarten und wird als Textbuch und Partitur 1775 veröffentlicht.58 Die in 51 Mémoires

ou Essai sur la musique par M. Grétry […]. Avec Approbation & Privilège du Roi, Paris, Lüttich 1789, Bd. 1, 263. 52 Pendle hat darauf hingewiesen, dass die Handlungen der Libretti, die Grétry vertont, ganz im Gegensatz zu seinen Absichtsäußerungen immer besonders künstlich sind, vgl. Pendle, The Opéras-Comiques of Grétry and Marmontel (wie Anm. 29), 416. Tatsächlich sind die Wahrheit und der Realismus, die im Anschluss an Diderot eingefordert wurden, in den Opern von Marmontel und Grétry nicht in der Handlung zu suchen, die häufig ein idealisiertes Familienleben und bäuerliche Idyllen darstellt, sondern sie sind im musikalischen Mikrokosmos der Rezitative, Arietten und Rezitative gestaltet, vgl. ebd. 53 Vgl. ebd., 427. 54 Herbert Schneider, Das Singspiel vor Mozart, in: ders., Reinhard Wiesend (Hg.), Die Oper im 18. Jahrhundert, Laaber 2001 (Handbuch der musikalischen Gattungen 12), 301 – 322. 55 Vgl. Betzwieser, Transformationen ins Ähnliche (wie Anm. 22). 56 Vgl. ebd., 95 f. 57 Vgl. Betzwieser, Opéra comique als italienische Hofoper (wie Anm. 2), 436. 58 Zemire und Azor, eine romantisch-komische Oper in 4 Aufzügen. Nach dem Französi-

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Text, Musik und Dramaturgie außergewöhnlich werktreue Fassung wird 1776 in Breslau durch die Wäser’sche Schauspieler-Gesellschaft aufgeführt.59 Eine weitere Adaptation von Moritz August von Thümmel und Christian Gottlob Neefe, zu der der gedruckte Text,60 von Neefes Neukomposition jedoch nur eine einzige Arie erhalten ist,61 ist textlich ebenfalls sehr nah am Original.62 Die Praktiken der Adaptation, Nachdichtung, kompositorischen Imitation und Neuvertonung werden von Thomas Betzwieser im vorliegenden Heft für die erwähnten vier beliebtesten Opéra comiques von Grétry analysiert. Die Singspieladaptationen beruhen alle auf der ersten Übersetzung von Zé­ mire et Azor im Rahmen der Sammlung der Komischen Operetten.63 In dieser Übersetzung wird das Werk bereits ein halbes Jahr nach der Uraufführung in Frankreich in Mannheim als deutschsprachige Erstaufführung gegeben.64 Diese Sammlung, die zwischen 1772 und 1776 in sechs Bänden erscheint, enthält die populärsten französischen Opéras comiques in deutscher Übersetzung.65 Sie ist in mehrerer Hinsicht besonders. Zum einen macht sie auf einmal mehrere

schen des Marmontel. Von dieser Oper ist eine geschriebene Partitur der Musik bei dem Verleger zu beziehen, und der Klavierauszug unter der Presse, Breslau 1775 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung, Signatur Mus Tg 962/2). 59 Betzwieser, Transformationen ins Ähnliche (wie Anm. 22), 95 f. 60 Zemire und Azor. Eine komische Oper. Nach dem Französischen des Herrn Marmontel [hss.: „übersetzt von Moritz August von Thümmel. Musik von P.[!] G. Neefe. Zum ersten Male aufgeführt d. 5. März 1776 von der Koberweinschen Gesellschaft in Leipzig am Namenstage des Churfürsten von Sachsen“], Frankfurt am Main, Leipzig 1776. 61 Johann Adam Hiller (Hg.), Zweyte Sammlung der vorzüglichsten, noch ungedruckten Arien und Duette des deutschen Theaters, Leipzig 1777, 40 – 4 4. 62 Betzwieser, Transformationen ins Ähnliche (wie Anm. 22), 100 f. 63 Zemire und Azor ein Singspiel in vier Aufzügen aus dem Französischen übersetzt mit Musik. Frankfurt am Mayn mit Andreäischen Schriften, in: Sammlung der komischen Operetten so wie sie von der Churpfälzischen Deutschen Hofschauspielergesellschaft unter der Direction des Herrn Marchand aufgeführet wurden, Frankfurt am Main 1772[–1776] (6 Bde.), Bd. 3, 1773. Sofern nicht anders angegeben beziehen sich Akt- und Szenenangaben im Fließtext im Folgenden auf die genannte Ausgabe. 64 Vgl. Betzwieser, Opéra comique als italienische Hofoper (wie Anm. 2), 436. 65 Von Grétry sind in dieser Sammlung acht Opéras comiques vertreten: Lucile (Bd. 1, 1772); Die beiden Geizigen und Die Freundschaft auf der Probe (Bd. 2, 1772); Silvain und Zemire und Azor (Bd. 3, 1773); Der prächtige Freygebige und Der Hausfreund (Bd. 5, 1775); Das Rosenfest von Salency (Bd. 6, 1776). Die zweite wichtige Sammlung von Opéras comiques in diesem Zeitraum ist Christian Friedrich Schwan (Hg.), Komische Opern für die Churpfälzische deutsche Schaubühne, Mannheim 1771 (und 1773). Faber und Schwann veröffentlichen ausschließlich die neuesten Opéras comiques und nehmen keine Comédies en Vaudevilles auf. Vgl. zu beiden Sammlungen Herbert Schneider, Zur Problematik der Opéras-comiques-Übersetzungen ins Deutsche, in: ders. (Hg.), Studien zu den deutsch-französischen Musikbeziehungen im 18. und 19. Jahrhundert, Hildesheim u. a. 2002 (Musikwissenschaftliche Publikationen 20), 40 – 140, hier 55 – 58.



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Dutzend Erfolgsstücke als vollständige Texte in deutscher Sprache verfügbar.66 Nach 1780 sind Ausgaben französischer Opéras comiques, die mehr als die Gesangstexte enthalten, die Ausnahme.67 Zum zweiten setzt sie Maßstäbe für alle nachfolgenden Übersetzungen,68 insbesondere da die Texte so angepasst sind, dass sie zur französischen Originalmusik passen.69 Die Übersetzungen stammen zum Großteil von Johann Heinrich Faber. Die insgesamt 36 französischen Libretti sind 19 verschiedenen Autoren zuzuordnen.70 Geeint sind sie dadurch, dass sie von nur drei verschiedenen Komponisten vertont wurden: Monsigny, Grétry und Philidor. Als mediale Formation zeichnet sie einerseits die Aufführung am selben Theater aus, andererseits die Tatsache, dass sie die ‚Speerspitze‘ der Opéra comique ausmachen. Zweifellos bereiteten die Übersetzungen dieser französischen „Operetten“ dem Singspiel in ästhetischer wie dramaturgischer Hinsicht den Boden, nicht zuletzt figurierten die französischen Originalstücke Seite an Seite mit ihren deutschen Pendants im Repertoire der Wandertruppen.71 In dieser Fassung ist Zémire et Azor bereits bevor und auch nachdem man keine 66

Vgl. Thomas Betzwieser, Zwischen Kinder- und Nationaltheater. Die Rezeption der Opéracomique in Deutschland (1760 – 1780), in: Erika Fischer-Lichte, Jörg Schönert (Hg.), Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache, Göttingen 1999 (Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa 5), 245 – 264, hier 257 – 262. 67 Herbert Schneider, Die deutschen Übersetzungen französischer Opern zwischen 1780 und 1820. Zum Verlauf und zu dem Problem eines Transfer-Zyklus, in: Hans-Jürgen Lüsebrink, Rolf Reichardt (Hg.), Kulturtransfer im Epochenumbruch. Frankreich-Deutschland zwischen 1770 und 1815, Leipzig 1997 (Deutsch-Französische Kulturbibliothek 9), 593 – 676. 68 Vgl. Schneider, Zur Problematik der Opéras-comiques-Übersetzungen (wie Anm. 65). Johann Heinrich Faber gibt im Vorbericht des sechsten Bandes an, dass alle Übersetzungen bis auf die beiden letzten von Faber gemacht worden seien. Meyer gibt jedoch einmal keinen Übersetzer, einmal Schwan und einmal eine unsichere Zuordnung zu Faber oder Gotter an. Zu den Mannheimer Übersetzungen vgl. Herbert Schneider, Übersetzungen französischer Opérascomiques für Marchands Churpfälzische Deutsche Hofschauspielergesellschaft, in: Ludwig Finscher, Bärbel Pelker, Rüdiger Thomsen-Fürst (Hg.), Mannheim – Ein „Paradies der Tonkünstler“? Kongreßbericht Mannheim 1999, Frankfurt am Main 2002 (Quellen und Studien zur Geschichte der Mannheimer Hofkapelle 8), 387 – 434 sowie Betzwieser, Zwischen Kinder- und Nationaltheater (wie Anm. 66), hier 257 – 262. 69 Damit schaffen sie einen ganz eigenen Standard (vgl. Betzwieser, Transformationen ins Ähnliche [wie Anm. 22], 79 f.). 70 Sedaine und Favart mit je sechs, Marmontel und Anséaume mit je vier, Poinsenet und Falbaire de Quinguy mit je zwei. Mit je einem Libretto sind die folgenden Autoren vertreten: Queant, Dancourt, Lemonier, Masson Balignad Baron von Ferrierees, Framery, Desboulmiers, Audinato, Guidard, D’Azenar, Monvel, Pleinchesne. Eine Auflistung aller Übersetzungen von Opéras comiques in Mannheim mit quantitativer Auswertung findet sich bei Schneider, Übersetzungen französischer Opéras-comiques (wie Anm. 68), 398. 71 Vgl. hierzu vor allem die instruktiven Repertoireanalysen bei Urchueguía, Allerliebste Ungeheuer (wie Anm. 3), passim; vgl. ebd., 228 – 231 auch die kumulierte Tabelle der Rubriken „Auswärtige Tonkünstler, deren Kompositionen man sich auf deutschen Theatern bedient“ aus verschiedenen Jahrgängen des Theater-Kalenders der 1780er Jahre.

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deutschen Singspieladaptionen mehr schreibt, erfolgreich und wird häufig mit Originalmusik aufgeführt.72 Aus diesem Grund wird für die nachstehende Analyse diese Textgrundlage verwendet. Dabei soll das Libretto im Zentrum stehen; Erkenntnisse der Musikwissenschaft über die Originalmusik werden jedoch ebenso Berücksichtigung finden.73 Es scheint dringend geboten, die Libretti der französischen Opéras comiques zu analysieren, da sie so beliebt und weit verbreitet waren und da das deutschsprachige Singspiel sich stark am Vorbild dieser Texte orientierte. III. Im Folgenden gilt es für Zemire und Azor, wie das Werk in allen deutschsprachigen Fassungen genannt wird, herauszuarbeiten, was moralisches Fühlen befördert und verhindert und wie diese Aspekte mit der Rührung der Figuren und der Rezipient:innen zusammenhängen.74 Dabei wird zunächst die Perspektive Zemires, anschließend die Azors eingenommen. Zemire tritt im ersten Akt noch nicht auf, wird jedoch von Sander erwähnt. Sander befindet sich zu Beginn der Handlung in einer ziemlich ausweglosen Situation. Angesichts der Tatsache, dass er seinen Töchtern keine Zukunft mehr bieten kann, weil auch seine letzte Schiffsladung mit Waren verloren gegangen ist, stellt er resigniert fest: „Ach! ich habe ja nichts mehr zu wagen, Leben ist ja kein Glück für mich. […] Meiner Hoffnung einzige Stütze, Ist im Schlunde des Meeres versenkt“ (I,1). Diese allgemeine Hoffnungslosigkeit macht ihn gegenüber Azors schrecklicher Erscheinung und seinen Drohungen jedoch auch gleichgültig und angstfrei: Sander. ich bitte um Vergebung. Ich sah nichts böses dabey. Da du so freygebig in allen ­Sachen bist, glaubte ich nicht, daß du so misgünstig mit diesen Blumen seyn würdest.

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Zusätzlich zum Libretto wird auch ein Klavierauszug zu Zemire und Azor in Leipzig veröffentlicht, den Johann Adam Hiller einrichtet: Des Herrn Gretri Zemire und Azor. Eine comische Operette in vier Acten mit einer deutschen Übersetzung in einem Clavier-Auszug herausgegeben von Johann Adam Hiller, Leipzig [1783]. Dieser ist neben dem Klavierauszug zu Richard Cœur-de-Lion von 1790 der einzige, der in Deutschland zu einer Oper Grétrys veröffentlicht wird (vgl. Betzwieser, Transformationen ins Ähnliche [wie Anm. 22], 80). 73 Die Übersetzungen werden für die Theatertruppe von Theobald Marchand in Mannheim angefertigt. Umstände und Bedingungen für diese Rezeption der französischen Opéra comique in Mannheim werden dargelegt bei Wilhelm Herrmann, Hoftheater – Volkstheater – Nationaltheater. Die Wanderbühnen im Mannheim des 18. Jahrhunderts und ihr Beitrag zur Gründung des Nationaltheaters, Frankfurt am Main 1999 (Quellen und Studien zur Geschichte der Mannheimer Hofkapelle 5), 179 – 209. 74 Aus Platzgründen muss auf eine zwei- bzw. mehrsprachige Untersuchung leider verzichtet werden.



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Azor. Verwegener, Undankbarer, ich gebe dir hier einen Schutzort, ein herrliches Nachtessen, den besten Wein, den ich habe; und du willst noch, ich soll dir vergeben, daß du mir meine Blumen stiehlst? Nein, ich will mich rächen, du sollst sterben. Sander. Du kannst über mein Leben gebieten, ich beklage den Verlust desselbigen nicht, und warum sollte ich wohl Tage vertheidigen, die des Neides so wenig würdig sind? Nur meine Kinder bedaure ich. (I, 2)

Azor will Sander für den Diebstahl der Rose töten, Sander jedoch fürchtet den Tod nicht, weil er bereits alles verloren hat. Im letzten Satz wird als Steigerung seines Leids die Sorge um seine Töchter hinzugefügt. Die väterliche Liebe und Fürsorge sind der Grund, weshalb Sander nicht in Resignation versinkt. Den Rezipient:innen und Azor wird die Möglichkeit gegeben, Sanders Leid konkret mitzuempfinden. Dieses Angebot wird noch dadurch verstärkt, dass als Ursache für Sanders unvermittelt bedrohliche Situation eine hamartia Zemires erwähnt wird. Unter der hamartia versteht Aristoteles in seinen Ausführungen zur Tragödie in seiner Poetik einen Fehler einer an sich untadeligen Person.75 Er führt diese Art von Ereignis als die beste Möglichkeit an, um das Leid in der Tragödie als schweres Leid zu gestalten und bei den Rezipient:innen die maximale Wirkung zu erzielen. Zemire ist durch ihre harmlose und besonders bescheidene Bitte um eine Rose als Mitbringsel schuldlos schuldig geworden. So wie die Dinge zu Beginn des Singspiels stehen, wird sie für den Tod des Vaters verantwortlich sein. Arie Ach! armes Kind! du wußtest nicht, Daß mir itzt dein Wunsch das Urtheil spricht. O! Freund, ach! halt es ihr verborgen, Daß mir die Rose den Tod verliehn! (I,2)

Die Reaktion Azors, die Marmontel nun einfügt, gibt den Rezipient:innen vor, wie sie reagieren sollen: Azor. Ich habe eine sehr mitleidige Seele, ich lasse mich leicht rühren. Aber, statt deiner muß eine deiner Töchter ihre Einwilligung dazu geben, sich mir zu überlassen. (I,2)

Azor stellt seine Rührung als Beweis seiner besonderen Mitleidsfähigkeit dar. Er erlaubt, dass eine von Sanders Töchtern an dessen Stelle zurückkehren kann. Direkt im Anschluss an seine beängstigende Todesdrohungen wird er als menschlich dargestellt. Diese positive Charakterisierung Azors mildert seine furchteinflößende Erscheinung und vermeintliche Grausamkeit ab und bereitet die Rezeption seines eigenen Schicksals als rührendes vor. In der Arie Azors wird der Übergang von der Rache zur Güte wiederholt: 75

Aristoteles, Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann, bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart 2014, 40.

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Arie […] Zu allem bin ich im Stande, Werd ich zur Rache gebracht. Doch, zähl auf meine Güte Wird nur mein Wunsch erfüllt, Was ich dir itzt gebiete, Einst mein dankbar Gemüthe Dir deinen Dienst vergilt. (I,2)

Lessens weist darauf hin, dass diese beiden verschiedenen emotionalen Zustände auch in einer musikalischen Zweiteilung ihre Entsprechung finden.76 Der zweite Akt spielt in Sanders Landhaus und Azor tritt erst zu Beginn des dritten Aktes wieder auf. Hier erfahren wir dann, weshalb er dankbar sein wird, wenn Sander seine Tochter zu ihm schickt. Er spricht in Gedanken mit der Fee, die ihn verzaubert hat, und wiederholt die Bedingung für das Ende des Zaubers: „du willst, daß man mich unter diesen Zügen liebe, alsdann soll die Bezauberung aufhören, wenn ich unerachtet meiner Häßlichkeit, ein junges Herz rühren kann“ (III,1). Da er zu diesem Zeitpunkt keinen Weg sieht, dies zu erreichen, bittet er in den ersten Sätzen dieser Szene voller Verzweiflung die Fee darum, sterben zu dürfen. Die Szene ist darauf angelegt, dass die Rezipient:innen von Azors Schicksal besonders gerührt werden sollen. Als nächstes wird der Grund für seine Verwandlung in ein hässliches Tier angegeben: „Du hattest mir die Schönheit gegeben, dieses Geschenk schmeichelte mir zu sehr; aber, ach! ist denn dieß ein so grosses Verbrechen, daß es deinen Haß verdienet?“ (III,1). Der mitleidige Azor, der sich vom Schicksal des verzweifelten Vaters Sander und der am Tod des Vaters schuldigen Tochter rühren lässt, wird nun selbst als Leidender dargestellt, der nicht mehr leben will. Azor gibt seiner Verzweiflung in der Arie „Ach! welche Quaal! ach! welche Schmerzen“ (III,1) Ausdruck. Er äußert seine Sehnsucht nach Liebe, bedauert, nicht geliebt zu werden und jedem „Angst und Schrecken“ (ebd.) einzuflößen. In der Musik wird diese Bewegtheit durch Achteltriolen und einen beschleunigten Rhythmus ausgedrückt.77 Doch nicht genug mit der Beschreibung seiner bisherigen und aktuellen Qualen. Noch bewegender wird Azors schweres Leid dadurch, dass er in der nahen Zukunft eine abermalige Enttäuschung beim Bemühen um Zemires Liebe befürchtet. Als er Zemire auf den Palast zukommen sieht, überkommen ihn „Hitze und Schauer“ (ebd.) und er beschließt sich aus Angst zu verstecken. Die Rezipient:innen werden durch Text und Musik, durch Emotionen auf verschiedenen Zeitebenen und durch die Schilderung körperlicher Sensationen gerührt und von Azors Empfindungsfähigkeit überzeugt. Eben diese möchte Azor auch bei Zemire erreichen. Er erklärt, er wolle „erfahren […] welche Freuden sie [Zemire] zu rühren fähig sind“ (III,1). 76 Vgl. 77 Vgl.

Lessens, André-Ernest-Modeste Grétry (wie Anm. 22), 97, 99, 101. ebd., 101.



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Als Zemire Azor dann zum ersten Mal erblickt, wird sie kurz ohnmächtig (III,5). Azor versucht sie dann dazu zu bringen, dass sie auf sein Wesen und sein Fühlen und nicht auf sein Äußeres achtet: „Wenn es Ihnen möglich wäre, unter diesen Zügen bis in mein Herz zu sehen! es ist zärtlich und fühlbar“, rühmt er sich und verspricht: „ich will mein Leben damit zubringen, Ihnen zu gefallen, Sie zu verehren“ (III,5). Im Übrigen rät er ihr, ihn nicht anzusehen: „Sehen Sie mich nicht an, Zemire, hören Sie mir nur zu“ (ebd.). Er versucht sie zu bewegen, indem er ihr erklärt, dass er sterben müssen wird, wenn sie ihn nicht erhört (ebd.). Zemire kann seine Vorzüge durchaus wahrnehmen und ist als erstes von seiner sanften und „zärtlich[en]“ Stimme eingenommen, die sie davon überzeugt, dass sie keine Angst mehr vor ihm zu haben braucht (ebd.). Auch Azor ist im Übrigen am meisten von Zemires Stimme gerührt: Sie singen, ich weiß es, Sie singen vortrefflich. Wenn Sie reden, so werden alle mein Sinnen von Ihrer Stimme gerührt und bewegt. Ach! welch ein Reitz für mein Ohr, Ihre Töne erschallen zu hören […]. (III,5)

„Wie rührend! Wie gütig“ (ebd.) – ruft er aus, als sie zustimmt, für ihn zu singen. Um Zemire zu überzeugen, ihn zu lieben, wählt er eine klimatetische Darstellung seiner Emotionen, die sich auf Zemire übertragen soll. Zunächst spricht er von der Freundschaft, dann von sich in der dritten Person als Freund, abschließend von seinen zärtlichen Trieben, die er in Zukunft wird unterdrücken müssen, die demnach bereits vorhanden sind. Wenn Sie zuweilen mich der Gnade würdigen und erlauben wollen, daß die Freundschaft an Ihren Belustigungen Theil nehme, so werden Sie dem Freunde recht glückliche Augenblicke gewähren. Wenn Sie wollen, daß er sich entferne, so werde ich mir selbst den Genuß dieser zärtlichen Triebe versagen. (III,5)

Es folgt eine Arie von Azor über die Liebe („Das Gefühl der Liebe/Macht die Herzen mild“, III,5). Die Solovioline, die ihn im Mittelteil begleitet, unterstützt seinen Versuch, Zemire von seinen guten Absichten zu überzeugen. Er singt: Ach fürchten Sie sich nicht, Sie haben zu befehlen, Der, so mit Ihnen spricht. Gehorcht Ihnen gern, Der Trieb, Sie zu quälen, Ist von mir sehr fern. (III,5)78

Diese Kombination verfehlt ihre Wirkung nicht, Zemire ist von der „reizende[n] Sprache“ und der „Stimme“ tief beeindruckt (ebd.). Nachdem Azor Zemires Gesang vernommen hat, ist er bereit, ihr den Kontakt zu ihrer Familie zu er78 Der

literarischen Form nach sind diese Verse das Sextett eines Sonetts, aber da es sich um eine Da-Capo-Arie handelt, wird das Quartett zum Schluss wiederholt, sodass man es nicht mit einer zweiteiligen, sondern mit einer dreiteiligen Struktur mit Mittelteil zu tun hat.

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möglichen – dazu unten mehr – und gesteht ihr auch explizit seine Liebe: „Aber Sie wollen es, ich liebe Sie, Sie sollen sogleich ihre Stimme hören“ (III,6). Dieses Erlebnis quält Zemire jedoch und sie beschuldigt Azor der Grausamkeit, als das Bild wieder verschwindet (vgl. III,7). Azor ist verzweifelt darüber, dass sein Zugeständnis Zemires Kummer vergrößert hat. Er beteuert erneut seine Liebe: „Ich liebe Sie, und ich sterbe, wenn Sie mir geraubt werden“ (III,7). Er wiederholt dies mehrmals mit unterschiedlichen Worten und gesteht ihr zu, ihre Familie nun auch noch persönlich zu besuchen. Jedoch kündigt er an, dass ihn „die Verzweiflung […] überwinden“ und er sein „unglückliches Schicksal endigen“ werde, wenn sie nicht zurückkomme (III,7). Anschließend verstärkt er ihr Dilemma noch: „Alsdann können Sie zu Ihrem Vater sagen: ‚er ist nicht mehr, ich bin schuld an seinem Tode. […]‘ Ihren Händen übergebe ich mein Leben und mein Glück“ (III,7).79 Alle Verantwortung lastet nun auf Zemire. Azor gibt kurz vor Schluss die Hoffnung auf, Zemire kehrt jedoch zurück und erlöst ihn durch ihr Liebesgeständnis (II,7). Zu Beginn des zweiten Aktes tritt Zemire zum ersten Mal auf. Gemeinsam mit ihren Schwestern malt sie sich in einem Trio aus, wie es sein werde, wenn der Vater endlich zurückgekehrt sei. Der Akt beginnt so mit einer Pause in der Handlung und gibt den Gefühlen der drei Raum. Hier wird die Technik des Tableaus verwendet. Das Tableau ist ein wichtiges dramaturgisches Moment in der Poetik von Diderot. Er versteht darunter das Innehalten der Handlung und das Verweilen in einer emotionalen, rührenden, zuweilen auch moralisch schwierigen Situation.80 Diderot empfiehlt, die Handlung nicht zu kompliziert zu gestalten, um Raum für die emotionale Entfaltung der Figuren und für ähnliche Reaktionen der Leser:innen oder Zuschauer:innen zu schaffen. Zweck ist es, die Zuschauer:innen zu erbauen, zu bewegen und zur Tugend zu erziehen. Es handelt sich folglich um das Gegenteil einer überraschenden dramatischen Wendung (coup de théâtre). Für Diderot ist die Fokusverlagerung weg vom gesprochenen Wort hin zum mimischen und bildlichen Ausdruck von großer Wichtigkeit. Am typischsten sind familiäre oder häusliche Szenen mit rituellen Darstellungen von Gefühlen, die die Macht des menschlichen Wohlwollens als verbindende Kraft zwischen den Menschen sowohl auf als auch außerhalb der Bühne zeigen. Im soeben erwähnten Tableau zu Beginn des zweiten Aktes von Zemire und Azor sind die Schwestern zunächst vereint in der Vorfreude: „Tag voll Glücke/ Bring zurücke/ Einen Vater, der uns liebt“ (II,1). Als Sander ihnen jedoch vom Verlust der Waren berichten muss, zeigt sich ein deutlicher Unterschied in der Reaktion der Schwestern, die wegen des Vermögensverlustes weinen, und Zemires, die alle tröstet. Hier wird gleich zu Beginn Zemires 79 Gegenüber

ihrem Vater wiederholt sie: „Wenn ich länger verweilte, würde ich schuld an seinem Tode seyn“ (IV,1). 80 Vgl. im Folgenden Castelvecchi, Sentimental Opera (wie Anm. 6), Kap. 3.



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besondere Mitleidsfähigkeit hervorgehoben, weil sie nicht zuerst an ihren Kummer denkt, sondern Sander versichert, dass man ihn nun „desto mehr“ lieben wird. Sander fasst dies zusammen: „Meine Kinder, ihr weinet! (Zu Zemire.) und du, du tröstest mich!“ (II,2), und weiter, als Zemire wortreich erklärt, dass man in Zukunft auch mit sehr wenig zufrieden sein werde, ruft er ergriffen aus: „Das arme Kind! wie rührend ist sie! Ihre Vernunft, ihre Schönheit, ihre Zärtlichkeit entzücken mich“ (II,2). Sander führt hier vor, von welchen Empfindungen die Rezipient:innen berührt sein sollen, weil sie moralisch richtig sind, und welche Emotionen sie selbst empfinden sollen. Musikalisch wird Zemire durch ein Flötenmotiv charakterisiert, als sie am Ende dieser Szene ihre erste Arie „Schönste der Rosen“ singt (II,1). Zemire verehrt mit ihrem Gesang sowohl die Schönheit der Rose als auch die väterliche Liebe, für die die Rose steht. Sie betont dadurch den hohen Stellenwert, den die Liebe zum Vater für sie hat. Dementsprechend kann Azor Zemire für sich gewinnen, indem er verspricht, ihren Vater mit Geld zu unterstützen und ihren Schwestern eine Mitgift zu geben. „Man kann nicht heftiger gerühret werden, als Sie mich rühren“ (III,5), stellt Zemire daraufhin überrascht fest und stimmt zu, für Azor zu singen. Der Inhalt zeigt, dass sie ihr Ziel weiterverfolgt, wieder mit ihrer Familie vereint zu werden. Die Arie „Munter sieht man die Vögel im Wald/ Das Futter zu den Jungen tragen“ (III,5) ist wieder durch Begleitung der Flöten geprägt und die Darstellung der fürsorglichen Elternliebe in der Natur dient dazu, das Sozialmo­ dell der Familie auch als das natürlich-vernünftige für den Menschen sinnfällig zu machen. Im ersten Teil der Arie werden die beständig das Nest anfliegenden Eltern, die hüpfenden Jungvögel und das Echo ihres Gesangs thematisiert, wobei die Extreme des Sopranregisters ausgereizt werden. Im zweiten Teil ist die Melodie rührend, wenn es um die Fürsorge der Eltern geht, die ihre Flügel über die im Nest sitzenden Kinder breiten. Im dritten Teil herrscht traurige Stimmung vor, weil die Vogelmutter über die vom Vogler gestohlenen Jungen klagt.81 Der erste Teil wird wiederholt, sodass der rührende Teil den Hauptakzent erhält. Der Gesang verfehlt seine Wirkung nicht; Azor ermöglicht es Zemire, zu ihrer Familien in Kontakt zu treten. Die nun folgende Szene, in der Azor Zemire mithilfe eines magischen Bildes an den Gefühlen ihrer abwesenden Familie teilhaben lässt, ist die wirkungsvollste des gesamten Werkes (vgl. III,6). Sie wurde mehrfach als Kupferstich gestaltet und ist in zweierlei Hinsicht ein Tableau im Sinne Diderots. Einmal deshalb, weil die Handlung zur Beschwörung der Vater- und Geschwister-‍ , respektive Tochterliebe angehalten wird. Der Effekt, dass die Figuren im Spiegel für Zemire nicht erreichbar sind, 81 Im

französischen Original ist der im Deutschen nur generisch bezeichnete Vogel eine Grasmücke. Diese Art ist für ihren schönen Gesang bekannt. Der genannte Vogler ist vermutlich auf der Jagd nach Singvögeln.

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ein Bild bleiben, verstärkt den Eindruck eines Stillstandes. Die drei im Spiegel singen ein Trio, Azor und Zemire hören und schauen zu. Zum anderen entspricht die Szene mit der Sehnsucht der Familie nach der Rückkehr der Tochter auch inhaltlich der Idee eines Tableaus. Die intendierte Wirkung der emotionalen Involviertheit bei den Rezipient:innen wird von Zemire emotional und körperlich bereits vorgeführt, indem sie sich von dem eindringlichen Wunsch der drei Familienmitglieder, ausgedrückt in der mehrfachen Wiederholung des „Komm zurück!“ (III,6), ergreifen lässt. Zemire wird als gute Tochter von den Gefühlen für ihre abwesende Familie übermannt und bewegt sich auf das Bild zu. Grétry hat in der musikalischen Umsetzung die Tatsache des Getrenntseins abgebildet, indem er die ausschließlich aus Klarinetten, Fagotten und Hörnern bestehende Bühnenmusik unsichtbar hinter dem magischen Spiegel spielen lässt. Dadurch entsteht der Eindruck, die Musik komme von weit her.82 Dies verstärkt auch den klanglichen Kontrast zum gesprochenen Dialog zwischen Zemire und Azor im Vordergrund, der das Trio immer wieder unterbricht. Zemire ist zwischen der rührenden Stimme des empfindsamen Azor und den in Dreiklangmotivik klagenden Familienmitgliedern hin- und hergerissen. Azor, der mit Zauberkräften ausgestattete Herrscher, ist dieser Zerrissenheit gleichermaßen ausgeliefert. Ganz im Gegensatz zum meist rettenden Einsatz der mit übernatürlichen Fähigkeiten ausgestatteten Götter in der Opera seria wird durch Azors Zauberei der Konflikt nicht gelöst, sondern eigentlich erst offensichtlich. Indem er Zemires Wunsch, der in richtig, das heißt vernünftig empfundener Geschwister- und Tochterliebe besteht, nachgibt, schürt er die Sehnsucht nach ihrer Familie und sieht sich direkt anschließend mit ihrem Wunsch konfrontiert, diese nun auch tatsächlich wiederzusehen und insbesondere dem Vater tröstende Worte zu sagen. Zemire ist in der anschließenden Szene zunächst zwischen zwei Gefühlen hin- und hergerissen. Zunächst wirft sie Azor Grausamkeit vor, weil er das Bild verschwinden lässt. Als er ihr jedoch einen Besuch zu Hause zugesteht, schlägt diese Ablehnung in Bewunderung und Rührung um. Sie bezeichnet Azor als „aufrichtig“ und „gütig“, ist von ihm „gerührt“, „bewundert“ ihn und spricht von seinem „Herz“ und von seiner „Seele“ (III,7). Zemire verlässt Azor mit dem Vorsatz, sich dessen Anerkennung durch eine freiwillige Rückkehr zu ihm zu verdienen. Dafür muss sie wiederum heftige Anschuldigungen durch ihren Vater aushalten: „Grausames Kind! du willst deinen Vater verlassen! du weißt nicht alle die Qualen, die ich wegen dir gelitten habe“ (IV,2). In anderen Worten wiederholt er diesen Vorwurf im Laufe der Szene noch zwei Mal. Zemire gerät dadurch in den Konflikt zwischen Tochterliebe und der aufkeimenden Liebe für Azor.

82 Ein

„Come-da-lontano“-Effekt, wie bei Betzwieser nachzulesen ist (vgl. Betzwieser, Transformationen ins Ähnliche [wie Anm. 22], 98 f.).



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Diese Liebe wird emotional langsam vorbereitet, sodass auch die Rezi­ pient:innen die Möglichkeit haben, Azors Wesen und Handeln gemeinsam mit ihr kennenzulernen. In IV,2 spricht Zemire in Bezug auf Azor bereits von Freundschaft: „[E]‌r bezeiget mir die rührendste Sorgfalt, die zärtlichste Freundschaft“ (IV,2), und bezeichnet ihn später erneut als „großmüthigen Freund“ (IV,2). Von ihrem Vater gefragt, welche Empfindung sie für Azor verspürt, antwortet sie: „Das Mitleiden“ (IV,2). Als Zemire mit Anbruch der Dämmerung nicht zurück ist, will Azor sterben (IV,3). Er ist verzweifelt, weil er glaubt, dass sie ihn hasst, dass sie sich nur verstellt habe und sich in Wirklichkeit wünscht, er sei tot. Mit Liebeskummer und ohne Hoffnung auf Erlösung möchte er nicht mehr leben. Anlässlich ihrer Rückkehr zu Azor wird sich Zemire dann in einer monologischen Arie ihrer Gefühle für Azor bewusst: „Ich liebe dich recht zärtlich, noch heftiger als mich,/ Und diese sanften Triebe/ Versichern dich, Azor, daß ich dich liebe“ (IV,4). Damit spricht sie das erlösende Liebesgeständnis laut aus und Azor wird von seinem hässlichen Äußeren befreit. Sander wird für sein Misstrauen Azor gegenüber und für seine Besitzansprüche am Ende jedoch nicht bestraft. Dies wäre in der letzten Szene möglich, wenn die Fee auftaucht, die Azor für seine Eitelkeit mit der Verwandlung in ein hässliches Tier bestraft hatte. Sie spricht Sander jedoch wie folgt an: „Tugendhafter und empfindungsvoller Vater, sieh deine Tochter wieder“ (IV,6). Im Wertesystem des Singspiels wird der Figur des Vaters offenbar zugestanden, dass er eifersüchtig, besitzergreifend und misstrauisch ist. Auch Azor ist ihm nicht böse, sondern bittet ihn um Vergebung. Die Fee erteilt Azor zum Schluss den folgenden Auftrag: „Azor, du siehst, daß die Güte des Herzens alle Rechte der Schönheit besitzt. Erweitere ihr Reich über die Hertzen“ (IV,7). Hier wird noch einmal verdeutlicht, dass die Herzensbildung über dem äußeren Erscheinungsbild stehen soll. Der abschließende Chor vereint noch einmal die Emotionen des Leids und der Liebe: O! Liebe! Wenn je deine Macht Ein junges Herz an sich gebracht; Ach! welchen Kummer muß es leiden! (IV,7)

Die Idee, dass das Glück die Belohnung der Liebenden ist, ist jedoch ebenso zentral. Sie ist in der letzten Textzeile des Schlusschores enthalten: „Doch auf die Quaal folgt wahre Lust“ (IV,7). Gezeigt wurde die Dramaturgie der Rührung durch Leid einerseits, durch Schönes und zärtliche Liebe andererseits und durch Stimme und Musik. Als abzumildernde Emotionen wurde Rache identifiziert, als Emotion, die das empfindsame Fühlen behindert, erweist sich Angst. Angst wird interessanterweise zunächst komisch dargestellt. Der Diener Ali, der in den ersten beiden Akten sehr viel auf der Bühne ist und insgesamt im Stück sechs Gesangsnummern hat, davon vier alleine und zwei Duette und thematisiert diese Emotion fast durch-

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gehend. In I,1, II,4, III,2, IV,1 singt er Arien, die seine Angst vor dem verzauberten Palast, vor dem Fliegen und vor Azor zum Gegenstand haben. Während es Ali nicht gelingt, seine Angst zu überwinden, wird seiner Feigheit in einem Duett mit Zemire (III,2) deren Fürsorge gegenübergestellt. Während Ali darüber nachdenkt, wie er der Gefangenschaft entkommen kann, und fürchtet, dass es ihm bei Azor „an den Kragen“ gehen wird, singt Zemire von ihrem wichtigsten Anliegen, das ist den Vater getröstet zu wissen. Sie möchte, dass Ali Sander ausrichtet, dass man sie nicht töten wird und dass sie bald nach Hause kommen wird. Als Zemire allein ist, wird sie kurz selbst von Angst befreit (III,3). In ihrem kurzen Monolog wird exemplarisch demonstriert, wie man von der Furcht zur Zuversicht kommt. Zemire besinnt sich hier darauf, dass ihr Vater in Sicherheit ist und tröstet sich mit der Gewissheit, dass der „Himmel […] die Unschuld beschützen [wird], die er liebt“ (III,2). Die Angst ist auch beim retardierenden Moment im Spiel, wenn Sander versucht Zemire von der Rückkehr zu Azor abzuhalten (IV,2). Er kann Zemires Worten, dass Azor eine schöne Seele ist und dass es ungefährlich, ja sogar wünschenswert für Zemire ist, zu ihm zurückzukehren, keinen Glauben schenken. IV. Im deutschsprachigen Gebiet stehen die Gelehrten der Vorstellung von einem moral sense skeptisch gegenüber. Zedler fasst dies in seinem Universal-Lexicon lapidar wie folgt zusammen: „Moralische Empfindung ist eine Krafft des Gemüthes oder der Seele, die Schönheit der Tugend zu erkennen. Herr Hutcheson behauptet sie; andere aber wollen von der Nothwendigkeit einer solchen Krafft nichts wissen.“83 In der Forschung ist mehrfach rekonstruiert worden, wie in pädagogischen und poetologischen Schriften, aber auch im Roman die Gefahren von übertriebener Empfindungsfähigkeit dargestellt werden.84 Man geht hier nicht von der Vorstellung eines angeborenen moral sense aus, sondern ist vielmehr von der Notwendigkeit überzeugt, den Menschen zu sittlichem Verhalten und zum moralisch richtigen Empfinden allererst erziehen zu müssen. Auf den deutschsprachigen Bühnen gibt es jedoch eine sehr verbreitete Sprache der 83 Großes

vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, Halle, Leipzig 1731 – 1745, Bd. 21, 1479. 84 Vgl. z. B. Davide Giuriato, Zärtliche Liebe und Affektpolitik im Zeitalter der Empfindsamkeit, in: Martin von Koppenfels, Cornelia Zumbusch (Hg.), Handbuch Literatur & Emotionen, Berlin 2016, 329 – 342, hier 329 – 331. Vgl. auch Gerhard Sauder, Empfindsamkeit, Bd. 1: Voraussetzungen und Elemente, Stuttgart 1974, 203; Jan Engbers, Der ‚Moral Sense‘ bei Gellert, Lessing und Wieland. Zur Rezeption von Shaftesbury und Hutcheson in Deutschland, Heidelberg 1998 (Germanisch-Romanische Monatsschrift. Beihefte 16), 11 – 30.



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moralischen Rührung, wie anhand der äußerst erfolgreichen Übersetzung von Zemire und Azor gezeigt wurde. Die Ergebnisse der Analyse seien abschließend kurz zusammengefasst. Die Affektdramaturgie von Zemire und Azor ist von starken emotionalen Kontrasten geprägt, die dadurch verstärkt werden, dass die Rezipient:innen mit dem wechselnden Schicksal aller Figuren mit Ausnahme der komischen mitempfinden sollen. Zusätzlich zur moralisch vorbildlich empfindenden weiblichen Figur, die für die Opéras comiques typisch ist, gibt es in Zemire und Azor auch eine männliche Figur, die moralisches Empfinden in besonderer Weise besitzt und bei anderen wahrnehmen kann. Nach Azors unvermitteltem, bedrohlichem und rachsüchtigem ersten Auftritt lässt er sich überraschend vom Schicksal des plötzlich verarmten und treusorgenden Vaters Sander rühren und gibt dabei einen ersten Hinweis auf seine inneren Qualitäten, von denen man jedoch erst einen ganzen Akt später erfährt. Die beiden weiteren Episoden der AzorHandlung folgen dann der Struktur von Verzweiflung, empfindsamer Sehnsucht nach Liebe und anschließender Rettung durch Zemires Mitleid beziehungsweise Liebe. Da die Rezipient:innen bereits wissen, dass Zemire eine außergewöhnlich empfindsame und selbstlose Person ist, die sich nicht von Äußerlichkeiten leiten lässt, und da bekannt ist, dass Zemire bereits auf dem Weg zu Azor ist, werden die Verzweiflung und die Todessehnsucht Azors durch die diskrepante Informiertheit von Figuren und Rezipient:innen dramaturgisch mit Spannung aufgeladen. Vor der ersten Begegnung mit Zemire ist Azors Verzweiflung von Angst gefolgt, als er seine potentielle Erlöserin Zemire herannahen sieht. Es folgt der Höhe- und zugleich auch Wendepunkt der Handlung, wenn Zemire beim Anblick seines furchteinflößenden und abstoßenden Äußeren zunächst ohnmächtig wird, dann jedoch, geleitet von ihrem moralisch richtigen Empfinden, das Schicksal aller Beteiligten zum Besten wendet. Schritt für Schritt erreicht Azor sein Ziel, Zemires Herz zu erreichen. Zusammen mit Zemire sollen die Rezipient:innen Azors Kunstsinn, seine Kultiviertheit, seine sanfte und melodische Stimme und seine empfindsame Wortwahl bewundern und sich von diesen Eigenschaften berühren lassen. Zemire wird dramaturgisch dergestalt eingeführt, dass sie als unschuldig Schuldige mit dem harmlosen und bescheidenen Wunsch nach einer Rose als Mitbringsel den Vater in Todesgefahr bringt. In zwei moralischen Dilemmata trifft sie ihre Wahl auf der Grundlage von Liebe und Mitleid. Zuerst schützt sie ihren Vater, indem sie sich an seiner Stelle zu Azor begibt, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt davon ausgehen muss, ihr eigenes Leben dadurch zu verlieren. Später, nachdem sie ihre Familie persönlich über deren weiteres Auskommen und ihr eigenes Wohlergeben in Kenntnis gesetzt hat, entscheidet sie sich gegen die Familie und für eine Rückkehr zu Azor, die sie ihm versprochen hat. Das Dilemma besteht hier darin, dass sowohl ihr Vater als auch Azor ihr damit drohen, sich umzubringen, sollte sie gehen beziehungsweise nicht wiederkehren.

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Gemäß ihrem Versprechen entscheidet sich Zemire dieses Mal jedoch für Azor und kann diesen unverhofft durch ihr Liebesgeständnis von seinem abstoßenden Äußeren befreien und abschließend auch ihre Familie wiedervereinen und materiell absichern. Die Rezipient:innen sollen von Zemires Opferbereitschaft gerührt sein, das heißt die vorbildliche Tochter-‍ , Schwester- und Partnerliebe nicht nur bewundern, sondern auch nachvollziehen. Liebe und Mitleid sind die Themen aller Aussagen- und Gesangseinlage von Zemire. Einen kurzen Anflug von Furcht vor Azor überwindet sie schnell mit dem Glauben daran, dass ihr richtiges Verhalten vom Himmel belohnt werden wird. Angst und Sorge werden als Hindernisse für moralisch richtiges Fühlen dargestellt. Dramaturgisch sind die Gefahren dieser Emotionen auf zweierlei Weise umgesetzt. Zum einen wirkt Sanders Sorge um Zemire gegen Ende des Werkes retardierend, ja sie droht, den guten Ausgang zu verhindern. Zum anderen ist mit der komischen Figur des Ali bereits in den ersten Szenen und dann immer wieder bis zur Mitte des Singspiels die Feigheit Alis Thema. Am Beispiel dieser Figur wird den Rezipient:innen auf unterhaltende Weise und mit komischer Distanz vorgeführt, wie Angst eine Figur nur noch ihren eigenen Vorteil sehen lässt und zu passiv-reaktivem beziehungsweise vermeidendem Verhalten und Flucht führt. Unterbrochen wird der beständige Wechsel von komischen und ernsten Emotionen, von bedrohlichen und empfindsamen Situationen durch Gesangsnummern, in denen die Handlung stillsteht und die nicht selten als Tableaus im Sinne Diderots gestaltet sind und die vorwiegend der Darstellung von Liebe, von Sehnsucht und von Hoffnung dienen. Die Musiknummern Grétrys bilden die Emotionen und ihren abrupten Wechsel besonders deutlich ab. Die Zeitgenossen bewunderten Grétrys Umsetzung diesbezüglich sehr. Einen herausragenden Eindruck machte diejenige Szene, in denen Azor Zemire ihre Familie in einem Spiegel erscheinen lässt. Die melodische Gestaltung, die Begleitung durch Blasinstrumente, der Come-da-lontano-Effekt, der Wechsel von Sprache und Musik und die Trennung von Vorder- und Hinterbühne sprechen die Rezipient:innen in dieser Szene über mehrere Sinneskanäle emotional an. Es wäre wünschenswert, in Zukunft sowohl die Affektdramaturgie und empfindsame Semantik in allen Werken der Sammlung der Komischen Operetten gemeinsam als auch die Erfolgsbedingungen von Zémire et Azor vergleichend für mehrere Länder zu untersuchen.85 85 Die

Ergebnisse von Schneider zum Übersetzungsvergleich wären dafür dramaturgisch, dramen- und theaterhistorisch weiter einzubetten, vgl. insbes. Schneider, Zur Problematik der Opéras-comiques-Übersetzungen (wie Anm. 65); ders., Übersetzung von Grétry-Opern durch Johann Heinrich Faber für Marchands Churpfälzische teutsche Schaubühne, in: Gottfried R. Marschall (Hg.), La traduction des livrets. Aspects théoriques, historiques et pragmatiques, Paris 2004, 143 – 199.



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Im vorliegenden Beitrag wird Marmontels und Grétrys Opéra comique Zémire et Azor (1771), eines der erfolgreichsten Werke auf den deutschsprachigen Bühnen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts hinsichtlich der Sprache des moralischen Empfindens und der Affektdramaturgie untersucht. Die Geschichte Azors, der für seine übertriebene Ei­ telkeit mit einem bedrohlich tierhaften Äußeren bestraft wurde, aber ein gutes und mit­ leidiges Herz hat und Zemires, die ihrem inneren Wertekompass konsequent folgt und so zuerst den Vater, dann Azor das Leben rettet, wird mit starken emotionalen Kontrasten und mehreren moralischen Dilemmata dramatisiert. Alle positiven Wendungen wer­ den durch Mitleid und Liebe erreicht. Untersucht werden schwerpunktmäßig Sprache und Dramaturgie, in der verbreitetsten deutschsprachigen Übersetzung, aber auch die Musik und die bühnentechnische Umsetzung werden berücksichtigt. Die Analyse wird gerahmt von einer Rekonstruktion der französischen Positionen zur Empfindsamkeit in der Opéra comique im Anschluss an die Poetologie Diderots. Der Aufsatz versteht sich als Beitrag zu einer Geschichte der Rührung im deutschsprachigen Drama und Singspiel, die um Untersuchungen der präsentesten und wirkmächtigsten dramatischen Übersetzungen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zu ergänzen sein wird. This paper examines Marmontel’s and Grétry’s Opéra comique Zemire et Azor (1771) – one of the most successful works on German-language stages in the last third of the 18th century – with regard to the language of moral sentiment and affective dramaturgy. The story of Azor, a character punished for his excessive vanity with a threatening ani­ mal-like exterior but still possessing a good and compassionate heart, and Zemire, who consistently follows her inner compass of values and thus saves first her father, then Azor’s life, is dramatized with strong emotional contrasts and several moral dilemmas. All positive twists in the plot are achieved through actions based on compassion and love. This study focuses mainly on the language and dramaturgy of the most common German-language translation but also takes into account the music and stage realiza­ tion. The analysis is framed by a reconstruction of French positions on sensibility in the Opéra comique following Diderot’s poetology. The article is intended as a contri­ bution to the history of emotions in German-language drama and Singspiel which may to be supplemented by investigations of the most successful and influential dramatic translations in the last third of the 18th century. PD Dr. Katrin Dennerlein, Universität Würzburg, Institut für Deutsche Philologie, Am Hubland, 97074 Würzburg, E-Mail: [email protected]

Herbert Schneider Bernhard Anselm Webers Singspiel Die Wette Beispiel eines französisch-deutschen Kulturtransfers

Bernhard Anselm Webers dezidiert verächtliche Meinung von 1789, die komische Oper sei ein „Mischmasch von heroischen, von niedrig comischen Characteren und lächerlichen Handlungen“ und dass nur die ernste Oper eine Berechtigung habe, hatte er gewiss aufgegeben, als er 1804 sein Singspiel Die Wette komponierte, die am 21. Januar 1805 im Königlichen Nationaltheater in Berlin uraufgeführt wurde. Das anonyme Libretto basiert auf Antoine Le Blanc de Guillets (1730 – 1799) und Pierre Gaveaux’ Un quart d’heure de silence, eine einaktige Opéra-comique, die am 1. Juni 1804 im Théâtre Feydeau ihre Uraufführung hatte.1 Die Partitur erschien 1804 im Verlag der Brüder Gaveaux.2 Guillet war mit dreizehn Stücken für das Theater hervorgetreten,3 die von der Tragödie über die Comédie héroïque bis zum Melodram und zum Fait historique reichen. Gaveaux gehörte der Truppe des Théâtre Feydeau als Sänger und als Komponist an. Dieses Theater, das besonders von der Aristokratie frequentiert wurde, hatte zu den Zielen der Revolution eine kritische Haltung eingenommen, sodass es bei der politischen Führung vor Ende der Terreur den Ruf eines antirevolutionären Zirkels einnahm,4 auf dessen Bühne besonders „drames héroïques“ gespielt wurden.5 1 In

Alfred Loewenbergs Annals of Opera 1597‒1940, Genf 1955, Bd. 1, Sp. 581 sind Aufführungen seit dem 5. Januar 1805 in Brüssel, in Madrid (spanisch von F. Enciso Castrillón, 30. Mai 1806), in Russisch in der Übersetzung von S. N. Glinka am 31. Dezember 1807 in Moskau, am 13. Dezember 1824 in St. Petersburg, in polnischer Übersetzung von K. Brodzinski 1817 in Warschau, in Schwedisch, übersetzt von J. B. Struwe, am 21. März in Stockholm genannt. 2 Un Quart-d’heure de Silence, Opéra comique en un Acte, Proles de Mr. P. Guillet. Représenté pour la Première Fois sur le Théâtre Nationale [sic] de l’Opéra Comique, le Prairial An 12 (1804), dédié à Madame St. Aubin, artiste du Théâtre de l’Opéra Comique par son Camarade P. Gaveaux, Auteur de la musique, œuvre XXI, Paris, chez les frères Gaveaux 1804. 3 Notice sur Antoine Leblanc, s.n., s.l., s.a., Bibliothèque nationale de France, Paris, Signatur 27 Ln 35103. 4 Jean Mongrédien, La Musique en France des Lumières au Romantisme (1789 – 1830), Paris 1986, 91. 5 So die Charakterisierung durch Castil-Blaze, zitiert nach ebd., 92.

Aufklärung 34 · © Felix Meiner Verlag 2022 · ISSN 0178-7128

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In seinem Einakter Un quart d’heure de silence trat Pierre Gaveaux nicht als Sänger-Schauspieler auf wie etwa in seiner Léonore.6 Es handelt sich nicht um ein besonders erfolgreiches Werk, das auch in der Literatur keine Beachtung fand. Von Gaveaux’ zahlreichen Bühnenwerken wurden fünf in deutscher Übersetzung, davon drei übersetzt von Karl Alexander Herklotz,7 und in der Originalsprache zwei in Köln und drei in Hamburg gespielt.8 Anlässlich der Aufführung von Un quart d’heure de silence im französischen Theater in Hamburg (im Januar 1805),9 wo es nur wenig Beifall erhielt, wird ihre Musik als „ohne Bedeutung“ bezeichnet.10 Über die Musik des Petit Matelot Gaveaux’ schreibt der Rezensent Julien-Louis Geoffroy: „Gaveaux a le mérite d’être simple et de composer de jolis airs“,11 und ähnlich zu jener des M. des Chalumeaux, „simple, facile, légère et très-bien adaptée au sujet“,12 Charakterisierungen, die für Gaveaux’ Opéras comiques allgemeine Zustimmung fanden. Sein heute noch bekanntes Werk, Léonore ou l’amour conjugal (1798), wurde in der Transformation und Vertonung von Ferdinando Paër und Beethoven in Deutschland bekannt. Der kleine Matrose war bis nach 1850 in Deutschland heimisch. Weber unternahm 1804 zusammen mit August Friedrich Ferdinand Kotzebue eine Reise nach Paris. Es liegt nahe, dass beide Un quart d’heure de silence im Théâtre Feydeau gesehen haben und sie Aufführungsstil und Starsänger wie Solié und besonders Jeanne Saint-Aubin studieren konnten.13 In Paris entstand der Plan für eine französische Oper, La Fille de Charlemagne, die offenbar nicht vollendet wurde, und vermutlich auch bereits die Idee, eine deutsche Adaptation 6 Die

Interpreten des Werkes in Paris waren Jean-Pierre Solié (Dubreuil), Jean-BaptisteSauveur Gavaudan (Florincourt), Simon Chénard (Frontin), Jeanne Saint-Aubin (Alexandrine), Alexandrine-Marie-Agathe Gavaudan-Ducamel (Florine) Mme Gonthier (Mme Soufflot). 7 Albert premier ou Adeline/Albert der Erste oder Adeline, 1772/1775 (Johann Christoph Kaffka, ein historisches Drama), L’Amour filial/Kindliche Liebe 1792/Berlin 1796 (Herklots); Le Petit Matelot/Der kleine Matrose 1796/Berlin 1797 (Herklots); Monsieur Deschalumeau ou La soirée de carnaval/Herr von Schalmey 1806/1814 (anonym); L’Enfant prodigue/Der verlorene Sohn 1811/Berlin 1813 (Herklots). 8 Vgl. Loewenberg, Annals of Opera (wie Anm. 1), dort sind die Einträge bezüglich der im französischen Theater in Hamburg gespielten Opern und des gesamten musiktheatralischen Schaffens von Gaveaux unvollständig. 9 Herbert Schneider, Das Repertoire des französischen Theaters und Beispiele von Übersetzungen französischer Opern für das deutsche Theater in Hamburg, in: Bernhard Jahn, Claudia Maurer Zenck (Hg.), Bühne und Bürgertum. Das Hamburgische Stadttheater (1770‒1850), Frankfurt am Main 2016 (Hamburger Beiträge zur Germanistik 56), 251. In diesem Theater wurden sechs Opern von Gaveaux aufgeführt. 10 Ebd., 251. Im französischen Theater in Hamburg wurden sechs Opern von Gaveaux in der Originalsprache aufgeführt. 11 Julien-Louis Geoffroy, Cours de littérature dramatique, Paris 21825, Bd. 5, 407. 12 Ebd., 411. 13 Karim Hassan, Bernhard Anselm Weber (1764 – 1821). Ein Musiker für das Theater, Frankfurt am Main u. a. 1997 (Europäische Hochschulschriften, Reihe XXXVI 172), 299.



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von Un quart d’heure de silence zu schaffen.14 Dass das anonyme Libretto der Wette von Kotzebue aus dem Französischen übertragen wurde, erscheint im Bereich des Möglichen. In Webers Singspiel in einem Aufzug Die Wette wurden die Rollen bei der Premiere in Berlin am 21. Januar 1805 – also nur sieben Monate nach der Opéracomique von Gaveaux in Paris – von namhaften Sängerinnen und Sängern aufgeführt, wie dem Druck der gesungenen Nummern, Arien und Gesänge aus dem Singspiel in einem Akt: Die Wette, zu entnehmen ist:15 Debreuil (anstelle von Dubreuil bei Guillet) von Johann Georg Gern (Bass, 1757 – 1830); seine Tochter Alexandrine von Friederike Bethmann-Unzelmann (Schauspielerin und Sopran, 1760 – 1815); Floricourt, sein Neffe, von Friedrich Jonas Beschort (Tenor, 1767 – 1846); Frontin, sein Kammerdiener, von Karl Wilhelm Unzelmann (Tenor, 1753 – 1832); Florine, Kammerjungfer und Freundin Alexandrines, von Willich;16 Madame Sufflot, Modehändlerin, von Weber; ein Bedienter von Carl Ernst Eberhard Benda (Schauspieler und Sänger, 1764 – 1824). Die Hamburger Aufführungen (Premiere am 17. Juni 1808) fanden unter dem übersetzten Titel der Opéra comique von Guillet und Gaveaux statt, wie der Druck der Gesangstexte zeigt: Gesänge aus der Oper: Nur eine Viertelstunde geschwiegen! in einem Acte.17 Die Änderung des Titels von der Wette in Berlin zu Nur eine Viertelstunde geschwiegen in Hamburg ist damit zu erklären, dass das französische Theater Un quart d’heure de silence bereits 1805 aufgeführt hatte. I. Die Funktion der „comischen Oper“ nach Weber Die mit vielen anderen Zeugnissen in Widerspruch stehende Auffassung über die Musik des Singspiels äußert Weber in einem 1789 erschienen Artikel, in dem er den Begriff „comische Oper“ für das Singspiel komischen Inhalts verwendet. 14 Ebd.,

320. Zwei Chöre der Oper sind erhalten. Die Wette. Nach dem Französischen: Un quart d’heure de silence. Die Musik ist vom Herrn Kapellmeister Weber, Berlin 1805. 16 Ebenso wie bei der Sängerin Gonthier findet sich kein Eintrag in K. J. Kutsch, Leo Riemens, Großes Sängerlexikon, Bern, München 31997. Die Sängerin Weber konnte nicht identifiziert werden. 17 Gesänge aus der Oper: Nur eine Viertelstunde geschwiegen! in einem Acte. Die Musik ist von B. A. Weber Königlich Preußischer Capellmeister, Hamburg gedruckt bey Friedrich Hermann Nestler. Die in Berlin und in Hamburg erschienenen Drucke der gesungenen Texte stimmen vollkommen überein. In Loewenbergs Annals of Opera (wie Anm. 1) sind auch Aufführungen 1812 in München und am 8. April 1815 in Prag in deutscher Sprache genannt (Sp. 548). Das Exemplar des Drucks der Gesänge, Hamburg, Nestler, der Bayerischen Staatsbibliothek in München, Slg Her 1229, trägt den Eintrag der Bibliothek „ca. 1810“; wenn die Aufführungen in Hamburg 1808 stattfanden, dann wäre der Eintrag in ca. 1808 zu korrigieren. 15

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Unsere comische Oper ist gar nicht mit dem Namen wahrer Music zu benennen, viel weniger, wenn sie auch noch so viel Genie zeigt, Kunstwerken von ernsthaftem Innhalte [sic] an die Seite zu setzen; Denn der Gegenstand dieser Art von Music ist weder, das Herz zu rühren, noch die Seele zu erheben. Sie schildert uns nichts, oder sollte uns vielmehr nichts schildern, als das Thörichte und Comische der da handeln sollenden Personen, ihr Endzweck ist also, daß wie [sic] lachen sollen. Um nun recht lachen zu können, muß der Tonsetzer öfters wegen Vielheit der Worte, oder wegen des Ausdrucks, auf Kosten der Harmonie und des Rhythmus sündigen, muß auf Nebenwege denken, die die Einheit des Ganzen zerstöhren.18

Weber sieht als ihr Eigen an: zu „wenig Empfindung“, „meistens sittenlosen Unsinn“ in der Handlung, vom Komponisten eher zu verlangen, zu „dialogisieren, als leidenschaftlich zu singen“ und die Worte „äusserst populär herabsagen zu lassen“.19 Wenn der Komponist nicht über Paisiellos „Erfinder=Geist“ verfüge, „so wird es am Ende wahrhaft langweilig, eckelhaft.“20 Die Akteure sind „niedriggewählte“ Menschen, die nicht in der Lage sind, einen „so hohen Grad leidenschaftlichen Gefühls“ auszudrücken und damit zu erhabenen Gedanken zu finden, was den Zuschauer ins „Reich der Phantasie“21 entführt und den Geist nährt. Der Charakterisierung der komischen Oper – ein „Mischmasch von heroischen, von niedrig comischen Characteren und lächerlichen Handlungen“, deren Musik meistens aus „cantablen Arien“ besteht, die ohne Zusammenhang, ohne Uebereinstimmung mit unserm Gefühle […] hier eingemengt und eingeimpft sind“22 – liegen klare ästhetische Vorstellungen zugrunde. Die Gesänge sollen sich aus der Handlung zwingend ergeben. Die Personen, „fade, unwissende Gecken“, „tandelnswerthe und fehlervolle Geschöpfe“ oder „blödsinnige Narren“,23 singen, um durch Töne „auffallender närrisch“ zu sein. Das heißt: Die musikalische Charakterisierung niederer Personen kann nach Webers Auffassung nur negativ sein. Für ihn ist als Zuhörer allein die „für Schönheit und Natur empfänglich Seele“ legitim, nicht aber die „gewöhnlichen Geschöpfe, die gemeinen Alltags=Menschen“.24 Weber hat damit eine eindeutig elitäre Vorstellung vom Publikum und scheint den erzieherischen Wert des komischen Musiktheaters auszuschließen. Er sieht jedoch auch unter den höheren Ständen Personen, die „wegen inneren Armuth, wegen Seelen=Unempfindlichkeit, wegen gewöhnter Unthätigkeit, immer das begehren, […] was sie ja nie über ihre Sphäre erhebt.“25 18

Auszug eines Briefes aus Bonn, gezeichnet „W.“, Fortsetzung des im 16ten Stücke abgebrochenen Aufsatzes, in: Dramaturgische Blätter von A. Freyherr von Knigge, Zweytes Vierteljahr, Januar, Februar und Merz 1789 (Hannover), 257‒268, hier 257. 19 Ebd., 258. 20 Ebd. 21 Alle Zitate ebd. 22 Ebd., 259. 23 Alle zitierten Begriffe ebd., 260. 24 Ebd., 261. 25 Ebd., 262.



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Paisiello, dessen Genialität in der Darstellung der Komik Weber lobt, ist zugleich der Verführer, der die Zuschauer von der wahren Bestimmung der Kunst, die „Aufmerksamkeit der Seele, Offenheit, Bestimmtheit, und Empfänglichkeit“26 zu fördern, abbringt. Weber räumt dann ein, dass Komponisten Musik für komische Opern schreiben, die hinreißend ist, indem sie „die comischen, Natur und Menschen wiedrigen Handlungen“27 verbirgt, damit aber ihre wahre Bestimmung zu rühren verleugnet. Auch das gebildete Publikum wolle amüsiert und unterhalten werden, „nicht immer empfinden, weinen, und gerührt seyn“.28 Dafür schlägt Weber vor, das komische Genre auf das Intermezzo zu beschränken, „Possen, ohne Anspruch auf etwas Besseres“.29 Ganz abstrus ist sein Vorschlag, die Obrigkeit solle den Theaterautoren verordnen, „das erste Natur=Werk, den Menschen und sein Herz besser studieren und kennen lernen, und das erste, größte Geschenk des Schöpfers, Gefühl und Empfindung nicht zu misbrauchen, nicht zu entehren.“30 Den Menschen den Spiegel vorzuhalten hält er unter der Voraussetzung für legitim, „daß wir uns als Bessre nie selbst darin erblicken.“31 Die wahre Bestimmung der Kunst sei aber „durch Handlung, Gesang, Malerey und Tanz unsre Seele zu erquicken, und unsern Sinnen zu schmeicheln!“32 Schließlich bringt er noch die Nation ins Spiel: „die ernsthaften Oper[n] sollen edle Geistes=Producte unsere eigenen vaterländischen Tonkünstler [sein], wo ächte deutsche Wahrheit, Kraft, Ausdruck, und wahrer Schwung von Genie mit himmlischem Gesange sich vereinigen.“33 II. Vergleich der Libretti34 Die Beschreibung des Spielortes – Salon mit Kamin, „Nutzuhr“, zwei Tischen, der eine mit „Schreibzeug“, einer kleinen Tür und Fenster mit zugezogenen Gardinen – stimmt genau überein, Ausnahme ist der fehlende Spie26 Ebd.

27 Ebd., 28 Ebd. 29 Ebd.

30 Ebd.,

264.

265. Ebd., 266. 32 Ebd., 267. 33 Ebd. 34 Dem Vergleich liegt der Partiturdruck Gaveaux’, der, wie in der Opéra comique zu dieser Zeit üblich, den gesprochenen Text enthält, und das handschriftliche Libretto zugrunde: Die Wette, Singspiel in Einem Act; nach dem Französischen: Un quart d’heure de Silence. In Musik gesetzt von Bernhard Anselm Weber, Königl: Preußischer Kapellmeister und Ritter des eisernen Kreuzes (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung, Signatur Mus. ms. TO 122,1). 31

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gel.35 In der ersten Szene mit Florine alleine spricht sie über die Treulosigkeit der Männer und die „schmetterlingsartige“ (das Bild fehlt bei Guillet) Unbeständigkeit der Liebe, den Eigen- und Leichtsinn der Frauen und über den „baufälligen Harnisch“ der Moral, wenn der Liebespfeil den Menschen trifft. Florine deutet in ihrer nur bei Weber vorhandenen Bemerkung an, der Vater Alexandrines, mit dem sie gerade spreche, könne ruhig „poltern“, denn Alexandrine werde sich mit der Absicht durchsetzen, Floricourt zu heiraten. Der Text ihrer Couplets „Es ist die alte Sage“ ist auch auf die Couplets von Gaveaux zu singen (nur eine männliche muss in eine weibliche Kadenz geändert werden, vgl. Abbildung 1).

In der zweiten Szene wird das Charakterbild Alexandrines gezeichnet: ihre Unabhängigkeit, ihr Durchsetzungsvermögen, ihr Mut, dem geliebten Vater auch die Konsequenz für sein Verhalten in der Öffentlichkeit zu präsentieren, und ihre sprachliche Gewandtheit.36 Ein Element der kulturellen Anpassung an Deutschland besteht darin, die zehn Contredanses, die Alexandrine während eines Fests mit Floricourt getanzt hat, durch zehn Ecossaisen zu ersetzen, also durch einen Tanz, der zur Zeit der Aufführung der Wette in Deutschland in Mode war. Abgesehen von der Auslassung weniger Einwürfe sind die Szenen 2 und 3 einschließlich der meisten Didaskalien gleich. Übersetzungsfreiheiten bzw. Akzentverschiebungen wie „jeune fou / junger Taugenichts“, „don de la parole / geläufigsten Züngelchen“ oder „avec une éloquence / mit einer Gelehrsamkeit“ fehlen dabei nicht. Hier wird bereits das Motiv eingeführt, dass der Vater über die Hochzeit der Tochter mit ihrem Vetter Floricourt und sogar über die der Kammerjungfer Florine mit dem Kammerdiener Frontin entscheidet. Debreuil ermahnt Alexandrine und Florine, der wichtigste Schritt im Leben sei die Verheiratung. Inhaltlich ergibt der Vergleich des Terzetts Nr. 2 Varianten, aber keine erheblichen Differenzen. Die dritte Szene zwischen Alexandrine und Florine dient zur Selbstcharakterisierung Alexandrines:

35 In

Szene 4 tritt Alexandrine allerdings vor den Spiegel. „volubilité“ (Zungenfertigkeit) wird schlicht durch „schnell“ ersetzt. In Szene 3 „vivacité et volubilité progressive/lebhaft geschmeidig und immer schneller“. 36 Die



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qui ne je suis femme, j’ai un caractère qui ne varie point, je réfléchis, je danse, je raisonne, je chante, je boude, je ris, je parle de tout, je ne doute de rien, je juge de sang-froid, je ne consulte personne, je ne saurais me tromper, d’où je conclus que sous huit jours, je serai mariée à mon cousin! ... Mais je ferai plus.

ich bin Weib; ich habe einen unveränderlich festen Charakter. Ich überlege alles wenn ich zu singen scheine, spreche darüber wenn ich tanze; maule mit diesem, lache mit Jenem; ich zweifle an Nichts; urtheile mit dem kältesten Blute; berathe mich mit Niemand; thue Alles selbst, und muß daher nothwendigerweise schließen, daß ich, eh’ acht Tage vergehen, verheiratet seÿn muß. Aber ich werde mehr als das thun.

Der einzige fehlende Gedanke ist: „ich könnte nicht irren“. Florines Bitte, sie in ihrem Wunsch, Frontin zu heiraten, zu unterstützen, entgegnet sie unter anderem mit einer Art proverbialen Mitteilung, warum denn die vernünftigen Leute so „entsetzlich langweilig“ sind. Wie nah die Übersetzung der Couplets Nr. 3 an den Couplets Alexandrines orientiert sind, zeigt wiederum, dass diese auf die Musik Gaveaux’ exakt zu singen sind. Dabei ist auch das kleine Melisma auf „jeu-nes-se / den Früh-ling“ semantisch angemessen. Danach gibt Florine zu bedenken, dass Debreuil der Hochzeit Alexandrines niemals zustimmen wird, wenn Floricourt zukünftig die Provinz verlassen und in Paris leben will. Damit steht für den deutschen Zuschauer fest, dass die Handlung in Frankreich spielt und der Übersetzer keine Anpassung der Handlung an die deutsche Kultur beabsichtigt hat. Alexandrines Selbsterkenntnis und Lebensweisheit kommt danach zum Ausdruck: mon cousin est sans contredit une tête légère, un jeune fou; mais si mon père me reproche quelquefois la même étourderie, tu dois t’appercevoir qu’il se réjouit en secret de cette vivacité de caractère qui prévient ses moindres désirs, de l’ordre admirable qui règne dans l’intérieur de son ménage, de la profondeur de mes idées, de la sagesse de mes réflexions sur la revue des modes, la danse, les concerts, les romans, les pièces nouvelles, les énigmes, les charades, les boutsrimes et tout ce qui constitue essentiellement le mérite des femmes, en poésie, littérature, musique et morale. […] Il y aura des roses et quelques épines. Que veux-tu mon enfant? tout se compense dans la vie; mais l’exemple du sage, il faut savoir prendre le tems comme il vient.

Mein Cousin, ich muss es selbst gestehen, ist leichtsinnig, flatterhaft, jung und unbesonnen; aber wenn mich mein Vater auch zuweilen derselben Fehler beschuldigt, so wirst du doch auch bemerkt haben, daß er sich im geheim über jene Lebhaftigkeit meines Geistes freut, die seinen leisesten Wünschen zuvorkömmt, sich freut, über die Ordnung die in der Wirtschaft herrscht, sich freut über die Tiefe meines Verstandes, über die Weisheit meiner Bemerkungen, in Rücksicht der Moden, des Tanzes, der Musik, der neuen Romane, neuen Schauspiele, neuen Räthsel, neuen Poesien, neuen Menschen; kurz daß ich alle Vollkommenheiten besitze, die nur ein Weib in musikalischer, poetischer, litterarischer und moralischer Hinsicht besetzen kann. […] Wir werden Rosen finden und hin und wieder auch Dornen. Was ist zu thun, mein Kind. Alles gleicht sich aus in der Welt, die Zeit kommt, die Zeit geht.

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Die Auslassung von „bouts-rimés“ ist deshalb notwendig, weil das beliebte französische Gesellschaftsspiel, bei dem Reime vorgegeben waren, zu denen Verse zu improvisieren waren, in Deutschland unbekannt war und dafür auch kein deutsches Wort zur Verfügung stand. Alexandrine manifestiert ihre Eitelkeit und ihre Raffinesse in Szene 4 mit Frontin, als sie noch im Negligé die Ankunft ihres Geliebten befürchtet und Frontin beauftragt, in Abwesenheit ihres Vaters die Lieferanten zu bestellen, die ihr die neuesten Modeausstattung für den Ball beim Präfekten liefern sollen, besonders Madame Süfflot, die Modehändlerin. Dem hereintretenden Floricourt bescheinigt sie Unbescheidenheit anstelle der „indiscrétion“ bei Guillet. Belustigt reagiert Alexandrine auf Floricourts Bericht, er habe, ohne sie einzuweihen, eilig und in seiner bekannten Unbesonnenheit beim Notar den Ehevertrag für die Hochzeit am nächsten Tag in Auftrag gegeben. Als Floricourt ihre Blässe erwähnt, sucht sie den Grund in ihrem „abscheulichen Hut“ und kritisiert sein frühes Erscheinen. Der Komik dient auch Floricourts lästernde, an Florine gerichtete Bemerkung über den „maraud“ (unglücklichen) Frontin, die sie unbeeindruckt pariert, dieser bete sie an. Floricourts einsam gefällte Entscheidungen – er hat seine Dienerschaft und Arbeiter entlassen, seine Gläubiger herbeizitiert, seine Pferde zugunsten englischer Pferde, „durchsichtig wie Kristall, prächtige Renner“, verkauft, seine „meubles“ veräußert und beschlossen, den Winter über in Paris ein offenes Haus in Luxus zu führen – kommentiert Alexandrine lakonisch als „herrlichen Weisheitsplan“, dessen Erfolg sie gerne garantiert hätte. Dem A-Teil der Arie Floricourts, „Weisheit, goldne Himmelsgabe“, entspricht inhaltlich – das Lob der Weisheit und das Eigenlob, nun endlich weise zu sein – dem Refrain der Polonaise Gaveaux’. Von deren erstem Couplet sind nur die ersten Verse mit dem B-Teil der Arie vergleichbar, im zweiten Teil folgt darauf eine Projektion des Lebens in Paris, also ein verschiedener Inhalt, und dann die Fortsetzung der Vorstellung des Lebens in Paris unter anderem mit dem Abonnement einer Opernloge im zweiten Couplet, die bei Guillet und Geveaux fehlen. Damit belassen sie es bei der bloßen Absichtserklärung der Übersiedlung Floricourts nach Paris. Die neunte Szene beginnt mit Floricourts an Debreuil gerichteter Bitte um die Hand Alexandrines, ergänzt um seinen Entschluss, Alexandrine bereits am nächsten Tag zu ehelichen. Dies bildet den Ausgangspunkt für einen Austausch von vorgegebenen Freundlichkeiten, denen Debreuil mit der Weigerung, der Hochzeit am nächsten Tag zuzustimmen, ein Ende setzt, weil Floricourt ein Taugenichts („étourdi“, unbesonnen) sei. Floricourt behauptet seine Bekehrung zu klugem Verhalten und skizziert sein neues Leben nach der Heirat:



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La solitude est l’asyle de la sagesse, je quitte la campagne pour m’aller fixer à Paris. Les caprices et l’étourderie ruinent la jeunesse; je reunirai chez moi tous les agremens de la vie, pour n’en point chercher ailleurs. Les vrais amis sont rares, difficiles à trouver; je tiendrai table ouverte, pour jouir de leur présence régulièrement ... A l’heure du dîner. Je ne joue plus, je pense solidement, je n’aime qu’une femme.

Einsamkeit ist der Zufluchtsort der Weisheit, die Meinige hat keinen Freistatt mehr nöthig, ich verlasse das Land und ziehe nach Paris. Eigensinn und Unbesonnenheit richten die Jugend zu Grunde, ich werde so besonnen seÿn, und mein eig’nes Hus zu jedem Lebensgenuß einrichten, um so eingezogen leben zu können. Wahre Freunde sind selten und schwer zu finden, ich werde mich als ein Weiser mit falschen begnügen, nemlich immer ofne Tafel halten. Ich spiele nicht mehr, ich trinke was Recht ist, ich liebe nur eine Frau.

Gegenüber Debreuil wird nun auch bei Weber die Paris-Illusion Floricourts dargelegt, wobei Debreuil ihm ironisch vorausnimmt, welche vollkommene Persönlichkeit er nun sei, um ihm seine mangelnde Bescheidenheit vorzuwerfen, die Floricourt als Los der Mittelmäßigkeit kommentiert. In dem Augenblick, als Floricourt aufbrechen will, um zum Notar zu eilen, inszeniert Debreuil sein taktisches Spiel, indem er Floricourt ins Bild setzt, dass er Alexandrines Zustimmung zu dessen Hochzeitsabsicht und zu dessen Plänen einzuholen beabsichtig. Die Szene ist eine annähernd exakte Übersetzung des Originals von Guillet. Das dramatisch wenig überzeugende Duett am Ende der neunten Szene, in dem sich Floricourt voller Vorfreude auf die Hochzeit zeigt, während Debreuil ihn mahnt, keine Untreue zu begehen, entfällt bei Weber. Die zehnte Szene ist abweichend von Guillet gestaltet. Der Monolog Debreuils wird durch ein Cantabile unterbrochen. Im ersten Teil zeigt er sich nicht einverstanden mit dem schlechten Ruf, der Floricourt in der Öffentlichkeit vorausgeht; er vertraut auf ihn als zukünftigen Schwiegersohn, will ihn an sich binden und seine Güter verwalten.37 Als Ankündigung des Cantabile-Beginns wünscht er sich sehnlichst das Glück seiner Kinder. Sein Cantabile, „Kinder, ihr seid meine Wonne“, ist neben dem Duett Floricourts und Frontins der emotionale Höhepunkt des Singspiels, in dem der Vater sein „höchstes Glück“ über seine Tochter und ihren Bewerber Floricourt zum Ausdruck bringt, voller Wehmut seiner Jugend und Liebe gedenkt und sein Ende nahen sieht. Die Fortsetzung im Dialog greift den zweiten Teil des Monologs der Szene 10 von Guillet auf. Debreuil will Alexandrine in seinen Plan einweihen, Floricourt von dem Entschluss abzubringen, nach Paris überzusiedeln, und damit ihrer eigenen Vorstellung von ihrer Zukunft zum Erfolg zu verhelfen. Die elfte Szene mit Debreuil, Alexandrine und Florine bei Weber stimmt wieder mit jener Guillets und Gaveaux’ überein. Debreuil spielt aus strategischen 37 Die

Meinung Debreuils, ein Junggeselle könne sich leicht ruinieren, er sei schlechten Ratschlägen leicht zugänglich und ihm gingen unwiderruflich die gute Eigenschaft der Herzensbildung verloren, fehlt in Webers Singspiel.

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Überlegungen den Zorn auf Floricourt vor. Davon ist Florine eingeschüchtert, während Alexandrine die vorgegebenen Argumente des Vaters gegen Floricourt pariert. Alexandrine empfindet sogar Paris als attraktiven Wohnort, geht aber davon aus, dass ihr Vater auch für die Hälfte des Jahres dorthin übersiedelt. Als er dies wegen seines Alters ablehnt, wird Alexandrine bewusst, wie sehr sie an dem Leben im Haus des Vaters hängt, und versichert ihm, es nie zu verlassen. Danach kommen Tugenden zur Sprache, die von Frauen erwartet werden. Sie verteidigt sich vehement gegen den Vorwurf, wegen ihrer und Floricourts Unbesonnenheit sei ihre Heirat zum jetzigen Zeitpunkt ein Fehler. Sie betont ihre „Solidität“ (dagegen bei Guillet, „Je suis assez raisonnable pour être mise en ménage“, vernünftig genug, um einen Haushalt zu führen) im Vergleich zu jüngeren Freundinnen, die bereits verheiratet sind. Debreuil wirft ihr vor, sie sei „nicht ökonomisch“ (bei Guillet schreibt Debreuil alle genannten Tugenden seiner verstorbenen Frau zu, die mit 16 Jahren sehr sparsam, diskret, tugendhaft war), worauf Alexandrine erwidert, sie kaufe nur, was sie „zum notdürftigsten Anzug gebrauche“ („pour ma toilette“), fordert aber Florine auf, die „bonnets“, für die sie eine große Schwäche hat, verschwinden zu lassen. Den Vorwurf, sie spreche zu viel, weist sie mit dem Argument zurück, sie tue es, wenn es unumgänglich nötig sei, wenn sie die ihr anvertrauten Geschäfte erledige und bietet dann eine Wette an, um zu beweisen, dass sie schweigen kann. Debreuil greift die Idee auf und bietet an, wenn sie eine Viertelstunde schweige, nicht schreibe und durch Gesten keinerlei Informationen vermittele, dann werde er die Erlaubnis zur sofortigen Heirat geben. Alexandrine bezieht Florine in die Wette mit ein – diese zu verlieren bedeutet für Alexandrine, lebenslänglich ledig zu bleiben, ein Gedanke, den Debreuil ebenfalls für unerträglich hält. Er sieht die Probe insgeheim für die von ihm arrangierte Konfrontation der beiden mit Florentin und Frontin während der Zeit des Schweigens vor und bestellt beide für die Zeit zwischen 12.45 und 13.00 Uhr, unterrichtet aber die Frauen, die Wette gelte auch für die Anwesenheit Floricourts und Frontins. Die Unterschiede zwischen dem Duett Gaveaux’ und Webers sind nicht nur musikalischer (hier Da-capo-Form, dort Rondeau), sondern auch inhaltlicher Art und in Bezug auf die Affekte: Bei Guillet sind die Frauen voller Hoffnung und Erwartung ihres Glücks, erfüllt von der Vorfreude auf das Hochzeitfest und von zärtlichen Gefühlen für ihre Geliebten. Bei Weber malen sich die beiden das Fest mit Musik, Tanz, vielen Gästen, dem „Hochzeitsschmaus“, Glück und Seligkeit aus. Alexandrine bekundet entschieden ihre emanzipatorische Absicht, als Königin über den Mann zu herrschen, Florentine ergänzt, die Männer müssten um alles bitten. Szene 16, in der Alexandrine Fragmente eines Briefes von Floricourt liest, in dem er einen Rivalen vermutet, fehlt bei Weber. Frontin beschwert sich in der folgenden Szene über seine Arbeitsüberlastung, die bei Weber als „Handwerk für den ewigen Juden“ bezeichnet wird, und berichtet vor Alexandrine, welche



Bernhard Anselm Webers Singspiel Die Wette 153

Hindernisse bei den verschiedenen Lieferanten im Wege stehen, alle Aufträge für den Ball bzw. die Hochzeit zu erfüllen. Der Besuch der Modehändlerin Madame Süfflot bei Alexandrine, Florine und Frontin ist mit Witz, einem lebhaften szenischem Spiel, mit Details über Mode, ihre Herstellung, Verbreitung und Propagierung in Szene gesetzt.38 Nachdem Madame Süfflot zunächst die Einkleidung für einen Ball vorgesehen hat, beginnt das Spiel neu, als Frontin den richtigen Sachverhalt verkennend einwirft, bei den bisher präsentierten Accessoires handle es sich wohl um solche für eine Hochzeit. Dabei erfährt der Zuschauer Neues über Eigenschaften und Abneigungen Alexandrines, ihre versteckte Suche nach Zustimmung zu den oder Ablehnung der präsentierten Stücke und nimmt die wechselnde Verkaufsstrategie der übereifrigen Madame Süfflot zur Kenntnis. Die Orientierung am Journal des modes gehört zu den beliebtesten Beschäftigungen der Frauen. Madame Süfflots Lieferanten, die Modeschöpferinnen der Rue du Caire in Paris und die aus Melun, verschicken ihre Artikel mit dem „vélocifère“ – dem rasch liefernden öffentlichen Verkehrsmittel, für das ein deutsches Äquivalent fehlt, deshalb ist der Begriff mit ‚Schnellwagen‘ übersetzt. Mit Namen der Käuferinnen der Modeartikel wie die „jungen Gräfinnen St. Hilaire“ versucht sie Eindruck zu machen.39 Da der Übersetzer und Weber diese Details beibehalten, ist erneut evident, dass sie mit der Wette ein ausländisches Stück auf die Berliner Bühne brachten. Angesichts der Vielzahl von Fachbegriffen der Mode hat der Übersetzer große Mühe walten lassen, um diese genauestens zu transferieren. Einige Beispiele darunter ermöglichen einen Einblick in deutsche Modebegriffe der Zeit: Guillet / Gaveaux bonnet bonnet de matin, orné d’une guirlande de sensitive Pèlerin brodée d’un léger dessein au plumetis chapeau de paille à bourrelet surmonté d’un nœud de mousseline en ailes de moulin le bleu lapice, couleur par excellence40 cette capotte de basin à petit fond 38 Die

Weber Bonnet oder Aufsatz Morgenaufsatz mit Sonnkrautguirlande Morgenanzug mit kleingesprenkeltem Muster Strohhut mit der aufgekreuzten Wulst und der Schleife von Mousselin en ailes de Moulin blanc rouge, das ist jetzt die Modefarbe Capotte

Szene ist nicht Wort für Wort, sondern mit gewissen Freiheiten übersetzt. beiden Gräfinnen heiraten die beiden Neffen des ehemaligen Lagerhalters der Italienarmee, ein deutlicher Hinweis auf den Italienfeldzüge Napoleons 1796/97. 40 „[M]‌ ameluck orné d’une garniture bleu lapice“, der Übersetzer verzichtet hier auf „mameluk“, „costume copié sur celui de ces mameluks qu’on donnait aux enfants“ (Émile Littré, Dictionnaire de la langue française, Paris 1962, Bd. 4, 1932) und erwähnt „Mameluken“ danach in einer Aufzählung von Modebegriffen. 39 Die

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Die Liste der Begriffe, „les chapeaux d’organdi, de bazin, de perkale, les collerettes plissées, les colets à la pèlerine, les voiles à la vestale“ ist durch „Aufsätze, Hüthe, Bonnets, Bänder, Mousselinen, Batisten, Petinentermel, Petitentschleier, Mameluken, Schanzlözer, gekeifte Kragen, brodirte Tücher, Kautenmützchen“ ersetzt. Zu Beginn der Probe der 15 Minuten des Schweigens empört sich Floricourt über den Brief Debreuils, in dem er ihm Alexandrines Weigerung mitgeteilt habe, ihn zu heiraten und bezichtigt sie der Untreue. Nachdem ihn Frontin über die Stummheit der beiden Frauen unterrichtet hat und diese beiden sich in Schweigen hüllen, wechseln die Anschuldigungen der Männer zwischen Vorwürfen des schlechten Charakters, der Wankelmütigkeit, der Leichtfertigkeit, des Hasses gegen sie, der Indifferenz, der Grausamkeit, bis sie endlich die Frauen flehentlich bitten, das Schweigen zu brechen. Bevor sie davoneilen wollen, schreibt Floricourt einen Abschiedsbrief, während Frontin eingesteht, er habe das Schreiben verlernt. Das Duett Floricourts und Frontins ist in den Schmerzensausruf, die Androhung der Rache, die Absage an die Geliebten und an die Liebe, den Vorwurf des Betrugs bzw. der Untreue und das Abschiednehmen gegliedert. Nachdem Florentin und Frontin abgetreten sind und noch während der Probezeit, aber nur im Beisein Florines, liest Alexandrine den Abschiedsbrief vor und ist über die darin zum Ausdruck kommende Liebe zu ihr überglücklich. Die Zeit ist um, Alexandrine verkündet stolz, „daß die Weiber, ohne viel Mühe, auch schweigen können, so gut wie die Männer.“ Debreuil sieht die Probe als bestanden an und beschießt, beide Paare am kommenden Tag zu verheiraten. Er greift zu einer letzten List, bevor die verzweifelten Floricourt und Frontin aus ihrer Not erlöst werden. Alexandrine habe ihn um Bedenkzeit von sechs Monaten für ihre Entscheidung zugunsten Florentins gebeten, denn sie sei nicht in der Lage, wie von Floricourt geplant, das geliebte väterliche Haus und den alten Vater zu verlassen, um in Paris zu leben. Debreuil beteuert, er wolle ihrer Ehe nichts in den Weg legen, denn mit dem Glück seiner Tochter und seines Neffen sei seine letzte Lebensaufgabe erfüllt. Floricourt ist bekehrt, er will seinen Oheim nicht verlassen. Damit steht der Hochzeit am kommenden Tag nichts mehr im Wege. Im Schlusschor wird das Glück und das bevorstehende Fest besungen.



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III. Webers Musik Die unübersehbare Nähe der Musiknummern von Un quart d’heure de silence und der Wette zeigt sich daran, dass von acht Nummern sieben die gleiche Besetzung haben – nur Nr. 5 weicht dadurch ab, dass sie bei Gaveaux ein Duett für Floricourt und Debreuil, bei Weber eine Cavatine für Debreuil ist –, vier die gleiche Tonart und sechs das gleiche Metrum haben. Bei den Tempoangaben sind allerdings alle verschieden. Gaveaux

Weber

No. 1 FLORINE Andante con mosso, B-Dur, 6/8-Takt

Vivace, B-Dur, 6/8-Takt, 49 T.

No. 2 DUBREUIL, ALEXANDRINE, FLORINE Trio Andante non troppo, A-Dur, 3-Takt

Allegro un poco Moderato, A-Dur, 3/4-Takt, 209 T.

No. 3 ALEXANDRINE Couplets, C-Dur, Allegro vivace 2/4-Takt

Allegretto con moto, C-Dur, ­Alla-breve-Takt, 81 T.

No. 4 FLORICOURT Polonaise, A-Dur, 3-Takt

Arie Vivace, E-Dur, 3/4-Takt; Assai vivace A-Dur, 2/4-Takt

Rondeau mit Coda

da capo, 257 T.

[No. 5 FLORICOURT, DEBREUIL

DEBREUIL

Duo, Allegro vivace, B-Dur Alla-breveTakt

Cantabile, Andante un poco sustenuto, F-Dur Alla-breve-Takt, 68 T.]

No. 6 ALEXANDRINE, FLORINE Duo, Allegro vivace, Es-Dur, Alla-breve-Takt

Duetto, Un poco Allegretto, D-Dur, Alla-breve-Takt, 172 T.

No. 7 FLORICOURT, FRONTIN Duo, Allegro etc., g-Moll, Alla-breve-Takt

Duetto, Allegro assai, Es-Dur, ­Alla-breve-Takt, 227 T.

No. 8 ALLE 6 PERSONEN Chœur final, Allegro assai, D-Dur, 2/4-Takt Sprechrollen Madame SÜFFLOT, ein BEDIENTER

Schlusschor, Allegro molto, D-Dur, 6/8-Takt, 79 T.

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Die Couplets Florines „Es ist die alte Sage“, die für Couplets einen ungewöhnlichen Ambitus von fast zwei Oktaven und eine besondere Form durch die Vertonung der Verse 7 und 8 (zweimal im B-Teil, dann Vers 7 und viermal Vers 8 im C-Teil oder Coda) aufweisen, sind durch immer gleiche Binnenabschlüsse auf der Dominante sehr schlicht gehalten. Es ist zugleich die Nummer mit der differenziertesten Rhythmik zweier Verse:

Durch den Wechsel von Soli, Duett- und Trio-Partien ist das Terzett abwechslungsreich gestaltet. Wie für ein Terzett mit verschiedenen Positionen der Personen zu erwarten, ist seine Harmonik differenzierter als in den vorausgehenden Couplets. So weicht Weber zum Beispiel bei Debreuils „O glaube deinem Vater / Und mach ihm keine Schmerzen“ in die Variante, bei der Wiederholung in die Mediante C-Dur aus. Semantisch wird die Harmonik auch bei Debreuils „Die Liebe bringt nur Qual und Schmerz“ eingesetzt – die Dominante der Dominantparallele – und nachfolgend der Trugschluss D-Dur bei Alexandrines „Mir ist beglückend sie genaht“. Die sorglose Arie Alexandrines „Es bleiben Gram und Sorgen | Aus meinem Kreis verbannt“ hat die Form ABAC. Mit den im Libretto wiederkehrenden Versen 3 – 4 als 9 – 10 geht Weber insofern frei um, als er die Musik der Verse 1 – 3 identisch wiederholt, aber das Schlüsselwort des vierten bzw. des identischen elften Verses „Und lustig ist mein Verstand“ bei seiner Rückkehr durch den zweithöchsten Ton der Nummer über mehr als zwei Takte betont. In der Da-capo-Arie Floricourts „Weisheit goldne Himmelsgabe“ sind die A- und B-Teile durch die Tonalität E-Dur versus A-Dur, ihr Tempo Vivace versus Assai vivace, ihr Metrum 3/4 versus 2/4, ihre Rhythmik, Triolenbewegung



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bei „Leichtsinn und Schwänke“ im B-Teil gegenüber dem Dreiertakt und der pathetischen zweimal identisch wiederholten Deklamation im A-Teil von „nun ich bin ein weiser Mann“ (Abbildung 3) deutlich abgegrenzt. Im B-Teil werden die Verse 7 – 20 zweimal mit zahlreichen Verswiederholungen vertont, so unter anderem Vers 20 „Weihe die Lebenszeit“ viermal bei der ersten, fünfmal bei der zweiten Vertonung.

Die Cavatine Debreuils, „Kinder, ihr seid meine Wonne“, besteht im Libretto aus dreimal vier Versen, gegliedert in Gefühl des Glücks über seine Kinder, Rückblick auf sein früheres Liebesglück, Wehmut angesichts des Nahens des Todes. Weber vollzieht die Stationen semantisch durch die Tonarten C-Dur für „Süß gedenke ich der Triebe“ – positiv gegenüber der Tonika F-Dur – und f-Moll für „Ach wie waren kurz die Stunden“ – Mollvariante negativ gegenüber der Tonika – mit, hellt die Stimmung jedoch dadurch auf, dass er den A-Teil wiederholt und dadurch die Rondeau-Form ABACA schafft,41 die mit einer Coda und der erneuten Vertonung der Verse 1 – 2, 2, 2 schließt. Ungewöhnlich und wenig motiviert, aber vermutlich um die Artistik des Sängers Johann Georg Gern Geltung zu verschaffen, sind die Sprünge d1–B und H–d1 auf „wie-de-rum“ und h–d’ auf „seid“. Für das Duett Alexandrines und Florines, „Verbannen wir die Sorgen“, hat sich Weber einen ganz eigenen formalen Ablauf ausgedacht. Die ersten vier Verse (T. 1 – 9) bilden den Grundstock für das freie Rondeau: Sie kehren erweitert um vier Takte in T. 26 – 37, erweitert um zehn Takte in T. 69 – 76 und auf vier Takte reduziert mit Erweiterung um sechs Takte (T. 137 – 148, zwei Teile getrennt durch zwei Ritornell-Takte) wieder. Durch alle diese Erweiterungen, in denen die Verse 3 – 4, „Wir schmücken uns ja morgen / Zur schönsten Festlichkeit“, neu vertont sind, unterstreicht Weber die Vorfreude der Frauen, sich für das Hochzeitsfest zu schmücken. Der Gegensatz zum Beginn von Floricourts und Frontins Duett „Welche Martern, welche Qualen“ (Nr. 7) könnte kaum größer sein. Mit der Tonart Es-Dur ist es die „dunkelste, unterste“ Tonart im Quintenzirkel dieses Singspiels in Kontrast zur „hellsten, obersten“ Tonart E-Dur von Floricourts „Weisheit goldne Himmelsgabe“ (deren Inhalt entsprechend) und dem D-Dur des vorausgehenden Duetts von Alexandrine und Florine. Weber beschränkt sich hinsichtlich der Harmonik von Nr. 7 auf wenige herausgehobene Momente: der verminderte 41 Im

handschriftlichen Libretto (siehe Anm. 34) wird der erste Vierzeiler nur am Ende, damit als Rahmen wiederholt, im Druck der Arientexte erscheinen die drei Vierzeiler hintereinander ohne Wiederholung des ersten.

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Septakkord zur Doppeldominante bei „Fort von hier“, nicht aber bei der Wiederholung gegen Ende des Duetts, eine chromatische Figur abwärts bei „O welch grausames Vergnügen“, eine Passage zwischen T. 129 – 155 in c-Moll, gefolgt von dem Trugschluss in Des (Verdeutlichung der Bewegung „Sie wenden mir den Rücken“) und die Passage in f-Moll, beginnend mit „Ha! ich möchte in Wuth ersticken“. Das Motiv zu Beginn, absteigender Es-Dur-Dreiklang mit Vorhalt fis, kehrt nur in T. 105 – 113 zurück, Takte, die mit den ersten sieben Takten, davon T. 1 – 4 Ritornell, musikalisch übereinstimmen, nicht aber bezüglich ihres Texts (T. 5 – 7, „Welch Martern, welche Qualen“, T. 111 – 113, „Mich so böslich zu betrügen“). Insgesamt ist die Qualität dieses Duetts eher mittelmäßig. Den Abschluss des Singspiels bildet der Chor der Solisten in einer zeitüblichen schlichten Rondeau-Form wie in anderen Stücken der Wette mit einer Coda, hier im Fortissimo. Die Ambitus der Singstimmen belegen, dass die Besetzung der Rollen wie bei Gaveaux für Sänger-Schauspieler mit voller Sängerausbildung vorgesehen waren: Die Bassstimme Debreuils reicht von B bis d1, die Frontins von a bis g1, die Tenorstimme Floricourts ungewöhnlich von c bis gis1, Alexandrines Sopran von d1 bis b2, der von Florine von c1 bis b2, Frontins Bass von G bis c1. Wie in Guillets und Gaveaux’ Opéra comique ist in Webers Wette die Verquickung von gesprochenem Dialog und gesungenen Nummern vollkommen g­ elungen, denn es handelt sich bei allen Gesängen um „drameninhärente ­Musik“, eingebettet in den dramatischen Zusammenhang, und in keinem Fall um ein „vordramatisches Element“.42 IV. Fazit Die Wette ist ein charakteristisches Beispiel für den Transfer eines französischen Bühnenwerkes, das nicht wie die immense Zahl besonders von Opéras comiques seit den 1760er Jahren im deutschen Sprachraum in Übersetzung gespielt, sondern bearbeitet und die Musik neu komponiert wurde. In der Zeit der napoleonischen Kriege, zur Zeit der Befreiungskriege und danach nahm der Einfluss des französischen Musiktheaters im Vergleich zur Zeit der Revolution noch einmal zu. Berlin war neben Frankfurt und Wien das wichtigste Zentrum, in dem französische Opern kurz nach ihrer Pariser Premiere in Übersetzung gespielt wurden. Zahlreiche dieser Werke waren in Deutschland sogar populärer als in Frankreich. Bei der Wette handelt es sich um ein Lehrstück für die junge Generation in einer patriarchalischen Gesellschaft. Der Senior ist die überlegene Person, die durch ihr Geschick die „Kinder“ auf den von ihm vorgesehenen Weg 42 Thomas

Betzwieser, Sprechen und Singen. Ästhetik und Erscheinungsformen der Dialog­ oper, Stuttgart, Weimar 2002, 38.



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dirigiert und auch über das Recht verfügt, die Tochter und sogar die weibliche Dienstperson zu verheiraten. Die Vorlage, Guillets und Gaveaux’ Un quart d’heure de silence, ist, was den Text und Inhalt betrifft, mit Ausnahme von Debreuils Cavatine, die ein Duett ersetzt, einschließlich der französischen kulturellen Spezifika ungewöhnlich genau beibehalten. Damit erschien dieses Singspiel auf den deutschen Bühnen klar als fremdes Werk, mit dessen moralischen Vorstellungen, Charakterzeichnungen und Verhaltensweisen man sich ohne Probleme identifizieren konnte. Musikalisch zeigt Webers Wette zwar einige stilistische Eigenarten, aber hinsichtlich der Qualität ist sie durchschnittlich und enthält auch keine Nummer, die sich großer Popularität erfreuen konnte.43

Abb. 4: Titelseite des Klavierauszugs der Wette, erschienen in Berlin bei Rudolph Werckmeister; der Druck wurde von Adolphe Martin Schlesinger übernommen, der 1810 seine Ladengeschäft eröffnete, und die Verlagsangabe mit seinem Namen überklebt. 43 In

den Lied-Anthologien des 19. Jahrhunderts fanden Erfolgsnummern des lyrischen Repertoires Eingang. Von Webers gibt es drei Gesänge in Gottfried Wilhelm Finks Musikalischem Hausschatz der Deutschen und neben den gleichen zwei weitere in August Härtels Deutschem Liederlexikon. Gottfried Wilhelm Fink, Musikalischer Hausschatz der Deutschen, Leipzig 51856, 123, Nr. 212, „Blaue Nebel steigen“ (Text von Buchner), 123, Nr. 211, „Mit dem Pfeil und Bogen“ (Schiller), 209, Nr. 357, „Triumph! das Schwert in tapfrer Hand“ (Herklots); August Härtel, Deutsches Liederlexikon, Leipzig 1869, 345, Nr. 446, Ständchen „Komm, fein Liebchen, komm ans Fenster“ (Text von Kotzebue), 414, Nr. 531, Der Schütz, „Mit dem Pfeil und Bogen“ wie Fink, Grabgesang „Rasch tritt der Tod den Menschen an“, 474, Nr. 603 (nach Weber, Text anonym), 599, Nr. 765 Siegeslied der Deutschen nach der Schlacht bei Leipzig, „Triumph! das Schwert in tapfrer Hand“, wie Fink.

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Anhang Titel, dramatis ­personae

Tempo/Metrum

Tonart

Länge/Form (Ritornelle nicht ­angegeben)

Ouverture

Presto, alla breve

F-Dur

295 T.; frei behandelte ­Sonatenform, Reprise Hauptthema T. 156, Nebenthema T. 214

1. Florine, Es ist die alte Sage

Vivace, 6/8

B-Dur

49 T.; Couplets ABC oder Coda, 2 Couplets

2. Terzetto, ­ Debreuil, ­Alexandrine Florine, Nimm diese Lehren wohl in Acht

Allegro non troppo Moderato, etwas lebhafter, Più Presto, alla breve

A-Dur

209 T.; Soli T. 1 – 53, Trio T. 54 – 82, Dialog T. 83 – 105, Duo T. 108 – 120, Dialog T. 121 – 131, Duo T. 132 – 168, Solo T. 169 – 175, Trio T. 177 – 205

3. Alexandrine, Es bleiben Gram und Sorgen aus meinem Kreis verbannt

Allegretto con moto, alla breve

C-Dur

81 T.; ABAC, 1. Teil mit teilweise mehrfacher ­Vertonung der Verse 1 – 8 = T. 1 – 44, 2. Teil Reprise der T. 7 – 19 + mehrfache Vertonung der Verse 9 – 12 (Verse 3 – 4 = 9 – 10) T. 45 – 75

4. Floricourt, Weisheit goldne Himmelsgabe

Vivace, 3/4; Assai vivace, 2/4; Vivace,3/4

E-‍ , A-‍ , Da-capo-Arie 249 T.; E-Dur A: Verse 1 – 6, T. 9 – 52; B; Verse 7 – 20, T. 65 – 133; Verse 7 – 20, T. 139 – 200; T. 9 – 52

5. Debreuil, Kinder, ihr seid meine Wonne

Andante un poco sostenuto, alla breve

F-Dur

Cantabile, Rondo ABACA, 68 T; Verse 1 – 4 = A, Verse 5 – 8 = B, Verse 9 – 12 = C

6. Duetto, Alexan- Un poco Alledrine, Florine, gretto, Più con Verbannen wir moto, alla breve die Sorgen in alle Ewigkeit

D-Dur

172 T.; freies Rondo ABA’CA’’DA’’’ Coda, A T. 2 – 9, A’ T. 26 – 33+4, A’’ T. 69 – 76+10, A’’’ T. 137 – 140+6 T.



Bernhard Anselm Webers Singspiel Die Wette 161

7. D  uetto Floricourt, Frontin, Welche Matern, welche Qualen!

Allegro assai, alla breve

8. Schluss-Chor, Allegro molto, Alexandrine, 6/8 ­Florine, Floricourt, Frontin, Debreuil, Lasst das beglückende, selig ent­z ückende

Es-Dur 227 T.; durchkomponiert; ­Wechsel von simultanem ­solistischem und dialogisierendem Gesang D-Dur

79 T., ABACA Coda

Bernhard Anselm Webers Singspiel Die Wette, eine Übersetzung und Neuvertonung von Gaveaux’ Un quart d’heure de silence, ist ein exemplarischer Fall des Kulturtransfers auf dem Gebiet des Musiktheaters. Charakteristisch für die Epoche und die Beziehung zwischen französischem und deutschem Musiktheater erscheint, dass das deutsche Werk bereits etwa acht Monate nach der Pariser Premiere (1. Juni 1804) in einer Neu­ vertonung in Berlin auf die Bühne kam. In der Libretto-Analyse wird gezeigt, in welch wenigen Details von Le Blanc de Guillets Werk abgewichen wird, Details von kulturel­ len Elementen, die in Deutschland unbekannt waren und auf Unverständnis gestoßen wären. Ansonsten war beabsichtigt, dem Publikum Die Wette als französisches Stück zu präsentieren (Beibehaltung des Spielorts, Einblicke in die französischen Damenmo­ deartikel der Zeit etc.). Weber behielt die Reihenfolge der Musiknummern (mit einer Ausnahme) und musikalische Merkmale der Vertonung von Gaveaux bei. Zwar wartet Weber mit einigen originellen musikalischen Ideen auf, aber insgesamt handelt es sich um ein Werk von nur mittlerer Qualität. Bernhard Anselm Weber’s Singspiel Die Wette, a translation and new setting of Gaveaux’s Un quart d’heure de silence, is an exemplary case of cultural transfer in the field of musical theatre. As is characteristic for the era and for the interrelation between French and German music theatre, the newly set German version of the work premiered in Berlin about only eight months after the initial performance of the French original in Paris (1 June 1804). The libretto analysis shows that the German version differs from Le Blanc de Guillet’s work in no more than a few details. Those details were specific to the cultural context and widely unknown in Germany; thus they would not have been understood by the audience. Nonetheless, Die Wette was presented as a French play (keeping the original location, display of French women’s fashion items of the time). Weber maintained the order of the musical numbers (with one exception) and the musical features of Gaveaux’s setting. Even though Weber does develop some original ideas, the overall quality of this work does not exceed the average. Prof. em. Dr. Herbert Schneider, Universität des Saarlandes, Institut für Musikwissenschaft, Campus, 66123 Saarbrücken, E-Mail: [email protected]

Adrian Kuhl Anspruchsvolle Effekte? Integrationsstrategien zeitgenössischer Spektakelästhetik in Die Geisterinsel von Gotter und Freiherr von Einsiedel

I. Einleitung Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts führte die zunehmende Rezeption von Wiener Singspielen auf den nord- und mitteldeutschen Bühnen zu einem Prozess kreativer Anverwandlung.1 Eingebunden in sich stetig verbessernde Aufführungsbedingungen der Theater und Wandertruppen sowie einer sich wandelnden Publikumserwartung lässt sich dieser Prozess bei den nord- und mitteldeutschen Stücken an tiefgreifenden dramaturgischen und musikalischen Entwicklungen wie der Integration virtuoser Arien, ausgedehnter Handlungsensembles und einer zunehmend musikzentrierten Dramaturgie feststellen.2 Zusätzlich stieg auf Seiten des Publikums das Interesse an Ausstattungs- und Effekttheater, das auf den nord- und mitteldeutschen Bühnen mit den immer populärer werdenden Ritterstücken und historischen Dramen, im Bereich des kommerziellen Musiktheaters seit den 1790er Jahren mit den Wiener Zaubersingspielen präsent war.3 1 Jörg

Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert. Typologie, Dramaturgie und Anthropologie einer populären Gattung, Tübingen 1998 (Studien zur deutschen Literatur 149/150), 396 f.; Joachim Reiber, [Art.] Singspiel, in: Ludwig Finscher (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, 2. neubearbeitete Ausgabe, Sachteil Bd. 8, Kassel, Stuttgart 1998, 1470 – 1489, hier 1484; Thomas Bauman, North German Opera in the Age of Goethe, Cambridge 1985, 11, 19, 261 – 322. 2 Jörg Krämer, „Je menschlicher, desto anziehender“. Die Geisterinsel – das deutsche Singspiel im Spannungsfeld kultureller Differenzen um 1800, in: Peter Wiesinger (Hg.), Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000: „Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert“, Bd. 6: Epochenbegriffe. Grenzen und Möglichkeiten, Frankfurt am Main u. a. 2002 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A: Kongressberichte 58), 219 – 226, hier 220; ders., Deutschsprachiges Musiktheater (wie Anm. 1), 409 f.; für einen Überblick über die theatergeschichtlichen Entwicklungen vgl. ebd., 58 – 121. 3 Krämer, „Je menschlicher, desto anziehender“ (wie Anm. 2), 220; ders., Deutschsprachiges Musiktheater (wie Anm. 1), 401; Rainer Ruppert, Labor der Seele und der Emotionen. Funktionen des Theaters im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Berlin 1995, 156 – 163.

Aufklärung 34 · © Felix Meiner Verlag 2022 · ISSN 0178-7128

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Dieser Rezeptions- und Assimilationsprozess, bei dem neben den Wiener Singspielen auch die Wahrnehmung von weiteren europäischen Opernformen wie Opera buffa und Opéra comique eine Rolle spielte,4 führte zu musikalisch und dramaturgisch tiefgreifenden Veränderungen bei den nord- und mitteldeutschen Werken. Doch lässt sich feststellen, dass ambitionierte Komponisten und Librettisten bestrebt waren, diese mit den bisherigen ästhetischen Kategorien des nord- und mitteldeutschen Singspiels wie einer auf Ernsthaftigkeit und Wahrscheinlichkeit gründenden Handlung, planvoll motiviertem Gesang und einem oft hohen literarischen Anspruch der Libretti zu vermitteln.5 Vor diesem Hintergrund ziehen die für das Ausstattungstheater charakteristischen Bühneneffekte wie beispielsweise eindrucksvolle Verwandlungen und optische sowie akustische Effekte die Aufmerksamkeit auf sich. Diese waren durch ihre Schauwirkung zwar überaus publikumswirksam, galten den literarischen Eliten und der zeitgenössischen Kritik jedoch als albernes und inhaltsleeres Spektakel, widersprachen in deren Wahrnehmung also dem erklärten lite­ rarischen Anspruch an die Libretti und dem Wunsch nach Ernsthaftigkeit und begründbarer Handlungsführung der Stücke.6 Dies wirft vor dem Hintergrund des geschilderten Adaptionsprozesses die Frage auf, ob sich in den nord- und mitteldeutschen Werken auch für die Integration der für die Wiener Zaubersingspiele typischen Effektanlage Vermittlungsstrategien mit der nord- und mitteldeutschen Singspielästhetik feststellen lassen oder ob hier von einem voraussetzungslosen Einbezug ausgegangen werden muss. Dieser Frage wird im folgenden Beitrag exemplarisch an dem Singspiel Die Geisterinsel von Friedrich Wilhelm Gotter und Friedrich Hildebrand Freiherr von Einsiedel und damit an einem damals in verschiedenen Vertonungen populären Stück nachgegangen, bei 4 Vgl. dazu auch Andrea Horz, Johann Adam Hiller’s Lottchen am Hofe. Contextualising „Singspiel“ in French Traditions, in: María Encina Cortizo, Michela Niccolai (Hg.), Singing Speech and Speaking Melodies. Minor Forms of Musical Theatre in the 18th and 19th Century, Turnhout 2021 (Speculum musicae 43), 105 – 126; Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater (wie Anm. 1), 400. 5 Vgl. dazu Adrian Kuhl, „Allersorgfältigste Ueberlegung“. Nord- und mitteldeutsche Singspiele in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Beeskow 2015 (Ortus-Studien 17), 293 – 466; Krämer, „Je menschlicher, desto anziehender“ (wie Anm. 2), 220 f. 6 Ebd., 224; Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater (wie Anm. 1), 26. An der zeitgenössischen Kritik zeigt sich einmal mehr das seit der Antike in unterschiedlichen Ausmaßen wirksame Deutungsmuster bezüglich spektakulärer Inszenierungen, das bei Dramen für gewöhnlich zu einer Abwertung der Spektakelanlage aus Sicht der Handlungsdarstellung führt; dazu Simon Frisch, Elisabeth Fritz, Rita Rieger, Perspektiven auf das Spektakel, in: dies. (Hg.), Spektakel als ästhetische Kategorie. Theorien und Praktiken, Paderborn 2018, 9 – 32, hier 10; Bettine Menke, Was das Theater möglich macht. Theater-Maschinen, in: Natascha Adamowsky u. a. (Hg.), Archäologie der Spezialeffekte, Paderborn 2018 (Poetik und Ästhetik des Staunens  4), 113 – 144, hier 113; Ulf Otto, Die Verachtung des Spektakels. Zum historischen Ort und der rhetorischen Ausrichtung eines theaterwissenschaftlichen Grundbegriffs, in: Frisch, Fritz, Rieger (Hg.), Spektakel als ästhetische Kategorie, 35 – 49, hier 35.



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dem paradigmatisch die Rezeption und Assimilation der Wiener Singspielästhetik greifbar wird.7 Nach einem Kurzüberblick über das Libretto wird exem­pla­ risch die Anlage und Gestaltung der effekthaft angelegten Geisterpantomime des III. Aktes in den Blick genommen und anschließend hinsichtlich möglicher Integrationsstrategien beleuchtet. Hierbei zeigt sich, dass die beiden Librettisten die eingesetzten Bühneneffekte vielfältig mit der Dramaturgie und dem Inhalt des Dramas verschmelzen und durch eine gezielt eingesetzte affektive Überwältigung des Zuschauers die Wahrnehmung des Effektgehaltes reduzieren, um so der im nord- und mitteldeutschen Raum kritisierten Schaulust zu begegnen und die Effekte mit den dort wirksamen ästhetischen Vorstellungen zu vermitteln. II. Das Libretto Die Geisterinsel Das 1797 in Die Horen gedruckte Libretto Die Geisterinsel8 ist eine freie Adaptation von William Shakespeares The Tempest (1611) und entstand im Kontext der im 18. Jahrhundert aufkommenden Shakespeare-Faszination. Der Weimarer Kammerherr Freiherr von Einsiedel hatte Anfang der 1790er Jahre einen vermutlich schon älteren Entwurf des Stücks mit der Bitte um Beurteilung und Verbesserung an seinen Freund Gotter in Gotha übersandt,9 der in den 1770er und 1780er Jahren nicht nur zu einem der am meisten gespielten Bühnenautoren im deutschsprachigen Raum gehörte,10 sondern als Operndichter gleich mit mehreren Schlüsselwerken zu den zentralen Librettisten für die Entwicklung des deutschsprachigen Musiktheaters in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu zählen ist.11 Wie der erhaltene Briefwechsel der beiden Librettisten verdeutlicht, 7 Krämer, „Je menschlicher, desto anziehender“ (wie Anm. 2), 220 f.; Reiber, [Art.] Singspiel (wie Anm. 1), 1484; Bauman, North German Opera (wie Anm. 1), 20. 8 [Friedrich Wilhelm Gotter, Friedrich Hildebrand Freiherr von Einsiedel,] Die Geisterinsel. Ein Singspiel in drei Akten, in: Die Horen 3 (1797), 8. Stück, 1 – 26, 9. Stück, 1 – 78. 9 Werner Deetjen, Der „Sturm“ als Operntext bearbeitet von Einsiedel und Gotter, in: Shakespeare-Jahrbuch 64 (1928), 77 – 89, hier 77. Deetjen geht davon aus, dass es sich bei dem an Gotter übermittelten Entwurf um die gleiche, noch ungespielte Dichtung handelt, die bereits im Gothaer Theater-Kalender im „Verzeichniß der lebenden deutschen Schriftsteller und Tonkünstler, die für das Theater gearbeitet haben“ bei Einsiedel vermerkt ist („Einsiedel von [...] Eine Oper, der Sturm, nach dem Shakespear“, zit. nach Theater-Kalender auf das Jahr 1778, Gotha [1778], 103 – 128, hier 107). 10 Wolfgang Schimpf, [Art.] Gotter, Friedrich Wilhelm, in: Wilhelm Kühlmann (Hg.), Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, 2. vollständig überarbeitete Auflage, Bd. 4, Berlin 2009, 327 f. 11 Bspw. Der Jahrmarkt (1775); Walder (1776); Medea (1775); Romeo und Julie (1776); Musik jeweils von Georg Anton Benda und Erstaufführung in Gotha. Insbesondere vor diesem Hintergrund ist die Einschätzung von Jean-François Candoni, Gotter sei in den 1790er Jahren zwar ein „bewährter Dramenautor und Theaterpraktiker, hatte aber wenig Erfahrung im Bereich Musiktheater“, höchst verwunderlich, vgl. Jean-François Candoni, Shakespeares ‚Sturm‘ im Spiegel

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entwickelte sich aus der Zusendung des Manuskripts eine intensive Zusammenarbeit der beiden Dichter, bei der Shakespeares Vorlage grundlegenden Änderungen unterzogen wurde, um sie an das zeitaktuelle theatrale Präsentationssystem anzupassen und für die Musikbühne nutzbar zu machen.12 Die Eingriffe betreffen dabei sämtliche Komponenten der Vorlage wie die dramaturgische Anlage, den Handlungsverlauf, einzelne Figurenkonzeptionen und die Zusammensetzung des Figurenensembles.13 Daher bedarf es zunächst einiger einleitender Bemerkungen zum Stück, um im Weiteren die Integrationsstrategien der größtenteils ebenfalls neu eingefügten Bühneneffekte untersuchen zu können. Unter Streichung zahlreicher Figuren und Handlungsabschnitte ist Die Geis­ terinsel anders als Shakespeares Drama nicht auf die politische Rache Prosperos zugeschnitten, sondern auf ein familiär-privates Geschehen, das um eine metaphysische Handlungsebene erweitert wird. Die gegenüber Shakespeares Vorlage veränderten und dabei drastisch vereinfachten politischen Ereignisse in Mailand dienen im Libretto lediglich als Hintergrundfolie und zur Motivation der einsamen Insel als Handlungsort.14 Daher entfallen in Die Geisterinsel auch sämtliche Figuren der politischen Handlungsstränge Shakespeares – Alonso, Sebastian, Antonio, Gonzalo, Adrian und Francisco – und mit ihnen die entsprechenden Handlungsepisoden.15 Der politische Hintergrund reduziert sich auf den in kurzen Figurendialogen rekapitulierten Sturz des Mailänders durch seinen Bruder und die bei Shakespeare nicht vorkommende Patenschaft Prosperos für Alonsos Sohn Fernando.16 Auf die Bühne gelangt die politische Folie lediglich am Ende der Oper, wenn Prospero wieder als Herrscher von Mailand inthronisiert wird.17 Die Handlung des Singspiels entwickelt sich demgegenüber aus der bereits bei Shakespeare angelegten versuchten Vergewaltigung Miranvon Mozarts ‚Zauberflöte‘. Anmerkungen zu Friedrich Gotters Libretto ‚Die Geisterinsel‘, in: Wieland-Studien 8 (2013), 103 – 113, hier 104. 12 Zur Bedeutung solcher zeitgenössischen Bearbeitungen für die Shakespeare-Rezeption vgl. Renata Häublein, Die Entdeckung Shakespeares auf der deutschen Bühne des 18. Jahrhunderts. Adaption und Wirkung der Vermittlung auf dem Theater, Tübingen 2005 (Theatron 46), 8, 31, 37 – 39; zur genaueren Entstehungsgeschichte des Librettos vgl. Deetjen, Der „Sturm“ als Operntext (wie Anm. 9), 77 – 82. 13 Für eine Zusammenfassung der deutlich abweichenden Handlung vgl. Christoph-Hellmut Mahling, [Art.] Johann Rudolf Zumsteeg: Die Geisterinsel, in: Carl Dahlhaus, Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth (Hg.), Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Bd. 6, München, Zürich 1997, 817 f.; zu Änderungen gegenüber Shakespeares Drama vgl. auch Candoni, Shakespeares ‚Sturm‘ (wie Anm. 11), 106 – 112; Krämer, „Je menschlicher, desto anziehender“ (wie Anm. 2), 221 – 223. 14 Ähnlich auch Candoni, Shakespeares ‚Sturm‘ (wie Anm. 11), 112. 15 Zu den daraus resultierenden Auswirkungen auf das Verständnis von Macht und Herrschaft bei Gotter und von Einsiedel im Vergleich zu Shakespeare vgl. ebd., 111 f. 16 [Gotter, von Einsiedel,] Die Geisterinsel (wie Anm. 8), 8. Stück, 5 – 7. 17 Ebd., 9. Stück, 75.



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das durch Caliban, wodurch die sexuelle Bedrohung des Mädchens durch das Erdwesen ins Zentrum des Stücks gerückt wird.18 Diese radikale Umformung der Shakespeare’schen Handlungskonzeption mutet aus heutiger Perspektive möglicherweise erstaunlich an, ist aber in der zeittypischen Bearbeitungspraxis von Shakespeares Dramen verankert. Die Konzentration auf nur eine Haupthandlung reagiert auf die zeitgenössische literaturtheoretische Diskussion um die Bühnentauglichkeit von Stücken Shakespeares und die dort etablierte Ansicht, die Vielzahl der originalen Handlungsstränge übersteige die Konzen­ trationsfähigkeit des Publikums.19 Die Fokussierung auf eine familiär-private Handlung dient dagegen der für Shakespeare-Bearbeitungen der Zeit typischen Steigerung der Rührung auf Seiten des Publikums und reagiert damit auf strukturelle Konzeptionen des bürgerlichen Trauerspiels.20 In diese Handlung werden nun diverse bei Shakespeare nicht vorhandene theatrale Einzeleffekte und ganze Effektszenen integriert, deren Wirkung durch den konkreten Einsatz von Bühnenmaschinerie, inszenatorische Vorgaben, der Verwendung bestimmter Musikformen sowie einer besonderen dramaturgischen Szenenkonzeption erzeugt wird und die in ihrer Summe der spektakelhaften Anlage der Wiener Zaubersingspiele Rechnung tragen.21 Zu den inszenatorischen Effekten gehört beispielsweise das Erklingen des Geisterchores „Wolken verschweben“ aus dem Bühnen-Off, ein Effekt, der sich am Ende der Oper wiederholt, wenn Ariel seinem Meister aus den Wolken antwortet.22 Konkreten Maschineneinsatz erfordern dagegen das im Sturm zu Donner und Blitz untergehende Schiff Ende des I. Aktes ebenso23 wie ein auf Prosperos Geheiß hin feuerspeiender Vulkan, aus dem anschließend ein Rosenbusch hervorwächst,24 oder ein brennender Busch, der sich durch Transparentwerden in eine schlafende Figur verwandelt, bevor diese plötzlich verschwindet und auf einem Felsen stehend wieder auftaucht.25 Eine der spektakulärsten Effektszenen bildet allerdings 18

William Shakespeare, The Tempest, hg. von Virginia Mason Vaughan und Alden T. Vaughan, London 2005, 174 f. 19 Häublein, Die Entdeckung Shakespeares (wie Anm. 12), 22. 20 Ebd., 244, 312. 21 Zur expliziten Nähe von Die Geisterinsel zu Emanuel Schikaneders und Wolfgang Amadeus Mozarts Die Zauberflöte vgl. Candoni, Shakespeares ‚Sturm‘ (wie Anm. 11), 106 f.; ­Dieter Martin, Deutsche Shakespeare-Opern um 1800, in: Goethezeit-Portal (publiziert 2005), (letzter Zugriff: 4. 12. 2020), 1 – 13, hier 6; Krämer, „Je menschlicher, desto anziehender“ (wie Anm. 2), 222. Auf Ähnlichkeiten zwischen den beiden Stücken wiesen bereits die Zeitgenossen hin, vgl. Bauman, North German Opera (wie Anm. 1), 312. 22 [Gotter, von Einsiedel,] Die Geisterinsel (wie Anm. 8), 8. Stück, 77 f. 23 Ebd., 8. Stück, 25 f. 24 Ebd., 9. Stück, 13 f. 25 Ebd., 9. Stück, 67 – 69.

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die Geisterpantomime zu Beginn des III. Aktes.26 Sie wird aus dem Auftritt der teils neu eingefügten numinosen Figuren Maja und Sycorax gestaltet, die zugleich eine gegenüber Shakespeares Vorlage neu geschaffene Handlungsebene verkörpern, auf der ein ins Absolute gewendeter Kampf zwischen Gut und Böse ausgetragen wird.27 Dabei erfolgt die Hinzufügung der übergeordneten Geisterebene bei Gotter und von Einsiedel nicht unverbunden, sondern wird mit der gegenüber Shakespeare radikal geänderten Figurenkonzeption Prosperos verzahnt und damit eng an die Dramaturgie des Stückes angebunden. So ist der Magier anders als in der Vorlage nicht der übermächtige Lenker der Ereignisse, sondern eine zwar mit magischen Fähigkeiten ausgestattete, in Bezug auf den eigentlichen Handlungskonflikt aber weitgehend machtlose Figur.28 Prospero hatte in Die Geisterinsel zwar bei seinem Eintreffen auf der Insel die böse Hexe Sycorax besiegt und die gute Fee Maja aus deren Gewalt befreit, wurde jedoch von der Hexe verflucht. Sie werde nach neun Jahren zurückkehren und Rache üben, ihr Sohn Caliban die nichtsahnende Miranda vergewaltigen und die Herrschaft über die Insel antreten. Schützen könne Prospero seine Tochter nicht: Mögliche Warnungen des Vaters vor besagter Nacht würden Miranda nicht erreichen, da sie stets sofort einschlafe, sobald er ihr vom Fluch berichte, und in der Rachenacht werde er selbst durch einen Zauberschlaf gebannt sein.29 Die Lösung des Handlungskonfliktes verläuft daher in Die Geisterinsel auch nicht über den Mailänder, sondern über die mittlerweile verstorbene Fee Maja, die in besagter Geisterpantomime als dea ex machina ihrem Grab entsteigt, die aus dem Meer aufsteigende Sycorax besiegt und damit Miranda vor dem Erdwesen bewahrt. Diese Pantomime bietet sich aus der Vielzahl der eingefügten Effekte für eine exemplarische Untersuchung der Integrationsstrategien besonders an, da in ihr innerhalb einer einzigen Szene sämtliche Formen von Bühneneffekten versammelt sind, die in Die Geisterinsel Verwendung finden.

26 Zur

begrifflichen Unschärfe und der Vielfalt pantomimischer Erscheinungsformen im 18. Jahrhundert vgl. Heide Eilert, „… allein durch die stumme Sprache der Gebärden“. Erscheinungsformen der Pantomime im 18. Jahrhundert, in: Erika Fischer-Lichte, Jörg Schönert (Hg.), Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache, Göttingen 1999 (Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa  5), 339 – 360, bes.  339 f. 27 Krämer, „Je menschlicher, desto anziehender“ (wie Anm. 2), 223. 28 Candoni, Shakespeares ‚Sturm‘ (wie Anm. 11), 110; Krämer, „Je menschlicher, desto anziehender“ (wie Anm. 2), 222. 29 Zum Motiv des Schlafes in Die Geisterinsel vgl. Candoni, Shakespeares ‚Sturm‘ (wie Anm. 11), 110.



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III. Die Gestaltung des Geisterkampfes Für den Geisterkampf entwerfen Gotter und von Einsiedel eine Szene, die durch die Vielzahl der in kurzer Zeit aufeinander folgenden optischen und akustischen Effekte einen großen Eindruck auf der Bühne gemacht haben dürfte. So bricht, wie eine ausführliche Bühnenanweisung im Libretto beschreibt,30 ein Gewitter los und unter Donner und Blitz fährt mittels einer Versenkung der schwarze Geist Sycorax, in Dampf gehüllt und mit einem Zauberstab in der Hand, rasch aus dem Boden herauf und schaut mit triumphierender Gebärde umher. Majas Grabmal in Form eines Altars birst und fällt in Trümmer, während sie aus ihrer Gruft steigt und den ausgestreckten Arm gegen Sycorax ausstreckt. Sycorax sieht die weiße Erscheinung, erzittert, fasst jedoch neuen Mut und eilt mit drohendem Zauberstab zu Prosperos und Mirandas Behausung. Um Vater und Tochter zu schützen, stellt sich ihr Maja mit ausgebreiteten Armen entgegen. Sycorax erstarrt und der Zauberstab sinkt ihr aus der Hand, während Maja mit flehender Gebärde zum Himmel schaut. Donner und Blitz beginnen erneut und Sycorax fährt von Flammen begleitet wieder hinab. Majestätisch steigt Maja zurück in ihr Grab, woraufhin mit einer weiteren Versenkung statt des Grabmals nun ein Palmbaum herauffährt. Wie typisch für Spektakel resultiert die effekthafte Anlage der Szene in hohem Maße aus den vielfältigen und in kurzer Zeit eingesetzten Schau- und Höreffekten31 wie Donnerschlägen, Blitzen, Flammen, Dampfwolken, dem unter großem „Geräusch“ berstenden Grabmal, dem erscheinenden Palmbaum und den über Versenkungen auf- und abtretenden Figuren, deren Bewegungen zudem bis in Details von den Librettisten inszeniert werden. Zusätzlich setzen Gotter und von Einsiedel zur Effektgestaltung aber auch Besonderheiten der Singspieldramaturgie ein. So wird die Effektanlage der Szene durch die dramaturgische Einbindung der Szene und den verwendeten Nummerntypus erheblich substituiert. Im Kontext einer Dialogoper ist bereits die Verwendung einer rein instrumentalen Nummer und hier zusätzlich einer Pantomime ein herausragender theatraler Effekt. Eine Instrumentalszene, zu der nur stumm agiert wird, bricht mit den von den Zuschauenden eigentlich erwarteten musiktheatralen Kommunikationsmitteln des Genres (gesprochener Dialog und Gesang). Damit wird die Szene unvermittelt aus der Nummernfolge herausgehoben, womit einerseits ihr dramaturgischer Ort betont, andererseits das für Effekte charakteristische Erstaunen des Zuschauers ausgelöst wird.32 Dieses Erstaunen wird noch durch die besondere Art der dramaturgischen Einbindung der Pantomime unterstützt, die nicht zuletzt durch die dramaturgisch offene Anlage vor allem 30 [Gotter,

von Einsiedel,] Die Geisterinsel (wie Anm. 8), 9. Stück, 56. Frisch, Fritz, Rieger, Perspektiven auf das Spektakel (wie Anm. 6), 9, 15. 32 Ebd., 14 f. 31

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von nord- und mitteldeutschen Singspielen ermöglicht wird. So steht die Pantomime in Die Geisterinsel nicht allein, sondern ist in einen vollständig zur Vertonung vorgesehenen Komplex von vier Szenen eingebunden. Zu Beginn des III. Aktes singen Fernando und Miranda zunächst das Duett „Traurige Korallen“, zu dessen Ende das Gewitter mit Donner sowie Blitz losbricht und nahtlos in den pantomimischen Kampf zwischen Maja und Sycorax überleitet. Der Pantomime schließt sich wiederum ohne Unterbrechung ein Geisterchor an („Heiliger Strand“), bevor in direktem Anschluss das Duett „Welch ein wonnevolles Chor“ zwischen Ariel und Prospero erklingt, in dem der Luftgeist seinem Herrn verkündet, dass die Gefahr gebannt und Sycorax im Meer versunken ist.33 Die Librettisten verzichten also im die Pantomime umgebenden Kontext auf den in der Dialogoper meist üblichen Wechsel von geschlossener Musiknummer und gesprochenem Dialog. Zwar ist in Die Geisterinsel generell das Bestreben zu erkennen, mit ausgedehnten Aktfinali und kürzeren Handlungsensembles auch rein musikalische Szenen zu integrieren und damit der musikzentrierten Dramaturgie der Wiener Singspiele zu folgen,34 doch geschieht dies lediglich im Binnenverlauf und an den traditionellen Orten der Aktfinali. Ein musikalischer Szenenkomplex am Aktbeginn ist in Die Geisterinsel dagegen singulär und insofern ebenfalls überraschend. Die Pantomime bildet damit also eine Szene, in der nicht nur der Einsatz der Bühnenmaschinerie und die teilweise detailliert vorgeschriebene Bühnenaktion zu ihrer effektvollen Gestaltung beitragen, sondern ebenfalls die musikdramaturgische Gestaltung als Pantomime und ihre dramaturgische Einbettung in einen Szenenkomplex. Vor allem Letzteres zeigt, dass die beiden Librettisten die nord- und mitteldeutschen Besonderheiten des Genres genau im Blick hatten und sogar zur Ausgestaltung des Effekts zu nutzen wussten. Umso brennender erscheint die Frage, mit welchen Strategien die beiden Librettisten diese Effekteinrichtung mit dem Anspruch auf ein ernsthaftes und auch literarisch anspruchsvolles Zaubersingspiel vermitteln und damit der zeitgenössischen Kritik an der Wiener Spektakelästhetik begegnen. IV. Integrationsstrategien Fragt man insofern nach den Integrationsstrategien der Effekte, so zeigt sich, dass die beiden Librettisten bestrebt sind, die Effektszene funktional in die Dramaturgie des Stücks einzubinden, die vorgesehenen Effekte durch symbolische Aufladung eng mit der Handlung des Singspiels zu verzahnen und in ihrem Bedeutungsgehalt zu steigern. Zusätzlich dient die Wahl des besonderen Num33 Vgl. 34 So

ebd., 53 – 60. auch Reiber, [Art.] Singspiel (wie Anm. 1), 1484.



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merntypus nicht nur der dramaturgischen Hervorhebung der Szene, sondern auch der Steigerung der wirkungsästhetischen Dimension der Szene, wodurch gezielt die Wahrnehmung des Spektakelcharakters der Szene nivelliert wird. 1. Funktionale Einbindung und Bedeutungssteigerung Verschiedentlich wurde bereits deutlich, dass in der Pantomime mit dem Sieg Majas über Sycorax die Peripetie der Handlung geschieht.35 Durch das Erscheinen Majas scheitern die geplante Vergewaltigung Mirandas durch Caliban und der Racheplan von Sycorax an Prospero. Die Szene nimmt also innerhalb des Singspiels eine entscheidende inhaltliche und dramaturgische Funktion ein, wodurch sie in der Szenenfolge nicht als bloß bestaunenswerte Effektzutat erscheint. Dieser Eindruck wird noch dadurch unterstützt, dass die beiden Librettisten bei der Einbindung des inhaltlichen Höhepunkts darauf achten, den Auftritt der Geister aus der Handlung des Stückes herzuleiten, ihn also wiederum aus dem Drama heraus zu motivieren und ihm damit den Eindruck etwaiger Beliebigkeit zu nehmen. Schon die Handlungskonstellation der bevorstehenden Rachenacht lässt eine Rückkehr von Sycorax im Laufe des Singspiels erwarten, zumal sowohl Prospero als auch Caliban das Erscheinen der Hexe mehrmals zu Beginn des Stücks ankündigen.36 In diesem Sinne ist auch ein rettender Eingriff von außen implizit vorbereitet, da der Handlungsknoten durch Prosperos Zauberschlaf, Mirandas Unwissenheit und das im Sturm untergegangene Schiff so geschnürt wird, dass er sich nicht so leicht von innen heraus auflösen lässt.37 Unterstützt wird die Herleitung zudem dadurch, dass anhand von impliziten Figurenexpositionen Geschichte und Handlungsmotivation der beiden Geister bereits vor ihrem Auftritt für den Zuschauer verständlich sind.38 Die Spektakelszene wird demnach so in das Stück integriert, dass sie einen funktionalen Sinn innerhalb der Dramaturgie erhält und durch ihre Herleitung aus dem Handlungsfortgang als reeller Bestandteil des Dramas motiviert wird. Eng mit dem Drama verzahnt erscheint auch die szenische Detailanlage der Effekte. So liegen der Szenengestaltung bestimmte inszenatorische Vorstellungen der Librettisten vom Bühnengeschehen zu Grunde, wie durch die bereits thematisierte, ausführliche Regiebemerkung bereits angeklungen ist. Hier sind sowohl das Auf- und Abtreten der Figuren durch Versenkungen als auch be35 So

auch Candoni, Shakespeares ‚Sturm‘ (wie Anm. 11), 110. von Einsiedel,] Die Geisterinsel (wie Anm. 8), 8. Stück, 15 – 17, 19 f. 37 Ähnlich Krämer, „Je menschlicher, desto anziehender“ (wie Anm. 2), 222. 38 Dies ist aus der Perspektive der Zeitgenossen vor allem für Pantomimen insgesamt ein wesentlicher Punkt, um die Handlung von Pantomimen verständlich zu machen; vgl. Johann Jakob Engel, Ideen zu einer Mimik, 2 Tle., Berlin 1785/86, hier Tl. 2, 26; [Gotter, von Einsiedel,] Die Geisterinsel (wie Anm. 8), 8. Stück, bspw. 10 f., 17, 21 (Maja), 14 – 17, 19 – 21 (Sycorax). 36 [Gotter,

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stimmte Schauspielgesten festgelegt; weitere inszenatorische Vorgaben finden sich in zwei Peritexten, die dem Libretto vorangestellt sind.39 Hier schreiben die Librettisten sowohl die Ausgestaltung der einzusetzenden Requisiten wie auch das äußere Erscheinungsbild der Figuren fest.40 Zwar konnten die beiden Librettisten weder für die Ausstattung, noch für die schauspielerische Ausführung von einer zwingenden Umsetzung ihrer Vorstellungen auf der Bühne ausgehen, doch entsteht über die Inhalte der Peritexte und die Regiebemerkungen eine in das Stück eingeschriebene Inszenierung, die sich gleichermaßen an Ausführende wie auch an die im 18. Jahrhundert zunehmenden Dramenleser richtet.41 Anke Detken hat deutlich gemacht, dass solche auktorialen Inszenierungsvorstellungen zwar nicht mit einer tatsächlichen Bühneninszenierung gleichgesetzt werden dürfen, trotzdem aber einen wesentlichen Anteil an der Bedeutungsgenerierung und Fiktionsbildung eines Dramas haben können und daher unabhängig von ihrer tatsächlichen Realisierung auf der Bühne in die analytische Betrachtung eines Stücks einbezogen werden müssen.42 Beleuchtet man in diesem Sinne die Regie-‍ , Kostüm- und Requisitenanweisungen für die Pantomime in Die Geisterinsel, so wird deutlich, dass die beiden Librettisten die Festschreibung ihrer inszenatorischen Vorstellungen dazu nutzen, um Ausstattung und Schauspielaktion eng auf Inhalt und dramaturgische Struktur des Dramas zu beziehen.43 Zu diesem Zweck wird die Szene anhand einer Vielzahl verwendeter Metaphern vor allem religiös aufgeladen und die Handlung zugleich optisch reflektiert. So wird Maja durch ihr im Libretto vorgeschriebenes Kostüm eines weißen Totengewands mit einer über 39 Ebd.,

8. Stück, 3 – 7. im Detail Adrian Kuhl, Librettistische Kostümregie in Die Geisterinsel von Gotter und Freiherr von Einsiedel als Zeugnis auktorialer Inszenierungspraktiken um 1800, in: Das achtzehnte Jahrhundert 45 (2021), 66 – 83. 41 Anke Detken, Im Nebenraum des Textes. Regiebemerkungen in Dramen des 18. Jahrhunderts, Tübingen 2009 (Theatron 54), 12, 23, 39, 198; dies gilt insbesondere für Libretti, vgl. Jörg Krämer, Text und Paratext im Musiktheater, in: Frieder von Ammon, Herfried Vögel (Hg.), Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen. Münster 2008 (Pluralisierung & Autorität 15), 45 – 78, hier 53, 71. 42 Detken, Im Nebenraum des Textes (wie Anm. 41), 4, 39, 161 f., 386 f., 391, 394; dies betont auch Alexander Košenina, Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ‚eloquentia corporis‘ im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995 (Theatron 11), 1, 284. 43 Bezüglich der Schauspielbewegungen ist dies ein Vorgehen, das Denis Diderot, dessen theaterästhetische Schriften durch Lessings Übersetzungen im deutschsprachigen Raum zirkulierten und im Kontext der theatergeschichtlichen Umwälzungen der Zeit große Bedeutung entfalteten, von den Dichtern gefordert hatte. Für Diderot fällt die Körpersprache in den Aufgabenbereich des Dichters und müsse von ihm in das Drama integriert werden, vor allem dann, wenn sie vom Schauspieler nicht aus der Figurenrede abgeleitet werden könnten oder keine Rede vorhanden ist; vgl. Detken, Im Nebenraum des Textes (wie Anm. 41), 166 f.; Košenina, Anthropologie und Schauspielkunst (wie Anm. 42), 137. 40 Dazu



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dem Kopf schwebenden, goldenen Glorie demonstrativ als Heilige inszeniert.44 Eine Charakterisierung, die sich auch im Dramenverlauf findet und durch die peritextuelle Vorschrift, das Grabmal als Altar zu gestalten, noch unterstützt wird.45 Verstärkt wird diese Zeichnung zusätzlich dadurch, dass Maja von den Toten aufersteht, um die Lebenden zu retten, was sich leicht als Analogie zur Auferstehung Christi lesen lässt. Religiös konnotiert erscheint auch die konkrete Schauspielbewegung Majas. So stellt sie sich nicht mit einer Sycorax abwehrenden Geste vor die Höhle der Mailänder, sondern mit ausgebreiteten Armen, woraufhin Sycorax’ Macht endet. Lässt sich die Vorschrift der ausgebreiteten Arme zwar als Schutzgeste interpretieren, so bildet Maja mit ihrem Körper dadurch aber auch ein religiös konnotiertes Kreuzsymbol. Demgegenüber wird Sycorax durch die Kleidervorschrift in ein schwarz-rotes Kostüm mit geheimnisvollen Schriftzeichen gehüllt,46 das zusammen mit den vorgesehenen Flammen auch bei den Zeitgenossen Assoziationen mit etwas Teuflischem ausgelöst haben dürfte. Damit wird ihre Zeichnung als böse Figur intensiviert, legt dem Geisterkampf zugleich aber auch Züge einer grundsätzlichen Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse bei, was durch die angesprochene Kreuzsymbolik von Majas Schauspielgeste noch unterstützt wird. Metaphorisch aufgeladen ist auch der am Ende der Szene erscheinende Palmbaum. In zeitgenössischer Perspektive ist er sowohl ein Symbol für Sieg und Frieden als auch für die Auferstehung, das ewige Leben sowie Gerechtigkeit und Keuschheit.47 Mit dem Palmbaum werden also die zentralen Handlungselemente der Pantomime – schützende Auferstehung Majas, Sieg über Sycorax und Rettung Mirandas vor der Vergewaltigung durch Caliban – als Schlussbild der Szene auf der Bühne zusammengefasst. Hieran zeigt sich das Bestreben, die Effekte einerseits in ihrer künstlerischen Substanz zu steigern und dem Bühnenspektakel damit einen übergeordneten Bedeutungsgehalt zu verleihen, andererseits die eingesetzten Effekte in die dramatische Bedeutungsvermittlung zu integrieren und damit der Aufgabe reiner Schauwirkung zu entziehen. 2. Wirkungssteigerung Begegnen die beiden Librettisten dem zeitgenössischen Vorwurf des auf pure Augenlust ausgerichteten Spektakels demnach mit den Strategien einer dramaturgischen und funktionalen Einbindung sowie einer dramenabhängigen Bedeutungssteigerung der Effekte, so sind sie darüber hinaus bestrebt, die 44 [Gotter,

von Einsiedel,] Die Geisterinsel (wie Anm. 8), 8. Stück, 6. 8. Stück, 8, 11. 46 Ebd., 8. Stück, 7. 47 [Art.] Palme, in: Hildegard Kretschmer, Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst, Stuttgart 2016, 311 f. 45 Ebd.,

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Wahrnehmung der Effekte als Effekte durch die affektive Überwältigung des Zuschauers zu nivellieren. In zeitgenössischer Perspektive entfaltet schon die pantomimische Szenengestaltung eine herausgehobene Wirkungsintensität, die aus der theaterästhetischen Wahrnehmung von wortloser Bewegung innerhalb der Diskurse um eine neue Schauspielkunst resultiert. Seit Mitte des Jahrhunderts entwickelte sich ausgehend von Frankreich und nachhaltig befördert durch Gotthold Ephraim Lessings Übersetzungen der Schriften Le Comédien (1747) von Pierre Rémond de Sainte Albine, L’art du théâtre, à Madame*** (1750) von Francesco Riccoboni und weiterer Schriften von Denis Diderot ein neuer Schauspielstil im deutschsprachigen Raum, der durch die Arbeit von progressiv orientierten Theaterleitern wie August Wilhelm Iffland oder Friedrich Ludwig Schröder zum Ende des Jahrhunderts immer stärkere Bedeutung gewann.48 Eine der wesentlichen Neuerungen dieses Darstellungsstils stellte die Aufgabe rhetorisch orientierter, typenhafter Theatergebärden zugunsten einer aus der jeweiligen Figurenanlage und der dramaturgischen Gesamtkonzeption zu entwickelnden Darstellung individueller Empfindungen, seelischer Zustände und Handlungsmotivationen der Bühnenfiguren dar.49 Als zentrale und trotz individueller Begründungsnuancen der Theoretiker letztlich unstrittige Grundannahme galt den Zeitgenossen, dass Gesten innere Zustände des Menschen ausdrücken und daher von Schauspielern zur darstellerischen Interpretation ihrer Rolle entsprechend eingesetzt werden können und sollen.50 Ziel dieser neuen Darstellungsweise war die emotionale Affektation des Zuschauers als unmittelbare Folge der vom Schauspielenden zum Ausdruck der seelischen Zustände der Figur eingesetzten Gesten.51 Innerhalb dieses Verständnisses von einer neuen Schauspielkunst 48 Vgl.

dazu bspw. Jutta Golawski-Braungart, Die Schule der Franzosen. Zur Bedeutung von Lessings Übersetzungen aus dem Französischen für die Theorie und Praxis seines Theaters, Tübingen, Basel 2005; Wolfgang F. Bender, Vom „tollen Handwerk“ zur Kunstübung. Zur „Grammatik“ der Schauspielkunst im 18. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. Grundlagen, Praxis, Autoren, Stuttgart 1992, 11 – 50, hier 24; Erika Fischer-Lichte, Entwicklung einer neuen Schauspielkunst, in: ebd., 51 – 70, hier 56; Claudia Jeschke, Noverre, Lessing, Engel. Zur Theorie der Körperbewegung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: ebd., 85 – 112; Košenina, Anthropologie und Schauspielkunst (wie Anm. 42), bes. 1 – 182, hier 127 f., 134. 49 Eilert, „... allein durch die stumme Sprache der Gebärden“ (wie Anm. 26), 357; Košenina, Anthropologie und Schauspielkunst (wie Anm. 42), 25, 127 f.; Bender, Vom „tollen Handwerk“ zur Kunstübung (wie Anm. 48), 26, 28, 32, 43. Dabei ist für längere Zeit stets von einem Nebeneinander alten und neuen Darstellungsstils auszugehen, ebd., 38. 50 Košenina, Anthropologie und Schauspielkunst (wie Anm. 42), 22, 24, 164; Fischer-Lichte, Entwicklung einer neuen Schauspielkunst (wie Anm. 48), 60; Jeschke, Noverre, Lessing, Engel (wie Anm. 48), 101, 106 – 108. Dieser Einschätzung folgt von Einsiedel explizit, vgl. Hans-Werner Conrad, Einsiedels Theorie der Schauspielkunst. Zur kunsttheoretischen Grundlegung der Schauspielkunst im 18. Jahrhundert, Berlin 1969, 34. 51 Fischer-Lichte, Entwicklung einer neuen Schauspielkunst (wie Anm. 48), 63, 66; Jeschke, Noverre, Lessing, Engel (wie Anm. 48), 101.



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schrieben die Zeitgenossen vor allem der wortlosen Schauspielgeste eine starke und direkte Wirkung auf die Sinne des Zuschauers zu.52 Sie galt als unmittelbarer Ausdruck der Seelenregung und wurde daher dem Wort für die Darstellung und das Erzeugen außerordentlicher Empfindungen als überlegen angesehen.53 In Ansehung der beiden Librettisten erscheint es legitim, diese theaterästhetische Grundhaltung auf Die Geisterinsel zu beziehen. Sowohl Gotter als auch von Einsiedel wirkten mit Gotha und Weimar an seinerzeit progressiven Theatern und Gotter gehörte zu den „Beförderern“ des rasch zum Standardwerk der neuen Schauspielkunst avancierenden Abhandlung Ideen zu ei­ ner Mimik (1785/86) von Johann Jakob Engel.54 Von Einsiedel beteiligte sich sogar mit einer eigenen theoretischen Abhandlung am Diskurs um eine neue Darstellungskunst,55 verfeinerte darin verschiedene Denkmodelle und drückte seine Verehrung für Engel aus.56 Daher kann begründet davon ausgegangen werden, dass die beiden Librettisten mit der Wahl einer Pantomime auch die Vorstellung von einer Steigerung der affektiven Wirkung auf den Zuschauer verbunden haben dürften, nicht zuletzt da von Einsiedel in seiner Abhandlung der wortlosen Geste ebenfalls die genannten Eigenschaften zuschreibt.57 Dass die beiden Librettisten von einer Wirkungssteigerung durch die pantomimische Darstellung ausgegangen seien dürften, wird auch dadurch nahegelegt, dass in den Augen der Zeitgenossen gerade pantomimische Geisterszenen dem Darsteller mit Hilfe der neuen Schauspielkunst erlaubten, das stumme Spiel für eine besonders wirkungsvolle und den Zuschauer affektierende Bühnenpräsentation zu nutzen.58 Dieses Phänomen hatten die Zeitgenossen an der vielfach diskutierten schauspielerischen Gestaltung der Geisterszene in Shakespeares Hamlet durch den englischen Schauspieler David Garrick erfahren. Dieser hatte das wortlose Spiel durch die Darstellung von Hamlets Reaktionen auf den erscheinenden Geist zur Evokation einer außergewöhnlichen Erfahrung für die Bühnenfigur genutzt und die Zuschauer darüber aufs Heftigste mitgerissen; ein 52 Košenina,

Anthropologie und Schauspielkunst (wie Anm. 42), 36, 146. 164; Fischer-Lichte, Entwicklung einer neuen Schauspielkunst (wie Anm. 48), 56. 54 Gotter ist – wie auch der Herzog, die Herzogin und der Prinz von Sachsen-Gotha – Teil der umfangreichen Liste von den „Beförderer[n] des Werks“, das Engel dem zweiten Teil der Abhandlung beifügt, vgl. Engel, Ideen zu einer Mimik (wie Anm. 38), Tl. 2, 307 f.; auf den Referenzcharakter von Engels Schrift weisen hin Košenina, Anthropologie und Schauspielkunst (wie Anm. 42), 171 f.; Bender, Vom „tollen Handwerk“ zur Kunstübung (wie Anm. 48), 39. 55 [Friedrich Hildebrand Freiherr von Einsiedel,] Grundlinien zu einer Theorie der Schauspielkunst. Nebst der Analyse einer komischen und tragischen Rolle. Falstaf und Hamlet von Shakespeare, Leipzig 1797. 56 Košenina, Anthropologie und Schauspielkunst (wie Anm. 42), 171 – 173. 57 Conrad, Einsiedels Theorie der Schauspielkunst (wie Anm. 50), 34. 58 Johann Friedrich Schink, Ueber Brockmanns Hamlet, Berlin 1778, 22, zitiert in: Peter W. Marx, Enter GHOST and HAMLET. Zur Vielstimmigkeit des Hamburger ‚Hamlet‘ 1776, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literatur und Geistesgeschichte 85 (2011), 508 – 523, hier 516. 53 Ebd.,

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darstellerischer Ansatz, der von weiteren Hamlet-Darstellern der neuen Schauspielkunst wie Johann Franz Hieronymus Brockmann oder Schröder mit großer Publikumsresonanz aufgegriffen wurde.59 Durch Gotters und von Einsiedels Interesse an der neuen Schauspielkunst sowie Gotters enge Bekanntschaft mit dem Theaterleiter und Schauspieler Schröder, der durch seine für das Hamburger Theater entstandene, populäre Hamlet-Bearbeitung für die enorme Rezeption des Shakespeare-Stücks im deutschsprachigen Raum verantwortlich war,60 ist es durchaus vorstellbar, dass die Integration einer Geisterpantomime in Die Geisterinsel überhaupt erst durch die zeitgenössische Diskussion um das enorme Wirkungspotential der pantomimischen Geistererscheinung in Hamlet angeregt wurde und diese trotz unterschiedlicher Konzeption reflektiert.61 Die angestrebte Wirkungssteigerung von Geisterszenen konnte dabei allerdings nur erreicht werden, wenn durch eine ernsthafte Darstellung ein Kippen der Szene ins Komische verhindert wurde.62 Vor diesem Hintergrund ist es auffällig, dass Gotter und von Einsiedel für die pantomimischen Rollen Maja und Sycorax im Libretto eine konkrete Besetzung vorgeben. Maja soll von der „ersten tragischen Actrice“, Sycorax vom „ersten tragischen Acteur“ gespielt werden.63 Wäre dies schon deshalb bemerkenswert, da Pantomimen von den Zeitgenossen eigentlich dem Tanz zugerechnet werden und daher eine Ausführung durch eine Tänzerin oder einen Tänzer zu erwarten gewesen wäre,64 so 59 Peter

W. Marx, Hamlet auf der deutschen Bühne. Von den Wandertruppen bis ins frühe 20. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), Hamlet-Handbuch. Stoffe, Aneignungen, Deutungen, Stuttgart 2014, 149 – 156, hier 150 f.; Jens Roselt, David Garrick (1717 – 1779), in: ebd., 130 – 135, hier 131 f.; Marx, Enter GHOST and HAMLET (wie Anm. 58), 513, 515; Nina Birkner, ‚Hamlet‘ auf der deutschen Bühne. Friedrich Ludwig Schröders Theatertext, Dramentheorie und Aufführungspraxis, in: Das achtzehnte Jahrhundert  31 (2007), 13 – 30, hier 20 – 23, 30; Häublein, Die Ent­ deckung Shakespeares (wie Anm. 12), 61. 60 Jacqueline Malchow, Der Hamburger ‚Kaufmann von Venedig‘. Übersetzung, Bearbeitung, und Inszenierung von Schröder bis Schlegel, in: Bernhard Jahn, Claudia Maurer-Zenck (Hg.), Bühne und Bürgertum. Das Hamburger Stadttheater 1770 – 1850, Frankfurt am Main 2016 (Hamburger Beiträge zur Germanistik 56), 489 – 516, hier 489, 492; Martin Jörg Schäfer, Schröders und Bocks ‚King Lear‘-Bühnenadaptionen der 1770er. Eschenburgs Kommentar als dramaturgischer Baukasten, in: ebd., 517 – 540, hier 536; Marx, Enter GHOST and HAMLET (wie Anm. 58), 515; Häublein, Die Entdeckung Shakespeares (wie Anm. 12), 56. Von der engen Bekanntschaft zeugt u. a. ein reger Briefwechsel, vgl. Berthold Litzmann, Schröder und Gotter. Eine Episode aus der deutschen Theatergeschichte. Briefe Friedrich Ludwig Schröders an Friedrich Wilhelm Gotter, 1777 und 1778, Hamburg, Leipzig 1887. 61 Für diesen Hinweis danke ich Bernhard Jahn. 62 Marx betont die Ambivalenz der zeitgenössischen Wahrnehmung von solchen Szenen, die zwischen wirkungsvollem Bühneneffekt und schnell empfundener Lächerlichkeit schwankte, vgl. Marx, Enter GHOST and HAMLET (wie Anm. 58), 510. 63 Zit. nach [Gotter, von Einsiedel,] Die Geisterinsel (wie Anm. 8), 8. Stück, 2; darauf weist auch hin Bauman: North German Opera (wie Anm. 1), 314. 64 Engel, Ideen zu einer Mimik (wie Anm. 38), Tl. 2, 18, 26; Jeschke, Noverre, Lessing, Engel (wie Anm. 48), 108.



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zeugt die Besetzungsvorschrift hierdurch von bestimmten Kalkulationen der Librettisten bezüglich der Bühnenwirkung: Durch die Forderung nach tragischen Darstellenden wird die schauspielerische Umsetzung in den Bereich des Trauerspiels gerückt, was in der zeitgenössischen Perspektive nicht nur mit konkreten Erwartungen an die Bühnenausführung, sondern auch mit bestimmten Assoziationen an die Wirkung der Darstellung verbunden war. Dies führt von Einsiedel in seiner Abhandlung zur Schauspielkunst selbst aus und betont zugleich den engen Zusammenhang von Bühnendarstellung und Rezeption einer Figur durch den Zuschauer. So grenze sich laut von Einsiedel das Trauerspiel von der Komödie unter anderem dadurch ab, dass es ernsthaftere Dinge behandele als die Komödie und daher dem Schauspieler weniger darstellerische Freiheiten erlaube, vor allem aber eine ernsthafte Darstellung auferlege.65 Auch ziele das Trauerspiel nicht wie die Komödie auf reine Unterhaltung, sondern auf das Erregen teilnehmender Gefühle.66 Die Besetzung mit Tragödiendarstellern soll also in den Augen der Librettisten eine Ausführung sichern, die durch ihre ernsthafte Darstellung auf Affektation ausgerichtet ist. Zugleich soll die tragödiengeschulte Darstellung über ihr Rückwirken auf die Figurendisposition von Maja und Sycorax sicherstellen, dass die beiden Geister als gehobene Figuren innerhalb des Dramas wahrgenommen werden. Damit wird die Ernsthaftigkeit des Geisterauftritts unterstrichen und die Szene dem Anschein albernen Effektspektakels entzogen. Dass dieser Besetzungsvorschrift zumindest an progressiven, der neuen Schauspielkunst verpflichteten Theatern67 auch Folge geleistet wurde, zeigt eine später noch zu thematisierende Bühneneinrichtung am Hamburger Stadttheater von 1803, in der mit Madame Herzfeld, Madame Stollmers und Madame Fiala Schauspielerinnen besetzt waren, die für ihre herausragenden Leistungen im Trauerspiel bekannt waren.68 65 [Einsiedel,]

Grundlinien zu einer Theorie der Schauspielkunst (wie Anm. 55), 74, 78 f. 75 – 77. 67 Das Hamburger Stadttheater entwickelte sich unter Schröder während seiner dreimaligen Intendanzen zu einem Zentrum der neuen Schauspielkunst. Sein Nachfolger Jacob Herzfeld dürfte, da er als größter Schüler Schröders gilt, den Ansatz seines Lehrers fortgeführt haben; vgl. Bernhard Jahn, Bühne und Bürgertum. Das Hamburger Stadttheater 1770 – 1850. Einleitung, in: ders., Maurer-Zenck (Hg.), Bühne und Bürgertum (wie Anm. 60), 9 – 20, hier 10 f.; Bender, Vom „tollen Handwerk“ zur Kunstübung (wie Anm. 48), 24. 68 In der Erstaufführung spielte Madame Herzfeld, ab der zweiten Aufführung Madame Stollmers die Rolle der Maja, während Sycorax in allen Aufführungen an Madame Fiala vergeben wurde. Alle drei Schauspielerinnen waren namhafte Darstellerinnen im Trauerspiel; Elisabeth Fleissner-Moebius, [Art.] (Antoinette) Sophie Schröder, geb. Bürger, verehel. Stollmers, später verehel. Kunst, in: Österreichisches Biographisches Lexikon, (letzter Zugriff: 29. 6. 2021); Elisabeth Mentzel, Madame Fiala. Aus dem Leben einer Schauspielerin des 18. Jahrhunderts, in: Deutsche Thalia. Jahrbuch für das gesamte Bühnenwesen  1 (1902), 1 – 35, hier 4, 17, 26; Brita Reimers, [Art.] Caroline Herzfeld, in: Landeszentrale für politische Bildung Hamburg (Hg.), Hamburger Frauenbiographien-Datenbank, 66 Ebd.,

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Eine ernsthafte Darstellung der Geisterrollen ist vor dem Hintergrund der Abgrenzung zu den Wiener Singspielen aber auch deshalb wichtig, da die beiden Librettisten mit der Gestaltung der Geisterszene als Pantomime die Gefahr zunächst noch vergrößern, dass die Effektszene von kritischen Zeitgenossen als albern und lächerlich empfunden werden könnte. Darauf weist prominent Engel in seinen Ideen zu einer Mimik hin. Im 30. Brief widmet er sich den selbständigen Pantomimen und konstatiert in diesem Kontext, dass sie schnell unfreiwillig komisch wirkten, wenn sie handlungsarm und zu lang, vor allem aber wenn sie schrecklich, groß oder edel sein sollen.69 Durch den Auftritt von Geistern und die Aufladung der Pantomime in Die Geisterinsel zu einem ins Absolute gewendeten Kampf von Gut und Böse lässt sich Engels Warnung somit leicht auch auf diese Szene beziehen und fordert in zeitgenössischer Perspektive von den beiden Dichtern also besondere Vorkehrungen wie die genannte Besetzungsvorschrift und aktionsreiche Kürze, um ihre Intention einer künstlerisch anspruchsvollen Effektszene nicht durch den Nummerntypus selbst zu konterkarieren. Die angestrebte Wirkungssteigerung manifestiert sich aber nicht nur in der Wahl einer Pantomime als Nummerntypus für den Auftritt der Geister. Wird die Szene als Ganzes betrachtet, so zeigt sich, dass ihre gesamte Konstruktion letztlich auf eine affektive Überwältigung des Zuschauers ausgerichtet ist. So rücken die beiden Dichter die Geistererscheinung durch die spezifische Szenengestaltung und die symbolische Aufladung der Effekte in den Kontext des Sublimen, das für die Ästhetik des 18. Jahrhunderts zentral ist. Ausgehend von der Übersetzung der Schrift Peri hypsous („Vom Erhabenen“) des Pseudo-Longinos durch Nicolas Boileau (1674) hatte sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts die Vorstellung vom Erhabenen über Diskurse in Frankreich und zentrale Erweiterungen des Begriffs in England auch in Deutschland zu einer vieldiskutierten Wirkungskategorie etabliert.70 Auch wenn sich, wie Werner Strube betont, zwar (letzter Zugriff: 29. 6. 2021). 69 Engel, Ideen zu einer Mimik (wie Anm. 38), Tl. 2, 47; dazu auch Eilert, „… allein durch die stumme Sprache der Gebärden“ (wie Anm. 26), 356. 70 Dazu bspw. Werner Strube, Schönes und Erhabenes. Zur Vorgeschichte und Etablierung der wichtigsten Einteilung ästhetischer Qualitäten, in: Archiv für Begriffsgeschichte 47 (2005), 25 – 59, hier 30 – 59; Carsten Zelle, [Art.] Schrecken/Schock, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 5, Stuttgart u. a. 2003, 436 – 4 46, hier 439 – 4 42; Jörg Heininger, [Art.] Erhaben, in: ebd., Bd. 2, Stuttgart 2001, 275 – 310, hier 280 – 291; Carsten Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart u. a. 1995, 123 – 146; Christian Begemann, Erhabene Natur. Zur Übertragung des Begriffs des Erhabenen auf Gegenstände der äußeren Natur in den deutschen Kunsttheorien des 18. Jahrhunderts, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 58 (1984), 74 – 110; immer noch auch Karl Viëtor, Die Idee des Erhabenen in der deutschen Literatur, in: Geist und Form. Aufsätze zur deutschen Literaturgeschichte, Bern 1952, 234 – 266, hier bes. 234 – 260.



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kein einheitlicher Begriff vom Sublimen ausbildet, sondern treffender von verwandten Theorien mit individuellen Ausprägungen und Schwerpunktsetzungen zu sprechen ist,71 lassen sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dennoch einige Kriterien für das Auslösen von Erhabenheitsempfindungen festmachen: So entsteht ein derartiges Gefühl für die Zeitgenossen unter anderem dann, wenn in Anschauung realer oder durch Kunst nachgeahmter Dinge plötzlich ungeheure Dimensionen eines Objekts oder Ereignisses erfahrbar werden und dies von religiösen Empfindungen, einem Umschlagen von Ordnung ins Chaos (oder umgekehrt) sowie einem dialektischen Empfinden von Schrecken und Lust begleitet wird.72 Als Resultat dieses Erlebens wird von den Zeitgenossen eine ins Maximum gesteigerte emotionale Erschütterung des Empfindenden konstatiert.73 Es ist offensichtlich, dass sich diese Elemente in der Pantomime verwirklicht finden: Die durch Sturm, Gewitter und Flammen optisch sowie akustisch bedrohlich inszenierte Natur sowie das Meer und das Dunkel der Nacht dürften bei den Zuschauern ein solches ‚angenehmes Grauen‘ ausgelöst haben; nicht zuletzt da wilde Natur, Gewitter, Blitze, (See-)‌Stürme, die Weite des Meeres und Dunkelheit im 18. Jahrhundert vielzitierte Beispiele für potentielle Auslöser von Erhabenheitsgefühlen sind.74 Auch die Verwendung numinoser Wesen und die Darstellung eines aus dem Grabe auferstehenden Geistes dürfte angenehmen Schrecken ausgelöst haben, was sich unter anderem dadurch belegen lässt, dass sich seit Johann Jakob Bodmer vor allem Geister für die Evokation von Erhabenheitsempfindungen eignen. Dies gilt vor allem dann, wenn sie große und wirkungsmächtige Taten vollführen.75 Durch den in Die Geisterinsel ins Absolute gewendeten Kampf zwischen Gut und Böse, der zudem durch den in den Kostümvorschriften des Librettos manifestierten Gegensatz von Hell und Dunkel76 noch optisch reflektiert wird, lässt sich diese, bei Bodmer ursprünglich auf das allegorische Drama des 17. Jahrhunderts bezogene Festlegung auch auf Gotters 71 Werner

Strube, Der Begriff des Erhabenen in der deutschsprachigen Ästhetik des 18. Jahrhunderts, in: Lothar Kreimendahl (Hg.), Aufklärung und Skepsis. Studien zur Philosophie und Geistesgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts. Günter Gawlick zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1995, 272 – 302, hier 299 f. 72 Strube, Schönes und Erhabenes (wie Anm. 70), 37, 46; Heininger, [Art.] Erhaben (wie Anm. 70), 277; Zelle, Die doppelte Ästhetik (wie Anm. 70), 143; Begemann, Erhabene Natur (wie Anm. 70), 74 – 76, 78, 91 f., 94, 102 f., 109 f. 73 Strube, Schönes und Erhabenes (wie Anm. 70), 36, 50; Zelle, Die doppelte Ästhetik (wie Anm. 70), 143; Begemann, Erhabene Natur (wie Anm. 70), 78, 80, 87, 109. 74 Strube, Der Begriff des Erhabenen (wie Anm. 71), 291; Begemann, Erhabene Natur (wie Anm. 70), 74 – 76, 83, 90, 102 f., 104. 75 Strube, Der Begriff des Erhabenen (wie Anm. 71), 277 f.; Begemann, Erhabene Natur (wie Anm. 70), 95. 76 Die Handlung wird generell von einem Hell-Dunkel-Gegensatz geprägt, dazu Candoni, Shakespeares ‚Sturm‘ (wie Anm. 11), 107.

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und von Einsiedels Stück übertragen. Zugleich erzeugt die Grundsätzlichkeit der Auseinandersetzung zwischen Maja und Sycorax aber auch die für das Erhabene charakteristische ungeheure, jegliches menschliche Ermessen sprengende Dimension. Die religiöse Symbolik der Handlung und einiger Schauspielgesten zielen hierbei auf das für das Sublime typische Erleben von Göttlichkeit. Der Auftritt der guten Fee Maja inmitten einer aufgewühlten und zerstörerischen Natur greift zudem auf Darstellungstraditionen erhabener Charaktere zurück.77 Der für das Erleben von Erhabenheit typische Verlust von Ordnung wird im Kontext der Dialogoper durch die Gestaltung der Szene als instrumentalbegleitete Pantomime sowie durch die Anlage als zusammenhängender Szenenkomplex am Aktanfang erreicht. Die Verwendung reiner Instrumentalmusik, das stumme Agieren und die Gestaltung des Aktbeginns als musikalische Szene brechen mit der im nord- und mitteldeutschen Singspiel erwarteten Darstellungsform und erzeugen damit den gewünschten Verlust von geordneter Abfolge. Unterstützt wird das Empfinden von Erhabenheit noch dadurch, dass Instrumentalmusik ein besonderes Potential zur Evokation des Erhabenen zugeschrieben wird. Dies gilt vor allem dann, wenn sie im Hörer Bilder erhabener Erlebnisse hervorruft, wie Carl Grosse in seiner Abhandlung Über das Erhabene von 1788 ausführt.78 Und auch bei Johann Georg Sulzer, der in seiner Allgemeinen Theo­ rie der Schönen Künste die für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts maßgeblichen Ansichten über das Sublime zusammenfasst,79 wird einem orchestralen Instrumentalstück eine besondere Eignung für den Ausdruck von Erhabenem zugeschrieben.80 Nimmt man vor diesem Hintergrund eine Vertonung des Librettos und ihre Bühnenumsetzung in den Blick, so zeigt sich, dass die Zeitgenossen die Pantomime tatsächlich mit einem Akzent auf das Musikalisch-Bildliche umgesetzt haben. 77 Begemann,

Erhabene Natur (wie Anm. 70), 98. Caduff, Die ‚Gewalt der Musik‘ und das Erhabene, in: Weimarer Beiträge 4 (2002), 495‒519, hier 495 f.; Heininger, [Art.] Erhaben (wie Anm. 70), 288; Carl Grosse: Ueber das Erhabene, Göttingen, Leipzig 1788, 32 f.; einen Verweis auf die Instrumentalmusik findet sich schon in Edmund Burkes A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful (London 21759, 102) und damit in einer der zentralen Schriften des Erhabenheitsdiskurses; zur Bedeutung Burkes für den deutschsprachigen Raum sowie zu zeitgenössischen Übersetzungen ins Deutsche: Carsten Zelle, „Angenehmes Grauen“. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert, Hamburg 1987 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 10), 186; ders., [Art.] Schrecken (wie Anm. 70), 440; auch Strube, Schönes und Erhabenes (wie Anm. 70), 58; Zelle, Die doppelte Ästhetik (wie Anm. 70), 126, 142. 79 Ebd., 141. 80 Ebd.; [Art.] Symphonie, in: Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Vierter Theil, Leipzig 21794, 478 – 480, hier 478; dieses Wirkungspotential wird bei Sulzer nicht nur auf die selbständige „Kammersymphonie“ bezogen, sondern dezidiert auch auf die Opern­ sin­fonia. Die Anwendung dieser Einschätzung auf ein Operninstrumentalstück im Binnenverlauf erscheint daher vertretbar. 78 Corina



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V. Die Pantomime in der Vertonung Johann Rudolph Zumsteegs in einer Hamburger Bühneneinrichtung von 1803 Unter der Direktorentrias Gottfried Eule, Carl David Stegmann und Jacob Herzfeld kam im November und Dezember 1803 am Hamburger Stadttheater die seinerzeit populäre Vertonung des Librettos durch den Stuttgarter Kapellmeister Johann Rudolph Zumsteeg auf die Bühne und wurde dort, wie die Hamburger Theaterzettel belegen, insgesamt fünfmal gegeben.81 Zumsteeg hatte das Libretto für die Geburtstagsfeierlichkeiten von Herzog Friedrich II. von Württemberg in Musik gesetzt und am 7. November 1798 im Stuttgarter Kleinen Hoftheater uraufgeführt.82 Durch den großen Erfolg der Premiere folgten, flankiert durch eine bemerkenswerte Berichterstattung in der Allgemeinen Mu­ sikalischen Zeitung und der Produktion eines gedruckten Klavierauszugs, zahlreiche weitere Aufführungen des Stücks nicht nur in Stuttgart, sondern auch in weiteren Städten des deutschsprachigen Raums.83 Nach derzeitigem Kenntnisstand existiert von Zumsteeg, wie im Übrigen auch von weiteren Vertonungen des Stückes durch andere Komponisten, keine eigenhändige Zuordnung der im 81 Vgl.

den digitalen Spielplan des Hamburger Stadttheaters unter sowie die darüber erreichbaren Digitalisate der Theaterzettel. Die Aufführungen fanden statt am 18., 21. und 23. November sowie am 1. und 11. Dezember 1803 (letzter Zugriff: 4. 12. 2020). 82 „Zur Feier des höchsten GeburtsFestes Seiner Herzoglichen Durchlaucht wird am Dienstag, den 6 November, eine Redoute im grossen Herzoglichen Theater, mit festlicher Beleuchtung, gehalten, am folgenden Tage aber, Mittwoch, den 7 Nov. im kleinen HofTheater mit aufgehobenem Abonnement, zum erstenmal aufgeführt werden: Die Geister=Insel, eine Oper in 3 Akten, von Gotter; in Musik gesezt von Hrn. KonzertMeister Zumsteeg“, zit. nach Schwäbische Chronik vom 2. November 1798, 404. Die Ankündigung wird wiederholt am 4. November 1798 (406) und in kürzerer Form am 7. November 1798 (408); dazu Reiner Nägele, Johann Rudolph Zumsteegs „Die Geisterinsel“. Zur Aufführungsgeschichte einer Festoper (1798, 1805, 1889), in: ders. (Hg.), Musik und Musiker am Stuttgarter Hoftheater (1750 – 1918). Quellen und Studien, Stuttgart 2000, 139 – 153, hier 141 f., 152. 83 Im ersten Jahrgang der Allgemeinen musikalischen Zeitung (1798/99) erschien am 3. Oktober 1798 eine erwartungsvolle Ankündigung, dass Zumsteeg das Libretto komponieren werde (16), in der Ausgabe vom 27. Februar 1799 folgte das Duett „Traurige Korallen“ als Musikbeilage (XXIX–XXXIV), im Herbst desselben Jahres gipfelte die Berichterstattung schließlich in einer 52 Spalten (!) umfassenden, nummernweisen Besprechung der Oper: [Johann Friedrich] Christmann, Ueber die Composition der Geisterinsel von Hrn. Concertmeister Zumsteeg in Stuttgardt, in: Allgemeine musikalische Zeitung  1 (1798/1799), 657 – 676, 689 – 711, 785 – 813; dazu auch Reiner Nägele, Johann Rudolph Zumsteeg – der andere Mozart? Versuch über die „Stuttgarter Klassik“, in: ders. (Hg.), Johann Rudolph Zumsteeg (1760 – 1802). Der andere Mozart?, 51 – 71, hier 51 – 54; ders., Zumsteegs „Die Geisterinsel“ (wie Anm. 82), 141 f. Das Stuttgarter Hoftheater war seit 1779 bereits auch für zahlendes Publikum geöffnet; Reiner Nägele, „Hier ist kein Platz für einen Künstler“. Das Stuttgarter Hoftheater 1797 – 1816, in: ders. (Hg.), Musik und Musiker am Stuttgarter Hoftheater (wie Anm. 82), 110 – 128, hier 115, 117. Der Klavierauszug erschien 1799 bei Breitkopf und Härtel.

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Libretto vorgesehenen Bühnenaktionen zur Vertonung, da Bühnenhandlung Ende des 18. Jahrhunderts nicht unbedingt auch in Partituren oder Klavierauszügen vermerkt wurde. In den außergewöhnlichen Beständen des Hamburger Stadttheaters hat sich allerdings nahezu das vollständige Material der dortigen Aufführungsserie – Partitur, Stimmen, Inspections- und Souffleurbücher sowie Rollenhefte – erhalten und überliefert im Rollenheft der Maja, in der Stimme der ersten Violine und in der Aufführungspartitur eine genaue Zuordnung der in dieser Produktion vorgesehenen Bühnenaktionen zur Musik (vgl. Abb.).84 Anhand dieses Materials kann zwar nicht Zumsteegs Intention von der Bildlichkeit seiner Vertonung nachgegangen werden, wohl aber einer zeitgenössischen Interpretation seiner Musik in Bezug auf die szenische Realisierung der Szene. Wie im Libretto vorgesehen, legt Zumsteeg die Pantomime als rein instrumentale Nummer innerhalb eines durchgehend musikalisierten Szenenkomplexes an. Die Musik zur Pantomime gliedert der Komponist in mehrere kontrastierende Abschnitte, die von der Hamburger Spielleitung zur Strukturierung der im Libretto vorgesehenen Handlungselemente genutzt werden.85 In auffälliger Weise haben die Hamburger Zeitgenossen ihrer Einrichtung hierbei eben die für das Erzeugen sublimer Gefühle förderliche bildliche Interpretation musikalischer Elemente zu Grunde gelegt. Der erste Abschnitt ist bei Zumsteeg (T.  1 – 20) durch Sechzehntelfiguren über durchlaufender Achtelgrundierung, durch Sforzati (bspw. T. 3 f., 6 f.) und Synkopenketten (T. 6 – 9) sowie durch eine Besetzung aus Streichern, Pauke, Holz- und Blechbläsern geprägt. Eine Zäsur entsteht durch einen plötzlichen Wechsel ins Piano, der durch eine fast vollständige Ausdünnung des Satzes zusätzlich verschärft wird (T. 20). Über lediglich liegenden Akkorden in den Streichern und Holzbläsern entwickelt sich in der ersten Violine eine auf- und absteigende Linie in Viertelnoten, bevor der zweite Abschnitt in einem Forte-Akkord endet (T. 25). Es schließt sich eine zweitaktige punktierte Figur in den Violinen an, die in Sechzehntelrepetitionen eines auf die Streicher reduzierten Orchestersatzes mündet (T. 27 f.). Durchbrochene, aufsteigende Achtelfiguren (T. 29 f.) in den Violinen folgen und gipfeln in synkopierten Tonrepetitionen im Crescendo. Zu einer durchs Orchester wandernden Melodie 84 Partitur,

Stimmen und Rollenhefte: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky, Musikabteilung, Signatur ND VII 459, Theater-Bibliothek 273a, 273b (Inspektionsbücher), 273c (Soufflierbuch); zum Theaterbestand dieser Bibliothek generell und zur Bedeutung des Materials für die Untersuchung zeitgenössischer Bühneneinrichtungen vgl. Jahn, Bühne und Bürgertum (wie Anm.  67), 11 f. und Jürgen Neubacher, Die Aufführungsmaterialien des Hamburger Stadttheaters, in: Jahn, Maurer-Zenck (Hg.), Bühne und Bürgertum (wie Anm. 60), 23 – 36. 85 Zur sich im 18. Jahrhundert erst herausbildenden Bühnenregie vgl. Wilfried Passow, Anmerkungen zur Kunst des Theaters und der Regie im deutschen Theater des 18. Jahrhunderts, in: Bender (Hg.), Schauspielkunst im 18. Jahrhundert (wie Anm. 48), 133 – 145; Sybille MaurerSchmoock, Deutsches Theater im 18. Jahrhundert, Tübingen 1982 (Studien zur deutschen Literatur 71), 173 – 183.



Anspruchsvolle Effekte? 183

Abb. 1: Die Geisterpantomime in der Stimme der Violine I mit der Zuordnung der Bühnenanweisungen. Johann Rudolph Zumsteeg: Die Geisterinsel. Oper in 3 A[kten], Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky, Musikabteilung, Signatur ND VII 459 (Stimmen).

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(T. 33 f., 34 f., 36 f.) steigert sich die Besetzung wieder, und der Abschnitt mündet in einen Forte-Akkord mit anschließender Generalpause, bevor sich ein nur kurzer, zum vorhergehenden heftig kontrastierender Abschnitt anfügt. Nach einer erneuten Generalpause in Takt 42 erklingt eine solistische Oboenmelodie, auf die im nächsten Abschnitt der variierte Aufgriff der Sechzehntelfiguren sowie der vollen Orchesterbesetzung vom Anfang folgt (T. 51 – 56). Punktierte Tonrepetitionen schließen sich an, während die Pantomime von einer Variante der solistischen Oboenmelodie beschlossen wird (T. 61 – 67). In der Hamburger Bühneneinrichtung ist der erste Abschnitt nun zunächst der musikalischen Darstellung von Donner und Blitz gewidmet, als die die pendelnden Sechzehntelfiguren in den Violinen und die zahlreichen Sforzati interpretiert werden, bevor Sycorax mit dem Einsatz der Synkopen aus dem Meer aufsteigt. Dem in der Bühnenanweisung geforderten Umsehen der Hexe wird durch die verbleibenden Takte des Abschnittes musikalisch Zeit gegeben. Bei den letzten als Donner verstehbaren Sechzehntelfiguren bricht Majas Grab auf. Dabei wird das von den Librettisten vorgesehene „Geräusch“ beim Bersten auch musikalisch nachvollzogen, indem erstmals die Holzbläser in die Sechzehntelfigur eingebunden werden und sich damit die Lautstärke wie der Klangcharakter ändern (T. 19). Das Auferstehen Majas wird in der Hamburger Bühneneinrichtung durch die auf- und absteigende Linie aus Viertelnoten bildlich nachvollzogen (T. 21 – 24), bevor das Ausstrecken von Majas Arm gegen Sycorax zu den punktierten Figuren vorgesehen ist (T. 25 f.). Dadurch wird der Armbewegung eine langsame Ausführung nahegelegt, während die Tonrepetitionen klanglich den Eindruck von Unverrückbarkeit und Standhaftigkeit evozieren. Sycorax’ Beben wird durch die Sechzehntelrepetitionen in den Violinen erneut als sehr bildlich komponiert interpretiert, bevor das Schöpfen neuen Mutes anhand der durchbrochen aufsteigenden Achtelfiguren, der parallel stattfindenden Vergrößerung des Orchesterapparats sowie der schließlich einsetzenden Melodie umgesetzt wird. Majas schützendes Ausbreiten der Arme vor der Behausung Prosperos und Mirandas fällt im Hamburger Manuskript mit der großen Zäsur der Generalpause zusammen, nach der der musikalisch und instrumentatorisch ausgedünnte Satz den Machtverlust von Sycorax umsetzen dürfte, der durch das Fallenlassen ihres Zauberstabes symbolisiert wird. Majas flehendes Blicken zum Himmel sowie der abschließend aufwachsende Palmbaum werden jeweils von der solistischen Oboenmelodie begleitet. In den variierten Einsatz der Sechzehntelfiguren eingebettet, die hier, wie schon zu Beginn, den laut Libretto wieder einsetzenden Donner und Blitz symbolisieren (T. 51), fährt Sycorax auf die über zwei Oktaven abwärts gerichtete Zweiunddreißigstellinie wieder hinab (T. 55). Die Bühnenaktionen werden in der Hamburger Bühneneinrichtung demnach so mit der Musik korreliert, dass eine musikalisch malende Klangkulisse des Bühnengeschehens entsteht, die Musik wird also als bildlich gedachtes Instru-



Anspruchsvolle Effekte? 185

mentalstück interpretiert. Damit folgen die Hamburger Bühnenleiter einerseits einer für Pantomimen typischen Korrelation von Musik und Bühnenaktion, da bei Pantomimen ähnlich wie beim Ballett durch das Fehlen von vertontem Worttext Schauspielgeste und Musik für Darstellung und Vermittlung der Handlung, aber auch für die Steuerung des zeitlichen Ablaufs zuständig sind,86 zugleich unterstützen sie aber durch diese Interpretation das von den Librettisten vorgesehene Auslösen erhabener Gefühle. Die als Donner und Blitz verstandenen Sechzehntelfiguren und Sforzati, das musikalische Nachvollziehen des GrabBerstens sowie insgesamt die malende Begleitung der Schauspielgesten und das musikalische Nachempfinden der Bühnenhandlung dürften in Ergänzung zur sichtbaren Szene eben jene erhabenen Erlebnisse in den Zuschauern hervorgerufen haben, die die Zeitgenossen als fördernd für das Auslösen sublimer Überwältigung beschrieben haben. Mit welch genauem Verständnis für Musik und szenische Zusammenhänge die Hamburger Spielleiter bei ihrer Einrichtung insgesamt vorgegangen sind und wie szenisch Zumsteeg bei der Anlage der Komposition gedacht haben muss, verdeutlichen darüber hinaus weitere Bezüge zwischen der Bühneneinrichtung und der musikalischen Gestaltung. Beispielsweise werden strukturelle Unterschiede in der Musik in Hamburg dazu genutzt, die antagonierenden Figuren in der szenischen Einrichtung auch musikalisch voneinander zu unterscheiden: Sycorax werden in der Choreographie der volle Orchestersatz, die Verwendung von Synkopen und die Tonart c-Moll zugeordnet, während Majas Agieren vorwiegend durch Streicher, Holzbläser und punktierte Noten begleitet und ihr die Tonart G-Dur zugwiesen wird. Die einzige Ausnahme bildet der nur ausgedünnt instrumentierte Abschnitt, in dem Sycorax Maja erblickt und auf Prosperos Zelle zueilt (T. 27 – 29). Dies lässt sich hier jedoch über den erst wieder erstarkenden Mut der Hexe erklären, der mit der sich ab Takt 30 steigernden Instrumentierung nachvollzogen wird. Darüber hinaus ist von Zumsteeg noch ein dramaturgischer Verweis in die Pantomime einkomponiert worden, der in der Hamburger Bühneneinrichtung nicht nur zur Dramatisierung der Handlung, sondern auch zur Figurendifferenzierung und damit zur Verständlichkeit des Bühnengeschehens genutzt wird. So erklingt beim Auftritt Sycorax’ (Violine I, T. 12 f., 15 f.) sowie an der Stelle, an der sie neuen Mut schöpft und auf die Zelle zueilt (Bass, T. 33 – 38) ein musikalischer Verweis auf das Duett „Vernimm die Schrecken, die uns drohn“ zwischen Miranda und Prospero aus dem ersten Akt, in dem Prospero vergeblich versucht hatte, seine Tochter vor Sycorax’ Fluch zu 86 Zur

Rolle der Musik beim Tanz Jeschke, Noverre, Lessing, Engel (wie Anm. 48), 86, 99. Auch wenn sich bei Musik zur Pantomime im Vergleich zum Tanz strukturell freier entfalten kann, wie Stephanie Schroedter ausführt, bestimmt sie trotzdem durch ihren Zeitverlauf über die Geschwindigkeit der theatralen Ausführung; vgl. Stephanie Schroedter, [Art.] Pantomime, in: Finscher (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart (wie Anm. 1), Sachteil Bd. 7, Kassel u. a. 1997, 1332 – 1340, hier 1333.

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warnen (Gesangslinie Prospero T. 20 f., 62 f.). Der musikalische Verweis auf das Duettthema beim nun realen Auftreten der Hexe macht musikalisch damit deutlich, um wen es sich bei der aus dem Meer aufsteigenden Figur handelt und ruft dem Zuschauer die zu Beginn des Singspiels thematisierten Gefahren in Erinnerung, die von ihr ausgehen. Durch diese musikalische Rekapitulation wird ein wesentlicher Beitrag zur Verstehbarkeit der Handlung in der Pantomime geleistet, das möglicherweise Engels Forderung reflektiert, dass bei Pantomimen Figurendisposition und Handlung vorab erklärt werden müssten, damit diese verständlich seien.87 Dass nicht nur die Hamburger Bühneneinrichtung, sondern auch Zumsteeg den Rückgriff intentional einsetzt, wird dadurch belegt, dass die variierte Melodie auf die Worte „Deiner Feindin sprech’ ich Hohn“ abermals im später erklingenden Duett zwischen Ariel und Prospero aufgegriffen wird, wenn der Luftgeist dem Magier von den Geschehnissen der Nacht berichtet, hier also wiederum eine klangliche Verbindung mit der nun überwundenen Bedrohung hergestellt wird („Welch ein wonnevolles Chor“, T. 83 – 85). Auch wenn zum Ende des 18. Jahrhunderts grundsätzlich nicht von einer Regie im heutigen Sinne gesprochen werden kann,88 zeigt das Hamburger Aufführungsmaterial der Geisterpantomime, wie überlegt und genau in der Bühneneinrichtung des Stadttheaters die Gestaltung der Bühnenaktion zur Musik choreographiert worden ist. Damit liefert sie auch ein Dokument für die zu dieser Zeit vereinzelt einsetzende Regie- und Inszenierungspraxis. VI. Fazit Mit der Integration der zahlreichen Bühneneffekte in Die Geisterinsel reagieren Gotter und von Einsiedel deutlich auf die zum Ende des Jahrhunderts feststellbare Erwartungshaltung des Publikums nach Schau- und Maschineneffekten im Stil der Wiener Zaubersingspiele. Die nähere Untersuchung der Geisterpantomime kann hierbei allerdings zeigen, dass die Effektszene nicht willkürlich in den Dramenablauf integriert wird, sondern unter großem schriftstellerischen Aufwand mit dem für die nord- und mitteldeutsche Singspielästhetik charakteristischen Wunsch nach begründbarer Handlungsführung, Ernsthaftigkeit und literarischem Anspruch vermittelt wird. Dem Streben nach rationaler Handlungsführung und damit das Vermeiden der an den Wiener Singspielen kritisierten Beliebigkeit der Spektakelszenen begegnen die beiden Librettisten durch die strenge Motivation ihrer Effektszene aus der Handlungsentwicklung und dem Verzahnen mit der Dramaturgie des Stückes. Innerhalb der Handlungsführung erscheint der Auftritt der beiden Geister Sycorax und Maja als begründbarer Be87 Engel,

Ideen zu einer Mimik (wie Anm. 38), Tl. 2, 26. Zur Kunst des Theaters und der Regie (wie Anm. 85), 133 f.

88 Passow,



Anspruchsvolle Effekte? 187

standteil des Dramas, da er während des Dramenverlaufs durch Äußerungen von Figuren vorbereitet und die Anlage des dramatischen Konflikts, der lediglich einen Eingriff von außen zur Auflösung zulässt, mit der inhaltlichen Konstruktion des Stücks verzahnt wird. Zusätzlich legitimiert wird die Effekthaftigkeit der Szene durch ihre dramaturgische Einbindung. Dadurch, dass sie als Peripetie des Stückes fungiert, ist ihre herausgehobene Anlage als eindrucksvolle Höhepunktgestaltung zusätzlich motiviert. Die angestrebte Ernsthaftigkeit der Effektszene wird dagegen einerseits durch die im Libretto vorgeschriebene Ausführung mit Tragödiendarstellern gewährleistet, die die Szene vor einem Kippen ins Alberne oder Komische bewahren soll, sowie andererseits durch die semantische Aufladung der Effekte und Schauspielbewegungen, die durch zusätzlichen symbolischen Gehalt zur Bedeutungsgenerierung des Dramas eingesetzt werden. Dies lässt sich sowohl für das von Majas Armen gebildete Kreuzsymbol wie auch für den erscheinenden Palmbaum als Symbol für Sieg, Frieden, Auferstehung und den Triumph der Gerechtigkeit und damit als bildliche Zusammenfassung der Bedeutung von Majas Sieg für die Dramenhandlung feststellen. Die Effektgestaltung der Szene verschmilzt hier also abermals gezielt mit der Inhaltsebene des Dramas und erfährt hierdurch zugleich einen erheblichen Zuwachs an künstlerischem Gehalt, der als Reaktion auf den zeitgenössischen Wunsch nach literarischem Anspruch nord- und mitteldeutscher Libretti und die im Norden als lediglich inhaltsleeren Schaueffekte kritisierten Wiener Effektszenen lesbar ist. Einer auf reine Schaulust ausgerichteten Wahrnehmung der spektakelhaften Szene wirken die beiden Librettisten schließlich durch die genau kalkulierte affektive Überwältigung des Zuschauers entgegen. Die Anlage der Szene als einer durch optische und akustische Effekte wie Sturm, Gewitter und Flammen als bedrohlich inszenierten Natur, in der numinose Wesen einen ins Grundsätzliche gewendeten Kampf zwischen Gut und Böse austragen, dient dem Erwecken sublimer und damit den Zuschauer überwältigender Gefühle. Erheblich gesteigert wird das Wirkpotential der Szene dabei dadurch, dass die Librettisten mit der Pantomime einen Nummerntypus gewählt haben, der durch die Verwendung lediglich stumm auszuführender Bewegungen in den Augen der schauspielreformatorischen Zeitgenossen eine besonders intensive Wirkung auf die Emotionen der Zuschauer hat. Dieser Effekt wird durch die Besetzungsvorschrift mit Tragödiendarstellern zusätzlich intensiviert, indem sie durch ihre aus der Tragödiendarstellung eingeübte Art der Bewegungsführung und ihrer Vertrautheit mit dem Erwecken ernsthafter Empfindungen das für die Szene angestrebte Auslösen von Erhabenheitsgefühlen befördern und zugleich sicherstellen. Auch die durch den Nummerntypus vorgesehene Instrumentalmusik unterstützt in den Augen der Zeitgenossen das Empfinden des Sublimen, vor allem, wenn die Musik bildlich angelegt und wie in der Hamburger Bühneneinrichtung auch so interpretiert wird. Das Ziel dieser bewusst ausgelösten affektiven Überwälti-

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gung des Zuschauers ist hierbei, ihn von der Wahrnehmung des Spektakelcharakters der Szene abzulenken. Das für Spektakel charakteristische Staunen,89 das die Aufmerksamkeit stets auch auf die Effekte als Effekt und auf ihre technische Erzeugung lenkt,90 wird von den Librettisten durch die gezielte affektive Überwältigung des Zuschauers mit sublimen Gefühlen geschickt kaschiert.91 Mit der strengen Begründbarkeit der eingesetzten Effekte durch ihre enge Herleitung aus der Dramaturgie, der Semantisierung der Effekte, die sie mit dem Inhalt und der Bedeutungsgenerierung des Dramas verschmelzen und damit in ihrem künstlerischen Gehalt steigern, sowie mit der Wahrnehmungsreduktion der Effekte als Spektakel lassen sich also gezielte Strategien der Integration von Effektanlage im Stück ausmachen, die auf die Vermittlung der Bühneneffekte mit den zentralen Leitlinien der nord- und mitteldeutschen Singspielästhetik zielen. Die im Zuge des greifbaren Assimilationsprozesses von Wiener Singspielcharakteristika in nord- und mitteldeutsche Singspiele integrierten Bühnen- und Schaueffekte werden also nicht vermittlungslos in die Stücke integriert, sondern mit den weiterhin gültigen ästhetischen Maßstäben der nord- und mitteldeutschen Singspielproduktion auf kunstvolle Weise vermittelt. Auch wenn sich hier Gegenbeispiele finden lassen,92 so zeigt sich an Die Geisterinsel, dass analog zum Adaptionsprozess im musikalischen und dramaturgischen Bereich auch hinter der Zunahme des Effektcharakters in nord- und mitteldeutschen Werken zumindest bei innovativen Autoren wie Gotter und von Einsiedel ein hochgradig reflektierter Adaptionsprozess verborgen sein kann.

89 Frisch,

Fritz, Rieger, Perspektiven auf das Spektakel (wie Anm. 6), 14 f. Was das Theater möglich macht (wie Anm. 6), 113 f.; Nicola Gess, Tina Hartmann, Barocktheater als Spektakel. Eine Einführung, in: Nicola Gess, Tina Hartmann, Dominika Hens (Hg.), Barocktheater als Spektakel. Maschine, Blick und Bewegung auf der Opernbühne des Ancien Régime, Paderborn 2015, 9 – 39, hier 18. 91 Dies ist eine Strategie des Umgangs mit Bühneneffekten, der sich auch für andere Effekte in Die Geisterinsel sowie für weitere Singspiele Gotters finden lässt; vgl. Adrian Kuhl: Kunstvolle Kaschierung. Die Gestaltung theatraler Effektszenen in Friedrich Wilhelm Gotters Singspielen, in: Bettine Menke, Wolfgang Struck (Hg.), Theatermaschinen, Maschinentheater. Von Mechaniken, Machinationen und Spektakeln (im Druck). 92 Vgl. dazu Adrian Kuhl, Vom Vaudeville zum Spektakel. Die Finalfassungen von Carl David Stegmanns ‚Der Kaufmann von Smyrna‘, in: Wolfgang Auhagen, Wolfgang Hirschmann (Hg.), Beitragsarchiv zur Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung Halle/Saale 2015 – Musikwissenschaft: die Teildisziplinen im Dialog, Mainz 2016; (abgerufen am 31. 5. 2021). 90 Menke,



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Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts nimmt das Interesse an Effekttheater auch im Singspiel des nord- und mitteldeutschen Raums zu und führt zur Integration von teils aufwendigen Bühneneffekten. Diese galten der zeitgenössischen Kritik und den litera­ rischen Eliten allerdings häufig als albernes Spektakel und widersprachen damit dem Wunsch nach Ernsthaftigkeit und Rationalität der Handlungsführung. An der spekta­ kulären Geisterpantomime aus Friedrich Wilhelm Gotters und Friedrich Hildebrand von Einsiedels Libretto Die Geisterinsel (1797) lässt sich exemplarisch zeigen, dass verschiedene Integrationsstrategien eingesetzt wurden, um diesen Vorbehalten zu be­ gegnen und die integrierten Effekte mit der nord- und mitteldeutschen Singspielästhetik zu vermitteln: Die Bühneneffekte werden streng aus der Dramaturgie des Dramas her­ aus entwickelt, kunstvoll semantisch aufgeladen und zur Nivellierung der Effektwahr­ nehmung in eine gezielte affektive Überwältigung des Zuschauers eingebunden, für die auch auktorial vorgeschriebene Kostüme, Schauspielbesetzung und -bewegungen eingesetzt werden. Die Untersuchung einer zeitgenössischen Bühnenumsetzung am Hamburger Stadttheater von Johann Rudolph Zumsteegs Vertonung des Stücks zeigt, wie die Vorstellungen der Librettisten umgesetzt wurden und unterstreicht die Rolle der Musik bei der Effektgestaltung der Szene. In the last quarter of the 18th century, the increasing general interest in theatrical effects impacted the Singspiel of northern and central Germany and led to their integration in sometimes elaborate forms. However, contemporary critics and literary elites often regarded those theatrical means as preposterous as they supposedly contradicted the ideals of seriousness and rationality with regard to the plot. The spectacular ghost pantomime in Friedrich Wilhelm Gotter’s and Friedrich Hildebrand von Einsiedel’s libretto Die Geisterinsel (1797) provides an example of how various integration strate­ gies could be employed to counter these reservations and to reconcile the stage effects with the Singspiel aesthetic of North and Central Germany: the stage effects used arise coherently out of the dramaturgy of the play, are given semantic significance artisti­ cally, and they hide their artificiality in order to emotionally overwhelm the spectators. Costumes, cast, and dramatic acting intended by the authors serve the same goal. The example of a contemporaneous stage adaptation at the city theater of Hamburg (Hamburger Stadttheater), which used Johann Rudolph Zumsteeg’s musical setting of the play, shows how the librettists’ ideas were applied and what role music played in creating the stage effects. Dr. Adrian Kuhl, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Institut für Musikwissenschaft, Rostocker Straße 2, D-60323 Frankfurt am Main, E-Mail: [email protected]

Tilman Venzl Der Soldat in den Winterquartieren Zu einem Leipziger Singspiel aus dem Siebenjährigen Krieg

Im Jahr 1759 erschien ein ungewöhnlicher dramatischer Text im Druck: die – wie es im Untertitel heißt – „Operette von einem Aufzuge“ Der Soldat in den Winterquartieren.1 Die überlieferten Ausgaben enthalten weder Noten noch einen Autor- oder Verlegernamen und auch der Publikationsort „Quirlequitsch“ klingt nach einem Fantasiewort. Zwar waren anonyme Veröffentlichungen im 18. Jahrhundert bekanntlich alles andere als ungewöhnlich, aber die konsequente Verschleierung auch der weiteren Informationen zur Herkunft des Texts lässt einen stutzig werden. Womöglich schienen dem Autor und dem Verleger eine anonymisierte Veröffentlichung angesichts des Inhalts ratsam? Das Drama thematisiert den Kontakt von Militärs und Zivilisten in einer preußisch besetzten Stadt während der Wintermonate, wobei die Handlung durch Liebesbeziehungen zusammengehalten wird. Da ist vor allem die Affäre des „Leutnant[s]“ von Friedenstädt zu der „verheirathete[n] Dame“ Sylvia sowie des „preußische[n] Soldat[en]“ Dietrich zu einer ganzen Reihe Frauen, namentlich zu den beiden „Kammermädchen“ Kathrinchen und Lotchen.2 Wenngleich stets in scherzhafte Passagen eingebunden, kommen im Soldaten in den Winterquartieren auch durchaus ernste soziale Probleme zur Sprache wie der für die Mutter nicht unwillkommene Tod eines Säuglings. Dies zeigt sich etwa in Kathrinchens Geständnis an die verheiratete Dame, deren Bedienstete sie ist: „[E]‌s iungfert sich nicht mehr […]. | Dem Himmel sey gedankt, der kleine Wurm ist todt!“3 Die Thematisierung von in der Realität konfliktträchtigen Sachverhalten zeigt sich bereits am Dramenbeginn deutlich. Der vierhebige, jambische Eingangsmonolog eines preußischen Soldaten lautet:

1 Vgl.

Anonymus, Der Soldat in den Winterquartieren. Eine Operette von einem Aufzuge, Quirlequitsch [i. e. Königstein] 1759. 2 Ebd., 2. 3 Ebd., 15.

Aufklärung 34 · © Felix Meiner Verlag 2022 · ISSN 0178-7128

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Tilman Venzl

Ihr hübschen Mädchen! seyd voll Freuden, Wir bleiben noch den Winter da Ihr angenehmen iungen Weiber! Bewillkommt eure Zeitvertreiber; Euch gieng erst unser Abschied nah. Jetzt tröstet euch nach langen Leiden, Ihr hübschen Mädchen! seyd voll Freuden, Wir bleiben noch den Winter da.4

Diesen Gesang bricht der offenbar aufgescheuchte preußische Soldat selbst ab. Sein plötzlicher Ausruf: „Wer da?“,5 reimt mit dem letzten Vers seines Liedes und überspielt so die Grenze von Gesang und gesprochenem Dialog. In der Folge treten zwei Deserteure aus der Reichsarmee auf, ein Hesse und ein Schwabe. Obgleich beide nur durch Zwang überhaupt ins Militär gekommen sind beziehungsweise Heimweh haben, sind sie nun zum Eintritt ins preußische Militär bereit. Bereits an seinem Beginn thematisiert das zur Zeit des Siebenjährigen Kriegs spielende Stück folglich gesellschaftliche Probleme wie die „ungeregelten Sexualkontakte“6 der Soldaten und die gewaltsamen Übergriffe des Militärs auf die Zivilgesellschaft, einschließlich Verweigerungsformen wie der Desertion.7 Welches Provokationspotenzial die hier angesprochenen Themen zumal während des Siebenjährigen Kriegs tatsächlich hatten, lässt sich allerdings nicht pauschal, sondern nur im Hinblick auf die konkrete raumzeitliche Verortung ermessen. Ausgehend von der Frage nach dem Publikationsort werde ich daher den pragmatischen Kontext zumindest tentativ rekonstruieren. Hierbei wird nicht nur ersichtlich, dass der wahrscheinlich aus Leipzig stammende Verfasser des Soldaten in den Winterquartieren allen Grund hatte, seine Identität zu verheimlichen. Eine Anspielung auf Der Teufel ist los oder die verwandelten Weiber zeigt zudem, dass er auf die erhitzt geführte Debatte über dieses Singspiel Bezug nimmt (I). Auf dieser Grundlage werde ich den Soldaten in den Winterquar­ tieren sodann inhaltlich und formal genauer beschreiben, und zwar im Rahmen 4 Ebd., 5 Ebd.

3.

6 Michael

Sikora, Militarisierung und Zivilisierung. Die preußischen Heeresreformen und ihre Ambivalenzen, in: Peter Baumgart (Hg.), Die preußische Armee. Zwischen Ancien Régime und Reichsgründung, Paderborn u. a. 2008, 164 – 195, hier 174. 7 Vgl. allgemein noch immer v. a. Michael Sikora, Disziplin und Desertion. Strukturpro­ bleme militärischer Organisation im 18. Jahrhundert, Berlin 1996 (Historische Forschungen 57). Aus der Literaturwissenschaft zuletzt Johannes Friedrich Lehmann, Den Krieg im Rücken – Deserteure im Theater des 18. Jahrhunderts (und bei J. M. R. Lenz), in: Michael Auer, Claude Haas (Hg.), Kriegstheater. Darstellungen von Krieg, Kampf und Schlacht in Drama und Theater seit der Antike, Stuttgart 2018, 173 – 188 und Tilman Venzl, „Itzt kommen die Soldaten“. Studien zum deutschsprachigen Militärdrama des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2019 (Das Abendland N.F. 43), v. a. 364 – 373.



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vornehmlich musik-‍ , literatur- und militärhistorischer Kontexte (II). In meiner abschließenden Interpretation geht es mir auch darum, die Bedeutung der musiktheatralen Anlage des Stücks für die Auseinandersetzung mit militärbezogenen Themen zu ermitteln (III). Insgesamt möchte ich mit meiner Deutung des Soldaten in den Winterquartieren einerseits ein Schlaglicht auf die wenig erforschte Frühphase des Singspiels in Leipzig werfen. Andererseits möchte ich aufzeigen, dass das Musiktheater für die Entwicklung des Militärdramas und damit für eine überaus erfolgreiche Gattung des 18. Jahrhunderts von großer Bedeutung war.8 I. Pragmatische Aspekte Der Soldat in den Winterquartieren wurde – von der Bibliographia dramatica9 einmal abgesehen – meiner Kenntnis nach zuletzt von Thomas Bauman erwähnt, allerdings nur sehr beiläufig und als Beispiel für die wenigen vermeintlich belanglosen Singspiele aus der Zeit vor Johann Georg Standfuß.10 In diesem Zusammenhang identifiziert Bauman den seiner Meinung nach fingierten Ort 8 Ich

habe mich in meiner Dissertation mit dem im 18. Jahrhundert sehr verbreiteten Militärdrama befasst. Vgl. Venzl, „Itzt kommen die Soldaten“ (wie Anm. 7). Die Arbeit versteht sich zugleich als Plädoyer, neben dem Krieg auch und womöglich vor allem das Militär als literaturgeschichtlich relevante Institution in den Blick zu nehmen, womit ich der sogenannten ‚neuen Militärgeschichte‘ folge. Die jüngere Forschung zum Thema Krieg und Literatur in Bezug auf das 18. Jahrhundert lässt sich durch folgende jüngere Bände ungefähr abstecken: Stephanie Schwarzer, Zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die Ästhetisierung kriegerischer Ereignisse in der Frühen Neuzeit, München 2006 (Forum Kulturwissenschaft 5); Holger Dainat, Wolfgang Adam (Hg.), „Krieg ist mein Lied“. Der Siebenjährige Krieg in den zeitgenössischen Medien, Göttingen 2007 (Schriften des Gleimhauses Halberstadt 5); Johannes Birgfeld, Krieg und Aufklärung. Studien zum Kriegsdiskurs in der deutschsprachigen Literatur des 18. Jahrhunderts, 2 Bde., Hannover 2012; Christian Tausch, Sieben Jahre Krieg. Gotthold Ephraim Lessing zwischen 1756 und 1763. Katalog zur Sonderausstellung der Arbeitsstelle für Lessing-Rezeption Kamenz, Kamenz 2014; Stefanie Stockhorst (Hg.), Krieg und Frieden im 18. Jahrhundert. Kulturgeschichtliche Studien, Hannover 2015; Torsten Tobias Voß, Körper, Uniformen und Offiziere. Soldatische Männlichkeiten in der Literatur von Grimmelshausen und J. M. R. Lenz bis Ernst Jünger und Hermann Broch, Bielefeld 2016; Annika Hildebrandt: Die Mobilisierung der Poesie. Literatur und Krieg um 1750, Berlin u. a. 2019 (Studien zur deutschen Literatur 220); Thomas Franz, Goethe militaris. Studien zum Militärischen in Goethes Werken, Hannover 2020; und Klaus Wiehl, Kriegskörper. Zur Formation idealer Soldaten in Literatur und Wissenschaft im 18. Jahrhundert, Würzburg 2020 (Epistemata 910). 9 Vgl. Reinhart Meyer, Bibliographia dramatica et dramaticorum. Kommentierte Bibliographie der im ehemaligen deutschen Reichsgebiet gedruckten und gespielten Dramen des 18. Jahrhunderts nebst deren Bearbeitung und Übersetzung und ihrer Rezeption bis in die Gegenwart, zuerst Tübingen, später Berlin, New York 1986 ff., Bd. II/19, 217. 10 Thomas Allen Baumann, North German Opera in the Age of Goethe, Cambridge 1985, 25 f.

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Quirlequitsch als Berlin, ohne hierfür allerdings eine Begründung zu liefern.11 Bei dem Wort Quirlequitsch handelt es sich jedoch um einen im 17. und 18. Jahrhundert gebräuchlichen Begriff für das unweit von Dresden liegende Städtchen Königstein in der Sächsischen Schweiz.12 Nicht zuletzt der regionalen Provenienz des Stücks wegen kann Georg Witkowskis Einschätzung Plausibilität beanspruchen, dass der im Text genannte Schauplatz L**, „wie sich ohne weiteres aus dem Inhalt“ ergebe,13 als Leipzig zu identifizieren sei. Witkowskis Annahme, dass überhaupt ein realweltlicher Referenzort angenommen werden kann, wie seine These zur Verortung der Handlung werden zudem durch Hinweise innerhalb der Figurenrede gestützt, denen zufolge das Geschehen in einer preußisch besetzten sächsischen Stadt angesiedelt ist. Der Bezug auf die militärische Besatzung der Messestadt Leipzig dürfte im Jahr 1759 durchaus brisant gewesen sein. Bereits einen Tag nach dem von Friedrich II. ohne Kriegserklärung begonnenen später sogenannten Siebenjährigen Krieg wurde Leipzig am 29. August 1756 von preußischen Truppen eingenommen. Während der Kriegsjahre, in denen Leipzig fast pausenlos in preußischer Hand war, kam es zu einem mit „Verbitterung und Entfremdung“ verbundenen „nachhaltigen Stimmungswandel zwischen Preußen und Sachsen“,14 was sich auch in einem medial ausgetragenen Kampf um die öffentliche Meinung manifestierte.15 Bereits die Behandlung der sächsischen Armee nach ihrer Kapitulation am 16. Oktober 1756 galt den Zeitgenossen als „einzigartig und unerhört“.16 Denn die besiegten Soldaten wurden trotz anderslautender Vereinbarungen unter Zwang auf die preußische Fahne vereidigt, was zahlreiche Desertionen zur Folge hatte.17 Während der Kriegsjahre hatte Sachsen, das in strategischer Hinsicht „für die preußische Kriegsführung unabdingbar“18 war, dann unter einer

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Ebd., 26, Anm. 9. Karlheinz Blaschke, Susanne Baudisch, Königstein/Sächs. Schw., in: dies., Histo­r i­ sches Ortsverzeichnis von Sachsen. Neuausgabe, hg. von Karlheinz Blaschke, 1. Halbbd., Leip­ zig 2006, 380. 13 Georg Witkowski, Geschichte des geistigen Lebens in Leipzig, Leipzig u. a. 1909, 451. 14 Frank Göse, Nachbarn, Partner und Rivalen. Die kursächsische Sicht auf Preußen im ausgehenden 17. und 18. Jahrhundert, in: Jürgen Luh, Vinzenz Czech, Bert Becker (Hg.), Preußen, Deutschland und Europa 1701 – 2001, Groningen 2003 (Baltic studies 8), 45 – 78, hier 74 f. 15 Vgl. Dainat, Adam (Hg.), „Krieg ist mein Lied“ (wie Anm. 8). 16 Göse, Nachbarn, Partner und Rivalen (wie Anm. 14), 73. 17 Vgl. Stefan Kroll, Soldaten im 18. Jahrhundert zwischen Friedensalltag und Kriegserfahrung. Lebenswelt und Kultur in der kursächsischen Armee 1728 – 1796, Paderborn u. a. 2006 (Krieg in der Geschichte  26), v. a. 357 – 361, und Marcus von Salisch, Treue Deserteure. Das kursächsische Militär und der Siebenjährige Krieg, München 2009 (Militärgeschichtliche Studien 41). 18 Jürgen Luh, Sachsens Bedeutung für Preußens Kriegsführung, in: Dresdner Hefte 68 (2001), 28 – 34, hier 33. 12 Vgl.



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„beispiellose[n] Ausbeutung“19 zu leiden. Neben der planmäßig herbeigeführten Münzverschlechterung sind vor allem die horrenden Abgaben zu nennen, die insbesondere die Stadt Leipzig zu entrichten hatte.20 Das Finanzvolumen übertraf sogar die Subsidienzahlungen, mit denen die englische Krone die preußische Kriegskasse liquide zu halten half.21 Angesichts dieser konfliktreichen Konstellation kann es nicht überraschen, dass der Verfasser und der Verleger des Soldaten in den Winterquartieren auf Anonymität erpicht waren. Anhand des Paratexts und einer Anspielung im Haupttext lässt sich der Kontext, dem das Stück entstammt und auf den es zugeschnitten ist, allerdings zumindest in seinen Grundzügen bestimmen. Hierbei lässt sich an dem Motto ansetzten, das dem Soldaten in den Winterquartieren vorangestellt ist. Einem vermutlich fingierten Honall wird folgender Ausspruch zugerechnet: „Der Dachs im Loche beist den Hund, / Soldaten macht der Degen kund.“22 Dieses inkohärent erscheinende Verspaar entstammt der sogenannten Fibel des Klamer Heinrich Bienrod, einem um die Jahrhundertmitte entstandenen, heute verschollenen sogenannten ABC-Buch, und diente dazu, den Buchstaben ‚D‘ zu illustrieren sowie durch einen Merkspruch memorierbar zu machen.23 Zwar wird der 1750 in Wernigerode erschienene Band, dem Jean Paul mit seinem satirischen Roman Leben Fibels, des Verfassers der bienrodischen Fibel ein literarisches Denkmal setzte,24 heute als minderwertig und bedeutungslos 19 Bernhard

R. Kroener, Die materiellen Grundlagen österreichischer und preußischer Kriegs­anstrengungen, 1756 – 1763, in: ders. (Hg.), Europa im Zeitalter Friedrichs des Großen. Wirtschaft, Gesellschaft, Kriege, München 1989 (Beiträge zur Militärgeschichte  26), 47 – 78, hier 75. 20 Vgl. Peter Blastenbrei, Der König und das Geld. Studien zur Finanzpolitik Friedrichs II. von Preußen, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte N.F.  6 (1996), 55 – 82, Bernd Kluge, Für das Überleben des Staates. Die Münzverschlechterungen durch Friedrich den Großen im Siebenjährigen Krieg, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 59 (2013), 125 – 143, und Christoph Zeumer, Zwischen Preußen und Sachsen. Leipzig im Siebenjährigen Krieg, 1756 – 1763, in: Ulrich von Hehl (Hg.), Stadt und Krieg. Leipzig in militärischen Konflikten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Leipzig 2014 (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Leipzig 8), 121 – 140. 21 Vgl. Detlef Döring, Vom Ende der schwedischen Besatzung (1650) bis zum Ende des Siebenjährigen Krieges (1763), in: ders., Uwe John, Henning Steinführer (Hg.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 2. Von der Reformation bis zum Wiener Kongress, Leipzig 2016, 70 – 97, hier 93, der sich stützt auf Ernst Kroker, Leipzig im Siebenjährigen Krieg, in: Gustav Wustmann (Hg.), Quellen zur Geschichte Leipzigs. Veröffentlichungen aus dem Archiv und der Bibliothek der Stadt, Bd. 2, Leipzig 1895, 387 – 502, hier 491. 22 Anonymus, Der Soldat in den Winterquartieren (wie Anm. 1), 1. 23 Es scheint kein Exemplar erhalten zu sein, aber einige Informationen finden sich in August Carl Friedrich Werrlich, Enthüllung der Hieroglyphen in dem Bienrodischen A, B, C-Buche. Mit 24 ausgemalten Original-Holzschnitten, Arnstadt 1807, zum oben angeführten Reim 11 f. 24 Vgl. Jean Paul, Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 7.1: Leben Fibels, des Verfassers der Bienrodischen Fibel, hg. von Alexander Kluger, Berlin u. a. 2015.

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abgetan.25 Ihrerzeit scheint die Fibel allerdings intensiv rezipiert worden zu sein, wobei auch das zitierte Motto einige Deutungen hervorrief, welche ganz im Zeichen der für die Spätaufklärung typischen Militärskepsis stehen.26 Zwar lässt sich von diesen Deutungen nicht auf die Gesinnung des Autors schließen, zumal es sich hierbei um zwei willkürlich kombinierte Verse des weitgehend unbekannten sächsischen Dichters Christian Gotthold Spindler zu handeln scheint.27 Doch im verklausulierten Bezug auf ein populäres Lesebuch, auf das im Text immer wieder angespielt wird, deutet sich ein ebenso souveräner wie spielerischer Umgang mit dem didaktischen Textbestand der Aufklärung an, weshalb man den Autor in diesem Milieu vermuten darf. Diese erste Einordnung lässt sich anhand der mutmaßlich für den Gesang bestimmten Klage eines Rekruten über das Soldatendasein weiter präzisieren: Ist das nicht Noth? ich bin Soldat, Und hab doch keine Lust zum Raufen! Hier hilft kein Trotz, kein Flehn, kein Rath, Mich von dem Volke loszukaufen. Weshalben wuchs ich doch so gros? Wär ich ein Zwerg, so wolt ich lachen, Jetzt darf ich mich nicht mausig machen, Sonst ist sofort der Teufel los.28

Der letzte Vers enthält eine Anspielung auf das damals aktuelle Leipziger Theatergeschehen.29 Bekanntlich hatte das aus der Feder Charles Coffeys stammende und von dem Komponisten Sydow vertonte Bühnenstück The Devil to Pay, das an der überaus erfolgreichen Beggar’s Opera orientiert war, 1728 in London rauschende Premiere gefeiert. In der Hoffnung, Friedrich II. hierdurch zum Bau eines festen Theaters in Berlin zu bewegen, verständigte sich der Theaterprinzipal Friedrich Schönemann in der Folge mit dem preußischen Kriegsminister 25 Vgl.

Christian Freitag, Der Kinderreim als Fibeltext, in: Alfred Clemens Baumgärtner (Hg.), Volksüberlieferung und Jugendliteratur, Würzburg 1983, 69 – 90, hier 74; Gisela Teistler, Fibeln als Dokumente für die Entwicklung der Alphabetisierung, in: Hans Erich Bödeker, Ernst Hinrichs (Hg.), Alphabetisierung und Literalisierung in Deutschland in der Frühen Neuzeit, Tübingen 1999 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 26), 255 – 281, hier 267 f.; Robert Schweitzer, Die ältesten deutschen ABC-Bücher und Fibeln, in: Jahrbuch für finnisch-deutsche Literaturbeziehungen 39 (2007), 93 – 106, hier 100. 26 Vgl. Anonymus, Der Illuminatismus im ABC-Buche, in: Andreas Georg Friedrich von Rebmann, Obscuranten-Almanach auf das Jahr 1799, Paris 1799, 7 – 89; Spiritus Asper [Friedrich Ferdinand Hempel], Nachtgedanken über das ABC-Buch. Erstes Bändchen, Leipzig 1809, 117 – 151; Confiturier Le Grand, Eingemachte Lesefrüchte (Fortsetzung), in: Der Freimüthige für Deutschland. Zeitblatt der Belehrung und Aufheiterung 152 (Juli 1819), 31. Juli 1819, unpag. 27 Vgl. Christian Gotthold Spindler, Unschuldige Jugendfrüchte oder Sammlung poetischer Sendschreiben, Leipzig 1745, 17, 127. 28 Anonymus, Der Soldat in den Winterquartieren (wie Anm. 1), 9. 29 Ich folge hier v. a. Cristina Urchueguía, Allerliebste Ungeheuer. Das deutsche komische Singspiel, 1760 – 1790, Frankfurt am Main 2015 (Nexus 99), 76 – 98.



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und geheimen Rat Caspar Wilhelm von Borcke auf eine Übersetzung des englischen Originals, das mit der ursprünglichen Musik aufgeführt werden sollte. Auch wenn dieser designierte Zweck verfehlt wurde, kam Schönemann auf diesem Weg in den Besitz eines Erfolgsstücks, das er als einträgliches Eigentum geheim zu halten wusste. Da Heinrich Gottfried Koch des Stücks folglich nicht habhaft werden konnte, bat er den Leipziger Schriftsteller Christian Felix Weiße um eine Neuübersetzung, die der Korrepetitor der Koch’schen Truppe Johann Georg Standfuß vertonte. Zwar bildet erst Weißes zweite Übersetzung zusammen mit der Neuvertonung Johann Adam Hillers den vielbeschworenen und nicht selten in nationalistischer Absicht überhöhten „Ausgangspunkt des neuen deutschsprachigen Musiktheaters“30 im Jahr 1766. Doch bereits die erste Weiße’sche Übersetzung, die ebenso wie diejenige Borckes nicht erhalten ist, wurde zu einem großen Theaterfolg. Mit seiner Anspielung dürfte sich der anonyme Autor indes nicht nur auf Der Teufel ist los oder die verwandelten Weiber als Einzelwerk, sondern auch als Auslöser einer Kontroverse über das Singspiel allgemein beziehen. Im sogenannten ‚Komischen Krieg‘ von 1753 versuchten Johann Christoph Gottsched und seine Gefolgsleute, die dem Musiktheater bekanntlich allgemein ablehnend gegenüberstanden und ein rationalistisch fundiertes moraldidaktisches Theater anstrebten, den sich abzeichnenden Erfolg des Weiße-Standfuß’schen Stücks zu verhindern.31 Obgleich Gottsched zunächst zeitweise ein richterliches Verbot erwirkte, wurde er in der Folge wiederholt und von verschiedener Seite öffentlich lächerlich gemacht. Dies gipfelte darin, dass der Maître de plaisir am kurfürstlichen Hof in Dresden Carl Heinrich von Dieskau einen Beschwerdebrief Gottscheds in Abschriften zirkulieren ließ. Die mit dieser Indiskretion verbundene kulturpolitische Legitimierung von Der Teufel ist los oder die verwandelten Weiber entschied auch den Disput.32 Auf der Suche nach einem möglichen Autor des Soldaten in den Winterquar­ tieren bringt Georg Witkowski neben Standfuß auch einen mir unbekannten Magister Steinel und den Schauspieler Johann Christian Ast ins Spiel.33 Und 30 Jörg

Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert. Typologie, Dramaturgie und Anthropologie einer populären Gattung, 2 Bde., Tübingen 1998 (Studien zur deutschen Literatur 149 f.), 10. 31 Vgl. zu Gottscheds Ablehnung des Musiktheaters sowie zum ‚Komischen Krieg‘ neben den Ausführungen von Cristina Urchueguía, Allerliebste Ungeheuer (wie Anm. 29), 76 – 98 auch Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater (wie Anm.  30), 604 – 620 sowie jetzt neu Benedikt Leßmann, Übersetzung als Debatte. Französische Musikästhetik in Deutschland zur Zeit der Aufklärung, Habilitationsschrift, Universität Wien 2021, Kapitel 4, 108 – 137. Einen Bericht über einige Einlassungen in dieser Debatte liefert Jakob Minor, Christian Felix Weiße und seine Beziehungen zur deutschen Literatur des achtzehnten Jahrhunderts, Innsbruck 1880, 375 – 397. 32 Vgl. zu Carl Heinrich von Dieskau Manuel Bärwald, Im Dienste derer von Dieskau. Barocke Musikpflege in Knauthain, in: Leipziger Stadtgeschichte. Jahrbuch 2010, 51 – 73, v. a. 55 f. 33 Georg Witkowski, [Rezension] K.  H. von Stockmayer, Das deutsche Soldatenstück des

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Heinrich Stümcke vermutet im Anschluss an Witkowski mit Bestimmtheit, dass der Verfasser „auf jeden Fall […] im Weiße-Kochschen Kreise zu suchen sei“.34 Da nach dem Weggang Kochs nach Hamburg und der Auflösung seiner Truppe im Jahr 1756 gewiss einige seiner ehemaligen Mitarbeiter wie übrigens auch Weiße in Leipzig blieben, ist dies zwar nicht unwahrscheinlich, aber auch kaum zu verifizieren. Immerhin kann plausiblerweise angenommen werden, dass Der Soldat in den Winterquartieren aus der Feder eines Aufklärers, wenngleich nicht im Gottsched’schen Sinne, stammt, der mit dem Singspiel beziehungsweise der „Operette“ eine künstlerische Option wahrnahm, die durch den Erfolg von Der Teufel ist los oder die verwandelten Weiber legitimiert worden war. II. Aufbau und Kontext Vom Soldaten in den Winterquartieren ist neben einer Ausgabe in Großquart noch eine im Oktav-Format aus demselben Jahr erhalten, bei der es sich wahrscheinlich um einen bald erfolgten Nachdruck eines anderen Verlegers handelt.35 Dies lässt auf ein gewisses Interesse des Publikums an diesem Stück, von dem allerdings kaum Aufführungen bekannt sind,36 zumindest im Erscheinungsjahr 1759 schließen, womöglich gar mit Witkowski auf „seine höhere Beliebtheit“.37 Wie eine musiktheatrale Darbietung in etwa ausgesehen haben könnte, lässt sich dem Schriftbild entnehmen.38 Zwar ist der Text insgesamt in Madrigalversen abXVIII.  Jahrhunderts seit Lessings Minna von Barnhelm, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 34 (1902), 82 – 84, hier 83 und ders., Nochmals der siebenjährige Krieg im Drama der Zeit, in: Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen. Sonntags-Beilage zur Vossischen Zeitung, Nr. 29, 20. Juli 1902, 229 – 231. 34 Heinrich Stümcke, Hohenzollernfürsten im Drama. Ein Beitrag zur vergleichenden Litteratur- und Theatergeschichte, Leipzig 1903, 133. 35 Die Überlieferungslage stellt dar Julius Zeitler, Nachwort, in: Anonymus, Der Soldat in den Winterquartieren, hg. von dems., Leipzig 1913, 83 – 88. 36 In Leipzig scheint das Stück nicht aufgeführt worden zu sein. Vgl. Gustav Wustmann, Zur Geschichte des Theaters in Leipzig, 1665‒1800, in: ders. (Hg.), Quellen zur Geschichte Leipzigs. Veröffentlichungen aus dem Archiv und der Bibliothek der Stadt Leipzig, Leipzig 1889, 459 – 493, hier 488. Auch bei Reinhart Meyer, Bibliographia dramatica et dramaticorum (wie Anm. 9), Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater (wie Anm. 30) und Urchueguía, Allerliebste Ungeheuer (wie Anm. 29) ist keine Aufführung dokumentiert. Mir sind lediglich zwei Aufführung im Stift Kremsmünster am 17. und 18. Februar 1782 bekannt geworden. Vgl. Altman Kellner, Musikgeschichte des Stiftes Kremsmünster. Nach den Quellen dargestellt, Kassel, Basel 1956, 478. 37 Witkowski, Nochmals der siebenjährige Krieg (wie Anm. 33), 231. 38 Einen Einblick in das Verhältnis von Musik und Text im Musiktheater der Frühen Neuzeit gibt Bernhard Jahn, Librettoformen des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Nicola Gess, Alexander Honold (Hg.), Handbuch Literatur & Musik, Berlin u. a. 2017 (Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie 2), 314 – 323.



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gefasst, weshalb es keinen Prosa-Vers-Gegensatz gibt, und ein Notentext fehlt, wie gesagt, auch. Doch die für den Gesang bestimmten Passagen weisen einen durchschossenen Satz auf, der sie von den Dialogen eindeutig absetzt. Ferner lässt sich anhand einer Textstelle eine Hypothese über die vom Verfasser gewollte musikalische Gestaltung aufstellen. Während einer Zusammenkunft des Leutnants und der verheirateten Dame ereignet sich folgender Dialog: Der Leutenant. […] Ist nicht ihr Liederbuch zur Hand? Ist Ihnen die Chanson bekannt. Ah que vos yeux sont adorables, Belle Iris? Die Dame. Nein das kann ich nicht. Der Leutenant. (Blättert in einem Arienbuch, das er auf dem Clavecin findet.) Hier kömmt mir eins, das gut ist, zu Gesicht. Es ist wälsch, von wem ists? von Grauen oder Hassen? Die Dame. Ich weis es nicht; doch es ist schön. Der Leutenant. Nun dann, den Namen woll’n wir lassen; Es muß nur brav Allegro gehen. Die Dame. Stelle irate son fedele Amo quel mio Vincitore; Che spavento, che rossore Mi fa sempre dir querele! Giuste son, mio Cuor lo sà. Sposo reo, bramarei Vendicar martiri miei, E tradir tua crudeltà. Der Leutenant. Vortreflich, meine Königin […].39

Bei der zunächst vorgeschlagenen Nummer Ah que vos yeux sont adorables handelt es sich um ein erstmals 1686 verzeichnetes und in mehreren Liederbüchern des 18. Jahrhunderts auftauchendes Air.40 Statt dieses französischen Lieds, dessen Adressatin ähnlich wie die verheiratete Dame „Silvie“41 heißt, kommt eine italienische Arie zur Aufführung. Hierbei scheint es sich um eine Art Medley aus Metastasio-Arien zu handeln,42 was den Zeitgenossen angesichts der enormen Berühmtheit Metastasios und des Erfolgs seiner Schriften verständlich gewesen sein dürfte.43 Während also der Leutnant zunächst eine 39 Anonymus,

Der Soldat in den Winterquartieren (wie Anm. 1), 18. Anne-Madelaine Goulet, Paroles de musique (1658 – 1694). Catalogue des „Livres d’air de différents auteurs“ publiés chez Ballard, Wavre 2007, 875 f. 41 Ebd., 876. 42 Diesen Hinweis verdanke ich Livio Marcaletti. Vgl. zur großen Bedeutung Metastasios für das Singspiel Jörg Krämer, Ein „für die musikalische Poesie höchst musterhafter und klassischer Dichter“. Metastasio und das deutsche Singspiel, in: Laurenz Lütteken, Gerhard Splitt (Hg.), Metastasio im Deutschland der Aufklärung. Bericht über das Symposium Potsdam 1999, Tübingen 2002 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 28), 85 – 102. 43 Vgl. zur Verbreitung des Werkes Metastasios im deutschsprachigen Raum u. a. Reinhart 40 Vgl.

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„Chanson“ vorschlägt, die einen Bezug zu der vor allem aus Vaudevilles gespeisten frühen Opéra comique darstellt,44 orientiert sich die verheiratete Dame Sylvia erkennbar am ästhetischen Vorbild des Hofs, der Opera seria, was auch in der Erwähnung von Johann Adolph Hasse und Carl Heinrich Graun unmissverständlich deutlich wird. Dieser Befund steht der alten und gelegentlich noch immer anzutreffenden These vom antihöfischen, genuin bürgerlichen Charakter des Singspiels klar entgegen. Er stützt vielmehr Reinhart Meyers These, dass dieses Genre im „Schnittpunkt bürgerlicher und höfischer Interessen“ anzusiedeln ist und aus Sicht der Zeitgenossen die Aneignung eines „Elements“ des „adligen Lebensraum[s]“ gleichsam im „Diminutiv“ erlaubte.45 In Bezug auf die musikalische Gestaltung des Soldaten in den Winterquar­ tieren insgesamt deutet diese Passage darauf hin, dass dem anonymen Autor eine Vertonung mit bekanntem und leicht verfügbarem Material vorschwebte. Neben den neuen musiktheatralen Optionen, die den Stein des Anstoßes im ‚Komischen Krieg‘ bildeten, konnte der Autor dabei auch auf Elemente der italienischen Oper zurückgreifen, die das Leipziger Bühnengeschehen bis zum Siebenjährigen Krieg bestimmte.46 Statt von einer – um mit Jörg Krämer zu sprechen – „strukturellen Verbindung“ von Text und Musik ist demgemäß wohl eher von einer „akzidentelle[n] Verwendung der Musik als bloße Zutat zur dramatiMeyer, Die Rezeption der Opernlibretti Pietro Metastasios, in: Andrea Sommer-Mathis, Elisabeth Theresia Hilscher (Hg.), Pietro Metastasio. Uomo universale (1698 – 1782). Festgabe der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zum 300. Geburtstag von Pietro Metastasio, Wien 2000 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 676), 311 – 352, Reinhart Meyer, Die Rezeption der Dramen Metastasios im 18. Jahrhundert, in: Mario Valente (Hg.), Legge poesia e mito. Giannoner Metastasio e vico. Fra „tradizione“ e „trasgressione“ nella Napli degli anni venti des settecento, Rom 2001, 417 – 451 und Lütteken, Splitt (Hg.), Metastasio im Deutschland der Aufklärung (wie Anm. 42). 44 Vgl. Thomas Betzwieser, Zu einer Theorie des Vaudevilles in der Opéra-comique, in: Gabriele Buschmeier, Klaus Hortschansky (Hg.), Tanzdramen – Opéra-comique. Kolloquiumsbericht der Gluck-Gesamtausgabe, Kassel u. a. 2000 (Gluck-Studien 2), 135 – 152. 45 Reinhart Meyer, Das Musiktheater am Weimarer Hof bis zu Goethes Theaterdirektion, in: Roger Bauer (Hg.), Der theatralische Neoklassizismus um 1800. Ein europäisches Phänomen, Bern u. a. 1986 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A. Kongreßberichte 18), 127 – 167, hier 135. Vgl. zur Reorganisation der Hoftheater im Nachgang des Siebenjährigen Kriegs, deren Fokus sich von der Statuskonkurrenz untereinander zur Einbindung der eigenen Bevölkerung als Adressatenkreis vollzog, allgemein Ute Daniel, Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 1995. – Interessant ist darüber hinaus, dass hier zum einen Stilhöhen entgegengesetzt werden, zum anderen französische vs. italienische Oper. Ich danke Benedikt Leßmann für den Hinweis, dass es sich hierbei um einen Topos der französischen Opern-Querelles seit dem frühen 18. Jahrhundert handelt, die u. a. durch Übersetzungen Matthesons auch im deutschsprachigen Raum bekannt waren. Diesbezügliche Hinweise finden sich auch im vierten Kapitel von Benedikt Leßmanns Habilitationsschrift (wie Anm. 31). 46 Vgl. Fritz Reuter, Die Entwicklung der Leipziger, insbesondere der italienischen Oper bis zum siebenjährigen Kriege, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 5 (1922), 1 – 16.



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schen Aktion“47 auszugehen, die allerdings auch zur sozialen Differenzierung eingesetzt wird. Womöglich ist der Stilhöhenunterschied, wie er in Bezug auf die beschriebenen Anspielungen auf die Opéra comique beziehungsweise die Opera seria zu beobachten ist, auch bei der Charakterisierung der anderen Figuren anzunehmen. Dann wäre zu vermuten, dass die Gesangspassagen der einfachen Soldaten beziehungsweise der diensttuenden Mädchen einfache Liedgestalt hatten oder hätten haben sollen. Insgesamt dürfte der anonyme Verfasser auf die elaborierte musikalische Kultur Leipzigs vertraut haben, um mit seinem – wie schon Witkowski meinte – „merkwürdig bühnensichere[n]“48 Stück eine Belebung des brachliegenden Theaterlebens herbeizuführen. Bekanntlich hatte der Siebenjährige Krieg, der für das Bühnenwesen im Reich einen tiefen Einschnitt bedeutete, nicht zuletzt in Leipzig das ehemals florierende und nur mehr im kleinen Rahmen weitergeführte Theater- und Musikleben massiv geschädigt.49 Wie sich im Folgenden bei einem kommentierenden Durchgang durch das Dramengeschehen zeigen wird, verbindet der Verfasser die heitere musikdramatische Form mit einer ungewöhnlich realistischen Darstellung der Koexistenz von Soldaten und Zivilisten im Leipzig des Siebenjährigen Kriegs. In gerade einmal vier der insgesamt 17 nur lose zusammengehaltenen Szenen treten keine Soldaten auf, die dort allerdings einen wichtigen Gesprächsgegenstand bilden. Das zentrale Thema der meisten Szenen wie des Stücks insgesamt besteht in den amourösen Beziehungen, die sich allenthalben und bei allen Ständen zwischen Militärs und Zivilistinnen entspannen. Hierbei scheint der anonyme Autor allerdings weniger den Topos von ‚Venus und Mars‘ auszuschöpfen, als vielmehr auf die realen Lebensbedingungen in einer besetzten Stadt Bezug zu nehmen. Bei der dramaturgischen Ausgestaltung dieser Aspekte folgt er teilweise den von der aufklärerischen Dramenästhetik gesetzten Regeln: etwa den Geboten der kompakten Zeitgestaltung, der überschaubaren Schauplätze, der Figurenkette und so weiter. Es lassen sich zwei einander gelegentlich kreuzende Handlungsstränge unterscheiden, die die sozialständische Orientierung der Zeit abbilden. Während der erste durch den preußischen Soldaten Dietrich und seine Liebschaften Kathrinchen und Lotchen konstituiert wird, besteht der zweite aus den Auftritten der verheirateten Dame Sylvia beziehungsweise des Leutnants Freudenstädt. Der Soldat in den Winterquartieren weist nur eine einzige Szene auf, die sich keinem dieser Handlungsstränge zuordnen lässt und demgemäß für den Geschehenszusammenhang verzichtbar wäre. Dass es sich hierbei um jene Passage mit dem unfreiwilligen Rekruten handelt, der nur aus Angst, dass 47 Krämer,

Deutschsprachiges Musiktheater (wie Anm. 30), 12. Geschichte des geistigen Lebens in Leipzig (wie Anm. 13), 455. 49 Vgl. Döring, Vom Ende der schwedischen Besatzung (wie Anm. 21), 97 und Manuel Bärwald, Leipzigs Wurzeln als moderne Musikstadt in der Zeit nach Bach, in: John, Steinführer, Döring (Hg.), Geschichte der Stadt Leipzig (wie Anm. 21), 550 – 562, hier 556. 48 Witkowski,

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„sofort der Teufel los“50 wäre, nicht desertiert, unterstreicht die zentrale Bedeutung der inter- und architextuellen Anspielung. In dieser Szene kommen überdies die Grundzüge des öffentlichen Bilds des Militärs zu dieser Zeit zum Ausdruck: Der unfreiwillige Rekrut, der offenbar aufgrund seiner nicht nur in Preußen als besondere Disposition zum Militärdienst geltenden Körpergröße zum Dienst gezwungen wurde, beklagt trotz seiner Bevorzugung durch den Hauptmann sein Schicksal. Denn obgleich ihm dies seitens des Korporals den Vorwurf einträgt, eine „feige Memme“ zu sein, gesteht er seine Angst vor dem Krieg ein und ist auch durch den Hinweis auf „Nachruhm“ und „Ehre“ nicht zu motivieren. Nur die Aussicht auf „ein feines Mensch“, das er auch ohne eine Hochzeit „immer kriegen“ könne, lässt ihn seinen Bedarf nach „Urlaub“ einstweilen aufschieben.51 Am Ende der Szene wird der zufriedengestellte Rekrut vom Korporal exerziert, wobei ihm befohlen wird, „[n]‍ icht [zu] räsonnir[en]“, sondern zu „schweigen“ und die erforderlichen Bewegungsabläufe mechanisch auszuführen.52 Wie im Licht der jüngeren militärgeschichtlichen Forschung ersichtlich wird, besitzt diese Szene sozial- und kulturgeschichtliche Substanz. In der Tat waren Zwangsrekrutierungen, bei denen neben „Alkohol“ und „physischer Gewalt“ auch verschiedene Formen von „List, Täuschung und Betrug“ zur Anwendung kamen,53 zumal im preußisch besetzten Leipzig nicht unüblich. Das Militär hatte nach wie vor einen schlechten Leumund und wurde insbesondere von bürgerlichen Kreisen als gesellschaftlicher Störfaktor und Hort der Unmoral verachtet. Auch wenn es im Siebenjährigen Krieg vor allem preußischerseits zu einer unerhörten patriotischen, dabei bisweilen durchaus militanten Aktivierung der Bevölkerung kam,54 blieb die Vorstellung vom Kriegsdienst als ruhmvoller Bewährungschance weiterhin ein seltenes Elitenphänomen.55 Den Versuchen aufgeklärter Militärreformer, auch einfachen Soldaten eine Standesehre zu konzedieren, war zumal im Militär selbst keine Breitenwirkung beschieden.56 Es ging den Eliten nach wie vor zuallererst darum, die Soldaten zu 50 Anonymus,

Der Soldat in den Winterquartieren (wie Anm. 1), 9. 10. 52 Ebd., 11. 53 Ralf Pröve, Zum Verhältnis von Militär und Gesellschaft im Spiegel gewaltsamer Rekrutierungen (1648 – 1789), in: Zeitschrift für historische Forschung 22 (1995), 191 – 223, hier 211. 54 Vgl. u. a. Hans Peter Herrmann, „Mein Arm wird stark und groß mein Muth […]“. Wandlungen des deutschen Nationalismus im 18. Jahrhundert, in: Hansjörg Bay, Kai Merten (Hg.), Die Ordnung der Kulturen. Zur Konstruktion ethnischer, nationaler und zivilisatorischer Differenzen, 1750 – 1850, Würzburg 2006 (Stiftung für Romantikforschung 29), 53 – 78. 55 Vgl. Klaus Latzel, „Schlachtbank“ oder „Feld der Ehre“? Der Beginn des Einstellungswandels gegenüber Krieg und Tod 1756‒1815, in: Wolfram Wette (Hg.), Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München u. a. 1992, 76 – 92. 56 Vgl. Michael Sikora, „Ueber die Veredlung des Soldaten“. Positionsbestimmungen zwischen Militär und Aufklärung, in: Aufklärung 11/2 (1999), 25 – 50. 51 Ebd.,



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kontrollieren und dergestalt – in den Worten Michael Sikoras – ihre „bedingungslose, funktionale Verfügbarkeit im Dienste monarchischer Ambitionen“57 sicherzustellen. In diesem Zusammenhang kam dem Exerzieren als der Zen­ tralprozedur der Disziplinerzeugung zentrale Bedeutung zu: Die Soldaten wurden „auf Grundlage der Regelwerke so lange [gedrillt], bis sie den Befehlen ihrer Offiziere und damit dem Willen ihrer Landesherren ‚mechanisch und blind gehorchten‘“.58 Allerdings konnte es für den Einzelnen unter gewissen Umständen durchaus attraktiv sein, zumindest zeitweise im Militär zu dienen, etwa um akute „Subsistenzkrisen“59 zu überbrücken oder um das Abenteuer zu suchen. Es ist zudem vielfach bezeugt, dass die ästhetisch reizvollen Uniformen der Zeit die Soldaten prächtig und als attraktive Partner erscheinen ließen.60 Trotz des schlechten Leumunds des finanziell nicht sehr einträglichen Militärdiensts konnte die Verbindung mit einem Soldaten insbesondere für sozial schwache Frauen durchaus interessant sein.61 Derartige Elemente der militärischen Lebensrealität kommen im Soldaten in den Winterquartieren vielfach zur Sprache: etwa das Phänomen des Kleinen Kriegs,62 die komplizierten Heiratsreglements im Militär,63 die Neigung vieler Soldaten zum Glücksspiel,64 der Alltag des Wachestehens65 oder die verbreiteten Prügelstrafen.66 Soldaten wie Zivilisten sind sich über den destruktiven Charakter des Kriegs einig, wobei aber den Preußen im Vergleich mit den

57 Michael

Sikora, Massenhaft Soldaten, in: Bernd Sösemann, Gregor Vogt-Spira (Hg.), Friedrich der Große in Europa. Geschichte einer wechselvollen Beziehung, Bd. 2, Stuttgart 2012, 216 – 232, hier 231. 58 Jürgen Luh, Kriegskunst in Europa 1650 – 1800, Köln u. a. 2004, 194. 59 Pröve, Zum Verhältnis von Militär und Gesellschaft (wie Anm. 53), 220. 60 Vgl. u. a. Jutta Nowosadtko, Soldatenpartnerschaften. Stehendes Heer und weibliche Bevölkerung im 18. Jahrhundert, in: Karen Hagemann, Ralf Pröve (Hg.), Landsknechte, Soldatenfrauen und Nationalkrieger. Militär, Krieg und Geschlechterordnung im historischen Wandel, Frankfurt am Main u. a. 1998 (Geschichte und Geschlechter 26), 297 – 321, hier 298 f., und für eine genauere Analyse der zunehmenden Aufladung der Uniform zum Ausdruck von Männlichkeit, allerdings in Bezug auf das 19. Jahrhundert, Sabina Brändli, Von „schneidigen Offizieren“ und „Militärcrinolinen“. Aspekte symbolischer Männlichkeit am Beispiel preußischer und schweizerischer Uniformen des 19. Jahrhunderts, in: Ute Frevert (Hg.), Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1997 (Industrielle Welt 58), 201 – 228. 61 Vgl. etwa Beate Engelen, Warum heiratet man einen Soldaten? Soldatenfrauen in der ländlichen Gesellschaft Brandenburg-Preußens im 18. Jahrhundert, in: Stefan Kroll, Kersten Krüger (Hg.), Militär und ländliche Gesellschaft in der frühen Neuzeit, Münster u. a. 2000 (Herrschaft und soziale Systeme in der frühen Neuzeit 1), 251 – 273, hier 257. 62 Vgl. Anonymus, Der Soldat in den Winterquartieren (wie Anm. 1), 5. 63 Vgl. ebd., 7. 64 Vgl. ebd., 8. 65 Vgl. ebd., 9. 66 Vgl. ebd., 13.

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„Franzosen“67 größerer Anstand attestiert wird. Dass trotz dieser unter anderem von Kathrinchens Vater geäußerten Einschätzung dem Stück kein propreußischer Gehalt zu attestieren ist, zeigt sich nicht nur in den Anspielungen auf die Münzverschlechterung.68 Denn noch bevor ihm zur allgemeinen Erheiterung auf bühnenkomische Weise Schläge verabfolgt werden,69 die vorgeblich einer anderen Figur zugedacht sind, relativiert er sein Preußenlob. Er klagt, dass man nicht nur „Nuth [sic] und Schmach“ ertragen müsse, sondern den Besatzern auch noch „flattiren“70 müsse. Tatsächlich lässt sich statt glaubwürdiger politischer Parteinahmen ein allgemeiner Konsens über den Krieg als „schlechte Zeit[]“71 verzeichnen, welcher der Einzelne gleich welchen Standes hilflos ausgeliefert ist. Entsprechend monologisiert die verheiratete Dame Sylvia: Vergleichet euch, ihr Erdengötter! Daß ihr den Völkern Friede schenkt: Zu lang ists, daß ihr Kabinetter Zum Weh der Länder kriegrisch denkt! Verschonet vieler Helden Leben, Die den Provinzen Bürger geben; O würde noch die nächste Nacht Der Einigkeit Vertrag gemacht!72

Diese Klage über den Krieg schließt indes nicht das Militär als soziale Gruppe ein, die im Gegenteil Zerstreuung und Vergnügung ermöglicht. So muss die verheiratete Dame aufgrund juristischer Verdachtsmomente gegen ihren Mann, was vermutlich als Hinweis auf die während des Kriegs häufigen illegalen Bereicherungsversuche zu verstehen ist,73 auf gesellschaftliche Kontakte verzichten. Doch in dieser Lage verschafft ihr ausgerechnet der Leutnant etwas Kurzweil. Dieser betont die erotische Qualität der gemeinsamen Zusammenkünfte mittels der sehr vordergründigen metadramatischen Hintergründigkeit, dass seine Hand, die Sylvia „erröthen“ lässt, als „kleiner Vorbericht an den geneigten Leser“ zu verstehen sei.74 Auch für Lotchen und Kathrinchen bedeutet der Kontakt mit dem Soldaten Dietrich ein attraktives Lebensmodell, das zu den bürgerlichen Verhaltensnormen im Widerspruch steht. Als sie von Dietrichs mindestens 15 Namen versammelnden „Liste [s]‌einer Mädchen“75 – seiner, wie er selbst

67 Ebd.,

5. ebd., 8. 69 Vgl. ebd., 28 – 32. 70 Ebd., 22. 71 Ebd., 21. 72 Ebd. 73 Vgl. ebd., 33. 74 Ebd., 17. 75 Ebd., 12. 68 Vgl.



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sagt, „Eskadron“76 – erfahren, sind sie zwar zunächst entrüstet, stimmen aber bald in einen das Stück beschließenden Gesang ein: So last uns immer lustig leben, Wir brauchen niemand Rechenschaft Von unsrer Zärtlichkeit zu geben, Die Liebe bleibet dauerhaft! Wir wollen uns einander herzen, Mit steter Wollust, stillem Scherzen, So schmecken wir die beste Nacht, Wo Amor selbst Quartiere macht!77

III. Der Soldat in den Winterquartieren und das Militärdrama des 18. Jahrhunderts Georg Witkowskis hatte sich um 1900 in mehreren Beiträgen, allerdings nur mit geringem Erfolg um die Popularisierung des Soldaten in den Winterquartieren bemüht.78 Dabei vertrat er die Ansicht, dass viele Szenen „offenbar dem Leben abgelauscht[]“ sind und das Stück insgesamt durch einen „merkwürdige[n] Realismus gezeichnet“ sei.79 Die Fülle der sozialhistorischen Details in Betreff der Koexistenz von Militär und Zivilgesellschaft ist für diese Zeit in der Tat ungewöhnlich. Die seit Beginn des 18. Jahrhunderts prägenden Stehenden Heere, die Soldaten zu einem „typische[n] Erscheinungsbild der Zeit“80 werden ließen, bilden hierbei den realhistorischen Hintergrund. Obgleich das Militär einerseits und die Zivilgesellschaft andererseits in mancher Hinsicht gegensätzliche Sphären darstellten, kam es in dieser Zeit zu einem historisch neuartigen „Akkulturationsprozess“81 des Militärs. Diese Entwicklung, die die Militärge76 Ebd.,

36. 44. 78 Vgl. Witkowski, [Rezension] (wie Anm. 33), ders., Nochmals der siebenjährige Krieg (wie Anm. 33), ders., Geschichte des geistigen Lebens in Leipzig (wie Anm. 13). Im Anschluss an Witkowski wurde das Stück gelegentlich erwähnt, etwa bei Stümcke, Hohenzollernfürsten im Drama (wie Anm. 34), 131 – 133, Franz Conring (i. e. Oswald Kohut) (Hg.), Das deutsche Militär in der Karikatur, Stuttgart 1907, 91 – 95 und Zeitler, Nachwort (wie Anm. 35). Dass Witkowski das Stück wiederentdeckt hat, wie er für sich in Anspruch nimmt, scheint allerdings nicht zu stimmen. Vgl. bereits die Erwähnungen bei Willy Böhm, Wie stellen sich die Taten Friedrichs des Großen dar in der deutschen Literatur seiner Zeit, vornehmlich in der deutschen Dichtung?, in: Zeitschrift für preußische Geschichte und Landeskunde  7 (1870), 445 – 499, 573 – 609, hier 585, und Georg Liebe, Der Soldat in der deutschen Vergangenheit, Leipzig 1899 (Monographien zur deutschen Kulturgeschichte 1), 102. 79 Witkowski, Nochmals der siebenjährige Krieg (wie Anm. 33), 230. 80 Pröve, Zum Verhältnis von Militär und Gesellschaft (wie Anm. 53), 220. 81 Bernhard R. Kroener, „Das Schwungrad an der Staatsmaschine?“. Die Bedeutung der bewaffneten Macht in der europäischen Geschichte der Frühen Neuzeit, in: ders., Ralf Pröve (Hg.), 77 Ebd.,

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schichtsschreibung der letzten Jahre eindrücklich herausgearbeitet hat, wird im Soldaten in den Winterquartieren freilich nicht neutral dokumentiert, sondern im Rahmen der zeitgenössischen Wahrnehmungsstrukturen zum Ausdruck gebracht. Besondere Bedeutung kommt einerseits dem durchaus topische Züge tragenden populären Bild des Militärs, andererseits aber auch dem kulturellen und poetischen Möglichkeitsspektrum der Zeit zu. In diesem Zusammenhang erweist sich das Konzept der Galanterie als zentral, für das das Musiktheater Bernhard Jahn zufolge besonders disponiert war.82 Da in der Frühen Neuzeit das Kriegsgeschehen während der Wintermonate ruhte, waren die für das besprochene Stück titelgebenden Winterquartiere von strategischer Bedeutung, in denen die Truppen sich ergänzen, ausruhen und auf die Wiederaufnahme des Feldzugs im Frühling vorbereiten sollten.83 In Leipzig, das in Friedenszeiten keine Soldaten hatte einquartieren müssen,84 kam es dadurch zu einer in dieser Form neuartigen räumlich Nähe von preußischen Soldaten und zivilen Stadtbewohnern, obgleich Leipzig bereits zuvor beurlaubte Soldaten „[w]‌ie ein Magnet“85 angezogen zu haben scheint. Die sich hierbei ohne Zweifel entspannenden amourösen Beziehungen greift der anonyme Autor in seinem Stück auf, wobei er die Militärfiguren mit galanten Wert- und Verhaltensmustern assoziiert. So bekennen sich Lotchen und Kathrinchen im Hinblick auf ihre Liebesbeziehung mit Dietrich zur „Liebe“ und zu ihren „Triebe[n]“ und erklären: „So leben wir galant.“86 Der verheirateten Dame Sylvia, die sich zuvor am „Nachttisch“87 für den Leutnant hübsch gemacht hat, wird hingegen von ihrem Liebhaber wenig später in freizügiger Absicht gesagt: „Sie sind zu sehr galant, und allzuvest geschnürt.“88 Das hier aufgerufene Verständnis von Galanterie steht im Zeichen von Libertinage, „Mode“89 und „Schein[]“90 statt Sein. Galantes Verhalten in diesem Sinne bricht zwar mit den bürgerlichen Anstandsnormen, entpuppt sich aber zugleich als eine Lebenskunst, um der entKrieg und Frieden. Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, Paderborn u. a. 1996, 1 – 23, hier 22. 82 Vgl. Bernhard Jahn, Musiktheater und galanter Diskurs, in: Ruth Florack, Rüdiger Singer (Hg.), Die Kunst der Galanterie. Facetten eines Verhaltensmodells in der Literatur der Frühen Neuzeit, Berlin u. a. 2012 (Frühe Neuzeit 171), 301 – 315. 83 Vgl. Hans Schmidt, Der Einfluß der Winterquartiere auf Strategie und Kriegführung des Ancien Régime, in: Historisches Jahrbuch 92 (1972), 75 – 91. 84 Vgl. Sebastian Schaar, Militär und Bürgerwehr, in: John, Steinführer, Döring (Hg.), Geschichte der Stadt Leipzig (wie Anm. 21), 182 – 198, hier 192, 194. 85 Kroll, Soldaten im 18. Jahrhundert (wie Anm. 17), 300. 86 Anonymus, Der Soldat in den Winterquartieren (wie Anm. 1), 27. 87 Ebd., 14. 88 Ebd., 20. 89 Ebd., 19. 90 Ebd., 43.



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behrungsreichen Kriegszeit die wenigen vergnüglichen und insofern positiven Aspekte abzugewinnen. Das Militär erscheint im Soldaten in den Winterquartieren als eine soziale Institution, an der die Ambivalenz des zeitgenössischen Selbst- und Fremdverständigungsetiketts ‚galant‘ zum Ausdruck kommen. Einerseits fungiert Galanterie zur „Abgrenzung“ von frivolen, unnatürlichen und heuchlerischen Umgangsformen, um „eine erst herzustellende Gesellschaft von Gleichgesinnten“ im Zeichen bürgerlicher Moral sowie „Arbeit, Ökonomie und Effizienz“ zu befördern.91 Neben dieser beispielsweise in den Moralischen Wochenschriften verbreiteten pejorativen Verwendung konnte Galanterie auch ein durchaus komplexes „Verhaltens[-]“ und „Kommunikationsideal[]“ meinen.92 Als Manipulationskunst und Ausweis hoher Zivilisiertheit gleichermaßen drückte sich galantes Verhalten in kultivierten Umgangsformen aus und zielte auf „soziale Distinktion“ sowie auf eine „geschlechterübergreifende Geselligkeit“.93 Indem das Militär im Soldaten in den Winterquartieren unter galanten Auspizien dargestellt wird, kommen einerseits die verbreiteten Ressentiments gegen diese Sozialformation zum Ausdruck. Andererseits drückt sich hierin auch eine Faszination für dessen Weltläufigkeit, herrschaftliche Repräsentativität und ästhetische Anmutung aus, die einen Gegensatz zu den bürgerlich-alltäglichen Verhaltens- und Wertmustern bildete. Insgesamt wird das Militär weder kritisiert noch glorifiziert, sondern vielmehr als eine gesellschaftliche Gruppe inszeniert, die gleichermaßen Störfaktor und Faszinosum darstellt.94 Ob die poetische Ausdrucksoption des Singspiels dem anonymen Autor für eine theatrale Behandlung des Militärs angemessen schien oder ob ihm das Militär vielmehr umgekehrt ein adäquates Sujet war, um sich in der Gattung des Singspiels zu versuchen, muss eine offene, methodisch allerdings ohnehin wenig sinnvolle Frage bleiben.

91 Ruth

Florack, Im Namen der Vernunft. Galanterie-Kritik in deutschen Moralischen Wochenschriften, in: Raymond Heitz u. a. (Hg.), Gallophilie und Gallophobie in der Literatur und den Medien in Deutschland und Italien im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2011 (Germanisch-romanische Monatsschrift. Beihefte 40), 207 – 223, hier 222. 92 Thomas Borgstedt, Andreas Solbach, Vorwort, in: dies. (Hg.), Der galante Diskurs. Kommunikationsideal und Epochenschwelle, Dresden 2001 (Arbeiten zur Neueren deutschen Literatur 6), 9 – 11, hier 10. 93 Ruth Florack, Rüdiger Singer, Einleitung, in: dies. (Hg.), Die Kunst der Galanterie (wie Anm. 82), 1 – 16, hier 9. 94 Wiehl, Kriegskörper (wie Anm. 8), 237 – 262 kommt in der einzigen mir bekannten neueren Untersuchung zu diesem Singspiel zu einem anderen Interpretationsergebnis: Unter wissens­ poetologischen Vorzeichen sieht er von den formalästhetischen Aspekten und pragmatischen Bezügen weitgehend ab und fasst den Soldaten in den Winterquartieren insgesamt als drastisches und ambivalentes Zeugnis kriegerischer Emotionen; er konstatiert eine „ambivalente Kraft der Triebe“ und die zügellose „soldatische Sexualität“, die gesellschaftsschädigend, aber zugleich ein Mittel zum erfolgreichen Krieg sei (ebd., 262).

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Um abschließend die Fragen zu diskutieren, welche Bedeutung der musikalischen Anlage des Stücks sowie dem Musiktheater insgesamt für die dramatische beziehungsweise theatrale Darstellung des Militärs zuzusprechen ist, muss ich ein wenig ausholen. Als Georg Witkowski Anfang des 20. Jahrhunderts den realistischen Charakter und den „kultur- und literarhistorischen Werth“95 des Soldaten in den Winterquartieren so nachdrücklich betonte, ging es ihm nicht zuletzt darum, ein literarhistorisches Narrativ anzuzweifeln. In den gängigen Literaturgeschichten dieser Zeit galt es als ausgemacht, dass Gotthold Ephraim Lessing mit Minna von Barnhelm 1767 die Gattung der Militärdramen ins Leben gerufen habe. Diese These, die ein Beispiel für die Fehleranfälligkeit literaturwissenschaftlicher Überlieferungsprozesse bildet, hatte der spätere Archivar der königlichen Hofbibliothek in Stuttgart Karl Hayo von Stockmayer in seiner Dissertation zu erhärten versucht.96 Witkowski hatte diese Untersuchung in einer Rezension harsch kritisiert. Er konstatierte den methodologischen Mangel, die Vorbildwirkung von Lessings ‚Meisterkomödie‘ bereits vorausgesetzt und daher zirkulär argumentiert zu haben, und gibt zu bedenken: „Es fehlt uns nicht an zeugnissen aus dem unmittelbar vorhergehenden zeitraum, die da heranzuziehen wären.“97 Im Folgenden kommt Witkowski auf den Soldaten in den Winter­ quartieren als Beispiel dafür zu sprechen, dass das Militär bereits vor Lessing auf eine realistische Weise, das heißt unabhängig vom Topos des ‚lächerlichen Kriegers‘ dargestellt wurde. Auf der Grundlage einer intensiven Beschäftigung mit dem Militärdrama des 18. Jahrhunderts kann ich Witkowski vollumfänglich beipflichten.98 Bei der Entwicklung dieser an die 300 Stücke umfassenden Gattung kann Lessing lediglich eine popularisierende und kanonisierende, nicht aber innovatorische Wirkung zugesprochen werden. Sieht man einmal von der andersgelagerten Darstellung des einfachen Soldaten durch die Figur des Hanswurst ab, entstehen bereits um 1750 dramatische Texte, in denen die „selbstverständliche Präsenz des Militärs innerhalb der frühneuzeitlichen Gesellschaft“99 zum Tragen kommt, einschließlich der hiermit verbunden Lebenswelten, Sozialkonstellationen und Konfliktfelder. Bei dem einzigen in dieser Hinsicht mit dem Soldaten in den Winterquar­ 95 Witkowski,

Nochmals der siebenjährige Krieg (wie Anm. 33), 230. Karl Hayo von Stockmayer, Das deutsche Soldatenstück des XVIII. Jahrhunderts seit Lessings Minna von Barnhelm, Weimar 1898 (Litterarhistorische Forschungen 10) sowie zu von Stockmayer Karl Löffler, Geschichte der Württembergischen Landesbibliothek, Leipzig 1923 (50. Beiheft zum Zentralblatt für Bibliothekswesen), Reprint Wiesbaden 1968, 253 und HansChristian Pust, Die Kriegssammlung der Königlichen Hofbibliothek Stuttgart, in: WLB Forum. Mitteilungen der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart 15/2 (2013), 22 – 28. 97 Witkowski, [Rezension] (wie Anm. 33), 83. 98 Vgl. Venzl, „Itzt kommen die Soldaten“ (wie Anm. 7). 99 Bernhard R. Kroener, Kriegswesen, Herrschaft und Gesellschaft. 1300 – 1800, München 2013 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 92), 124. 96 Vgl.



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tieren vergleichbaren Stück handelt es sich ebenfalls – so der Untertitel – um ein „Singspiele“.100 Staps ein Recrüte wurde bereits 1749, also bereits zehn Jahre zuvor teils in niederdeutschem Dialekt abgefasst und spielt Abstimmungs- und Aushandlungsprozesse mit dem Militär in Bezug auf durchaus problembehaftete Sachverhalte scherzhaft durch. In den folgenden Jahrzehnten kam es dann zu einer breiten Produktion von Militärdramen, meist Sprechtheaterstücke, die breit und intensiv rezipiert wurden.101 Warum war das Musiktheater für die Gattung des Militärdramas um die Mitte des 18. Jahrhunderts besonders disponiert? Womöglich – und diese These ist zugleich eine Frage an die Musikwissenschaft – wirkte der musikalische Aspekt entschärfend und eröffnete somit die Möglichkeit, militärische Aspekte in einer bis dahin unbekannten Realistik zu thematisieren. Das anonym veröffentlichte Singspiel Der Soldat in den Winterquartieren (1759) ent­ stand in der Frühphase der von Christian Felix Weiße und Johann Georg Standfuß neu begründeten, kontrovers diskutierten Gattung. Das nur als Libretto überlieferte Stück ruft die neue Form auf und verbindet sie mit einer ungewöhnlich realistischen Darstellung der preußischen Besetzung Leipzigs während des Siebenjährigen Kriegs. Das Stück erlaubt einerseits Einblicke in die Konstitutionsphase des deutschsprachigen Singspiels und stellt andererseits ein prägnantes Beispiel dafür dar, dass das Militär um die Mitte des 18. Jahrhunderts zu einem vorherrschenden Bühnensujet wurde. Das Theater und nicht zuletzt das Musiktheater spielte den zunehmenden gesellschaftlichen Integrationsprozess des Militärs durch und fesselte dadurch die Aufmerksamkeit der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen. The Singspiel Der Soldat in den Winterquartieren (1759), which was published anony­ mously, was created in the initial phase of the controversially debated new genre estab­ lished by Christian Felix Weiße and Johann Georg Standfuß. The play, of which only the libretto has survived, adopts the new form and gives an exceptionally realistic account of the Prussian occupation of the city of Leipzig during the Seven Years’ War. On the one hand, the play affords insights into the early stages of the German-language Sing­ spiel. On the other hand, it is a prime example of how the military became a dominant topic on German stages around the middle of the 18th century. The theater, and not least musical theater, depicted the increasing societal integration of the military and thereby attracted the attention of the broad public. Dr. Tilman Venzl, Universität München, Institut für Deutsche Philologie, S ­ chellingstraße 3, 80799 München, E-Mail: [email protected] 100 So

im Titel J. E. R., Drey Lustspiele aus dem Französischen übersetzt. Nebst einem Lustspiele, Frankfurt am Main u. a. 1749. 101 Erst kürzlich ist mir bekannt geworden, dass „[m]‌i litärische Stoffe“ nicht zuletzt in Gestalt von Singspielen auch „zu den wichtigsten Themen klösterlicher Reflexion“ während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zählten. Vgl. hierzu genauer Andreas Lindner, Sozial-, gesellschafts- und herrschaftskritische Reflexionen im Musikschaffen der oberösterreichischen Stifte, in: Studien zur Musikwissenschaft 55 (2009), 195 – 268, hier 224.

Livio Marcaletti Deutsches Singspiel vs. italophile Gesangslehre in Johann Adam Hillers Musiktheater- und Lehrwerken

Die Bedeutung von Johann Adam Hillers Musikschaffen liegt nicht nur in seiner Produktion von Singspielen, einer Gattung, die Gegenstand des vorliegenden Bands ist, sondern auch in seiner Tätigkeit als Gesangspädagoge, durch die er eine Verbesserung der deutschen Gesangsdidaktik und eine Annäherung an italienische Modelle durch die Traktate anstrebte, die sich als bahnbrechend erweisen sollten. Im vorliegenden Beitrag wird der Frage nachgegangen, inwiefern diese zwei unterschiedlichen Bereiche miteinander zusammenhängen: Können aus der Auswertung von Hillers didaktischen Werken bedeutende Schlussfolgerungen für die Erforschung der aufführungspraktischen Aspekte seiner Singspiele gezogen werden? Wenn ja, was sollten heutige Interpret*innen berücksichtigen, die sich mit der Wiederbelebung dieses Repertoires auseinandersetzen? Hillers Interesse für den Gesang entwickelte sich schon in Jugendjahren; der Besuch mehrerer Opernaufführungen mit Musik von Hasse und berühmten Kastraten als Interpreten hatte seine Leidenschaft für die Vokalmusik verstärkt, wie er selbst in seiner Autobiographie berichtet: Mein gewöhnlichster Zeitvertrieb in diesen Jahren war Singen; und da ich sonst nichts hatte, sang ich Lieder aus dem Gesangbuche; meistentheils Passions- und Sterbelieder, und unter diesen immer die längsten am liebsten. […] Meine Neigung zur Musik, und besonders zum Gesange, ist aber wohl durch nichts so sehr unterstützt und befestigt worden, als durch die Gelegenheit, die damaligen vortrefflichen Opern des Kapellmeisters Hasse, von Semiramide an, bis auf Olimpiade, mit den besten Sängern, einem Salimbeni, Carestini, Monticelli, Bindi, Belli, Venturini, Annibali, Bruscolini, Amorevoli, und andern besetzt, zu hören.1

Die Begegnung mit der italienischen Oper und mit der Gesangskunst der Kastraten spielte eine entscheidende Rolle in seiner didaktischen Tätigkeit, bei der er eine Annäherung des verbesserungswürdigen deutschen Gesangs an das italienische Modell für unentbehrlich hielt, wie anhand seiner Gesangstraktate zu 1 Johann

Adam Hiller, Mein Leben. Autobiographie, Briefe und Nekrologe, hg. von Mark Lehmstedt, Leipzig 2004, 8, 11.

Aufklärung 34 · © Felix Meiner Verlag 2022 · ISSN 0178-7128

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eruieren ist. Der Singschule, die er in den 1770er Jahren in Leipzig gegründet hatte, widmete er die Anweisung zur musikalisch-richtigen Gesange (1774),2 welche im Wesentlichen die technischen Grundlagen des Gesangs behandelt. Einige Jahre später publizierte er die Anweisung zum musikalisch-zierlichen Ge­ sange (1780), die sich mit Fragen der Ornamentik und des guten Vortrags im Allgemeinen befasst. Das Adjektiv „zierlich“ weist genau auf jene interpretativen Aspekte des Gesangs hin, die über die bloße ‚Richtigkeit‘ hinausgehen und die Ornamentik sowie expressive Aspekte des Vortrags umfassen. Daneben schlug sich die didaktische Tätigkeit Hillers auch in der Herausgabe italienischer Arien mit ausgeschriebenen Verzierungen für die Da-capo-Teile nieder (Sechs italie­ nische Arien verschiedener Komponisten, 1778). Ziel der Publikation war nicht nur, die lernenden Sänger*innen mit nützlichen Modellen für den ‚zierlichen‘ Vortrag einer italienischen Arie zu versehen, sondern auch die Grundlagen der richtigen italienischen Aussprache zu vermitteln. Die Singschulen in Hillers Zeit konzentrierten sich auf die Ausbildung von Sängerknaben, doch seiner Meinung nach bestand das Bedürfnis einer Erweiterung des Unterrichts auf Mädchen, die vom Kirchengesang noch ausgeschlossen waren. Weibliche Stimmen hätten Sopran- und Altpartien besser als Falsettisten (die „bärtige[n] Knaben“) übernehmen können: Beym Studieren des Gesanges auf Schulen findet sich auch noch das Mangelhafte, daß das weibliche Geschlecht gar keinen Antheil daran hat. Der nächste Endzweck ist daselbst, Sänger für die Kirche zu ziehen; und einem albernen Vorurtheile zu Folge schließt man Frauenzimmer von einer Sache aus, deren vornehmste Zierde sie seyn könnten, und zu der sie gewiß eben so viel Recht haben, als jene überschriene und fistulirende Sopran= oder Altstimmen bärtiger oder unbärtiger Knaben. Aber wenn nun auch Frauenzimmer zur Kirchenmusik nicht gezogen werden könnten, sollte ihnen denn die Geschicklichkeit in der Musik, und besonders im Singen, nicht auch außer der Kirche nützen?3

Kinderstimmen wurden allerdings nicht nur in der Kirche verwendet, sondern auch von den Theatertruppen, die im deutschsprachigen Raum Lust- und Singspiele aufführten. Diese Truppen bestanden „aus einer Ansammlung von Alleskönnern, denen der Ruf anhaftete, mangels Spezialisierung immer nur auf qualitativ geringerem Niveau als ihre Kollegen aus dem Ausland arbeiten zu können“.4 Cristina Urchueguía und Thomas Bauman zufolge trug die Natur dieser Wandertruppen zum allgemeinen Vorurteil bei, wonach das Singspiel eine triviale Gattung für schlechte Schauspieler und noch schlechtere Sän2 Eine

„erleichterte“ Fassung wurde 1792 als Kurze und erleichterte Anweisung zum Singen, für Schulen in Städten und Dörfern veröffentlicht. 3 Johann Adam Hiller, Anweisung zum musikalisch-richtigen Gesange, Leipzig 1774, Vorrede, [IV]. 4 Cristina Urchueguía, Allerliebste Ungeheuer. Das deutsche komische Singspiel 1760 – 1790, Frankfurt am Main 2015, 37.



Deutsches Singspiel vs. italophile Gesangslehre bei Johann Adam Hiller

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ger war.5 Beim deutschen Singspiel können auch Sängerknaben angeworben werden: [Die Konstantinische Schauspielergesellschaft] besteht aus jungen Leuten, einigen Kindern, und einigen verheirateten Schauspielern, welches zuweilen einen sonderbaren Kontrast verursacht, an den man sich freilich erst gewöhnen muß. Auch läst es sehr sonderbar, wenn oft eine niedliche Diskant Stimme unter der Perüke eines Alten hervorstürm, so bald man dies aber gewohnt ist, muß man gestehen, daß diese jungen Leute mehrentheils sehr viel Talent zeigen, welches mit der Zeit, zur Reife gebracht, den Theatern sehr nutzen kann.6

Eine solche Zusammensetzung der Truppen musste sich in einer mittelmäßigen Gesangsfähigkeit und in der Kürzung mehrstrophischer Lieder niederschlagen, um die fade Wiederholung derselben Melodie ohne notwendige expressive Mittel zu vermeiden, wie in der folgenden anonymen Rezension der Komischen Opern von Christian Felix Weiße erläutert wird: Daher hat ein deutscher komischer Opern=Dichter, bey Liedern von einigen Strophen, ganz andere Cautelen zu beobachten, als ein französischer. Z. B. Er muß sich hüten ein Lied von mehrern Strophen und zumal von langen Strophen zu machen, worinn ernsthafte, traurige, melancholisch=zärtliche Gesinnungen ausgedrückt werden. Hat er sie zu bearbeiten, so muß er sie allemal zu einer Ariette anlegen. Hier hat der Componist freyes Feld, durch die Musik den Affekt auszudrücken, und kann die Melodie verändern, um die Wirkung zu vermehren. In einem Liede hingegen hat der Musikus ein enger Feld vor sich, und wird dadurch, daß er die Musik zu verschiedenen Strophen anpassen muß, noch mehr eingeschränkt. Wenn denn vollends eine Melodie von engem Umfange, in langsamen Zeitmaaße, welches die Worte erfodern, „von einer mittelmäßigen Stimme einigemal nacheinander gesungen wird, so wird sie den Zuhörern meist überdrüßig“. Wir erinnern uns, daß mehr als ein an sich schönes und auch wohl componiertes Lied, bey der zweyten Vorstellung hat müssen abgekürzt werden.7

All diese Zitate schildern das vermeintliche Bild eines sehr einfachen, schlichten Gesanges, der allgemeinverständlich war und keine verfeinerte Ausbildung benötigte, als ob alle Lieder eines Singspiels aus einfachen, strophischen Melodien bestünden. Es sollte an dieser Stelle jedoch nicht vergessen werden, dass Hiller sich verschiedener Arienformen je nach sozialer Herkunft der singenden Charaktere bediente:8 5 Thomas

Bauman, Opera Versus Drama: Romeo and Juliet in Eighteenth-Century Germany, in: Eighteenth-Century Studies 11 (1978), 186 – 203, hier 186. 6 Ueber die Konstantinische Schauspielergesellschaft, in: Annalen des Theaters, hg. von Christian August von Bertram, Berlin 1788, Bd. 2, 119, zitiert nach Urchueguía, Allerliebste Ungeheuer (wie Anm. 4), 38. 7 Anonymus, Komische Opern, in: Allgemeine deutsche Bibliothek 11/2 (1770), 3. 8 Eine solche Assoziation war bereits in der italienischen Opera buffa üblich. Adlige Figuren drückten sich oft in Koloraturgesang und Da-capo-Arien aus, manchmal mit parodistischen Zielen wie etwa in „Furie di donna irata“ aus Piccinnis La buona figliuola oder in „Smanie im-

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Zum Unglück war Koch mit mir nicht einerley Meynung; er behauptete, daß alles liedermäßig, leicht, und so seyn müsse, daß jeder Zuschauer im Stande wäre allenfalls mit zu singen. Ich gestehe gern, daß Koch nicht ganz Unrecht hatte, wenn die Operette blos Scenen aus der niedrigen Classe der Menschen enthält. Freylich darf ein Bauernmädchen nicht Arie di bravura einer italiänischen Opernheldin singen; aber ein Astolph in Lottchen am Hofe, ein König in der Jagd, kann auch nicht mit Gesängen eines Bauernmädchens auftreten. Diesen Unterschied der Charaktere habe ich, nach der Zeit, in allen den ländlichen Scenen, die unser Weiße mit so vielem Glücke bearbeitet hat, vor Augen gehabt; doch aber auch immer darauf gesehen, daß die Form der Arien sich nicht zu sehr von einander entfernte.9

Sein Singspiel Die Jagd (1771, Libretto von Christian Felix Weiße) ist ein anschauliches Beispiel für die Vielfalt an Sprach- und Stilregistern, derer sich Hiller in der Komposition der Lieder und Arien bediente. Weiße überarbeitete den Stoff aus dem Theaterstück La Partie de chasse de Henri IV und der Opéra comique Le Roi et le fermier (Libretto von Michel-Jean Sedaine, Musik von Pierre-Alexandre Monsigny). Wie bereits der letztere Titel andeutet, involviert die Handlung Charaktere unterschiedlicher sozialer Schichten. Der stilistische Kontrast zwischen verschiedenen Arienformen ergibt sich aus dem „Zusammenstoß gegensätzlicher, scheinbar getrennter Sphären: König, Bauer, Stadt und Land, Familie und Hofwelt“,10 der Die Jagd noch stärker als die vorigen Singspiele von Weiße und Hiller (Lottchen am Hofe und Die Liebe auf dem Lande) charakterisiert. Einfache Bäuer*innen singen dementsprechend schlichte Lieder, die keine besondere Gesangsausbildung benötigen, wie etwa das Lied Mein Töffel (I,1), welches das sozial ‚niedrige‘ Liebespaar der Handlung sehr passend schildert. Röschen drückt damit ihre Liebe für Töffel auf bescheidene und naive Weise aus. Die Schlichtheit des Texts schlägt sich in der anspruchslosen Vertonung nieder. Der syllabische Gesang beschränkt sich auf den Stimmumfang einer Oktave, die der zeitgenössischen Liedertheorie zufolge als Maßstab für den angemessen Stimmumfang eines Liedes galt, wie etwa Johann Georg Sulzer im Artikel Lied seiner berühmten Enzyklopädie darlegt: Der Umfang der Stimme muß man für das Lied nicht zu groß nehmen, weil es für alle Kehlen leicht seyn soll. Darum ist das Beste, daß man in dem Bezirk einer Sexte, höchstens der Octave bleibe. Aus eben diesem Grunde müssen schwere Fortschreitungen und schwere Sprünge vermieden werden.11 placabili“ aus Mozarts Così fan tutte; Diener*innen hingegen begnügten sich eines syllabischen Gesangsstils. 9 Hiller, Mein Leben (wie Anm. 1), 24. 10 Jörg Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert. Typologie, Dramaturgie und Anthropologie einer populären Gattung, Tübingen 1998, Bd. 1, 137. 11 Siehe Sulzers Artikel Lied in Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, 3. Theil, Leipzig 1793, 278; siehe auch Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater (wie Anm. 10), 176.



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Der Stil entspricht im Falle dieses Liedes der dramaturgischen Situation.12 Dies bedeutet allerdings nicht, dass niedrige Figuren sich ausschließlich auf diese Weise ausdrücken dürfen. Wenn Röschen zwei Szenen danach erfährt, dass ihre zukünftige Schwägerin möglicherweise von einem Grafen entführt worden ist, erläutert sie, wie sie an ihrer Stelle die Werbung eines Adligen ausschlüge. Da sie sich in der Arie Und käm ein Graf vorstellt, einem Grafen zu begegnen, ahmt sie den gehobenen adligen Stil auch musikalisch nach: Statt eines strophischen Liedes singt sie diesmal ein durchkomponiertes Stück in einem erhobeneren Stil. Der Ambitus sprengt die gewöhnlichen Grenzen des Liedes und umfasst etwa eine Dezime; darüber hinaus enthält die Melodie mehrere Sext- und Oktavsprünge sowie Vorschläge, Triller und kurze Koloraturen. Anders als Mein Töffel gehört diese durchkomponierte Arie zu einer mittleren Stufe zwischen dem einfachen deutschen Lied und der Arie im italienischen Stil: Röschen äfft den Stil des hypothetischen Grafen anhand von Trillern und kurzen Passaggi nach, die in ihrer vorigen Liebeserklärung an Töffel fehlten. Der zeitgenössische Bericht Johann Friedrich Reichardts, der einer Aufführung der Jagd beiwohnte, bestätigt den spöttischen Ton der Arie: Bey diesem Ausdruck ist auch noch die Bewegung zu bemerken: Die ersten fünf Silben hat H[err] H[iller] ganz geschwinde fortsingen lassen, um die spöttisch gezerrte Silbe: Stra=ße recht hervorstechend zu machen; wodurch der Gesang auch wirklich so lebhaft ausdrückend wird, daß ich, so oft ich es singe, Röschen zu sehen glaube, wie sie da steht, und mit ihrem Zeigefinger, den Leib vorwärts übergebogen, vor sich zeigt und das Maul recht spöttisch dazu zerrt.13

Ein noch höherer musikalischer Stil ist in Zusammenhang mit den Auftritten der Figur des Königs festzustellen, dessen Partie offensichtlich mit einem technisch versierteren Interpreten zu besetzen ist. Die Vokalität des Königs setzt eine gewisse Kehlfertigkeit nicht nur in Da-capo-Arien voraus, sondern auch in einem strophischen Lied wie Was noch jung und artig ist (Abb. 1, folgende Seite) Im Widerspruch zu den von Sulzer beschriebenen Merkmalen der Gattung Lied umfasst der Ambitus dieses Vokalstückes eine Dezime (e-g’), und die melodische Linie wird durch mehrere Ornamente und Melismen verziert; die letzten zwei Takte des Liedes eignen sich für einen mittelmäßigen Sänger-Schauspieler eher wenig. Die Figur des Königs nimmt somit Abstand von den anderen Charakteren der Handlung und darf nur insofern in einem Singspiel agieren, als er 12 Ebd.,

137. Krämer zufolge sind Röschen und Töffel ein komisches Paar, „dessen Verbindung als erste exponiert wird und eigentlich völlig unproblematisch erscheint“ und deren Verbindung nur aufgrund des „ernsthafteren Paares Christel-Hannchen“ vorübergehend verhindert wird, wenn auch nur bis zum zweiten Akt. Das dramaturgische Gewicht des Paars RöschenTöffel ist dadurch relativ leicht. 13 Johann Friedrich Reichardt, Über die Deutsche comische Oper nebst einem Anhange eines freundschaftlichen Briefes über die musikalische Poesie, Hamburg 1774, 41 f.

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Abb. 1: Was noch jung und artig ist, Die Jagd, 74, T. 9–24.

sich als vermeintlicher Angehöriger einer niedrigen sozialen Sphäre verstellt,14 der aber musikalisch dennoch als König erkennbar bleibt. Aus der Analyse der Stimmpartien ergibt sich ein gemischtes Bild, das einem pauschalisierenden negativen Urteil über die damalige sängerische Besetzung widerspricht. Hiller zufolge verfügte Heinrich Gottfried Kochs Wandertruppe über „keine eigentlichen Sänger und Sängerinnen“, sondern 14 Krämer,

Deutschsprachiges Musiktheater (wie Anm. 10), 139.



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wer von Natur eine leidliche Stimme und ein bischen Tactgefühl hatte, unternahm es in den Operetten zu singen, und das immer mit so vielem Glücke, daß es mir leicht in den Kopf kommen konnte, diesen Sängern nach und nach Mehreres zuzumuthen, um sie Stufensweise wirklichen Sängern immer etwas näher zu bringen.15

Thomas Seedorf zufolge war sängerische Virtuosität […] von diesen Darstellern so wenig zu erwarten wie Kenntnis über den angemessenen Gebrauch von Manieren und Verzierungen. Alle wesentlichen Manieren, vor allem Vorhalte, gelegentlich auch Triller, hat Hiller daher eigens notiert, auf Kadenzen hat er ganz verzichtet.16

Wenn allerdings einige Ornamente notiert sind – darunter auch Triller, die nicht einmal alle ausgebildeten Sänger*innen zu erzeugen vermögen17 –, kann man daraus schließen, dass die Schauspieler*innen der Koch’schen Truppe sie immerhin richtig ausführen, wenn auch nicht improvisieren konnten. Auch die Tatsache, dass der Bass, der Töffel verkörperte, sich an einer Stelle seines Falsettregisters bedienen soll,18 ist ein Zeichen dafür, dass bestimmte sängerische Mindestanforderungen vorausgesetzt waren, die sich ab den 1770er Jahren sogar erhöhten. Jörg Krämer vertritt die Meinung, dass eine Verbesserung des sängerischen Niveaus der Wandertruppen durch „Seßhaftwerdung“ und entsprechende „Höfisierung“ erfolgte: „der musikalische Satz [der neuen Singspiele] wird komplexer, da nun die gut ausgebildeten Hofmusiker zur Verfügung stehen“.19 Hillers Streben nach „einer Neuorganisation der bürgerlichen Musikausbildung“20 geht von seiner Unzufriedenheit mit den sängerischen Umständen aus, unter denen er seine ersten Singspiele hatte komponieren müssen. Vor diesem Hintergrund ist die Gesangslehre Hillers als ambitionierter Versuch zu verstehen, die Kluft zwischen dem deutschen und dem italienischen Gesangsniveau zu schließen oder zumindest abzumildern. Seine Traktate gehören zu einer etablierten didaktischen Tradition, welche den Gesangsunterricht in den Lateinschulen anvisierte und ein breites Spektrum an Lehrinhalten umfasste, von den Grundlagen der musikalischen Ausbildung bis hin zur Or15 Johann

Adam Hiller, Lebensbeschreibungen berühmter Musikgelehrter und Tonkünstler neuerer Zeit, Leipzig 1784, Reprint Leipzig 1975, 311. Siehe auch Thomas Seedorf, Deutsche Oper, in: ders. (Hg.), Handbuch Aufführungspraxis. Sologesang, Kassel 2019, 206 – 212, hier 206 f. 16 Ebd., 209 f. 17 Ob der Triller eine Naturgabe oder mit viel Übung zu lernen sei, wurde bereits im 18. Jahrhundert bestritten, etwa von den Gesangslehrern Giovanni Battista Mancini und Vincenzo Manfredini. Noch im 19. Jahrhundert vertrat der Gesangslehrer Francesco Lamperti die These, dass „der Triller im eigentlichen Sinne eine Naturgabe ist“ (Übersetzung des Verfassers). Siehe Francesco Lamperti, Osservazioni e consigli sul trillo, London 1878, 5. 18 Ebd., 210. 19 Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater (wie Anm. 10), 62. 20 Ebd., 100.

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namentik und den Regeln für den guten Vortrag.21 Insbesondere die letzteren Elemente des Gesangsunterrichts hatten eine dezidierte italienische Herkunft, wie ihr ursprünglicher Name verrät. In Michael Praetorius’ Syntagma musicum (Bd. 3, Instructio pro Symphoniacis) wurden sie als „italienische Manier“ gekennzeichnet, die aus unterschiedlichen Ornamenten (accenti, trilli, tremoli, groppi, passaggi) besteht. Es handelt sich nicht nur um Diminutionen, die bereits in mehreren Traktaten des 16. Jahrhunderts behandelt wurden und die eine ausgeschriebene Melodie grundlegend verändern, sondern auch um kleinere Modifikationen, die jederzeit unter bestimmten Umständen eingeführt werden dürfen und sollen. In seiner handschriftlichen Abhandlung Von der Singe-Kunst oder Manier beschreibt der Sänger und Komponist Christoph Bernhard das sogenannte Cantar sodo, „das schlechte oder gleiche Singen“. Eine solche Definition bedeutet nicht, dass die Noten tatsächlich wie geschrieben aufgeführt werden, sondern dass „einer jeden Note insonderheit ihre Zierlichkeit ertheilet“ wird.22 Die Grundmelodie bleibt somit vollkommen erkennbar, anders als bei der Anwendung von Diminutionen. Die „Kunst-Stücke“ des cantar sodo umfassen nicht nur die bereits von Prae­ torius erläuterten accenti, trilli und tremoli, sondern auch die Vorwegnahme der Note und der Silbe (anticipazione della nota und anticipazione della sillaba) und das ‚Suchen‘ der Note (cercar della nota). Dadurch werden Intervallsprünge gemildert und die Übereinstimmung von Silben- und Tonwechsel vermieden, um einen Legato-Gesang zu ermöglichen. Wie alle diese Manieren in einem Gesangsstück zu verwenden sind, kann man deutlicher in einem gedruckten Gesangstraktat eines Schülers von Christoph Bernhard, Wolfgang Michael Mylius, erkennen. In seinen Rudimenta musices findet man im Anhang etliche kurze Musikbeispiele, in denen die Manieren durch Kürzungen direkt in den Notentext eingetragen werden (Abb. 2, folgende Seite).23 Die Verwendung kleiner Manieren wie beim cantar sodo bleibt auch im Laufe des 18. Jahrhunderts bis zu Hillers Gesangslehre ein bedeutender Teil der sängerischen Ausbildung der Sängerknaben. Unter den vielen überlieferten Abhandlungen sei hier nur ein Beispiel ausgewählt, und zwar ein heute in Vergessenheit geratener Gesangs- und Violintraktat, den 1756 Ignaz Franz Xaver Kürzinger in Augsburg veröffentlichte. Die Abhandlung richtet sich an Anfänger, „zur Erleichterung der Herren Chorregenten“. Zielgruppe sind Schüler, die durch Musikunterricht nicht unbedingt professionalisiert werden sollen. Auch sie müssen 21 Siehe

John Butt, Music Education and the Art of Performance in the German Baroque, Cambridge 1994. 22 Joseph Müller-Blattau, Die Kompositionslehre Heinrich Schützens in der Fassung seines Schülers Christoph Bernhard, Kassel 31999, 31. 23 Florian Bassani Grampp, Die ‚Rudimenta musices‘ von Wolfgang Michael Mylius. Eine bedeutende deutsche Quelle zur Gesangspraxis im 17. Jahrhundert, in: Schütz-Jahrbuch 2008, 111 – 170.



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Abb. 2: Wolfgang Michael Mylius, Rudimenta Musices, Gotha 21686, [108].

aber unter anderem die Manieren lernen, und zwar „gleichsam die Zierrathen“, die „meistentheils von einem guten Geschmack abhangen“. Vorschläge sind die wichtigsten dieser Manieren, aber auch Trillo, Tremolo, Groppo und Verzierungen aus mehreren Nebennoten wie Montando und Scendendo gehören zu ihrem Spektrum. Dass die Sänger sich nicht auf die ausgeschriebenen Ornamente beschränken sollen, wird im folgenden Absatz klargestellt: Darf man die Manieren ohne Unterschied brauchen? Nichts minders. Das also genannte Cantabile muß zwar durchaus in allen Gesängen herrschen (ausser im Staccato nicht) und die meiste, vor allen die haltbare [sic] Noten im Tremolo mit scheidenden Zügen hervorbringen, die andere Manieren aber sind gänzlich nach der Leidenschaft des Textes einzurichten. In traurigen, verliebten, nachdenklichen, und besonders in weichherzigen Sachen, findet wohl ein gelindes und gelassenes Groppo, ein kleiner Vorschlag, auch ein Mordant statt; doch kein Staccato, kein Tirata, kein aufsteigender, kein geschwinder, sondern nur ein langsamer Triller, und nicht leicht ein Terz- Quart- Quint- oder noch tieferer Vorschlag, wie alles schon oben befindlich.24

Die Schüler bekommen Anweisungen zur Hinzufügung von Manieren, die einen relativ freien Umgang der Knaben mit dem niedergeschriebenen Notentext vo24 Ignaz

Franz Xaver Kürzinger, Getreuer Unterricht zum Singen mit Manieren, und die Violin zu spielen, Augsburg 1763, 46; siehe auch Florian Bassani, Kunstgesang um 1800. „wie es der Komponist aufgeschrieben hat, und wie es ein verständiger Sänger singt“. Zum Verhältnis zwischen notierter und gesungener Melodie in deutschen Schriften zur Aufführungspraxis, Berlin 2018, 19‒34.

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raussetzt. Diese Art Vortrag war sogar auf das Kirchenrepertoire anzuwenden, das der zeitgenössischen Sichtweise entsprechend eigentlich weniger Freiheit als das Musiktheater ermöglichte. Hiller selbst differenzierte zwischen den unterschiedlichen Stilen je nach Aufführungsort: Diese sind nun der Kirchenstyl, der Theaterstyl und der Kammerstyl. Der erste erfodert Ernsthaftigkeit, Würde, Ausdruck, volle und kräftige Harmonie, viel von der gebundenen Schreibart, und läßt wenig oder gar nichts von dem zu, was blos Schimmer in der Musik, blos Kitzel der Ohren ist. Der Theaterstyl darf mehr schimmern, weniger gebunden seyn, weniger Kunst der Harmonie anwenden; aber ausdrückend, feurig, in gewissen Stellen malerisch, das kann, und das soll er seyn.25

Dass die Gesangsdidaktik um die Mitte des 18. Jahrhunderts eine gewisse Freiheit in der Verwendung der Manieren nicht nur ermöglichte, sondern auch forderte, bedeutet nicht, dass das allgemeine Niveau der Sängerknaben stets den didaktischen Erwartungen entsprach. Hillers Entscheidung, 1774 eine Abhandlung zu verfassen, ging von einem aus seiner Sicht alles andere als erfreulichen Zustand der deutschen Gesangsschule aus: Jedermann singt, und der größte Teil singt – schlecht. Ein Compliment, das ich meinen lieben Landesleuten den Deutschen, (denn mit ihnen rede ich eigentlich) sehr ungern mache […]. Die Ursache des meistentheils schlechten Gesanges der Deutschen suche man aber in nichts andern, als darinne, daß man ihn nicht genug, und nicht gehörig studiert. […] Die Vorzüge unserer Virtuosen sind längst von ihnen [den Ausländern] erkannt und eingeräumt. Den berühmtesten deutschen Componisten lassen selbst die Italiäner alle Gerechtigkeit wiederfahren, und schätzen sie nicht allein den ihrigen gleich, sondern ziehen sie ihnen öfters vor. Aber im Gesange – ja freylich, im Gesange, stehen die Deutschen gegen die Italiäner noch sehr zurück; wenigstens ist die Zahl der gut Singenden unter jenen lange so groß noch nicht, als unter diesen.26

Diesbezüglich zieht Hiller auch seine persönliche Erfahrung als Gesangsschüler heran: Im Gesange habe ich, von meinem zwölften Jahre an, den Unterricht, wie er auf Schulen gewöhnlich ist, mit andern gemeinschaftlich genossen. Treffen und Tact war freylich wohl das Ziel, nach welchem wir laufen mußten; aber der Weg war so unsicher und holpricht, daß viel Zeit dazu erfodert ward, ehe man ihn ohne Stolpern gehen lernte. […] Vom guten Gebrauche der Stimme, vom bequemen Athemholen, von einer reinen und deutlichen Aussprache, so wesentliche Stücke sie auch beym Gesange sind, ward wenig oder nichts erwähnt.27

Um diese Probleme zu lösen, bietet er in seinem ersten Band die Grundlagen des richtigen Gesangs.28 Der Lehrstoff ist in vierzehn Einheiten (Lectionen) 25 Johann

Adam Hiller, Anweisung zum musikalisch-richtigen Gesange, Leipzig 1774, 212. Vorrede, [I f.]. 27 Ebd., [III]. 28 Ebd., [VIII]: „Im Gesange kömmt es hauptsächlich auf zwey Stücke an, auf Richtigkeit und Zierlichkeit. Für jene muß nothwendig zuerst gesorgt werden, und sie das Hauptwerk in ge26 Ebd.,



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gegliedert, die nach dem vorgeschlagenen Zeitplan vier Wochenstunden und insgesamt ein halbes Jahr im Anspruch nehmen sollten; in italienischen Konservatorien dauerte die Lehre der Solmisation dagegen „die Zeit von drey bis vier Jahren“.29 In diesem ersten Traktat bespricht Hiller die Ornamentik nur in Bezug auf die richtige Interpretation der ausgeschriebenen Vorschläge und Passaggi, während eine detaillierte Behandlung der Gesangsmanieren erst in der Anweisung zum musikalisch-zierlichen Gesang vorgenommen wird. In der Vorrede zum letzteren Traktat thematisiert Hiller den deutschen ‚Minderwertigkeitskomplex‘ gegenüber der italienischen Gesangskunst noch deutlicher. Anders als in italienischen Aufführungsstätten ist das sängerische Niveau deutscher Theater laut Hiller manchmal sogar niedriger als dasjenige der Kirchen: Noch haben wir [in Deutschland] kein singendes Theater, sondern es läuft so etwas demselben Aehnliches neben der Comodie [sic] her, und wird von dieser so im Zaume gehalten, daß es in solcher Verfassung nicht leicht der Sammelplatz deutscher Virtuosen werden wird. […] An einem andern Orte sagt Burney, daß das Theater den Kirchen in Italien viel gute Sänger entziehe, weil sie da besser bezahlt würden. Das ist wieder bey uns Deutschen der Fall nicht. Denn auf unserm Theater tritt mancher als ein Sänger hin, der in der Kirche gar nicht zu brauchen wäre, weil man da doch wenigstens die Anfangsgründe der Musik wissen muß.30

Daraus kann geschlossen werden, dass Hillers persönliche Erfahrung mit dem Singspiel eine nicht zu unterschätzende Rolle für seine Bemühungen um eine Annäherung des deutschen Gesangs an den italienischen spielte. Welche Rolle spielte dabei die Lehre der Ornamentik? Der neue Traktat behandelt mehrere Aspekte des „guten Vortrags“ in Hinsicht auf den Gebrauch der Stimme, die Verbindung des Texts mit den Noten, Gesangsmanieren, Passaggi und Kadenzen, und nicht zuletzt auf die verschiedenen Gattungen und die damit verbundenen Aufführungsorte. Von besonderem Interesse sind die „willkührlichen Zusätze und Verschönerungen“, derer die Sänger*innen sich bedienen dürfen und sollen. Unter dieser breiten Kategorie versteht man erstens die „wesentlichen“ Manieren, kleine Veränderungen der ausgeschriebenen Melodie, die aus Vor-, Nach-, Doppelschlägen, Trillern, Mordenten, Gruppetti usw. bestehen. Die einfachste Modifizierung, „wodurch der Gesang lebhafter und nachdrücklicher wird, ist der Punct hinter einer Note“.31 Die heute keineswegs mehr gebräuchliche und bekannte Hervorhebung wichtiger Silben anhand von Punktierung ist ein Prinzip, das noch in der Lehre des 19. Jahrhunderts festzustellen ist. Eine Aufführung von Dies Bildnis ist bezaubernd schön aus Die Zauberflöte hätte laut dem Gesangslehrer Franz Hauser (Gesanglehre für Lehrende und Lernende, genwärtigem Buche. Die Abhandlung des zweyten Stücks ist einem andern Werke vorbehalten, welches, wenn Gott will, bald folgen soll“. 29 Ebd. 30 Johann Adam Hiller, Anweisung zum musikalisch-zierlichen Gesange, Leipzig 1780, VII, XII. 31 Ebd., 35.

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1866) die „Versskansion“ berücksichtigen müssen und die betonten Silben folgendermaßen verlängern:32

Abb. 3: Hauser, Gesangslehre für Lehrende und Lernende, Leipzig 1866, 88.

In Hillers Lehre besteht die umfassende Kategorie der Manieren grundsätzlich aus „Accente[n] […], [die] eigentlich nur dazu dienen sollen, gewisse Töne und Sylben vor andern hervorstechend zu machen“. Vorschläge sind in diesem Sinne vielleicht die relevantesten Manieren, die folgenden Zwecken dienen sollen: 1) den Gesang desto besser mit einander zu verbinden; 2) etwas scheinbar Leeres in der Bewegung des Gesanges auszufüllen; 3) die Harmonie noch reicher und mannigfaltiger zu machen; oder endlich 4) dem Gesange mehr Lebhaftigkeit und Schimmer zu geben.33

Hiller übernimmt diese Regeln wortwörtlich aus Johann Friedrich Agricolas Anweisung zur Singekunst (1757), der Pierfrancesco Tosis Opinioni de’ cantori antichi e moderni (1723) in einer überarbeiten Fassung übersetzte, die zahlreichen Fußnoten und Musikbeispiele enthält. Dadurch ist festzustellen, dass Hiller sich zwar als innovativer Pädagoge im deutschsprachigen Raum präsentieren möchte, aber die vorhandene didaktische Tradition keineswegs vernachlässigt. Nicht nur Vorschläge, sondern auch andere Akzente wie etwa Nachschläge (die der geschriebenen Note folgen und deswegen auftaktig aufzuführen sind) stehen im Fokus der sängerischen Freiheit: Einige Aehnlichkeit mit den Vorschlägen haben die Nachschläge, oder diejenigen kurzen Noten, die einer Hauptnote nachgeschlagen, und in die Zeit derselben gezogen werden. Bey den französischen Componisten sind sie noch sehr gewöhnlich; die deutschen und italiänischen aber verbinden sie meistentheils mit der Hauptnote in eine Figur, oder überlassen es dem Sänger sie nach Belieben hinzu zu thun.34

Eine wichtige Manier, die normalerweise nicht niedergeschrieben wird, ist die Vorwegnahme der Note (Anticipazione della nota), welche auftaktig die nächste ausgeschriebene Note antizipiert. Hiller nennt ihn irreführenderweise Cercar della nota, das ursprünglich eher bedeutete, eine Melodie auf einer untenste32 Franz

Hauser, Gesanglehre für Lehrende und Lernende, Leipzig 1866, 88. Anweisung zum musikalisch-zierlichen Gesange (wie Anm. 30), 34. 34 Ebd., 46. 33 Hiller,



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Abb. 4: Hiller, Anweisung zum musikalisch-zierlichen Gesange, Leipzig 1780, 47.

henden (oder seltener obenstehenden) und nicht ausgeschriebenen Note anzufangen.35 Hiller beschreibt das Cercar della nota folgendermaßen: Wenn der einfache Nachschlag die nächstfolgende Note ergreift, sie sey Stufe oder Sprung, Consonanz oder Dissonanz, und sie in der Zeit der vorhergehenden Note, und der darunter liegenden Sylbe kurz voraus nimmt, so hat man das, von einigen sehr unrecht verstandene Cercar della nota der Italiäner. Gelegenheit dazu findet sich fast vor jeder Note; der Sänger aber wäre ein Thor, der es so häufig brauchen wollte.36

Zur selben Kategorie kann man auch die messa di voce crescente zählen, die einen chromatischen Halbton durch ein Glissando ausfüllt: Eine andere Art des Cercar della nota, welches von andern messa di voce crescente genannt wird, findet bey auf= und absteigenden kleinen halben Tönen statt, wenn das Zeitmaaß nicht zu kurz und eingeschränkt ist. In Noten läßt es sich nicht vorstellen. Es besteht in einem unmerklichen gelinden Auf= oder Abziehen der Stimme, durch so viele kleine Untereintheilungen oder Commata eines halben Tons, als jedem anzugeben möglich ist, von einer Stufe des halben Tons bis in den andern. Die größte Schwierigkeit hat es, wenn das Zeitmaaß dazu bestimmt ist: denn da wird entweder durch Marquiren desselben der Zusammenhang gestört, so daß man etwas Gestoßenes darinne vernimmt, oder der Sänger geräth in Gefahr gegen den Tact zu fehlen. Mittelmäßige Sänger pflegen sich daher nicht viel damit abzugeben; es müßte denn etwan in einer Fermate seyn, wo sie sicher sind, nicht wider den Tact zu verstoßen.37

Inwiefern sind diese Manieren für das Singspiel relevant? Hiller bietet zahlreiche Musikbeispiele, bei denen die originale Melodie mit zusätzlichen Ornamenten versehen wird. Dabei bezieht er sich nicht nur auf italienische Arien, sondern auch auf deutschsprachiges Repertoire. In einem Fall lässt sich das herangezogene Beispiel als Ausschnitt aus der Arie Zwischen Angst und zwischen Hoffen aus Schweitzers Alceste erkennen: 35 Livio

Marcaletti, Il cercar della nota: un abbellimento vocale ‚cacciniano‘ oltre le soglie del Barocco, in: Rivista italiana di musicologia 49 (2014), 27 – 53. 36 Hiller, Anweisung zum musikalisch-zierlichen Gesange (wie Anm. 30), 49. 37 Ebd., 53.

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Abb. 5: Hiller, Anweisung zum musikalisch-zierlichen Gesange, Leipzig 1780, 57.

In diesem Fall empfiehlt Hiller, einen von Schweitzer nicht ausnotierten dreinotigen Schleifer auszuführen. Die erste Alceste-Interpretin war Franziska Romana Koch, die ihre Bühnenkarriere als Tänzerin anfing und daraufhin als Sängerin fortsetzte. Sie gehörte zu jenen deutschen Sängerinnen, die über ein hohes ästhetisches Gesangsniveau verfügten und dementsprechend einen zwar expressiven Vortrag darbieten konnten, ohne aber über die Virtuosität ihrer italienischen Kolleginnen zu verfügen.38 Hillers Bezugnahme auf Alceste ist kein Zufall: Schweitzer pflegte ein Ideal deutschen Gesangs, das den gehobenen Stil der italienischen Opera seria anstrebte, ohne dass die verlangte Kehlfertigkeit in eine leere Virtuosität mündete. In einem Brief des Librettisten Christoph Martin Wielands an den Schriftsteller und Übersetzer Friedrich Dominicus Ring werden die Eigenschaften der engagierten Sängerinnen folgendermaßen beschrieben: Indessen sind gleichwohl unsre Leute nicht schlecht, und besonders ist Madame Koch, welche Alceste seyn wird, nach der allgemeinen Empfindung aller Welt, eine sehr interessante Actrice und eine von den schönen Stimmen die man jemals auf dem deutschen Schauplaz gehört hat. […] Unsre zwoote Sängerin, Mselle Heisin, welche Parthenia vorstellen wird, ist mehr Nachtigall als jene, hat viel Übung, singt gewöhnlich nur Italienisch, macht roulements, Triller, Cadenzen und dergleichen delicias sehr schön, aber – ihr Gesang sagt dem Herzen nichts, oder nicht viel; denn Sie fühlt selbst nichts.39

Wieland zieht zwar die Expressivität Kochs der Kehlfertigkeit Heisins vor, bestätigt aber, dass eine italienisch geprägte Gesangsausbildung auch bei Aufführungen deutscher Singspiele mehr und mehr geläufig wurde. Dieses letzte Musikbeispiel in Hillers Anweisung (1780) ist nicht das einzige, das sich auf deutschsprachiges Repertoire bezieht, sei es geistlich oder weltlich; in den anderen Fällen ist jedoch die Herkunft dieser Beispiele schwierig nachzuvollziehen. Nichtsdestoweniger bedeutet Hillers Auswahl deutschsprachiger Musikabschnitte, dass die ‚freie‘ Verwendung von Manieren nicht auf die ita38 Christoph

Martin Wieland, Anton Schweitzer, Alceste. Ein Singspiel in fünf Akten. Text und Dokumentation, hg. von Bodo Plachta, München 2013, 112. 39 Ebd., 112. Siehe auch Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel, hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaft zu Berlin, Berlin 1963 – 2007, Bd. 5, 60.



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lienische Oper beschränkt ist, sondern auch für andere vokale Gattungen gilt, aus denen das Singspiel nicht auszuschließen wäre. Moderne Aufführungen von Singspielen aus dem 18. Jahrhundert, die nach historischer Informiertheit streben, sollten darum über eine sklavische Wiedergabe der ausnotierten Vokalpartien hinausgehen und einen Versuch unternehmen, Hillers Gesangslehre so gut wie möglich anzuwenden. Das Gegenargument, dass eingedenk der limitierten Fähigkeit der damaligen Interpret*innen alle notwendigen Ornamente niedergeschrieben wurden und nur letztere bei einer modernen Aufführung zu berücksichtigen wären, ist nur teilweise berechtigt. Es träfe zu bei Liedern und Gesängen, die Figuren aus niedrigen Schichten singen. Der heutige Sänger, der die Partie des Königs in Die Jagd übernimmt, würde allerdings mit der gelegentlichen Hinzufügung von Vor- und Nachschlägen, Schleifern und Trillern kein ästhetisches Gebot verletzen, denn Hiller selbst hatte ihre Verwendung in seiner Anweisung zum musikalisch-zierlichen Gesang vorgesehen. Gerade für den sängerischen Nachwuchs, dem er seine Lehrwerke widmete und auf dessen Verbesserung er abzielt, schrieb er ein Singspiel, das die Beherrschung ‚einfachen‘ Koloraturgesangs voraussetzt. Die kleine Aehrenleserinn (Leipzig 1778) ist nämlich als „Operette in einem Aufzuge, für Kinder“ gekennzeichnet. Die Protagonistin Emilie ist ein Mädchen, das ihr Brot anhand des damals verbreiteten Usus des Ährenlesens verdient: Arme Leute durften die nach dem Schnitt und Abtransport des Getreides auf dem Boden liegenden Ähren suchen und aufsammeln. Emilie wird aber zu Unrecht des Diebstahls angeklagt, bis sie nicht nur freigesprochen, sondern auch durch die in Komödien übliche Wiedererkennung ins Haus des Herrn von Mildenau aufgenommen wird. Passend zu einer solchen einfachen Handlung würde man eine überwiegend syllabische Vertonung von Liedertexten erwarten. Doch verbirgt sich hinter dem pädagogischen Konzept Hillers ein gewisser Anspruch auf Koloraturgesang, wie er im Vorwort des gedruckten Klavierauszugs ankündigt: Ich setzte mir anfänglich vor, sie [diese kleine Operette] blos für Kinder zu schreiben, und die Musik so einzurichten, daß sie nicht allein den Kehlen, im Singen noch nicht sehr geübter Kinder, angemessen wäre, sondern auch auf jedem kleinen Familientheater, ohne besondere Beschwerniß aufgeführt werden könnte. […] Während der Arbeit schien es mir, das dieses kleine Stück selbst auf einem großen Theater gute Wirkung thun müsse, wenn man die Rollen des Krums, des Herrn von Mildenau, und der Frau von Birkenfeld mit erwachsenen Personen besetzte. Ich fieng sogleich an, eine neue Partitur zu schreiben, fügte mehrere begleitende Instrumente hinzu, und nahm nur besonders in den Arien den beyden letztgenannten Personen auf diesen Umstand Rücksicht. Die Passagien, die ich in ihre Arien gebracht habe, sind für Kinder wohl nicht unbezwinglich; aber ich würde sie für diese eben so wenig, als für den eigentlichen Ausdruck der Worte geschrieben haben, wenn mich nicht ein gewisses Bedürfniß unserer Theater dazu veranlaßt hätte. Die Rolle des Krums wollte ich am

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liebsten mit einem Baritono besetzt haben: ich änderte daher im Gesange hin und wieder eine allzu hohe Note, um ihn dieser Stimme gemäßer zu machen.40

Dieser Absichtserklärung zufolge betrachtet Hiller die Komposition von Vokalpartien mit mäßig schwierigen Koloraturstellen quasi als „Bedürfniß“ des Singspiels im Kontext eines Wettbewerbs mit der italienischen Oper. Die Komposition ausdrücklich für Kinder entsprach dem Bedürfnis mancher Theatertruppen, die nicht nur aus Erwachsenen bestanden. Ein Beispiel dafür war Felix Berners Truppe, die in unterschiedlichen süddeutschen Städten (Nürnberg, Ulm, Passau, Wien) Hillers Singspiele wie etwa Die Jagd oder eben Die kleine Aehrenleserinn sowie Schweitzers Alceste oder einige Opéras comiques von Grétry, Monsigny und Philidor aufführte,41 die sogar Koloraturarien enthalten – man denke etwa an „Dans les combats“ aus Le roi et le fermier von Monsigny oder noch mehr an „La fauvette“ aus Zemire et Azor von Grétry, die Berners Truppe mehrmals in Wien und an anderen Orten aufführte.42 Vor diesem Hintergrund erscheinen die Koloraturstellen in Hillers Die kleine Aehrenleserinn aus den Arien Nr. 7 Nein, unser guter Vater spricht und wie im folgenden Beispiel Nr. 11 Zu viel Gelindigkeit war selten noch bereut nicht mehr verwunderlich (Abb. 6, folgende Seite). Bemerkenswert ist vor allem letztere Arie, die mit einer Koloraturstelle versehen ist, bei der eine einzige Silbe („be-reut“) auf etwa 12 Takte ausgedehnt wird; auch die Ausführung einiger melodischer Figuren in Sekund- und Terzintervallen ist ohne angemessene Gesangsausbildung schwer zu realisieren. Daraus kann geschlossen werden, dass Interpret*innen, die dazu in der Lage sind, berechtigt wären, eventuell Manieren hinzuzufügen. Auf der Basis dieser Ausführungen kann zum Schluss der Frage nachgegangen werden, wie in einer eventuellen, wünschenswerten Wiederentdeckung dieses Repertoires mit der damaligen Vokalaufführungspraxis umgegangen werden soll. Sollte man sich, sofern eine historisch informierte Aufführung angestrebt wird, auf die ausgeschriebenen Ornamente beschränken oder eingedenk der Anweisungen Hillers aus seinen Gesangstraktaten mit dem Notentext kreativer umgehen? Es könnte theoretisch auf eine reine Wiedergabe des Notentexts abgezielt werden, mit der Absicht, eine schlichte Performance mittelmäßiger Sänger*innen nachzuahmen. Eine solche Herangehensweise wäre allerdings keineswegs neu. In seiner Tonaufnahme der Eroica Beethovens zielte Chris43

40 Johann

Adam Hiller, Die kleine Aehrenleserinn, eine Operette in einem Aufzuge, für Kinder. In Musik gesetzt, und mit zwo begleitenden Violinen zum Druck gegeben, Leipzig 1778, Vorbericht. 41 Julia Ackermann, Zwischen Vorstadtbühne, Hoftheater und Nationalsingspiel: Die Opéra comique in Wien 1768 – 1783, Diss. Universität für Musik und darstellende Kunst Wien 2018. 42 Franz-Xaver Garnier, Nachricht von der im Jahre 1758 von Herrn Felix Berner errichteten jungen Schauspieler-Gesellschaft, Wien 1786, 34 – 37. 43 Ebd., 39.



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Abb. 6: Johann Adam Hiller, Zu viel Gelindigkeit war selten noch bereut, Die kleine Aehrenleserinn, Leipzig 1778, T. 53 – 65.43

topher Hogwood mit der Academy of Ancient Music auf eine Annäherung an die Uraufführung ab, die nicht-professionelle Musiker involvierte. Demzufolge versuchte Hogwood eine ‚Amateur‘-Interpretation nachzuspielen, indem rhythmische und artikulatorische Feinheiten bewusst nicht berücksichtigt wurden. Bruce Haynes zufolge ist ein solches Vorgehen jedoch keineswegs unproblematisch, denn Amateure des frühen 19. Jahrhunderts spielten nicht unbedingt schlechter als professionelle Spieler – der Hauptunterschied lag darin, dass Erstere die Musik unentgeltlich aufführten.44 Analog dazu wäre m. E. der Versuch, heute Singspiele ohne jede freie Hinzufügung von Manieren aufzuführen, ein Missverständnis der gesangspädagogischen und aufführungspraktischen Anweisungen Hillers, nach denen eine mäßige Hinzufügung freier Manieren nicht nur konsequenter auf einer theoretischen Ebene wäre, sondern auch erfolgreicher für eine Wiederbelebung eines in Vergessenheit geratenen Repertoires, dessen historische Bedeutung für die Musikgeschichte des 18. Jahrhunderts keineswegs zu bezweifeln ist. 44 Bruce

Haynes, The End of Early Music. A Period Performer’s History of Music for the Twenty-First Century, Oxford 2007, 204: „Christopher Hogwood, in a notorious recording, actually tried work-copying the first performance of Beethoven’s Eroica, including an ‚original‘ lack of rhythmic and dynamic nuance (many of the players were amateurs, but in those days that didn’t necessarily mean they were less good than professionals – or ‚mercenaries‘, as North called them)“.

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Unter den vielen Aspekten der Tätigkeit von Johann Adam Hiller als Singspiel-Kom­ ponist ist die Annäherung an den italienischen Gesangsstil von zentraler Bedeutung. Hiller strebte bekanntlich nach einer formalen Vielfalt, die vor allem der Impresario Heinrich Christian Koch ablehnte: Koch zufolge sollten alle Gesänge „liedermäßig“ sein, damit „jeder Zuschauer im Stande wäre allenfalls mit zu singen“ (Hiller, Mein Leben, 2004, 24). Als Gesangspädagoge war Hiller ein großer Verehrer der Opern von Johann Adolph Hasse und Carl Heinrich Graun, deren Stil als Modell für die Gründung einer würdigen deutschen Gesangsschule fungieren sollte. Hillers Lehrwerke waren zwar überwiegend der italienischen Oper und dem deutschen Kirchengesang gewidmet, aber die dabei erläuterten Gesangsmanieren und sängerischen Ausdrucksmittel kön­ nen auch dem Vortrag der Gesänge eines Singspiels nützen. Diese sängerischen Mittel, die sowohl Gesangsmanieren als auch die mäßige Verwendung von Koloraturgesang umfassen, waren nicht nur für erwachsene Interpret*innen, sondern auch für Kinder bestimmt, wie das Beispiel von Hillers Kinderoper Die kleine Aehrenleserinn zeigt. Dementsprechend wird im vorliegenden Artikel die These vertreten, dass moderne Aufführungen eines Singspiels, die der Notentexttreue zuliebe jedwede Hinzufügung von Ornamenten ausschlössen, aus einer informierten aufführungspraktischen Sicht nicht sinnvoll wären. Among the many aspects of Johann Adam Hiller’s activity as a Singspiel composer, the focus on the Italian singing style is of central importance. As is well-known, Hiller strove for a formal diversity which was rejected, above all, by the impresario Hein­ rich Christian Koch: according to the latter, all songs should be „liedermäßig“ („lie­ der-like“) so that „every spectator would at least be able to sing along“ (Hiller, Mein Leben, 2004, 24). As a singing teacher, Hiller was a great admirer of the operas of Jo­ hann Adolph Hasse and Carl Heinrich Graun whose style was to serve as a model for the founding of an eminent German singing school. Although Hiller’s didactic works were mainly dedicated to Italian opera and German church singing, the singing man­ ners and vocal expressions explained in them can also be useful for the performance of a Singspiel. These vocal means, which include both singing manners and the moderate use of coloratura, were not only intended for adult performers but also for children’s voices, as the example of Hiller’s children’s opera Die kleine Aehrenleserinn shows. Accordingly, the present article argues that modern performances of a Singspiel which, for the sake of fidelity to the musical text, exclude any addition of ornamentation, would not be appropriate from a historically informed performance practice point of view. Dr. Livio Marcaletti, Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien, Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung, Lothringerstraße 18/III, A-1030 Wien, E-Mail: [email protected]

Benedikt Lessmann Hillers Singspiel und die Nachahmungsästhetik

Die Feststellung, dass Johann Adam Hiller der prominenteste Komponist des mitteldeutschen Singspiels sei, muss keine normative Aussage sein, sondern kann sich auf die Beobachtung stützen, dass kaum ein größerer Forschungsbeitrag zur Gattung ohne die Berücksichtigung des Leipziger Komponisten auskommt. Diese Prominenz ist freilich nur eine relative und beschränkt sich weitgehend auf den Forschungsdiskurs. Denn die Hiller’schen Singspiele liegen nur in Ausnahmefällen in Toneinspielungen vor und werden kaum je aufgeführt – und diese Beobachtung ist signifikant für die Rezeptionsgeschichte der Gattung Singspiel und für den raschen Wandel des Musiktheaters schon seit der Wende zum 19. Jahrhundert. Auch und selbst die Wissenschaft hat eine eigentümlich partielle Sicht auf die Figur Hiller. Nur gelegentlich wird etwa beachtet, dass dieser neben seiner Kompositionstätigkeit auch als Publizist, Zeitschriftenherausgeber und Übersetzer rege am sich formierenden ästhetischen Diskurs deutscher Sprache zur Musik teilnahm – und noch seltener werden diese Aktivitäten im Zusammenhang mit seinen kompositorischen Arbeiten betrachtet. Dieser Beitrag möchte daher den Versuch unternehmen, den Singspielkomponisten und den Musikästhetiker Hiller miteinander in Beziehung zu setzen. Hierbei stütze ich mich vor allem auf die ästhetischen Schriften und Übersetzungen sowie das Singspiel Die Jagd, bei Letzterem insbesondere auf dessen instrumentale Gewittermusik. I. Hiller und Batteux Mein Hauptaugenmerk richtet sich auf das für das 18. Jahrhundert zentrale Problem der Nachahmungsästhetik. Nachahmung der Natur wurde, in Rezeption der antiken Mimesis, bei französischen Autoren wie Jean-Baptiste Du Bos und besonders Charles Batteux zum leitenden Paradigma der Künste erklärt.1 Die 1 Siehe

aus der breiten Literatur hierzu u. a. Herbert Dieckmann, Die Wandlung des Nachahmungsbegriffs in der französischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts, in: Hans Robert Jauß (Hg.), Nachahmung und Illusion, München 21969 (Poetik und Hermeneutik 1), 28 – 59; Peter-Eckhard Knabe, Schlüsselbegriffe des kunsttheoretischen Denkens in Frankreich von der Spätklassik bis zum Ende der Aufklärung, Düsseldorf 1972; Sven-Aage Jørgensen, Nachahmung der Natur, in:

Aufklärung 34 · © Felix Meiner Verlag 2022 · ISSN 0178-7128

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Nachahmungsästhetik galt dabei ausdrücklich auch für die Musik, bei der ein semiotischer Bezug auf etwas anderes durchaus nicht so leicht zu begründen ist wie etwa in der Malerei.2 Die französischen Schriften zur Ästhetik stießen auf reges Interesse in Deutschland. Es fand ein Kulturtransfer statt, dessen diskursive Modi sich schlagwortartig mit Begriffen wie Übersetzung, Rezension, Paraphrase, Kommentar, Replik oder Gegenentwurf umreißen lassen.3 Batteux’ Traktat Les beaux arts réduits à un même principe (1746), in dem die Nachahmung zum fundamentalen Prinzip des Systems der Künste erklärt wird und der damit als zentraler Text für dieses ästhetische Paradigma gelten darf, erlebte im Zeitraum von nur vier Jahren nicht weniger als vier deutsche Übersetzungen (von Philipp Ernst Bertram, Johann Adolf Schlegel, Karl Wilhelm Ramler und Johann Christoph Gottsched).4 In charakteristisch unterschiedlicher Weise übertragen diese den Text nicht nur, sondern kommentieren ihn teilweise umfangreich.5 Im Falle Gottscheds handelt es sich sogar lediglich um eine Paraphrase, Joachim Ritter, Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel 1984, 337 – 341; Jürgen H. Petersen, Mimesis – Imitatio – Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik, München 2000; Luiz Costa Lima, Martin Fontius, Mimesis/Nachahmung, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Studienausgabe, Bd. 4, Stuttgart, Weimar 2010, 84 – 120. Speziell zur Nachahmungsästhetik in der Musik siehe Walter Serauky, Die musikalische Nachahmungsästhetik im Zeitraum von 1700 bis 1850, Münster 1929 (UniversitasArchiv 17); Béatrice Durand, Imitation versus Autonomie. Zum Musikdenken der französischen philosophes, in: Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft N.F. 20 (2000), 19 – 37; Bernhard Jahn, Die Nachahmungsdebatte im Kontext der Hamburger Oper (Mit einem vergleichenden Ausblick auf Algarottis Saggio sopra l’opera in musica), in: Frieder von Ammon u. a. (Hg.), Oper der Aufklärung – Aufklärung der Oper. Francesco Algarottis ‚Saggio sopra l’opera in musica‘ im Kontext, Berlin, Boston 2017 (Frühe Neuzeit 214), 157 – 172 sowie diverse Beiträge in: Marie-Pauline Martin, Chiara Savettieri (Hg.): La musique face au système des arts ou Les vicissitudes de l’imitation au siècle des Lumières, [Paris] 2013. 2 Vgl. Enrico Fubini, Geschichte der Musikästhetik. Von der Antike bis zur Gegenwart, übers. von Sabina Kienlechner, Stuttgart, Weimar 1997, 136; Belinda Cannone, Philosophies de la musique 1752 – 1789, Paris 1990 (Théorie et critique à l’âge classique 4), 79; Laurenz Lütteken, Das Monologische als Denkform in der Musik zwischen 1760 und 1785, Tübingen 1998 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 24), 119; Anselm Gerhard, London und der Klassizismus in der Musik. Die Idee der ‚absoluten Musik‘ und Muzio Clementis Klavierwerke, Stuttgart, Weimar 2002, 80. 3 Siehe dazu ausführlich Benedikt Leßmann, Übersetzung als Debatte: Französische Musik­ ästhetik in Deutschland zur Zeit der Aufklärung, Habilitationsschrift Universität Wien 2021, Publikation in Vorbereitung. 4 Ramler übersetzte Batteux’ Cours de belles-lettres, der Les beaux arts einschloss. Schlegels Übersetzung lag in drei jeweils stark überarbeiteten Auflagen vor. 5 Benedikt Leßmann, Batteux ‚mit beträchtlichen Zusätzen‘. Translation und Transfer der Nachahmungstheorie in der deutschen Musikästhetik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Archiv für Musikwissenschaft  76 (2019), 80 – 97. Zur deutschen Batteux-Rezeption siehe außerdem Christoph Siegrist, Batteux-Rezeption und Nachahmungslehre in Deutschland, in: Götz Großklaus (Hg.), Geistesgeschichtliche Perspektiven. Rückblick – Augenblick – Ausblick. Festgabe für Rudolf Fahrner zu seinem 65. Geburtstag am 30. Dezember 1968, Bonn 1969,



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die zum Ausgangspunkt eigener ästhetischer Überlegungen gemacht wird. Darüber hinaus stößt Batteux’ Konzept der Nachahmung (imitation) auf das Interesse (und teils auf den heftigen Widerspruch) von Autoren, die insbesondere an der Musik interessiert sind und die die Anwendbarkeit der Nachahmung auf diese Kunstform kritisch diskutieren.6 Hierzu erscheint 1755 eine Reihe von Aufsätzen in Friedrich Wilhelm Marpurgs Musikzeitschrift Historisch-Kriti­ sche Beyträge zur Aufnahme der Musik, darunter ein Wiederabdruck eines Aufsatzes von Johann Adam Hiller mit dem Titel Abhandlung von der Nachahmung in der Musik, der erstmals im Vorjahr in der Zeitschrift Neue Erweiterungen der Erkenntnis und des Vergnügens erschienen war.7 Man kann diesen Beitrag als musikästhetische Positionsbestimmung des frühen Hiller begreifen. Zumindest rhetorisch positioniert sich Hiller in diesem Aufsatz pro Batteux; er schreibt hierzu rückblickend in seiner Autobiographie, dass sein Beitrag „ganz auf den Batteuxischen Horizont gestellt“ sei.8 Und so meint er denn auch in seiner Abhandlung: „ich stehe nicht einen Augenblick bey mir an, die Nachahmung der Natur, mit ihm, für den Grundsatz aller schönen Künste zu halten. Ich glaube, daß er Recht hat. Und wenn er es auch nicht haben sollte, wer wollte mit einem so grossen Manne nicht gerne geirret haben.“9 Zwar deutet Hiller eine vorsichtige Distanzierung von dem französischen Autor an, doch muss die in Teilen der Forschung vertretene Ansicht, dass er bereits hier eine Abkehr vom Prinzip der Naturnachahmung vollziehe,10 meines Erachtens differenziert werden. Denn auch wenn Hiller auf der einen Seite betont, dass eine Nachahmung immer „unnatürlich“ sein müsse, sieht er sie doch paradoxerweise zugleich als natürlich an: „Ich widerspreche mir nicht, wenn ich die Werke der Kunst also 171 – 190; Irmela von der Lühe, Natur und Nachahmung. Untersuchungen zur Batteux-Rezeption in Deutschland, Bonn 1979 (Abhandlungen zur Kunst-‍ , Musik- und Literaturwissenschaft 283). 6 Vgl. Ernst Lichtenhahn, Der musikalische Stilwandel im Selbstverständnis der Zeit um 1750, in: Hans Joachim Marx (Hg.), Carl Philipp Emanuel Bach und die europäische Musikkultur des mittleren 18.  Jahrhunderts, Göttingen 1990 (Veröffentlichungen der Joachim-JungiusGesellschaft der Wissenschaften Hamburg 62), 65 – 77; Wilhelm Seidel, Die Nachahmung der Natur und die Freiheit der Kunst. Zur Kritik deutscher Musiker an der Ästhetik von Charles Batteux, in: Frank Heidlberger u. a. (Hg.), Von Isaac bis Bach. Studien zur älteren deutschen Musikgeschichte. Festschrift Martin Just zum 60. Geburtstag, Kassel u. a. 1991, 257 – 266. 7 Johann Adam Hiller, Abhandlung von der Nachahmung der Natur in der Musik, in: Neue Erweiterungen der Erkenntnis und des Vergnügens 3/14 (1754), 140 – 168, erneut in: HistorischKritische Beyträge zur Aufnahme der Musik 1 (1754/55), 515 – 543. 8 Johann Adam Hiller, Mein Leben. Autobiographie, Briefe und Nekrologe, hg. von Mark Lehmstedt, Leipzig 2004, 16. 9 Hiller, Abhandlung von der Nachahmung (wie Anm. 7), 518. 10 Vgl. Jörg Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert. Typologie, Dramaturgie und Anthropologie einer populären Gattung, Tübingen 1998 (Studien zur deutschen Literatur 149/150), 638 – 643; Lütteken, Das Monologische (wie Anm. 2), 118 – 131.

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beschreibe. Sie sind natürlich, weil sie die Natur zum Muster nehmen. Und unnatürlich nenne ich sie, weil sie nicht die Natur selbst, sondern nur die nachgeahmte Natur sind.“11 Es darf dabei nicht übersehen werden, dass auch bei Batteux die Begriffe ‚Nachahmung‘ sowie ‚Natur‘ nicht in einem einfachen Sinne genommen werden dürfen, auch wenn dies in der Rezeption seines Traktats bisweilen entsprechend zugespitzt wurde. Denn es geht Batteux bei der imitation de la belle nature nicht um eine identische Abbildung der wahrgenommenen Natur, sondern um eine Idealisierung. Die Natur soll keineswegs nachgeahmt werden, „telle qu’elle est“.12 Das Prinzip besteht vielmehr darin (wie es in der Schlegel-Übersetzung heißt), „daß es eine Nachahmung seyn müsse, wo man die Natur nicht so, wie sie an sich ist, sondern so erblickt, wie sie seyn, und der Verstand sie sich vorstellen kann.“13 Hatte Batteux insbesondere vor dem Hintergrund der französischen Oper Lully’scher Prägung argumentiert,14 so geht Hiller auf verschiedene Gattungen der Musik ein. Er verteidigt etwa die Oper gegen ihren prominentesten deutschen Gegner Johann Christoph Gottsched – seinerseits Anhänger und wie bemerkt Übersetzer Batteux’ –, indem er, ohne den Autor namentlich zu nennen, dessen berühmtes Verdikt zitiert, die Oper sei „das ungereimteste Werk, das der menschliche Verstand jemals erfunden“15 habe. In Hillers polemischer Aussage über den ungenannten deutschen Theoretiker – dessen Vorlesungen er in Leipzig besucht hatte16 – und andere Operngegner kann man eine Distanzierung von ästhetischen Prämissen französischer Prägung sehen. Er kommentiert nämlich Gottscheds Opernkritik wie folgt: „alsdann nehme ich mir die Freyheit zu glauben, daß unsere französischen Kunstrichter nur der Oper gram sind, weil Aristoteles nichts davon gewußt, und keine Regeln darzu gegeben hat.“17 Da Hiller hier an sich gar nicht von Franzosen spricht, sondern auf ein Diktum Gottscheds anspielt, kann die Formulierung als eine Kritik an der zu starken Prägung Gottscheds und anderer durch die französische Ästhetik gelesen werden. Hiller unterscheidet – und das ist wesentlich für das Verständnis seiner Mu­sik­ästhetik – zwei Arten der Nachahmung in der Musik: die Imitation der 11

Hiller, Abhandlung von der Nachahmung (wie Anm. 7), 517. Batteux, Les beaux arts réduits à un même principe, Paris 1746, 22. 13 Charles Batteux, Einschränkung der schönen Künste auf Einen einzigen Grundsatz, aus dem Französischen übersetzt, und mit einem Anhange einiger eignen Abhandlungen versehen [von Johann Adolf Schlegel], Leipzig 1751, 22. 14 Das betont Seidel, Die Nachahmung (wie Anm. 6), 140. 15 Hiller, Abhandlung von der Nachahmung (wie Anm. 7), 530, vgl. Johann Christoph Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst. Durchgehends mit den Exempeln unsrer besten Dichter erläutert. Anstatt einer Einleitung ist Horazens Dichtkunst übersetzt, und mit Anmerkungen erläutert, Leipzig 31742, 757. 16 „Ich besuchte seine Lehrstunden; noch lieber aber die des Professor Gellerts“ (Hiller, Mein Leben [wie Anm. 8], 14). 17 Hiller, Abhandlung von der Nachahmung (wie Anm. 7), 530 f. 12 Charles



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menschlichen Empfindungen und die Imitation von Naturerscheinungen mit klanglichen Mitteln, die wir heute meist Tonmalerei nennen würden. Zu letzterer äußert sich Hiller jedoch sehr zurückhaltend: „Das Murmeln eines Baches, das Sausen des Windes, der Gesang der Vögel, der Donner, und dergleichen mehr, sind Dinge, die man schon auf mancherley Art nachzuahmen versucht hat. Es gehört aber nicht weniger Vorsicht als Geschicklichkeit darzu, wenn man sich an diese Art der Nachahmung wagen will.“18 Diese Unterscheidung geht unmittelbar auf Batteux zurück, der in Les beaux arts zweierlei Nachahmungen in der Musik sieht: die Imitation von Klängen und Geräuschen der Natur („les sons & les bruits non-passionnés“), die der Landschaftsmalerei ähnele, sowie den Ausdruck der „sons animés, & qui tiennent aux sentimens“, der dem Por­ trät vergleichbar sei.19 Letztere scheinen bei Batteux sogar zentrales Charakteristikum der Musik zu sein, denn in der zweiten Auflage seines Traktats von 1747 fügte er im Abschnitt über Musik und Tanz ein neues Kapitel ein, in dem nochmals ausdrücklicher „[l]‌es passions“ als „principal objet“ dieser beiden Künste bestimmt werden, und zwar im Unterschied zur Poesie. Deren Material, das Wort, sei besonders „le langage de l’esprit“; Musik und Tanz hingegen hätten mit Ton und Bewegung eine Sprache, die sich besonders für das sentiment eigne.20 Wie Arno Forchert gezeigt hat, wird diese ‚Nachahmung‘ bzw. dieser ‚Ausdruck der Empfindung‘ im Anschluss an Du Bos und Batteux im deutschen Musikdiskurs des 18. Jahrhunderts zu einer wichtigen Idee, zu einer „fast stereotyp verwendeten Formel“.21 Vor dem Hintergrund dieser Nachahmungsästhetik der Musik sind möglicherweise Hillers eher seltene Tonmalereien wie die Gewittermusik des Singspiels Die Jagd (1770) zu sehen. Tatsächlich ist – und zwar, wie wir sehen werden, auch für Hillers Zeitgenossen – durchaus nicht klar, ob in dieser Gewittermusik tatsächlich das Gewitter selbst ‚gemalt‘ wird. Das Kategorienproblem wird außerdem dadurch vergrößert, dass Hiller selbst für rein instrumentale Musik wie diese in seiner „Abhandlung“ eine gesonderte Kategorie vorsieht. Denn die Instrumentalmusik, von der Batteux weitgehend schwieg, hat für Hiller das Potenzial, den Geltungsbereich der Nachahmungsdoktrin zu verlassen. Es gibt, so sieht es Hiller, eine Musik, „die sich der Nachahmung, und dem Ausdrucke der Leidenschaften nicht so genau unter[wirft]. Die Kunst, von sich allein eingenommen, scheinet sie ohne Hülfe der Natur hervor gebracht“.22 18 Ebd.,

532. Les beaux arts (wie Anm. 12), 266. 20 Charles Batteux, Les beaux arts réduits à un même principe. Nouvelle édition, Paris 1747, 269 f. 21 Arno Forchert, Vom „Ausdruck der Empfindung“ in der Musik, in: Hermann Danuser u. a. (Hg.), Das musikalische Kunstwerk. Geschichte. Ästhetik. Theorie. Festschrift Carl Dahlhaus zum 60. Geburtstag, Laaber 1988, 39 – 50, hier 39. 22 Hiller, Abhandlung von der Nachahmung (wie Anm. 7), 536 f. 19 Batteux,

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Hier ist nun ein Gebiet erreicht, wo Hiller über Batteux weit hinausgeht, wenn auch im Modus der konservativen Abwehr. Denn Hiller beäugt das rein instrumentale Spiel in den von ihm so bezeichneten Gattungen „Solo“ und „Concert“ höchst kritisch. Er wittert die Gefahr der Übertreibung, von „Unregelmäßigkeit und Schwulst“,23 wenn sich Musik von der Nachahmung verabschiedet und sich allein dem virtuosen Spielwerk verschreibt. Nur mit Vorsicht soll dieses virtuose, selbstbezügliche Instrumentalspiel in die Musik eingebracht werden, das Hiller überraschenderweise mit dem ästhetischen Begriff des „Wunderbaren“ identifiziert und daher mit dem Thematisieren von Helden und Göttern in der Poesie vergleicht.24 Das in eigentümlicher Weise mit Virtuosität identifizierte Wunderbare solle jedenfalls mit Maß eingesetzt und der Vorrang der Natur dadurch nicht eingeschränkt werden.25 Auch wenn diese Darstellung nicht-nachahmender Instrumentalmusik wesentlich aus einer Geste der Abwehr heraus vorgenommen wird, lässt sich kaum übersehen, dass der Autor tatsächlich ein Fundament für eine Distanzierung von der musikalischen Nachahmungsästhetik legt, die er zu einem deutlich späteren Zeitpunkt auch selbst betreiben wird. Bevor jedoch auf die weitere Entwicklung seiner ästhetischen Anschauungen geblickt wird, soll hier die Frage aufgeworfen werden, wie sich Hiller als Singspielkomponist zum Problem der musikalischen Nachahmung verhielt.

23 Ebd.,

538. ebd., 542. Der Begriff des Wunderbaren war seit den 1740er Jahren in Deutschland breit diskutiert und (jedenfalls gemäß traditionellen Darstellungen der Literaturgeschichte) von Autoren wie Bodmer und Breitinger dem Nachahmungsideal entgegengestellt worden. Vgl. die in ihrem Schematismus etwas überholt wirkende Darstellung bei Karl-Heinz Stahl, Das Wunderbare als Problem und Gegenstand der deutschen Poetik des 17. und 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1975, 123 – 182, weiter auch Hans Otto Horch, Georg-Michael Schulz, Das Wunderbare und die Poetik der Frühaufklärung. Gottsched und die Schweizer, Darmstadt 1988 (Erträge der Forschung 262). Es ist unklar, inwieweit Hiller auf diese Diskussionen Bezug nahm. Laurenz Lütteken sieht Hillers Einwurf im Kontext einer großen Debatte zum Wunderbaren in der Musik, siehe Lütteken, Das Monologische (wie Anm. 2), 118 – 190. In der französischen Oper rechtfertigt das Wunderbare (le merveilleux) die Suspendierung der Forderung nach dramatischer Wahrscheinlichkeit, vgl. Catherine Kintzler, Jean-Philippe Rameau. Splendeur et naufrage de l’esthétique du plaisir à l’âge classique, [Paris] 32011, 75. 25 „Den Plan der Concerte und Solo entwerfe demnach, wie zu andern musikalischen Stücken, allemal die Natur. Er sey allemal ein Gesang, der die Empfindungen des Herzens künstlich auszudrücken bemüht ist. Man schliesse aber das Wunderbare nicht davon aus. Man bringe wohlgewählte Sprünge, Läufer, Brechungen und dergleichen, an gehörigen Orten, und in gehöriger Maasse an“ (Hiller, Abhandlung von der Nachahmung [wie Anm. 7], 542 f.). 24 Vgl.



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II. Die Gewittermusik: eine Nachahmung? Das Singspiel Die Jagd war unter den Stücken Weißes und Hillers bekanntlich der größte Erfolg,26 und es ist für den schnellen Bedeutungsverlust der Gattung gewissermaßen die die Regel bestätigende Ausnahme. Denn es wurde in den Jahren nach seiner Weimarer Uraufführung 1770 bis weit ins 19. Jahrhundert hinein immer wieder aufgeführt,27 unter anderem in einer Bearbeitung des Komponisten Gustav Albert Lortzing 1830.28 Wie so viele der Singspiele Weißes und Hillers basiert auch dieses auf fremden Vorlagen: der Opéra comique Le Roi et le fermier von Sedaine und Monsigny sowie der stofflich verwandten Komödie La Partie de chasse de Henri IV, die ihrerseits auf ein englisches Vorbild, Dodsleys Stück The King and the Miller of Mansfield, zurückgehen. In der Gesamtheit ist dies ein instruktives Beispiel für den komplexen Kulturtransfer im Musiktheater der Zeit, wie Herbert Schneider zu Recht anmerkt.29 „Der Schauplatz ist auf dem Lande“, heißt es bei Weiße.30 Diese Zuordnung ist – und dies gilt ja als typisch für die Gattung – keine rein topographische, sondern zugleich eine soziologische, die obendrein laufend im Dialog thematisiert wird.31 Doch die Zuordnung von Figuren zur sozialen Topographie von Land, Stadt und Hof geschieht nicht schematisch, sondern in differenzierter Weise. So ist die ländliche Figur des Michel als Dorfrichter eine relativ hochstehende und privilegierte Person. Mit dem bösen Grafen Schmetterling (einer Sprechrolle) und dem guten König wird wiederum die höfische Welt, die an sich als Gegensatz der Landidylle fungiert, in sich aufgefächert. Daher ist das Stück keines26 Thomas

Bauman, North German Opera in the Age of Goethe, Cambridge u. a. 1985, 44; Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater (wie Anm. 10), 130 f.; Herbert Schneider, Das Singspiel vor Mozart, in: ders., Reinhard Wiesend (Hg.), Die Oper im 18. Jahrhundert, Laaber 2001 (Handbuch der musikalischen Gattungen 12), 301 – 322, hier 311; Estelle Joubert, Public Perception and Compositional Response. The Changing Role of the Da Capo Aria in Hiller’s Singspiele, in: Musica e storia 16 (2008), 651 – 663, hier 660. 27 Vgl. Renate Schusky, Das deutsche Singspiel im 18. Jahrhundert. Quellen und Zeugnisse zu Ästhetik und Rezeption, Bonn 1980 (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 12), 121; Michael Klügl, Erfolgsnummern. Modelle einer Dramaturgie der Operette, Laaber 1992 (Thurnauer Schriften zum Musiktheater 13), 18. Eine umfangreiche Aufführungsliste gibt Cristina Urchueguía, Allerliebste Ungeheuer. Das deutsche komische Singspiel 1760 – 1790, Frankfurt am Main 2015 (Nexus 99), CD-Anhang 2: Katalog Hauptliste, 163 – 165. 28 Irmlind Capelle, Albert Lortzing und das norddeutsche Singspiel. Zu Lortzings Bearbeitung von Johann Adam Hillers Singspiel „Die Jagd“ (1829/1830), in: Die Musikforschung 39 (1986), 123 – 138. 29 „Der Transfer des englischen Stoffes über die beiden französischen Bühnenwerke zur Übersetzung des Werkes von Sedaine durch Faber bis zur Jagd ist ein Lehrstück, der Aneignung und Transformation eines Stoffes und einer Gattung“ (Schneider, Das Singspiel vor Mozart [wie Anm. 26], 312). 30 Christian Felix Weiße, Komische Opern, Dritter Theil, Karlsruhe 1778, 2. 31 Dazu ausführlich Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater (wie Anm. 10), 130 – 201.

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wegs pauschal als antifeudal zu bezeichnen.32 Johann Friedrich Reichardt befand denn auch, es gehe hier darum, „Wahrheiten, Satyren und Lehren den Hof- und Stadtleuten darinnen zu sagen“.33 Der Plot konzentriert sich zunächst auf die Liebesbeziehungen der beiden Kinder Michels: Seine Tochter Röschen liebt Töffel, Michel jedoch heißt diese Liebe nicht gut, da ihm Töffel nicht reich genug ist. Obendrein ist Michel missgelaunt, weil die geplante Ehe seines Sohns Christel mit Hannchen dadurch verunmöglicht scheint, dass diese durch den Grafen Schmetterling entführt wurde. Dieses Problem wird jedoch recht schnell aus der Welt geschafft, da Hannchen sich noch im ersten Akt befreit und wieder in der ländlichen Sphäre auftaucht. Es ist nämlich ausschließlich diese Sphäre, die wir als Bühnenrealität wahrnehmen, während die Gegenwelt von Stadt bzw. Hof als dessen nicht zu sehendes Anderes fungiert. Hannchens Rückkehr alleine löst den Handlungsknoten jedoch nicht sofort auf, da man ihr nun misstraut: Hat sie sich dem Grafen freiwillig hingegeben? Ist sie mit anderen Worten durch die Gegenwelt des Adels korrumpiert? In den Worten Töffels: „Sie kömmt vermuthlich aus der Stadt, oder gar vom Hofe, und ist eine große, große Madam geworden, die man da Mai­ tressen titulirt? – Pfuy! Sie sollte sich zu Tode schämen, daß Sie sich wieder vor unser einem sehen läßt.“34 Nachdem auch dieses Misstrauen beseitigt ist, nimmt das Stück eine überraschende thematische Wendung und führt mit dem König eine neue wichtige Figur ein. Der Regent wurde infolge eines Unwetters von seinen Leuten, der namensgebenden Jagdgesellschaft, getrennt und trifft auf die Landbevölkerung, der gegenüber er sich zunächst nicht zu erkennen gibt. In großer Bescheidenheit verhält er sich wie ein einfacher Gast. Am Schluss wird er den Grafen Schmetterling bestrafen und durch eine Geldspende die Ehe zwischen Röschen und Töffel ermöglichen. In der Forschung wurde vielfach darauf hingewiesen, dass diese besondere soziale Positionierung des Königs von Hiller auch musikalisch ausgestaltet wird – durch einen Stil, der zwischen Arie und Lied steht.35 Genau an der Stelle dieser inhaltlichen Neuausrichtung durch den Auftritt des Königs, an der „Mittelachse“36 der Jagd, befindet sich nun – und dieser Fall scheint mir bei Hiller singulär zu sein – ein rein instrumentales Zwischenspiel: Die an dieser Position eintretende ‚Gewittermusik‘ wurde anscheinend vor offener Bühne gespielt, stellt also eine reine Stimmungsmusik dar und hat nicht 32 „Gegen

eine solche Deutung sollte eigentlich schon die Tatsache skeptisch stimmen, daß das Werk am Weimarer Hof mit großem Erfolg uraufgeführt wurde und später auch in anderen Residenzen beliebt und funktional in höfische Kontexte eingebunden wurde“ (ebd., 160). 33 Johann Friedrich Reichardt, Briefe eines aufmerksamen Reisenden die Musik betreffend, Bd. 1, Frankfurt am Main, Leipzig 1774, 154. 34 Weiße, Komische Opern (wie Anm. 30), 28. 35 Hans-Albrecht Koch, Das deutsche Singspiel, Stuttgart 1974, 47 f. 36 Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater (wie Anm. 10), 190.



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etwa die Funktion, eine Umbaupause zu überbrücken.37 Im Textdruck des Singspiels von Christian Felix Weiße heißt es dazu: „Die Musik, die das Geräusch des Gewitters nachmacht, kann hier ein Weilchen gehen, und sich endlich nach und nach verlieren.“38 Noch verstärkt wurde der Eindruck durch die szenische Umsetzung, die, jedenfalls bei manchen Aufführungen der 1770er-Jahre, das musikalisch nachgeahmte Toben des Gewitters auch optisch und akustisch unterstützte: Vor der siebenten Scene des zweiten Ackts, in welcher der König auftritt, wurde die Musick, die das Geräusch des Gewitters ausdrückt, durch eigne Maschinen, die den Regenguß nachmachten, verstärkt. Das starke Tröpfeln, mit dem die Gewitterregen anfangen, der heftige Guß, welcher erfolgt, wann das Gewitter schon meistens vorüber ist, und selbst das Rieseln, mit dem der Regen aufhört, alles dieses konnte dadurch so sinnlich nachgeäft werden, daß einige Damen, mit denen ich in einer Loge saß, in vollem Ernste ausriefen: Wird es doch ganz kühle! Selbst Addison würde über diese Nachahmung der Natur nicht habe spotten können.39

Illustrative Musik kommt auch an anderen Stellen der Jagd vor: So finden sich etwa in manchen Gesangsnummern Imitationen von Jagdfanfaren. Auch wird bereits im der Gewittermusik vorangehenden Duett zwischen Christel und Hannchen das heraufziehende Unwetter textlich thematisiert und musikalisch durch Vorgriffe auf das sich anschließende Instrumentalstück vergegenwärtigt.40 Aus dem Text dieses Duetts wird außerdem deutlich, dass die Gewitterszene eine vielfältige dramaturgische Funktion erfüllt und nicht allein ein pittoreskes Naturereignis darstellt; dieses wird vielmehr mehrfach inhaltlich gespiegelt. Durch den auffälligen Wechsel im musikalischen Ablauf werden die Versöhnung der Figuren Christel und Hannchen sowie der Auftritt des Königs besonders hervorgehoben. Der Gesang im Duett macht diese Bezüge explizit. Das Gewitter steht für die innere affektive Erregung, heißt es doch im Dialog: „Christel. So hat auch für Hannchen mein Herze gezittert. | Hannchen. Doch ist es nun von Stürmen frey?“41 Auch der Auftritt der königlichen Jagdgesellschaft wird in seinen akustischen Begleiterscheinungen mit denen des Gewitters ver-

37 Ebd.,

191. Komische Opern (wie Anm. 30), 71. Zur Problematik solcher Textquellen und ihrem Verhältnis zum ‚Werk‘ siehe den Beitrag von Jörg Krämer im vorliegenden Band. 39 Ueber die Leipziger Bühne an Herrn J. F. Löwen zu Rostock. Zweites Schreiben, Dresden 1770, 27, bereits zitiert bei Arnold Schering, Musikgeschichte Leipzigs, Bd. 3, Leipzig 1941, 461. Angespielt wird hier auf Joseph Addison, mit Richard Steele Herausgeber der ersten Moralischen Wochenschriften Tatler und The Spectator. Zu Addisons Musikästhetik siehe Maria Semi, Music as a Science of Mankind in Eighteenth-Century Britain, Farnham u. a. 2012, 27 – 31. 40 Kyoko Kawada, Studien zu den Singspielen von Johann Adam Hiller (1728 – 1804), Diss. Universität Marburg 1969, 192. 41 Weiße, Komische Opern (wie Anm. 30.), 71. 38 Weiße,

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glichen: „Ja, es klingt, wie eine Jagd“,42 heißt es allerdings nur im Textdruck, nicht in den musikalischen Quellen. Damit ließe sich die Deutung vertreten, dass hier jene zwei Modi musikalischer Nachahmung gemäß Batteux und Hiller zusammentreten: Imitation von Naturgeräuschen und von menschlichen Empfindungen. Außerdem treffen zwei Opernkulturen zusammen: die französische, in der Naturphänomene auf der Bühne vorkommen, wo sie häufig instrumental imitiert werden, und die italienische, metastasianische, in der Naturereignisse eher in den Arien als Sinnbilder emotionaler Zustände evoziert werden. III. Die Gewittermusik im zeitgenössischen Diskurs Zeitgenossen Hillers haben dieses Instrumentalstück im Lichte einer Ästhetik beurteilt, die die Nachahmung der Empfindung höher bewertet als die tonmalerische Imitation akustischer Naturerscheinungen – und folglich die Relevanz der Letzteren für Die Jagd bestritten. Johann Friedrich Reichardt nimmt in seiner Schrift Über die Deutsche comische Oper von 1774 eine Analyse („Zergliederung“) der Jagd vor, bei der die Gewittermusik wie folgt beschrieben wird: Der Sturm kömmt näher; die Donnerschläge verdoppeln sich, und das zärtliche Paar flieht. H[err] H[iller] hat hier sehr glücklich eine Symphonie angebracht, die vollkommen die Empfindung ausdrückt, die mit solcher schrecklichen Scene verbunden ist; und die dadurch noch ein besondres Interesse bekömmt, daß sie gewissermaßen aus dem vorhergegangenen Duett genommen ist.43

Dass die Orientierung an der Empfindung für Reichardt ebenso wie für Hiller selbst einem ästhetischen Ideal entspricht, wird auch im Anhang derselben Schrift deutlich, einer Reflexion „über die musikalische Poesie“, in der es um das Wort-Ton-Verhältnis in Kompositionen geht, und zwar in technischer wie in semantischer Hinsicht, mithin um eine für den deutschen Musikästhetikdiskurs des 18. Jahrhunderts zentrale Frage, die etwa auch Christian Gottfried Krause erörterte, Autor der vielgelesenen Schrift Von der musikalischen Poesie (1752).44 42 Ebd. 43

Johann Friedrich Reichardt, Über die Deutsche comische Oper nebst einem Anhange eines freundschaftlichen Briefes über die musikalische Poesie, Hamburg 1774, 78 f. 44 Christian Gottfried Krause, Von der Musikalischen Poesie, Berlin 1752. Siehe dazu Gloria Flaherty, Opera in the Development of German Critical Thought, Princeton, Guildford 1978, 167 – 175; Dieter Gutknecht, Nachdenken über Musik. Christian Gottfried Krauses Von der musi­ kalischen Poesie, 1752, in: Händel-Jahrbuch 47 (2001), 65 – 74; Gerhard Splitt, Zwischen Einverständnis und Kritik. Metastasio in der Opernpoetik Christian Gottfried Krauses, in: ders., Laurenz Lütteken (Hg.), Metastasio im Deutschland der Aufklärung. Bericht über das Symposium Potsdam 1999, Tübingen 2002 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung  28), 157 – 181; Rainer Bayreuther, Ästhetische Wahrnehmung in Christian Gottfried Krauses Von der musikalischen



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Reichardt setzt sich mit Krauses Konzeption auseinander und macht im Zuge dessen deutlich, dass er reine „Malereyen“ von Naturerscheinungen wie dem „Rieseln des Baches“ kritisch beurteilt, sie nicht im Kern als dem Wesen der Musik entsprechend sieht.45 Hillers Gewittermusik führt Reichardt dabei als positives Gegenbeispiel an: „Wenn aber Hiller in der Jagd, während des Sturms eine wilde, rauschende Symphonie spielen läßt, so geschieht dieses nicht, um das Sausen und Brausen des Windes auszudrücken, sondern um bey dem Zuhörer dieselbe Empfindung zu erregen, die ein Ungewittersturm bey ihm erregt.“46 Mit anderen Worten: Zwar mag die Musik rein äußerlich die Gewittergeräusche reproduzieren, doch ist nicht diese Ähnlichkeit entscheidend, sondern die durch das Gewitter evozierten Emotionen. Noch größere argumentative Bedeutung erhält Hillers Gewittermusik in Johann Jakob Engels Schrift Ueber die musikalische Malerei von 1780. Engel, der insbesondere in seiner Leipziger Zeit persönlich mit Weiße und Hiller in Kontakt stand, gibt in seiner – Reichardt gewidmeten – Schrift einen systematisch strukturierten Debattenbeitrag zur Frage der Nachahmungsästhetik der Musik.47 Er ist der Überzeugung, dass eine Bestimmung des Sinns der Musik qua Verabredung anders als bei der Signifikation der wortsprachlichen Begriffen nicht vorliegt. Malerei könne nur durch „transcendentelle Aehnlichkeiten“48 zwischen Musik und den ‚gemalten‘ Erscheinungen geschehen, also etwa durch langsame oder schnelle Bewegungen. Darüber hinaus könne sie aber „den Eindruck nachahm[en], den dieser Gegenstand auf die Seele zu machen pflegt.“49 Es ist kaum zu übersehen, dass Engel hier argumentativ in der Nachfolge Batteux’ steht und dessen Erwägungen zuspitzt.50

Poesie, in: Manfred Beetz, Hans-Joachim Kertscher (Hg.), Anakreontische Aufklärung, Tübingen 2005 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 28), 275 – 286; The Correspondence of Christian Gottfried Krause: A Music Lover in the Age of Sensibility, hg. von Darrell M. Berg, Farnham, Burlington 2009. 45 Reichardt, Über die Deutsche comische Oper (wie Anm. 43), 114. 46 Ebd., 115. 47 Volker Kalisch, Zeichentheoretischer Diskurs und unbestimmte Sprache. Johann Jakob Engel und der musikästhetische Wandel im 18. Jahrhundert, in: Musiktheorie 13 (1998), 195 – 205; Lütteken, Das Monologische (wie Anm. 2), 190 – 208; Hartmut Grimm, Engel, Johann Jakob (2001), in: MGG Online, hg. von Laurenz Lütteken, Kassel u. a. 2016, (05. 08. 2021). 48 Johann Jakob Engel, Ueber die musikalische Malerey, Berlin 1780, 9. 49 Ebd., 12. 50 Dass Engel den französischen Autor gelesen hat, wird unter anderem an einer Stelle in seinen Schriften deutlich, wo er von dem „so oft getadelte[n] und doch so brauchbare[n] Batteux“ spricht, vgl. Johann Jakob Engel, Ueber Handlung, Gespräch und Erzehlung, in: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 10/2 (1774), 177 – 256, hier 193.

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Engel stellt einen regelrechten Katalog musikalischer Elemente (Tonarten, Tonleitern, Melodien, Rhythmen usw.) als „Mittel zur musikalischen Malerey“51 auf. Als Bindeglied zwischen der Musik und dem Objekt der Nachahmung fungiert die „Seele“, deren Leidenschaften „mit gewissen entsprechenden Bewegungen im Nervensystem unzertrennlich verbunden“ seien52 – ein an Rousseau erinnernder Gedanke. Aus dieser Argumentation erklärt sich dann auch jene Präferenz, für die Hillers Gewittermusik als Positivbeispiel fungiert: dass nämlich „der Musiker immer lieber Empfindungen, als Gegenstände von Empfindungen malen soll“.53 Hillers Gewittermusik ist hierfür abermals ein zentrales Positivbeispiel: „Besser also immer, daß man in einer Gewittersymphonie, dergleichen in verschiedenen Opern vorkömmt, mehr die innern Bewegungen der Seele bey einem Gewitter, als das Gewitter selbst male, welches diese Bewegungen veranlaßt. Wenn gleich bei diesem Phänomen so viel Hörbares ist, so geräth doch das Erstere noch immer besser, als das Letztere. Die Hillerische Gewittersymphonie in der Jagd hat schon aus diesem Grunde einen ungezweifelten Vorzug vor der Philidorischen.“54 Engels Hinweis auf François-André Danican Philidor, einen zentralen Komponisten der französischen Opéra comique, macht darauf aufmerksam, dass eine Gewittermusik de facto alles andere als eine neue Erscheinung war, sondern auf einer Tradition vor allem der französischen Oper beruhte.55 Tatsächlich enthält auch die Opéra comique Le roi et le fermier (1762) von Pierre-Alexandre Monsigny, die sich mit der Jagd denselben Stoff teilt und wohl in Teilen die Vorlage bildete, eine instrumentale Gewittermusik. Ob Engel hier die beiden Opéracomique-Komponisten Monsigny und Philidor verwechselte oder sich auf eine weitere Gewitterszene bei Letzterem bezog, habe ich nicht klären können.56 Die Ähnlichkeit der Anlage beider Szenen spricht jedenfalls für sich. Denn auch bei Monsigny geht der Gewitterszene ein Duett voran, dass textlich wie musikalisch auf die orage-Musik (hier eine Zwischenaktmusik) sowie auf die Annäherung der Jagdgesellschaft vorausweist. Thomas Bauman und Jörg Krämer urteilen übereinstimmend, dass die Gewittermusik von Monsigny „die avanciertere Musik als Hillers Gewitter“57 sei. 51 Engel,

Ueber die musikalische Malerey (wie Anm. 48), 14. 18. 53 Ebd., 25. 54 Ebd., 26. 55 Gudrun Busch, Die Unwetterszene in der romantischen Oper, in: Heinz Becker (Hg.), Die „Couleur locale“ in der Oper des 19. Jahrhunderts, Regensburg 1976 (Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 42), 161 – 212; Sylvie Boissou, Mécanismes dramatiques de la tempête et de l’orage dans l’opéra français à l’âge baroque, in: Jean Gribenski u. a. (Hg.), D’un opéra à l’autre. Hommage à Jean Mongrédien, Paris 1996, 217 – 230. 56 Siehe dazu auch Bauman, North German Opera (wie Anm. 26), 44 – 52. 57 Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater (wie Anm. 10), 193; vgl. auch Bauman, North German Opera (wie Anm. 26), 50. 52 Ebd.,



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Tatsächlich weist sie v. a. in Harmonik und Dynamik zweifellos eine größere Differenzierung auf. Hillers Gewittermusik verbleibt im Wesentlichen in der Ausgangstonart d-Moll und arbeitet nur mit einigen Forte-Piano-Kontrasten sowie einem Diminuendo am Ende.58 In Monsignys umfangreicherem orage in g-Moll, der als Zwischenmusik vor dem 2. Akt steht, finden sich etliche Modulationen sowie beständige Crescendi und Decrescendi. Auch rhythmisch wirkt Monsignys Stück durch die Schichtung von Synkopen und Sechzehntelläufen profilierter.59 Auch ist nicht abzustreiten, dass die Ausführungen Reichardts und Engels, die Hillers Gewittermusik eine singuläre Rolle zuschreiben, mehr Aufschluss „über den Diskurs, in dem sie stehen, als über die Musik selbst“60 geben. Wenn Krämer allerdings aus der geringeren kompositorischen Innovation folgert, dass Hillers Musik entgegen den Einschätzungen Reichardts und Engels nicht als Zeichen eines Paradigmenwechsels verstanden werden kann,61 so ist dagegen einzuwenden, dass sich die Verschiebung ästhetischer Prämissen auch in stilistischer Vereinfachung realisieren kann, gerade im 18. Jahrhundert, in dem Simplizität ein musikästhetisches Ideal bildete.62 Gerade eine kühnere Komposition wie die Monsignys könnte aus der Perspektive einer Ästhetik der Empfindung als eine eher äußerliche und somit minderwertige Tonmalerei begriffen werden. Ähnlich wie die Bevorzugung einfacher, liedhafter Gesangsformen resultiert womöglich auch Hillers Entscheidung für eher schlichte Instrumentalmusikanteile innerhalb des Singspiels (bzw., im Blick aufs Gesamtwerk, der weitgehende Verzicht auf diese) nicht aus kompositorischem Unvermögen, sondern aus ästhetischen Präferenzen.63 IV. Hillers Distanzierung von der Nachahmungsästhetik – und vom Singspiel Hillers Ästhetik war nun aber keineswegs statisch, sondern hat sich im Laufe seines Lebens verändert, wie sich in bestimmten Schlüsselmomenten an seinen Schriften festmachen lässt. Wichtig ist hier vor allem seine Übersetzung der 58 Vgl.

Johann Adam Hiller, Die Jagd, eine comische Oper in drey Acten. Klavierauszug, Leipzig 1771, 70 f. 59 Vgl. [Pierre-Alexandre Monsigny,] Le Roy et le fermier. Comédie En Trois Actes. Partitur, Paris [1763], 62 – 67. 60 Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater (wie Anm. 10), 194. 61 Ebd., 193. 62 Siehe Karsten Mackensen, Simplizität. Genese und Wandel einer musikästhetischen Kategorie des 18. Jahrhunderts, Kassel u. a. 2000 (Musiksoziologie 8). 63 Dies ist mit Blick auf die Gesangsstilistik genau die Sichtweise, für die u. a. Krämer argumentiert, vgl. Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater (wie Anm. 10), 174. Siehe dazu auch Estelle Joubert, Songs to Shape a German Nation. Hiller’s Comic Operas and the Public Sphere, in: Eighteenth Century Music 3 (2006), 213 – 230.

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Observations sur la musique von Michel Paul Guy de Chabanon,64 die 1781 unter dem Titel Ueber die Musik und deren Wirkungen als annotierte Übersetzung erschien, in ganz ähnlicher Form also, in der andere deutsche Autoren den Beaux-arts-Traktat Batteux’ übersetzt hatten und in der Hiller selbst bereits etliche fremde und eigene Übersetzungen in seiner Musikzeitschrift Wöchentliche Nachrichten und Anmerkungen die Musik betreffend publiziert hatte. Auch in der Chabanon-Übersetzung wird die Beziehung der Musik zu den menschlichen Empfindungen betont,65 zugleich aber ein notwendiger Bezug zur Nachahmung in Abrede gestellt: „Die Musik hingegen gefällt ohne Nachahmung, durch die Empfindungen, die sie erregt. Da ihre Gemälde fast immer unvollkommen sind, und die Aehnlichkeit mit dem Gegenstande, den sie malen wollen, manchmal kaum merklich ist, so können sich der Aehnlichkeiten immer gar viele finden.“66 Noch prononcierter als in der Übersetzung oder den Kommentaren ist Hillers Distanzierung von der Nachahmungsästhetik der Musik in der Vorrede dieser Schrift, die sich an den Dresdner Komponisten Johann Gottlieb Naumann, den Widmungsträger der Übersetzung, richtet.67 Hatte Hiller sich in früheren Beiträgen allenfalls höfliche Distanzierungen von Batteux erlaubt, so unternimmt er nun gleich zu Beginn einen Frontalangriff auf dessen Thesen und macht durch Namensnennung unmissverständlich, gegen wen dieser gerichtet ist: Wäre die Musik, nach der Meynung des Batteux, eine nachahmende Kunst; wäre zu allem, was sie hervorbringt, das Urbild in der Natur vorhanden, so wie es für die bildenden Künste da ist: so würde man leicht ihrer Wirkung auf die Spur kommen können; diese würde auf nichts anderm beruhen, als auf der getreuen Nachahmung der Muster, die ihr die Natur vorstellte. Wie wenig Licht aber durch diese batteux­ ische Hypothese über die Musik verbreitet werde, das wissen Sie, theuerster Freund, und alle, die über das bey der Musik empfundene Vergnügen nur einen Augenblick nachgedacht haben.68 64 Hiller

hielt fälschlich François-Jean de Chastellux für den Autor. – Zu Chabanons Musikästhetik siehe John Neubauer, The Emancipation of Music from Language. Departure from Mimesis in Eighteenth-Century Aesthetics, New Haven, London 1986, 169 – 172; Ora Frishberg Saloman, Chabanon and Chastellux on Music and Language, 1764 – 1773, in: International Review of the Aesthetics and Sociology of Music 20 (1989), 109 – 120; Marian Hobson, „Tout art d’imitation est fondé sur un mensonge“. Musique comme symptôme, musique comme signe dans la théorie musicale française (1745 – 1785), in: Marie-Pauline Martin, Chiara Savettieri (Hg.), La musique face au système des arts ou Les vicissitudes de l’imitation au siècle des Lumières, [Paris] 2013, 151 – 160. 65 „Sie macht, so viel sie kann, ihr Geräusche, ihre Bewegung andern Bewegungen, und noch mehr als das, ihre Ausdrücke unsern Empfindungen ähnlich“ (Michel Paul Guy de Chabanon, Ueber die Musik und deren Wirkungen, mit Anmerkungen herausgegeben von Johann Adam Hiller, Leipzig 1781, 42). 66 Ebd., 53 f. 67 Dass Hiller diesem Komponisten metastasianischer Opern die Übersetzung widmete, darf als erneutes Bekenntnis zur italienischen Musik (in Deutschland) verstanden werden. 68 Chabanon, Hiller, Ueber die Musik (wie Anm. 65), *3v.



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Hiller weist also gleich zu Beginn die Argumentation Batteux’ zur Nachahmung in der Musik zurück, und zwar deutlicher, als Chabanon es in der übersetzten Abhandlung selbst tut.69 Batteux zufolge bestand ja die musikalische Imitation entweder in Tonmalerei oder in der Nachahmung der sentiments – und auf beide Spielarten geht Hiller nun wie nie zuvor kritisch ein. Die Nachahmung akustischer Naturerscheinungen erklärt er für unwesentlich; die Musik sei eine „armselige Kunst“, wenn sie sich darauf beschränke und „wir in allen Concerten nur Meere brausen, Bäche murmeln, Winde pfeifen und Nachtigallen singen hörten!“70 Als reduktionistisch empfindet Hiller nun aber auch die Erklärung der Musik zur „Sprache der Leidenschaften“: Man laufe damit „Gefahr, einen wahren Grundsatz falsch anzuwenden, und ihren Wirkungskreis in zu enge Gränzen einzuschließen; wenn man z. E. so wie Batteux, für jede Leidenschaft einen gewissen natürlichen Ton […] annimmt, und diesen der Musik, als das Muster der Nachahmung aufdringen will.“71 Stärker als zuvor nimmt Hiller also eine Eigengesetzlichkeit der musikalischen Empfindungen an. Diese Abkehr von der Nachahmungsästhetik, die sich in Hillers früher Batteux-Abhandlung vorsichtig angedeutet hatte und die nun vollzogen ist, steht freilich im Kontext einer künstlerischen Biographie, die in ihrer Gesamtheit von einigen teils immer noch etwas rätselhaften Verschiebungen gekennzeichnet ist. Unklar erscheint etwa auch, ob Hillers Ansichten betreffend diese musiksemiotischen Fragestellungen zu seiner Sicht auf die musikalischen Gattungen in Beziehung zu setzen sind. Dass der späte Hiller nämlich keine Singspiele mehr schrieb, hat sicherlich zuallererst biographische Gründe: das Verlassen Leipzigs sowie die Rückkehr in anderer Rolle, nämlich als Thomaskantor, und infolgedessen die vermehrte Komposition geistlicher Werke. Es hängt aber auch mit einem Musiktheaterideal zusammen, das paradoxerweise stets eher in Richtung der italienischen Oper tendierte – auch die Widmung der Chabanon-Übersetzung an Naumann unterstreicht dies. Bereits in frühen Lebensjahren hatte Hiller sich nach eigener autobiographischer Darstellung intensiv mit den italienischen Opern Hasses beschäftigt.72 1786 bekundet der Singspielkomponist Hiller diese Präferenz für eine ganz andere Operngattung mit einer überraschenden Publikation: der Schrift Ueber Metastasio und seine Werke. Faktisch handelt es sich bei diesem Buch, darauf hat Hartmut Grimm hingewiesen, zu einem großen Teil um eine Calzabigi-

69 Ähnlich

sieht es Christine Lubkoll, Mythos Musik. Poetische Entwürfe des Musikalischen in der Literatur um 1800, Freiburg im Breisgau 1995 (Rombach Wissenschaften – Reihe Litterae 32), 69. 70 Chabanon, Hiller, Ueber die Musik (wie Anm. 65), *4r. 71 Ebd., *4r–v. 72 Vgl. Hiller, Mein Leben (wie Anm. 8), 11.

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Übersetzung.73 Hier kritisiert Hiller sogar das Singspiel (er nennt es die ‚komische Operette‘) als zu stark von französischen Vorlagen geprägt; es erreiche nicht die Vollkommenheit der Operndichtungen Metastasios.74 Skeptisch gegenüber dem Nachahmungspotenzial wird hier (vermittelt durch Calzabigi) die Notwendigkeit von Text zur semantischen Bestimmung der Musik, aber auch die Intensität der Musik bei der Vermittlung der Empfindungen betont.75 Die Gewittermusik der Jagd, als (vermeintlich?) illustrative Instrumentalmusik eine singuläre Erscheinung in den Singspielen Hillers, konnte im Kontext der ästhetischen Debatte der Zeit also eine prominente Stellung einnehmen. Auch wenn diese Nummer im Lichte der Operngeschichte lediglich ein eher unspektakuläres Beispiel in einer Reihe von tempête- oder orage-Musiken darstellt, wurde sie im publizistischen Umfeld Hillers als Besonderheit wahrgenommen. Anknüpfend an die in Deutschland vor allem in der Folge der Übersetzung und Kritik Batteux’ diskutierte Nachahmungsästhetik der Musik wurde dabei die Einschätzung vertreten, dieser instrumentalen Nummer gelinge die Darstellung der Empfindung. Die damit verbundene Diskussion ist ein Beispiel für die komplexen ästhetischen Paradigmenverschiebungen, die sich gerade auch im Umfeld der Singspieldebatten im 18. Jahrhundert vollzogen. Sie wirft darüber hinaus ein neues Licht auf Hillers ästhetische Biographie und auf seine Stellung zu den musikalischen Gattungen. Johann Adam Hillers Singspiel Die Jagd (1770) enthält eine in der Tradition des orage der französischen Oper stehende ‚Gewittermusik‘, die im damaligen Diskurs zum Singspiel und zu allgemeinen musikästhetischen Fragen vielfältig kommentiert wurde. Die Bedeutung dieses rein instrumentalen, illustrativen Musikstücks – einer in die­ sem Repertoire seltenen Erscheinung – lässt sich mithilfe von Hillers differenzierten Beiträgen zur musikästhetischen Debatte erklären, die bislang nur selten zu seinem Singspielschaffen in Beziehung gesetzt wurden. Hiller nahm an den Debatten um die Nachahmungsästhetik teil, die sich in Deutschland infolge der Übersetzung französi­ scher Schriften, u. a. von Charles Batteux, in den 1750er-Jahren ereigneten. Besondere Bedeutung gewinnt in der deutschen Diskussion die Idee, dass die Nachahmung der Empfindung eine spezifische Aufgabe der Musik sei. Hillers Gewittermusik wird daher von Zeitgenossen wie Johann Friedrich Reichardt oder Johann Jakob Engel als Dar­ stellung der Empfindung gedeutet, die der reinen Tonmalerei französischer Pendants überlegen sei.

73 Hartmut

Grimm, Johann Adam Hillers Metastasio-Apologie, in: Lütteken, Splitt (Hg.), Metastasio im Deutschland der Aufklärung (wie Anm. 44), 183 – 192. 74 Johann Adam Hiller, Ueber Metastasio und seine Werke. Nebst einigen Uebersetzungen aus demselben, Leipzig 1786, 6 f. Dieses Zitat entstammt dem von Hiller selbst formulierten Teil. 75 Vgl. ebd., 32. Diese Stelle entstammt der Calzabigi-Übersetzung.



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Johann Adam Hiller’s opera Die Jagd (1770) includes a ‘Gewittermusik’ (a thunder­ storm-like musical piece) following the tradition of orage in French opera. This part of the work provoked various comments within contemporaneous discourse on the Singspiel and general questions of musical aesthetics. The significance of his purely instrumental, illustrative piece of music – a rare occurrence in this repertoire – can be explained by taking into account Hiller’s contributions to the debate on musical aesthet­ ics which have only rarely been linked to his Singspiel production. Hiller participated in these debates on musical imitation which unfolded in Germany as a reaction to the translation of French writings of the 1750s, especially those by Charles Batteux. The idea that the imitation of sentiment (Empfindung) ought to be a musical goal gained particular attention in the German discussion. Accordingly, contemporaries such as Johann Friedrich Reichardt or Johann Jakob Engel understood Hiller’s Die Jagd as representing sentiments, rather than mere tone painting (as in its less highly regarded French counterparts). PD Dr. Benedikt Leßmann, Universität Wien, Institut für Musikwissenschaft, Spitalgasse 2, Hof 9 (Campus), A-1090 Wien, E-Mail: [email protected]

Benedikt Lessmann / Tilman Venzl Auswahlbibliografie zum Singspiel im 18. Jahrhundert

Diese Auswahlbibliografie versammelt die wichtigsten Forschungsbeiträge zum Singspiel im 18. Jahrhundert. Unsere Zusammenstellung, die Vollständigkeit weder erreicht noch anstrebt, hat das Ziel, die bisherigen wissenschaftlichen Leistungen auf diesem Gebiet zu dokumentieren, die teils insuläre Forschungsdiskussion der verschiedenen Disziplinen zusammenzuführen und damit der zukünftigen Erforschung des Singspiels im 18. Jahrhundert einen Bezugspunkt anzubieten. Insbesondere die Forschungsbeiträge zu besonders namhaften Künstlerinnen und Künstlern – namentlich Goethe, Mozart und Wieland – werden nur selektiv angeführt, da sie in den einschlägigen Handbüchern beziehungsweise Personalbibliografien verzeichnet sind und ihre Aufnahme das vorliegende Verzeichnis überladen würde. Auch wenn die Singspielforschung der letzten Jahre besonders breit berücksichtigt wurde, soll die Bibliografie auch einen tiefen Gedächtnisraum der Forschung öffnen. In diesem Sinne macht unser Verzeichnis nicht nur den aktuellen Stand der Forschung greifbar, sondern auch die Entwicklungslinien der Singspielforschung rekonstruierbar. Dieses Anliegen erfordert den Einbezug auch solcher Untersuchungen, die teils aus guten, teils aus schlechten Gründen nicht mehr konsultiert werden – sei es, dass sie gänzlich überholt, politisch problematisch oder Künstlerinnen und Künstlern gewidmet sind, die heute vergessen sind. Um unsere Bibliografie so schlank wie möglich zu halten, werden statt zwei oder mehr Titel aus einem Sammelband lediglich der betreffende Band im Ganzen genannt. Aus dem gleichen Grund haben für auf die Aufnahme von Quelleneditionen jedweder Art verzichtet, seien es Noten- oder Textausgaben. Für die kritische Durchsicht danken wir Bernhard Jahn, Jörg Krämer und ­Adrian Kuhl.

Aufklärung 34 · © Felix Meiner Verlag 2022 · ISSN 0178-7128

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K U R Z BI O G R A PH I E

Friedrich Wilhelm Gotter (1746–1797)

Friedrich Wilhelm Gotter zählte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu den wichtigsten deutschen Librettisten und Übersetzern französischer Dramen. Aufgrund seiner engen Kontakte zu den Theaterleitern in Gotha, Weimar, Hamburg und Mannheim nahm er darüber hinaus auf die Spielplan- und Besetzungspolitik der bedeutenden deutschen Bühnen der Zeit wesentlichen Einfluss. Er wird am 3. September 1746 als sechstes Kind Heinrich Ernst Gotters in Gotha geboren und entstammt einer im Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenburg einflussreichen Beamtenfamilie. Der Vater war Legationsrat, der Großvater Ludwig Andreas Gotter Hofrat und Autor weithin bekannter pietistischer Kirchenlieder. Sein Onkel mütterlicherseits war der Diplomat und Reichsgraf Gustav Adolf von Gotter, der als Oberhofmarschall sowie Staats- und Kriegsrat dem preußischen König Friedrich II. diente. Friedrich Wilhelm erhält Privatunterricht, wobei seine Familie großen

Wert auf das Erlernen des Französischen und die Aneignung französischer Kultur legt. Im Frühjahr 1763 beginnt Gotter sein juristisches Studium in Göttingen. In dieser Zeit unternimmt er nicht nur erste Übersetzungsversuche französischer Dramen, sondern intensiviert auch seine Kenntnisse des Englischen und Italienischen. Nach Abschluss des Studiums kehrt er 1766 nach Gotha zurück und erhält dort dank Vermittlung des Vaters eine Stelle als Geheimer Archivar. Diese lässt er bereits ein Jahr später ruhen, um als Legations-Sekretär des Gothaischen Gesandten ans Reichskammergericht in Wetzlar zu gehen. Er trifft dort seinen Göttinger Kommilitonen Johann Christian Kestner wieder, den späteren Ehemann Charlotte Buffs. Mit Kestner wird ihn eine jahrelange Freundschaft verbinden; in Wetzlar beteiligt sich Gotter mit der Übersetzung deutscher Gedichte ins Englische an dessen English Society. In diese Zeit fällt auch seine erste praktische Bühnentätigkeit. Als

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1767 die Leppersche Schauspieltruppe in Wetzlar gastiert, steht Gotter bei der Einstudierung von Lessings Miß Sara Sampson und Minna von Barnhelm beratend zur Seite und schreibt den das Gastspiel beschließenden Epilog. Im Mai 1768 zieht es Gotter wieder nach Göttingen, wo er auf Anraten des Vaters eine Hofmeisterstelle antritt. Während der Vater die pekuniären Vorteile der Stelle im Auge hat, reizt den Sohn die Perspektive einer Auslandsreise, die er in absehbarer Zeit mit seinen Zöglingen unternehmen soll. In Göttingen folgt Gotter weiter seiner Theaterleidenschaft, er vollendet Johann Friedrich von Cronegks Trauerspiel Olint und Sophronia und organisiert im Haus seiner Brotgeber Liebhaberaufführungen von Joachim Wilhelm von Brawes Brutus und Lessings Minna. In letzterer gibt er den Tellheim und tritt damit erstmals als Schauspieler auf. Literaturgeschichtlich bedeutender ist Gotters Beteiligung an der Publikation des ersten Bandes des Göttinger Musenalmanachs, der federführend von seinem Freund Heinrich Christian Boie betrieben wird. Auch wenn seine um 1770 entstandenen Briefe von der Verehrung Klopstocks, patriotischem Eifer und einer Geringschätzung französischer Dichtung zeugen, liegt Gotter mit den Akteuren des späteren Göttinger Hainbunds nie auf einer Linie. Er schätzt zeitlebens die Werke Wielands, die französische Dramatik bleibt bei aller jugendlichen Kritik sein literarischer Leitstern. Gotter trägt zum ersten Musenalmanach anonymisiert einige kleinere Dichtungen bei, vor al-

lem jedoch stellt er den Kontakt zum Gothaer Verleger Dieterich her. Diese Fähigkeit Gotters zur produktiven und partnerschaftlichen Kooperation wird für seine spätere Theaterarbeit von entscheidender Bedeutung sein. Da sich die Aussicht auf eine baldige Auslandsreise zerschlägt, überwirft sich Gotter Ende 1769 mit seinen Brotgebern und kehrt nach kurzen Aufenthalten in Leipzig und Erfurt – er besucht Gellert, Weiße und Wieland – in seine Heimatstadt zurück. Doch schon im September des folgenden Jahres bricht er wieder nach Wetzlar auf, um seine alte Stelle als LegationsSekretär anzutreten. Wie Goethe, der im Mai 1772 nach Wetzlar kommt, ist Gotter Mitglied der „Tafelrunde“ im Wetzlarer Gasthaus „Zum Kronprinzen“. In einem Schlüsseldrama eines anderen „Tafelritters“, August Siegfried von Goués Masuren oder der junge Werther (1775), treten Goethe und Gotter in den befreundeten Figuren „Götz“ und „Fayel“ auf. Belegt ist, dass beide nach der gemeinsamen Wetzlarer Zeit in Kontakt bleiben. Goethe sendet seinen Götz von Berli­ chingen an Gotter, dieser moniert die mangelnde Bühnentauglichkeit des Dramas. Tatsächlich steht Gotter der Ästhetik des Sturm und Drang zeitlebens kritisch gegenüber. Bereits in seiner Epistel über die Starkgeisterey, die im Juli 1773 in Wielands Teutschem Mer­ kur erscheint, wettert er gegen den Einfluss des französischen Materialismus. Intensivierung von Individualität und Abkehr vom Gottesglauben würden zur Auflösung des gesellschaftli-



Kurzbiographie 271

chen Zusammenhaltes führen. Noch in der Vorrede des zweiten Bandes seiner Gedichte, der 1788 seine Bearbeitungen von Trauerspielen des französischen Klassizismus versammelt, beklagt er, dass „Ungebundenheit und Ueberspannung“ immer noch „Maßstab des Genies“ seien und jede „abentheuerliche Geburt der Einbildungskraft“ gefälliger betrachtet werde als die Regeldramen der Franzosen. Mit der Ankunft der Truppe Abel Seylers in Wetzlar im Juni 1771 beginnt das produktivste Jahrzehnt im Theaterschaffen Friedrich Wilhelm Gotters. Er schreibt den Epilog zur Eröffnung, mit Gabrielle de Vergy, einer Bearbeitung des gleichnamigen Trauerspiels von Belloy, gelangt sein erstes Drama zur Aufführung. Im September 1772 kehrt Gotter endgültig nach Gotha zurück und tritt dort eine neue Stelle im Konzipirdepartement der herzoglichen geheimen Kanzlei an. Die Arbeit lässt ihm jedoch genug Raum, die thüringische Residenzstadt in den kommenden Jahren zu einem Zentrum der deutschen Theaterlandschaft zu machen. 1773 richtet Gotter ein Liebhabertheater ein und arbeitet eng mit Seylers Truppe zusammen, die inzwischen in Weimar spielt und 1774 nach Gotha wechselt. Dort wird im Juli des Folgejahres das Hoftheater gegründet, das mit der Festanstellung von Schauspielern und der Verlegung der Verwaltung an den Hof eine neue Organisationsform erprobt. Da Seyler sich bereits für Engagements in Sachsen verpflichtet hat, wird die Leitung der im Westturm von Schloss Friedenstein

befindlichen Bühne dem Schauspieler Conrad Ekhof übertragen. Mit August Wilhelm Iffland, Johann David Beil und Heinrich Beck debütieren dort in den folgenden Jahren einige der wichtigsten Schauspieler der Zeit. Der Spielplan des fünf Jahre bestehenden Gothaer Hoftheaters ist wesentlich von Werken Gotters geprägt. Jedes zehnte Drama und jede achte Vorstellung geht auf ihn zurück. Betrachtet man Gotters Theatertexte der 1770er Jahre in der Rückschau, sind an erster Stelle seine Libretti zu nennen. Bewegen sich die in Gotha uraufgeführten Singspiele Die Dorfgala (1774), Der Jahrmarkt (1775), Walder sowie Romeo und Julie (beide 1776) allesamt im Fahrwasser einer von Wieland und Weiße etablierten Librettistik, gelingt Gotter mit der von Georg Anton Benda vertonten Textvorlage Medea ein wegweisendes Werk der im Entstehen begriffenen Gattung des Melodrams. Das im Mai 1775 erstmals in Leipzig aufgeführte Werk wird rasch zum Kassenschlager. Es verbreitet sich auf sämtlichen Bühnen Deutschlands und wird auch in Frankreich häufig gespielt. Mehr noch als das von Johann Christian Brandes geschriebene und ebenfalls von Benda vertonte Melodram Ariadne auf Naxos (1774) wird Me­ dea, nicht zuletzt aufgrund von Gotters innovativer Gestaltung des Stoffes, zu einem Musterwerk der Gattung. Es ist bezeichnend, dass Gotter selbst die bahnbrechenden Merkmale seines Textes später zu verschleiern versucht, indem er 1788 eine versifizierte Fassung des Librettos in den zweiten Band

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seiner Gedichte aufnimmt und damit werkpolitisch in seine klassizistischen Dramenbearbeitungen einreiht. Die in Prosa gehaltene Fassung des Jahres 1775 zeugt demgegenüber von einem radikalen, an die Ästhetik des Sturm und Drang erinnernden Zugriff auf die dramatische Handlungsmotivation und die musiktheatrale Darstellung von Affekten. Gotter zeigt von Normbrüchen ausgelöste, heftige Leidenschaften, die die Figuren existenziell erschüttern. Zugleich löst er die Handlungen Medeas und Jasons von jeder rationalen Begründung. Das auf Vernunft und Empfindsamkeit beruhende Tugendkonzept der Aufklärung, wie es die Singspiele der vorhergehenden Dekade entwarfen, ist suspendiert. Medea ist auch deshalb ein für Gotter untypischer Text, weil er sich beim Verfassen des Librettos nicht eng an einer dramatischen Vorlage orientiert, sondern den antiken Stoff sehr frei und innovativ interpretiert. Anders verfährt er in seinen in den 1770er Jahren entstandenen Werken für das Sprechtheater, für die er auf mal mehr, mal weniger aktuelle Theaterstücke aus dem Französischen und Italienischen zurückgreift. Bedeutend ist dabei vor allem die Art und Weise, wie Gotter bestimmte Dramengattungen für den deutschen Sprachraum adaptiert. Er übersetzt 1773 Voltaires Merope für Seilers Weimarer Truppe, wobei er die Alexandriner in jambische Fünfheber überträgt und die prominente Kritik Lessings an der französischen Vorlage zu integrieren versucht. Zwei Jahre später führt die Truppe des Gothaer Hoftheaters Gotters Mariane auf, eine

Prosa-Übersetzung von La Harpes Verstragödie Mélanie. Das Stück wird nicht zuletzt deshalb so erfolgreich, weil Gotter die Vorlage gekonnt in ein bürgerliches Trauerspiel lessingscher Prägung verwandelt. Mit der Übertragung von Voltaires Lustspiel Nanine und Gozzis Doride, die unter den Titeln Jeanette und Juliane von Lindorak in Gotha (1776) bzw. Hamburg (1778) uraufgeführt werden, bereitet Gotter dem deutschen Rührstück den Boden. Jahre bevor Iffland und Kotzebue ihre ersten Werke in dieser Gattung veröffentlichen, machen Jeanette und Juli­ ane von Lindorak das Publikum mit ihr vertraut. Dies ist möglich, weil Gotter, wie zu dieser Zeit am Theater üblich, die Vorlagen nicht Zeile für Zeile übersetzt, sondern frei bearbeitet. Er behält zwar das Handlungsgerüst, verwandelt dann aber Verse in Prosa, tilgt Szenen, fügt neue hinzu, verdeutscht Figuren und Schauplätze. Zugleich gelingt es ihm, seine Bearbeitungen prominent auf dem Buchmarkt zu platzieren. Sie erscheinen in wichtigen Dramensammlungen der Zeit wie Friedrich Ludwig Schröders Hamburgischem Theater und Johann Gottfried Dycks Komi­ schem Theater der Franzosen. Gotters Zusammenarbeit mit dem Hamburger Theaterleiter Schröder geht noch darüber hinaus, da sie Dramen auch gemeinsam bearbeiten. Dies ist nicht nur der Fall bei Juliane von Lindorak, sondern auch bei Shake­ speares Kaufmann von Venedig, den Schröder im November 1777 an seinem Theater erstmals zur Aufführung bringt. Aus den in Teilen erhaltenen



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Briefen Schröders geht hervor, dass er Gotter nicht nur genau über den Spielplan und die Rollenverteilung an seiner Bühne auf dem Laufenden hält, sondern ihn auch als Dramaturg nach Hamburg holen will. Gotter lehnt jedoch ab. In Gotha selbst verkehrt Gotter mit Heinrich August Ottokar Reichard, der mit der dramaturgischen und ökonomischen Leitung des Hoftheaters betraut war und sich als Herausgeber des deutschlandweit rezipierten Theater­ kalenders einen Namen machte. Von noch größerer Bedeutung ist sein enger Kontakt mit seinem Förderer Prinz August, dem kunstsinnigen Bruder des Regenten Ernst II. Im Jahr 1774 reist Gotter krankheitsbedingt zur Kur nach Lyon. Auf der Hinfahrt besucht er Goethe und macht in Straßburg die Bekanntschaft von Lenz, mit dem sich daraufhin ein Briefwechsel entspinnt. Gotter versucht seinen Einfluss auf Seiler geltend zu machen, damit dieser Lenz’ Plautus-Bearbeitungen auf die Bühne bringt. Als das Gothaer Hoftheater 1779 aufgelöst wird, setzt sich Gotter bei Dalberg für das Engagement Ifflands, Becks und Beils in Mannheim ein. Damit verhilft er abermals dem Theater einer kleinen Residenzstadt zu nationalem Renommee. Besonders weit geht seine Unterstützung für Iffland. Dieser hatte sich gegen den Willen seines Vaters zur Schauspielkarriere entschieden, dank der Intervention Gotters versöhnt sich die Familie wieder mit Iffland. Wie aus seinem intensiven Briefwechsel mit Dalberg hervorgeht, musste Gotter auch in den kommenden

Jahren immer wieder seinen Schützlingen zur Seite stehen, wenn es an der Mannheimer Bühne zu Konflikten oder Skandalen kam. Dass Dalberg die Theaterexpertise Gotters schätzte, belegt die Tatsache, dass er ihn wiederholt bat, Schauspielerinnen und Schauspieler für sein Hoftheater anzuwerben. Darüber hinaus übersetzte Gotter für Mannheim den Einakter Zwei Onkels für Einen und Sedaines Der Weise in der That (Le Philosophe sans le savoir), beide gelangen 1782 zur Aufführung. Im Lauf der 1780er Jahre nimmt Gotters Theatertätigkeit spürbar ab. Im März 1780 heiratet er die Hofratstochter Luise Johannette Wilhelmine Stieler, eine enge Freundin von Caroline Michaelis, der späteren Gattin August Wilhelm Schlegels und Friedrich Wilhelm Joseph Schellings. Trotz seiner Korrespondenz mit Dalberg und den Arbeiten für Mannheim werden Gotters Bearbeitungen nun immer häufiger von den Bühnen mit der Begründung abgelehnt, der Geschmack des Publikums habe sich verändert. Gotter versucht sich in der Folge an seinem ersten Originallustspiel, den Erbschleichern. Es soll 1786 im Zuge eines Mannheimer Preisausschreibens auf die Bühne kommen, die Aufführung wird aber immer wieder verschoben. Sie findet erst 1788 mit mäßigem Erfolg statt. In Gotha gibt es kein Theater mehr, er begnügte sich mit Liebhaberaufführungen im eigenen Haus, bei denen er auch selbst auf der Bühne steht. 1787 und 1788 veröffentlicht er unter dem Titel Gedichte zwei Bände seiner Gedichte und Trauerspiele, ein

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dritter Band, der seinen literarischen Nachlass enthält, erscheint 1802. Von den späten Arbeiten Gotters gilt es zwei hervorzuheben. Erstens die zweiaktige Posse Der schwarze Mann, eine Übersetzung von Gernevaldes L’homme noir, ou le Spleen, die im August 1783 zum ersten Mal aufgeführt wird und ein Jahr später im neunten Band von Dycks Komischem Theater der Franzosen erscheint. Es wird das mit Abstand erfolgreichste Stück Gotters, Aufführungen sind im deutschsprachigen Raum noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein belegbar. Zum anderen betätigt sich Gotter in den letzten Jahren seines Lebens noch einmal als Librettist. Die Geisterinsel entsteht in Zusammenarbeit mit dem Freiherrn von Einsiedel in den 1790er Jahren, wird aber erst nach Gotters Tod in Auszügen in Schillers Horen publiziert, in Berlin 1798 in der Vertonung Johann Friedrich Reichardts aufgeführt und in den folgenden Jahren von zahlreichen Bühnen übernommen. Vollständig im Druck erscheint Die Geisterinsel erst 1802 im dritten Band der Gedichte. Die dreiaktige Zauber­ oper beruht auf Shakespeares Sturm, dessen Handlung Gotter stark modifiziert. Der Text verrät, dass der Gothaer Autor trotz aller Rückschläge immer noch ein Gefühl für aktuelle Theatermoden besitzt. Die ausführlichen Hinweise auf die für die Inszenierung notwendigen Kostüme und Dekorationen sowie die effektvollen Szenenwechsel verweisen auf den am Ende des 18. Jahrhunderts auch im nordund mitteldeutschen Raum einsetzenden Trend zum Ausstattungs- und Ma-

schinentheater. Wie Medea zeigt auch Die Geisterinsel, dass Gotter sich nur im Musiktheater traute, seine am französischen Klassizismus geschulten ästhetischen Grundsätze hinter sich zu lassen. Friedrich Wilhelm Gotters Werk umfasst einen knapp 500seitigen Band gesammelter Gedichte und über 40 Dramentexte verschiedener Gattungen, die meisten davon Bearbeitungen aus dem Französischen, Englischen und Italienischen. Auf den Bühnen des deutschsprachigen Raumes waren seine Werke über Jahrzehnte äußerst erfolgreich. Während sich die heutige Forschung in erster Linie für Gotter als Librettist der Medea und der Geister­ insel interessiert, gilt es seinen Beitrag zum Kulturtransfer zwischen Frankreich und Deutschland in der Zeit der Spätaufklärung noch zu entdecken. Literatur in Auswahl: Epistel über die Starkgeisterey, in: Teutscher Merkur 3/1 (1773), 3–38; Medea, ein mit Musik vermischtes Drama, Gotha 1775; Mariane, ein bürgerliches Trauerspiel in drey Aufzügen für das herzogliche Hoftheater, Gotha 1776; Friedrich Ludwig Schröder, Hamburgisches Theater, 4 Bde., Hamburg 1776–1781; Komisches Theater der Franzosen. Für die Deutschen, 10 Bde., hg. von J. G. Dyk, Leipzig 1777–1786; Friedrich Wilhelm Gotter, Singspiele, Erstes Bändchen, Leipzig 1778/79; Friedrich Wilhelm Gotter, Der Weise in der That. Ein Schauspiel in fünf Akten, nach Sedaine, Leipzig 1781; Zwei Onkels für Einen. Ein Lustspiel in Einem Akt, Leipzig 1781; Friedrich Wilhelm



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Gotter, Der schwarze Mann. Eine Poße in zwey Akten, Leipzig 1784; Georg Anton Benda, Friedrich Wilhelm Gotter, Medea. Ein mit Musik vermischtes Melodram. Version 1784, hg. von Jörg Krämer, Kassel u. a. 2018; Friedrich Wilhelm Gotter, Gedichte, Erster Band, Gotha 1787; Friedrich Wilhelm Gotter, Gedichte, Zweyter Band, Gotha 1788; Friedrich Wilhelm Gotter, Die Erbschleicher. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen, Leipzig 1789; Friedrich Wilhelm Gotter, Schauspiele, Leipzig 1795; Friedrich Wilhelm Gotter, Maria Theresia bey ihrem Abschiede von Frankreich. Kantate Deutschlands Edlen gewidmet, Leipzig 1796; Die Geisterinsel. Ein Singspiel in 3 Akten, von Gotter, in: Die Horen 3/8 (1797), 1–26; Friedrich Wilhelm Gotter, Gedichte, Dritter Band, Gotha 1802; Friedrich Wilhelm Gotter, Der argwöhnische Ehemann. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen. Nach dem Englischen des Benjamin Hoadly, hg. von Thorsten Unger, Hannover 1998. Friedrich Schlichtegroll, Friedrich Wilhelm Gotter. Herzogl. Geheimer Secretär zu Gotha, in: Nekrolog auf das Jahr 1797. Enthaltend Nachrichten von dem Leben merkwürdiger in diesem Jahre verstorbener Deutschen, Gotha 1801, 248–316; H.A.O. Reichard (1751–1828). Seine Selbstbiographie, überarbeitet und herausgegeben von Hermann Uhde, Stuttgart 1877; Berthold Litzmann (Hg.), Schröder und Gotter. Eine Episode aus der deutschen Theatergeschichte. Briefe Friedrich Ludwig Schröders an Friedrich Wilhelm Gotter 1777 und 1778, Hamburg, Leipzig 1887; Rudolf Schlösser, Zur

Geschichte und Kritik von Friedrich Wilhelm Gotter’s „Merope“, Leipzig 1890; Rudolf Schlösser, Friedrich Wilhelm Gotter. Sein Leben und seine Werke. Ein Beitrag zur Geschichte der Bühne und Bühnendichtung im 18. Jahrhundert, Hamburg, Leipzig 1894; Werner Deetjen, Der „Sturm“ als Operntext bearbeitet von Einsiedel und Gotter, in: ShakespeareJahrbuch 64 (1928), 77–89; Thomas Baumann, Opera versus Drama. Romeo and Juliet in Eighteenth-Century Germany, in: Eighteenth-Century Studies 11/2 (1977/78), 186–203; Gerhard Schulz, Der Zofe schmelzendes Ach. Zu Friedrich Wilhelm Gotter, „Wiegenlied“, in: Marcel Reich-Ranicki, Hubert Spiegel, Helmut Spiegel (Hg.), Frankfurter Anthologie. Gedichte und Interpretationen, Bd. 18, Frankfurt am Main 1995, 123–26; Christoph Köhler, Friedrich Wilhelm Gotter (1746–1797) zum 200. Todestag. Vortrag, in: Gothaer Museumsheft (1997), 39–50; Thorsten Unger, Friedrich Wilhelm Gotters Hoadly-Übersetzung „Der argwöhnische Ehemann“ im Kontext des englischen Spielplananteils am Gothaer Hoftheater, in: Anke Detken, Thorsten Unger, Brigitte Schultze, Horst Turk (Hg.), Theaterinstitution und Kulturtransfer II. Fremdkulturelles Repertoire am Gothaer Hoftheater und an anderen Bühnen, Tübingen 1998, 69–96; Jörg Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert. Typologie, Dramaturgie und Anthropologie einer populären Gattung, Bd. 1, Tübingen 1998, 293–353; Franziska Meyer, „Nur nicht eine Minute Schwärmerey“. Caroline

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Schlegel-Schellings Freundschaft mit Luise Stieler-Gotter, in: Sabine Eickenrodt, Cettina Rapisarda (Hg.), Freundschaft im Gespräch, Stuttgart, Weimar 1998, 137–150; Jörg Krämer, „Je menschlicher, desto anziehender“. Die Geisterinsel – das deutsche Singspiel im Spannungsfeld kultureller Differenzen um 1800, in: Uwe Japp, Peter Wiesinger, Hans Derkits (Hg.), Epochenbegriffe. Grenzen und Möglichkeiten, Bern u. a. 2002, 219–226; Undine Wagner, Art. Gotter, Friedrich Wilhelm, in: MGG, 2.  Aufl., Personenteil, Bd. 7 (2002), Sp. 1393– 1395; Jean-François Cardoni, Shakespeares „Sturm“ im Spiegel von Mozarts „Zauberflöte“. Anmerkungen zu Friedrich Gotters Libretto „Die Geisterinsel“, in: Wieland-Studien 8 (2013), 103–113; Dörte Schmidt, Medea lesen.

Dramatische Form zwischen Sprache und Musik, in: Bettine Menke, Armin Schäfer, Daniel Eschkötter (Hg.), Das Melodram. Ein Medienbastard, Berlin 2013, 51–74; Julian Reidy, Elegische Idyllik. Gattungssemantische Transfereffekte in Friedrich Wilhelm Gotters Übersetzung von Thomas Grays „Elegy Written in a country church­ yard“, in: Andrea Ressel (Hg.), Trauerpoetik. Die Elegie im Kontext von deutsch-britischen Literaturbeziehungen 1750–1850, Göttingen 2015, 23–29; Adrian Kuhl, Librettistische Kostümregie in „Die Geisterinsel“ von Gotter und Freiherr von Einsiedel als Zeugnis auktorialer Inszenierungspraktiken um 1800, in: Das achtzehnte Jahrhundert 45/1 (2021), 66–83. Martin Schneider

DISKUSSION

Rudolf Meer Was ist und kann der Neue Moralische Realismus? Eine Diskussion über Markus Gabriels Vorschlag zur Gestaltung ­universaler Werte im 21. Jahrhundert

Über die Fachgrenzen der Philosophie hinaus ist Markus Gabriel in den letzten zehn Jahren einer breiteren Öffentlichkeit durch seinen Neuen Realismus bekannt geworden. Maßgeblich dazu beigetragen haben neben Sinn und Exis­ tenz. Eine realistische Ontologie (2016) und Fiktionen (2020) vor allem die populärwissenschaftlichen Bücher Warum es die Welt nicht gibt (2013), Ich ist nicht Gehirn: Philosophie des Geistes für das 21. Jahrhundert (2015) und Der Sinn des Denkens (2018). In diesen entwickelt Gabriel eine Ontologie, mit der nicht nur die (klassische) Realismus-Debatte überwunden werden soll, sondern anhand von Sinnfeldern ein Pluralismus angestrebt wird. 2020 hat Gabriel mit Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahr­ hundert den neuen Realismus auch als Neuen Moralischen Realismus ausgearbeitet und im Zuge dessen zu einer Vielzahl von aktuell geführten Debatten Stellung bezogen. Ausgehend von einer verschärften Krisenlage – der Finanzkrise, der Krise der liberalen Demokratie, der Klimakrise, aber insbesondere der Corona­k rise – konstatiert Gabriel eine Wertekrise, die Ausdruck der „dunklen Zeiten ist, in denen wir allem Anschein nach leben“.1 Dunkle Zeiten ist man seit jeher mit Aufklärung begegnet und so entwickelt auch Gabriel in seinem Buch „die Grundzüge einer neuen Aufklärung“,2 die getragen ist von der Einsicht, „dass wir nach der Krise nicht genauso weitermachen können wie gehabt“.3 Um aber „Ordnung in das tatsächlich bestehende und wirklich gefährliche Chaos unserer Zeit zu bringen“,4 sei es notwendig, ethisch unhaltbare Denkmuster zu identifizieren und Vorschläge zu ihrer Überwindung zu formulieren. In der Tat re- und dekonstruiert Gabriel daher fast auf jeder Seite des Buches irregeleitete 1 Markus

Gabriel, Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert, Berlin 2020, 19. 2 Ebd., 25. 3 Ebd., 10. 4 Ebd., 16.

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Wertvorstellungen, versteckten Rassismus, Xenophobie, Misogynie und inkonsistente Handlungsentwürfe. Darüber hinaus formuliert Gabriel in Opposition zum Wertrelativismus und -nihilismus „moralische Tatsachen“, die universale Kriterien bilden, um Handlungen in gute, neutrale und böse zu unterteilen. Dem moralischen Realismus folgend gibt es objektive moralische Werte (Unabhängigkeitsthese), die zumindest partiell erkennbar sind (Zugänglichkeitsthese).5 Diese brauchen zudem keine externe Begründung, sondern sind in sich legitimiert. Der bereits im Titel des Buches angesprochene moralische Fortschritt besteht darin, dass wir diese moralischen Tatsachen besser erkennen und daher zunehmend klarer wissen, was wir tun bzw. was wir unterlassen sollen. In diesem Sinne bezieht sich Gabriel auf die Aufklärungsbewegung, betont aber stets, dass „wir in vielerlei Hinsicht weiter als das späte achtzehnte und das neunzehnte Jahrhundert, im Guten wie im Schlechten“,6 sind. Gemeint sind damit aber nicht bloß die historischen, sozialen und kulturellen Umstände, sondern auch die Erkennbarkeit der Werte selbst. Dieser Fortschrittsgedanke dürfe allerdings nicht als Telos verstanden werden, dem man mehr oder weniger nahekommen könne, sondern bilde vielmehr einen ewigen, niemals abzuschließenden Prozess.7 Markus Gabriel hat mit seinem Buch Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert einen ebenso bedenkenswerten wie streitbaren Aufruf verfasst. Sein Buch wurde in den Feuilletons zum Teil sehr enthusiastisch aufgenommen,8 hat aber auch polarisiert und kritische Stimmen evoziert.9 In den folgenden Beiträgen prüfen und diskutieren Stefan Klingner, Fernando Moledo, Gideon Stiening und Roberta Pasquarè die philosophischen und historischen Voraussetzungen des Neuen Moralischen Realismus sowie die daraus folgenden Konsequenzen. Im Zentrum der Diskussion stehen die Fragen nach den Gründen der aktuellen Konjunktur der Aufklärung, der Möglichkeit eines moralischen Fortschritts, dem Status von moralischen Tatsachen und deren Verhältnis zu ethischen Dilemmata. Der Autor des Buches hat im letzten Beitrag zu den jeweiligen Diskussionsbeiträgen Stellung bezogen.

5 Ebd.,

172. 22. 7 Ebd., 107. 8 René Scheu, Der deutsche Philosoph Markus Gabriel: Die Devise heisst: durchhalten und sich vom Irrsinn nicht anstecken lassen, in: Neue Zürcher Zeitung, 27. Oktober 2020; Peter Neumann, Jetzt mal realistisch bleiben, in: Die Zeit, 3. August 2020. 9 Christian Weidemann, Markus Gabriels Ethik-Bestseller zur Corona-Krise, online unter: http://www.kath.ruhr-uni-bochum.de/aktuelles/ph-th/news01017.html.de [abgerufen 23. 03. 2021]. 6 Ebd.,

Stefan Klingner Ausgerechnet „Aufklärung“ Anmerkungen zum Aufklärungsbegriff in Markus Gabriels Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten

Bereits in seinem Klappentext wird in Aussicht gestellt, dass Markus Gabriels Pamphlet Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten einen „Entwurf der Aufklärung gegen den Wertenihilismus unserer Zeit“ formuliert bzw. das „Konzept einer neuen Aufklärung“ enthält.1 Tatsächlich deutet bereits die Häufigkeit, mit der der Terminus ‚Aufklärung‘ im Text selbst verwendet wird, darauf hin, dass er einiges Gewicht für Gabriels Überlegungen zu tragen hat. Und insofern es vor allem die Propagierung und Anerkennung (s)‌eines moralischen Realismus2 sind, die Gabriel zufolge eine „neue Aufklärung“ ausmachen, erfährt diese Vermutung auch von inhaltlicher Seite einige Bestätigung. Schenkt man zudem der besonderen Dringlichkeit Glauben, die Gabriel diesem „Projekt einer neuen Aufklärung“ (344) zuspricht, dann scheint Gabriels Buch eine passende Gelegenheit abzugeben, sich an seinem Beispiel etwas näher mit dem neuerdings wieder in Mode gekommenen Begriff der Aufklärung zu beschäftigen. Schließlich ist die Beschwörung einer „neuen Aufklärung“ in neueren Beiträgen auch eine bewusste Bezugnahme auf einen bestimmten Abschnitt der Philosophieund Ideengeschichte, mithin ein Versuch, die eigenen, an der aktuellen historischen Lage orientierten Überlegungen in eine Art von Tradition zu stellen.3 1 Markus

Gabriel, Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert, Berlin: Ullstein 42020. Seitenverweise ohne weitere Angaben beziehen sich im Folgenden auf diese Ausgabe. 2 Auf Gabriels Konzeption eines „moralischen Realismus“ wird im Folgenden nur am Rande eingegangen. Dass eine genaue Wiedergabe dieser Position vor allem mit terminologischen Problemen zu kämpfen hat, macht etwa Christian Weidemann, Markus Gabriels Ethik-Bestseller zur Corona-Krise. Ein Verriss (online unter: http://www.kath.ruhr-uni-bochum.de/aktuelles/phth/news01017.html.de [zuletzt abgerufen am 22. 03. 2022]), deutlich. 3 Siehe z. B. Steven Pinker, Enlightenment Now. The Case for Reason, Science, Humanism and Progress, Penguin Books 2018, chap. 1; Michael Hampe, Die Dritte Aufklärung, Berlin 2018, 39 ff.; Corine Pelluchon, Das Zeitalter des Lebendigen. Eine neue Philosophie der Aufklärung, Darmstadt 2021, 12 ff.

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Dabei mögen die Motive einer solchen Selbstverortung ebenso disparat sein wie die jeweils in Anschlag gebrachten Verhältnisse zwischen Tradition und aktuellen Überlegungen. Sowohl zum Zweck argumentativer Transparenz als auch im Sinne einer kritischen Aufklärungsforschung dürfte es aber vorteilhaft, vielleicht sogar geboten sein, hier für Klarheit zu sorgen. Die Motivlage für die Inanspruchnahme „der Aufklärung“ ist entscheidend dafür, ob es sich um bloß informierende Rezeption, selektiv-rekonstruierendes Weiterdenken oder manipulative Geschichtskonstruktion handelt. Die genauen Zusammenhänge zu erkennen, ist gerade im Fall einer bewusst populär gehaltenen Streitschrift wie der Gabriels schwierig. Auf den folgenden Seiten wird dennoch der Versuch unternommen, Gabriels Inanspruchnahme „der Aufklärung“ auf die Spur zu kommen und eine Einschätzung der ihr zugrunde liegenden Motivlage zu liefern. Das Vorgehen ist dabei folgendes: Zuerst werden die Bemerkungen Gabriels zum Aufklärungsbegriff (1), darauf zur Wendung „neue Aufklärung“ gesichtet und ihr wesentlicher Gehalt pointiert herausgestellt (2). Im Anschluss werden aufgrund des zusammengestellten Materials einige Überlegungen angestellt, wie die Frage nach Absicht und Art von Gabriels Inanspruchnahme des Aufklärungsbegriffs zu beantworten ist (3). I. Gabriel über „Aufklärung“ Zwar gibt Gabriel keine präzise Angabe dessen, was er unter ‚Aufklärung‘ versteht, jedoch lässt sich aus den über den gesamten Text verstreuten Bemerkungen, die eine „Utopie der Aufklärung“ (21), den „Hauptgedanken der Aufklärung“ (29), den „Gedanken der Aufklärung“ (179), das „Projekt der Aufklärung“ (226, 267), das „Ergebnis der Aufklärung“ (341) und auch die „Grundlage der Aufklärung“ (344) thematisieren, ein gewisses Bild rekonstruieren. Gabriel verwendet ‚Aufklärung‘ zuerst einmal im Sinne der herkömmlichen Bezeichnung für eine historische Epoche, die in der Französischen Revolution gipfelte (genauere Angaben gibt Gabriel nicht). Besondere Relevanz kommt dieser Epoche in Gabriels Augen insofern zu, als in ihr bestimmte Ideen („Utopie“, „Gedanke“, „Projekt“) formuliert wurden, die sich in einem „Wertekanon“ (226; vgl. 29, 52) niederschlagen und geradewegs zur „moderne[n] Demokratie“ (226) bzw. zum „moderne[n] demokratische[n] Rechtsstaat“ (341; vgl. 179, 226) führen. Um welche Ideen es sich dabei handelt, ist dabei nicht eindeutig. Einmal ist es der „Hauptgedanke[]“, dass allein durch Kooperation moralische Erkenntnis möglich wird, wobei moralische Erkenntnis wiederum nur „durch Einsatz von Vernunft“ gelingen könne (29). An anderer Stelle ist es die „Idee“, dass „unsere Institutionen […] zu Instrumenten moralischen Fortschritts werden“ (21). Zudem findet man Aussagen wie: „Das Projekt der Aufklärung ist ohne Wahrheit, moralischen Realismus und Universalismus nicht zu haben“ (226). Und schließlich



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werden an einer Stelle, in der der „Wertekanon“ zum ersten Mal im Buch thematisiert wird, immerhin drei Ideen genannt, die nicht selten mit ‚Aufklärung‘ assoziiert werden, nämlich: „Freiheit, Gleichheit, Solidarität usw.“ (29). Sieht man davon ab, dass das „usw.“ leider nirgends im Buch in irgendeiner Weise spezifiziert wird, haben wir damit ein Potpourri unterschiedlicher „Gedanken“, die die „Aufklärung“ ideentheoretisch kennzeichnen sollen und mehr oder weniger gängige Vorstellungen von der Aufklärungsepoche abrufen. Dabei kommt dem „Projekt eines demokratischen Rechtsstaats“ eine besondere Bedeutung zu, da es Gabriel zufolge „auf der Aufklärung“ „basiert“ (226) und der demokratische Rechtsstaat von ihm zur „geeigneten staatlichen Struktur von Institutionen“ (179), um moralischen Fortschritt zu realisieren, erklärt wird. Diese „moderne Idee“ sei wiederum auch unverzichtbar, „wenn man den Gedanken der Aufklärung aufrechterhalten möchte“ (ebd.). Der moderne Rechtsstaat ist also einerseits Resultat „der Aufklärung“, andererseits zugleich Bedingung für deren Erhaltung. Und diese hänge an der „Verpflichtung auf den Wertekanon der Aufklärung, der in unserem Grundgesetz niedergelegt ist“ (226). Was damit gesagt wird, ist allerdings – zumindest mir – nicht ganz klar. Vielleicht gibt es einen wesentlichen Zusammenhang zwischen dem modernen Rechtsstaat und der Pflege von Ideen wie „Freiheit, Gleichheit, Solidarität“, etwa indem moderne Demokratien nicht nur aus bestimmten staatlichen Strukturen bestehen, sondern auch auf eine bestimmte politische Kultur angewiesen sind. Wie aber die teilweise sehr verschiedenen politischen Kulturen moderner Demokratien als Ausdruck gleicher Ideen und diese wiederum als Resultat „der Aufklärung“ zu verstehen sind, bleibt eine unbeantwortete Frage. Deutlich wird dies nicht zuletzt an Gabriels Verweis auf „unser Grundgesetz“, das als geradezu beispielhaft für eine Fixierung des Wertekanons der Aufklärung ausgezeichnet wird. Wie es mit anderen Verfassungen moderner Demokratien steht, wird ebenso wenig thematisiert wie der Umstand, dass „unser Grundgesetz“ bestenfalls als ein sehr spätes Resultat „der Aufklärung“ gelten kann – schließlich liegen zwischen Französischer Revolution und der Ausarbeitung des deutschen Grundgesetzes über 150 ereignisreiche und für „uns“ nicht gerade schmeichelhafte Jahre. Tatsächlich bleiben der wiederholte Bezug auf „die Aufklärung“ sowie diese selbst bloß abstrakt. Sie erscheint als eine fast schon durchgehend revolutionäre, von „Wahrheit, moralische[m] Realismus und Universalismus“ (226) beständig beseelte Epoche – zwar in ferner Vergangenheit, aber unheimlich aktuell. Dass das mit den historischen Tatsachen nur oberflächlich etwas zu tun hat, liegt auf der Hand. Abgesehen vielleicht von der Haitianischen Revolution (die Gabriel nicht nennt) sind die Zielsetzungen und erst recht die Ergebnisse der Revolutionen des 18. Jahrhunderts bestenfalls ernüchternd, wenn „moderne“, an „Freiheit, Gleichheit, Solidarität“ orientierte Vorstellungen als Maßstab angelegt werden – und die nicht von Revolutionen betroffenen staatlichen Strukturen im

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damaligen Europa hatten mit modernen Demokratien allenfalls sehr geringe Ähnlichkeit (was wiederum ein wesentliches Motiv für das Wirken zumindest einiger Aufklärer:innen gewesen sein dürfte). Aber auch aus philosophie- bzw. ideengeschichtlicher Perspektive hält das von Gabriel so grob gezeichnete Bild kaum stand. Ein Indiz dafür ist bereits, dass auf einzelne Protagonisten der Aufklärung so gut wie gar nicht (und auf Protagonistinnen gar nicht) eingegangen wird. Durchaus lässt Gabriel den einen oder anderen großen Namen wenigstens fallen: Spinoza, Mendelssohn und Maimon werden als Gewährsleute dafür angeführt, dass es keine Aufklärung ohne „jüdisches Geistesleben“ gegeben hätte, was wiederum Lessing „dokumentiert“ habe (261); Schiller und die deutschen Idealisten werden mit ihren „radikal universalistische[n] Konzepte[n] des Menschseins“ (213) gegen rassistische Ideen ins Feld geführt; Humboldt habe mit seiner „ursprünglichen Aufklärungsidee der Universität“ an „die deutschen Idealisten Fichte, Schelling und Hegel an[ge]‌k nüpft“ (324); Smith wird nebenbei gegen das „Fehlurteil“ verteidigt, „moralische Werte ließen sich irgendwie aus ökonomischen Werten ableiten“ (300); und Hume wird (wenn auch nur in Klammern, als Vorläufer Kants) mit der berechtigten Ablehnung „gegen den sogenannten naturalistischen Fehlschluss“ (81) assoziiert. Einmal abgesehen davon, dass sich die meisten dieser Verweise vor dem Hintergrund der Aufklärungsforschung ohne größere Probleme zumindest relativieren ließen,4 fällt auf, dass es allein Kant ist, dessen Name häufiger angeführt und dessen Überlegungen gelegentlich ausführlicher thematisiert werden. Inwiefern das Kant-Bild, das Gabriel dabei zeichnet, zutreffend ist, will ich nicht weiter diskutieren. Aber „Aufklärung“ auf Kant zu reduzieren, ist dann doch etwas zu reduktionistisch. Zumal genau an dieser Stelle wieder eine gewisse Fokussierung auf Deutschland deutlich wird, wenn Gabriel schreibt: „Wir setzen in Deutschland auf den Staat als Vehikel des moralischen Fortschritts – eine Idee, die im Zusammenhang der Entstehung des deutschen Nationalstaats in den letzten beiden Jahrhunderten entstanden ist und nicht zuletzt im Denken Kants und Hegels wurzelt“ (140). Hier zeigt sich – ähnlich wie bei „unserem Grundgesetz“ – wieder eine Art unmittelbare (und nicht weiter ausgeführte) Verknüpfung einer modernen Vorstellung mit „der Aufklärung“ bzw. einem 4 Beschränkt

auf einige wenige Schlagworte: Was das spezifisch Aufklärerische an den genannten Philosophen jüdischer Herkunft gewesen ist, wird nicht weiter thematisiert; inwiefern Lessings „Nathan“ ein gutes Stück Aufklärungsliteratur ist, ebenfalls nicht; ob Schiller und die deutschen Idealisten Aufklärer waren, ist umstritten und müsste zumindest erläutert werden – und in dem Kontext, in dem Gabriel sie nennt, auch mit Blick auf die in ihren Schriften bekanntlich vorhandenen chauvinistischen oder rassistischen Bemerkungen; was Humboldts Universitätsidee (oder die der deutschen Idealisten) mit Aufklärung zu tun hat, ist nicht sofort einleuchtend, wenn man – wie geläufig – die Aufklärung als Epoche mit den unmittelbaren Nachwehen der Französischen Revolution für beendet ansieht.



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ihrer Protagonisten. Dabei ist diese Verknüpfung wenigstens mit Blick auf Kant durchaus irreführend. Denn Kant hält zwar in seinen geschichtsteleologischen Überlegungen die Republikanisierung für einen notwendigen Schritt zur Moralisierung der Menschengattung.5 Dass der Staat aber aktiv die moralische Besserung seiner Bürger:innen verfolgen soll, ist gerade kein Bestandteil seiner Rechtsphilosophie – im Unterschied zu zahlreichen anderen (auch deutschen) Aufklärern, von denen er sich mit seiner strikten Trennung von Recht und Ethik auch explizit abgrenzt.6 Auch hier wäre es Gabriel ein Leichtes gewesen, zumindest ein wenig zu differenzieren. II. Gabriels „neue Aufklärung“ Insofern Gabriel nicht mit dem Anspruch auftritt, eine historische Studie zur Aufklärungsepoche vorzulegen, mag jeder Hinweis auf eine nicht korrekte Darstellung der Philosophie der Aufklärung als wohlfeil und pedantisch abgetan werden können. Und manche Unklarheit in Bezug auf seine beiläufigen Rekonstruktionsversuche von zentralen „Gedanken“ der Aufklärung wird vielleicht beseitigt, wenn Gabriels eigentliches Thema in den Blick genommen wird – also die Notwendigkeit einer „neuen Aufklärung“ angesichts der „Drohkulisse des 21. Jahrhunderts“ (311). Bereits in der Einleitung heißt es ausdrücklich: „Allerdings bedarf die Aufklärung eines Updates“ (29). Die anschließende Begründung wirft dann auch einiges Licht nicht nur auf die inaugurierte „neue Aufklärung“, sondern auch auf Gabriels allgemeines Aufklärungsverständnis. Denn das „Update“ sei nötig, „um sich gegen Gedankengebäude zu immunisieren, die versuchen, uns weiszumachen, es gebe in moralischen Fragen keine universal akzeptierbaren, für alle Menschen gerechten Lösungen, sondern immer nur eine Verteidigung des Rechts des Stärkeren“ (ebd.). Es geht demnach um die Idee einer allgemein gültigen Moral, die gegen neuere „Gedankengebäude“, die eine solche Idee leugnen (würden), zu verteidigen sei. Mit Blick auf „die Aufklärung“ rückt damit erstens ein auf Praxis bezogenes Aufklärungskonzept in den Vordergrund. Es geht weniger um bloße Vor5 Siehe

z. B. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, AA V, 432, oder auch ders., Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA VII, 331. 6 Siehe etwa zur strikten Trennung zwischen juridischer und ethischer Gesetzgebung Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, AA VI, 219 f. und bes. 231, sowie zur bei Menschen „bloß negative[n] Weisheit zur Beförderung dieses Zwecks [eines Fortschritts zum Besseren]“ ders., Streit der Fakultäten, AA VII, 93. Siehe für eine Verortung des nicht mehr am bonum commune orientierten Politikverständnisses Kants in den historischen Kontext z. B. Gideon Stiening, ­Empirische oder wahre Politik? Kants kritische Überlegungen zur Staatsklugheit, in: Dieter Hüning, Stefan Klingner (Hg.), … jenen süßen Traum träumen. Kants Friedensschrift zwischen objektiver Geltung und Utopie, Baden-Baden 2018, 259 – 276.

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urteilskritik oder die Auslotung der Grenzen des Wissens, sondern um eine umfassende und einsichtige Orientierung an bestimmten handlungsleitenden „Werten“, die „objektiv“ gültig sind und daher ausnahmslos alle Menschen betreffen. Gabriel nennt das auch „Neuen Moralischen Realismus“, den er anhand einiger (wieder sehr allgemeiner) „Kernthesen“ kennzeichnet (33 ff.). Mit der Rede vom Verteidigen gesellt sich zweitens zu dieser metaethischen Position noch die Aufforderung, sich der Wahrheit dieser Position zu vergewissern und weitere praktische Konsequenzen aus ihr zu ziehen. So sei „das Wertesystem, das wir in der Form eines demokratischen Rechtsstaats institutionalisiert haben, explizit zu machen“ (52). Und da „wir uns in komplexen moralischen Sachfragen täuschen können“, gehöre es zudem zur Aufklärung, dass „wir mit uns selbst und anderen Menschen nachsichtig umgehen müssen“ (170) und kontinuierlich an der Erkenntnis moralischer Tatsachen arbeiten sollen (vgl. 155, 323). „Aufklärung“ ist demnach zuerst einmal eine kognitive Angelegenheit (Erkenntnis von moralischen Tatsachen), aus der sich aber unmittelbar Folgen in Form von Geboten für das eigene Handeln oder von Anweisungen für die Herstellung (bzw. Erhaltung) günstiger Rahmenbedingungen ergeben. Dieses Aufklärungsverständnis deckt sich teilweise mit dem emanzipatorischen Aufklärungsbegriff,7 wobei allerdings der für diesen wesentliche Bruch mit der herrschenden Tradition wegfällt und an dessen Stelle eben die Verteidigung („Immunisierung“) gegen moral-relativistische Positionen tritt. Diese Ersetzung ist aber keine Marginalie. Hatten es die Protagonist:innen der Aufklärung mit Umständen in Wissenschaft, Gesellschaft, Politik und Religion zu tun, die es zu reformieren (vielleicht auch zu revolutionieren) galt, befinden wir uns mit Gabriel – und wenigstens im heutigen Deutschland – in einer Situation, in der viele Ideen der Aufklärung akzeptiert und mehr oder weniger gut realisiert sind. Wenn die Rede von einer „neuen Aufklärung“ bedeutungsvoll werden soll und man wie Gabriel den staatlichen Status quo als ein begrüßenswertes Resultat „der Aufklärung“ nimmt, bleiben angesichts dieser Lage nicht gerade viele Optionen. Eine Option wäre es, die zentralen Ideen „der Aufklärung“ genauer auszubuchstabieren, dann den heutigen Status quo an ihnen zu messen und schließlich entsprechende Folgerungen für eine „neue Aufklärung“ im Sinne einer bewusst in Angriff zu nehmenden Weiterführung der bisher unvollendet gebliebenen Aufklärung zu ziehen. Gabriel wählt aber eine andere Option: Das Neue an seiner „neuen Aufklärung“ erscheint vor allem als Aktivierung einer Immunisierungsfunktion8 gegen gewisse, als aufklärungsfeindlich zu entlarvende gesellschaftliche Entwicklungen und theoretische Positionen. 7 Vgl.

Werner Schneiders, Das Zeitalter der Aufklärung, München 52014, 7. schreibt von einem „Ko-immunismus“, den die „neue Aufklärung“ anstrebe (vgl. 29). Die Terminologie ist dabei offenkundig der pandemischen Lage aufgrund der Ausbreitung des Covid-19-Virus geschuldet. Ihre Verwendung gibt Gabriel zugleich die Gelegenheit auch noch auf Peter Sloterdijk zu verweisen, der die metaphorische Rede von „Immunisierung“, 8 Gabriel



Ausgerechnet „Aufklärung“ 285

Gabriel sieht solche aufklärungsfeindlichen Tendenzen in der „Sortierung von Menschen in identitäre Gruppen“ (186), der „moralisch verblendet[en]“ Orientierung an „Naturwissenschaft, Technik und der neoliberalen Marktlogik“ (311) und in „nationalistische[n] Verzerrungen“ (344). Das Rezept gegen sie und damit die Aufgabe der „neuen Aufklärung“ sieht er entsprechend gesellschaftspolitisch in der „Überwindung der Identitätspolitik“ (186), mit Blick auf den Wissenschaftsbetrieb in einer „radikale[n] transdisziplinäre[n] Kooperation“ (323), ökonomisch in der Herstellung „nachhaltige[r] Produktionsketten“ (334) und in der schulpolitischen Forderung nach „Ethik für alle“ (336). Die „neue Aufklärung“ scheint damit als ein Aufruf zu verstehen zu sein, der sich besonders an politische Entscheidungsträger:innen richtet und für sie (immerhin grob formulierte) Ziele für politisches Handeln beinhaltet, bei denen es vor allem um eine Konservierung von so etwas wie richtigen Resultaten „der Aufklärung“ geht. Allerdings schließt Gabriel seine Überlegungen im „Epilog“ mit „einem Appell an uns alle, sich an dem Projekt einer neuen Aufklärung zu beteiligen“ (344). Wie diese Beteiligung für nicht unmittelbar in politische Entscheidungsprozesse involvierte Menschen konkret aussehen mag, bleibt leider offen. Lediglich der allgemeine Verweis auf „Geist und höhere Moralität“ (ebd.) wird strapaziert. Das „Menschenbild“, dem zufolge „wir […] uns als Lebewesen begreifen, die zu höherer, universaler Moralität fähig sind“, sei schließlich die „Grundlage aller Aufklärung, die in verschiedenen Schüben auf allen Erdteilen zu verschiedenen Zeiten stattgefunden hat“ (343 f.). Das klingt zuerst einmal gut – es zeigt aber zugleich, wie extrem weit Gabriel seinen Aufklärungsbegriff am Ende seiner Ausführungen fasst und dass das wiederum wenig mit seinen vorherigen Bezugnahmen auf die Epoche der Aufklärung zu tun hat. III. Warum gerade „Aufklärung“? Nach der Berücksichtigung von Gabriels Konzept einer „neuen Aufklärung“ ist sein Aufklärungsverständnis also durch folgende drei Behauptungen gekennzeichnet: −  D  er heutige demokratische Rechtsstaat – zumindest in seiner auf „unserem Grundgesetz“ fußenden Form – ist das Ergebnis einer historischen Entwicklung, die in einer in geschichtlicher Ferne liegenden Epoche („der Aufklärung“) ihren Anfang nahm. „Immunsystemen“ etc. allerdings schon seit längerem, sprachlich geschickt und – im deutlichen Unterschied zu Gabriel – vorwiegend deskriptiv als Analysewerkzeug für die Deutung der politischen Ideengeschichte verwendet (vgl. Peter Sloterdijk, Sphären I. Blasen, Frankfurt am Main 1998, 66 und bes. ders., Sphären II. Globen. Frankfurt am Main 1999, 160, 275 ff., 302 ff. usw.).

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−  D  abei entspricht diese Staatsform mit ihren Institutionen dem Zweck moralischen Fortschritts, dessen Objektivität durch den Verweis auf einen „moralischen Realismus“ sichergestellt sein soll. −  D  a diese Institutionalisierung moralischen Fortschritts durch neuere gesellschaftliche Entwicklungen und theoretische Positionen gefährdet ist, muss sie verteidigt werden, was „neue Aufklärung“ genannt wird. Dass alle drei Behauptungen nicht gerade unproblematisch sind, wurde – wenigstens teilweise – bereits angedeutet. Die Frage nach ihrem Wahrheitsgehalt darf hier aber beiseite gestellt werden – nicht zuletzt aufgrund der weitgehenden Vagheit und Allgemeinheit von Gabriels Überlegungen. Von Interesse soll an dieser Stelle vielmehr sein, was aus der durch die genannten drei Punkte gekennzeichneten Bezugnahme auf den Aufklärungsbegriff hinsichtlich der Motivlage und der Verortung in eine bestimmte, hier: aufklärerische Tradition folgt. Dass eine Antwort auf diese Frage nicht die tatsächlichen Motive, die Gabriel zur Inanspruchnahme des Aufklärungsbegriffs bewegt haben, ans Licht bringen mag, ist selbstverständlich. Schließlich ist – in Kants etwas aus der Zeit gefallenen Worten – „die Tiefe des Herzens […] unerforschlich“.9 Jedoch erlaubt die vorangegangene Rekonstruktion durchaus eine begründete Vermutung. Denn mit Blick auf den sachlichen Gehalt ist es vor allem der von Gabriel selbst inaugurierte „Neue moralische Realismus“, der das zentrale Thema seiner Streitschrift ist. Er wird als metaethische Fortführung des von ihm bereits seit einigen Jahren in die Diskussion gebrachten „Neuen Realismus“ ausgegeben (vgl.  348 f.) und wie dieser offenkundig publikumswirksam vorgestellt – und vermarktet. Insofern er sogar ausdrücklich von Gabriel mit der „neuen Aufklärung“ terminologisch identifiziert wird (vgl. 25), liegt es daher nahe, dass die Inanspruchnahme des Aufklärungsbegriffs primär ein marketingtechnisches Anliegen ist. Es scheint, als würde die Etikettierung als „Aufklärung“ ein geeignetes Mittel darstellen, die eigene theoretische Position besonders effektiv vermarkten zu können. Zwar lässt sich diese naheliegende Vermutung nicht im strengen Sinne verifizieren, aber sie ergibt sich durchaus zwanglos aus den zusammengetragenen Beobachtungen zu Gabriels Verwendung des Aufklärungsbegriffs. Seine Bemerkungen zur historischen Epoche der Aufklärung sind alles andere als differenziert und bedienen ein Aufklärungsbild, das bestenfalls als Geschichtsverklärung in guter Absicht verstanden werden kann. Es fehlt jeder Hinweis auf die zum Teil erheblichen Diskrepanzen zwischen den unterschiedlichen Positionen historischer Protagonist:innen der Aufklärung – sei es mit Blick auf deren Verständnis der Aufgaben eines Staates, des Status von Bürgern oder der richtigen 9 Immanuel

Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA VI, 51.



Ausgerechnet „Aufklärung“ 287

Form politischer Vergemeinschaftung; sei es mit Blick auf deren Verständnis von Religion, ihren Inhalten, ihrer Relevanz für moralische Bildung oder ihrem Verhältnis zum Staat; sei es mit Blick auf deren Verständnis von Moral, ihres spezifischen Gehalts, ihres Geltungsgrunds, ihrer Umsetzbarkeit oder ihrer gesellschaftlichen Funktion; sei es mit Blick auf deren Verständnis von Philosophie, ihrer angemessenen Form oder ihrer gesellschaftlichen Relevanz; sei es mit Blick auf das Wesen der Menschen, ihre Klassifikation (und den damit einhergehenden Rechten) oder ihre „Bestimmung“. All dies (und vieles mehr) wird von Gabriel mit keiner Silbe erwähnt und stattdessen das Bild eines Teils der Philosophie- und Ideengeschichte gezeichnet, das zwar seltsam homogen, aber dadurch auch ganz paradiesisch anmutet. Vor dem Hintergrund der Forderung nach einem Ethik-Unterricht „für alle“ (336), der vielleicht auch eine philosophiehistorische Bildung umfasst (Gabriel äußerst sich dazu nicht), wirkt ein solcher Umgang mit einem Teil der Philosophiegeschichte nahezu grotesk. Die zum Teil scharf geführten Diskussionen, die die Aufklärer:innen untereinander geführt haben, fallen unter den Tisch – und damit auch ein Verständnis von „Aufklärung“, das Gabriel selbst aufruft, wenn er etwa „die Wahrheitsfindung durch Anhörung von Gründen“ als „Ziel einer demokratischen Debatte“ bestimmt (341). Und schließlich kann die Konstruktion eines solchen Epochenbildes auch kaum selbst als eine aufklärerische Angelegenheit qualifiziert werden können, wenn man „Aufklärung“ nicht nur auf vage „Werte“ festlegt, sondern auch als begriffliche Arbeit im Sinne der Verdeutlichung durch Differenzierung versteht. Ebenso passt Gabriels Rede von einer „neuen Aufklärung“ zu der Vermutung, dass sich hinter der Verwendung des Aufklärungsbegriffs vor allem eine Marketingstrategie verbirgt. Inhaltlich wird sie lediglich durch den Verweis auf den „Wertekanon der Aufklärung“ (29, 55, 226) an die historische Epoche geknüpft, der aber nicht näher gekennzeichnet wird. Ansonsten bezeichnet sie in der Sache Gabriels „Neuen moralischen Realismus“. Vor allem aber dient sie zur polemischen Abgrenzung gegenüber anderen Positionen, die sich so als „unaufgeklärt“ brandmarken lassen. Die Selbstverortung in eine aufklärerische Tradition bietet dabei nicht nur Rückendeckung durch gepflegte Geistesgrößen und bewirkt so einen Autoritätsschub. Sie erlaubt zudem die Auszeichnung der eigenen Position als progressiv – und die der anderen als rückständig oder rückwärtsgewandt. Im Geschäft mit der Aufmerksamkeit intellektuell interessierter Leser:innen ist das fraglos ein Vorteil. Dass damit der Aufklärungsbegriff instrumentalisiert wird, liegt auf der Hand. Dies wäre auch gar nicht zu beklagen, wenn sich die Instrumentalisierung nicht in ihrer rhetorischen („immunisierenden“) Funktion erschöpfen würde. Für eine Ausarbeitung und Verteidigung einer metaethischen Theorie ist der Aufklärungsbegriff als solches jedenfalls nicht nötig. Insofern Gabriel den Zusammenhang von Aufklärungsphilosophie und seinem „moralischen Realismus“ nur oberflächlich herstellt, ist der Aufklärungsbegriff aber auch nicht im

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Fall der Ausarbeitung und Verteidigung seiner eigenen metaethischen Theorie nötig. Dass er ihn dennoch so prominent verwendet, scheint vielmehr an dessen suggestiver Kraft zu liegen und ist insofern nur allzu nachvollziehbar. Wenn er aber nur noch als polemisches Instrument verwendet wird, dann ist diese Verwendung in der Sache nicht nur überflüssig, sondern zugleich ein starkes Indiz dafür, dass es auch der Aufklärungsbegriff inzwischen (wieder) ins Repertoire des Kultur- und Diskursbetriebs geschafft hat – und Gabriel das für die Lancierung seiner Philosophie zu nutzen weiß.

Fernando Moledo Überlegungen zu Gabriels Begriff der moralischen Tatsache Kommentar zu Markus Gabriel: Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert

In Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten argumentiert Markus Gabriel für einen „neuen moralischen Realismus“,1 einer dessen zentraler Begriffe der Begriff von „moralischen Tatsachen“ ist.2 Gabriel selbst definiert den moralischen Realismus durch die „Kernthese […]: Es gibt von unseren Privat- und Gruppenmeinungen unabhängige moralische Tatsachen“.3 Was sind aber moralische Tatsachen? Zur Beantwortung dieser Frage geht Gabriel von dem Begriff einer Tatsache im Allgemeinen aus: „Eine Tatsache ist im Allgemeinen etwas, was wahr ist. Tatsachen sind beispielsweise: dass Hamburg in Norddeutschland liegt; dass 2 + 2 = 4 ist; das Sie gerade diesen Satz lesen usw“.4 Das Eigentümliche an den moralischen Tatsachen ist ihre normativer Bedeutung: „Eine moralische Tatsache ist ein objektiv bestehender moralischer Sachverhalt, der festlegt, welche konkreten Handlungen geboten, erlaubt oder unzulässig sind“.5 Beispiele für moralische Tatsachen sind nach Gabriel: „Dass man keine Kinder quälen soll; dass man die Umwelt schützen soll; dass man alle Menschen möglichst gleich behandeln soll“.6 Kennzeichnend für den moralischen Realismus ist laut Gabriel sein „Universalismus“7 und seine darauf beruhende Entgegensetzung zu jeglichem moralischen Relativismus, letzterer verstanden als die Auffassung, dass die Vorstellungen davon, was praktisch notwendig ist (bzw. die Vorstellungen von Gut und Böse), durch bestimmte soziokulturelle Umstände bedingt und daher nicht allgemein gültig sind. Hingegen besagt der neue moralische Realismus, dass 1 Markus

Gabriel, Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert, Berlin 2020, 33. 2 Ebd. 3 Ebd. 4 Ebd., 40. 5 Ebd. 6 Ebd. 7 Ebd., 33.

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moralische Tatsachen „objektiv bestehen“,8 dass sie „[…] zu allen Zeiten [gelten], in denen es Menschen gab, gibt und geben wird“9 und „[…] von Kultur, politischer Meinung, Religion, Geschlecht, Herkunft, Aussehen und Alter unabhängig und deswegen universal [sind]“.10 Meines Erachtens bereitet der so verstandene Begriff von moralischen Tatsachen allerdings einige Probleme. Im Folgenden möchte ich mich auf drei Probleme konzentrieren, die im Zusammenhang mit dem Begriff von moralischer Tatsache stehen. 1. Eines der grundlegenden Merkmale der moralischen Tatsachen ist ihre Offensichtlichkeit: Die objektiv bestehenden moralischen Tatsachen – behauptet Gabriel – sind „im Wesentlichen offensichtlich“11 und daher jedem Menschen zugänglich.12 Die angenommene Offensichtlichkeit der moralischen Tatsachen ist jedoch im Zusammenhang mit dem neuen moralischen Realismus problematisch, wie ich hier zu zeigen hoffe. Gabriel liefert keine ausführliche Erklärung davon, worin genau die Offensichtlichkeit einer moralischen Tatsache besteht. Man könnte argumentieren, dass man im Grunde auch keine Erklärung braucht: Offensichtlich ist das, was, wie Descartes sagen würde, klar und deutlich ist und daher nicht bezweifelt werden kann.13 So verstanden macht es die These der Offensichtlichkeit von moralischen Tatsachen allerdings notwendig, eine Erklärung der Möglichkeit des Irrtums zu liefern bzw. eine Antwort auf die Frage zu geben: Warum irrt man sich bei der Anerkennung von moralischen Tatsachen, wenn diese offensichtlich und allgemein zugänglich sind? Gabriel erkennt das Problem und liefert zwei mögliche Erklärungen des Irrtums bei der Erkenntnis von moralischen Tatsachen. Erstens, dass moralische Tatsachen „[…] in dunklen Zeiten durch Ideologie, Propaganda, Manipulation und psychologische Mechanismen verdeckt [werden]“.14 Zweitens, dass es an der notwendigen Erkenntnis fehlt. Tatsächlich kann etwas, das zu einem bestimmten Zeitpunkt für eine moralische Tatsache gehalten wird, sich später im Lichte neuer, ursprünglich fehlender Erkenntnisse als falsch erweisen. Zur Veranschaulichung dieses Punktes führt Gabriel als rein hypothetisches Beispiel die Möglichkeit an, dass künftige Erkenntnis über heute unbekannte Fakten widerlegen, 8 Ebd. 9 Ebd.

10 Ebd.

11

Ebd., 168. Vgl. auch: Moralische Tatsachen „sind in ihrem Kernbestand offensichtlich“ (ebd., 33). 12 Ebd. 13 René Descartes, Discours de la Méthode pour bien conduire sa raison et chercher la verité dans les sciences, in: Œuvres de Descartes, hg. von Charles Adam und Paul Tannery, Bd. 6, Paris 1902, 20. 14 Gabriel, Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten (wie Anm. 1), 33.



Überlegungen zu Gabriels Begriff der moralischen Tatsache 291

was heute als selbstverständlich bzw. als moralische Tatsache gilt, nämlich dass die körperliche Züchtigung von Kindern böse und daher verboten ist: Bis vor kurzem dachten viele Menschen (und viele denken es immer noch), es sei völlig in Ordnung, ja sogar geboten und wünschenswert, Kinder körperlich zu züchtigen […] Doch die in der Moderne erst langsam entstehenden Disziplinen der wissenschaftlichen Psychologie, Soziologie, Religionswissenschaft und Neurobiologie haben uns mittlerweile gezeigt, dass körperliche Züchtigung traumatisiert und dass Gewalt und Grausamkeit in der Familie sogar eine wichtige Grundlage für totalitäre Regime sind, die auf häuslicher Gewalt aufbauen.[…] Es ist natürlich prinzipiell denkbar, allerdings ausgesprochen unwahrscheinlich, dass es in fünfzig Jahren Erkenntnisse gibt, die zeigen, dass körperliche Züchtigung doch entscheidend zur Reifung beiträgt und dass mit heutigen Maßstäben sanft erzogene Kinder zu brutalem kapitalistischen, die Umwelt zerstörenden Konsum neigen, sodass wir wieder zur Rute greifen müssen. Doch selbst wenn das so wäre, wären die zukünftigen Gründe, die uns als Rechtfertigung körperlicher Strafen einleuchten, ganz andere als diejenigen in der Vergangenheit, weil man damals eben die erst noch zu entdeckenden Tatsachen nicht kannte.15

Man könnte argumentieren, dass sich Ideologie, Propaganda, Manipulation und psychologische Mechanismen, i. e. die erste angegebene Irrtums- bzw. Täuschungsquelle bei der Anerkennung von moralischen Tatsachen, durch kritisches Denken beseitigen lassen. Und gerade darin besteht laut Gabriel tatsächlich die Aufgabe einer neuen Aufklärung, für die er angesichts der Dunkelheit unserer eigenen Zeiten plädiert und für die der neue Realismus der passendste und wirksamste theoretische Rahmen sei. Im Fall der zweiten Irrtumsquelle, nämlich des Mangelns an nötiger Erkenntnis, sieht die Sache jedoch problematischer aus: Ohne die dafür nötige Erkenntnis kann der Irrtum beim Urteil einer angeblichen moralischen Tatsache nicht erkannt werden. Die Schlussfolgerung daraus liegt auf der Hand: Da prinzipiell nie ausgeschlossen werden kann, dass künftige Erkenntnisse das widerlegen, was zu einem bestimmten Zeitpunkt für eine moralische Tatsache gehalten wird, kann man nie ganz sicher sein, dass das, was momentan für eine moralische Tatsache gehalten wird, tatsächlich eine moralische Tatsache ist. Mit Hinblick darauf erweist sich jetzt der offensichtliche Charakter der moralischen Tatsachen, von dem wir ausgegangen sind, als höchst problematisch, da im Grunde genommen alles angezweifelt werden kann, was für eine moralische Tatsache gehalten wird. Und tatsächlich konstatiert Gabriel zu Recht, dass „nichts und niemand garantiert, dass wir uns nicht auch in sehr wichtigen, moralisch relevanten Fragen täuschen”.16 Dies hat schließlich auch Auswirkungen auf einen anderen Kernbegriff des neuen moralischen Realismus: den Begriff des „moralischen Fortschritts“. Aus15 Ebd., 16 Ebd.,

37. 116.

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gehend vom Begriff der moralischen Tatsache definiert Gabriel den moralischen Fortschritt als „Erkenntnis und Aufdeckung“ moralischer Tatsachen.17 Wenn aber, wie gerade gesehen, nicht ausgeschlossen werden kann, dass wir uns irren, wenn wir etwas für eine moralische Tatsache halten, kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass wir uns irren, wenn wir behaupten, dass eine moralische Tatsache entdeckt und somit ein Fortschritt in der Moral erzielt wurde. 2. Gabriel weist darauf hin, dass der unbedingte, d. h. universelle Charakter der Pflicht, den der neue Realismus im Zusammenhang mit dem Begriff von moralischen Tatsachen und in Anlehnung an Kants Moralphilosophie vertritt,18 oft als problematisch angesehen wird, weil er zu scheinbar widersprüchlichen Schlussfolgerungen führen würde. Um dies zu verdeutlichen – so Gabriel – wird oft auf Beispielsituationen wie die folgende zurückgegriffen: Man stelle sich vor, eine von einem autoritären Regime verfolgte Familie wird in dem eigenen Haus versteckt. Plötzlich steht ein Beamter dieses Regimes vor der Tür und fragt, ob die Familie im Haus sei? Insofern Wahrhaftigkeit Pflicht ist bzw. das Lügenverbot gilt, sollte man dem Beamten die Wahrheit sagen. Insofern die Rettung der Familie auch Pflicht bzw. die Verpflichtung dazu eine moralische Tatsache ist, sollte man aber den Beamten belügen, um die Familie zu retten. Es sieht so aus, als ob ein strenger Universalismus nicht haltbar und somit die Möglichkeit von Ausnahmen zuzulassen wäre. Gabriel streitet diese Möglichkeit allerdings ab. Er tut dies aber anhand eines Arguments, das mir problematisch erscheint und dem wir uns nun zuwenden wollen. Beim angegebenen Beispielfall handelt es sich, wie Gabriel hervorhebt, um eine Variation des ursprünglichen Arguments, das Benjamin Constants gegen Kants Universalismus entwickelt. Das Argument Constants befindet sich in Des réactions poitiques, das 1797 in Frankreich erscheint und im selben Jahr auf Deutsch unter dem Titel Von den politischen Gegenwirkungen in der Berliner Monatsschrift veröffentlicht wird. Man stelle sich vor – schlägt Constant dort vor – ein Freund wird von einem Mörder verfolgt und wird in unserem Haus versteckt. Plötzlich steht der Mörder vor der Tür und fragt, ob unser Freund bzw. sein potentielles Opfer zu Hause ist. Es sieht so aus, als ob man nach dem strengen Lügenverbot Kants dem Mörder die Wahrheit sagen sollte. Aber Constant bestreitet dies: In Wirklichkeit wäre in einem solchen Fall die Lüge erlaubt, da der Mörder kein Recht auf die Wahrheit hätte, weil sein Vorhaben, einem anderen zu schaden bzw. zu töten, gegen das Recht verstoße. Kant entgegnete Constant im selben Jahr in Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen, dass die rechtliche Pflicht, die Wahrheit zu sagen, wie alle Pflichten eine absolute, universelle Pflicht sei und daher keiner Bedingung unterliege bzw. keine Ausnahme zulasse: „Es ist also ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch 17 Ebd., 18 Vgl.

265. ebd., 148 f.



Überlegungen zu Gabriels Begriff der moralischen Tatsache 293

keine Convenienzen einzuschränkendes Vernunftgebot: in allen Erklärungen wahrhaft (ehrlich) zu sein“.19 Gabriel schlägt nun eine andere Lösung vor. Die Situation des Beispielfalls der versteckten Familie stellt, so Gabriel, in Wirklichkeit keinen Widerspruch dar, weil das Verweigern der Mitteilung der Wahrheit an den Beamten keine Lüge wäre. Lügen – argumentiert Gabriel – bedeutet nicht, einfach etwas Falsches zu sagen, obwohl man weiß, dass es falsch ist. Eigentlich – so Gabriel – bedeutet lügen, etwas Falsches zu sagen, um daraus einen Vorteil zu ziehen. Da dies im angegebenen Beispiel nicht der Fall ist, findet keine Lüge statt. Was ist eigentlich eine Lüge? Eine Lüge besteht darin, dass jemand wissend und absichtlich etwas, was falsch ist, als etwas ausgibt, was wahr ist (oder umgekehrt), um einen eigenen Vorteil gegenüber der belogenen Person zu erzielen. Ziel der Lüge ist die Irreführung einer Person zur Vorteilsgewinnung. Sagt man die Unwahrheit, um eine Familie, die sich im Keller versteckt, vor einem grausamen Unrechtsstaat zu schützen, ist dies keine Lüge, weil es nicht darum geht, einen Vorteil zu erlangen, sondern darum, die Unversehrtheit einer Familie zu sichern.20

Somit entsteht hier kein Widerspruch zwischen dem Gebot, die Wahrheit zu sagen, und dem, die Familie zu retten. Gabriel möchte dadurch zeigen, wie wichtig eine gute Beschreibung der moralischen Tatsachen ist (in diesem Fall, des Lügenverbots). Diese würde dazu dienen, denjenigen zu antworten, die unter Berufung auf Situationen wie die angesprochene versuchen würden, den moralischen Universalismus in Frage zu stellen. Mir scheint Gabriels Lösung dennoch problematisch. Denn selbst wenn man sie akzeptieren würde, könnte (und sollte) man sich weiter fragen, was passieren würde, wenn die Person, die die Familie versteckt, doch einen Vorteil daraus zieht? Man kann sich leider sehr einfach eine skrupellose Person vorstellen, die Geld von der Familie als Gegenleistung verlangen würde. Das scheinbar bereits gelöste Problem würde dann wiederkehren: Was soll diese Person tun, wenn ein Beamter vor der Tür steht, und ihn fragt, ob die gesuchte Familie bei ihm zu Hause versteckt ist? Falsches zu sagen, um die Familie zu retten, wäre jetzt laut der Definition Gabriels tatsächlich eine Lüge, da die Person daraus einen Vorteil ziehen würde. Die Person ist also dazu verpflichtet, dem Beamten die Wahrheit zu sagen, aber auch die Familie zu retten, wozu der Beamten belogen werden muss, sodass man sich wieder vor dem Widerspruch befindet, den man lösen wollte. 3.  Eine dritte Schwierigkeit im Zusammenhang mit dem Begriff von der moralischen Tatsache ergibt sich, wenn man die moralische Beurteilung im Rahmen des neuen moralischen Realismus berücksichtigt. Dabei scheint die Erwägung der Motivation beim Handeln ausgeschlossen zu sein (obwohl, wie 19 Immanuel 20 Gabriel,

Kant, Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen, AA VIII, 427. Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten (wie Anm. 1), 152.

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oben gesehen, die Motivation laut Gabriel eine tragende Rolle bei der Entscheidung spielt, ob etwas eine Lüge ist oder nicht) und das ganze Gewicht in der Übereinstimmung der Handlungen mit dem, was die moralischen Tatsachen verlangen, zu liegen. Gabriel weist in dieser Hinsicht zu Recht darauf hin, dass die Motivation ein äußerst problematisches Element ist, da es letztlich unmöglich ist, sie sowohl bei einem selbst als bei den anderen mit Sicherheit zu kennen. Aber kann das Element der Motivation bei der moralischen Beurteilung vollends herunterspielt werden? Ich denke, dass dies mit der universalistischen Kernthese des neuen moralischen Realismus nicht ganz kompatibel ist. Warum das so ist, wird im Folgenden erläutert. Gabriel wendet sich bei der Erörterung des problematischen Charakters der Motivation Kant zu. Tatsächlich gehört Kant zu denjenigen, die das Element der Motivation am Deutlichsten in den Mittelpunkt der Moral stellen. Dazu merkt Gabriel zu Recht an, dass Kant selbst die Unmöglichkeit einräumt, die wahren Motive des Handelns zu kennen, sodass eine sichere moralische Beurteilung der Handlungen im Grunde genommen nicht möglich ist. Tatsächlich behauptet Kant in der Kritik der reinen Vernunft: Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit [bzw. der reinen Vorstellung der Pflicht (F.M.)], wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments oder dessen glücklicher Beschaffenheit (merito fortunae) zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten.21

In diesem Sinne kommentiert Gabriel: Für Kant hängt alles davon ab, aus welchen Motiven man etwas getan hat, und nur eine einzige Motivlage entspricht wirklich dem, was wir tun sollen: dass man das, was man tut, nur deswegen tut, weil man es tun soll, ohne jegliche andere Absicht. […] Doch wie soll man in einer gegebenen Situation feststellen, warum man eine bestimmte Entscheidung trifft? Und wie stellt man dies im Nachhinein fest? Hier hilft uns Kant nicht weiter.22

Kant hat jedoch gute, systematische Gründe dafür, die Motivation als wesentliches Element bei der moralischen Beurteilung ins Zentrum zu bringen: Wenn eine bestimmte Handlung als Pflicht bezeichnet wird, so ist sie für unbedingt und universell notwendig erklärt. Das heißt, dass die so erklärte Handlung aus sich selbst heraus notwendig ist und nicht aufgrund eines Zwecks, der durch die intendierte Handlung erreicht werden könnte. Letzteres würde der Unbedingtheit bzw. Allgemeinheit des Gebots widersprechen. Aus Pflicht zu han21 Immanuel

Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 551/B 579 Fn., vgl. auch Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 407. 22 Gabriel, Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten (wie Anm. 1), 164.



Überlegungen zu Gabriels Begriff der moralischen Tatsache 295

deln, d. h. sittlich zu handeln kann demnach vom subjektiven Standpunkt aus nur bedeuten, dass das Motiv der Handlung nicht in irgendeinem Zweck liegen kann, den man durch die Handlung erreichen kann. Somit kann die Motivation beim sittlichen Handeln nur in der bloßen Vorstellung der Pflicht bzw. in der Achtung vor dem Gesetz, das in Form einer Pflicht ausgedrückt wird, liegen.23 Die Notwendigkeit, bei der moralischen Beurteilung das Motivationselement zu berücksichtigen, ist also von dem unbedingten und universellen Charakter der Pflicht direkt impliziert. Indem Gabriel auch im Zusammenhang mit dem Begriff von der moralischen Tatsache den unbedingten und universellen Charakter der Pflicht (in Anlehnung an Kant) verteidigt, scheint es mir nicht ganz praktikabel, die Motivation bei der moralischen Beurteilung im Rahmen des neuen moralischen Realismus zu vernachlässigen. * * * Die aufgezeigten Probleme in der Konzeption einer moralischen Tatsache – nämlich das Problem ihrer Erkenntnis und die damit zusammenhängende These eines moralischen Fortschritts (1), das Problem ihres Universalismus (2) und das damit verknüpfte Problem der Motivation (3) – scheinen mir die Darstellung des neuen moralischen Realismus in der jetzigen Fassung zu beeinträchtigen.

23 Vgl.

Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 400.

Gideon Stiening „Zeit für eine neue Aufklärung“? Markus Gabriels Plädoyer für „Moralischen Fortschritt in dunklen Zeiten“

Ich kann mir […] einen moralischen Politiker [denken], d. i. einen, der die Principien der Staatsklugheit so nimmt, daß sie mit der Moral zusammen bestehen können. Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden

‚Aufklärung‘ hat wieder Konjunktur. Nach 40 Jahren poststrukturalistischer Gegenaufklärung scheint sich das Blatt endgültig zu wenden. Da wird „Aufklärung jetzt“1 ebenso gefordert wie ein flammendes Plädoyer für eine „Dritte Aufklärung“ verfasst.2 Allerdings ist Vorsicht geboten: Auch die bisherigen Gegner der Aufklärung scheinen den neuen Zeitgeist zu wittern, und so wird eine „Legitimität der Aufklärung“ ausgerechnet anhand des Gegenaufklärers Friedrich Heinrich Jacobi begründet3 oder gar „Eine neue Philosophie der Aufklärung“ gefordert und im Ausgang von den Aufklärungskritikern Foucault und Adorno/Horkheimer umgesetzt.4 Als zeitgeistinduzierte Mode aber versandete das Projekt einer neuen Aufklärung im Unbestimmten. Markus Gabriel gehört mit seiner 2020 publizierten Forderung nach einer „neuen Idee einer globalen Aufklärung“ (309) erkennbar zur ersten Gruppe jener Theoretiker und Publizisten, die allein deshalb eine erstzunehmende Position einnehmen, weil sie mit den Mitteln der Aufklärung tatsächlich auf einen „Wandel durch Vernunft“ abzielen.5 Ob alle gewählten bzw. vorgeschlagenen Mittel vollständig zu überzeugen vermögen, soll hier zunächst weniger interes1 Steven

Pinkert, Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung, Frankfurt am Main 2018. 2 Michael Hampe, Die dritte Aufklärung, Berlin 2018. 3 Siehe hierzu Stefan Schick, Die Legitimität der Aufklärung. Selbstbestimmung der Vernunft bei Immanuel Kant und Friedrich Heinrich Jacobi, Frankfurt am Main 2019. 4 So Corine Pelluchon, Das Zeitalter des Lebendigen. Eine neue Philosophie der Aufklärung, Darmstadt 2021. 5 Vgl. hierzu Studie von Georg Schmidt, Wandel durch Vernunft. Deutsche Geschichte im 18. Jahrhundert, München 2009.

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sieren als die Tatsache, dass Gabriel allein darin ein durch und durch aufklärerisches Buch geschrieben hat, dass er sich zum einen offenbar eine kantische Maxime zu eigen gemacht hat, nach der Kritik als Reflexionsform von Wissenschaft und Aufklärung sich „alles unterwerfen muss“.6 Es sind nämlich insbesondere die kritischen Passagen und Auseinandersetzungen, in denen die besonderen Stärken der genuin aufklärerischen Perspektive Gabriels anschaulich und überzeugend zum Tragen kommen. Dabei bedient er sich einer der Aufklärung als streitbarer Rationalität genuin zukommenden Polemik,7 die der Austragung systematischer Differenzen überaus zuträglich ist; so heißt es im Zusammenhang einer Auseinandersetzung mit dem Kulturrelativismus Andreas Urs Sommers: „Das ist Unsinn“ (278). Dieses mehr klare als drastische Urteil wird allerdings präzise begründet und durch eine genaue und selbstreflexive „philosophische Kritik“ (276) der Thesen und Begründungen Sommers durchgeführt. Zum anderen – und das trägt ebenso wie die streitbare Kritik zum Eindruck bei, dass dieses Plädoyer für eine ‚neue Aufklärung‘ selbst aufklärerisch ist – bemüht sich Gabriel erkennbar und überzeugend um eine Argumentationsführung und Sprache, der eine Verständlichkeit eignet, die eine Leserschaft ansprechen kann, welche den engen Rahmen akademischer Debatten übersteigt. Gabriel bedient sich also einer bzw. bringt eine Form von „Popularphilosophie“ hervor, die – ohne jeden Populismus – nicht allein in die Universität, sondern in die Gesellschaft hineinwirken will – auch das ist Aufklärung. Sieht man näher zu, so zeigt sich, dass das Postulat nach der neuen Aufklärung schon zu Beginn des Bandes sowohl real- als auch ideenpolitisch begründet wird: Neben der Finanz- und der Klimakrise ist es vor allem die Corona-Krise, die Gabriel zu seinem Statement veranlasst hat; auch erkennt der Autor eine „Erosion der Grundfeste des demokratischen Rechtsstaates“ (25), eine Entfesselung des globalen Kapitalismus sowie die Antinomien der Digitalisierung. Darüber hinaus sind es der „postmodere Unsinn einer Identitätspolitik“, die „postfaktische Gefühlsduselei“ und die erneut auftretenden Rassismen, Nationalismen und eine neue Misogynie, die den Autor einerseits zu dem Fazit führen, wir lebten in „dunklen Zeiten“, aus denen andererseits nur eine neue Aufklärung hinausweisen könnte: „Wäre es angesichts der derzeitigen verschärften Krisenlage nicht höchste Zeit für eine neue Aufklärung?“ (16). Das klingt prima vista durchaus überzeugend; aber ist das ‚Projekt der Aufklärung‘ tatsächlich nur oder vor allem ein Instrument für „dunkle Zeiten“, mithin verschärfte Krisenlagen? Zu Recht unterschied schon Kant das „Zeitalter der Aufklärung“ von 6

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe hg. von Raymund Schmidt. Mit einer Bibliographie von Heiner Klemme, Hamburg 31990, A XI. 7 Siehe hierzu auch Gideon Stiening, Selbstermächtigung falscher Freunde? Zu Formen historiographischer Aufklärungskritik und deren Folgen, in: Daniela G. Camhy (Hg.), Enlightenment Today. Sapere aude! – Have Courage to Use Your Understanding, Baden-Baden 2020, 25 – 41.



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einem tatsächlich „aufgeklärten Zeitalter“.8 Zu letzteren, in dem die Menschheit noch nie wirklich lebte und schon gar nicht lebt, gehört aber u. a. die weltweite Durchsetzung des Rechtsstaates, ein Zustand, von dem wir noch immer weiter entfernt sind, der aber eine der entscheidenden Bedingungen der Ermöglichung eines ‚ewigen Friedens‘ ist und der als ständige Aufgabe der Aufklärung krisenunabhängig Geltung beansprucht.9 Kurz: Aufklärung ist nicht nur Instrument zur Krisenbewältigung, sondern notwendiger Zweck politischen Handelns überhaupt – und damit auch in ‚helleren Zeiten‘. Das zeigt sich insbesondere in der kritischen Auseinandersetzung mit dem sogenannten „Kulturrelativismus“, den Gabriel zu Recht als einen der gewichtigsten Gegner einer neuen globalen Aufklärung ausgemacht hat. Diese Analyse basiert auf der Annahme, dass alle rationale Normativität notwendig einen Universalismus in Geltung und Verbindlichkeit ihrer Werte ausbilden muss, um überhaupt verpflichtende Kraft ausüben zu können. Der Kulturrelativismus in seinen unterschiedlichsten Facetten bestreitet aber auch nur die Möglichkeit eines solchen Universalismus: Der auf einem schwammigen Kulturbegriff beruhende Wertepluralismus ist ein weit verbreiteter Widersacher des Universalismus. Grundsätzlich behauptet er, alle Werte, auch moralische seien letzten Endes Ausdruck einer Gruppenzugehörigkeit. (58)

Gabriel exemplifiziert diese Haltung an einer Fülle von Beispielen, die von Sarrazin über spezifische Formen der Religionsausübung bis hin zu Nietzsche, Heidegger und Carl Schmitt reichen, die allesamt Normativität überhaupt (sei sie nun ethischer, rechtlicher oder politischer Provenienz) an bestimmte Identitäten binden. Gabriel hätte auch XI Jinping nennen können, der bekanntermaßen die Ideen der Menschenrechte für eine europäische Erfindung und daher auf die chinesische Kultur für nicht nur nicht anwendbar hält, sondern die Forderungen nach ihrer universellen Gültigkeit und Umsetzung als Kulturimperialismus denunziert. Gabriel verdeutlich an diesen Beispielen erneut überzeugend, dass solcher Relativismus, der sich – Beispiel Nietzsche – zu einem Wertenihilismus verschärfen kann, nicht auf einem schlichten Denkfehler beruht, sondern von Interessen, nämlich den an der Durchsetzung eines ‚Rechts des Stärkeren‘, geleitet ist. Nicht wenige Teile der LGBTQ+-Aktivisten wie auch die der an Einfluss gewinnen Critical Race Theory, die die „Idee des Rechts“ zu einem Herrschaftsinstrument alter weißer Männer verunstaltet (zur Kritik hieran 110),10 müssen sich von dieser Kritik an einer identitätspolitischen Relativierung aller Werte getroffen fühlen – und es steht nur zu hoffen, dass sie eine sachliche Auseinandersetzung mit Gabriels Thesen suchen. 8 Immanuel

Kant, Was ist Aufklärung?, AA VIII, 40. Kant, Zum ewigen Frieden, AA VIII, 349 ff. 10 Siehe hierzu jetzt auch Doris Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus. Genealogie einer ambivalenten rechtlichen Kategorie, Frankfurt am Main 2021. 9 Immanuel

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Soweit zu den kritischen Dimensionen der Abhandlung, der man aus der hier als notwendig bewiesenen Sicht der Aufklärung – auch einer neuen – nahezu uneingeschränkt zustimmen kann und muss. Gabriel zeigt anschaulich und präzise – so in dem umfangreichen Kapitel zu Rassismus, Xenophobie und Misogynie –, welchen Umfang und welchen Differenzierungsgrad eine Aufklärung als Kritik entwickeln muss, der sich notwendig „alles unterwerfen muss“. Nicht allein die Theorie, sondern auch die gesellschaftliche und politische Praxis ist hierfür zu berücksichtigen. Wendet man sich nun den systematischen Voraussetzungen zu, dann fällt die Zustimmung nicht ebenso emphatisch aus: Ohne jeden Zweifel ist es für eine hinreichende Begründung und damit eine erfolgversprechende Wirkung aufklärerischer Normativität erforderlich, einen „Universalismus der Werte“ zu formulieren, um einem identitätspolitischen und jedem anderen Relativismus, der recht eigentlich – wie von Gabriel gezeigt – einem naturzuständlichen Recht des Stärkeren das Wort redet, entgegentreten zu können. Aber ist es für diesen Zweck notwendig und hinreichend, von „moralischen Tatsachen“ zu sprechen, sie gleichsam zu dekretieren bzw. zu postulieren? Gabriel behauptet gar eine „Ontologie der Werte (in Seinsweise und Existenz)“ (127) und damit offenkundig eine vom Menschen unabhängige Existenz und ausschließlich deshalb kulturhistorische Invarianz „universeller Werte“, die – und darauf wird mehrfach hingewiesen – „keiner göttlichen Unterstützung bedürfen“ (ebd.). Mag das Letztere durchaus als genuin aufklärerisches Konzept einer säkularen Ethik überzeugen, so scheint doch das Erstere, nämlich jene ‚Ontologie‘ universeller Werte eigentümlich in der Luft zu hängen. Denn gegründet wird diese These auf eine evolutionäre Anthropologie, die dafür Sorge trage, dass „es bei den allermeisten von uns eine angeborene Fähigkeit zur Empathie gibt“ (ebd.): Unsere moralischen Urteile und Werte hängen eng damit zusammen, dass unser Organismus Formen und Prozesse geerbt hat, die durch die Evolution der Arten auf unserem Planeten entstanden sind. Menschen sind unter anderem deswegen evolutionär erfolgreich und anderen Tieren strategisch durch ihre Intelligenz überlegen, weil sie moralische Gefühle (und damit die Grundlagen für ein Gewissen) haben. (127 f.)

Dazu ist zunächst festzuhalten, dass diese Annahme (sieht man mal von den evolutionstheoretischen Dimensionen ab) durchaus einer bestimmten Theorie der historischen Aufklärung entspricht; nicht nur Shaftesbury oder Adam Smith haben an der Formierung eines derartigen ethischen Emotionalismus gearbeitet und damit vor allem erreicht, die Ethik von theonomen Voraussetzungen zu befreien. Gleichwohl wünschte man sich für eine ethische Aufklärung des 21. Jahrhunderts, dass die kantische Kritik am moralischen Gefühl als Fundament moralischer Gesinnung und ethischer Urteile stärker berücksichtigt wor-



„Zeit für eine neue Aufklärung“? 301

den wäre.11 Aber nicht nur ein ethischer, auch ein rechtlicher Universalismus lässt sich – wie Kant ebenfalls nachgewiesen hatte – nicht aus einer empirischen Anthropologie ableiten: [E]‌ine Metaphysik der Sitten kann nicht auf Anthropologie gegründet, aber doch auf sie angewandt werden.12

Sowohl eine evolutionäre Anthropologie als auch eine daraus entwickelte Theo­rie des moralischen Gefühls blieben im Kern empirische Wissenschaften, die daher auch höchstens eine empirische Allgemeinheit ausbilden können, welche Kant zu Recht deshalb als „kümmerlich“ bezeichnete,13 weil sie auf dem Felde der Normativität keine hinreichende Geltung und Verbindlichkeit generieren könne. Ein Universalismus der Werte muss also anders begründet werden. Auch Gabriels zentrale These, nach der die Substanz einer neuen globalen Aufklärung in einem „moralischen Fortschritt“ der Menschheit bestehe und nur bestehen könne, scheint mir im Lichte einer kantischen Kritik an einer solchen Konzeption durchaus einer neuerlichen Prüfung wert zu sein. Gabriel hat dieses fundamentum inconcussum seines Plädoyers für die Notwendigkeit einer neuen Aufklärung präzise und scharf formuliert: Die neue Aufklärung fordert deswegen, die Idee moralischen Fortschritts an die oberste Spitze unserer gesamtgesellschaftlichen Zielstruktur zu setzen und die Teilsysteme Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft in diesem Licht zu gestalten. (271)

Immanuel Kant hatte aber im Streit der Fakultäten allein die fundierende Vorstellung Gabriels, dass der Fortschritt der Menschheit in einem stetigen Anwachsen der moralischen Qualitäten des Menschen bestünde, energisch zurückgewiesen: Daß die Masse des unserer Natur angearteten Guten und Bösen in der Anlage immer dieselbe bleibe, und in demselben Individuum immer dieselbe bleibe, und in demselben Individuum weder vermehrt noch vermindert werden könne, mag immer eingeräumt werden; – und wie sollte sich auch dieses Quantum des Guten in der Anlage vermehren lassen, da es durch die Freiheit des Subjekts geschehen müsste, wozu dieses aber wiederum eines größeren Fonds des Guten bedürfen würde, als es einmal hat? – Die Wirkungen können das Vermögen der wirkenden Ursache nicht 11

Vgl. u. a. AA V, 74 f. Kant, Metaphysik der Sitten, AA VI, 217. 13 „Alles scheinbare Vernünfteln a priori ist hier im Grund nichts als durch Induktion zur Allgemeinheit erhobene Erfahrung, welche Allgemeinheit (secundum principia generalia non universalia) noch dazu so kümmerlich ist, dass man einem jeden unendlich viel Ausnahmen erlauben muss, um jene Wahl seiner Lebensweise seiner besonderen Neigung und seiner Empfänglichkeit für die Vergnügen anzupassen, und am Ende nur durch seinen, oder anderer ihren, Schaden klug zu werden“ (AA VI, 215 f.). 12 Immanuel

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übersteigen; und so kann das Quantum des mit dem Bösen im Menschen vermischten Guten ein gewisses Maß des letzteren nicht überschreiten.14

Mit einer dem Rationalismus entstammenden These, nach der eine Wirkung nicht mehr in sich enthalten könne als ihre Ursache, wird die Annahme, dass der Mensch im Fortgang der Geschichte moralischer werden könnte, strikt zurückgewiesen; nicht pragmatische oder skeptische Argumente wendet Kant zur Widerlegung des geschichtsphilosophischen Eudämonismus auf, sondern einen rationalen Beweis der traditionellen Metaphysik.15 Schon die ontologischen Voraussetzungen der Annahme einer sittlichen Fortschrittsgeschichte der Menschheit sind nach Kant also haltlos. Es geht mir mit der Aufführung dieser kantischen Kritik an einer Idee des moralischen Fortschritts nicht darum, Gabriels engagiertes und in vielen Momenten überzeugendes Plädoyer für eine neue Aufklärung zu zerfleddern; gleichwohl scheint es mir – auch im Hinblick auf die sicher anstehenden Auseinandersetzungen mit den Kritikern und Verächtern der Aufklärung – erforderlich, solcherart Einsichten Kants zu berücksichtigen. Fortschritt kann es nach Kant – wie mir scheint zu Recht – nicht in moralischer, d. h. hier ethischer Hinsicht geben, wohl aber in politischer und damit rechtlicher Hinsicht, insofern die globale Durchsetzung von Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit – und zwar innerhalb der einzelnen Staaten als auch im Hinblick auf die internationalen Beziehungen – sich solcherart kluger Politik bedienen sollte, die sie zu nichts anderem als einer „ausübenden Rechtslehre“ macht.16 Markus Gabriel hat ein engagiertes, gut lesbares und kluges Buch zu einer künftigen Aufklärung geschrieben, das vor allem in kritischer Hinsicht in vielfältiger Hinsicht anschlussfähig ist. Dass womöglich in systematischer Hinsicht – auch und vor allem durch eine stärker als bisher erfolgte – Berücksichtigung kantischer Einsichten noch weiterer Fortschritt zu erzielen ist, tut diesem Urteil keinen Abbruch. Steht also zu hoffen, dass sich vor allem die Gegner und Verächter der Aufklärung mit diesem aufrüttelnden Buch beschäftigen.

14 Immanuel

Kant, Der Streit der Fakultäten, AA VII, 81. hierzu u. a. Baruch de Spinoza, Descartes’ Prinzipen der Philosophie auf geometrische Weise begründet. Anhang, enthaltend metaphysische Gedanken, hg. von Wolfgang Bartuschat, Hamburg 1987, 26 f. 16 AA VIII, 370. 15 Vgl.

Roberta Pasquarè Der Neue Moralische Realismus und Ethische Dilemmata Ein Deutungsversuch in vier Fragen

In seinem 2020 erschienenen Buch Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert präsentiert Markus Gabriel einen ethischen Ansatz, den er als Neuen Moralischen Realismus bezeichnet. Das zweite Kapitel trägt den Titel Warum es moralische Tatsachen, aber keine ethischen Dilemmata gibt und bildet den Gegenstand des vorliegenden Beitrags. Genauer gesagt wird im Folgenden versucht, die Positionen des Neuen Moralischen Realismus in Bezug auf ethische Dilemmata zu beleuchten. Zu diesem Zweck gilt es deutlich zu machen, wie der Neue Moralische Realismus die Fragen beantwortet, was ethische Dilemmata sind, ob ethische Dilemmata überhaupt vorkommen und wie die entsprechenden Handlungsoptionen moralisch zu beurteilen sind. Von der Absicht geleitet, durch diesen Beitrag einen philosophischen Dialog zu reproduzieren, werden die hier gemachten Deutungsversuche als Fragen präsentiert.1 In der Einleitung wird der Begriff eines ethischen Dilemmas wie folgt definiert: Ein ethisches Dilemma besteht darin, dass uns mehrere Handlungsoptionen zur Verfügung stehen, die allerdings dazu führen, dass wir das moralisch Gebotene nicht erfüllen können. Tun wir in einem Dilemma etwas Gutes, unterlassen wir in solch einem Fall automatisch etwas anderes Gutes und tun somit etwas moralisch Falsches.2

Um diese Begriffsbestimmung zu beleuchten, muss man die Termini erklären, die sie ausmachen. Diese sind das moralisch Gebotene, eine gute Handlung, die Unterlassung einer guten Handlung und das moralisch Falsche. Auf Seite 103 ist zu lesen, dass „menschliche Handlungen sich in drei Kategorien einteilen lassen […]: das Gute, das Neutrale und das Böse“. Das Gute, das Neutrale und das Böse werden wiederum auf S. 43 f. definiert: Das Gute ist das moralisch schlichtweg Gebotene, d. h. was man in einer gegebenen Situation tun soll. Da es das mora1 Es

geht um vier Fragen, die als F1, F2, F3, und F4 gekennzeichnet sind. Gabriel, Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert, Berlin 32020, 19. 2 Markus

Aufklärung 34 · © Felix Meiner Verlag 2022 · ISSN 0178-7128

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lisch Notwendige und jede Alternative zu ihm schlechter als es selbst ist, darf man es nicht unterlassen. Das Böse ist das moralisch schlichtweg Verbotene oder Verwerfliche, d. h. was man in einer gegebenen Situation unterlassen soll. Das Neutrale ist das Erlaubte, d. h. was man in einer gegebenen Situation tun darf, ohne es zu sollen.3 Wenn man die Begriffsbestimmung eines ethischen Dilemmas unter Zugrundelegung dieser Definitionen des Guten, des Bösen und des Neutralen liest, ergibt sich folgende Deutungsmöglichkeit: Es liegt ein ethisches Dilemma vor, wenn eine gute Handlung nur unter der Bedingung der Unterlassung einer anderen guten Handlung erfolgen kann. Da die Unterlassung einer guten Handlung eine verbotene und somit böse Handlung ist, ist eine gute Handlung, sofern sie nur durch die Unterlassung einer anderen guten Handlung und somit durch die Ausführung einer bösen Unterlassungshandlung erfolgen kann, selbst böse. Folglich ist ein ethisches Dilemma eine Handlungssituation, in der eine gute Handlung nur unter der Bedingung der Ausführung einer bösen Unterlassungshandlung erfolgen kann und somit selbst böse ist. Für das handelnde Subjekt bedeutet dies, dass keine moralisch gute Handlungsoption zur Verfügung steht. Tut es die gute Handlung A, erfolgt diese nur unter der Bedingung der Unterlassung der guten Handlung B und somit der Ausführung einer bösen Unterlassungshandlung. Tut es die gute Handlung B, erfolgt diese nur unter der Bedingung der Unterlassung der guten Handlung A und somit der Ausführung einer bösen Unterlassungshandlung. In einer solchen Handlungssituation ist das handelnde Subjekt nicht nur außerstande, das moralisch Gebotene zu erfüllen, da die Ausführung einer jeden guten Handlung nur unter der Bedingung der Ausführung einer bösen Unterlassungshandlung erfolgt. Es kann nicht umhin etwas Böses in der Form einer bösen Unterlassungshandlung zu tun. Diese Deutungsmöglichkeit scheint durch folgende Passage bestätigt: „Ein echtes Dilemma bestünde darin, dass man nur dadurch das Richtige tun kann, 3 Der

genaue Wortlaut der Definition des moralisch Erlaubten lautet folgendermaßen: „Das moralisch Erlaubte ist all das, was man in einer gegebenen Situation tun kann, ohne es zu sollen oder zu müssen“ (ebd., 43). Diese Definition wurde hier an zwei Stellen modifiziert, um den entsprechenden Gedankengang möglichst präzise wiederzugeben. Erstens wurde ‚kann‘ durch ‚darf‘ ersetzt. Diese Modifikation liegt im Lichte einer Passage nahe, in der steht, dass „nur dann etwas erlaubt ist, wenn man es tun oder unterlassen darf “ (ebd.; Hvhg. R.P.). Zweitens wurde der Bezug auf Handlungen, die man nicht tun muss, entfernt. Während aus der Behandlung ersichtlich wird, dass ‚sollen‘ sich auf Handlungen unter dem moralischen Aspekt bezieht, wird nicht eigens erörtert, welchen Aspekt ‚müssen‘ ausdrückt. Im Rahmen einer Behandlung moralischer Begriffe, wie es hier der Fall ist, ist die Auslassung des Bezugs auf Handlungen, die man nicht tun muss, sofern sie durch eine andere Normativität als die moralische beurteilt werden, dadurch begründet, dass die zwei Pole des Gebotenen („was man in einer gegebenen Situation tun soll“; ebd.) und des Verbotenen („was man in einer gegebenen Situation unterlassen soll“; ebd., 44) durch die Verwendung von ‚sollen‘ und nicht auch unter Rekurs auf ‚müssen‘ definiert werden.



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dass man zugleich in einer anderen Hinsicht das Falsche tut“.4 Die Präzisierung „das Richtige, sprich das Gute“5 bestätigt, dass das Richtige, um das es hier geht, das Gute, d. h. das moralisch Gebotene, und das Falsche das Böse, d. h. das moralisch Verbotene ist. Zudem spricht für die vorgeschlagene Deutungsmöglichkeit die Definition von „wirklichen ethischen Dilemmata [als] unauflösbaren Situationen, in denen wir unvermeidlich moralisch schuldig werden, weil jede Option, die wir ergreifen, moralisch verwerfliche Konsequenzen hat.“6 In Bezug auf die Begriffsbestimmung eines ethischen Dilemmas ergeben sich nun vier Fragen. Die erste (F1) ist, ob die hier vorgeschlagene Deutungsmöglichkeit (ein ethisches Dilemma ist eine Handlungssituation, in der eine jede gute Handlung nur unter der Bedingung der Ausführung einer bösen Unterlassungshandlung erfolgen kann und dadurch selbst böse ist) korrekt ist. Entspricht diese Deutung der Begriffsbestimmung eines ethischen Dilemmas, wie sie in Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten gemeint ist? Die zweite Frage (F2) ist, ob ethische Dilemmata selten, wie mit der Aussage „Härtefälle wie ethische Dilemmata sind selten“7 behauptet wird, oder niemals vorkommen, wie die These des zweiten Kapitels Warum es […] keine ethischen Dilemmata gibt lautet.8 Kommen ethische Dilemmata selten oder niemals vor? Die zwei Aussagen (A) „ethische Dilemmata sind selten“ und (B) „es gibt keine ethischen Dilemmata“ scheinen auf den ersten Blick widersprüchlich zu sein, weil die Existenz von Dilemmata durch (A) bejaht und durch (B) verneint wird. Folgender Deutungsvorschlag könnte den Widerspruch auflösen und die zwei Aussagen miteinander vereinbar machen. In seltenen Fällen ergeben sich Handlungssituationen, die unter Anwendung anderer ethischer Ansätze als des Neuen Moralischen Realismus als ethische Dilemmata gelten. Anders ausgedrückt: Es kommen Handlungssituationen vor, die nach anderen Ansätzen als dem Neuen Moralischen Realismus ethische Dilemmata sind, und solche Handlungssituationen kommen selten vor. Wenn dieser Deutungsvorschlag der Auffassung des Neuen Moralischen Realismus entspricht, können die Aussagen (A) und (B) wie folgt modifiziert und miteinander vereinbar gemacht werden: (A1) „Handlungssituation, die nach anderen Ansätzen als dem Neuen Moralischen Realismus 4

Ebd., 121 f. 98. Die vollständige Passage lautet wie folgt: „Wären unsere alltäglichen Situationen moralisch unauflösbar, von Dilemmata geprägt, wäre es unmöglich, absichtsvoll das Richtige zu tun. Wenn wir dann doch einmal das Richtige, sprich das Gute täten, wäre dies reiner Zufall in einer komplexen Lage“ (Hvhg. R.P.). 6 Ebd., 97. 7 Ebd., 19. 8 Zweck des Kapitels ist darzulegen, „dass es bei genauerer Betrachtung keine wirklichen ethischen Dilemmata, also keine unauflösbaren Situationen gibt, in denen wir unvermeidlich moralisch schuldig werden, weil jede Option, die wir ergreifen, moralisch verwerfliche Konsequenzen hat“ (ebd., 97). 5 Ebd.,

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ethische Dilemmata sind, sind selten“; (B1) „keine Handlungssituation ist nach dem Neuen Moralischen Realismus ein ethisches Dilemma“. Als Hinweis auf die Richtigkeit dieser Deutungsmöglichkeit steht der Umstand, dass die Adjektive „wirklich“ und „echt“ der Definition eines ethischen Dilemmas an zwei Stellen vorausgehen. An der einen Stelle ist zu lesen „dass es bei genauerer Betrachtung keine wirklichen ethischen Dilemmata […] gibt“.9 Die andere Stelle lautet wie folgt: „Ein echtes Dilemma bestünde darin, dass man nur dadurch das Richtige tun kann, dass man zugleich in einer anderen Hinsicht das Falsche tut […].“10 Der Gebrauch der Adjektive „wirklich“ und „echt“ scheint darauf hinzudeuten, dass die ethische Beurteilung ein und derselben Handlungssituation je nach ethischem Ansatz unterschiedlich ausfällt. Zudem sind Versuche, echte von schienbaren ethischen Dilemmata zu unterscheiden, Bestandteil der ethischen und metaethischen Literatur. Adoptiert man den Neuen Moralischen Realismus, liegt niemals ein ethisches Dilemma vor; adoptiert man andere Ansätze, scheinen einige selten vorkommende Handlungssituationen ethische Dilemmata zu sein. Mit anderen Worten: Ethische Dilemmata, d. h. Handlungssituationen, in denen das handelnde Subjekt nicht umhin kann eine böse Handlung zu tun, bestehen nur sofern andere Ansätze als der Neue Moralische Realismus adoptiert werden. Handlungssituationen, die, sofern sie nach anderen Ansätzen als dem Neuen Moralischen Realismus beurteilt werden, ethische Dilemmata sind, werden von Tragödien unterschieden. Worin eine tragische Handlungssituation besteht, wird wie folgt beschrieben: „Wenn man überhaupt nur das Falsche tun kann, also zwischen mehreren Übeln wählen muss, ist dies kein moralisches Dilemma, sondern eine echte Tragödie.“11 Wenn das Falsche, wie oben erklärt, das Böse, d. h. das moralisch Verbotene, und die mehreren Übel, wie der Satzbau nahelegt, Optionen zwischen bösen Handlungen sind, dann ist eine Tragödie eine Handlungssituation, in der man nicht umhin kann, eine böse Handlung zu tun. Wenn diese Deutung korrekt ist, setzt hier die dritte Frage (F3) an: Worin liegt der Unterschied zwischen einer Tragödie und einem ethischen Dilemma? Die Stelle, in die der Hinweis auf den Unterschied zwischen einer Tragödie und einem ethischen Dilemma eingebettet ist, leitet in die Behandlung von Handlungssituationen ein, die nach anderen Ansätzen als dem Neuen Moralischen Realismus ethische Dilemmata ausmachen. Diese Behandlung ermöglicht der vierten Frage (F4) nachzugehen: Worin besteht die Leistung des Neuen Moralischen Realismus in Bezug auf ethische Dilemmata? In Moralischer Fortschritt werden mehrere Fallbeispiele erörtert. Aus Platzgründen sei hier nur das Fallbeispiel eines Triage-Szenarios thematisiert. Dieses wird wie folgt präsentiert: 9 Ebd.;

Hvhg. R.P. 121 f.; Hvhg. R.P. 11 Ebd., 122. 10 Ebd.,



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Wenn es darauf ankommt auszuwählen, welche Menschenleben angesichts knapper Ressourcen […] gerettet werden sollen, ist eine Ärztin […] mit der Frage konfrontiert, wem sie zuerst hilft […]. Faktisch ist diese Situation unerträglich, weil jede Entscheidung, die getroffen wird, moralisch letztlich verwerflich ist.12

Das Szenario scheint der in Moralischer Fortschritt präsentierten Begriffsbestimmung eines ethischen Dilemmas zu entsprechen: Tut die Ärztin die gute Handlung A, erfolgt diese nur unter der Bedingung der Ausführung der bösen Unterlassungshandlung B (um den Menschen A zu retten, lässt sie den Menschen B sterben). Tut die Ärztin die gute Handlung B, erfolgt diese nur unter der Bedingung der Ausführung der bösen Unterlassungshandlung A (um den Menschen B zu retten, lässt sie den Menschen A sterben). Diese Handlungssituation bildet zudem die in der einschlägigen Literatur allgemein akzeptierte Definition eines ethischen Dilemmas ab. „Exemplarisch ist die Definition von Ch. W. Gowans“:13 A moral dilemma is a situation in which an agent S morally ought to do A and morally ought to do B but cannot do both, either because B is just not-doing A or because some contingent feature of the world prevents doing both.14

Die Encyclopedia of Ethics bestätigt diese Definition: The standard definition is that moral dilemmas are situations in which an agent morally ought to adopt each of two (or more) alternatives separately but cannot adopt both (or all) of them together. […] This definition covers situations [in which] an agent cannot avoid violating some moral requirement that is not overridden.15

Von Terrance McConnell stammt außerdem eine Definition, die aufgrund der vorgenommenen Abstraktion vom individuellen Glauben mit dem universalistischen Charakter des Neuen Moralischen Realismus kompatibel ist:

12 Ebd.,

121. Peter Brune, Dilemma, in: Markus Düwell, Christoph Hübentahl, Micha H. Werner (Hg.), Handbuch Ethik, Stuttgart, Weimar 2001, 331‒337, hier 332. 14 Christopher W. Gowans, Introduction, in: ders. (Hg.), Moral Dilemmas, Oxford 1987, 3‒33, hier 3. 15 Walter Sinnott-Armstrong, Moral Dilemmas, in: Lawrence C. Becker, Charlotte B. Becker (Hg.), Encyclopedia of Ethics, New York, London 2001, 1125‒1127, hier 1125 f. In Übereinstimmung mit dieser Definition hatte Sinnott-Armstrong bereits über 30 Jahre zuvor ethische Dilemmata als Situationen definiert, „where there is a moral requirement for an agent to adopt each of two incompatible alternatives and where neither moral requirement overrides the other (because they are equal or incomparable)“, vgl. ders., Moral Realism and Moral Dilemmas, in: The Journal of Philosophy 84 (1987), 263‒276, hier 265 (Hvhg. R.P.). Wie es in Kürze zu sehen sein wird, besteht das Problem auch nach dem Neuen Moralischen Realismus im Umstand, dass die Menschenleben, mit denen es das handelnde Subjekt im Triage-Szenario zu tun hat, sich deswegen einem Vergleich entziehen, weil sie gleichwertig sind – sie sind ‚equal‘ und daher ‚incomparable‘. 13 Jens

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A moral dilemma is a situation […] in which a person ought to do A, ought to do B, and cannot do both A and B. In order for a moral conflict to count as a genuine dilemma, the conflicting obligations or moral requirements must at least be such that neither overrides the other. […] Also, genuine moral dilemmas are ontological, not merely epistemic; the truth of the conflicting oughtstatements is independent of the agent’s beliefs.16

Dass das Triage-Szenario einem ethischen Dilemma entspricht, scheint zudem durch den abschließenden Kommentar bestätigt: „Faktisch ist diese Situation unerträglich, weil jede Entscheidung, die getroffen wird, moralisch letztlich verwerflich ist.“17 Die anschließende Ausführung lehnt aber diese Entsprechung ab: Das ist aber eben deswegen kein moralisches Dilemma, weil es in diesem Szenario unmöglich ist, das Richtige zu tun. Ein echtes Dilemma bestünde darin, dass man nur dadurch das Richtige tun kann, dass man zugleich in einer anderen Hinsicht das Falsche tut, was hier nicht der Fall ist. Wenn man überhaupt nur das Falsche tun kann, also zwischen mehreren Übeln wählen muss, ist dies kein moralisches Dilemma, sondern eine echte Tragödie.18

Es besteht also ein Deutungsproblem: Ein Szenario, das der allgemein akzeptierten und vom Neuen Moralischen Realismus übernommenen Begriffsbestimmung eines ethischen Dilemmas zu entsprechen scheint, ist nach dem Neuen Moralischen Realismus kein Dilemma. Hier setzt die oben erwähnte vierte Frage (F4) an: Worin besteht die Leistung des Neuen Moralischen Realismus in Bezug auf ethische Dilemmata? Um dieser Frage nachzugehen und das einschlägige Deutungsproblem zu lösen, sei hier folgender Deutungsversuch gemacht. In der soeben zitierten Passage werden das Triage-Szenario und die verfügbaren Handlungsoptionen aus drei verschiedenen ethischen Perspektiven gedeutet und beurteilt. Deutet man das Szenario als ethisches Dilemma, beurteilt man jede verfügbare Handlungsoption als moralisch falsch, weil „man nur dadurch das Richtige tun kann, dass man zugleich in einer anderen Hinsicht das Falsche tut“. Diese Deutung scheidet aber aus, weil dies „hier nicht der Fall ist“. Deutet man das Szenario als Tragödie, beurteilt man jede verfügbare Handlungsoption als moralisch falsch, weil man „zwischen mehreren Übeln wählen muss“. Diese 16 Terrance

C. McConnell, Moral Residue and Dilemmas, in: H. E. Mason (Hg.), Moral Dilemmas and Moral Theory, New York, Oxford 1996, 36‒47, hier 36. McConnell unterscheidet außerdem echte von scheinbaren Dilemmata: „If the situation is genuinely dilemmatic, then one is presented with two conflicting ought-claims and no further moral consideration is relevant to resolving the conflict. By contrast, a situation is merely apparently dilemmatic if two oughtclaims conflict, but there are overriding moral reasons for acting on one rather than the other“, vgl. ders., Moral Dilemmas and Consistency in Ethics, in: Canadian Journal of Philosophy 8 (1978), 267‒287, hier 271. 17 Gabriel, Moralischer Fortschritt (wie Anm. 2), 121. 18 Ebd., 121 f.; Hvhg. R.P.



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Deutung scheidet ebenso aus, denn „wir befinden uns nicht in einer groß angelegten Tragödie, in der wir alle […] schuldig werden, sondern in einer komplexen Lage, die ein systematisches Umdenken erfordert, aber uns ethisch richtige Entscheidungen nicht verunmöglicht“.19 Obwohl es also „in diesem Szenario unmöglich ist, das Richtige zu tun“, muss es eine dritte Deutungsmöglichkeit geben, die „ein systematisches Umdenken fordert“, sodass die „ethisch richtige Entscheidung […] nicht verunmöglicht“ wird. Diese dritte Deutung ist unter Anwendung der Perspektive des Neuen Moralischen Realismus möglich. Laut dem Neuen Moralischen Realismus ist es zwar unmöglich, im Triage-Szenario das Richtige zu tun, aber dies bedeutet nicht, dass das handelnde Subjekt moralisch schuldig wird. Die Handlungsoptionen bleiben zwar unverändert, weil eine jede gute Handlung nur unter der Bedingung einer bösen Unterlassungshandlung erfolgt. Auch erhalten sie nach wie vor ein negatives moralisches Urteil, „weil es in diesem Szenario unmöglich ist, das Richtige zu tun“. Das moralische Urteil fällt aber dadurch anders aus, dass das handelnde Subjekt eben deswegen keine moralische Schuld an seinen unvermeidlich bösen Handlungen trägt, „weil es in diesem Szenario unmöglich ist, das Richtige zu tun“. Gerade daraus also, dass es in einem Triage-Szenario unmöglich ist, das Richtige zu tun, folgt, dass jede Handlungsoption moralisch böse und das handelnde Subjekt moralisch unschuldig ist. In diese Richtung scheint sich die weitere Auseinandersetzung mit dem Triage-Szenario zu bewegen: Wenn jemand, der dazu imstande ist und sogar dafür eingesetzt wird, Menschen das Leben zu retten, wählen muss, welchen der eintreffenden Menschen er zuerst retten soll, kann diese Entscheidung nicht vollständig durch moralische Gründe abgedeckt sein, weil auf jeden Fall der Wert eines Lebens mit dem Wert eines anderen Lebens verglichen wird. Doch die damit einhergehende moralische Schuld liegt nicht auf den Schultern der Ärztin, da diese die Knappheit der Ressourcen nicht zu verantworten hat.20

Der Gedankengang des ersten Absatzes kann folgendermaßen ausformuliert werden: Da der Wert des Menschenlebens das höchste Kriterium der moralischen Beurteilung der verfügbaren Handlungsoptionen ist, aber jedes Menschleben den gleichen Wert hat,21 gibt es kein hinreichendes moralisches Krite19

Ebd., 97. Um den Kontext, in den das Zitat eingebettet ist, möglichst eindeutig wiederzugeben, sei die vollständige Stelle zitiert: „In diesem Kapitel werde ich darlegen, dass es bei genauerer Betrachtung keine wirklichen ethischen Dilemmata, also keine unauflösbaren Situationen gibt, in denen wir unvermeidlich moralisch schuldig werden, weil jede Option, die wir ergreifen, moralisch verwerfliche Konsequenzen hat. […] Nein, wir befinden uns nicht in einer groß angelegten Tragödie, in der wir alle, wie Ödipus, wider Willen und trotz bester Anstrengung schuldig werden, sondern in einer komplexen Lage, die ein systematisches Umdenken erfordert, aber uns ethisch richtige Entscheidungen nicht verunmöglicht“ (96 f.). 20 Ebd., 122. 21 Hierauf scheint die Erklärung hinzudeuten, dass „auf jeden Fall der Wert eines Lebens mit dem Wert eines anderen Lebens verglichen wird“.

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rium, um ein Menschenleben Priorität vor einem anderen Menschenleben zu geben.22 Doch kann die Ärztin nicht umhin, ein Menschenleben einem anderen Menschenleben vorzuordnen und damit eine Handlung zu tun, mit der, wie im zweiten Absatz erklärt wird, moralische Schuld einhergeht. Einem Menschenleben Priorität vor einem anderen Menschenleben zu geben ist also moralisch böse, weil es um Entscheidungen geht, „die sich […] moralisch letztlich nicht vertreten lassen“.23 Aber „die damit einhergehende moralische Schuld liegt nicht auf den Schultern der Ärztin“, weil sie keine Verantwortung für die Entstehung der Handlungssituation trägt, „da diese die Knappheit der Ressourcen nicht zu verantworten hat“. Die Frage F4 lautet also: Entspricht dieser Deutungsversuch der Auffassung des Neuen Moralischen Realismus? Wenn die hier vorgeschlagene Deutung stimmt, ergibt sich die weitere Frage (F4a), ob der Neue Moralische Realismus Folgendes behauptet: Sowohl nach dem Neuen Moralischen Realismus als auch nach anderen ethischen Ansätzen gibt es Handlungssituationen, in denen es unmöglich ist, das Richtige zu tun. Ein Triage-Szenario ist ein Beispiel für eine solche Handlungssituation. Dennoch stellt der Neue Moralische Realismus „ein systematisches Umdenken“ dar, das auch in einer solchen Situation „ethisch richtige Entscheidungen“ ermöglicht. Das systematische Umdenken scheint in der Erweiterung des Gegenstands der moralischen Beurteilung zu bestehen. Während die Vertreter anderer moralischer Ansätze nur die verfügbaren Handlungsoptionen beurteilen, beurteilen die Vertreter des Neuen Moralischen Realismus sowohl die verfügbaren Handlungsoptionen als auch die Rolle des handelnden Subjekts bei der Entstehung der Handlungssituation selbst. Werden nur die verfügbaren Handlungsoptionen beurteilt, überträgt man ihre unvermeidliche moralische Falschheit auf das handelnde Subjekt in Form von unvermeidlicher moralischer Schuld. Auf diese Weise ist jegliches moralisches Gelingen: Egal welche Handlung man tut, ist es unmöglich, sie als ethisch richtige Entscheidung zu beurteilen. Beurteilt man aber sowohl die verfügbaren Handlungsoptionen als auch die Verantwortung des handelnden Subjekts bei der Entstehung der Handlungssituation, und urteilt man, dass das handelnde Subjekt für die Entstehung der Handlungssituation nicht verantwortlich ist, trägt das handelnde Subjekt keine Schuld an der zur Ausführung einer guten Handlung notwendigen bösen Unterlassungshandlung. Auf diese Weise ist moralisches Gelingen für das handelnde Subjekt möglich: Es ist möglich, eine gute Handlung, die nur unter der Bedingung der Ausführung einer bösen Unterlassungshandlung erfolgt, als ethisch richtige Entscheidung zu beurteilen. Es kann also moralische Falschheit ohne moralische Schuld geben: Man kann unter Umständen eine moralisch falsche Handlung tun, ohne 22 Hierauf

scheint die Aussage hinauszulaufen, dass „diese Entscheidung nicht vollständig durch moralische Gründe abgedeckt sein [kann]“. 23 Ebd., 122.



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deswegen moralisch schuldig zu werden. Mit anderen Worten: Man kann zwar eine moralisch gute Handlung, die nur unter der Bedingung einer moralisch bösen Unterlassungshandlung erfolgt, nicht als gut beurteilen (es ist in diesem Szenario unmöglich, das Richtige, d. h. das moralisch Gute zu tun). Aber daraus erwächst dem handelnden Subjekt keine moralische Schuld, sofern es für die Entstehung der Handlungssituation nicht verantwortlich ist. In diesem Szenario, in dem es unmöglich ist das Richtige zu tun, wird also die ethisch richtige Entscheidung möglich. Die Leistung des Neuen Moralischen Realismus besteht nicht darin, neue verfügbare Handlungsoptionen in Aussicht zu stellen oder die verfügbaren neu zu beurteilen. Sie besteht darin, dass er diese als ethisch richtige Entscheidungen beurteilt, sofern das handelnde Subjekt keine Verantwortung für die Entstehung der Handlungssituation trägt. Je nachdem also, ob der Fokus der moralischen Beurteilung nur auf den verfügbaren Handlungsoptionen (wie es bei anderen ethischen Ansätzen der Fall ist) oder sowohl auf diesen als auch auf der Verantwortung des handelnden Subjekts für die Entstehung der Handlungssituation (wie es beim Neuen Moralischen Realismus der Fall ist) liegt, fällt das moralische Urteil über dieselbe Handlungssituation und dieselben Handlungsoptionen anders aus: unvermeidliches ethisches Misslingen im ersten und mögliches ethisches Gelingen für das handelnde Subjekt im zweiten Fall. Die Frage (F4a) lautet also: Besteht die Leistung des Neuen Moralischen Realismus in Bezug auf ethische Dilemmata am exemplarischen Beispiel eines Triage-Szenarios darin, „Entscheidung, die […] letztlich moralisch verwerflich“ sind, als „ethisch richtige Entscheidungen“ zu beurteilen, sofern das handelnde Subjekt die Entstehung der Handlungssituation „nicht zu verantworten hat“? Obwohl es in einem Triage-Szenario unmöglich ist, das Richtige zu tun, muss die Ärztin sich für eine Handlungsoption entscheiden. Und, obwohl die Ärztin, sofern sie für die Entstehung der Handlungssituation nicht verantwortlich ist, keine moralische Schuld trägt, trägt sie doch die Verantwortung der und für die Entscheidung, weil diese nicht moralisch neutral (d. h. weder gut bzw. moralisch geboten noch böse bzw. moralisch verboten) ist. Es liegt nahe anzunehmen, dass folgende Passage genau dieses Problem anspricht: Deswegen werden durch entsprechende Kommissionen Leitlinien herausgegeben, die der Ärztin, deren Ziel es immer sein wird, alle Menschenleben zu retten, helfen sollen, Entscheidungen auf der Basis eines bürokratisch legitimierten Dokuments zu treffen. Das entlastet sie psychologisch von der ungeheuren Verantwortung, sodass wir es ihr zumuten können, Handlungen auszuführen, die so schnell wie möglich getroffen werden müssen, die sich aber moralisch letztlich nicht vertreten lassen.24

Wenn man einmal festhält, dass die Ärztin eine moralisch nicht neutrale Handlung ausführen soll, „die sich aber moralisch letztlich nicht vertreten [lässt]“, wirft die Rolle der erwähnten Kommissionen einige systematische Fragen in 24 Ebd.

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Bezug auf die entsprechende Auffassung des Neuen Moralischen Realismus auf. Es sei hier nur eine (F4b) gestellt. Besteht die Tätigkeit der Kommission darin, allgemeine Prinzipien anzugeben, kommt es der Ärztin zu, diese anzuwenden. Fasst man die Anwendung so auf, dass sie von der Ärztin Abwägungen moralischer Natur erfordert, dann ist die Ärztin psychologisch kaum entlastet, weil sie „so schnell wie möglich“ ihre moralische Urteilskraft ausüben müsste. Fasst man die Anwendung so auf, dass sie von der Ärztin lediglich Abwägungen technischer Natur erfordert, dann erübrigt sich jegliche moralische Beurteilung der Handlung der Ärztin. In diesem Fall wäre das eigentlich moralische Subjekt die Kommission, während die Ärztin ein Ausführungsmittel wäre. Besteht die Tätigkeit der Kommission darin, alle möglichen Szenarien durchzuspielen und für jedes bestimmte Handlungen vorzuschreiben, schiene dies der Auffassung moralischen Handelns des Neuen Moralischen Realismus zuwiderzulaufen. Folgende Stelle legt diese Vermutung nahe: „Die meisten von uns als dringend empfundenen moralischen Fragen ergeben sich in konkreten Situationen und können deswegen nicht am Reißbrett durch bloßes Nachdenken gelöst werden.“25 Die Frage (F4b) lautet also: Wie soll man die Tätigkeit solcher Kommissionen im Sinne des Neuen Moralischen Realismus verstehen? Welche Konsequenzen ergeben sich aus ihrer Tätigkeit für die Subjektivität des moralischen Handelns? Verschiebt sich etwa das eigentlich moralische Subjekt von der Ärztin auf die Kommissionen? Zum Schluss sei nun eine letzte Frage (F4c) aufgeworfen. Es wurde bisher gesehen, dass „es in [einem Triage-Szenario] unmöglich ist, das Richtige zu tun“: Es läuft unvermeidlich darauf hinaus, „Handlungen auszuführen, […] die sich aber moralisch letztlich nicht vertreten lassen“, und Entscheidungen zu treffen, die „moralisch letztlich verwerflich“ sind. „[D]‌ie damit einhergehende moralische Schuld“ lastet dennoch nicht auf dem handelnden Subjekt, sofern dieses die Entstehung der Handlungssituation „nicht zu verantworten hat“. Moralische Schuld entsteht also durch die Handlung aber nicht aufgrund der Handlung des handelnden Subjekts (sei dieses die Ärztin oder eine Kommission). Das handelnde Subjekt kann nicht umhin, eine böse Unterlassungshandlung auszuführen, durch die moralische Schuld entsteht. Dennoch entsteht die Handlungssituation, in der jede Handlungsoption moralische Schuld verursacht, aus Gründen, für die das handelnde Subjekt keine Verantwortung trägt. Es kann also das Böse (eine böse Unterlassungshandlung und die mit ihr einhergehende moralische Schuld) ohne ein für das Böse verantwortliches Subjekt (das für die Entstehung der Handlungssituation nicht verantwortliche und somit unschuldige handelnde Subjekt) geben. Sofern es zulässig ist, das als Zufall zu bezeichnen, was kein handelndes Subjekt kontrollieren kann, ist es zulässig zu behaupten, dass das Böse in selten vorkommenden Handlungssituationen zufällig geschieht. Das 25 Ebd.,

154.



Der Neue Moralische Realismus und Ethische Dilemmata 313

bedeutet allerdings nicht, dass deswegen das Böse immer zufällig und das Gute niemals vorsätzlich geschieht. Eine These des Neuen Moralischen Realismus scheint dennoch zu besagen, dass sowohl das Gute als auch das Böse niemals zufällig sind, und die Leistung eines ethischen Ansatzes daran gemessen wird, inwiefern es ihm gelingt, in moralischen Sachen den Zufall zu beseitigen: Wären unsere alltäglichen Situationen moralisch unauflösbar, von Dilemmata geprägt, wäre es unmöglich, absichtsvoll das Richtige zu tun. Wenn wir dann doch einmal das Richtige, sprich das Gute täten, wäre dies reiner Zufall in einer komplexen Lage. Doch das würde bedeuten, dass wir niemals in der Lage wären, moralisch zu handeln. Unsere Handlungen wären ein Spielball des Zufalls, den man allenfalls […] beschreiben könnte.26

Diese Passage scheint zu besagen, dass keine normative Ethik und kein moralisches Handeln möglich sind, sofern man dem Zufall eine Rolle in moralischen Sachen einräumt. Dadurch scheint eine Dichotomie zu entstehen: Akzeptiert man, dass der Zufall in moralischen Sachen eine wenn auch geringe und gelegentliche Rolle spielt, sind normative Ethik und moralisches Handeln unmöglich; gelingt es aber zu beweisen, dass der Zufall in moralischen Sachen gar keine Rolle spielt, sind sowohl normative Ethik als auch moralisches Handeln möglich. Dass der Zufall keine Rolle in moralischen Sachen spielt, ist also die notwendige Bedingung der Möglichkeit sowohl der normativen Ethik als auch des moralischen Handelns. Dennoch scheint es im Sinne des Neuen Moralischen Realismus möglich, dass es in Handlungssituationen wie dem Triage-Szenario das Böse ohne ein für das Böse verantwortliches Subjekt geschieht. Die Frage (F4c) ist also, ob es doch nicht im Sinne des Neuen Moralischen Realismus wäre, dem Zufall eine wenn auch geringe und gelegentliche Rolle in moralischen Sachen einzuräumen und die Dichotomie entsprechend zu revidieren.

26 Ebd.,

98; Hvhg. R.P.

Markus Gabriel Repliken auf Klingner, Moledo, Stiening und Pasquarè

An erster Stelle danke ich den Autor*innen der Kommentare für ihre Rückfragen und Einwände sowie Dr. Rudolf Meer, der im freundlichen Auftrag der Herausgeber dieses Jahrbuchs die vorliegende Diskussion koordiniert hat. Die folgenden Repliken gehen in alphabetischer Reihenfolge der Nachnamen der Autor*innen vor. I. Replik auf Klingner Klingners Kommentar ist ein Sammelsurium teils weit in meinem Buch verstreuter Aussagen zum Themenfeld der Aufklärung und der neuen Aufklärung. Dieses Sammelsurium wird leider nicht mit der Absicht der Kohärenzbildung einer dann kritisch gewürdigen Position zusammengestellt, sondern einem von seinem Autor als uneinlösbar eingestandenen rein polemischen Beweisziel untergeordnet, das sich im Versuch erschöpft, mein Projekt einer neuen Aufklärung zu diskreditieren. Klingners Kommentar zum Aufklärungsbegriff in Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten erfüllt somit bedauerlicherweise nicht die Auflage, auf der Grundlage eines auch nur einigermaßen gesicherten Verständnisses meiner im Übrigen allgemein verständlich dargestellten Position Elemente dieser Position entweder positiv weiterzudenken oder in der Sache kritisch einzuschränken. Stattdessen ergeht er sich in dem Projekt, mir „Motive“ bzw. eine „Motivlage“ zu attestieren, um meinem Rekurs auf die Aufklärung „auf die Spur zu kommen“. Dass dieses – wie ich in der gebotenen Kürze zeigen werde, unseriös, unsachlich und inkohärent ausgeführte – Unterfangen im Licht seiner eigenen Selbstvorstellung inkohärent ist, konzediert Klingner schamlos selbst. Die „tatsächlichen Motive“, die mich angeblich bewegt haben sollen, den Aufklärungsbegriff in Anspruch zu nehmen, seien nämlich „unerforschlich“, wie er sich unter Rekurs auf ein geflügeltes Kant-Zitat ausdrückt. Ja, seine eigene Vermutung bezüglich meiner angeblichen „Motivlage“ lasse sich „nicht im strengen Sinne verifizieren“, sie solle sich aber „durchaus zwanglos aus den zusammengetragenen Beobachtungen zu Gabriels Verwendung des Aufklärungsbegriffs“ ergeben. Dabei unterstellt Klingner mir die von ihm als „unerforschlich“ und nicht Aufklärung 34 · © Felix Meiner Verlag 2022 · ISSN 0178-7128

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verifizierbar ausgegebene Motivlage, den Aufklärungsbegriff sogar „primär“ des­wegen in Anspruch zu nehmen, weil mir dies ein „marketingtechnisches Anliegen“ sei, was ein an eine Beleidigung bzw. üble Nachrede grenzender Vorwurf ist. Schauen wir uns an, welche Scheingründe Klingner für diesen haltlosen und ausdrücklich nicht belegten Vorwurf anführt, sieht man schnell, dass diese an den Haaren herbeigezogen sind, was aus der Inkohärenz des Vorwurfgemenges ersichtlich wird. Klingners Hauptvorwurf besteht darin, dass ich kein philosophie- bzw. ideengeschichtliches Buch über die historische Epoche der Aufklärung geschrieben habe, um ein historisch ausdifferenziertes Aufklärungsverständnis zu demonstrieren. Der zweite Vorwurf besagt, die neue Aufklärung sei mit meiner metaethischen Position identisch, was allerdings gleichzeitig als nicht zutreffend erkannt wird (es trifft tatsächlich auch nicht zu). Dass Klingner dabei meine ethischen mit meinen metaethischen Positionen verwechselt und diese Positionen auch nicht ansatzweise analysiert, sondern nur beiläufig und undifferenziert benennt, belegt allenfalls seinen Unwillen, sich in der Sache mit demjenigen auseinanderzusetzen, was er diskreditieren möchte. Klingner behauptet, mein Konzept einer neuen Aufklärung (das er beständig an seinem eigenen Verständnis der Aufklärung als „historische[r] Epoche“ misst) sei durch drei von ihm auf aufgeführte „Behauptungen gekennzeichnet“. Diese Behauptungen hält er für „nicht gerade unproblematisch“, was unerheblich ist, weil er kein einziges Problem ausführt, sondern Probleme ausdrücklich nur „angedeutet“ haben will. Als Autor desjenigen Buchs, mit dem Klingner sich beschäftigt, kann ich ihn beruhigen: Die drei Behauptungen, die meine neue Aufklärung kennzeichnen sollen, vertrete ich mutatis mutandis zwar, aber es ist falsch, dass die von ihm beschriebenen Behauptungen mein Aufklärungsverständnis kennzeichnen.1 Dabei geht er in der Sache nicht auf den Umstand ein, dass die neue Aufklärung in Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten ausdrücklich über drei Kernthesen definiert wird, die ihre ethischen Grundbegriffe konfigurieren, aus denen sich dann die praktischen, durchaus auch politischen Vorschläge ergeben, die im 1 Eine

der vielfältigen Inkohärenzen von Klingners Vorurteilsstrukturen, die er gegen mich in Stellung bringt, tritt dabei bei seiner Formulierung dieser Behauptungen zutage. Einerseits misst er die neue Aufklärung ständig an seinem Verständnis der historischen Epoche der Aufklärung, der er den Aufklärungsbegriff entnimmt (den er selbst nicht präziser umgrenzt). Wenn dies das Maß meiner Überlegungen wäre, könnte ich natürlich nicht behaupten, dass es zum Aufklärungsverständnis gehört, dass die Aufklärung zum heutigen demokratischen Rechtsstaat führt. Wenn Aufklärung erst mit der historischen Verwirklichung des demokratischen Rechtsstaats existierte, wäre die Aufklärung als Epoche noch keine Aufklärung, sodass die erste mir zugeschriebene Behauptung gar nicht sinnvoll als Element eines Aufklärungsverständnisses angeführt werden kann, das sowohl die Aufklärung als Epoche als auch die neue Aufklärung kennzeichnet.



Repliken auf Klingner, Moledo, Stiening und Pasquarè 317

Buch mit der neuen Aufklärung verbunden werden.2 Die drei Kernthesen sind dabei der moralische Realismus, der Humanismus und der Universalismus, die dort mit einer Kaskade von Pluralismus, Relativismus, Nihilismus kontrastieren. Klingner macht sich nicht die Mühe, den „Neuen Moralischen Realismus“ zu verstehen, um zu sehen, wie dessen Rekurs auf moralische Einsicht und damit praktisches Wissen in einer neuen Aufklärung zum Einsatz kommt.3 Er behauptet gleich zu Beginn seines Kommentars, „die Propagierung und Anerkennung“ meines „moralischen Realismus“, auf dessen begriffliche Details er nicht eingeht, mache die neue Aufklärung aus, wofür er im Rest des Textes keine Belege anführt. Das übersieht bereits das Offensichtliche, dass die drei Kernthesen Humanismus und Universalismus und nicht nur den moralischen Realismus einschließen. Die drei Kernthesen zusammen genommen sind die Eckpfeiler des „Neuen Moralischen Realismus“, der wiederum weder mit dem moralischen Realismus noch mit der neuen Aufklärung identisch ist, sondern ihre ethischen Grundbegriffe koordiniert. Die neue Aufklärung, die natürlich keineswegs nur von mir gefordert wird, sondern die bereits gegenwärtig in verschiedene Positionen ausdifferenziert ist, ist kein Versuch einer Wiederholung der Aufklärung im Sinne einer irgendwie einzugrenzenden und datierbaren Epoche, sondern bezeichnet – wie auch etwa in Kants publikumswirksamen Schriften zur Aufklärung – eine normative Ausrichtung unseres individuellen und kollektiv organisierten Denkens und Handelns. Diese normative Ausrichtung betrifft nicht nur Institutionen und politische Akteure, sondern alle an der Etablierung bzw. dem Fortbestand des demokratischen Rechtsstaats mitwirkenden Personen. Hierbei gehe ich in Mo­ ralischer Fortschritt in dunklen Zeiten in der Tat davon aus, dass der demokratische Rechtsstaat (den es in vielen konkreten Gestalten gibt) als ein „moralisch gestütztes Wertesystem“ aufgefasst werden kann, ja soll.4 Da dem Neuen Moralischen Realismus zufolge ein Wertesystem nur dann moralisch gestützt ist, wenn es moralische Tatsachen anerkennt (wozu dann tatsächlich gehört, deren Existenz bzw. deren Bestehen zu erkennen), sind die ethischen (nicht nur metaethischen, wie Klingner meint) Kernthesen mit dem Engagement für eine neue Aufklärung verwoben. Daran ist nichts rätselhaft. Viele Menschen, die das Buch gelesen haben, haben das verstanden. Es setzt allerdings voraus, dass man die Positionen, die 2 Markus

Gabriel, Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert, Berlin 2008, 33 f. 3 Er glaubt wohl, der Mühe der philosophisch-sachlichen Auseinandersetzung mit dem moralischen Realismus enthoben zu sein, weil er eine ebenso unseriöse Polemik, die unter dem Reiter „Aktuelles“ auf einer Universitätshomepage der katholischen Theologie in Bochum ausdrücklich als „Verriss“ publiziert wurde, mit seinem Kommentar verlinkt (Fn. 2). 4 Gabriel, Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten (wie Anm. 2), 9.

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das Buch bezieht, in ihrem Zusammenhang zu verstehen versucht – eine Mühe, die sich Klingner nicht macht und vor der sich durch seinen haltlosen und nicht belegten, sogar ausdrücklich als nicht belegbar apostrophierten Vorwurf immunisiert, die neue Aufklärung heiße nur deswegen „Aufklärung“, weil sich dahinter „vor allem eine Marketingstrategie verbirgt“. Der einzig sachlich relevante Hinweis, den man Klingners Kommentaren entnehmen mag, besteht darin, dass es sich lohnen würde, die philosophiehistorischen und ideengeschichtlichen Details der europäischen Aufklärung‍ (en) genauer zu untersuchen, um diese dann mit der neuen Aufklärung zu vergleichen. Warum nicht? Dass ich bisher kein Buch geschrieben habe, das sich dieser Aufgabe widmet, impliziert allerdings in keiner mir bekannten Weise, dass meine Inanspruchnahme eines Aufklärungsbegriffs (en passant: es gibt nicht so etwas wie den Aufklärungsbegriff, der dann entweder „instrumentalisiert“ werden kann oder nicht) irgendetwas mit Marketing zu tun hätte. Außerdem können zum Thema der Aufklärung viele erhellende Bücher geschrieben werden, woraus sich kein Einwand gegen diese Bücher ableiten lässt, dass sie sich anderem widmen als die anderen Bücher. Klingners Vor- und Anwürfe erschöpfen sich darin, ein Geraune von Problemen anzudeuten, statt ein einziges auszuführen und bis zum Grad der sachlichen Prüfbarkeit zu entwickeln, auf die ich mich dann gerne einlasse, wie in den folgenden Repliken deutlich werden wird. Kommen wir also zur Sache. II. Replik auf Moledo Moledo formuliert drei Probleme für den neuen moralischen Realismus, wobei er sich auf dessen realistische und universalistische Komponente konzentriert. 1. Das erste Problem entwickelt er dadurch, dass er von der Offensichtlichkeit einiger moralischer Tatsachen ausgehend die Frage aufwirft, wie Offensichtlichkeit und Fallibilität in ethischen Sachfragen vereinbar sind, was in der Tat erläutert werden muss, um die realistische Theorie des moralischen Fortschritts (der zufolge moralischer Fortschritt eine im Erfolgsfall kumulative Aufdeckung partiell, d. h. einigen Menschen verborgener moralischer Tatsachen ist) zu motivieren. Hierbei beläuft sich Moledos Formulierung eines Erkenntnisproblems im Angesicht moralischer Tatsachen allerdings auf eine allgemeine Rückfrage an jede Form eines vertretbaren erkenntnistheoretischen Realismus. Denn jeder vertretbare erkenntnistheoretische Realismus nimmt an, dass irgendeine Tatsache erkannt und in diesem Sinne offensichtlich ist. Gleichzeitig nimmt jeder vertretbare Fallibilismus an, dass wir bezüglich einiger Tatsachen im Einzugsbereich einer realistischen Theoriebildung fehlbar sind, uns also irren können, auch wenn wir der Überzeugung sind, die betreffenden Tatsachen erkannt zu haben.



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Moledos Frage ist nun, ob eine Tatsache (sei sie nun moralischen oder anderen Inhalts), die offensichtlich ist, dafür sorgt, dass jemand, der sie erkannt hat (und der damit von ihrer Offensichtlichkeit epistemisch und im moralischen Fall auch praktisch profitiert), sich „ganz sicher sein“ kann, dass „das, was momentan für eine moralische Tatsache gehalten wird, tatsächlich eine moralische Tatsache ist“. „Mit Hinblick darauf erweist sich jetzt der offensichtliche Charakter der moralischen Tatsachen, von dem wir ausgegangen sind, als höchst problematisch, da im Grunde genommen alles angezweifelt werden kann, was für eine moralische Tatsache gehalten wird“. Darauf lautet meine Antwort, dass eine sowohl offensichtliche als auch von jemandem erkannte moralische Tatsache vielleicht „im Grunde genommen“ „angezweifelt werden kann“, was dann aber eben auf einen Irrtum hinausläuft. Man kann sich in der Frage irren, ob man etwas, was man weiß, weiß. Etwas zu wissen, garantiert nur in einigen Fällen, dass man weiß, dass man es weiß. Wissen ist nicht als solches, im Allgemeinen oder in allen Fällen iterativ.5 In Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten nehme ich an, dass es elementare moralisch offensichtliche Tatsachen gibt, etwa, dass man keine Neugeborenen grundlos quälen soll.6 Solche – es lassen sich beliebig viele weitere Beispiele anführen – Propositionen moralischen Inhalts rechne ich zum „Kernbestand“7 der moralischen Tatsachen. Für Irrtümer bezüglich dieser Kategorie der elementaren moralisch offensichtlichen Tatsachen führe ich, worauf Moledo zu Recht hinweist, Ideologie, Propaganda und andere soziopolitische und psychologische Konstellationen als Irrtumsquelle an. In der Tat gibt es mindestens noch eine weitere Täuschungsquelle, die in Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten eine zentrale Rolle spielt. Moledo bezeichnet sie als „Mangel an nötiger Erkenntnis“. Nicht alle moralischen Tatsachen sind faktisch erkannt. Wenn wir faktisch erkannte Tatsache als Fakten bezeichnen, kann man sagen, dass die Menge der moralischen Tatsachen solange größer als die Menge der moralischen Fakten ist, wie moralischer Fortschritt noch möglich ist.8 5 Vgl.

dazu ausführlicher Markus Gabriel, An den Grenzen der Erkenntnistheorie. Die notwendige Endlichkeit des objektiven Wissens als Lektion des Skeptizismus, Freiburg im Breisgau 22014. 6 In Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten bezeichne ich diese Kategorie moralischer Tatsachen durchgängig als „moralische Selbstverständlichkeiten“, vgl. vor allem 154‒162. 7 Gabriel, Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten (wie Anm. 2), 33. 8 Hier gilt eine mögliche Einschränkung, auf die mich Ruth Chang hingewiesen hat. Einige moralische Tatsachen sind nämlich erst dann erkennbar, wenn die damit verbundenen Handlungsoptionen existieren. So stellen sich bestimmte Fragen der Technikethik erst dann, wenn es die entsprechende Technik gibt. Demnach könnte prinzipiell eine menschliche Gemeinschaft existieren, die alle sie betreffenden moralischen Tatsachen erkannt hat, sodass in ihrem Einzugsbereich moralische Tatsachen und Fakten identisch sind. Das zeigt, dass Gesellschaften denkbar sind, in denen es zu einem bestimmten Zeitpunkt keinen moralischen Fortschritt gibt. Der

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Dabei wird die zweite Täuschungsquelle, die Moledo diskutiert, im Zusammenhang einer Erklärung dafür eingeführt, dass wir einige moralische Tatsachen noch nicht erkannt haben. Meine Erklärung für diesen Umstand lautet für die Fälle, um die es geht, dass wir natürlich längst nicht alle nicht-moralischen Tatsachen erkannt haben, die eine ethisch relevante Erkenntnisquelle darstellen. Welche Pandemiebewältigungsstrategie in welchen Hinsichten moralisch geboten ist, hängt unter anderem von nicht-moralischen, aber ethisch relevanten Tatsachen ab, die virologisch, epidemiologisch, politisch, soziologisch usw. erkannt werden müssen. Hinzu kommt, dass einige moralische Tatsachen in soziale Komplexität verstrickt sind, dass ihre Erkenntnis also die sozial aufwendige Übernahme einer Vielzahl sozialer Perspektiven voraussetzt, in die sich Akteure einer Gemeinschaft versetzen müssen, um zu erkennen, was moralisch geboten oder verboten ist. Kurzum, moralische Tatsachen sind eingebettet in nicht-moralische Tatsachen, weshalb Ethik (als disziplinierte Vollzugsform moralischer Erkenntnis) unter Erkenntnisbedingungen operiert, die in zentralen Hinsichten durchaus mit den Heuristiken anderer Wissenschaften vergleichbar ist, in denen Kohärenzbildung, kumulativer Fortschritt, Hypothesen- und Prinzipienbildung im Rahmen als unvollständig erkannter Theorien zusammenspielen.9 Es trifft nicht zu, dass prinzipiell nicht ausgeschlossen werden kann, „dass wir uns irren, wenn wir etwas für eine moralische Tatsache halten“. In vielen Fällen kann genau dies ausgeschlossen werden, was in der Begründungsdimension des Humanismus des neuen moralischen Realismus verankert ist. Denn moralische Tatsachen adressieren uns als Menschen insofern, als es Handlungsoptionen gibt, die wir nur deswegen ergreifen bzw. vermeiden sollen, weil wir Menschen sind, unabhängig davon, was uns ansonsten individuiert. Im Allgemeinen folgt aus der geläufigen Kombination eines erkenntnistheoretischen Realismus mit einem ontologisch motivierten Fallibilismus kein Skeptizismus, begriffliche Punkt dieser Überlegung besteht darin, moralische Tatsachen auf eine bestimmte Weise zu historisieren, indem eine Kategorie moralischer Tatsachen eingeführt wird, die erst zu einem bestimmten Zeitpunkt menschlicher Entwicklung erkennbar werden, was eine andere Form des moralischen Fortschritts bedingt als denjenigen, den ich in Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten beschreibe. 9 In dieser Hinsicht stimme ich Julian Nida-Rümelins Rekonstruktion ethischer Heuristiken zu, vgl. etwa Nida-Rümelin, Eine Theorie praktischer Vernunft, Berlin, Boston 2020. Allerdings erweitere ich die methodologischen Dimensionen um diejenigen der Geistes- und Sozialwissenschaften, die nicht sinnvoll vollständig nach dem Modell naturwissenschaftlicher Theoriekonstruktion verstanden werden können, weshalb hermeneutische Verfahren zur Selbsterkenntnis für die Ethik unerlässlich sind. Das hängt in der begrifflichen Substanz des neuen moralischen Realismus damit zusammen, dass moralische Tatsachen nicht radikal, ganz und gar anders sein können, als wir sie erfassen, wodurch sie sich von denjenigen Tatsachen unterscheiden, die das Paradigma naturwissenschaftlicher Erkenntnis darstellen, d. h. Tatsachen, die in keiner Weise auf ihr Erkanntwerden durch uns zugeschnitten sind.



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demzufolge wir bezüglich eines gegebenen Gegenstandsbereichs keine Erkenntnis erlangen können, weil wir uns im Hinblick auf die Tatsachen täuschen können, die in ihm bestehen. 2. Moledos zweites Problem ergibt sich aus einem Gegenbeispiel zu meinem Versuch, das bis heute vor allem mit Kant verbundene Lügenproblem zu lösen, das angeführt wird, um die Existenz moralischer Dilemmata und damit widersprüchlicher konkreter Imperative zu belegen. Gäbe es moralische Dilemmata in sensu stricto (siehe dazu ausführlich meine Replik auf Pasquarè), wäre die deontische Logik nicht-klassisch bzw. sogar dialetheistisch, d. h. wir müssten wahre Widersprüche in der Ethik akzeptieren, die bereits in elementaren Situationen gegeben sind. Moledo konstruiert nun den besonderen Fall, dass im berühmten Lügenszenario der Beamte eines mörderischen Staats an die Tür einer Person klopft, die einen eigennützigen Vorteil daraus zieht, eine Familie vor dem Beamten zu verstecken. Indem diese Person den Beamten davon abbringt, das Haus zu betreten, indem sie bewusst eine Falschaussage über den Aufenthalt der gesuchten Familie macht, täte sie meiner Rekonstruktion des moralischen Makels der Lüge zufolge etwas moralisch Falsches.10 Was soll diese Person tun, wenn ein Beamter vor der Tür steht, und ihn fragt, ob die gesuchte Familie bei ihm zu Hause versteckt ist? Falsches zu sagen, um die Familie zu retten, wäre jetzt laut der Definition Gabriels tatsächlich eine Lüge, da die Person daraus einen Vorteil ziehen würde. Die Person ist also dazu verpflichtet, dem Beamten die Wahrheit zu sagen, aber auch die Familie zu retten, wozu der Beamte belogen werden muss, sodass man sich wieder vor dem Widerspruch befindet, den man lösen wollte.

Dieses Gegenbeispiel setzt voraus, dass die Person tatsächlich „skrupellos“ in einem sozusagen philosophischen Sinne ist. Die einzige Motivation, nicht die Wahrheit zu sagen, die ihr in diesem Beispiel zugeschrieben wird, besteht nämlich darin, die monetäre Gegenleistung der geschützten Familie einzustreichen. Wenn jemand eine Familie vor einem mörderischen Staat ausschließlich deswegen schützen möchte, weil er dadurch eine monetäre Gegenleistung erhält, sie ansonsten aber ohne Skrupel auch opferte, ist diese Motivationslage ihrerseits etwas, was nicht bestehen soll. Die derart skrupellose Person soll also – so meine Antwort auf Moledos Beispiel – weder eine Falschheit über den Aufenthaltsort der Familie äußern noch die Wahrheit über den Aufenthaltsort der Familie 10 Dass

meine Rekonstruktion des moralischen Makels der Lüge (der nicht identisch mit der Dimension der Lüge als absichtsvolles Behaupten einer Falschheit ist) nicht bloß ad hoc ist, zeigen etwa auch die verhaltensökonomischen Ausführungen bei Armin Falk, Warum es so schwer ist, ein guter Mensch zu sein … und wie wir das ändern können: Antworten eines Verhaltensökonomen, München 2022, 254‒256. Falk weist ebenfalls daraus hin, dass wir mit Lügen meistens „nur unser eigenen Interessen“ (254) verfolgen: „Wir lügen, um uns einen Vorteil zu verschaffen, sei es, um besser dazustehen, etwas zu bekommen, was uns nicht zusteht, oder unseren Gegnern zu schaden“ (ebd.).

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preisgeben (weil sie sie schützen soll). Damit stehen der skrupellosen Person eine Reihe von faktischen Handlungsoptionen offen, insbesondere kann sie auf die Nachfrage des Beamten, wo sich die Familie befinde, schweigen. Denn es besteht im Lügenszenario offensichtlich (ex hypothesi) keine Pflicht, den Aufenthaltsort der Familie anzugeben. Wenn die skrupellose Person lügt, wenn sie eine Falschheit äußert, bleibt der widerspruchsvermeidenden Beschreibung also noch die Option, die moralische Tatsache anzuführen, dass die skrupellose Person schweigen soll. 3. Das dritte Problem besteht darin, wie die Motivationslage eines Akteurs vereinbar mit der tragenden realistischen Idee ist, dass es bei der Bemessung des moralischen Werts einer Handlung auf die „Übereinstimmung der Handlungen mit dem, was die moralischen Tatsachen verlangen“ ankommt. Anders als Moledo meint, habe ich mich allerdings keineswegs darauf festgelegt, dass „die Erwägung der Motivation beim Handeln ausgeschlossen“ ist. Dass ich das nicht aus-‍ , sondern sogar in einigen relevanten Fällen eingeschlossen habe, folgt ja aus der Lügendiskussion, wie Moledo selbst einräumt. Insofern stimme ich Moledo zu, dass „die Motivation bei der moralischen Beurteilung im Rahmen des neuen moralischen Realismus“ in Rechnung gestellt werden muss. Ich stimme ihm allerdings nicht vorbehaltlos darin zu, dass „die Motivation beim sittlichen [sprich: moralisch richtigen, M.G.] Handeln nur in der bloßen Vorstellung der Pflicht bzw. in der Achtung vor dem Gesetz, das in Form einer Pflicht ausgedrückt wird“ liege. Mein Vorbehalt rührt daher, dass ich jedenfalls nicht glaube (sondern bestreite), dass es ein singuläres moralisches Gesetz (sei dies der kategorische Imperativ, ein utilitaristisches Kalkül, die goldene Regel oder was auch immer) gibt, das in der Form einer Regel ausgedrückt wird, der wir nur deswegen folgen wollen sollen, weil wir ihr eben folgen sollen. Andererseits würde ich den imperativischen Charakter einer moralischen Tatsache, die vorschreibt, faktisch φ zu tun, so beschreiben, dass jeder, vor die Wahl gestellt, faktisch φ zu tun, es auch tun soll. Es bedarf dazu dann keiner weiteren Motivation – etwa des Wunsches, durch das Tun des moralisch Richtigen glücklich zu werden, sein Selbstbild oder seinen sozialen Status zu verbessern, Gott zu gefallen, das von der reinen praktischen Vernunft Gebotene zu tun oder evolutionär geschickt zu handeln. Das moralische Sollen, das eine Untermenge unserer Handlungsgründe charakterisiert, gilt in diesem Sinne unbedingt, als es keiner weiteren Begründung und damit auch keiner Ersatzmotivation bedarf, die ihm seine Gültigkeit verleiht.



Repliken auf Klingner, Moledo, Stiening und Pasquarè 323

III. Replik auf Stiening Unter Rekurs auf eine geteilte Verpflichtung auf die Bedeutsamkeit rationaler Kritik für das Projekt jeder Aufklärung formuliert Stiening zwei durchaus gewichtige Einwände gegen Aspekte der Komponenten „Realismus“ und „Humanismus“, die im Neuen Moralischen Realismus eine Verbindung mit dem Universalismus eingehen. Beide Einwände beziehen sich auf die spezifischen „systematischen Voraussetzungen“ meines aufklärerischen Engagements. 1. Der erste Einwand beruht auf der Annahme, die (neo-)‌realistische Wertontologie, auf die ich mich festlege, werde „auf eine evolutionäre Anthropologie“ „gegründet“. Dagegen erinnert Stiening zu Recht an Kants Kritik der Grundlagen des ethischen Emotionalismus bei Shaftesbury und Smith. Diese Kritik besagt, dass empirische Erkenntnisse der Anthropologie prinzipiell nicht hinreichen, um die „Geltung und Verbindlichkeit“, d. h. den Universalismus abzudecken, auf den sie zielen. Denn empirisch wird man nur feststellen, dass einige Menschen so, andere Menschen anders handeln und denken, woraus allein nicht geschlossen werden kann, wie sie moralisch betrachtet handeln sollen. Allerdings habe ich nicht nur nicht gesagt, dass die (neo-)‌realistische Wertontologie in einer evolutionären Anthropologie gründet, sondern dies sogar ausdrücklich ausgeschlossen, indem ich mir vorgenommen habe, dafür zu argumentieren, dass moralische Tatsachen weder in Gott noch in der allgemeinen Menschenvernunft noch in der Evolution, sondern in sich selbst begründet sind. Wie viele andere Tatsachen auch bedürfen sie keiner Begründung, sondern einer Erkenntnis, die es erlaubt, ihre Konturen zu erfassen.11

An anderer Stelle lehne ich es ebenso ausdrücklich ab, moralische Tatsachen auf irgendeine andere Form der Normativität zu reduzieren, „seien dies Mehrheitsmeinungen, göttliche Gebote, evolutionäre Anpassungsvorteile oder verhaltensökonomisch messbare Wettbewerbsvorteile altruistischen Verhaltens.“12 Was ich an der von Stiening zitierten Stelle behaupte, befindet sich nicht in einem Widerspruch zu diesen Aussagen, da ich dort (wie andernorts) nur dafür halte, dass unsere organische Überlebensform, die evolutionär erklärbar ist, eine Grundlage für ein Gewissen und für andere moralische relevante Einstellungen ist. Dazu gehören unsere Fähigkeiten der empathischen Perspektivenübernahme sowie unser Bewusstsein der Negativität von Schmerz und der Verwerflichkeit willkürlich zugefügter Schmerzustände bei menschlichen und anderen Lebewesen. Kant argumentiert bekanntlich im Rahmen seiner komplexen systematischen Voreinstellungen (von denen ich einige teile und andere ablehne) dafür, dass die Anthropologie – im Sinne der Selbsterkenntnis der menschlichen Lebensform – nicht die Grundlage für eine Metaphysik der Sitten und folglich auch nicht für 11

Gabriel, Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten (wie Anm. 2), 36. 92. Vgl. auch 299, 315‒319.

12 Ebd.,

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eine Wertontologie (die er selbst nicht anstrebt) bildet. Und das widerspricht in der Sache meinem Anliegen nicht. Im Übrigen wäre es gelinde gesagt merkwürdig, wenn ich wirklich die beiden Thesen verträte, dass die Werte „offenkundig eine vom Menschen unabhängige Existenz“ haben, wie Stiening mich versteht, und sie gleichzeitig in einer evolutionären Anthropologie gründen wollte. Der moralische Realismus, den ich vertrete, ist Teil eines Neuen Moralischen Realismus. Das betone ich hier noch einmal, weil der Neue Realismus im Allgemeinen dadurch charakterisiert ist, dass er die weitverbreitete Auffassung ablehnt, eine realistische Ontologie sei stets durch eine Festlegung auf Bewusstseins-, Sprach-, Theorie-, (usw.–) Abhängigkeit definiert, was sich als Unabhängigkeit vom Menschen zusammenfassen lässt.13 Demnach ist die Unabhängigkeit vom Menschen im Allgemeinen nicht das relevante Realismus-Kriterium. Im besonderen Fall der Wertontologie trifft zu, dass der Humanismus (Kernthese 2) ausdrücklich in der Annahme besteht, dass die „objektiv bestehenden moralischen Tatsachen“ „wesentlich durch uns erkennbar, also geistabhängig“ sind.14 Zur Erkennbarkeit der moralischen Tatsachen gehören Dimensionen unserer Subjektivität, die hermeneutisch, durch individuelle Erfahrung vom Standpunkt der ersten Person sowie geistes- und sozialwissenschaftlich objektivierbar erfassbar sind. Aufgrund ihres imperativischen Charakters richten sich die moralischen Tatsachen an uns, oder, wie Kant dies zentral im kategorischen Imperativ ausdrückt, an die „Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen“.15 Damit spielt auch bei Kant die Anthropologie im 13 Vgl.

dagegen insbesondere Markus Gabriel, Fields of Sense. A New Realist Ontology, Edinburgh 2015, 1‒42. Zur Debattenlage vgl. etwa Markus Gabriel (Hg.), Der Neue Realismus, Berlin 2014 sowie Dominik Finkelde, Paul M. Livingston (Hg.), Idealism, Relativism, and Realism. New Essays on Objectivity Beyond the Analytic-Continental Divide, Berlin, Boston 2020. 14 Gabriel, Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten (wie Anm. 2), 33. Diese Dimension des Realismusbegriffs betrifft seine epistemische oder „unbescheidene (presumptous)“ Seite, wie Crispin Wright dies genannt hat in Truth and Objectivity (Harvard University Press 1992, 1 f.). Die unbescheidene Idee des Realismus besteht darin, „that, while such fit as there may be between our thought and the world is determined independently of human cognitive activity, we are nevertheless, in favourable circumstances, capable of conceiving the world aright, and, often, of knowing the truth about it“ (ebd., 2). 15 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 429. Kant stellt in diesem Zusammenhang selbst damit eine notwendige Verbindung zwischen der allgemeinen imperativischen Struktur des kategorischen Imperativs und dem „menschlichen Willen[]“ (ebd., 428) her. Dabei meint er, dass die Objektivität des „oberste[n] praktische[n] Princip[s]“ (ebd.) – das er vom kategorischen Imperativ „in Ansehung des menschlichen Willens“ (ebd.) unterscheidet – sich daraus ergebe, dass sich „auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein zufolge eben desselben Vernunftgrundes“ vorstelle, „der auch für mich gilt“ (ebd., 429). Die auf diese Überlegung folgende Menschheitszweckformel wird sodann als „praktische[r] Imperativ“ (ebd., 429) bezeichnet. Es bleibt dabei letztlich offen, woher Kant weiß, dass die Selbstzweckformel nicht nur den menschlichen Willen, sondern „vernünftige Wesen“ (ebd., 433) insgesamt betrifft, die



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Sinne einer Selbstbestimmung des Menschseins eine Schlüsselrolle, ohne dass daraus zu folgern wäre, dass der kategorische Imperativ bzw. die moralischen Tatsachen in einer evolutionären Anthropologie gründen. 2. Der zweite Einwand, den Stiening vorträgt, richtet sich gegen den Begriff des moralischen Fortschritts. Dabei versteht er „moralischen Fortschritt“ als „Fortschritt der Menschheit in einem stetigen Anwachsen der moralischen Qualitäten des Menschen“. Die von mir eingegangene begriffliche Festlegung besagt dagegen: „Moralischer Fortschritt besteht im Allgemeinen darin, dass wir moralische Tatsachen, die zum Teil verdeckt waren, erkennen und aufdecken.“16 Um genauer einzuschätzen, ob und wie Kants Überlegungen, denen zufolge zur Quantität des Guten, die Stiening zitiert und kommentiert, meinen Begriff des moralischen Fortschritts tangieren, muss offenbleiben, da Stiening das tertium comparationis für mich nicht klar genug herausarbeitet. Sollte die Rückfrage, die zu dem Einwand führt, lauten, ob die Menschheit durch moralischen Fortschritt quantitativ besser in dem Sinne wird, dass die Gesamtsumme der moralisch richtigen Handlungen nach einer weitgehenden sozialen Akzeptanz einer moralischen Erkenntnis steigt, so halte ich dies für richtig, erkenne in Stienings Ausführungen zu Kant aber keinen Einwand gegen diese Auffassung. Mit dem zweiten Einwand hängt allerdings eine andere Beobachtung Stienings zusammen, die ich cum grano salis akzeptiere. Sie besagt, dass „die globale Durchsetzung von Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit“ ein relevantes Ziel von Aufklärungstätigkeiten und damit auch von Fortschritt ist. Nun halte ich den Rechtsstaat für eine moralische Errungenschaft, d. h. für Ausdruck eines moralischen Fortschritts, der sich historisch in verschiedenen Schüben zu verschiedenen Zeiten artikuliert, weshalb es nicht nur eine historische Epoche der modernen europäischen Aufklärung, sondern Aufklärung tout court gibt, „alle unter dem Gesetz stehen, daß jedes derselben sich selbst und alle andere niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle“ (ebd., 433). Den Begründungszusammenhang herauszuarbeiten, der von der Menschheits- zur allgemeinen Selbstzweckform und von dieser als Prinzip wiederum zu einzelnen, situativ relevanten Imperativen führt, ist eine bisher meines Wissens nicht adäquat bewältigte hermeneutische und philosophiehistorische Herkulesaufgabe. Diese zu stemmen, gehört nicht zum notwendigen Pensum jeder gegenwärtigen Moralphilosophie. 16 Gabriel, Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten (wie Anm. 2), 265. Diese Auffassung kontrastiert systematisch mit Thomas Nagels Theorie des moralischen Fortschritts, die darauf beruht, dass Gründe dafür, seinen „moral outlook“ zu ändern, nicht in allen relevanten Fällen ahistorisch sind, weshalb aus seiner Sicht die historische Verortung eines Akteurs eine Rolle bei der Bewertung seines „moral outlook“ spielt, die nicht nur exkulpierend, sondern konstitutiv für die moralische Wirklichkeit selbst ist. Ich danke Thomas Nagel für die Einsicht in sein bisher unveröffentlichtes Manuskript Moral Reality and Moral Progress (vom 6. Januar 2018) während meiner Zeit als Eberhard Berent Goethe Chair an der NYU (im Herbst 2019), was eine zentrale Inspirationsquelle für meine eigene Spielart eines Neuen Moralischen Realismus darstellt.

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die in verschiedenen historischen Schüben unter verschiedenen Bedingungen zutage tritt – und zwar keineswegs nur in denjenigen Regionen, die wir mit „Europa“ verbinden.17 Und ebenso wie es mächtige antiaufklärerische Strömungen außerhalb und militärisch auch gegen Europa gibt (man denke nur an die ideologischen Bedingungen des gegenwärtigen Angriffskriegs gegen die Ukraine), gibt es selbstverständlich vielfältige antiaufklärerische Strömungen innerhalb Europas. Deswegen bedarf es der Werkzeuge der Kritik, um antiaufklärerische Strukturen zu identifizieren, die dann politisch positiv gewendet zu einem Teil einer Heuristik künftigen moralischen Fortschritts umgemünzt werden können. Stienings kritischen Hinweisen entgegenkommend ist zu konzedieren, dass der Hinweis auf moralischen Fortschritt unter Bedingungen der sozialen Implementierung moralischer Erkenntnis noch lange nicht das Problem löst, wie die damit interagierenden Normativitäten in ihrem Zusammenspiel funktionieren, wie also etwa im Allgemeinen das Verhältnis von Recht und Moral oder von Politik und Moral ausgestaltet ist bzw. im Lichte ethischer Erkenntnis ausgestaltet sein soll. Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten gibt dafür nur die allgemeine aufklärerische normative Richtung vor, nach „der Kritik als Reflexionsform von Wissenschaft und Aufklärung“ in ihrer Rationalität entscheidend für gelingenden, positiven sozialen Wandel ist. Denn nicht jeder soziale Wandel ist normativ wünschenswert, die sozio-ökonomische Wirklichkeit der Menschen ist keineswegs automatisch, aufgrund ihrer Wandelbarkeit, auf Perfektibilität hin eingerichtet. Diese ergibt sich nur aus einer auf moralischer Erkenntnis basierenden Verpflichtung darauf, soziale Systeme nach Menschenmöglichkeit so zu gestalten, dass sie den Stand unserer moralischen Erkenntnis in ihren institutionellen Rahmenbedingungen nicht nur nicht unterbieten, sondern im Idealfall sogar befördern. IV. Replik auf Pasquarè Pasquarè gliedert ihren präzisen Kommentar in vier Fragen, die das systematische Kerngebiet des Neuen Moralischen Realismus, insbesondere seine Spielart einer Bestreitung der Existenz ethischer Dilemmata betrifft. Im Folgenden werde ich auf ihre vier Fragen (F1)‒(F4) vier Antworten (A1)‒(A4) formulieren. (A1)  Die erste Frage betrifft die Deutung meines Begriffs eines ethischen Dilemmas. Der Deutungsvorschlag für die dafür angeführte einschlägige Pas17

Vgl. nur die kursorischen Hinweise auf die Ubuntu-Tradition in Gabriel, Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten (wie Anm. 2), 156 f. oder Amartya Sens mehrfach wiederholte Anknüpfung an den Mogul Akbar, die sich durch sein Werk zieht. Bekanntlich kann auch von einer altgriechischen Aufklärung die Rede sein sowie von anderen Aufklärungen, in denen sich die menschliche Vernunft ihrer Erkenntnisfähigkeiten und universalen Ausrichtung bewusst wird und dies auch politisch umzusetzen strebt. Für den chinesischen Kontext etwa Zhao Tingyang, Alles unter dem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung, Berlin 2020.



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sage aus Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten besagt, dass ein ethisches Dilemma „eine Handlungssituation“ sei, „in der eine jede gute Handlung nur unter der Bedingung der Ausführung einer bösen Unterlassungshandlung erfolgen kann und dadurch selbst böse ist“. Das trifft zu. Im Allgemeinen hat ein ethisches Dilemma die Form: φ ᴧ ᴦφ (wobei φ hier moralisch relevante Propositionen imperativischen Charakters, also „S soll das und tun das aus moralischen Gründen tun“ bezeichnet). Ein ethisches Dilemma besteht darin, dass man etwas unbedingt tun soll und gleichzeitig etwas tun soll, was damit unvereinbar ist, dass man es tut. So sollen in einem Triage-Szenario zwei gleichwertige Leben gerettet werden. Rettet man das eine, opfert man das andere, weil das Retten des einen das Unterlassen der Rettung des anderen ist. Es bestehen also im strengsten Sinne inkompatible moralische Verpflichtungen. Da ich moralische Verpflichtungen als Tatsachen verstehe, die sich in ihrem imperativischen Charakter an relevant sensibilisierte Subjekte richten (paradigmatisch zum ethischen Denken befähigte Menschen), implizierte das Vorliegen ethischer Dilemmata einen starken deontischen Dialetheismus, also die These, dass es in ethischen Angelegenheiten wahre Widersprüche gibt. Das muss kein Stein des Anstoßes sein, weil wir dank der Entwicklung nicht-klassischer Logiken längst wissen, dass es Wirklichkeits- und Diskursbereiche geben kann, in denen wahre Widersprüche bestehen, ohne dass dies das Denken in das Chaos des ex falso quodlibet stürzt.18 Gleichwohl optiert der Neue Moralische Realismus (bisher) für eine klassische Logik bezüglich starker (will sagen: moralischer) deontischer Theoriebildung. Zu sagen, dass es keine echten, wirklichen bzw. genuinen ethischen Dilemmata gibt, lässt sich damit als eine Festlegung auf eine allgemeine Widerspruchsvermeidung im starken deontischen Denken rekonstruieren. (A2) In der Tat würde ich sagen, dass es anderen ethischen und metaethischen Theorieangeboten zufolge ethische Dilemmata geben kann, was ich durch die Formulierungen, die Pasquarè zitiert, zum Ausdruck bringen wollte. Die Rede von ethischen bzw. moralischen Dilemmata ist für Härtefälle und Tragödien (dazu gleich mehr) weit verbreitet. Im strengen Sinne einer Festlegung auf die Existenz wahrer Widersprüche im praktischen Bereich wird dies allerdings in der Regel nicht intendiert, was damit zusammenhängt, dass es leichter ist (bzw. zu sein scheint), mit der Existenz ethischer Dilemmata zu rechnen, wenn man keine entsprechende Tatsachen- und Aussagenstruktur postuliert, die Dilemmata als widersprüchliche Propositionen rekonstruiert. Da ich den Neuen Moralischen Realismus allerdings für die richtige Theorieoption für Ethik und Metaethik halte, impliziert diese Offenheit keinen Theorierelativismus der Form, dass in einer Ethik etwas gilt, was in einer anderen nicht gilt, in dem Sinne, 18 Vgl.

etwa Graham Priest, In Contradiction. A Study of the Transconsistent, Oxford 22006 sowie zur Frage, inwiefern dies Kerngebiete der theoretischen Philosophie betrifft Markus Ga­ briel, Graham Priest, Everything and Nothing, Cambridge 2022.

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dass beide gleich gültig sind. Eine Ethik, die sich entweder offen auf wahre Widersprüche festlegt oder den Realismus der Aussagenwahrheit zugunsten einer Überbetonung der subjektiven Beurteilungsmechanismen aus den Augen verliert, ist aus meiner Sicht theoretisch schlechter als Spielarten des moralischen Realismus, zu denen der Neue Moralische Realismus zählt.19 (A3) Die dritte Frage führt bereits in schwierigeres Gewässer. Zugespitzt und kritisch gewendet, könnte man (F3) so formulieren: Handelt es sich bei der Benennung von etwas, was dem Neuen Moralischen Realismus zufolge ein ethisches Dilemma wäre, als einer Tragödie um eine ad hoc-Maßnahme, um einerseits die Existenz von Dilemmata doch zu behaupten, dies aber durch Umbenennung zu kaschieren? Die Antwort auf diese Frage kann nur gegeben werden, indem Pasquarès vierte Frage und ihr interessanter Deutungsversuch berücksichtigt werden. (A4) Ich danke Pasquarè für ihren erhellenden eigenen Deutungsversuch der Problemlage von (F3), den sie in ihrem dialektischen Durchgang durch Fragevarianten von (F4) entwickelt. Denn ihre Überlegungen werfen Licht auf meine eigenen theoretischen Verpflichtungen, was mir geholfen hat, besser zu verstehen, warum soziale Komplexität, d. h. das Vorliegen einer Interaktion verschiedener Normsysteme, die wiederum mit nicht-normativen Dimensionen der menschlichen Lebenswirklichkeit (und damit dem Standpunkt der ersten Person) verzahnt sind, systematisch für meine Überlegungen ausschlaggebend war und ist. Denn Pasquarè entfaltet den Gedanken, dass man sich in einer Tragödie genau dann befindet, wenn man zwar das Richtige (das Gute) nicht tun kann, ohne etwas Böses und damit eben das Böse zu tun, ohne dass man dadurch aber moralisch schuldig wird. Ein gewichtiger Teil der Erklärung dafür, dass es Tragödien gibt, die keine Dilemmata sind, ergibt sich daraus, dass die Handlungssituation tragischer Akteure dadurch mit bestimmt wird, dass Bedingungen erzeugt werden, auf die sie reagieren müssen, die sie aber nicht zu verantworten haben. Wenn etwa eine Ärztin einer Triage-Situation ausgesetzt ist, muss sie wählen. Dass sie aber zwischen bestenfalls ungleich schlechten Optionen wählen muss, hat sie nicht zu verantworten. Gäbe es mehr Ärztinnen, weniger Patienten, weniger Unfälle usw., bestünde kein Anlass zur Triage. Aus diesem Grund schien es mir im Zuge der Corona-Pandemie stets moralisch geboten, Bedingungen zur Vermeidung von Triage-Situationen zu erzeugen, was ja weitgehender gesellschaftlicher Konsens in der Bewertung von Pandemiemaßnahmen war. Das ist 19 Dass

die Einbeziehung der Gründe, die Akteuren explizit zur Verfügung stehen können, den Realismus nicht notwendig einschränkt, vertreten etwa auch Derek Parfit, On What Matters, Oxford 2011 und Thomas M. Scanlon, Being Realistic About Reasons, Oxford 2014. Ich danke Hannah Ginsborg für den Hinweis auf diese realistische Entwicklung, auf die sie mich 2013 hingewiesen hat, sowie Paul Boghossian und Thomas Nagel für Diskussionen bezüglich der Frage, ob die Einbeziehung der humanistischen, auf geistige rationale Lebewesen bezogenen Dimension der Ethik immer noch als ‚realistisch‘ einzustufen ist.



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nicht das Ende der Analyse, weil die Entscheidung zum Ergreifen bestimmter Pandemiemaßnahmen ihrerseits Dilemma- bzw. genauer Tragödienverdächtig war und ist, da die Vermeidung von Triagesituationen durch Kontaktbeschränkungen oder Schulschließungen die tragische Situation nur verschiebt, da man keine Kontakte beschränken und keine Schulen schließen soll. Ob es eine insgesamt konsistente Ethik der Bewältigung einer mehr oder weniger spontan über die Menschheit hereinbrechenden Naturkatastrophe (wie der Corona-Pandemie) geben kann, ist damit noch offen. Es ist möglich, dass die Pandemiekonstellation als solche tragisch war und ist und damit ethisch konsistent allenfalls partiell lösbar. Ich möchte Pasquarès Gedankenführung um eine argumentative Dimension ergänzen. Wenn eine Tragödie darin besteht, dass man notwendig etwas moralisch Verbotenes tun muss, auch wenn man etwas teilweise moralisch Gutes tut (sodass man insgesamt jedenfalls auch etwas Böses tut), war man nicht frei, das Gute zu tun. Damit ist man in dem Maße schuldlos, als Umstände, für die entweder keine oder andere Personen verantwortlich sind, vorliegen, die dazu nötigen, zwischen bestenfalls im Vergleich teilweise weniger schlechten Optio­ nen zu wählen.20 Allerdings lässt mich Pasquarè mit dieser Antwort sicherlich nicht vom ­Haken, wie der Fragefortgang von (F4a)‒(F4c) belegt, auf den ich nun noch abschließend eingehen werde. (A4a) In der Tat habe ich die Institution von (Ethik-)‌Kommissionen herangezogen, um Formen normativer Legitimation unter sozial komplexen Bedingungen in Spiel zu bringen, die uns helfen, Tragödien sozial verträglich, kooperativ zu bewältigen. (A4b) Das wirft dann (F4b) auf, also das Problem, dass die Ärztin letztlich allenfalls ausführt, was die Kommission als Leitlinie herausgibt. Wenn die Anwendung allerdings ihrerseits moralische Überlegungen der Ärztin voraussetzt, sei die Ärztin „psychologisch kaum entlastet“. In welchem Maß eine hinreichende psychologische Entlastung von Ärzt:innen durch Ethik-Kommissionen oder andere Berufsgruppen und Institutionen gegeben ist, die Verfahrensweisen für Tragödien spezifizieren, ist eine empirisch erforschbare Frage, auf die ich selbst keine genaue Antwort habe. Begrifflich relevant ist dabei aus meiner Sicht, dass sowohl die Ärztin als auch die Kommission moralische Erwägungen anstellen müssen, um auch innerhalb einer Tragödie zwischen unterschiedlich schlechten Lösungen so zu wählen, dass der Versuch, die Tragödie jetzt doch noch oder künftig zu vermeiden, handlungsleitend ist. Eine Tragödie ist nämlich 20 Ich

danke Anton Hofreiter für eine Diskussion über Dilemmata in der Politik, die er auf den Punkt gebracht hat, dass es politische Szenarien gibt, in denen es unter Rückgriff auf moralische Überlegungen geboten ist, gleichwohl „zwischen unterschiedlich schlechten Lösungen“ zu wählen. Vgl. dazu die Dokumentation des Gesprächs in Reihe 5, Magazin der Staatstheater Stuttgart, Ausgabe Nr. 24, Stuttgart 2022 (im Erscheinen).

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etwas, was nicht sein soll, weil sie Menschen in Handlungssituationen verstrickt, in denen sie das Gute nicht realisieren können, sondern es akzidentell unter der Bedingung tun, dass es Teil eines Tuns des Bösen ist. Und dieses systemische Problem gilt es gesamtgesellschaftlich nach Menschenmöglichkeit zu überwinden, weshalb die Ethik ein wichtiger Faktor in der normativen Gesamtbeurteilung sozialer Komplexität ist. (A4c) Ich akzeptiere gerne Pasquarès Vorschlag, dem Zufall im Neuen Moralischen Realismus die Rolle einzuräumen, dass Zufälle manchmal in moralischen Fragen eine Rolle spielen, allerdings nicht derart, dass unsere alltäglichen Situationen weitgehend unlösbar oder gar von ethischen Dilemmata geprägt sind. Wir befinden uns damit weiterhin nicht in einer großangelegten Tragödie, in der wir alle, wie Ödipus, wider Willen und trotz bester Anstrengung schuldig werden, sondern in einer komplexen Lage, die ein systematisches Umdenken erfordert, aber uns ethisch richtige Entscheidungen nicht verunmöglicht.21

Vor dem Hintergrund von Pasquarès klarer Rekonstruktion möchte ich abschließend die These in den Raum stellen, dass es eine Form moralischen Fortschritts ist, Institutionen im Licht der möglichst wahrscheinlichen Reduktion von Zufällen zu gestalten, die Tragödien generieren. Die Konstruktion von Institutionen steht damit unter Bedingungen der Herstellung moralisch empfehlenswerter Handlungsoptionen, zu denen die konzertierte Tragödienprävention gehört, die nur gesamtgesellschaftlich und damit unter maximal komplexen sozialen und somit auch historischen Bedingungen realisierbar ist. An genau dieser Schnittstelle treffen sich die Postulate einer neuen Aufklärung mit den Kernthesen des Neuen Moralischen Realismus, zu deren Klärung Pasquarès Deutungsangebote äußerst hilfreich und willkommen sind.

21 Gabriel,

Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten (wie Anm. 2), 97.

R EZ ENSION EN

Daniel Fulda (Hg.), Aufklärung fürs Auge. Ein anderer Blick auf das 18. Jahrhundert, Halle an der Saale: Mitteldeutscher Verlag 2020 Im 18. Jahrhundert wurden zahlreiche neue Verlage gegründet, ältere Verlage expandierten, und der Druck und die rasche Verbreitung von Büchern, Zeitschriften und Zeitungen machten es möglich, dass die Ideen der Aufklärung von vielen Lesern rezipiert werden konnten. Autoren und Verlage suchten dabei fortwährend Wege, die jeweilige staatliche Zensur zu umgehen. Wie Robert Darnton, der den Buch- und Zeitschriftenmarkt dieser Zeit untersuchte, in seinen Studien betont, wurde der Erfolg der Aufklärung – die weitverbreitete und einflussreiche Diskussion ihrer Ideen – vor allem durch das Druckwesen und diesen Buchvertrieb ermöglicht. Und neben dem regen Buchhandel bedienten öffentliche Institutionen wie Lesezirkel und Kaffeehäuser ein aufstrebendes und lesehungriges bürgerliches Publikum. Die Zahl derer, die lesen konnten, war in dieser Zeit radikal gestiegen und schloss auch Frauen ein; einige traten als Autorinnen hervor. In diesem Kontext kann die Schrift und das Wort für die Aufklärung, bei der es sich letztendlich um eine philosophische Bewegung handelt, als privilegiert angesehen werden. Viele Publikationen widmeten sich auch der besonderen Bedeutung von Sprache. Es gab das akademische Preisausschreiben, das nach Beiträgen suchte, die den Ursprung der Sprache behandelten, sowie Arbeiten zum Unterschied von Wort und Bild. So skizzierte Gotthold Ephraim Lessing in seinem Aufsatz zur LaokoonStatue den Gegensatz zwischen dem Bild, welches das Auge als ein Ganzes wahrnehmen kann, und einer Erzählung, die auf Zeitlichkeit beruht. Die Skulptur des Laokoon konnte somit den Augenblick seines Schreis festhalten, während der Fortgang seines Schreiens in der Geschichte seines Leidens erzählt wird. In Lessings Semiotik erhielt die sprachliche Erzählung gegenüber der bildlichen Darstellung nicht nur eine Rechtfertigung, sondern auch eine vorteilhafte Position, und damit stand er nicht alleine. Lessing nahm die Literatur ernst. Es wandte sich implizit auch von visuellen Werken ab, die bislang Geschichte einem nicht-alphabetisierten Publikum nahebringen wollte, etwa den Bildfolgen von biblischen Erzählungen. Diese schmückten schon sehr früh katholische Kirchen als eine Art Lehr-‍ , aber auch Erbauungsmaterial. Protestanten hatten bereits zur Reformationszeit damit begonnen, Bilder aus den Kirchen zu entfernen, und die Aufklärer schienen nun auf säkulare Weise damit fortzufahren, Schrift und Wort in den Vordergrund zu setzen.

Aufklärung 34 · © Felix Meiner Verlag 2022 · ISSN 0178-7128

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Doch inwieweit herrschte das Primat von Schrift und Literatur? Daniel Fuldas reiche und reich bebilderte Anthologie, Aufklärung fürs Auge, will dieser weit verbreiteten Annahme Beispiele entgegenbringen. Er zweifelt nicht an der wichtigen Aufgabe der textlichen Überlieferungen in dieser Zeit, möchte aber zeigen, dass der bildlichen Darstellung in der Aufklärung ebenfalls eine große Bedeutung zukam. Dabei waren es sicherlich neue und andere Bilder, die nun zum Zuge kamen. Wichtig ist für ihn jedoch, dass sie keine nur illustrative Rolle hatten: Sie sollten selbst Aufklärung leisten. Das Bild war auch für die Aufklärer ein pädagogisches Mittel; es sollte Inhalte vermitteln und mit dem Text konkurrieren. Dabei musste auch die visuelle Darstellung gelesen werden. Fulda wie auch die in seinem Band versammelten Autoren und Autorinnen untersuchen recht unterschiedliches Bildmaterial. Gemälde sind hier vertreten. So wählt Fulda in seiner Einleitung als Beispiel etwa Léonard Defrances A l’Êgide de Minerve (1781); es zeigt Vertreter verschiedener Bevölkerungsgruppen in reger Interaktion miteinander. Thomas Bremer analysiert in seinem Beitrag zahlreiche Porträts, bei denen das Buch als ein aufschlussreiches Objekt erscheint. Michael Wiemers gibt wiederum Beispiele von Gemälden, in denen wissenschaftliche Experimente oder wissenschaftliche Apparate, mit denen sich die Dargestellten ernsthaft oder spielend beschäftigen, in den Vordergrund rücken. Das Hauptinteresse fast aller Autoren gilt allerdings dem Kupferstich. Stiche konnten vervielfältigt werden und ein weites Publikum erreichen; vor allem wurden sie aber auch Büchern beigegeben, die oft mit Frontispizen geschmückt waren. So steht eigentlich auch in diesem Band der Buchdruck und das Buch als Objekt im Vordergrund. Dies mag daran liegen, dass die hier versammelten Autoren und Autorinnen nicht von der Kunstgeschichte herkommen, sondern von der Literaturwissenschaft, Erziehungswissenschaft und der Erweiterung dieser Gebiete als Kulturwissenschaft. Es geht um die Lesbarkeit von Bildern, aber das primäre Forschungsgebiet dieser Autoren und Autorinnen sind auch Texte und Bücher. Fuldas einführender Essay, der sich mit dem Begriff der „Aufklärung“ beschäftigt, führt seine allegorischen Darstellungen an. Hier beschreibt und zeigt er Bilder, welche sich auf einen Lichteinfall oder Sonnenaufgang konzentrieren. Obwohl die Säkularisierung eines Bildes göttlicher Offenbarung auch etwa in französischen Texten sichtbar wird, so ist dem deutschen Begriff zu eigen, dass er sich von der Wetterkunde herleitet. Fulda belegt seine informative Darstellung mit vielen Illu­ strationen und jene, in welchen das hinter den Wolken hervortretende Licht wiedergeben wird, erhalten eine besondere Resonanz. Fuldas Essay zur „bildlichen Ordnung des Wissens“ führt die in seiner Einleitung aufgeführten Thesen weiter, indem er auf Fragen der Säkularisierung eingeht und ebenfalls auf den Stellenwert der Allegorie in der Zeit der Aufklärung. Geht es bei Fulda vor allem um die Darstellung des Lichts, so zeigt Britta Hochkirchen die Beziehung zwischen Licht und Auge. Ihr Beitrag beschäftigt sich eindringlich mit der Frage des Verhältnisses von Sichtbarem und Nichtsichtbarem,



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und dies soll nicht nur philosophisch verstanden werden. François Boucher malt beispielsweise Bildfolgen, bei denen sich im Vergleich das zeigt, was gesehen werden darf und was nicht: Pornografie und Philosophie verbünden sich hier. Angelika Dreyers Aufsatz beschäftigt sich mit der Fresko-Malerei der Zeit, Wiebke Hahn mit den anatomischen Darstellungen, die vor allem als Lehrmaterial verwendet wurden und wiederum in gedruckter Form erschienen, Sandro Jung mit den Buchillustrationen Salomon Gessners, der als Autor von Idyllen und als Künstler in dieser Zeit Furore machte, Alexander Košenina mit den Buchillustrationen zu Johann Karl Wezels Werken und Christiane Holm mit Frontispizen zu Büchern um 1800, welche Amor und Psyche zeigen. Der letzte Beitrag von Stephan Pabst zur Semiotik der Aufklärung versucht wiederum einen allgemeineren theoretischen Rahmen zu setzen und bezieht sich auf die Aussagen zum Bild bei Lessing, Immanuel Kant und Georg Christoph Lichtenberg. Manche Beiträge verweisen auf französische Malerei, bisweilen gibt es eine Referenz auf England, aber obwohl die Aufklärung als ein europäisches Phänomen verstanden wird, das ebenfalls eine Revolution in der amerikanischen Kolonie Amerika ermöglichte, konzentrieren sie sich vor allem auf die deutsche Aufklärung. Dabei wird auch hierbei nur gelegentlich versucht, allgemeinere Schlussfolgerungen zu treffen. Fuldas Einleitung vermittelt allgemeine Beobachtungen über die Bedeutung von Bildern, aber ihr folgt eine Reihe von nicht eigentlich miteinander verbundenen Einzelstudien. Aufklärung fürs Auge bietet detaillierte Fallstudien als Momentaufnahmen und kein durchkomponiertes Ganze. Wahrscheinlich werden die meisten Leser nur individuelle Kapitel konsultieren; dies ist hinsichtlich der durchweg exzellenten Beiträge schade. Aber Fuldas Anthologie macht auch neugierig. Sie ist ein Teilresultat eines Forschungsprojektes zu den „Bildern der Aufklärung“ am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung in Halle (IZEA) und es ist zu hoffen, dass weitere Publikationen zu diesem Thema folgen werden. Liliane Weissberg (University of Pennsylvania)

Corine Pelluchon, Das Zeitalter des Lebendigen. Eine neue Philosophie der Aufklärung, übers. von Ulrike Bischof, ­Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2021 Es zählt zu den überraschenden Entwicklungen der intellektuellen Debatten im Westen, dass seit einigen Jahren eine überaus positive Bewertung der Aufklärung als Epoche, vor allem aber als unabgeschlossenes Projekt zu verzeichnen ist. Da wird ‚Aufklärung jetzt‘ gefordert1 oder zu einer ‚Dritten Aufklärung‘ aufgerufen;2 es gibt flammende Plädoyers für eine ‚Neue Aufklärung durch moralischen Fortschritt‘,3 oder die ‚Legitimität der Aufklärung‘ wird erneut bewiesen.4 Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, dass einflussreiche Teile der westlichen Intelligenz mit Macht versuchen, ein neues ‚Zeitalter der Aufklärung‘ auszurufen. Es stellt sich aber auch heute – wie schon vor knapp 240 Jahren – die Frage, ob und inwiefern dieses neue Zeitalter der Aufklärung auch ein aufgeklärtes Zeitalter ist.5 Nun hat auch die Pariser Philosophin Corine Pelluchon, die – an sich Expertin für die aufklärungskritischen Theoretiker Leo Strauss und Emmanuel Levinas – seit einigen Jahren mit tier- und umweltethischen Publikationen hervorgetreten ist, ihr grundlegendes Konzept für eine ‚Neue Philosophie der Aufklärung‘ vorgelegt. Was verbirgt sich hinter dieser ‚Neuen Philosophie der Aufklärung‘, die erklärtermaßen mit der vor 90 Jahren vorgelegten ‚Philosophie der Aufklärung‘ Ernst Cassirers wenig zu tun hat? Der systematische Ausgangspunkt der Zeitanalyse Pelluchons im Geiste einer ‚Neuen Philosophie der Aufklärung‘ ist die Phänomenologie Edmund Husserls und dabei insbesondere dessen Begriff der „Lebenswelt“ sowie die – auch – kritischen Erweiterungen dieser Konzeption durch Emmanuel Levians und Maurice 1 Steven

Pinkert, Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung, Frankfurt am Main 2018. 2 Michael Hampe, Die dritte Aufklärung, Berlin 2018; vgl. hierzu die Diskussion in Aufklärung 33 (2021), 255–338. 3 Vgl. hierzu Markus Gabriel, Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert, Berlin 2020 sowie die Diskussion zu diesem Entwurf in diesem Band. 4 Stefan Schick, Die Legitimität der Aufklärung. Selbstbestimmung der Vernunft bei Immanuel Kant und Friedrich Heinrich Jacobi, Frankfurt am Main 2019; siehe hierzu die Rezension von Stefan Klingner in Aufklärung 33 (2021), 347–355. 5 Immanuel Kant, Was ist Aufklärung?, in: Kants Gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen [später: Deutschen] Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff. (im Folgenden AA Band, Seitenzahl), hier AA VIII, 40.



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Merleau-Ponty (71ff.). Der entscheidende Vorteil der Phänomenologie besteht nach Pelluchon darin, dass sie ermögliche, die einer „fehlgeleiteten Rationalität“, jener nämlich der historischen Aufklärung, zuzuschreibenden Trennungen zwischen Ich und Welt, Subjekt und Objekt, Geist und Körper je schon überwunden zu haben, weil sie den Menschen als leib-seelische, als intersubjektive und in eine natürliche Umwelt eingebundene Einheit denkt. Dieses Denken in ‚Eingebundenheit‘ bzw. Verbünden wird mit dem Begriff der „Lebens“ konkretisiert und so normativ aufgeladen: „Die Welt, in der das Leben staatfindet und die als Grund dient, aus dem alle intentionalen Denkakte hervorgehen und auf dem die Wissenschaften aufbauen, ist die Umwelt aller Milieus, und diese Lebenswelt, wie die gemeinsame Welt aus transzendentaler perspektive heißt, ist mit durch mein Fleisch gegeben“ (82). Das normativ fundierte Eingedenken in die apriorische Körperlichkeit, menschliche Gemeinschaft und natürliche Umwelt führt aber nach Pelluchon dazu, diese Felder der Lebenswelt zu schützen und zu bewahren und damit vor allem jeder Form von Herrschaft zu entziehen. Dieser herrschaftskritische Zug der gesamten Abhandlung führt zu der neben der Phänomenologie zweiten philosophischen Quelle der Argumentation, der Ratio­ nalitätskritik der Kritischen Theorie und dabei insbesondere der Kritik der instru­ mentellen Vernunft Max Horkheimers (37ff.). Diese Form der Vernunft wird zum einen der historischen Aufklärung zugeschreiben, zum anderen aber als an nur individuellen Interessen ausgerichtete, reduktive Variante des Vernünftigen kritisiert und letztlich für die Misere der Moderne verantwortlich gemacht. Instrumentelle Vernunft führe nämlich zu einem Bedürfnis und Interesse nach einer Herrschaft über den eigenen Körper (d. h. die innere Natur), damit aber zu einer Herrschaft über die äußere Natur und letztlich zu einem Herrschaftsverhältnis zwischen Menschen: „Diese auf einer dreifachen Herrschaft (über die Natur, die Gesellschaft und das Seelenleben) basierende Organisation zerstörte zugleich die Vernunft und die Freiheit und gefährdete die Stützpfeiler der liberalen Demokratie, nämlich Autonomie, Gerechtigkeit und Solidarität“ (39). Pelluchon hält dem aber entgegen, dass man aus dem „Teufelskreis von Vernunft und Herrschaft“ ausbrechen könne, wenn die Vernunft sich mit ihrem ‚Andern‘ – namentlich der Natur – versöhne und damit das fatale Band zerreiße, das die Aufklärung mit „dem Rückschritt verbinde und mit Auschwitz das Scheitern der Kultur bewiesen habe“ (40). Entscheide sich aber die Kultur des 21. Jahrhunderts für einen erweiterten bzw. grundlegend veränderten „reflexiven“ Rationalitätsbegriff , der auf eine „gemeinsame Welt“ ausgerichtet sei, könne sie sich von ihren anthropozentrischen Vorurteilen lösen und eine rationale „Demut“ (41) entwickeln, die sich durch neue Lösungen auszeichne. Dazu zählt u. a. die Bewältigung der Klimakrise, die geleistet werden könne, wenn man die äußere Natur nicht mehr nur als Ressource für den globalen Kapitalismus, der ebenfalls als Produkt der historischen Aufklärung interpretiert wird, begreift, sondern als umweltliche Bedingung der Möglichkeit menschlichen und tierischen Lebens. Möglich wird nach Pelluchon eine notwendige Abschaffung der Herrschaft über die

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Natur zunächst durch ein verändertes Verhältnis des Menschen zu seinem Körper, dann auch und vor allem zur äußeren Natur, und hierbei insbesondere zu den Tieren. Ein gewichtiges Instrument dieser veränderten Haltung zu Tieren wäre bzw. ist nach der Pariser Philosophin die Zuweisung subjektiver Rechte zu Tieren, aber auch zu einzelnen Flüssen oder ganzen Landschaften, wie dies schon in Australien oder Kolumbien tatsächlich erfolgt ist. Die letztlich entscheidende Zuwendung zur „gemeinsamen Welt“ als einem transzendenten Prinzip könne diese grundlegenden Veränderungen bewirken. Pelluchon führt dieses – letztlich aufklärungskritische – Grundgerüst ihrer Argumentation in vielen überaus sensiblen und präzisen Analysen u. a. zur Landwirtschaft, zum Begriff der Arbeit, zum Emanzipationsverständnis in Feminismus und allgemeiner Demokratietheorie, aber auch zur Technik und – besonders gelungen – zum Verständnis von Europa und dessen Bindung an eine neue Aufklärung durch. Man darf insgesamt festhalten, dass mit dieser ‚Neuen Philosophie der Aufklärung‘ ein genuin innovatives, politisch engagierten Konzept von globaler Aufklärung entworfen wird. Indes bleiben einige Fragen offen, die es abschließend zu stellen gilt: Das beginnt schon mit der Zuschreibung subjektiver Rechte an Tiere. Nicht nur die der historischen Aufklärung entstammende „Idee des Rechts“, sondern auch die verfassungsrechtliche Realität der meisten bestehenden Rechtsstaaten basiert auf der grundlegenden Voraussetzung, dass subjektive Rechte nur an zurechnungsfähige, d. h. mit Vernunft und Freiheit ausgestatte Personen vergeben werden könne. Stattet man aber die Nilpferde Pablo Escobars, um sie vor Abschuss zu schützen, oder Flusslandschaften in Sudamerika, um sie vor Verschmutzung zu bewahren, mit subjektiven Rechten aus, werden die Grundfeste der Rechtsstaatsidee und -realität erschüttert. Stattet man gleich alle Tiere mit solcherart Rechten aus, würde jeder Fleischesser zum Mörder, was weder den Tieren noch der Rechtsrealität weiterhülfe. Diese – man muss es hier sagen – Instrumentalisierung der Idee eines allgemeinen, gleichen und freien Rechts für Belange des Umwelt- oder Tierschutzes spielt jenen global agierenden Kräften und Bewegungen in die Hände, die den Rechtsstaat als eurozentrisches Herrschaftsinstrument denunzieren und auf den Prüfstand gestellt sehen wollen. Im Hintergrund dieser – so scheint mir – genuin gegenaufklärerischen Unterminierung des Rechtsstaates steht allerdings ein Rechtsbegriff, der weder der allgemeinen noch der aufklärerischen Idee der Rechts hinreichend Rechnung trägt; so heißt er bei Pelluchon: Das Recht ist somit in erster Linie ein Instrument, um einen Schutzwall zwischen der Welt und einem Lebewesen zu errichten, das vor einem gewaltsamen Tod bewahrt und dessen Unverletzlichkeit garantiert werden soll, damit es nicht zu einem bloßen Mittel für die Zwecke anderer wird. (91) Erkennbar richtet sich diese allgemeine Rechtsdefinition schon auf die Ermöglichung der Zuweisung subjektiver Rechte zu Tieren aus, die nicht zu „Nahrungsmitteln, Versuchskaninchen oder Leder- und Pelzlieferanten“ reduziert werden sollen.



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Für diesen überaus verständlichen Zweck wird allerdings die Grundidee des Rechts verfälscht, zu der es gehört, keineswegs Instrument zu sein, sondern ein Selbstzweck, und die vor allem festlegt, dass das Recht darin besteht, „der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“.6 Dieses genuin aufklärerische und uneingeschränkt zutreffende Verständnis des Rechts führt aber zu einem zweiten Moment der politischen Theorie Pelluchons, das nachdenklich stimmen muss: Das hier von Kant formulierte Rechtsverständnis impliziert nämlich notwendig ein durchaus positives Verständnis von Herrschaft, nämlich der für die Durchsetzung des Rechts erforderlichen Zwangsgewalt des Staates. Nur durch das staatliche Gewaltmonopol ist es möglich, die aufgrund der Freiheit des Einzelnen notwendig auftretenden Interessenskonflikte so zu regulieren, dass Anarchie und Bürgerkrieg verhindert werden können und damit die Freiheit des Einzelnen realisiert werden kann. Reguliert und vor jedem Despotismus bewahrt wird diese staatliche ‚Herrschaft‘ durch die Idee und Realität der Gewaltenteilung, die wohl zu den bedeutendsten Errungenschaften der historischen Aufklärung zu rechnen ist. Nicht Herrschaft überhaupt ist das Problem, sondern ihre rechtstaatlich unregulierte Form. Noch ein letztes zentrales Argumentationsmotiv der insgesamt beeindruckenden Studie Pelluchons sei hier kritisch betrachtet: Ganz zu Recht macht die Autorin den globalen Kapitalismus für viele der derzeitigen Problemlagen – so u. a. die Klima­ krise oder die weltweite Verteilungsungerechtigkeit – verantwortlich; aber ist dieses Wirtschaftssystem tatsächlich Produkt des der Aufklärung entstammenden instrumentellen Denkens? Ist es vor allem auf das Bestreben nach Profitmaximierung zu reduzieren (u. a. 39 ff.)? Der Kapitalismus basiert insbesondere auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln – und das selbst in der staatkapitalistischen Variante, die wir z. Z. in und aus China erleben. Diese politökonomische Ordnungsstruktur ist aber durch ethische Argumente und damit die Einstellungsänderung Einzelner nicht aus der Welt zu schaffen. Um diese Einsicht in eine politische Praxis umzusetzen – und darum geht es der ebenso bemerkens- wie bedenkenswertem Studie Corine Pellu­chons –, ist womöglich nicht allein das Verständnis der historischen Aufklärung zu präziseren, sondern auch ihr Referenzrahmen tatsächlich zu verlassen. Gideon Stiening (Universität München)

6 Kant

AA VI, 230.

AUFKL ÄRUNG Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte Herausgegeben von Martin Mulsow, Gideon Stiening und Friedrich Vollhardt Gegenstand des Jahrbuches ist die Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. Der Gedanke der erkenntnisfördernden Kraft der offenen, unparteiischen Diskussion war eine der wichtigsten Überzeugungen des Jahrhunderts. Es ist diese Grundhaltung der Aufklärung, die auch die Anlage des Jahrbuches bestimmt. Das Streben nach Interdisziplinarität war eine dominierende Tendenz und Ausdruck der Integrationskraft der Epoche. Der Umbruch des kulturellen und zivilisatorischen Selbstverständnisses sowie die Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft wurden von ihm mitbestimmt. Auch dieser Idee versucht die Aufklärung zu entsprechen. Fachübergreifend angelegt führt die Aufklärung thematisch flexibel Ergebnisse und Perspektiven der verschiedenen Forschungsdisziplinen im Hinblick auf die jeweiligen sachlichen Schwerpunkte zusammen, die durch Kurzbiographien, Diskussionen sowie Forschungs- und Literaturberichte ergänzt werden. anschrif t der redak tion Dr. Udo Roth Ludwig-Maximilians-Universität Institut für Deutsche Philologie Schellingstraße 3 D-80799 München [email protected]

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