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German Pages 224 [226] Year 2011
Emmanuel J. Bauer / Ulrike Tanzer (Hrsg.) Auf der Suche nach dem Glück
Emmanuel J. Bauer / Ulrike Tanzer (Hrsg.)
Auf der Suche nach dem Glück Antworten aus der Wissenschaft
Mit freundlicher Unterstützung der Erzabtei St. Peter (Salzburg) und des Zentrums für Zukunft ftsstudien der FH-Salzburg
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; fi detaillierte bibliografische fi Daten sind im Internet über http: // dnb.d-nb.de abrufbar. fb
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2011 by WBG (Wissenschaft ft liche Buchgesellschaft ft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Redaktion: Dr. Karen David, Eutin Satz: Janß Gmbh, Pfungstadt Einbandabbildung: „Viel Glück im neuen Jahre“. Bildpostkarte (Farblithographie), Poststempel: 1910 © akg-images Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-24666-3 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-72413-0 eBook (epub): 978-3-534-72414-7
Inhalt Inhalt
Emmanuel J. Bauer / Ulrike Tanzer Vorwort – Das Glück der Suche nach dem Glück k . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Emmanuel J. Bauer Jeder ist seines Glückes Schmied!? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Otto Neumaier Glück und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Alois Halbmayr Macht Geld glücklich? Eine theologische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . .
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Mathias Binswanger Warum macht mehr Einkommen nicht glücklicher – Die Tretmühlen des Glücks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kennon M. Sheldon Können wir glücklicher werden? Warum es wichtiger ist, Aktivitäten zu verändern als Lebensumstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
Michael Musalek Wenn die Sehnsucht, die Suche nach dem Glück, zur Sucht wird . . . . . . . .
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Gottfried Bachl Glück und Jenseits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Karlheinz Rossbacher Glück in der Literaturr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wilhelm Genazino Das Glück in glücksfernen Zeiten – Lesung und Gespräch mit Ulrike Tanzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Renate Prochno Kunst und Glück k . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Manfred Mittermayer Glück im Film – Eine kleine Beispielsammlungg . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anton A. Bucher Haribo, Taschengeld, Lob? Was Kinder glücklich macht . . . . . . . . . . . . .
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Reinhold Popp / Reinhard Hofbauer fb / Markus Pausch Soziale und ökonomische Bedingungen von Lebensqualität . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Emmanuel J. Bauer / Ulrike Tanzer
Vorwort – Das Glück der Suche nach dem Glück J. Bauer / Ulrike Vorwort – Das Emmanuel Glück der Suche nach demTanzer Glück
Glück ist ein Thema, das jeden Menschen angeht. Denn es gehört zum Menschen, dass er versucht, glücklich zu sein. Er kann in gewissem Sinn gar nicht anders, als in allen seinen Lebensvollzügen danach zu streben, Glück zu finden. fi Auch wenn dies natürlich nicht immer bewusst und direkt geschieht, ist es doch die tiefste und umfassendste Antriebskraft ft des Menschen. Alles, was wir sind, was wir denken, fühlen und tun, schöpft ft im Letzten seine Energie, Dynamik und Orientierung aus dem erhofft fften Glück. Dies geschieht allerdings auf je eigene Weise. Denn Glück ist primär eine subjektive Kategorie, eine Wirklichkeit, die jeder und jede mit anderen Worten, Bildern und Eindrücken beschreibt. Gerade deswegen ist das Glück aber auch ein ewig junges Thema. In diesem Sinn zählt der Literaturkritiker und Philosoph Ludwig Marcuse das Th Glück zu den Sehnsüchten, die nicht altern.1 Jeder Mensch, jede Generation muss sich neu der Frage stellen und Wege und Möglichkeiten des Glücks in der je eigenen Situation und Zeit suchen. So verwundert es nicht, dass das Glück von Beginn an ein zentrales Thema der Philosophie war. Die Eudaimonia, das Erfülltsein vom guten Dämon, von einem guten Lebensgeist, stand im Mittelpunkt des Nachdenkens der Griechen über den Menschen, seine Welt und sein Leben. Und heute ist es nicht viel anders. Wir erleben einen neuen Glücksboom. Die Buchhandlungen quellen förmlich über von philosophisch-psychologischen und spirituellen Werken über das Glück oder die Kunst des guten Lebens, nicht zu übersehen auch die populärwissenschaftlichen ft und esoterischen Ratgeber mit ihren Anleitungen zum Glücklichsein. Seit einigen Jahren bieten manche Schulen sogar Glück als Unterrichtsfach an, in dem die Kinder Zufriedenheit, Selbstsicherheit und seelisches Wohlbefinden fi lernen sollen. Das Glück ist an der Jahrtausendwende zum Modethema geworden – auch in den Wissenschaften. ft Die sogenannte Glücksforschung, in der heute neben der Philosophie die Biologie, Psychologie, Soziologie, Kulturanthropologie, Staats- und Wirtschaftstheorie ft besonders intensiv tätig sind, hat in den letzten Jahren einen großen Aufschwung erlebt. Die immer wieder auffl fflammende Aktualität der Glücksthematik hat mehrere Gründe. Abgesehen davon, dass die Frage nach dem Glück jeden existentiell angeht, ist es vor allem die Tatsache, dass sich das Glück – wie jedes andere große existentielle Thema des Menschen – nur schwer fassen lässt. Es weist zugleich subjektive und objek-
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tive Faktoren auf. Es ist eine Wirklichkeit, die vor allem emotionale, aber auch kognitive Dimensionen umfasst. Es hängt von gesellschaftlichen, ft aber auch von individuellen Einfl flüssen ab. Es ist im Letzten etwas Unverfügbares, etwas Nicht-Machbares, und doch zugleich etwas, zu dem der bzw. die Einzelne einen wesentlichen Beitrag leisten muss. Glück will gesucht werden, damit es sich einstellt, und kann doch nicht erzwungen werden. Glück ist eine äußerst komplexe Sache, hat seine eigenen Gesetze und erscheint manchmal doch wieder als etwas letztlich ganz Einfaches. Die Beiträge dieses Buches wollen der vielfältigen und im Kern doch wieder sehr schlichten Wirklichkeit des konkreten Glücks auf die Spur kommen. Wenn das Streben nach Glück eine Eigenschaft ft des Menschen als Menschen ist, dann betrifft fft und fordert dessen Realität den ganzen Menschen in allen seinen Lebensbereichen. Es gilt, die verschiedensten Orte, an denen die Menschen ihr Glücklich- oder Unglücklich-Sein im Alltag erfahren, sowie die diversen Rahmenbedingungen für die Möglichkeit und die unterschiedlichen Facetten der Wirklichkeit des Glücks näher zu beleuchten. Kurz gesagt, es sollen Orte und Lebenskontexte der Erfahrung von Glück beschrieben, individuelle, strukturelle und soziale Bedingungen des Glücks benannt und nicht zuletzt anthropologische Dispositionen und konkrete Wege zum Glück aufgezeigt werden. Dabei erscheint es sinnvoll, zuallererst der philosophischen und existentiellen Frage nachzugehen, was Glück überhaupt bedeutet. Wir alle wissen, dass Glück nicht gleich Glück ist. Worin auch immer für den einzelnen Menschen Glück besteht, grundsätzlich kann man wohl mit Aristoteles sagen, es muss sich um eine menschliche Wirklichkeit handeln, also eine Wirklichkeit und Art der Erfüllung, die dem Wesen und der Existenzweise des Menschen entspricht und damit auch weitgehend in seiner Verantwortlichkeit und seiner Art zu leben liegt. Diese Annahme ist nicht unumstritten. Die antiken Menschen gingen lange Zeit davon aus, das Glück des Menschen hänge ausschließlich oder überwiegend von der Gunst oder Ungunst der Götter ab. Und in der Tat, das Glück scheint zu allen Zeiten wesentlich vom Schicksal abzuhängen, wobei es zweitrangig ist, ob eine göttliche Macht oder die bestimmten Gesetzen folgenden Kräft fte der Natur oder der Zufall als Ursache schicksalhaft fter Fügungen angenommen wird. Welche Rolle kommt in diesem Kräft ftespiel dem einzelnen Menschen zu? Hat der Mensch überhaupt die Möglichkeit, sein Glück zu beeinfl flussen, und wenn ja, welchen Beitrag kann, oder besser gesagt, welchen Beitrag muss der Mensch selbst zu seinem Glück leisten? Sowohl die philosophische Anthropologie als auch die empirische Psychologie warten hier mit überraschenden Antworten auf. Voraussetzung dafür, diesen Fragen seriös auf den Grund zu gehen, ist allerdings die Diff fferenzierung zwischen verschiedenen Formen des Glücks, wie sie in vielen nicht-deutschen Sprachen auch in verschiedenen Begriffen ff für das Glück zum Ausdruck kommt. Eine bestimmte Art von Glück kann man haben, eine andere Art von Glück lässt sich nur erleben und verwirklichen. fl des MenIm Kontext der Überlegung, wie weit das Glück im Einflussbereich schen liegt, stellt sich auch die grundsätzliche Frage, ob Glück unter den Bedingungen
Vorwort – Das Glück der Suche nach dem Glück
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irdischer und endlicher Existenz überhaupt zu erlangen ist. Ausgehend von einem hedonistischen Glücksbegriff ff, nach dem Glück als Lust durch Befriedigung libidinöser Regungen verstanden wird, zweifelt etwa Sigmund Freud daran, ob der Mensch von seiner natürlichen Ausstattung her überhaupt dauerhaft ft glücklich sein kann. Unter Verweis auf die Bedingungen des konkreten alltäglichen Lebens mit allen Enttäuschungen, Schmerzen und Problemen, die von Seiten des eigenen Körpers, der Außenwelt und der Mitmenschen drohen, und angesichts der Tatsache, dass wir als Menschen gemäß dem Lustprinzip nur den Kontrast, d. h. die plötzliche Befriedigung hochaufgestauter Bedürfnisse als Glück genießen können, kommt Freud zur Überzeugung, dass „die Absicht, daß der Mensch ,glücklich‘ sei, […] im Plan der ,Schöpfung‘ nicht enthalten“2 ist. Ansonsten müsste die Konstitution seiner Natur eine andere sein. Schon vor Freud hat die mittelalterliche Theologie seit Augustinus darauf hingewiesen, dass das Glück des Menschen nur ein begrenztes und unvollkommenes sein kann. Wahre und ungetrübte Erfüllung der Glückssehnsucht sei erst im Himmel möglich. Diese theologische Sicht mit ihrem Verweis auf Gottes Heilswirken bedeutet einerseits eine Entlastung für den Menschen und sein Leben als einzige und letzte Chance, Glück zu erlangen, andererseits birgt sie die Gefahr der Vertröstung und damit der Legitimierung Glück verhindernder Zustände oder Unglück erzeugender Verhaltensweisen. Als spezifi fisch menschliche Qualität hängt das Glück wesentlich davon ab, wie der Mensch die Bedingungen seines Lebens annimmt und den Möglichkeiten gemäß sein Leben gestaltet. Um mit Viktor E. Frankl zu sprechen: Sinn und Glück stellen sich ein auf dem Weg der Verwirklichung von schöpferischen Werten, Erlebniswerten, aber auch Einstellungswerten,3 d. h. in der kreativen Gestaltung von Welt, im dankbaren Empfangen und Genießen von Schönem und Erfüllendem, aber auch in der bewusst vollzogenen Annahme von Leidvollem und Schicksalhaft ftem. So wichtig die Rolle der einzelnen Person im Erleben von Glück ist, hängt es doch auch von vielen äußeren Bedingungen ab. Diese sind zwar essentiell, werden oft ft aber überschätzt. Eine sehr hohe Stellung in der Hierarchie der Bedingungen, von denen Menschen glauben, dass ihr Glück abhängt, hat materieller Reichtum. Zweifelsohne ist ein gewisses Maß an materiellen Ressourcen notwendig, um das Leben als glücklich zu empfinden. fi Geld macht also in gewissem Sinn glücklich, aber natürlich nicht Geld allein bzw. Geld an sich. Ab einem gewissen materiellen Wohlstand trägt der Reichtum nichts mehr bei zum eigenen Glück. Im Gegenteil, die Fixierung auf den sozialen Status oder auf das Anhäufen materiellen Reichtums untergräbt das persönliche Glückserleben. Glück steht vor allem auch in einem größeren Kontext. Der einzelne Mensch kann nicht im Rahmen einer „splendid isolation“ glücklich sein. Die Frage der Lebensqualität (quality of life) verbindet alle das Wohl des Einzelnen und der Gesellschaft ft im Kleinen wie im Großen betreff ffenden Bereiche, sei es Soziales, Gesundheit, Wirtschaft ft, politische und gesellschaftliche ft Strukturen sowie Sicherheit. Das Wohlbefi finden der Gesellschaft ft im Ganzen innerhalb eines Staats, ebenso wie der Wohlstand der Menschheit im globalen Sinn können also aus der Frage nach dem Glück des Menschen nicht
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Emmanuel J. Bauer / Ulrike Tanzer
ausgeklammert werden. Hinsichtlich seiner Verantwortung für das Glück seiner Bürgerinnen und Bürger gab und gibt es unterschiedliche Doktrinen. Wird in kollektivistischen oder totalitären Systemen die Rolle des Staats überschätzt, so wird sie in individualistisch-liberalistischen Ideologien zu Lasten des sozialen Ausgleichs unterbewertet. Die Brisanz dieser Frage wurde in den letzten Monaten verstärkt bewusst, als in Folge der weltweiten Finanzkrise der Ruf nach einem zum Schutz der Einzelnen stärker normierenden und intervenierenden Staat wieder unüberhörbar war. Generell ist es wohl so: Der Staat kann nicht Garant für das persönliche Glück sein, aber eine verlässliche staatlich-demokratische Struktur ist dessen unverzichtbare Voraussetzung. Die Mitverantwortung für das Glück des anderen spüren wir wohl am deutlichsten im Umgang mit unseren Kindern. Alle Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder glücklich sind und alle Voraussetzungen mitbekommen, um später eigenständig ein glückliches Leben führen zu können. Die Ergebnisse der Studien hinsichtlich der Frage, was Kinder wirklich glücklich macht, sind vielfältig, bisweilen überraschend. Manche Klischees, etwa dass Kinder aus geschiedenen Ehen unglücklicher sind, können für die Zeit des Kindseins nicht erhärtet werden. Übergreifend zeigt sich, dass stabile Beziehungen eine der wichtigsten Grundlagen sind. Darüber hinaus ist es für Kinder eine wertvolle Lebenshilfe zu lernen, dass nicht jeder Wunsch sofort erfüllt werden kann und muss. Grundvoraussetzung für ein glückliches Leben im Erwachsenenalter ist die Kultur des richtigen Umgangs mit Sehnsucht. Sehnsucht ist eine der Lebensquellen des Menschen. Keine Sehnsucht zu haben, wird als großes Unglück erlebt. Der Mensch hat kein Ziel, kein Interesse, das ihn antreibt, keine Vision, auf die er zustrebt. Mit Sehnsucht gilt es aber richtig umzugehen, d. h. es auszuhalten, dass sie nicht sofort oder nicht gemäß der eigenen Vorstellung erfüllt wird. Um die Spannung der Nichtidentität von Sehnsucht und Wirklichkeit zu entschärfen, greifen manche Menschen zu Suchtmitteln, die ihnen eine trügerische Befriedigung verschaffen. ff Wahrscheinlich ist auch das Glück selbst Inhalt einer nie vollkommen zu erfüllenden Sehnsucht. Doch schon das Ernst-Nehmen und die Pfl flege dieser Sehnsucht – in einer Abwandlung von Voltaires Wort könnte man sagen: das umsichtige, liebevolle Bestellen des Gartens des Glücks – ist ein Weg zum Glück. Diese Dimension des Glücks wird besonders in der Welt der Literatur, der bildenden Kunst und des Films deutlich. Trotz mancher ästhetischer Bedenken und Einwände finden sich hier Beispiele, in denen die vielschichtige, ambivalente und heterogene Wirklichkeit des konkret gesuchten und erfahrenen Glücks in beeindruckender Weise Gestalt annimmt. Es ist auf die dialektische Struktur des Glücks zurückzuführen, dass dies oft ft in Verbindung mit Unglück, Leid und Verzweifl flung geschieht. Dennoch bekommen wir eine Ahnung davon, dass Glück mehr ist als ein schönes, jedoch leeres Wort – eine Wirklichkeit in uns, die vielleicht nur mit wachem Herzen neu entdeckt und sorgsam gepfl flegt werden will.
Vorwort – Das Glück der Suche nach dem Glück
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Der vorliegende Band beruht überwiegend auf Ergebnissen der interdisziplinären und interuniversitären Ringvorlesung „Auf der Suche nach Glück“, die im Wintersemester 2009 / 2010 im Rahmen des Schwerpunkts „Wissenschaft ft und Kunst“ an der Universität Salzburg stattfand. Unser Dank gilt Stephanie von Liebenstein, Inga Deventer, Carolin Köhne und Dr. Jörn Laakmann, die den Band seitens des Verlages professionell betreut haben. Danken möchten wir vor allem den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vom Fachbereich Philosophie an der Katholisch-Th Theologischen Fakultät der Universität Salzburg für die Unterstützung bei der redaktionellen Bearbeitung der Texte, namentlich Manuela Berndorfer, Thomas Seissl, Zlatko Valentic und besonders der Leiterin dieses Teams, Antonia Weinert.
Anmerkungen 1 Vgl. Marcuse, Philosophie des Glücks, 11. 2 Freud, Das Unbehagen in der Kultur, 208. 3 Vgl. Frankl, Ärztliche Seelsorge, 81–84.
Emmanuel J. Bauer
Jeder ist seines Glückes Schmied!?
Hinführung J. Bauer Jeder ist seines Emmanuel Glückes Schmied!?
Die Frage nach dem Glück ist eine der Grundfragen menschlicher Existenz. Wesen und Möglichkeit eines erfüllten, gelingenden Lebens war eines der großen philosophischen Themen Th von Anfang an. Mit ihm beschäft ftigten sich Vertreter der klassischen griechischen und hellenistischen Philosophie (Platon, Aristoteles, Epikur, Stoa) ebenso wie Philosophen des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit, wenn auch aus je eigener Perspektive und mit je eigenen Schwerpunkten. Während etwa im Mittelalter (Augustinus, Thomas von Aquin) der Gesichtspunkt der Jenseitigkeit des vollen fk lärung den Fokus Glücks1 nachdrücklich betont wurde, legte die Philosophie der Aufk primär auf die gesamtgesellschaftliche ft Wohlfahrt. Die philosophische Auseinandersetzung des 18. Jahrhunderts über das Glück war maßgeblich von Kants Kritik am Eudaimonismus geprägt. Im Unterschied, besser vielleicht: als Ergänzung zur utilitaristischen Begründung des Gemeinwohls (zum Beispiel durch Jeremy Bentham und John Stuart Mill), lehrt Immanuel Kant, dass nicht das angestrebte Glück, sondern der gute Wille als solcher bzw. die reine Absicht des Tuns Fundament und Ziel menschlichen Handelns sein sollte, will es ein sittlich gutes sein.2 „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung ftigkeit für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“3 Allein die Vernünft dessen, was man soll und was als Pfl flicht erfahren wird, nicht aber der eigene Vorteil als Selbstliebe oder Glück kann Prinzip der Moralität sein. Anders gesagt, nicht der Begriff ff des Guten bzw. der Glückseligkeit bestimmt das moralische Gesetz, sondern das durch die praktische Vernunft ft gegebene Sittengesetz bestimmt umgekehrt den Begriff ff 4 des Guten. Das sittlich gute Handeln bringt seinerseits nicht unbedingt Glückseligkeit mit sich, sondern macht den Menschen bloß würdig, glücklich zu sein.5 Kants Kritik bedeutet eine Diskreditierung des Glücksstrebens als letztlich unmoralisch, was eine Epoche der Glücksfeindlichkeit nach sich zog. Von ihr ist heute allerdings nichts mehr zu spüren. Im Gegenteil, die Glücksforschung erlebt gegenwärtig – vor allem in den USA – eine Hochblüte. Die Buchhandlungen quellen förmlich über von philosophisch-psychologischen und spirituellen Werken zum Th Thema Glück (Bertrand Russel, Dieter Thomä, Wilhelm Janke, Mihaly Csikszentmihalyi, Sonja Lyubomirsky, Martin Seligman, Dalai Lama, Jörg Lauster, Christoph Schönborn, Anselm Grün), Lebens-
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Emmanuel J. Bauer
kunst (Wilhelm Schmid) und Tugend (Otfried Höff ffe). Neuerdings ist das Glück sogar explizit auch Gegenstand der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Wilhelm Genazino) und der Literaturwissenschaft ften (Alan Corkhill, Ulrike Tanzer).6 Ganz zu schweigen von den zahlreichen populärwissenschaft ft lichen Büchern, die vorgeben zu wissen, wie man am besten und sichersten glücklich wird. Analog dazu boomen auch die empirischen Glücksstudien; allerdings mit dem Problem, dass sie zu äußerst unterschiedlichen und oft ft auch kuriosen Ergebnissen kommen. So hat etwa Andrew Oswald, Ökonom an der britischen University of Warwick, in seiner an 15 000 Menschen aus sechzehn verschiedenen europäischen Ländern durchgeführten Untersuchung „Hypertension and Happiness across Nations“ herausgefunden, dass die Deutschen neben den Portugiesen die freudlosesten Europäer sind. Vor allem aber meinte er, einen direkten Zusammenhang zwischen Bluthochdruck und Glück herstellen zu können. In Ländern, in denen es weniger Menschen mit Bluthochdruck gibt, fühlen sich auch mehr Menschen glücklich.7 Darüber hinaus agieren auch Werbung und Wirtschaft ft direkt oder subtil mit der Sehnsucht des Menschen nach Glück. Nimmt man nur das richtige Mittel, wird – so die Versprechungen – selbst das Zimmer- oder Zähneputzen zu einem glücklichen Erlebnis. Erst recht verschafft fft es einem förmlich einen Glücksorgasmus, mit einem bestimmten Auto fahren zu dürfen. Und überhaupt scheint es generell himmlische Erfüllung zu bereiten, ausgiebig shoppen zu gehen oder während des Schlussverkaufs Dinge en masse einzukaufen, die man eigentlich gar nicht braucht. Jedem nur halbwegs kritischen Geist ist natürlich klar, dass diese Werbebotschaften ft bloß imaginäre Wirklichkeiten vorgaukeln und zudem nur ein sehr oberflächliches fl Glück vor Augen haben. Im folgenden Beitrag geht es nun aber um den Versuch zu klären, was Glück aus philosophisch-existentieller Sicht ist und wie man diese zutiefst subjektive Erfahrung intersubjektiv beschreiben und anthropologisch verankern kann.
Glück als letztendliches Ziel allen Handelns Dass die Menschen heute wieder verstärkt Glück suchen und nach dessen Bedingungen fragen, dürft fte einen Philosophen nicht verwundern, ist doch glücklich zu sein das tiefste und umfassendste Verlangen des Menschen. All unser Denken, all unser Tun und Lassen, alle bewussten Handlungen, man könnte sogar sagen, alles, was und wie wir sind, schöpft ft im Letzten seinen Eros aus dem erhofft fften Glück. Egal, ob wir uns berufl flichen Erfolg oder Gesundheit wünschen, ob wir auf der Suche nach uns selbst oder nach einem uns verstehenden Menschen sind, ob wir von einem schönen Glas Wein, einem hübschen Kleid oder einem tollen Auto träumen oder ob wir Aktivitäten im Sinn spiritueller Vertiefung oder körperlicher Ertüchtigung setzen – jeder und jede möchte letztlich glücklich sein. Die Sehnsucht nach einem guten Leben, nach Erfül-
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lung, nach einem Leben, das als sinnvoll erlebt wird und angesichts dessen sich im Ganzen das Gefühl von Heiterkeit und Dankbarkeit einstellt, ist das innerste Movens der menschlichen Existenz, auch wenn dies nicht immer bewusst registriert wird. Das Streben nach Glück geschieht offensichtlich ff von Natur aus, d. h., es hat mit dem Menschen als Menschen zu tun, es geschieht unwillkürlich und ist unauslöschlich. Diese Erkenntnis geht auf Aristoteles (384–322 v. Chr.) zurück als Konsequenz aus seiner Handlungstheorie, die er in der „Nikomachischen Ethik“ vorlegte. Nach Aristoteles ist jede Kunst und Lehre, jeder Entschluss und jede Handlung auf irgendein Gutes (bonum) ausgerichtet (sub ratione boni).8 Dementsprechend gibt es viele Ziele, auf die sich menschliches Streben und Handeln richten kann. Dabei dienen die meisten Ziele der Erreichung eines jeweils höheren oder umfassenderen Gutes. So dient das Ziel, das Studium abzuschließen, sehr oft ft dem höheren Ziel, einen bestimmten Beruf ausüben zu können. Es besteht also eine Hierarchie, an deren Spitze die Glückseligkeit (ePdaimon2a) steht. Sie nimmt nach Aristoteles eine besondere Stellung ein, denn sie schließt alle anderen Teilgüter ein. Sie wird ausschließlich um ihrer selbst willen angestrebt. Dem gegenüber werden um ihretwillen alle anderen Ziele verfolgt.9 Natürlich sind die Vorstellungen und inhaltlichen Festlegungen, welche Güter zum Glück beitragen können, je nach Individuum, Kultur, Religion, aber auch je nach Zeit, Alter und konkreter Situation unterschiedlich. Die handlungstheoretische Grundstruktur ist jedoch dieselbe: Auf der Suche nach dem Glück wird jeweils etwas begehrt, dessen Besitz, Verwirklichung oder Erlebnis menschliche Erfüllung verspricht. Verzichtet jemand auf ein bestimmtes Gut (etwa auf materielle Werte), dann geschieht das immer zugunsten eines anderen Gutes (zum Beispiel sozialer Werte, spiritueller Erfahrungen oder dergleichen), von dem er sich eine tiefere Erfüllung erwartet, nie aber aus einer generellen Ablehnung des Glücks als solchen. „So scheint also“ – wie Aristoteles bemerkt – „die Glückseligkeit das vollkommene und selbstgenügsame Gut zu sein und das Endziel des Handelns.“10 Die aristotelische Position, die das Glück zum höchsten Gut menschlichen Handelns erklärt, ist nicht unumstritten. Nach Kant ist eben nicht die Glückseligkeit das Fundament sittlichen Handelns, sondern die Moralität, d. h. die Übereinstimmung mit dem Gebot der sittlichen Vernunft ft. Das Glück als subjektiver Zustand der Zufriedenheit mit dem ganzen Dasein ist wohl ein legitimes Bedürfnis der menschlichen Natur, kann aber nicht Prinzip der Sittlichkeit sein, da es zu sehr von individuellen, sozialen und kontingenten Umständen des Subjekts abhängt, von seinen Neigungen, Interessen, emotionalen Befi findlichkeiten und existentiellen Möglichkeiten. Das bedeutet letztlich, eine Struktur der Heteronomie, der Abhängigkeit von empirischen Fakten, zu schaff ffen. Damit erfüllt der Begriff ff des Glücks nicht die Bedingung eines sittlichen Gesetzes, nämlich unbedingt und allgemein gültig zu sein. Dies kann nur ein formales und apriorisches Gesetz leisten.11 Der Mensch wird also durch moralisches Handeln zwar des Glücks würdig, das bedeutet aber nicht, dass er eo ipso dadurch auch schon glücklich ist. Allerdings kann und will Kant die Glückseligkeit nicht
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gänzlich aus der Gesamtheit menschlicher Sittlichkeit verbannen.12 Er muss einsehen, dass die Forderung sittlichen Handelns nur dann sinnvoll ist, wenn es so etwas wie die Möglichkeit von vollendetem Glück gibt. Eine Bestätigung der aristotelischen Position fi findet sich in der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776, die das Streben nach Glück neben dem Leben und der Freiheit in den Rang eines natürlichen Rechts des Menschen erhebt. Dort heißt es wörtlich: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness. (Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich erschaff ffen wurden, dass ihnen ihr Schöpfer gewisse unveräußerliche Rechte verliehen hat, darunter Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit.)“13
Vom paradoxen Charakter des Strebens nach Glück Für Aristoteles (und viele Anhänger der modernen Ethik) ist also Glück das gemeinsame, allumfassende Lebensziel, das in allen Einzelvollzügen des menschlichen Lebens als letzte Motivation mitwirkt. Die entscheidende Frage ist aber, ob diese Behauptung philosophische Th Theorie bleibt oder sich auch in der konkreten Realität menschlichen Lebens bewährt? Untersucht man unter diesem Gesichtspunkt die empirischen Studien, dann lassen in der Tat einige Fakten das aristotelische Konzept fragwürdig erscheinen: – Wenn alle Menschen in allem, was sie tun und lassen, nach Glück streben, warum tun sich viele so schwer zu beschreiben, was für sie Glück bedeutet? Und warum können doch relativ viele Menschen von sich nicht behaupten, dass sie wirklich glücklich sind, oft ft auch nicht konstatieren, dass sie ernsthaft ft nach Glück streben? 14 Laut einer Umfrage der Bertelsmann Stift ftung von 2007 schätzen sich unter 1004 Erwachsenen nur 13 % als sehr glücklich ein, denen 5 % gegenüberstehen, die sich als dezidiert unglücklich erleben. Immerhin 57 % ordnen sich den Bereichen eines veritablen Glücklichseins (8 bis 10 Punkte in der 10-stelligen Glücksskala) zu. Das statistisch durchschnittliche Glück der befragten Menschen lag bei 7,4 Punkten. Bei einer genaueren Betrachtung der Ergebnisse zeigt sich, dass die Unter-30-Jährigen (7,9 Punkte) und Menschen mit höherem Haushaltsnettoeinkommen (7,8 Punkte) sich überdurchschnittlich glücklich einschätzen, Arbeitslose sich dagegen im Durchschnitt deutlich unglücklicher (6,2 Punkte) fühlen. Weiterhin ist in diesem Zusammenhang zu fragen: Wenn das Glücksstreben so essentiell zum Menschsein gehört, wie ist es dann möglich, dass es Menschen gibt, die richtiggehend Angst davor haben, glücklich zu sein oder sich dies nicht erlauben?15 – Die einem Wesen gemäßen Ziele sind defi finitionsgemäß solche, die durch eine
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Handlung willentlich erreicht werden können. Glücklichsein lässt sich aber nicht befehlen, lässt sich nicht durch einen Akt des Denkens, Wollens, Planens oder Machens herbeiführen. Glücklichsein ist immer ein Wunsch oder eine Hoff ffnung. Wie kann es dann letztes Handlungsziel des Menschen sein? Diese Einwände lassen sich nicht einfach entkräft ften, sondern machen vielmehr die besondere Eigenart des Glücks als Endziel menschlichen Lebens bewusst: – Glück ist ein Ziel, das dem Menschen nicht eigens als solches vorgegeben werden muss. Er braucht nicht aufgefordert zu werden, glücklich sein zu wollen. Diese Motivation ist von selbst aktiv. Das schließt aber nicht aus, dass man manche Menschen ermutigen muss, doch etwas für ihr Glück zu tun. – Es ist ein konstitutives Merkmal von Glück, dass es nicht direkt durch einen Willensbeschluss und daraus resultierenden Handlungen herzustellen ist. Glück lässt sich nicht erzwingen. Glück ist also nie Gegenstand einer direkten Entscheidung nach dem Motto „Ich will jetzt glücklich sein, also bin ich es“. – Das bedeutet aber nicht, dass das Glück nur Schicksal ist, wozu der Mensch gar nichts beitragen kann. Vielmehr erweist es sich als indirekte Begleiterscheinung bestimmter Stellungnahmen und Handlungen. Unter handlungstheoretischem Gesichtspunkt lässt sich daher Glück als Superadditum von Lebensvollzügen defifi nieren, in denen Ziele, deren Erreichung erfahrungsgemäß mit subjektivem Wohlbefi finden und innerer Erfüllung verbunden sind, konsequent verfolgt werden.
Aristoteles führte die Diskrepanz zwischen natürlichem Glücksverlangen und mangelhaftem ft Glückserleben auf die Unkenntnis des wahren Wesens von Glück zurück. Er behauptete, dass man ein objektives Wesen von Glück ausmachen und das Wissen um dieses Wesen auch das Glücklichsein garantieren könne. Beides ist jedoch unmöglich. Es gibt keinen allgemeingültigen Begriff ff von dem, was Glück inhaltlich ist. Man kann nur beschreiben, was das Wesen menschlichen Glücks unter formalanthropologischem Gesichtspunkt ausmacht. Zudem leuchtet ein, dass das Wissen
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darum, was Glück ist und welche Voraussetzungen es hat, nicht eo ipso bedeutet, glücklich zu sein. Andererseits kann es aber helfen, in der richtigen Weise sein Glück zu suchen und ihm ein Stück näher zu kommen.
Glück als philosophisch-anthropologische Kategorie Es lohnt sich also zu untersuchen, was menschliches Glück ausmacht, welchen Bedingungen es unterliegt. Folgenden Fragen gilt es nachzugehen: Ist das Glück ein Zustand oder eine Tätigkeit oder ein Augenblickserlebnis? Unter der Voraussetzung, dass es auf einen in gewissem Maß anhaltenden Zustand hinausläuft, ft handelt es sich dann um einen Zustand des Gemüts, des Geistes oder des Leibes? Und welche Dinge, Verhältnisse, Tätigkeiten, Erlebnisse und Lebensformen tragen maßgeblich dazu bei, dass es sich einstellt? Schon erste spontane Antworten machen klar: Glück ist nicht gleich Glück. Sowohl die Philosophie als auch die Semantik des Begriff ffs „Glück“ unterscheiden zwei grundlegende Bedeutungen. Glück als „fortuna“
Glück als fortuna meint den Glücksfall, die Glücksgabe, den glücklichen Umstand, einfach das Glückhaben. Das besagt in etwa dasselbe wie im Griechischen „Eztzx2a“ (eutychia), im Französischen „fortune“ bzw. „chance“ oder im Englischen „luck“. Diese Art des zufälligen Glücks kann sich einstellen – in Form eines Ereignisses, sei es mit positivem Charakter im Sinn des glücklichen Zufalls (zum Beispiel ein Lottogewinn) oder sei es mit der negativen Struktur der Abwendung oder Verhinderung von Übel (man verpasst zum Beispiel das Flugzeug, das dann abstürzt) – in Form von Glücksgütern bzw. glücklichen äußeren Umständen, die der eine hat und der andere entbehren muss (zum Beispiel Gesundheit, reiche Erbschaft, ft schneller Erfolg, Wohlstand, …) Einen Menschen, der von dieser Art des Glücks besonders begünstigt wird, bezeichnet man gern als „Glückspilz“, im Lateinischen als „Fortunatus“. Glück als „beatitudo“
Glück als beatitudo (auch: felicitas) entspricht der griechischen „ePdaimon2a“ (eudaimonia), dem französischen „bonheur“ bzw. der „félicité“ und der englischen „happiness“. Dieses Glück meint nicht ein rein objektives, einem von außen zufallendes Gut, sondern das subjektive Glückserleben, d. h. das Glücklichsein auf der Basis der richtigen Disposition der Seele. Der Wortbedeutung nach meint die „Eu-daimonia“ den guten
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Geist, der den Menschen befähigt, die sich ihm bietenden Möglichkeiten zu entfalten, die Gaben des Lebens zu empfangen und deren Entbehrung getrost und guten Mutes zu tragen. Diese Art des Glücklichseins tritt in zweierlei Gestalt auf: – als transiente Glücksempfi findungen (Glück des Augenblicks), meist in Form eines Hochgefühls bei Höhepunkterlebnissen: Etwa bei leiblichen Genüssen und körperlichen Vergnügungen oder bei geistigen „peak experiences“, die das Herz des Menschen mit Freude und Dankbarkeit erfüllen, wie zum Beispiel das Erleben der Schönheit der Natur, der Geborgenheit in der Liebe eines Menschen oder das Berührtsein vom Geheimnis des Lebens. Diese Art des Glücks wird als reines Geschenk erlebt, allerdings als Geschenk, das auch entgegengenommen werden will und muss. In der Erfahrung sinnlich-geistiger Höhepunkte offenbart ff das Glück eine Erlebnisqualität, die in gewissem Maß zu seinem Wesen und seiner Eigenart gehört, nämlich den Charakter des Euphorisch-Ekstatischen und des Entgrenzend-Transzendierenden. Im Glücksrausch übersteigt der Mensch oft ft seine emotionalen und geistigen Grenzen. Umgekehrt ruft ft das Transzendieren von körperlichen, emotionalen und geistigen Grenzen Glücksgefühle hervor. Dieser Effekt ff tritt vor allem dann ein, wenn die Anforderungen im richtigen Verhältnis zu den eigenen Fähigkeiten stehen, sodass die Aktivität des Menschen in der Mitte zwischen Unter- und Überforderung liegt. Das ist jene Glückserfahrung, die M. Csikszentmihalyi mit dem Begriff ff „fl flow“ beschrieben hat.16
Flow-Kanal nach Csikszentmihalyi
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– als katastematische Glücksempfi findungg bzw. personal-existentielles Tiefenglück: Gemeint ist hier ein anhaltender Zustand tiefer innerer, seelischer Harmonie, begleitet vom existentiellen Grundgefühl der Dankbarkeit und Freude am Dasein, in dem der Mensch als Person sein Leben im Ganzen als gut erlebt. Das katastematische Glück – abgeleitet vom griechischen kat/sthma = Zustand, Benehmen – besteht also darin, die eigene Existenz als Ganzes mit innerer Zustimmung zu umfassen, Ja zu sagen zu dem, was einem das Leben beschert, das sichere Gefühl zu haben, dass die eigene Art zu sein und zu leben gut ist und mit Vertrauen in die Zukunft ft zu blicken. Diese Art von Glück ist weniger Glückssache, hängt kaum von äußeren Glücksfällen ab, sondern ist – wie schon Heraklit, Demokrit und Aristoteles erkannten – an eine innere Seelenverfassung, an die Einstellung des Menschen zu sich selbst und zu den Realitäten seines Lebens gebunden. Das Tiefenglück hat somit wesentlich mit der Erfüllung und Vollendung des eigenen Seins und Wesens zu tun. An diesem Punkt beginnen wir zu verstehen, dass es trotz aller Abhängigkeit von vorgegebenen Verhältnissen und Schicksalswendungen doch auch so etwas gibt wie ein persönliches „Talent zum Glück“ (Novalis).17 Das Tiefenglück lebt von einzelnen Erfahrungen, die wir in bestimmten Augenblicken und Situationen machen und die emotional meist viel intensiver als das Glück im Sinn eines erfüllten Grundgefühls des Daseins sind. Es ist aber nicht bloß die Summe der einzelnen Glücksmomente, schon gar nicht die bloße Folge glücklicher Zufälle. Es handelt sich vielmehr um eine neue, höhere Qualität von Glück, ähnlich wie die Köstlichkeit des schäumenden Sturms in der klaren, reifen Qualität des vergorenen Weines (im dreifachen Hegelschen Sinn) aufgehoben ist. Die einzelnen, bisweilen sehr intensiven Erfahrungen des Glücks sind in dieser Form personal integriert in den Sinn- und Wertehorizont des Daseinsganzen eines Menschen.
Die Verantwortung des Einzelnen für sein Glück Die Bedeutung des philosophischen Begriffs ff von Glück als Eudaimonía lag und liegt geistesgeschichtlich darin, dass sich durch ihn das Bewusstsein entwickelte, dass das Glück nicht primär von der Macht des Schicksals, der Götter und der Notwendigkeit (Bn/gkh) abhängt, sondern wesentlich in der Verantwortung des einzelnen Menschen liegt. Man erkannte, dass sich allein auf die Launen der eutychia zu verlassen, den Menschen in eine innere Passivität versetzt, die ihn zu einer unreifen Wunschhaltung, einem blinden Defätismus oder einer selbstmitleidigen Opferrolle verführen kann, statt Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. In diesem Sinn beklagt schon der Vorsokratiker Demokrit (460–371 v. Chr.), dass die Tyche, der glückliche Zufall, von den Menschen oft ft als Vorwand für ihre Hilfl flosig-
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keit und als Lückenbüßer für die Ratlosigkeit angesichts des eigenen Schicksals missbraucht wird. Tatsächlich übe aber die Göttin Tychee keinen wirklichen Einfl fluss auf den Menschen aus.18 Glück und Unglück sind vielmehr eine Angelegenheit der seelischen Verfassung, fallen also in die Kompetenz des Menschen. „Sowohl der gute wie der böse Daimon gehören der Seele an“, heißt es bei Demokrit im 171. Fragment.19 Noch prägnanter hat diese Einsicht bereits Heraklit (520–460 v. Chr) in dem berühmten Wort „Des Menschen Verhalten (Charakter, Sinnesart) ist sein Schicksal“ („l}ow Bn}r5pN da2mvn“)20 zum Ausdruck gebracht. Damit rückt ein Gedanke in das Blickfeld, der auch in der modernen Glücksforschung die zentrale Rolle spielt: Ob jemand Glück hat, ist reine Glückssache, ob jemand aber glücklich ist, das ist ganz wesentlich Menschensache. Sich allein auf die unplanbaren und kontingenten (zufälligen) Faktoren des Glücks zu verlassen, ist der beste Weg, unglücklich zu bleiben oder sogar unglücklich zu werden. Die moderne empirische Psychologie geht davon aus, dass nur etwa 10 % unseres Glücksniveaus von äußeren Umständen abhängen, also von Gesundheit oder Krankheit, Reichtum oder Armut, Aussehen, Familienstand und dergleichen.21 50 % seien quasi genetisch festgelegt im Sinn eines „Glücksfi xpunktes“ (happiness set-point), worunter eine Art „Glücks-Grundwasserspiegel“ (Bauer) zu verstehen ist, auf den sich der Einzelne auch nach intensiven positiven oder negativen Erfahrungen, nach Glücksoder Unglücksmomenten, immer wieder einpendelt. Diese Th Theorie beruft ft sich vor allem auf Zwillingsforschungen, unter denen die an der University of Minnesota 1996 von David Thoreson Lykken und Auke Tellegen an über 4000 Zwillingen durchgeführten „Happiness-Twin-Studies“ herausragen. Sie fanden heraus, dass eineiige Zwillinge, die unabhängig voneinander in verschiedenen Adoptivfamilien ihr eigenes Leben führten, sich in ihrem Glücksniveau viel ähnlicher waren als zweieiige Zwillinge, die im selben Elternhaus aufwuchsen.22 Die restlichen 40 % des realen Glücksempfi findens hängen von bewussten Verhaltensweisen ab. Auf diese kommt es also an, denn sie liegen in der Macht der Einzelnen. Von ihnen hängt es ab, ob sich das Glückserleben in kleinen Schritten verbessert oder zumindest auf gutem Niveau gehalten werden kann, oder ob es sich verschlechtert. Zu dieser prozentuellen Auft fteilung der Glücksbedingungen ist freilich kritisch zu bemerken, dass es grundsätzlich – was die empirische Psychologie auch zugibt – sehr schwierig ist, den Glückspegel zu bestimmen. Hat man in der Antike das Glück primär am Erreichen bestimmter objektiverr Ziele (etwa der Gewinnung äußerer Güter und innerer Haltungen) gemessen, so misst man es heute vorherrschend am subjektiven Wohlbefi finden. Dementsprechend fördern die Untersuchungen zur Selbsteinschätzung des Grades des Glücksempfi findens ganz unterschiedliche Ergebnisse zu Tage, je nachdem, welche Maßstäbe und Kriterien angelegt werden, d. h. ob nach rein subjektiven Empfi findungen oder nach objektiv messbaren Größen wie Gesundheit, Bildung, Wohlstand und dergleichen gefragt wird. Zum anderen erscheint es fragwürdig, von einem rein genetisch determinierten Glücksfundament auszugehen. Ohne den Einfl fluss gene-
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tisch-neurologischer Faktoren auf den Charakter und die Mentalität eines Menschen leugnen zu wollen, steht doch außer Zweifel, dass auch epigenetische, psychosoziale, pädagogische und selbstbildende Faktoren eine entscheidende, wenn nicht sogar die entscheidende Rolle spielen.
Einfl flussfaktoren auf das Glücksniveau – eigene Darstellung
Glück in der Regie des Einzelnen Wir haben gesehen, dass sowohl Philosophie als auch empirische Psychologie betonen, dass jeder Mensch selbst seines Glückes Schmied ist; allerdings nur in gewissem Maß. Ansonsten steht man zum einen in Gefahr, faktisch glücklosen Menschen gegenüber zynisch und unsolidarisch zu sein, zum anderen wäre es unrealistisch und anmaßend zu meinen, das eigene Glück sei machbar in der Art, wie ein Schlosser sein Gittertor schmiedet. Mit dieser Einstellung würde man die Eigenart der Unplanbarkeit des Glücks ignorieren. Im Hinblick auf die Verantwortung für das eigene Glück steht der Einzelne aber dennoch vor der Frage, was er konkret beitragen kann und soll. Ganz allgemein lässt sich sagen: Das Glück hängt entscheidend davon ab, wie wir mit der konkreten Realität unserer Existenz umgehen, welche Entscheidungen wir treff ffen, welche Schwerpunkte und Prioritäten wir im Leben setzen und welche Einstellung wir zu zentralen Fragen und Werten haben. Die Philosophie kann die Frage nicht materialiter im Detail beantworten, insofern Glück eine subjektiv-situative Kategorie bleibt, aber sie kann eine anthropologische Grundorientierung geben. Die Erfahrung zeigt, dass zu allen Zeiten Menschen unüberlegt und oberflächlich fl das als Glück defi finierten, was Abhilfe in der augenblicklichen Not oder Befriedigung
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für das aktuelle Begehren versprach. Dementsprechend wird und wurde Glück von vielen Menschen mit äußeren (vielfach materiellen) Gütern wie Reichtum, Ehre, Macht, Karriere, Gesundheit, langes Leben usw. gleichgesetzt. Seit Beginn der Neuzeit sah man (im Sinne des Utilitarismus von Francis Hutcheson und Jeremy Bentham) zunehmend mehr in der Entwicklung des zivilisatorischen Fortschritts die Garantie für möglichst großes Glück für möglichst Viele. Die Bedingungen des Glücks wurden seither tendenziell mehr im Bereich des Habens und weniger in der Dimension des Seins gesucht. Die Defi finition dessen, was ein Glücksgut ist, erfolgte unter dem ökonomischen Gesichtspunkt der Quantität des zu erwartenden Genusses. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts hat sich wohl das Augenmerk vom äußeren auf eine neue Form des inneren Glücks, nämlich auf die Erlebnisqualität, gerichtet. Die Erlebnisrationalität wurde zum neuen Paradigma der Suche nach Sinn und Glück. Aber auch diese Form des Glücksstrebens scheint der Maxime der Maximierung des Habens nicht zu entkommen, sondern ebenso in subtiler Weise der Hab-Gier und Konsumhaltung zu frönen. Ein wesentlicher Hinweis auf die angemessene Form, nach Glück zu streben, steckt in der fast banal wirkenden Erkenntnis des Aristoteles, dass das Glück, insofern es ja um das Glück des Menschen geht, eine spezifisch fi menschliche Wirklichkeit sein muss. Glück kann also nicht etwas Göttlich-Übermenschliches oder etwas dem Wesen des Menschen Widerstreitendes sein, sondern muss etwas ihm Eigentümliches sein. Da Aristoteles davon ausging, dass die Vernunft ftbegabung das dem Menschen gegenüber allen anderen Lebewesen Eigentümliche sei, sah er „in der tätigen Verwirklichung (enérgeia) der Seele gemäß der Vernunft ft (katà lógon) oder zumindest nicht ohne die Vernunft ft“23 das Glück des Menschen. Zugegeben, der aristotelische Begriff ff von Glück ist nicht ganz unproblematisch, insbesondere seine Überbetonung der Vernunft ft, weswegen er etwa Kindern oder Tieren die Glücksfähigkeit abspricht. Außerdem ist es nicht leicht, das dem Menschen Wesenseigene zu bestimmen. Dennoch lassen sich grundlegende Erkenntnisse über das menschliche Glück ableiten: – Da es kein objektiv feststehendes Wesen des Menschen gibt, dieses vielmehr geschichtlich bedingt und hinsichtlich mancher konkreter Spezifi fizierungen im Wandel begriff ffen ist, verändern sich auch die Glücksvorstellungen. – Glück als Verwirklichung des spezifi fisch Menschlichen umfasst sowohl allgemeine Faktoren, gewisse objektiv-anthropologische Grundkonstanten – man denke an den Hinweis, dass Glücklichsein nicht gänzlich ohne die Vernunft ft und nicht ohne Berücksichtigung der sittlichen Verantwortung der Lebensvollzüge möglich ist – als auch subjektiv-individuelle Faktoren, die sich aus dem ergeben, was der einzelnen Person wichtig und wertvoll ist. – Glück als Erfüllung der höchsten (besten) Möglichkeiten des Menschen als Menschen ist nicht zu trennen von der Sinnerfahrung. Denn zum Eigentümlichen des Menschen gehören die Sinn-Fähigkeit und sein Ausgerichtetsein auf Sinn. Glück
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hat also mit Sinn zu tun, ist eben nicht ohne Logos qua Sinn möglich. Idealiter bilden sie die zwei Seiten der einen Medaille.24 Man könnte sagen: Der Mensch erlebt personal-existentielles Glück nur dann, wenn er gleichzeitig sein Leben im Ganzen als sinnvoll erlebt und die einzelnen Glückserfahrungen integrative Bestandteile eines größeren Sinnhorizonts sein können. Aristoteles betont zudem die tätige Verwirklichung der Seele als Bedingung des Glücks. Die Analyse von Sinnlosigkeitserfahrungen zeigt, dass das Erleben von Glück und Sinn wesentlich mit Handeln-Können, d. h. mit der Verwirklichung der genuinen Möglichkeiten, zu tun hat (vgl. das „Flow“-Erleben). So wird etwa die krankhaft fte Tendenz zum permanenten Aufschieben von zu erledigenden Aufgaben, also das Problem der Prokrastination, zum sicheren Hindernis für Glück. Demgegenüber ist immer wieder vom „Glück des Handelns“ (Hans-Werner Rückert) die Rede.25 Es gibt kein Glück ohne Aktivität26 und ohne aktive Stellungnahme. Die Erfüllung der besten Möglichkeiten des Menschen als Menschen impliziert einzelne Höhepunktserlebnisse ebenso wie das sogenannte Tiefenglück im Blick auf das Ganze des Lebens. Aristoteles weiß aber, dass Glück nicht ausschließlich in der Macht des Einzelnen liegt, sondern sehr wohl auch von der Qualität der Gemeinschaft ft und der Einbindung in sie sowie von der Gunst der Götter, d. h. von einem Mindestmaß an günstigen Umständen, abhängt. In diesem Sinn betont er, dass Glück im Letzten „gottgegeben“ ist.27 Das ändert aber nichts daran, dass den äußeren Glücksfällen nur eine relative Bedeutung zukommt. „Fortuna“ ist zwar in gewissem Maß notwendige, aber keinesfalls hinreichende Bedingung des Tiefenglücks. Es gibt auch – und das gar nicht so selten – glückloses Glück im Sinne von fortuna-losem Glück. Vielleicht ist das sogar der Normalfall. Wenn das Glück an die Verwirklichung des Menschen als Menschen gebunden ist, das Personsein aber die zentrale Eigenschaft ft des Menschen darstellt, muss auch das Glück eine personale Qualität sein, nämlich die Erfüllung des Menschen in seinem Personsein. Das Glück des Menschen nährt sich demnach aus jenen Ereignissen und Erlebnissen, die integrative Elemente des Selbstvollzugs der Person sind.
Grundbedingungen einer tätigen Verwirklichung des Menschen Damit stellt sich die Frage, welche existentiellen Faktoren die Selbstverwirklichung des Menschen als Person begründen. Im Wesentlichen ist der personale Vollzug des menschlichen Daseins durch vier emotional-geistige Grundbewegungen bedingt.28 Sind sie gegeben, kann das Leben fließen und es stellt sich das Gefühl eines gelingenden, erfüllten, glücklichen Lebens ein. In diesem Sinn könnte man folgende grundlegende Voraussetzungen des Glücklichseins anführen: – Ein Grundvertrauen in das Leben aufgrund der Erfahrung von Schutz, Raum und
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Halt im eigenen Dasein. Dieses Vertrauen drückt sich aus in einem Ja zur eigenen Realität und zur faktischen Welt, kurz gesagt im Gefühl, da sein zu können. – Das Erleben des Grundwerts, d. h. einer basalen Lebensfreude und Lebensbejahung, resultierend aus dem Gefühl, dass das Leben es gut mit einem meint. Eine so geartete Grundstimmung macht den Menschen fähig, sich dem Anderen zuzuwenden und Beziehungen zu anderen Menschen oder Dingen aufzunehmen. Glücklich kann nur sein, wer wirklich gerne leben mag und in guten Beziehungen verankert ist. – Das Spüren des eigenen Selbstwerts aufgrund der Erfahrung, beachtet, anerkannt und wertgeschätzt zu sein. Der eigene Selbstwert zeigt sich in einem Ja zu sich selbst, zum eigenen Personsein (Selbstsein) und ermächtigt uns, authentisch zu leben und anderen in personaler Weise gegenüberzutreten und zu begegnen. Dazu gehört auch, nach Bedarf Grenzen zu ziehen, d. h. sich von anderen abzugrenzen, und zum Je-Eigenen zu stehen. – Das Erleben von Sinn durch das gelebte Ja zu transpersonalen Werten. Glück ist gekoppelt an die Fähigkeit, über sich hinauszugehen (Selbsttranszendenz), Sinnvolles zu wollen und dieses auch mit innerem Engagement zu verwirklichen. Die Erfahrung von Sinn ist zum einen auf die je konkrete Situation bezogen, in der es gilt, die jeweils beste Möglichkeit zu verwirklichen, zum anderen aber auch auf den weiteren Horizont des eigenen Daseins im Ganzen. Denn letztlich geht es um den eigenen Lebensentwurf und um das, was bleibt für die Ewigkeit.
Glücksblockaden und Glücksdispositionen in der Gegenwart Konkretes menschliches Glück erwies sich als ein vielschichtiges Ganzes aus nicht immer verfügbaren, kontingenten Faktoren und disponiblen, in der Verantwortung des Einzelnen liegenden Momenten, die jeweils in einem inneren Zusammenhang mit der Erfüllung und Vollendung des Menschen als Person stehen. Diese Ambivalenz unterstreicht auch die Etymologie des deutschen Begriffs ff „Glück“. Glück kommt vom mittelhochdeutschen „gelücke“. Dies bedeutet die „Art, wie etwas ausgeht“, also den günstigen Ausgang eines Ereignisses. Damit einem eine herausfordernde Aufgabe „glückt“, braucht es einerseits eine entsprechende Anlage und deren Weiterentfaltung zu guten Fähigkeiten, andererseits aber auch die nötigen günstigen Umstände. Die Erfahrung zeigt, dass insofern eine eigenartige Dialektik zwischen beiden Faktoren besteht, als oft ft mals diejenigen, die etwas für ihr Glücklichsein tun, auch von den äußeren Umständen her eher Glück haben und umgekehrt. Wer glücklich sein oder werden will, sollte daher mit innerer Energie darangehen, die Bedingungen dafür im eigenen Leben und in der eigenen Persönlichkeit zu schaffen. Auf die Frage, wie das geschehen kann und wo man ansetzen soll, gibt es Antworten und Ratschläge zuhauf.
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Unter der Voraussetzung, dass Glück auf der Verwirklichung der genuinen Möglichkeiten des Menschen als Person beruht, der aber dabei nachhaltig von gesamtgesellschaftlichen ft Mentalitäten und Wertmaßstäben beeinfl flusst wird, sollen hier einerseits konkrete, heute im Vordergrund stehende Glücksblockaden und andererseits einige wesentliche Faktoren, die zum Glücklichsein disponieren, hervorgehoben werden. Glücksblockaden bzw. Glücksdestruktoren
Dass jemand nicht glücklich ist oder meint, glücksunfähig zu sein, hat häufi fig damit zu tun, dass die Person in bestimmten Grundeinstellungen verhaftet ft ist, die das Glück blockieren. Sie sind natürlich individuell verschieden. Es lassen sich dennoch einige „Glückskiller“ nennen, die aufgrund gesellschaft ft licher Trends gegenwärtig besonders virulent und weitverbreitet zu sein scheinen. Zu ihnen gehören meines Erachtens vor allem Angst, Gierr und Narzissmus – Fehlhaltungen, die allesamt aus einer großen Verunsicherung des Menschen in seinem Selbstsein resultieren. Ihre derzeitige Vorherrschaft ft steht zweifelsohne in einem inneren Konnex mit dem subtilen, aber nachhaltigen Einfl fluss der Postmoderne auf die heutige Gesellschaft fts-, ft, in der der Wert- und Weltordnung.29 Sie sind aber auch Ausdruck einer Gesellschaft Einzelne glaubt, nur noch durch Leistung und Selbstdarstellung seinen Wert sichern zu können. Inwiefern erweisen sich Angst, Gier und narzisstische Selbstsorge als Glücksantagonisten? Die Angstt lässt das Leben erstarren, sei es die ungerichtete generalisierende Angst des Daseins, sei es die Angst vor Leid, Krankheit oder Tod, sei es die Angst zu versagen oder nicht anerkannt und geliebt zu sein. Aus der Psychologie weiß man, wie schwer es ist, die Angst zu steuern. Ist sie einmal da, gewinnt sie eine Eigendynamik und wird zum Tyrannen der Seele. Die Gier hat verschiedene Objekte. Heute richtet sie sich besonders auf Macht, Ansehen, Wohlstand und Lust. Im Grunde ist jede Gier eine Form der Hab-Gier, r die den Menschen umtreibt, ihn ruhelos und unzufrieden macht. Sie lässt das Auge blind werden für die Schönheit des Lebens, verbannt Dankbarkeit und Freude aus dem Herzen und vergiftet ft das Denken. Die Gier zu haben tötet die Fähigkeit und die Freude zu sein. Das Grundproblem einer narzisstischen Selbstsorge liegt in der Unsicherheit hinsichtlich des eigenen Selbstwerts, in der nicht gefundenen oder wieder verlorenen Identität und Authentizität und im mangelnden Gefühl, so selbst sein zu dürfen, wie es dem eigenen Sein und Wollen entspricht. Nicht wissend, wer er ist, weiß der Mensch nicht, was er eigentlich will, was das Seine ist. Der so verunsicherte Mensch orientiert sich vorwiegend am Außen und kompensiert die innere Leere, indem er – getrieben von einem tiefen Bedürfnis nach Bewunderung – gerne Größenphantasien entwickelt und Authentizität durch Selbstinszenierung ersetzt.30 Letztlich treibt die narzisstische Egozentrik den Menschen in die innere und äußere Isolation, da er unfähig wird, an-
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dere um ihrer selbst willen zu lieben und sich „unverzweckt“, aus ehrlichem Interesse, Aufgaben zu widmen. Dispositionen für das Glück
Auf dem Hintergrund gesellschaft ft licher Tendenzen scheinen heute folgende existentielle Dispositionen hilfreich zu sein, um Glück finden fi und erleben zu können: – Grundlage des Glücksstrebens sollte sein, den eigenen Möglichkeiten gemäß zu leben, d. h. die eigene Realität und die eigenen Grenzen zu respektieren und sich nicht zu überfordern (vgl. Demokrit). Hier ist auch all das anzusiedeln, was mit Lebenszufriedenheitskompetenz zu tun hat. – Gleichzeitig bleibt es unverzichtbar, das Je-Eigene (das, wozu man sich berufen fühlt) zu entdecken und mit Entschiedenheit und Hingabe zu verwirklichen. Im besten Fall kann man – unter Berücksichtigung der ersten beiden Dispositionen und somit in der Mitte zwischen Über- und Unterforderung bzw. zwischen Gier und Angst – selbstvergessen ganz aufgehen in einer Tätigkeit. Man erreicht den „Flow“-Zustand (M. Csikszentmihalyi). Existentiell-zuständliches Tiefenglück kann sich nur einstellen, wenn der Mensch sein Leben lebt. – Glücklichsein setzt voraus, da zu sein in seinem Leben und das Schöne, das im Hier und Jetzt steckt, auszukosten. Wer in Gedanken und mit seinem Wollen immer schon bei den anstehenden Aufgaben oder noch erhofften fft Höhepunkten ist, entleert den Augenblick und ist in seinem Leben nicht zu Hause. Bewusst erlebte angenehme Gefühle sind die tägliche Nahrung für einen dauerhaft ft hohen Glückspegel. – Wenn menschliches Glück daran gebunden ist, die eigene Existenz in ihrer Ganzheit als gut und sinnvoll zu empfi finden, sollte auch eine gewisse kontemplative Dimension im Leben nicht fehlen. Denn die Stille ist ein privilegierter Ort, an dem der Einzelne zu sich selber kommt, ihm das ihm Wesentliche aufl fleuchtet, er die Welt und die eigene Person in ihrem Selbstwert erspürt, das eigene Leben als Ganzheit zu sehen beginnt und Nähe zum Seins- und Sinngrund des Ganzen aufnehmen kann. In der Stille vollzieht sich eine Entfunktionalisierung des Daseins, der Mensch kommt vom Ich in sein Selbst, quasi in das Zentrum seiner Person, das im Rahmen spiritueller Erfahrung als Ort der Gegenwart des Göttlichen wahrgenommen und erlebt werden kann. Im Annehmen dessen, was sich zeigt, kann dieses Eintauchen in die Tiefe des Seins ein Ort werden, wo sich auch für Schweres und Leidvolles ein neuer Sinnhorizont eröff ffnet, sei es, dass der Mensch das, was ist und wie es ist, versteht, oder sei es, dass er sich zur aktiven Stellungnahme oder zur Erneuerung des Existenzvollzugs aufgefordert fühlt. In gewissem Sinn könnte man sagen, dass der Sinngrund selbsttätig wirkt.31 Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Ausrichtung des eigenen Glücksstrebens an den hier ausgeführten Schwerpunkten und das Üben der sich daraus ergebenden existenziell-personalen Tugenden schützen natürlich nicht vor jeglichem Unglück. Sie
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sind aber ein gutes Fundament dafür, unter möglichst vielen Umständen glücklich sein zu können.32 Laut empirischer Glücksforschung lohnt sich das konsequente Streben nach Glück unter sozialen Gesichtspunkten allemal.33 Glückliche Menschen weisen nämlich in den verschiedensten Lebensbereichen die besseren Endergebnisse auf. Sie sind geselliger, hilfsbereiter, kreativer, fl flexibler, attraktiver und beliebter. Sie haben mehr soziale Kontakte, tun sich leichter, zwischenmenschliche Beziehungen zu pfl flegen, haben stabilere und erfüllendere Partnerschaft ften, sind produktiver am Arbeitsplatz und die besseren Führungskräft fte. Sie verdienen mehr Geld, bilden ein stärkeres Immunsystem aus, sind gesünder und leben länger. Das klingt beinahe wie im Schlaraffenland. ff Glücklich zu sein macht zweifelsohne stark. Allerdings muss bedacht werden, dass es sich um eine Wechselwirkung handelt. Das bedeutet, dass man sich hinsichtlich so mancher Eigenschaft ften fragen muss, was hier Ursache und was Wirkung ist.
Anmerkungen 1 Nach Augustinus ist das Glück, das der Mensch sucht, kein rein irdisches Wohlergehen, sondern das „ewige Leben“. Daher kann er nur durch Hoff ff nung auf das künft ft ige Heil glückselig werden (vgl. Augustinus, Der Gottesstaat, I 19, 4); denn „so wie das Leben des Fleisches die Seele ist, so ist das selige Leben des Menschen Gott (beata vita hominis deus est)“ (Der Gottesstaat, 19, 26). Auch für Thomas von Aquin ist die Glückseligkeit nicht von Gott zu trennen, insofern Glück als höchste Vollendung des Menschen (ultima hominis perfectio) durch die Erlangung des letzten Zieles (adeptio ultimi fi finis) und Gott als eben dieses letzte Ziel verstanden wird (vgl. Summa theologiae II / 1, q. 1, a. 8 und q. 3, a. 2). Aus diesem Grund leuchtet ein, dass dem Menschen auf seinem irdischen Pilgerweg nur eine unvollkommene Glückseligkeit (beatitudo imperfecta) möglich ist, während das vollkommene Glück (beatitudo perfecta) ihm erst im Jenseits durch die beseligende Schau der Wirklichkeit Gottes zugänglich ist (vgl. Summa theologiae II / 1, q. 3, a. 2 ad 4). 2 Vgl. Höffe, ff Kant, 177–181. 3 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 1. 4 Vgl. ders., Kritik der praktischen Vernunft, ft A 112. 5 Vgl. ders., Kritik der reinen Vernunft, ft A 806. 6 Vgl. dazu die Literaturliste am Ende des Buches. 7 Vgl. Spiegel-Online vom 20. Februar 2007. 8 Vgl. Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, I 1, 1094a 1–2. 9 Vgl. ebd., I 1, 1094a 18. 10 Ebd., I 5, 1097b 20. 11 Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, ft A 110–113. 12 Vgl. Höffe, ff Kant, 149 f. 13 Declaration of Independence. Übersetzung durch den Verfasser. 14 Vgl. Schleiter, Glück, Freude, Wohlbefinden, fi 4–12, bes. 7. 15 Vgl. Stelzig, Keine Angst vor dem Glück, 17–62. 16 Vgl. Csikszentmihalyi, Flow, 104–110, Grafik fi 107. 17 Dieser Ausdruck wird gemeinhin Novalis zugeschrieben. Genaugenommen spricht dieser
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aber wörtlich von einem „Talent für das Schicksal“. Vgl. Novalis, Das Allgemeine Brouillon, Nr. 607. Vgl. Diels / Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. 2: DK 68 B 119. „ePdaimon2h {zxVw ka; kakodaimon2h“. Demokrit, in: Diels / Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. 2: DK 68 B 171. Ebd., Bd. 1: DK 22 B 119. Vgl. Lyubomirsky, Glücklich sein, 30 f. Vgl. Lykken, Happiness; und ders. / Tellegen, Happiness is a Stochastic Phenomenon. Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, I 6, 1098a 7–8. (Übersetzung jeweils nach O. Gigon.) Vgl. Bauer, Zwischen sinnlosem Glück und glücklosem Sinn. Vgl. Rückert, Entdecke das Glück des Handelns. Vgl. Lyubomirsky, Glücklich sein, 79. Vgl. Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, I 10, NE 099b 15 f. Vgl. Längle, Die Grundmotivationen menschlicher Existenz. Vgl. Bauer, Narzissmus als Signatur der postmodernen Gesellschaft. ft Vgl. ders., Leben und Glauben in einer (postmodern-)narzisstischen Gesellschaft. ft Vgl. Kreppold, Der ratlose Mensch und sein Gott, 159. Vgl. Höffe, ff Lebenskunst und Moral, 166–177. Vgl. Lyubomirsky, Glücklich sein, 35 f.
Otto Neumaier
Glück und Moral Ottound Neumaier Glück Moral
Das Streben nach Glück gilt nicht erst seit der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika als „unveräußerliches Recht“ der Menschen. Vielmehr bestimmt bereits Aristoteles die Glückseligkeit als oberstes moralisches Ziel menschlichen Strebens, „denn diese suchen wir stets wegen ihrer selbst und niemals wegen eines anderen“.1 Das bedeutet freilich nicht, dass der Zusammenhang zwischen Glück und Moral außer Frage steht, zumal die Menschen – wie auch Aristoteles betont – darüber streiten, „was […] die Glückseligkeit sei“.2 Dieses Problem gründet wohl nicht nur darin, dass wir uns subjektiv alle etwas anderes unter Glück bzw. Glückseligkeit sowie unter Moral vorstellen; vielmehr liegt es auch am Umstand, dass wir die Ausdrücke „Glück“ und „Moral“ vieldeutig verwenden.
Von Glück reden Die Bedeutungsvielfalt des Ausdrucks „Glück“ führt uns etwa Mozart im Finale des 2. Aktes der „Zauberfl flöte“ vor. Dort dürfen Tamino und Pamina vor den letzten Prüfungen zum ersten Mal miteinander sprechen und einander umarmen, worauf sie singen: „O welch ein Glück!“ Dabei geht es zunächst um das Glück, das sie in diesem Augenblick empfinden, fi aber nicht nur darum: Es ist nämlich nicht selbstverständlich, dass es zu dieser Vereinigung der Liebenden kommt, sondern sie bedürfen auch des Glücks im Sinn bestimmter äußerer Umstände, die (ebenso wie die ihnen zur Hand gegebenen „Zauberdinge“) das Eintreten dieser Situation befördern (oder zumindest nicht verhindern). Das Glück, von dem Pamina und Tamino singen, umfasst mithin ein subjektives und ein objektives Moment, wobei für den zweiten Aspekt nicht nur zufällige günstige Umstände in Frage kommen, die wir durch unser Handeln nicht oder nur begrenzt beeinfl flussen können, sondern auch Rahmenbedingungen für unser Handeln, die dieses insofern beschränken, als sie vorherbestimmtt sind. So verkündet denn Sarastro am Beginn des 2. Aktes der „Zauberfl flöte“, die Götter hätten Tamino „das Mädchen Pamina bestimmt“. Wenn dem so ist, stellt sich die Frage, weshalb es der Prüfungen bedarf. Die Vorstellung der schicksalhaft ften Bestimmung scheint indes für Mozart und Schikaneder nicht die Annahme auszuschließen, dass wir uns dennoch ihrer würdig
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erweisen müssen und dass wir beim Versuch, ein uns bestimmtes Glück zu erfahren, auch scheitern können. Dieser uns etwas sonderbar anmutende Gedanke lässt sich (zum Teil) dadurch erklären, wie sich die Bedeutung des Wortes „Glück“ entwickelt hat. Mit „Glück“ war ursprünglich jemandes Schicksal oder der Ausgang einer Sache gemeint; bereits im Mittelhochdeutschen entwickelte sich jedoch eine alternative Verwendungsweise, die den günstigen Verlauff eines Geschehens bezeichnet, insbesondere aber das Gelingen einer zielstrebigen Handlung aufgrund des eigenen Geschicks.3 Im Sinn eines Schicksals, dem wir ausgeliefert sind, kann sich das Glück als gut oder schlecht erweisen. Davon zeugt etwa Petrarcas 1366 verfasste Schrift ft „De remediis utriusque fortunae“, für deren erste, 1532 erschienene deutsche Ausgabe die Übersetzer Peter Stachel und Georg Spalatin den Titel „Von der Artzney bayder Glück, des gvten vnd widerwertigen“ wählten. Ähnlich übersetzte Stephan Vigilius für seine 1539 veröff ffentlichte deutsche Fassung des Werkes: „Das Glückbvch, Beydes deß Gvtten und Bösen“. Diese oft ft nachgedruckte Übersetzung erschien jedoch ab 1572 als „Trostspiegel in Glück und Unglück“.4 Demnach wurde der Begriff ff des Glücks allmählich auf ein uns geneigtes Schicksal eingeschränkt und dem des Unglücks gegenübergestellt. Diese Bedeutungsverengung beruht wohl darauf, dass sich gleichzeitig die erwähnte Bedeutungserweiterung vollzog, durch die auch das Gelingen unseres Handelns als Glück ins Spiel kam, nicht nur im Sinn eines subjektiven Empfi findens, sondern auch eines objektiv feststellbaren Erfolgs, der jedoch nicht (nur) von äußeren Bedingungen abhängt, sondern (auch) von unserem eigenen Geschick. Diese Verbindung von Glück und Erfolg könnte auch auf das Schicksal zurückgewirkt haben, das nur noch im günstigen Fall als Glück angesehen wurde und wird. Die Vorstellung von Glück als einem guten wie schlechten Schicksal wirkte freilich weiter, und zwar in mehreren Formen, jeweils unter der Annahme, dass wir das, was uns bestimmt ist, weder beeinfl flussen noch vorhersehen können, weshalb es uns als zufällig erscheint. Zum einen zeigt sich darin der Glaube an eine wankelmütige Gottheit wie Fortuna, die die Gaben ihres Füllhorns „blind“ verteilt, zum anderen der Versuch, Glück als das Wirken einer vernünft ftigen höheren Macht zu erklären. In diesem Sinn kritisiert etwa Bernard Bolzano den Irrtum vieler Menschen, auch „von solchen, die für Gebildete und Aufgeklärte gelten, […] daß es ein blindes Glück in der Welt gebe, welches die Güter der Erde nach seiner eigensinnigen und wandelbaren Laune austeilt“.5 Glück oder Unglück ist laut Bolzano vielmehr „ein jeder Vorfall, der uns unvorgesehen trifft fft, den aber Gott immer sehr absichtsvoll und mit genauester Beziehung auf unser eigenes Betragen herbeigeführt hat. Beides, das Glück so wie das Unglück, zielet zu unserm Wohle ab, und ist nur darin unterschieden, dass jenes gleich in der Gegenwart, dieses erst in der Folge süß und erfreulich ist“.6 Dem steht der vermutlich mit dem Aufk fkommen naturwissenschaft ft licher Erklärungen einhergehende Gedanke gegenüber, dass der Verlauf unseres Lebens offen ff ist und
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auch durch unvorhersehbare Ereignisse beeinfl flusst sein kann. Wer keinem religiösen Glauben anhängt, sondern einem wissenschaftlichen ft Weltbild, wird also im Unterschied zu Bolzano Glücksfälle kaum als „verdiente Belohnung“ für gottgefälliges Handeln oder Schicksalsschläge als „Strafe Gottes“ und als „Erziehungsmittel“ ansehen, das letztlich unserer „Vervollkommnung und Beglückung“ diene. Auch durch Wissenschaft ft „Gebildete und Aufgeklärte“ können freilich wie Bolzano (obwohl aus anderen Gründen) annehmen, dass wir zumindest bis zu einem gewissen Grad „selbst Herrn des Glückes sind, das uns zu Teil wird“.7 In jedem Fall dürft fte dieses Thema die Menschen seit jeher beschäft ftigt haben. Zur Orientierung in der Welt und zum Selbstverständnis gehört auch die Vorstellung, dass gewisse Sachverhalte ein Glück darstellen. Diese Überlegung liegt allein schon dadurch nahe, dass wir von manchen Dingen des Lebens beglücktt sind (während uns andere unglücklich machen). Solche Erfahrungen rechtfertigen freilich noch nicht die Annahme, dass wir schlichtweg selbst Herren des Glücks sind, also allein unser Glück machen können und sollen, ebenso wenig wie die (von Bolzano verworfene) Vorstellung, wir seien bei allen unseren Unternehmungen darauf angewiesen, dass uns das Glück hold d ist. Anscheinend haben die Menschen schon früh die Erfahrung gemacht, dass das, was sie als Glück empfinden, fi nichtt bloß von ihnen selbstt abhängt, sondern auch von anderen Gegebenheiten, und sie versuchten zu erklären, wie sie zu ihrem Glück kommen. So bemühten sich etwa die Stoiker der Antike aufgrund der Annahme, dass alle Ereignisse im Kosmos kausal miteinander verknüpft ft sind, um eine „wissenschaft ft liche“ Erkundung des Einfl flusses der Gestirne auf das Schicksal der Menschen. Auch heute noch werden zumindest persönliche Horoskope mit dem Anspruch erstellt, dass sie Erklärungen des bisherigen und Vorhersagen des künft ftigen Lebens eines Menschen bieten können. Für „Gebildete und Aufgeklärte“ sind solche Überlegungen reiner Aberglaube. Die „Entzauberung der Welt“, auf welche laut Weber die Aufk fk lärung zielt, führt ja zum Glauben, dass es grundsätzlich „keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte“ gibt, sondern dass die Menschen „alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen“ beherrft lich geltendes Weltbild schen können.8 Auch ein in diesem Sinn als wissenschaft schließt indes eine „Glücksverheißung“ ein, nämlich die Annahme, dass für uns „im Prinzip“ alles – auch unser Glück – machbarr ist und dass dann, wenn wir selbst dazu nicht in der Lage, also unglücklich sind, mit den Mitteln von Wissenschaft ft und Technik etwas dagegen bzw. dafür getan werden kann. Zudem wird uns wissenschaftlich ft erklärt, dass unsere Handlungen nicht auf bewussten Entscheidungen beruhen, sondern durch Hirnprozesse verursacht sind. Demzufolge wäre Glück in Hirnstrukturen verankert – und Unglück ein „Fehler“ in neuronalen Prozessen, der durch die Gabe von Pharmaka überwunden werden kann. Diese Art von Erklärung reduziert nicht nur Glück auf den subjektiven Aspekt des Glücks-Gefühls, sondern bringt auch ebenso wie Bolzanos religiöse Deutung eine „höhere Macht“ ins Spiel, die es sozusagen gut mit uns meint.
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Wenn wir unter jener „höheren Macht“ etwas verstehen, das unser Schicksal strikt vorherbestimmt bzw. determiniert, ergeben sich Probleme für die moralische Beurteilung unseres Handelns, weil als notwendige Voraussetzung dafür gilt, dass uns Handlungsalternativen offen ff stehen, durch die wir eine Situation beeinfl flussen und ein Ziel erreichen können. Selbst wenn wir eine positive Antwort auf die Frage nach der Willensfreiheit und mithin die Möglichkeit des Handelns voraussetzen,9 sind Aspekte des Glücks im objektiven Sinn zu bedenken, d. h. etwas, worauf wir nicht unbedingt durch das Handeln selbst Einfl fluss nehmen können. Ehe wir darauf eingehen, müssen wir jedoch das Glück im subjektiven und im objektiven Sinn sowie den entsprechenden Zusammenhang etwas genauer betrachten.
Glück haben und glücklich sein Wenn wir von Glück reden, so können wir uns auf (objektive oder subjektive) Gegebenheiten beziehen – auf Sachverhalte, die für uns gut sind und unabhängig von unserem Bewusstsein bestehen, oder aber auf ein Gefühl, das wir als gut empfinden. fi Wenn der Ausdruck „Glück“ derart mehrdeutig verwendet wird (bzw. in anderen Sprachen dementsprechend mehrere Ausdrücke in Gebrauch sind10), so ist das andererseits kein Zufall, sondern dem Umstand geschuldet, dass die subjektive Empfinfi dung von Glück etwas mit den objektiven Gegebenheiten des menschlichen Lebens zu tun hat. Auf den ersten Blick könnten wir vermuten, dass wir von Glück im subjektiven Sinn sprechen, wenn wir auch objektiv Glück haben, doch so einfach ist es nicht. Die Psychologie unterscheidet vier Möglichkeiten, wie das subjektive Empfinden fi eines Menschen mit seiner objektiven Situation zusammenhängt, nämlich Wohlergehen, Dissonanz, Adaption und Deprivation:11 Von Wohlergehen ist die Rede, wenn die objektiven Bedingungen ebenso gut sind wie deren subjektive Empfi findung. Im Fall der Dissonanzz sind zwar die objektiven Bedingungen gut, nicht aber die dazugehörigen subjektiven Empfi findungen, während bei der Adaption das subjektive Empfinden fi trotz schlechter objektiver Bedingungen gut ist. Mit Deprivation ist gemeint, dass die objektiven Lebensbedingungen eines Menschen ebenso schlecht sind wie seine subjektiven Empfi findungen. Selbst wenn wir mit Aristoteles annehmen, dass alle Menschen nach Glück streben, folgt daraus nicht, dass wir in allen Lebenslagen danach streben oder dass wir nur dann vernünft ft ig sind, wenn es uns gelingt, Glück zu empfi finden. Ganz im Gegenteil mag die Vernunft ft „gebieten“, unglücklich zu sein, nämlich dann, wenn unsere objektive Situation so schlecht ist, dass es eigenartig oder sogar dumm wäre, dennoch glücklich zu sein. Das Glücksempfinden fi hat demnach etwas mit einem angemessenen Verhältnis zwischen der objektiven Situation und unserer subjektiven Einstellung zu tun. Es besteht nicht einfach in einer Beziehung zwischen einem Individuum und einer
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objektiven Situation; vielmehr schließt es eine Bewertung dieser Situation ein, die das Individuum aus bestimmten Gründen vornimmt. Eine Person kann nämlich auch unglücklich sein, obwohl ihre objektive Situation gut ist, während andererseits jemand auch trotz einer objektiv schlechten Situation relativ glücklich sein mag. So gesehen liegt es in doppelt subjektivem Sinn an uns, ob wir glücklich sind oder nicht: Einerseits geht es darum, ob wir prinzipiell fähig sind, glücklich zu sein, andererseits darum, ob es uns möglich ist, einen objektiv gegebenen, für uns günstigen Sachverhalt als Glück zu empfi finden. Wie wir damit umgehen, hängt u. a. auch vom Verhältnis zwischen dem Maß an Glück, das wir erwarten, und der tatsächlich bestehenden Situation ab. Wie das Märchen „Hans im Glück“ zeigt, kann die sukzessive Verringerung der Erwartungen zur Adaption führen; umgekehrt erzeugen allzu hohe Glückserwartungen eine Dissonanz zwischen der objektiv bestehenden Situation und ihrer subjektiven Bewertung. Mithin ist eine von Odo Marquard empfohlene Strategie bei der Suche nach dem Sinn des Lebens auf unseren Fall übertragbar: So wie laut Marquard eine „Diätetik der Sinnerwartung“ notwendig ist, um mit der Frage nach dem Sinn des Lebens sinnvoll umzugehen,12 bedarf es auch einer Diätetik der Glückserwartung, da allzu hohe Erwartungen einen Mangel an Glücksempfi findung zur Folge haben. Insofern, als es jeweils an uns liegt, wie wir uns zu unserem Leben und den objektiven Gegebenheiten stellen, ist unser Glück nicht nur als Empfindung fi eine subjektive Angelegenheit, sondern auch mit Bezug darauf, ob wir einen objektiv bestehenden Sachverhalt als gut bewerten. Das bedeutet jedoch nicht, dass jegliches Glück in einem radikalen Sinn subjektiv ist, dass es also bloß jemandes Belieben überlassen bleibt, ob er glücklich ist oder Glück hat. Zwar liegt es am jeweiligen Subjekt, ob es etwas als wertvoll und als Grund, glücklich zu sein, auffasst, ff doch ist Glück dadurch noch nicht völlig subjektiv. Vielmehr spielen dabei auch soziale und kulturelle Eindrücke sowie die Erfahrung objektiver Tatsachen eine Rolle. Dies gilt nicht nur für das Glück, sondern ebenso für Hoff ffnung, Sinn, Vertrauen oder Schönheit. Unsere Einstellungen dazu beruhen auch auf objektiven Tatsachen, dennoch liegt es an uns, ob wir einer anderen Person aufgrund unserer Erfahrung mit ihr trauen, ob wir Hoff ffnung empfi finden oder nicht, ob wir unser Leben als sinnvoll erleben oder nicht und ob wir uns an der Schönheit einer Person, der Natur oder eines Kunstwerks erfreuen. Gesellschaftliche ft bzw. kulturelle Faktoren beeinfl flussen nicht nur unsere subjektive Bewertung objektiver Gegebenheiten, sondern auch unsere Annahmen darüber, ob bzw. in welchem Maß unser subjektives Glücksempfi finden von Glück im objektiven Sinn abhängt. Einer Person, die nie irgendeine Form von Glück im objektiven Sinn erfahren hat, ist damit wohl auch nicht das Glück gegeben, Glück im subjektiven Sinn zu erleben; es ist ihr also unmöglich, Glück zu empfi finden, bzw. sie ist dazu unfähig. Glücklicherweise erfahren viele Menschen – unbeschadet der Tatsache schlimmer Erlebnisse – zumindest eine gewisse Anzahl von Glücksfällen, was es ihnen erlaubt, Glück zu empfinden, fi auch wenn eine Situation, in der sie sich zu einem bestimmten Zeitpunkt befi finden, für sie ein Unglück bedeuten mag.
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Als Menschen sind wir sowohl empfi findungsfähige Wesen, die ihren Körper und seine Zustände von innen erleben, als auch refl flexionsfähige Wesen, die sich selbst quasi von außen erfahren.13 Als empfi findungsfähige Wesen erleben wir nun aber Glück auf emotionale Weise, während wir als reflexive fl Wesen auch intellektuelle Erfahrungen von Glück machen (nicht zuletzt die, dass es uns gelingt zu verstehen, inwiefern etwas durch Zufall, durch eine wie auch immer zu deutende Schicksalsmacht oder durch unser eigenes Handeln bewirkt wird). Sowohl das innere Erleben als auch die äußere Erfahrung gehören also zur menschlichen Personalität; deshalb wäre es absurd zu sagen, dass eines davon eher das Glück im subjektiven Sinn ausmacht als das andere. Zum emotionalen Erleben von Glück gehören nicht nur manche Gefühle, deren Gegenwart uns beglückt, sondern auch Bedürfnisse, Wünsche oder Sehnsüchte, deren Erfüllung uns erfreut. Da diese auf vielerlei Gegenstände gerichtet sind, können wir zudem in verschiedenen Hinsichten glücklich sein, zum Beispiel in Bezug auf etwas, das wir (wie Lust oder Reichtum) bekommen können, oder auf etwas, das wir (wie berufl flichen Erfolg) erreichen bzw. (wie Kunstwerke oder Theorien) schaff ffen können; ebenso ist es möglich, dass wir zum Beispiel über bestimmte Seiten der eigenen oder einer anderen Persönlichkeit (wie Intelligenz, Freundlichkeit oder was auch immer) glücklich sind oder aber über Erfahrungen (wie Freundschaft ft oder Liebe), die wir mit uns selbst oder anderen Wesen machen.14 Die refl flexive Erfahrung von Glück schließt ein, dass wir eine gewisse Distanzz zu unseren Bedürfnissen, Wünschen, Sehnsüchten, Gefühlen usw. gewinnen und dass wir sie in den größeren Zusammenhang des gesamten Lebens einordnen. Dies mag als Nachteil oder Problem erscheinen, da die Refl flexion dem Glücksgefühl scheinbar die Spontaneität nimmt; sofern Refl flexion als menschliche Fähigkeit gilt, ist jedoch wohl kaum von einem grundsätzlichen Problem zu sprechen, umso weniger, als die Rolle des emotionalen Erlebens von Glück durch dessen refl flexive Erfahrung ja nicht geleugnet oder geschmälert wird. Nach Ansicht von Nietzsche müssten wir verzweifeln, wenn wir uns bewusst machen, was es heißt zu leben; das Leben schließt nämlich viele schreckliche Erfahrungen ein, die hinzunehmen schwierig ist, und es erscheint letztlich absurd, da der Tod allem menschlichen Streben ein Ende setzt. Eine Möglichkeit, dies zu überwinden, bietet uns laut Nietzsche jedoch die Kunst, die ein „metaphysisches Supplement der Naturwirklichkeit“ schaff ffe. Die Beschäft ftigung mit diesem „Supplement“ versetzt uns in die Lage, unser individuelles Leben in einen größeren Zusammenhang einzuordnen und so die „Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen“, mit denen sich nicht nur „leben lässt“, sondern die wir auch als Glück erfahren können.15 Nicht nur die Kunst hilft ft uns freilich, sogar angesichts schrecklicher Erfahrungen (wenn auch nicht ihretwegen) Glück zu erfahren. Vielmehr bietet uns etwa ein spielerisches Handeln „auf gut Glück“ eine Möglichkeit, mit eben den Gefahren und
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Schrecken umzugehen, denen wir uns herausfordernd stellen. Ähnlich wie bei dem von Nietzsche ins Auge gefassten Umgang mit Kunst, setzen wir dabei unser Leben aufs Spiel, d. h. wir distanzieren uns spielerisch von all dem, was unsere physische oder psychische Existenz „in Wirklichkeit“ bedroht, und können uns diese Gefahren dadurch aus mentaler Distanz bewusst zu machen. Eine solche spielerische Distanzierung hilft ft uns, eine Widerstandskraft ft zu entwickeln, die uns laut Kant „Mut macht, uns mit der scheinbaren Allgewalt der Natur messen zu können“16, und die insofern etwas Beglückendes an sich hat. Glück refl flexiv zu erfahren, bedeutet nicht, danach zu streben, sondern vielmehr, das Leben als solches anzunehmen, einschließlich jener Aspekte, die wir mit unserem Tun nicht beeinfl flussen können. In Fällen, in denen wir nicht nach Glück im subjektiven Sinn streben, aber doch durch gewisse refl flexive Erfahrungen mit Glück erfüllt sind, wird dieses Glück selbst zur objektiven Angelegenheit: In solchen Fällen willl ein bestimmtes Subjekt nämlich nicht so sehr glücklich sein; vielmehr widerfährtt ihm, dass es glücklich ist. Insofern, als es nicht selbstverständlich ist, dass wir diese Art von Glück erfahren, können wir aber auch sagen, dass dieses Gefühl aus Glück im objektiven Sinn erwächst.
Moral und Glück Wie der Ausdruck „Glück“ wird auch der Ausdruck „Moral“ in einer Vielfalt von Bedeutungen gebraucht, wobei zwischen deskriptiven und normativen Verwendungsweisen zu unterscheiden ist. Im deskriptiven Sinn kann nahezu Beliebiges unter Moral verstanden werden, das Maximieren von Profit fi ebenso wie das Schaff ffen schöner Gegebenheiten, das Erfüllen von Gottes Willen usw. Eine Handlung ist so gesehen „moralisch richtig“, wenn sie gemäß einer vorausgesetzten Norm bzw. Regel erfolgt; wenn ich zum Beispiel ausschließlich meinen Vorteil maximiere, so handle ich in diesem Sinn ebenso „moralisch richtig“, als wenn ich an nichts anderes denke als an das Wohlergehen anderer, wenn es mir um die strikte Befolgung von irgend jemandes Willen geht usw. Der einzige Unterschied besteht darin, dass mein Handeln jeweils durch eine andere „Moral“ bestimmt ist.17 Wenn in diesem Sinn von „Moral“ die Rede ist, geht es (etymologisch gesehen korrekt) um die von Menschen de facto gepfl flegten Sitten. Auch die philosophische Ethik geht von einer Beschreibung dieser Sitten aus, kann jedoch nicht dabei stehen bleiben, da in diesem Sinn prinzipiell jede Verhaltensregel als „Moral“ gelten kann. Um bestimmte Formen des Handelns und Urteilens von anderen Verhaltensweisen normativ als Moral im Sinn der Sittlichkeitt abzugrenzen, müssen wir gewisse Minimalbedingungen voraussetzen, etwa die von Richard M. Hare eingeführten Bedingungen der Präskriptivitätt und der Universalisierbarkeitt von Normen,18 durch die im Wesent lichen Folgendes verlangt wird:
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1. Eine Norm n ist präskriptivv genau dann, wenn eine Person x dadurch, dass x die Norm n anerkennt, auf bestimmte Handlungen festgelegt wird, die n vorschreibt. 2. Eine Norm n ist universalisierbarr genau dann, wenn gilt: Wenn zufolge der Norm n ein Gegenstand x (eine Handlung, ein Mensch usw.) einen bestimmten moralischen Status hat, so haben n zufolge alle Gegenstände, die x in relevanter Hinsicht gleich sind, denselben moralischen Status. Würde die Ethik diese Bedingungen nichtt voraussetzen, so hätte dies gravierende Konsequenzen: Wenn wir etwa auf die Bedingung der Präskriptivität verzichten, lassen wir die Möglichkeit zu, dass jemand beliebigg handelt, dabei aber beanspruchen darf, eine bestimmte moralische Norm zu befolgen. Und ohne die Bedingung der Universalisierbarkeit besteht die Möglichkeit, dass identische Fälle moralisch gegensätzlich beurteilt werden, dass ich also zum Beispiel für mich selbst in bestimmter Hinsicht ein Recht in Anspruch nehme, das ich zugleich jemand anderem abspreche, obwohl alle relevanten Umstände für uns beide gleich sind. Wenn Moral im Sinn der Sittlichkeit jene beiden Bedingungen voraussetzt, so folgt daraus, dass wir nur solche moralischen Normen rational vertreten können, denen zufolge Gleiches gleich behandelt wird. Wer sie ablehnt, hat nach Ansicht von Hare nicht verstanden, was Moral ist, d. h. Moral in einem bestimmten, normativen Sinn.19 Wer moralisch handeln will, muss demnach auch die Folgen in Kauf nehmen, die sich daraus ergeben. Der Anspruch, moralisch zu sein, ist also mit „Kosten“ verbunden. Dies gilt zwar etwa auch für Wissenschaft ft und Technik: Wer zum Beispiel beansprucht, im Rahmen einer technischen Disziplin tätig zu sein, hat nicht die Freiheit, beliebigg zu handeln; vielmehr ist er verpfl flichtet, bestimmte methodische und andere Standards einzuhalten. Während wir dies zu akzeptieren geneigt sind, scheuen wir anscheinend die „Kosten“, mit denen moralisches Handeln im normativen Sinn einhergeht, insbesondere die Forderung, dass wir dabei (und bei moralischen Urteilen über Handlungen) alle Sachverhalte gleich behandeln sollen, die in der für die Beurteilung relevanten Hinsicht gleich sind. Was hat Moral im normativen Sinn mit Glück zu tun? Zunächst sieht es so aus, als ob wir uns für eines von beiden entscheiden müssen, da die Forderung, alle von unserem Handeln Betroff ffenen in gleicher Hinsicht gleich zu behandeln, dem individuellen Streben nach Glück zu widersprechen scheint. Aber sehen wir uns die Sache genauer an. Objektives Glück als Voraussetzung moralischen Handelns
Um moralische Ansprüche an jemanden rechtfertigen zu können, ist es u. a. notwendig, dass er oder sie über Handlungsmachtt verfügt, d. h., es muss einer Person x möglich sein, einen Sachverhalt p (von dem sich die Frage stellt, ob x dafür verantwortlich ist) mit einer Handlung h kausal zu beeinfl flussen, also zwischen mindestens zwei Alternativen (dem Vollziehen oder Unterlassen einer Handlung h) zu wählen, wobei
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für mindestens eine dieser Alternativen gilt, dass x durch ihre Wahl eine gegebene Situation beeinflussen fl kann.20 Im subjektiven Sinn ist diese Bedingung zum Beispiel nicht erfüllt, wenn jemand aufgrund eines inneren Zwangs (wie etwa einer Neurose) nicht anders kann, als eine bestimmte Handlung zu vollziehen. Im objektiven Sinn ist jemand nicht verantwortlich für eine Handlung, wenn ihm in einer gegebenen Situation wegen eines äußeren Zwangs (wie zum Beispiel der Bedrohung seines Lebens oder des Lebens eines nahestehenden Wesens) nichts anderes bleibt, als eine bestimmte Handlung zu vollziehen, oder wenn sich keine Alternative eröff ff net, durch die eine Situation beeinfl flusst werden könnte. Wenn etwa bei einem Flugzeug alle Steuerinstrumente ausfallen, sodass der Pilot keine Möglichkeit mehr hat, den Flug zu beeinflussen, fl so ist er für einen Absturz und dessen Konsequenzen nicht verantwortlich zu machen. So eigenartig die Annahme erscheinen mag, jemand habe Glück, wenn er aufgrund äußerer Umstände in die Lage kommt, so zu handeln, dass sein Handeln zum Gegenstand moralischer Urteile wird, können wir uns doch vorstellen, dass wir in einer bestimmten Situation glücklich wären, wenn wir die Möglichkeit hätten, diese durch unser Handeln zu beeinfl flussen, statt dass uns nichts anderes bleibt als wirkungslose Körperbewegungen. In diesem Sinn sind wir auf das Glück angewiesen, dass wir in einer bestimmten Situation überhaupt handeln bzw. wirksam eingreifen können. Dabei geht es gar nicht unbedingt um moralische Absichten, die wir beim Handeln verfolgen, oder um moralische Urteile über unser Handeln, sondern um die Möglichkeit des Handelns im Allgemeinen; freilich gilt die Überlegung auch für Handlungen, die als moralische intendiert sind und beurteilt werden. Weitere Gesichtspunkte kommen ins Spiel, wenn wir das Moralische am Handeln genauer betrachten. Was es heißt, moralisch zu handeln, formuliert etwa Bernard Bolzano als oberstes Sittengesetz, das besagt: „Wähle von allen dir möglichen Handlungen immer diejenige, die, alle Folgen erwogen, das Wohl des Ganzen, gleichviel in welchen Teilen, am meisten befördert.“21 Demnach müssen wir zunächst überlegen, welche Handlungsalternativen in einer bestimmten Situation zur Verfügung stehen. Laut Bolzano ist jene zu wählen, die insgesamtt mit Bezug auf alle ihre Konsequenzen sowie alle davon jeweils Betroffenen ff im Ergebnis zumindest gleich gut ist wie das irgendeiner anderen Alternative. Zwar kann es vorkommen, dass jemand durch eine Handlung unangenehm benachteiligt wird, doch ist die Handlung deshalb noch nicht unbedingt falsch, wenn ihre Konsequenzen insgesamt für alle Betroffenen ff immer noch besser sind als die der anderen Alternativen. Wenn wir Grund haben, das anzunehmen, so ist es Bolzanos Sittengesetz zufolge moralisch richtig, so zu handeln, denn jede andere Alternative hätte insgesamt größere Nachteile – weshalb es moralisch falsch wäre, eine von ihnen zu wählen. In diesem Zusammenhang geht es um vorhersehbare Konsequenzen, d. h. um Handlungsfolgen, von denen mit guten Gründen anzunehmen ist, dass wir sie bei
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unserer Entscheidung abwägen können. Wenn wir etwas erwiesenermaßen nicht wissen können, dann ist es ebenfalls nicht gerechtfertigt, mit Bezug darauf moralische Ansprüche an uns zu stellen, da uns ja die Möglichkeit fehlt, es zu bedenken. Da Menschen endliche Wesen sind, ist nun aber nicht klar, was wir tatsächlich vorhersehen können, und dadurch kommt ein weiterer Aspekt von Glück ins Spiel, gerade dann, wenn uns daran liegt, moralisch zu handeln. Denken wir etwa an einen Augenarzt, zu dem ein Kind gebracht wird, das wegen einer Krankheit bereits zweimal operiert wurde und dabei auf einem Auge erblindet ist. Er steht nun vor der Frage, ob er das zweite Auge operieren soll, wobei das Risiko, dass das Kind durch die Operation auch dieses verliert, sehr hoch ist (ohne Operation allerdings ebenfalls). Der Arzt erwägt quälend lange die jeweiligen Konsequenzen der Alternativen und entschließt sich zur Operation – mit Erfolg. Dafür benötigt er auch Glück, d. h. Umstände, die außerhalb seiner tatsächlichen Handlungsmacht liegen und die selbst bei geringen Abweichungen ebenso gut zu tragischen Konsequenzen hätten führen können. Ein solcher Fall ist auch ein Beispiel für eine Situation, in die niemand gerne geraten möchte – und wenn uns vergönnt ist, keine solchen Entscheidungen treffen zu müssen, so ist dies ebenfalls ein Aspekt von Glück im objektiven Sinn. Ähnlich lassen sich Beispiele anführen, mit denen in der Ethik anhand von Extremsituationen versucht wird zu bestimmen, wo die Grenzen moralischen Handelns liegen. Stellen wir uns etwa vor, der deutsche Ornithologe Hermann, der nie eine Waffe ff in die Hand nehmen würde, geriete bei Forschungen im südamerikanischen Urwald in folgende Situation: „Auf einem Dorfplatz werden hundert gefesselte Indios von Soldaten zusammengetrieben und vor einem Bretterzaun aufgestellt. Die Indios sollen erschossen werden“, um die übrigen Dorfbewohner fb einzuschüchtern. „Adolfo, der Kommandant, begrüßt den Neuankömmling mit großem Respekt (,Mein Vater hat mir den Namen eines Deutschen gegeben, den er sehr bewunderte, und nun lerne ich endlich einen Angehörigen dieser großen Nation kennen!‘) und bietet ihm ein Gastgeschenk an: Hermann dürfe den Dorfvorsteher eigenhändig erschießen, dann werde er die anderen 99 Indios zur Feier des Tages (,Besuch eines Deutschen‘) laufen lassen.“ Andernfalls würden alle hundert erschossen. Hermann weiß, dass dieses „Angebot“ sehr ernst gemeint ist und dass er keine Chance hat, Adolfo „von seinem Vorhaben abzubringen oder ihn und seine Soldaten in einem heroischen Coup zu entwaffnen. ff Was soll Hermann tun? 99 Indios, ihre Frauen und Kinder flehen ihn an, auf das Angebot einzugehen“.22 So unwahrscheinlich ein solcher Fall sein mag, können wir derlei doch nicht mit Sicherheit ausschließen. Wenn es dazu kommt, ist dies für uns tragisch; wenn wir davon verschont bleiben, so ist uns ein Glück im objektiven Sinn gegönnt, das uns wegen der Unwahrscheinlichkeit solcher Fälle nicht unbedingt bewusst ist, dessen wir uns aber dennoch bewusst sein sollten. Bernard Williams, von dem dieses Beispiel in seinen Grundzügen stammt,23 schreibt über solche Fälle u. a. in einem Buch mit dem Titel „Moral Luck“.24 Mit derlei Beispielen weist uns Williams darauf hin, dass das
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Glück im objektiven Sinn dem moralischen Denken eine Grenze setzt, nicht zuletzt der Frage nach dem moralischen Status des Handelns. Wenn zum moralischen Handeln gehört, dass jemand in einer gegebenen Situation diejenige Alternative wählt, deren Konsequenzen für alle Betroffenen ff (einschließlich seiner selbst) insgesamt zumindest nicht schlechter sind als die einer anderen, so hat das Moralische am Handeln dieser Person nicht mit Glück im subjektiven oder objektiven Sinn noch mit Schicksal oder Zufall zu tun, sondern mit Vernunft ft, Wissen und Gewissen. Wenn in diesem Zusammenhang von Glück die Rede sein kann, dann vielmehr als etwas, das jenseits moralischer Erwägungen liegt, worüber man also in der Moral nicht sprechen kann, und zwar unabhängig davon, ob es auf eigenem Handeln, Zufall oder Schicksal beruht. Wie schon Aristoteles betont, ist jemand für eine Handlung nur dann moralisch zu tadeln (bzw. verantwortlich zu machen), wenn diese Handlung freiwilligg ist (wenn also die fragliche Person über Handlungsalternativen verfügt und deren Konsequenzen vorhersehen kann). Wenn jemand auf eine Situation „keinen Einfluß fl […] nehmen kann, etwa wenn der Sturm einen irgendwohin führt, oder die Menschen, die über einen herrschen“, so gebührt ihm laut Aristoteles Vergebung und manchmal sogar Mitleid.25 Wenn wir ein Ereignis nicht durch eine Handlung beeinflussen fl (und dieses mithin auch nicht abwenden) können, dann ist es also nicht gerechtfertigt, unser Handeln moralisch zu beurteilen, da wir das Ereignis nicht bewirken, sondern vielmehr darin auf tragische Weise verwickeltt sind. Während dies zum Bereich des Tragischen gehört, sind günstige Entwicklungen, die nicht durch unser Handeln bewirkt werden, Formen von Glück im objektiven Sinn (die uns auch Glück im subjektiven Sinn vermitteln können). Solche Gegebenheiten sind für die Moral als etwas bedeutsam, das sich der moralischen Beurteilung entzieht und als solches bewusst zu machen ist. Selbst wenn wir in der Ethik noch so „strebend uns bemühen“, werden wir nie in der Lage sein, alle Lebensprobleme endgültig in den Griff ff zu bekommen. Und auch wenn die Prinzipien der normativen Ethik theoretisch so gut wie irgend möglich begründet sind, haben wir keine Garantie, dass nicht manche „Dinge des Lebens“ jenseits dessen sind, was sie beurteilen kann. Es mag sein, dass wir nach bestem Wissen und Gewissen handeln, aber dennoch etwas Tragisches in Kauf nehmen müssen; andererseits kann uns unter noch so ungünstigen Voraussetzungen auch das Glück hold sein. Solche „Dinge des Lebens“ fordern zwar zu philosophischer Refl flexion heraus, doch handelt es sich nicht um Fragen des moralisch richtigen Handelns, sondern um etwas, das mit dessen Kategorien nicht zu fassen ist. Subjektives Glück durch moralisches Handeln
Von Platon bis heute betonen Philosophen, dass Menschen (nur) durch moralisches Handeln glücklich sind (oder sein können). Wie bereits Kant erkannte, ist dies keineswegs selbstverständlich: Während beim Verhalten natürlicher Wesen „alles gut“ (oder
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genauer gesagt: moralisch neutral) ist, kam dadurch, dass der Mensch Vernunft ft entwickelt und sich durch die damit verbundene Kultur und Handlungsfreiheit von der übrigen Natur „abgehoben“ hat, das „Böse“ in die Welt (bzw. die bewusste Wahl zwischen Gut und Böse, zwischen moralisch richtigem und falschem Handeln).26 Moralische Fragen stellen sich mithin erst für Wesen, die kognitiv so weit entwickelt sind, dass sie sich dessen bewusst werden können, was richtig und was falsch ist. Natürlich können wir beklagen, dass uns als vernunft ftbegabten Wesen nicht frei steht, beliebig und dabei zugleich moralisch zu handeln, sondern dass wir wählen müssen, ob wir moralisch handeln wollen oder nicht, und dass wir (zumindest sofern wir konsequent sein wollen) die jeweiligen Folgen in Kauf nehmen müssen. Aus moralischer Sicht geht es jedoch nicht bloß um das je eigene Glück, sondern um ein Glück, das sich durch die Rücksicht auf das Glück aller ergibt, die von unserem Handeln betroff ffen sind. Moralisches Glück im subjektiven Sinn ist demnach weniger das unmittelbare Erleben als die refl flexive Erfahrungg von Glück. Daher meint wohl auch Aristoteles, dass nur Personen Glück im Sinn der „eudaimonia“ erfahren können; er spricht damit anderen Wesen (zum Beispiel Kleinkindern oder geistig Behinderten) nicht die Fähigkeit zum intensiven Erleben von Glück ab. Moralisches Handeln als beglückend zu erfahren, setzt natürlich voraus, dass wir uns prinzipiell entscheiden, so zu handeln. Es steht jedem frei, auch nicht moralisch zu handeln und zu leben sowie eventuell damit glücklich zu werden. Wer diese Alternative wählt, wird wohl nur schwer verstehen, dass jemand durch moralisches Handeln glücklich wird. Und doch ist dies in mehrerlei Sinn möglich, insbesondere durch das Glück der anderen, das beim moralischen Handeln immer mit ins Spiel kommt, aber etwa auch durch das Glück zu erfahren, dass moralisches Handeln gelingt – was weder selbstverständlich noch stets der Fall ist. Um moralisch handeln und ein gutes Leben führen zu können, bedürfen wir nämlich der Tugend, d. h. der Tüchtigkeitt im Abwägen von Interessen, Konsequenzen und anderen Gegebenheiten, die oft ft nicht miteinander in Einklang zu bringen sind. Es ist alles andere als leicht, eine Balance zwischen oft ft extremen Möglichkeiten herzustellen, weshalb selbst Nietzsche meint: „Die Lehre mhd9n Wgan wendet sich an Menschen mit überströmender Kraft ft – nicht an die Mittelmäßigen.“27 Diese Verteidigung des Solonischen Weisheitsspruchs ist insofern bemerkenswert, als Nietzsche die Moraltheorie von Platon, der diese Lehre des „Nicht zuviel“ für richtig erklärt,28 ebenso kritisiert wie die Ethik des Aristoteles, dessen Mesotes-Lehre in kritischer Auseinandersetzung damit entstanden ist.29 Wir müssen die Angelegenheit nicht unbedingt so pathetisch betrachten wie Nietzsche; vielmehr steht uns allen ein im moralischen Sinn gutes Leben off ffen, zu dem die refl flexive Erfahrung von Glück gehört. Ohne die Bedeutung des unmittelbaren emotionalen Erlebens von Glück schmälern zu wollen, spricht zudem für das subjektive Glück im reflexiven fl Sinn, dass emotionale Glückserlebnisse nie von Dauer sind, sondern nur (mehr oder weniger lange) Momente. Dies hat mit der Dynamik des Lebens zu tun, die stets die Spannung zwischen
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Zuständen, in denen wir uns befi finden, und solchen, in denen wir sein möchten bzw. die wir erreichen wollen, einschließt. Aus der Annahme eines immerwährenden Zustands solchen Glücks würde paradoxerweise folgen, dass es für Menschen überhaupt kein Glück gibt, denn das Erreichen eines Ziels bedeutet gewöhnlich, sich ein nächstes Ziel zu setzen. Solche Dynamik hindert uns freilich nicht, von Zeit zu Zeit glücklich zu sein. Dies ist mit einem Wissenschaft ft ler vergleichbar, für den die Lösung eines Problems bedeutet, dass sich potenziell unendlich viele neue Probleme eröffnen. ff Doch ist das kein Grund zu verzweifeln, denn die Lösung eines Problems bedeutet einem Wissenschaftler ft sehr viel und schafft fft viele Fälle zeitweiligen Glücks. Das Erleben von Glück stellt uns scheinbar auch insofern vor ein Problem, als rein emotionales Erleben nur möglich ist, wenn wir im jeweiligen Augenblick leben. Sowie wir das Leben in einem größeren Zusammenhang bzw. als Ganzes betrachten, können wir nicht einfach gewisse Empfi findungen oder die Erfüllung von Bedürfnissen oder Wünschen genießen, da wir uns stets bewusst sein müssen, dass nicht alle Wünsche erfüllt werden können und dass bestimmte Gefühle in manchen Situationen nicht angebracht sind, weshalb wir darüber unglücklich sein müssten. Wenn wir es als sinnvoll ansehen, über unser Leben zu refl flektieren oder ein „Leben ohne Selbsterforschung“ mit Sokrates sogar als etwas ansehen, das aus philosophischer Sicht „gar nicht verdient, gelebt zu werden“30, d. h., wenn wir die menschliche Person und das menschliche Leben als Ganzes betrachten und überlegen, ob es möglich ist, angesichts des gesamten menschlichen Lebens glücklich zu sein, dann kommt die refl flexive Erfahrung von Glück ins Spiel. Da zur refl flexiven Erfahrung von Glück eine gewisse Distanz zu unseren unmittelbaren Bedürfnissen und Empfi findungen gehört, erlaubt sie uns längere Phasen subjektiven Glücks, obwohl sie wie das emotionale Erleben kein immerwährender Zustand sein kann (allein schon deshalb, weil es Situationen gibt, in denen eine solche Distanz unmöglich ist, zum Beispiel dann, wenn unserem Leben Glück im objektiven Sinn völlig fehlt, wenn wir eine uns nahestehende Person verlieren oder wenn eine Tatsache aus anderen Gründen allzu schrecklich ist, wie dies etwa auf Kriege oder die Schoah zutreffen ff mag). Wie Imre Kertész im „Roman eines Schicksallosen“ schreibt, war es dennoch sogar in Auschwitz möglich, Augenblicke von Glück zu erfahren.31 Wenn es selbst für Menschen, die extrem leiden, möglich ist, Glück zu erleben oder zu erfahren, so besteht jedoch für uns kein Anlass, uns zu schämen, dass wir mitunter glücklich sind, obwohl es in der Welt Hunger, Folter und noch viel mehr Leid gibt. In diesem Sinn schreibt Wittgenstein im „Tractatus“: „Wenn das gute oder böse Wollen die Welt ändert, so kann es nur die Grenzen der Welt ändern, nicht die Tatsachen; nicht das, was durch die Sprache ausgedrückt werden kann. Kurz, die Welt muss dann dadurch überhaupt eine andere werden. Sie muß sozusagen als Ganzes abnehmen oder zunehmen. Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen.“32 So gesehen verändern wir die gesamte Welt, wenn wir durch moralisches Handeln glücklich werden. Mit Wittgenstein können wir dies versuchen, auch wenn
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wir – mit ihm – zugestehen müssen, dass wir auch mit noch so vielen Worten nicht angemessen sprachlich ausdrücken können, was es in diesem umfassenden Sinn bedeutet, als moralisch Handelnde glücklich zu sein.33
Anmerkungen 1 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 64 (1097a30–b7). 2 Ebd., 58 (1095a20 f.). 3 Vgl. etwa Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, 226 ff.; Kluge, Etymologisches Wörterbuch, 328. 4 Vgl. dazu Worstbrock, Petrarcas „De remediis utriusque fortunae“, 42 und 54. 5 Bolzano, Erbauungsreden für Akademiker, 28. 6 Ebd., 37. 7 Ebd., 40 ff. ff 8 Weber, Wissenschaft ft als Beruf, 250. 9 Zu den Gründen, die dafür sprechen, vgl. Neumaier, Etwas anderes tun können. 10 Vgl. dazu Neumaier, Reden wir von Glück. 11 Vgl. Zapf, Individuelle Wohlfahrt. 12 Vgl. Marquard, Zur Diätetik der Sinnerwartung. 13 Vgl. dazu Plessner, Die Stufen des Organischen. 14 Vgl. dazu Moravcsik, On What We Aim At and How We Live. 15 Vgl. dazu Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, 57, 109 und 151. 16 Kant, Kritik der Urteilskraft ft , 349 (A 103). 17 Vgl. dazu Neumaier, Moralische Verantwortung. 18 Vgl. dazu Hare, Die Sprache der Moral. 19 Vgl. dazu Neumaier, Moralische Verantwortung, 123–172. 20 Vgl. ebd., 72–78. 21 Bolzano, Lehrbuch der Religionswissenschaft, ft 236 (§ 88). 22 Zit. nach Künne, Bolzanos oberstes Sittengesetz, 382. 23 Vgl. Williams, A Critique of Utilitarianism, 98 f. 24 Ders., Moral Luck. 25 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 99 f. (1109b30–1110a20). 26 Vgl. Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, 90 ff. ff (A 9 ff.). 27 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, 105 (25[351]). 28 Vgl. z. B. Platon, Menexenos, 261 (247e). Dem entspricht auch die Maxime „nihil nimium cupere“; vgl. dazu etwa Cicero, De finibus fi bonorum et malorum, 310 (III 73). 29 Vgl. z. B. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 118 f. (§ 198). 30 Vgl. Platon, Des Sokrates Apologie, 57 (38a). 31 Vgl. Kertész, Roman eines Schicksallosen, 287. 32 Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 81 (6.43). 33 Für Kritik und andere wertvolle Anregungen danke ich Michaela Koch, Irene Krebs, Wolf Dietrich Nagl, Clemens Sedmak, Anne Siegetsleitner, Judith Suchanek und Gerhard Zecha, vor allem aber Peter Daniel Moser, der u. a. wichtige Diff fferenzierungen zum vorliegenden Beitrag beigesteuert hat.
Alois Halbmayr
Macht Geld glücklich? Eine theologische Perspektive Macht Alois Geld Halbmayr glücklich?
Auf die zeitlos aktuelle und eifrig diskutierte Frage, ob denn Geld glücklich mache, lautet die Antwort meist: „Nein, Geld allein macht nicht glücklich.“ Aber dies ist streng genommen keine adäquate Antwort. Denn die stille Einfügung des Gradpartikels „allein“ bedeutet eine entscheidende Einschränkung, die den Bedeutungsgehalt verändert. Geld allein macht nicht glücklich. Wer wollte das schon bestreiten? Was macht denn in seiner Singularität und Exklusivität schon glücklich? Weder Geld noch Gesundheit, Besitz, Beruf, Freiheit oder Liebe machen allein, für sich und absolut genommen, glücklich. Die einfache Frage: „Macht Geld glücklich?“ erlaubt offensichtlich ff keine klare Antwort, sie verweigert sich einem einfachen Ja oder Nein. Doch scheint zumindest das Gegenteil unbestritten zu sein: „Kein Geld haben macht unglücklich.“ Diese Erfahrung wird bereits im Alltag permanent bestätigt. Der Mangel an Geld führt weitaus häufi figer zu Unglück, Streit und Gewalt als Reichtum oder der selbstverständliche Zugriff ff auf materielle Ressourcen. Samuel Butler hat diese unbequeme Wahrheit in seinem Roman „Erewhon oder Jenseits der Berge“ von 1872 auf folgende Weise formuliert: „Man stellt oft ft das Geld in Gegensatz zur Kultur, womit man sagen will, daß einer, der seine Zeit mit Geldverdienen zugebracht hat, ein kulturloser Knülch sei. Weit, sehr weit gefehlt! Was gäbe es, das der Kultur förderlicher ist, als sich eine ehrenvolle Unabhängigkeit erarbeitet zu haben, und was frommt noch soviel Kultur demjenigen, der bettelarm ist, außer daß sie ihn seine Lage um so schmerzlicher empfi finden läßt! Der junge Mann, der geheißen wurde, sein Hab und Gut zu verkaufen und es den Armen zu geben, muß ein ganz außergewöhnlicher Mensch gewesen sein, wenn der Rat wirklich klug war, sowohl für ihn wie für die Armen; wieviel häufi figer kommt es vor, daß wir an einem Menschen alle möglichen guten Eigenschaft ften wahrnehmen außer der Vermöglichkeit selber, so daß wir finden, seine wahre Pfl flicht sei es, sich seine Dienste von andern so gut als möglich bezahlen zu lassen und reich zu werden. Es ist gesagt worden, Geldgier sei die Wurzel alles Übels. Dasselbe läßt sich vom Geldmangel sagen.“1
Anders liegen die Dinge, wenn wir diese komplizierte Frage in „kleinere Münzen“ wechseln. Etwa in die Frage, ob Geld eine elementare Voraussetzung von Glück ist; ob es Glücksgefühle hervorrufen und steigern kann; ob es die Lebensqualität erhöht, die
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Autonomie und Selbstbestimmung des Menschen fördert etc. Die empirische Glücksforschung, die längst im Zentrum der Sozialwissenschaft ften angekommen ist, zeigt uns diesbezüglich ein höchst disparates Bild.2 So wird in manchen Untersuchungen der Zusammenhang von Geld / Wohlstand und Glück negiert, weshalb sich Menschen in armen Ländern als glücklicher erweisen, Bangladeshi also zufriedener sind als etwa Amerikaner. Andere Untersuchungen zeigen das genaue Gegenteil, die Bewohner hoch entwickelter Gesellschaft ften seien grundsätzlich glücklicher als Menschen in Armutsländern. All diese Studien setzen stillschweigend voraus, dass sich Glück definiefi ren, messen und vergleichen lässt, auch über Kulturen und Kontinente hinweg. Aber lässt sich Glück wirklich bestimmen und auf einer objektiven Skala eintragen? Entzieht es sich nicht jedem messbaren Zugriff ff und bleibt stets flüchtig oder schattenhaft ft? Sucht uns das Glück im Alltag nicht viel zu selten auf, als dass wir es erschöpfend und überzeugend beschreiben könnten? Zeigt nicht die Erfahrung, dass sich Glücksvorstellungen im Laufe des Lebens auch verändern? Nicht zuletzt präsentiert sich das Glück auch als ein gesellschaftliches ft Phänomen, elementar von kulturellen und politischen Rahmenbedingungen geprägt. Glück ist nicht nur ein erhabenes Gefühl oder ein seltener Augenblick restloser Gelassenheit, sondern auch ein Diskurs, eine kulturelle Variable, die sich standhaft ft essentialistischen Defi fi nitionen entzieht.3 Ob, inwiefern und auf welche Weise Geld glücklich – und natürlich auch unglücklich – macht, lässt sich deshalb nur annäherungsweise und exemplarisch untersuchen. Die Ergebnisse der empirischen Glücksforschung sollte man daher nicht als „bare Münze“ nehmen, sondern als Indikatoren gesellschaft ft licher Entwicklungen und Trends, die den mikroskopisch genauen Blick auf die Einzelphänomene nicht ersetzen können. Vor diesem Hintergrund möchte der vorliegende Aufsatz die These Th vertreten, dass Geld sowohl eine elementare Voraussetzung als auch eine Repräsentationsform von Glück ist und dadurch grundlegende Fragen im religiösen Verhältnis berührt.
Gibt es einen Zusammenhang von Wohlstand und Glück? Im Jahr 1971 ließen die beiden amerikanischen Psychologen Philip Brickman und Donald Campbell mit der These Th aufh fhorchen, dass die Verbesserung objektiver Lebensbedingungen (Einkommen bzw. Wohlstand) keinen signifikanten fi Eff ffekt auf die individuelle Zufriedenheit aufweise.4 Steigende Einkommen führten nicht notwendigerweise zu mehr Glück oder subjektiver Zufriedenheit. Vielmehr, so ihre Schlussfolgerung, beruhten diese auf charakterlichen Eigenschaften, ft die bereits pränatal und in den ersten frühkindlichen Jahren festgelegt würden, sodass weder individuelle Anstrengungen noch staatliche Politik zur Verbesserung beitragen könnten. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam die Untersuchung der Ökonomen Tibor Scitovsky und Richard Easterlin, wonach in entwickelten Gesellschaften ft das Glück ab einem bestimmten Einkommensniveau nicht mehr zunehme, sondern bestenfalls stagniere und dann häufi fig zu
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Leere bzw. Langeweile führe.5 In den USA sei der Anteil der Glücklichen in den letzten 50 Jahren gleich geblieben, obwohl sich Realeinkommen und Lebensstandard seither nahezu verdoppelt hätten. Dieses als Wohlstandsparadox bezeichnete Phänomen bestreitet nicht grundsätzlich den Zusammenhang von Einkommen und Glück, sondern behauptet, dass sich ab einem bestimmten Niveau dieser produktive Konnex auflöst fl oder in sein Gegenteil umschlägt. Easterlin und Co. haben die Grenze, ab der das Glücksniveau nicht mehr automatisch steige, eff ffektiv mit 20 000 Dollar angegeben. Ab diesem Niveau müsse ein immer größerer Aufwand geleistet werden, um Glücksgefühle zu erleben; man gerät in die hedonistische Tretmühle.6 Als Ausweg empfehlen Scitovsky und Easterlin physische Aktivitäten (Sport) und Kultur. In jüngster Zeit sind allerdings erhebliche Zweifel an der Gültigkeit des EasterlinParadoxes aufgetreten.7 Der Zusammenhang von Wohlstand und Glück bleibe auch jenseits einer bestimmten nominalen Grenze erhalten. Je reicher Menschen und Gesellschaft ften seien, desto eher seien sie geneigt, sich als glücklich und zufrieden zu bezeichnen. Der tiefere Grund liege in der Struktur des Wohlstands selbst. Denn wohlhabende Nationen wiesen in der Regel einen höheren Bildungsstandard auf, böten eine bessere Gesundheitsversorgung und knüpft ften soziale Sicherungsnetze, die neben Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zentrale Voraussetzungen für das allgemeine Glücksniveau bildeten. Auch hier gelte die Regel: Je höher das Wohlstandsniveau einer Gesellschaft ft, desto höher auch die Chance, glücklich zu sein oder zu werden. Allerdings sind dabei noch weitere, vor allem individualpsychologische Faktoren ausschlaggebend. Menschen vergleichen sich in der Regel mit ihresgleichen aus dem beruflichen fl und privaten Umfeld – nicht mit den Hungernden in den unterentwickelten Ländern. Da Glück meist mit dem Zugriff ff auf materielle Güter gleichgesetzt wird, beeinfl flussen insbesondere Werte wie Eigentum, Mobilität (Auto) und Konsum das subjektive Glücksempfinden. fi Die Diff fferenz bestimmt das Niveau. „Wenn Menschen im Vergleich mit anderen Menschen reicher werden, dann fühlen sie sich glücklicher. Aber wenn der Reichtum einer ganzen Gesellschaft ft zunimmt, dann empfi finden sie sich nicht als 8 glücklicher.“ Dieser imaginäre Wettbewerb zehrt wiederum am einmal mühsam erkämpft ften Glück, weil der Gewöhnungseff ffekt den Überschuss wieder auff ffrisst. Wenn die anderen das auch alles haben, braucht es neue Anreizsysteme und Statussymbole, um die Quellen des Glücks nicht zum Versiegen zu bringen. Der Weg in die Erschöpfung ist vorprogrammiert. In der neueren Literatur wird verstärkt die These diskutiert, in welcher Weise etwa gesellschaft ft liche Gleichheit und soziale Gerechtigkeit das Glücksempfi finden beeinfl flussen. Der britische Gesundheitsökonom Richard Wilkinson und die Epidemologin Kate Pickett untermauern in ihrem Buch „Th The Spirit Level. Why Greater Equality Th dass die Makes Societies Stronger“9 mit reichhaltigem empirischen Material die These, Menschen sich umso glücklicher und zufriedener fühlen, je gleicher und gerechter eine Gesellschaft ft insgesamt erfahren wird. Gesellschaft ften mit einem hohen Grad an Ungleichheit seien Konkurrenzgesellschaft ften, die den Stress verstärkten, das psychi-
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sche Wohlbefi finden minderten und die Kontingenz weiter erhöhten. Viele unserer gegenwärtigen Probleme wie soziale Desintegration, persönliche Überforderung, psychische Krankheiten, mangelnde Gesundheit, fehlende Aufstiegsmöglichkeiten etc. seien in hohem Maß gesellschaft ft lich bedingt, sie resultierten aus Bedrohungserfahrungen, die durch angemessene Umverteilungsmaßnahmen entscheidend abgemildert werden könnten. Darüber hinaus ließen sich auch die Kosten der durch Armut ausgelösten sozialen und gesundheitlichen Probleme nachhaltig reduzieren. Wilkinson und Pickett fordern daher in ihrem Buch, dass die Politik eine Trendumkehr schaffen ff müsse, nachdem in den letzten beiden Jahrzehnten die soziale Ungleichheit rasant zugenommen habe: „Wir brauchen keinen revolutionären Umsturz; was wir brauchen, ist ein kontinuierlicher Fluss kleiner Veränderungen in einer konsistenten Richtung. […] Unser Ziel muss es sein, den Mitmenschen mehr Sicherheit zu geben, ihnen die Ängste zu nehmen, sie zu überzeugen, dass eine Gesellschaft ft mit mehr Gleichheit nicht nur Platz für sie hat, sondern ihnen auch ein erfülltes Leben ermöglicht, das ihnen keine von Hierarchien und Ungleichheit geprägte Gesellschaft ft der Welt bieten kann.“10
Glück – Erbanlage oder gesellschaft ftliche Aufgabe? Woher kommt das Streben des Menschen nach Glück? Ist es in seiner Seele grundgelegt und damit eine Konstante der Gattung oder wird es dem Individuum von außen auferlegt, von gesellschaftlichen ft Triebkräft ften befeuert? Nach der Überzeugung vieler Glücksforscher(innen) besitzen wir ein Glücksgen, gibt es also eine genetische Disposition, ob und wie glücklich wir sind. Umstritten erscheint nur das Verhältnis von Erbanlage, Gesellschaft ft und persönlicher Verantwortung.11 Wenn Erbanlagen und individuelles Vermögen für das Glück hauptverantwortlich sind, dann scheint doch das alte Sprichwort zutreff ffend, wonach jeder „seines Glückes Schmied“ sei. Diese These hat eminent politische Konsequenzen. Sie bietet die Argumentationsbasis, die Gesellschaft ft aus ihrer Verantwortung für die unverzichtbaren Rahmenbedingungen eines Strebens nach Glück zu entlassen. Mit biogenetischen Festlegungen lässt sich problemlos der Rückzug des Staats aus einem Kernprojekt der Moderne legitimieren. Denn diese war angetreten, allen Menschen, nicht nur den durch Geburt Privilegierten, die Möglichkeit zu bieten, ihren Anspruch auf Glück erfüllen zu können. Dieser „pursuit of happiness“, wie er paradigmatisch in der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung formuliert wurde, wird dort mit dem „Leben“ und der „Freiheit“ als unveräußerliche Rechte des Menschen bestimmt. Glück war und ist nach wie vor, trotz aller Unterschiede, ein wesentliches Ziel moderner Gesellschaft ften, sowohl auf der Ebene ihrer theoretischen Begründung als auch in konkreten, politisch-ökonomischen Entscheidungsprozessen. Als ein zentrales Instrument, dieses Ziel zu erreichen, galt und gilt im westlichen Zuschnitt die kapitalistische Marktwirtschaft. ft 12 Diese Entwicklung beginnt
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bei Jeremy Bentham (1748–1832), für den es in der Ökonomie um das größtmögliche Glück der größtmöglichen Anzahl von Menschen gehen müsse, wobei zunächst noch off ffen bleibt, was mit Glück gemeint ist.13 Auch wenn hier inhaltliche Konkretisierungen weitgehend fehlen, die utilitaristische Perspektive ist vorgegeben und bleibt fortan ein zentrales Movens in der Entwicklung des modernen Sozialstaats. Gegenwärtig finfi det dieses ambitionierte Projekt seinen markantesten Ausdruck in der breit geteilten wirtschaft ftspolitischen Grundüberzeugung, dass das größte Glück mit dem größten Wohlstand für die größte Zahl von Bürger(innen) einer Gesellschaft ft identisch ist. Weil Wohlstand als eine wesentliche Voraussetzung und als Ausdruck von Glück betrachtet wird, rückt in der späten Moderne auch jenes Medium in den Vordergrund, das diesen Prozess auf unvergleichliche Weise vorangetrieben hat und auf diesem Weg zu einem der wichtigsten Medien in der modernen Gesellschaft ft geworden ist: das Geld.
Zur ökonomischen und transökonomischen Bedeutung des Geldes Auch wenn Geld (allein) nicht glücklich macht, so zählt es doch zu den elementaren Voraussetzungen von Glück. Was am Beginn der Neuzeit durch die Ausweitung der Handelsströme einen unscheinbaren Anfang genommen hat, ist in der späten Moderne zu voller Entfaltung gekommen: Ohne Geld kein Leben, weder für den Einzelnen noch für die gesamte Gesellschaft ft. Ohne Geld gäbe es keinen globalen Handel, kein vergleichbares Wohlstandsniveau, keine entsprechenden Wachstumseffekte. ff Mit Geld hält man den Schlüssel zu den meisten Ressourcen in der Hand, sodass seine Bedeutung steigt und damit auch sein ideeller Wert in bisher unbekannte Höhen klettert. Was ist denn nun Geld überhaupt – und warum ist es in der Moderne zu einem herausragenden Medium geworden? Ökonomisch ist Geld nach einer gängigen und breit akzeptierten Defi finition „alles, was allgemein als Tauschmittel, Wertaufb fbewahrungsmittel und Recheneinheit akzeptiert wird. In anderen Worten: Geld ist alles, was die Geldfunktionen erfüllt.“14 Früher waren es Muscheln oder Tiere, dann Gold, heute ist es weitgehend der Geldschein, dessen Nominalwert nur mehr virtuell einem unmittelbaren Realwert entspricht. Geld bringt höchst unterschiedliche Güter und Dienstleistungen, ja auch Werte unter einen gemeinsamen Maßstab, macht sie vergleich- und damit tauschbar. Seine Transaktionskosten sind konkurrenzlos niedrig, seine Objektivität erscheint unbestechlich, weil es kein Ansehen der Person kennt. Das Kilo Brot kostet für alle gleich, unabhängig davon, welchen Status jemand hat und über welches Einkommen er verfügt. Der Gebrauch des Geldes erfordert kein besonderes technisches Geschick, als Zahlungsmittel ist es universal akzeptiert. Mit einer gültigen Kreditkarte und etwas Bargeld kann man nahezu jeden Winkel dieser Welt aufsuchen und sich mit den notwendigen Alltagsgütern versorgen. Neben diesen rein ökonomischen Funktionen als Tauschmittel, Recheneinheitt und Wertspeicherr besitzt das Geld jedoch noch zahlreiche weitere, außergewöhnliche Ei-
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genschaften, ft die seine Sonderstellung im Güter- und Dienstleistungswesen untermauern. Geld eröff ffnet zahlreiche Handlungsoptionen und erhöht damit den Freiheitsspielraum der Menschen in bisher unbekannter Weise. Es gewährt Eintritt in die potentiell unendlich große Warenwelt mit ihren grenzenlosen Wahlmöglichkeiten. Was könnte man mit einer Summe Geldes nicht alles machen! Allein die Vorstellung, sich dieses und jenes aneignen oder erwerben zu können, wenn man denn nur wollte, erlaubt ein unvergleichliches Gefühl von Macht und Freiheit, verweist auf eine formale Transzendenz und stößt das Tor zu Erfahrungen von Unendlichkeit weit auf. Gerade in diesen Überstiegserfahrungen erweist sich Geld als eine sprudelnde Quelle von Glück. Weil sich mit Geld so viele Dinge aneignen und vollbringen lassen, steigt sein Wert, es wird von einem Mittel zu einem Zweck. Mit dem Wechsel vom bloßen Mittel zum Selbstzweck hat Geld einen individuellen und gesellschaftlichen ft Stellenwert erreicht, der neue Probleme und Gefährdungen hervorruft. ft Geld kann radikal seinen Wert verlieren, sich buchstäblich in nichts auflösen. fl Die Geschichte des Geldes ist auch eine Geschichte der Entwertung, des Betrugs, der Katastrophen und der Zerstörung.15 Wie oft ft haben Infl flation und Währungsreformen mühsam Erspartes über Nacht zunichte gemacht. Ohne Vertrauen in das Funktionieren der Märkte und in die staatliche Ordnung wäre Geld wertlos und dem Tausch wären enge Grenzen gesetzt. Währungskrisen sind zugleich tief greifende Vertrauenskrisen, die sich selbst in stabilen demokratischen Gesellschaft ften endemisch ausbreiten können. Entgegen der verbreiteten Annahme, dass Märkte auf einem festen und sicheren Fundament errichtet sind, bedarf es zur Aufrechterhaltung unseres Ökonomiesystems weitaus mehr an Glauben und Zuversicht, als dies etwa in einem religiösen Verhältnis gefordert ist. Zahllos sind auch die Beispiele, dass sich Geld innerhalb kürzester Zeit von einer befreienden in eine diabolische Macht verwandelt, die das Individuum in Beschlag nimmt und die Ordnung der Dinge verkehrt.16 Nicht nur die Liebe, auch das Geld kann bekanntlich blind machen, den nüchternen Blick auf die Realitäten trüben, Wertehierarchien verschieben und zu abgründigen Entfremdungen führen. Geiz, Gier, Verschwendungssucht und Käufl flichkeit sind nicht bloß traurige, aber insgesamt harmlose Fehlformen eines aus den Fugen geratenen individuellen und gesellschaftlichen ft Geldverhältnisses, sie führen – häufi fig unter dem Deckmantel des ökonomischen Fortschritts – auch zu Mord und Totschlag, zu rasender Gewalt, zu Vertreibung und kriegerischen Auseinandersetzungen, in denen Menschen auf brutale Weise Opfer eines ungehemmten Profitstrebens fi werden.
Die Bibel und das Geld Die jüdisch-christliche Tradition hat deshalb dem Geld gegenüber stets eine ambivalente Haltung eingenommen. Auf der refl flexiven Ebene dominierten von Anfang an kritisch-ablehnende Traditionsstränge. Die affi ffirmativen Ansätze hingegen, die eine
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friedliche Koexistenz von religiösem Glauben und Geldwirtschaft ft zumindest für denkbar hielten, hatten es im Sog der exklusiven Zuspitzung des Gottesverhältnisses weitaus schwieriger, stilbildende Traditionen zu entwickeln. Das ist insofern paradox, als auf der praktischen Ebene, im konkreten Alltagshandeln, dem Geld jegliche religiösen Konnotationen abgesprochen wurden. Demnach gab und gibt es kein problematisches Verhältnis von Religion und Ökonomie, das Symbol „Gott“ besitzt mit dem Symbol „Geld“ keine gemeinsame Schnittmenge, beide repräsentieren vollkommen unterschiedliche Wirklichkeiten und Handlungsvollzüge. In dieser Perspektive gibt es daher auch keinen Widerspruch zwischen dem Gottesglauben und einem hemmungslosen Streben nach Profi fit und Mehrwert. Dementsprechend sind auch die Aufmerksamkeiten für Gefahren und Verwüstungen, die eine entfaltete Geldwirtschaft ft den Menschen hinterlässt, kaum ausgeprägt. Im Gegensatz dazu war die kritisch-ablehnende Traditionslinie seit jeher von einem geschärften ft Blick auf die ambivalente Macht des Geldes bestimmt. Die elementare Gefahr für das Gottesverhältnis wurde genau erkannt und deshalb vehement auf eine Eindämmung seiner Einfl flusssphäre gedrängt. Ihre Spuren lassen sich bis in die frühesten Schichten der jüdischen Bibel zurückverfolgen. Der Schutz der Armen, Entrechteten und Marginalisierten, wie ihn beispielsweise die Gesetzestexte einforderten, zielte nicht nur auf eine Verhinderung von Ausbeutung und Benachteiligung, sondern sollte zugleich ein Regelwerk etablieren, in dem Gerechtigkeit und Fairness die tragenden Grundpfeiler bilden.17 So diente das stets umstrittene Zinsverbot in einer vom permanenten Nahrungsmangel geprägten Subsistenzwirtschaft ft weniger der Verhinderung von Kapitalakkumulation als der unmittelbaren Linderung der Not. Kredite waren in der Regel keine Investitions-, sondern Dringlichkeits- bzw. Konsumtionskredite, die den Kauf von Saatgut oder der notwendigsten Alltagsgüter ermöglichen sollten. Eine Zinsforderung hätte in der Regel den Zugriff ff auf diese knappen, aber (über-) lebenswichtigen Ressourcen weiter erschwert. Die katholische Kirche hat das biblische Zinsverbot, dessen klassische philosophische Begründung Aristoteles geliefert hatte,18 offi ffiziell erst 1830 abgeschafft fft, nachdem es auf zahlreichen Synoden und Konzilien eingeschärft ft, in der Praxis aber immer wieder umgangen wurde.
Geld als Gestaltungsmoment individueller und gesellschaftlicher ft Freiheit In den modernen, hoch differenzierten ff Gesellschaft ften gibt es nur noch wenige Funktionssysteme, in denen dem Geld keine tragende Rolle zukommt. Alles Wirkliche scheint geldvermittelt. Medizin, Wissenschaft ft, Bildung, Medien und selbst Kunst und Religion, in jedem gesellschaft ft lichen Bereich wird bezahlt, getauscht, gerechnet und nach ökonomischen Gesichtspunkten entschieden. Wer kennt es nicht aus dem Alltag: Wo Geld im ausreichenden Maß vorhanden ist, lässt sich Neues schaffen ff und etwas bewegen, während umgekehrt der Mangel an Kapital viele Initiativen und gesellschaftft
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liche Entwicklungen, so notwendig sie auch wären, erschwert oder gänzlich verhindert. Es wächst die objektive und die subjektive Bedeutung des Geldes, weil immer mehr Bereiche des öff ffentlichen und privaten Lebens der Ökonomisierung und ihrer Logik unterworfen werden. Diese Ausweitung der geldvermittelten „Kampfzonen“ zwingt die Menschen, sich möglichst viel von dieser machtvollen Ressource anzueignen. Der Zugang zu Bildung, höheren Einkommen, Gesundheitsvorsorge, Alterssicherung und insbesondere die Teilhabe an den gesellschaft ft lichen Prozessen hängen nicht ausschließlich, aber in wachsendem Maß von der ökonomischen Potenz und den monetären Zugriff ffsmöglichkeiten ab. Ein nüchterner Blick auf die Statistiken und eine Nachfrage bei diversen Sozialinitiativen oder Beratungseinrichtungen bestätigt, dass der Mangel an Geld gleichbedeutend ist mit entwürdigenden Marginalisierungs- und Exklusionserfahrungen. Wer zu wenig Geld hat oder arm ist, dem sind viele Segnungen des modernen Lebens verwehrt, der kann auf elementare Güter nicht entsprechend zugreifen, lebt meist ungesünder, ist unglücklicher und hat eine kürzere Lebenserwartung. Materielle Armut geht mit sozialer Armut einher, mit Bildungsdefiziten, fi verminderten Aufstiegschancen und sozialer Diskriminierung.19 Wenn es Aufgabe des Staats ist, seine Bürger in die Lage zu versetzen, ein gutes und selbstbestimmtes Leben führen zu können, dann wird er dafür sorgen müssen, dass allen Menschen eine existentielle Grundsicherung gewährleistet wird, damit sie auf die notwendigen Güter und Dienstleistungen zugreifen können. Dass dies keine Gnade, kein Akt der Barmherzigkeit und auch kein freiwilliges Zusatzangebot des modernen Sozialstaats ist, sondern dem universalistischen Anspruch der Menschenrechte entspringt, scheint heute kein selbstverständlicher Konsens mehr innerhalb des demokratischen Rechtsstaats zu sein. Weil das Geld und mit ihm Besitz und Vermögen wichtige Instrumente in der Gestaltung eines selbstbestimmten Lebens geworden sind, bleibt die Frage nach der gerechten Verteilung dieser Ressource sowohl innergesellschaft ft lich als auch im globalen Maßstab eine der zentralen Herausforderungen unserer Zeit. An dieser Stelle wächst den Religionen eine neue Aufgabe zu, sofern sie den semantischen Kern ihrer heiligen Schrift ften als Anspruch an die jeweilige Gegenwart interpretieren. In der Debatte um gerechte gesellschaft ft liche Strukturen bringen die religiösen Traditionen ihre Stimme allerdings nicht mehr auf der institutionell-politischen Ebene, sondern auf der zivilgesellschaft ft lichen ein. Dabei liegt der Fokus weniger auf konkreten Umsetzungsfragen, die eine Domäne der Politik bleiben, als vielmehr auf den Debatten um die Gestaltung politisch-ökonomischer Rahmenbedingungen. Diese Diskussion bedarf fundamentaler Analysen und grundlegender Reflexionen fl auf Menschenbilder, Grundrechte, Sinnfragen und Strukturen eines guten Lebens, in denen wir auf den Erfahrungsschatz der religiösen Überlieferungen nicht verzichten sollten. Weil allein die Politik und nicht die Ökonomie Gerechtigkeit herstellen und für ihre Durchsetzung sorgen kann, verdient sie in ihren unterschiedlichsten Dimensionen und Bezügen auch eine besondere Unterstützung und kritische Begleitung seitens der Religionen. Wenn in allen monotheistischen Traditionen Gerechtigkeit einer der be-
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vorzugten Namen Gottes ist und als Auft ftrag an den Menschen in die Schöpfungsordnung eingeschrieben ist, bleibt die Welt mit ihren konkreten Lebensverhältnissen der entscheidende Bewährungsort des Glaubens, das Engagement für Gerechtigkeit und Frieden ein Gradmesser seiner Glaubwürdigkeit.20 Sosehr Geld als ein zentrales Gestaltungsinstrument in modernen Gesellschaften ft zu begreifen ist und zu den elementaren Voraussetzungen von Glück gehört, sosehr es besondere Aufmerksamkeit verdient, so entschieden ist jedoch auch von Grenzen und Beschränkungen zu sprechen, die dem Geld und seiner Macht gesetzt werden müssen. Zu Recht wird die enge Verknüpfung von Glück mit dem Bruttosozialprodukt und der Steigerung der Konsummöglichkeiten kritisiert. Die ökonomistische Reduktion lässt leicht vergessen, dass für ein gutes Leben weitere Faktoren ausschlaggebend sind, die nicht ausschließlich im Verantwortungsbereich des Individuums liegen, sondern eindringlich auf den gesellschaft ft lichen Gestaltungsauft ft rag verweisen. Einen diskussionswürdigen Ansatz haben Anfang der 90-er Jahre die amerikanische Moralphilosophin Martha Nussbaum und der indische Ökonom und Nobelpreisträger Amartya Sen vorgelegt.21 Ihr sogenannter Capability Approach (im Deutschen mit „Fähigkeitsansatz“ nur unzureichend wiedergegeben) versteht sich als ein Lösungsversuch für ein offenes ff Problem von John Rawls’ Gerechtigkeitstheorie, die nicht ausreichend berücksichtige, dass Gerechtigkeit keine abstrakte Kategorie, sondern stets in einen bestimmten politischen und gesellschaft ft lichen Kontext eingebettet und daher inhaltlich spezifi fisch zu bestimmen sei. Den Wert von verteilungsfähigen Gütern könne man nur dann richtig einschätzen, wenn man um ihre spezifi fische Bedeutung für die Menschen in ihren konkreten Verhältnissen und Situationen wisse.22 Grundgüter würden erst durch die Bedürfnisse und durch die sie bedingenden Entfaltungsmöglichkeiten wertvoll.23 Wohlstand dürfe man daher nicht nur abstrakt nach dem jeweiligen Einkommen bemessen, sondern auch an weiteren Indikatoren, die für ein gutes und erfülltes Leben unabdingbar sind. Diese Liste der Werte bzw. Fähigkeiten, wie sie Martha Nussbaum erstellt hat, reicht vom Recht auf ein langes und gesundes Leben über sexuelle Selbstbestimmung bis zum Recht auf Eigentum und sozialer Partizipation.24 Wie und in welcher Weise Menschen diese Möglichkeiten und Rechte in Anspruch nehmen, liege in ihrer freien Entscheidungskompetenz, Aufgabe des Staats sei hingegen, die Voraussetzungen ihrer Einlösung zu schaffen. ff Entscheidend sei ferner, dass die Grundbedürfnisse des Menschen zwar kulturell vermittelt sind, doch einen transkulturellen, universalistischen Kern besitzen, der die Autorität lokaler Traditionen begrenzt. Nur allzu oft ft würden Gewalt und Unterdrückung mit dem Verweis auf die eigene Geschichte legitimiert und damit der Zugang zu elementaren Gütern verwehrt.25 Das Aufb fbrechen der konsumistisch-utilitaristischen Verengung des Glücksbegriff ffs und die Ausweitung der Indikatoren, wie sie der „Fähigkeiten-Ansatz“ exemplarisch vor Augen führt, weitet die Perspektive auf die globale Welt. Hier liegt eine Aufgabe religiöser Traditionen und ihrer institutionellen Repräsentanzen, sich engagiert und vorurteilsfrei an den Debatten um die Elemente eines guten und gelingenden Lebens
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zu beteiligen. Dies erfolgt nicht allein auf einer rational-diskursiven Ebene, sondern zielt mit gleicher Intensität auch auf eine politisch-praktische. Indem Religionen nicht nur im Bekenntnis, sondern auch im rituellen Vollzug und in symbolischer Praxis ihre Hoff ffnung auf ein gerechtes und gelungenes Leben zum Ausdruck bringen, kann exemplarisch sichtbar und erfahrbar werden, wie Identität gelingt, Gerechtigkeit gefördert und Wunden geheilt werden können. Wie immer man es wendet, Glück ist und bleibt auch ein unverfügbares Geschenk.26
Die unaufh fhebbare Kontingenz des Glücks Mit dieser Unverfügbarkeit des Glücks ist gleichzeitig ein Einspruch gegen all jene Ansätze in der Glücksforschung verbunden, die letztlich die ganze Verantwortlichkeit für das Glückserleben dem Individuum auferlegen. Ebenso wird den genetischen Erklärungsansätzen zum Glück (oder Unglück) widersprochen. In Wirklichkeit beruht die Fähigkeit zum Glück auf einem Bündel an Faktoren, zu denen selbstverständlich persönliches Geschick und individuelle Verantwortung ebenso zählen wie charakterliche Prägungen und frühkindliche Erfahrungen. Letztere üben auf das spätere Glücksleben vielleicht den größten Einfl fluss aus, aber sie legen die Entwicklung nicht fest. Wie und in welcher Weise die einzelnen Faktoren zusammenwirken, daraus lässt sich keine Gesetzmäßigkeit gewinnen, zu viele Variabeln sind an diesem vielschichtigen Prozess beteiligt. Ebenso wenig ist Glück bloßes Schicksal, dem man hilfl flos ausgeliefert wäre und das einen nur unvermutet überfällt. Auch wenn es letztlich der eigenen Verfügbarkeit entzogen ist, so lassen sich doch aus dem Erfahrungswissen und seiner kritischen Reflexion Bedingungen bzw. Situationen nennen, die Glücksgefühle hervorrufen und sein Ankommen erleichtern. Genannt werden in der Regel Beziehungen zu anderen Menschen, also Freundschaft ften, Familie, Partner und Kinder; ebenso Arbeit, Bewegung, Kultur und das Gefühl, etwas Nützliches zu tun. Die Frage, was uns wirklich glücklich macht, lässt sich nur in mühsamen Refl flexionsprozessen gegen die Verführungen der Werbung und der Imperative des Konsums herausfinden fi und auch immer nur vorläufi fig beantworten. In religiöser Sprache formuliert: Ein gutes, glückliches und solidarisches Leben ist und bleibt Ziel und Verheißung des Menschen. Geld erweist sich dabei als ein herausragendes und effektives ff Instrument. Nicht nur deshalb sollten wir uns auch kritisch und aufmerksam mit ihm auseinandersetzen.
Anmerkungen 1 Butler, Erewhon oder Jenseits der Berge, 235 f. 2 Vgl. dazu: http: // www.worldvaluessurvey.org; http: // www.gluecksarchiv.de / inhalt / geld. htm; http: // worlddatabaseofh fhappiness.eur.nl / (zuletzt abgerufen 21. 07. 2010). 3 Vgl. dazu die begriff ffsgeschichtlichen Ausführungen Emmanuel Bauers in diesem Band.
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Im Unterschied zu vielen anderen Sprachen kennt das Deutsche nur ein Wort für „Glück“. Die im Englischen geläufi fige Unterscheidung zwischen „luck“ und „happiness“ entspricht nicht der Diff fferenzierung zwischen „Glück“ und „Zufriedenheit“, obwohl dieses Begriff ffspaar in empirischen Untersuchungen meist synonym verwendet wird. Vgl. Brickman / Campbell, Hedonic Relativism. Vgl. Scitovsky, The Joyless Economy. An Inquiry; Easterlin, Does Economic Growth Improve the Human Lot? Vgl. dazu Binswanger, Die Tretmühlen des Glücks. Vgl. Wolfers / Stevenson, Economic Growth and Subjective Well-Being; Inglehart / Foa / Peterson / Welzel, Development, Freedom, and Rising Happiness. Layard, Die glückliche Gesellschaft, ft 44. Erschienen bei Bloomsbury Press, London 2009 (deutsch: Wilkinson / Pickett, Gleichheit ist Glück). Ebd., 265. Vgl. Lyubomirsky, Glücklich sein. Demnach sind magere 10 Prozent unseres Glücksgefühls von äußeren, d. h. gesellschaftlichen ft Faktoren beeinfl flusst, gut die Hälft fte durch unsere Erbanlagen bedingt und (immerhin) knapp 40 Prozent liegen am Einzelnen selbst, ob er glücklich wird. Vgl. Hollstein, Glück und Gemeinsinn. Vgl. Bentham, Principles of Morals and Legislation. Bei Bentham werden die Begriffe ff Vorteil, Nutzen, Glück, Freude, Zufriedenheit, das Gute etc. synonym verwendet. Stiglitz, Volkswirtschaft ftslehre, 832. Vgl. dazu auch Brodbeck, Herrschaft ft des Geldes. Vgl. Weimer, Geschichte des Geldes. Vgl. etwa Hugo von Hofmannsthals alljährlich während der Salzburger Festspiele aufgeführtes Schauspiel „Jedermann“, das mit drastischen Mitteln die moralischen Verwerfungen einer Geldfi xierung vor Augen führt. Vgl. dazu: Berges / Hoppe, Arm und reich. Vgl. Aristoteles, Politik, 1,10 (1258b). Vgl. Bude, Die Ausgeschlossenen. „Der Gerechte“ (al-’adl) ist auch im Islam einer der schönen Namen Gottes. Vgl. Abu-Zaid, Der Begriff ff „Gerechtigkeit“ nach dem Koran. Vgl. Nussbaum / Sen, The Quality of Life; Sen, Ökonomie für den Menschen; Nussbaum, Gerechtigkeit. Vgl. dazu Dürnberger, Eine Fülle von Fähigkeiten, bes. 114–119. Das ist auch der Einwand von Avishai Margalith gegen Rawls: Es kann sein, dass etwa bei einer humanitären Intervention ohne Rücksicht auf die Person die Verteilung der Hilfsgüter „effi ffizient und gerecht, aber dennoch demütigend ist“ (Margalith, Politik der Würde, 320.) Vgl. dazu Nussbaum, Gerechtigkeit, 176–226. Vgl. dazu Schmidhuber, Ist Martha Nussbaums Konzeption des guten Lebens interkulturell brauchbar? Vgl. dazu Thomä, Th Vom Glück in der Moderne.
Mathias Binswanger
Warum macht mehr Einkommen nicht glücklicher – Die Tretmühlen des Glücks Wohlstand ist das Durchgangsstadium von der Armut zur Unzufriedenheit. Helmar Nahr
Was ist Glück und wie kann man es messen? Mathias Binswanger Die Tretmühlen des Glücks
Für eine Aussage über den Zusammenhang zwischen Einkommen und Glücksempfinfi den der Menschen sollte man erstens eine Vorstellung davon haben, was mit dem Begriff ff Glück gemeint ist, zweitens sollte man dieses Glück auch noch irgendwie messen können. Der erste Punkt soll hier nur kurz diskutiert werden. Die moderne Psychologie hat Glück mittlerweile in zwei Komponenten zerlegt. Einerseits gibt es die langfristig angelegte, allgemeine Zufriedenheit mit dem eigenen Dasein (baseline happiness, life satisfaction), die mit der generellen Einschätzung des Lebens zusammenhängt. Die zweite Komponente bezeichnet das momentan empfundene Glück oder Unglück, das von den augenblicklichen Umständen abhängt (affective ff states, hedonic states).1 Wenn man Hunger hat und dann etwas zu essen bekommt, macht das momentan glücklich, doch wirkt es sich kaum auf die langfristige Lebenszufriedenheit aus. Bei der Analyse des Zusammenhangs zwischen Glück und Einkommen spielen letztlich beide Komponenten eine Rolle, auch wenn Befragungen im Allgemeinen auf die längerfristige Lebenszufriedenheit zielen. Mehr Einkommen sollte sowohl zu mehr Lebenszufriedenheit als auch zu vermehrten Glücksmomenten führen. Sprechen wir deshalb im Folgenden von Glück, dann schließt dies immer beide Komponenten ein. Doch wie kann denn das Glück überhaupt gemessen werden? Am einfachsten wäre ein technisches Messgerät, das den Glückszustand eines Menschen objektiv feststellt, so wie etwa ein Thermometer die Temperatur misst. Damit würden dann zum Beispiel die elektrische Hirnaktivität, die Konzentration gewisser Substanzen im Gehirn, der Pulsschlag des Herzens und die Hautfeuchtigkeit gemessen und mittels eines Computerprogramms ein objektiver Glückswert berechnet werden. Der britische Ökonom Francis Ysidoro Edgeworth träumte bereits im Jahr 1881 von einem solchen Gerät und
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Mathias Binswanger
nannte es Hedonometer. Leider hat uns der technische Fortschritt in dieser Hinsicht im Stich gelassen. Also bleibt den Glücksforschern nichts anderes übrig, als die Menschen nach ihrem jeweiligen Glückszustand zu befragen, wobei die Antwort dann zwangsläufi fig von der subjektiven Selbsteinschätzung der Befragten abhängt. Eine Einschätzung des eigenen Glückszustandes ist aber gar nicht so einfach. Stellen Sie sich vor, jemand stellt Ihnen auf der Straße folgende Frage: „Alles in allem, wie würden Sie Ihren Zustand in letzter Zeit beschreiben. Würden Sie sagen, dass Sie a) sehr glücklich, b) ziemlich glücklich, oder c) nicht so glücklich sind?“ Diese Frage wird den Menschen im „General Social Survey“2 gestellt, das das durchschnittliche Glücksempfi finden der Menschen in mehreren Ländern über die Jahre hinweg erfasst. Oder nehmen Sie an, Sie werden mit folgender Frage belästigt: „Wie zufrieden sind Sie zur Zeit insgesamt mit Ihrem Leben auf einer Skala von 1 (unzufrieden) bis 10 (sehr zufrieden)?“ Das ist die Frage, die im „World Values Survey“3 gestellt wird, der das Glücksempfi finden der Menschen in verschiedenen Ländern vergleicht. Ehrlich gesagt, wenn man mich das fragen würde, wäre ich ziemlich überfordert. Häufi fig wissen wir selbst nicht, ob wir eigentlich glücklich sind. Kommt jemand gerade vom Arzt mit dem Befund, dass sich der Verdacht auf Krebs nicht bestätigt hat, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass sich dieser Mensch glücklich fühlt. Ist das Resultat aber umgekehrt und wurde der Verdacht auf Krebs bestätigt, wird er seinen Zustand kaum als glücklich bezeichnen. Solche Antworten sind also immer durch die gegenwärtigen Umstände bestimmt und durch diese geprägt (statistisch verzerrt). Es gibt keine Möglichkeit, den Glückszustand eines einzelnen Menschen mittels Befragung objektiv festzustellen. Allerdings ist die Unmöglichkeit, das Glück eines einzelnen Menschen objektiv festzustellen, für die Glücksforschung weniger schlimm, als man zunächst annehmen könnte. Befragt man eine ausreichend große Persongruppe, dann erhält man trotzdem 4 ein adäquates Bild ihres durchschnittlichen Glücksempfindens. fi Denn die meisten „Fehler“ bei der Angabe des eigenen Glückszustands werden bei der Befragung einer genügend großen Menge von Menschen wieder aufgehoben: Für unser Beispiel hieße dies, dass sich die Zahl derjenigen mit einem positiven und derjenigen mit einem negativen Untersuchungsergebnis nach einem Arztbesuch in etwa die Waage hält. Damit haben die Untersuchungsergebnisse auf das mittels Befragung ermittelte durchschnittliche Glücksempfinden fi keinen Einfl fluss mehr.
Glück und Einkommen: Ergebnisse empirischer Untersuchungen Sind die Menschen in reichen Ländern glücklicher als in armen Ländern?
Wie glücklich sind die Menschen in verschiedenen Ländern? Die bekanntesten empirischen Untersuchungen zum Glück stammen von Befragungen, die das durchschnitt-
Die Tretmühlen des Glücks
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Glück und Einkommen im Ländervergleich 1995 – World Values Survey (2008)
liche Glücksempfi finden der Menschen in verschiedenen Ländern miteinander vergleichen. Eine führende Rolle spielt dabei der sogenannte „World Values Survey“5, der Daten zu mittlerweile 82 Ländern enthält. Die Abbildung zeigt die Beziehung zwischen dem durchschnittlichen Jahreseinkommen pro Kopf in den einzelnen Ländern (unter Berücksichtigung der Kaufkraft fk ftparitäten) und dem Glücksempfi finden der Menschen dieser Länder. Dieses ist hier gemessen als die Prozentzahl der Menschen, die mit ihren Leben glücklich oder zufrieden sind. Auf den ersten Blick spricht die Abbildung eine deutliche Sprache. Solange ein Land arm ist, steigt das durchschnittliche Glücksempfi finden bei einer Erhöhung des Einkommens sehr schnell an. Ist aber einmal der Schwellenwert von etwa 15 000 Dollar pro Kopf erreicht, führt eine weitere Zunahme des Einkommens zu keinem weiteren
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Mathias Binswanger
Anstieg des Glücksempfindens. fi So sind die Menschen in den USA mit einem durchschnittlichen Einkommen von 30 000 Dollar viel glücklicher als die Menschen in der Ukraine oder in Peru, wo das Durchschnittseinkommen unter 5000 Dollar liegt. Aber sie sind nicht glücklicher als die Menschen in Taiwan oder Südkorea, wo das Einkommen 15 000 Dollar beträgt. Aus den Daten des „World Values Survey“ können wir grob folgende Schlussfolgerung ziehen: Einkommen macht glücklich, solange die Menschen eines Landes arm sind. Wenn aber der Schwellenwert von 15 000 Dollar bis 20 000 Dollar Durchschnittseinkommen pro Kopf erreicht ist, gilt das nicht mehr. Mehr Einkommen trägt also nicht mehr zum durchschnittlichen Glücksempfi finden bei. Der Soziologe Ronald Inglehart, der den „World Values Survey“ betreut, stützt diese Interpretation und liefert auch eine Erklärung. In armen Ländern geht es zunächst einmal um die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse. Solange man nicht genug zu essen hat und in einer armseligen Hütte dahinvegetiert, trägt mehr Einkommen entscheidend zum Lebensglück bei. Ist aber der Schwellenwert erreicht, bei dem die Grundbedürfnisse gedeckt sind, dann geht es um andere Dinge, die Inglehart mit „Lifestyle Issues“ umschreibt. Nicht „satt werden“ ist jetzt gefragt, sondern Nouvelle Cuisine oder Reformkost. Und mit dem Erreichen des Schwellenwertes machen sich auch Tretmühleneff ffekte bemerkbar, die hier weiter unten beschrieben sind. Allerdings gilt es, weitere Aspekte zu beachten. Erstens lassen sich deutliche geographische Einflüsse fl feststellen. Die Menschen in lateinamerikanischen Ländern sind bei gleichem Einkommen viel glücklicher als Menschen in Ländern des ehemaligen Ostblocks. Es gibt also so etwas wie einen „Latino-Glücksfaktor“ und „Ostblock-Melancholiefaktor“. Für Menschen, die schon in Lateinamerika oder in der Karibik waren, sind die relativ hohen Glückswerte in diesen Ländern kaum überraschend. So sind etwa Kolumbianer im Durchschnitt glücklicher als die Menschen in Deutschland oder Österreich, obwohl ihr durchschnittliches Einkommen viel geringer ist. Heißes Klima, Salsa, Samba und eine lockere Lebenseinstellung haben hier sicher einen positiven Einfl fluss. Und bei den besonders tiefen Werten der Länder des ehemaligen Ostblocks spielen wohl das kalte Klima, jahrzehntelange Frustration durch Kommunismus und vielleicht auch übermäßiger Wodkakonsum eine Rolle. Mit anderen Worten: Die Menschen in den ehemaligen Ostblockländern werden selbst bei stark steigendem Einkommen Mühe haben, sich so glücklich zu fühlen wie die Latinos. Einkommen erklärt nur einen Teil der Variation des Glücksempfindens fi zwischen verschiedenen Ländern. Zweitens ist Glück nicht zwingend gleich Glück. Verschiedene Kulturen haben unterschiedliche Vorstellungen vom Glück entwickelt, und es ist unklar, ob Glück in Zimbabwe genau dasselbe bedeutet wie in den USA.6
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Glück und Wohlstand in den USA 1946–1996 – nach Layard (2005)
Sind die Menschen mit dem Wirtschaft ftswachstum glücklicher geworden?
Neben Ländervergleichen gibt es eine ganze Reihe von Untersuchungen, die das durchschnittliche Glücksempfinden fi der Menschen in den einzelnen Ländern im Zeitablauf erfassen.7 Die längsten Datenreihen liegen für die USA und Japan vor, wo Glücksbefragungen bereits seit dem Zweiten Weltkrieg durchgeführt wurden. Und das Ergebnis ist in beiden Ländern genau dasselbe: In den USA hat sich das reale Bruttoinlandprodukt pro Kopf seit dem Zweiten Weltkrieg mehr als verdreifacht, aber das Glücksempfinden fi der Bevölkerung ist gleich geblieben. Seit 1946 bezeichnen sich 30 % der amerikanischen Bevölkerung als sehr glücklich (siehe Abbildung) und in einer Zufriedenheitsskala von 1 bis 10 liegt der Wert konstant bei etwas über 7.8 Noch extremer ist der Fall in Japan, wo sich das Bruttoinlandsprodukt seit dem Zweiten Weltkrieg sogar versechsfacht hat, das Glücksempfinden fi dennoch konstant geblieben ist. Und in den europäischen Ländern, wo man auf Daten seit Beginn der 1970er-Jahre zurückgreifen kann, zeigt sich dasselbe Bild: steigende durchschnittliche Einkommen, konstantes Glück, obwohl der materielle Wohlstand seit dem Zweiten Weltkrieg enorm angestiegen ist. Der britische Ökonom Richard Easterlin, einer der Pioniere der ökonomischen Glücksforschung, kann sogar noch mehr zeigen.9 Seine Untersuchungen zu den USA deuten an, dass nicht nur das durchschnittliche Glücksempfinden, fi sondern auch das Glücksempfi finden der verschiedenen Generationen über ihren Lebenszyklus stagniert. Obwohl die Menschen insbesondere in den 1950er- und 60er-Jahren viel reicher wurden, wurden die gleichen Menschen, die etwa zu Beginn der 50er-Jahre noch arm
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waren, durch den erworbenen Reichtum in den 50er- und 60er-Jahren nicht glücklicher, sondern traten auf der Stelle. Die Stagnation des Glücksempfindens fi lässt sich in sämtlichen Schichten der Gesellschaft ft beobachten. Die Daten zu den USA zeigen, dass dies sowohl für Männer wie Frauen, Schwarze und Weiße und auch für hoch und weniger Gebildete gilt.10 Das durchschnittliche Glücksempfinden fi lässt sich in Industrieländern durch Wirtschaft ftswachstum nicht erhöhen. Weder Auto noch Einfamilienhaus, weder Fernsehen noch Kühlschrank, weder Ferien in der Karibik noch Internet haben daran etwas geändert. Sind Reiche glücklicher als Arme?
Daraus könnte man jetzt vorschnell die Schlussfolgerung ziehen, dass Geld tatsächlich nicht glücklich macht. Doch so allgemein kann man das nicht sagen. Es gibt nämlich empirische Forschungen, die nicht das durchschnittliche Glücksempfinden fi der Bevölkerung untersuchen, sondern der Frage nachgehen, ob denn zu einem bestimmten Zeitpunkt die Reichen eines Landes glücklicher sind als die Armen.11 Und, siehe da, sie sind es tatsächlich! Die Tabelle zeigt die Situation in den USA im Jahr 1994. Um eine Aussage über den Zusammenhang zwischen Glück und Einkommen machen zu können, wurde die Bevölkerung in verschiedene Einkommensklassen unterteilt. Für jede dieser Einkommensklassen hat man dann das aufgrund von Umfragen ermittelte durchschnittliche Glücksempfi finden aus dem „General Social Survey“ errechnet. Die Tabelle zeigt die Resultate für die verschiedenen Einkommensklassen. Tabelle: Glück und Einkommen bei verschiedenen Einkommensklassen in den USA im Jahr 1994 (Quelle: Easterlin, 2001) Gesamtes Haushaltseinkommen (in US-Dollar)
sehr glücklich (in %)
ziemlich glücklich (in %)
nicht so glücklich (in %)
durchschnittliches Glücksrating
Durchschnitt für alle Einkommensklassen
28
60
12
2,4
weniger als 10 000
16
62
23
1,8
10 000 bis 20 000
21
64
15
2,1
20 000 bis 30 000
27
61
12
2,3
30 000 bis 40 000
31
61
8
2,5
40 000 bis 50 000
31
59
10
2,4
50 000 bis 75 000
36
58
7
2,6
über 75 000
44
49
6
2,8
Das durchschnittliche Glücksempfi finden wurde aufgrund einer willkürlich gewählten Skala berechnet, bei welcher „sehr glücklich“ mit 4, „ziemlich glücklich“ mit 2 und „nicht so glücklich“ mit 0 bewertet wurde.12
Die Tretmühlen des Glücks
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Die Tabellenwerte zeigen deutlich, dass Menschen aus reichen Haushalten in den USA glücklicher sind als die aus armen. Der Prozentsatz der Menschen, die sich als „sehr glücklich“ bezeichnen, steigt von Einkommensklasse zu Einkommensklasse kontinuierlich an und erhöht sich von 16 % bei der tiefsten Einkommensklasse auf 44 % in der höchsten Einkommensklasse. Umgekehrt sinkt der Prozentsatz der Menschen, die sich als „nicht so glücklich“ bezeichnen, von 23 auf 6 %. Und betrachtet man den in der Tabelle angegebenen numerischen Wert in der Spalte „Glücksrating“, nimmt dieser von der ärmsten bis zur reichsten Einkommensklasse deutlich zu. Allerdings sind die Unterschiede in den mittleren Einkommensklassen nicht gerade groß und Mitglieder von Haushalten mit einem Einkommen von 25 000 Dollar sind etwa gleich glücklich wie Mitglieder von Haushalten mit einem Einkommen von 45 000 Dollar.13 Die USA sind nun keineswegs ein Sonderfall. Zusammengefasste Daten aus den „Eurobarometer Surveys“, wo die Haushalte der EU-Länder in 4 Einkommenskategorien unterteilt werden, zeigen, dass sich 88 % der höchsten Einkommensklasse als „sehr zufrieden“ oder „einigermaßen zufrieden“ bezeichnen. In der untersten Einkommenskategorie liegt deren Anteil jedoch lediglich bei 66 %.14 Und selbst in der an sich schon reichen Schweiz nimmt die Prozentzahl derjenigen, die mit dem Leben nicht zufrieden sind, mit der Höhe des Einkommens ab.15 Macht Geld also doch glücklich? Vergleichen wir die verschiedenen Forschungsresultate, dann scheint hier zunächst ein Widerspruch vorzuliegen. Auf der einen Seite stagniert das durchschnittliche Glücksempfi finden der gesamten Bevölkerung bei steigendem Einkommen. Doch auf der anderen Seite sind die Reichen glücklicher als die Armen: Dieser Widerspruch lässt sich aufl flösen, da es in Wirklichkeit um zwei unterschiedliche Sachverhalte geht. Was für den Einzelnen bzw. eine einzelne Einkommensgruppe gut ist, muss noch lange nicht gut für alle sein. Wenn der Einzelne mit steigendem Einkommen glücklicher wird, heißt dies nicht, dass die Gesamtheit der Bevölkerung bei steigendem Einkommen ebenfalls glücklicher wird. Das ist der Trugschluss der Verallgemeinerung, vor dem man sich auch in der Glücksforschung hüten muss. Ein einfaches Beispiel möge diesen Trugschluss illustrieren. Stellen Sie sich ein Fussballspiel vor, bei dem alle Zuschauer auf der Tribüne sitzen und aufmerksam das Spiel verfolgen. Nun spielt sich eine spannende Szene vor dem Tor ab, das jedoch etwas weiter von der Tribüne entfernt ist. Leicht kann es geschehen, dass ein Einzelner sich erhebt, um das Geschehen besser verfolgen zu können, was ihm einen persönlichen Vorteil in Bezug auf seine Sicht verschafft fft. Allerdings nicht für lange. Entweder wird er von den hinter ihm sitzenden Zuschauern lautstark daran erinnert, sich wieder hinzusetzen oder diese stehen ebenfalls auf. Im zweiten Fall wird es nicht lange dauern, bis alle Zuschauer aufgestanden sind, mit dem Resultat, dass niemand mehr einen Vorteil von der neuen Situation hat. Alle sehen wieder genau gleich gut oder schlecht wie in sitzendem Zustand. Was für den Einzelnen, der zuerst aufgestanden ist, kurzfristig ein
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Mathias Binswanger
Vorteil war, bringt für die Gesamtheit der Zuschauer überhaupt nichts. Ganz im Gegenteil: Stehen ist auf die Dauer unbequemer als sitzen und dieser Nachteil wird sich nach einiger Zeit bemerkbar machen. Ganz ähnlich wie beim Fußballspiel verhält es sich auch mit dem Zusammenhang zwischen Einkommen und Glück. Wenn ein Einzelner versucht, mehr Geld als die anderen zu verdienen, dann verbessert er damit seine Position in der Gesellschaft ft, da er andere mit seinem Einkommen übertrifft fft und im Vergleich reicher wird. Aber wie bei den Fußball-Zuschauern verschlechtert dies die Situation der übrigen Mitglieder der Gesellschaft ft, da sie jetzt relativ ärmer geworden sind. Deshalb werden einige von ihnen sich vermehrt anstrengen, um ebenfalls mehr Geld zu verdienen. Doch leider können nicht alle reicher werden als alle andern. Das ist eine traurige Tatsache des Lebens. Selbst wenn das Einkommen absolut ansteigt, bleibt immer ein Prozentsatz der Bevölkerung relativ arm (unter dem Durchschnitt), sosehr sich dieser auch abrackert, reicher zu werden. Wenn deshalb das Glück der Menschen entscheidend von ihrem relativen Einkommen im Vergleich zu andern abhängt, dann ergibt sich aus den unterschiedlichen empirischen Forschungsresultaten kein Widerspruch. Werden alle Bürger eines Landes reicher, dann bleibt trotzdem immer ein bestimmter Prozentsatz der Bevölkerung relativ arm und damit unglücklich. Die gesamte Bevölkerung wird also durch Geld nicht glücklicher. Wird aber ein Einzelner reich, dann verbessert er damit seine relative Position in der Gesellschaft ft, was zu seinem persönlichen Glück beiträgt. Den Einzelnen kann Geld deshalb durchaus glücklich machen, solange die anderen relativ arm bleiben.
Die Tretmühlen des Glücks16 Off ffenbar leben Menschen nicht so, wie es für sie am besten wäre. Es ginge ihnen insgesamt besser, wenn sie mehr Zeit hätten und dafür auf zusätzliches Einkommen verzichten würden. So zeigt etwa eine Untersuchung, dass Menschen, die Überstunden machen und deshalb mehr verdienen, dadurch nicht glücklicher werden. Trotzdem machen aber viele Menschen freiwillig Überstunden und streben generell nach einem noch höheren Einkommen. Die Frage lautet deshalb: Wenn die Menschen ein anderes Verhalten glücklicher machen würde, warum ändern sie es dann nicht? Der Grund liegt in den sogenannten Tretmühleneffekten. ff Auf einer Tretmühle kann man immer schneller laufen und diese immer schneller bewegen, doch man bleibt stets am selben Ort. Genau gleich verhält es sich mit dem Versuch, durch mehr Einkommen glücklicher zu werden. Die Menschen werden dadurch zwar reicher, aber was ihr Glücksempfinden fi betrifft fft, treten sie auf der Stelle. Die Hoff ffnung auf mehr Glück wird ständig enttäuscht, dennoch wird an diesem irrationalen Glauben festgehalten.
Die Tretmühlen des Glücks
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Was sind aber genau die Tretmühlen des Glücks? Im Wesentlichen lassen sich vier solcher Tretmühlen unterscheiden. Erstens haben wir die sogenannte Statustretmühle. Auf der ganzen Welt empfi finden die Menschen tiefe Befriedigung darin, mehr zu verdienen oder zu besitzen als ihre Kollegen, Nachbarn oder Familienmitglieder, das bringt sozialen Status. Allerdings gibt es da folgendes Problem: Nicht alle können mehr als der Durchschnitt verdienen. Deshalb wird das Streben aller nach mehr Einkommen für die Wirtschaft ft als Ganzes zu einem Nullsummenspiel. Auch wenn das allgemeine Einkommensniveau in einem Land ständig ansteigt, bleibt doch eine Mehrheit der Bevölkerung unter dem Durchschnittseinkommen und blickt neidvoll auf die oberen Zehntausend. Die hohe Bedeutung des relativen Einkommens für das Glück und die Zufriedenheit der Menschen ist somit eine erste Erklärung für die zu beobachtende Stagnation des subjektiven Wohlbefi findens im Westen. Solange ein Land arm ist, zählen erst einmal die absoluten Bedürfnisse wie Essen und ein Dach über dem Kopf. Doch kaum sind die Grundbedürfnisse gedeckt, gewinnen soziales Prestige und Status an Bedeutung. Die Menschen fangen an, sich mit den übrigen Bürgerinnen und Bürgern ihres Landes zu vergleichen und verhindern damit einen weiteren Anstieg ihres eigenen Glücksempfindens. fi Ein weiterer Tretmühleneffekt ff kommt dadurch zustande, dass die Menschen sich relativ rasch an ein höheres Einkommensniveau gewöhnen und dieses nach kurzer Zeit als selbstverständlich betrachten. Dies ist die sogenannte Anspruchstretmühle (hedonic treadmill), ein Begriff ff aus der Psychologie. So weiß man, dass ein Lottogewinner für kurze Zeit sehr glücklich ist, aber bald danach pendelt sich das Glücksempfi finden wieder auf seinen Normalzustand ein, er ist so glücklich oder unglücklich wie vor dem Gewinn. Dieses Beispiel ist typisch für die Freude an materiellen Dingen, die meist nur von kurzer Dauer ist. Auch die Entwicklung zur Multioptionsgesellschaft ft führt zu einem Tretmühleneff ffekt, der sich als Multioptionstretmühle beschreiben lässt. Mit dem Wirtschaft ftswachstum ist eine immer größere Vielfalt an Gütern und Dienstleistungen verbunden. Gleichzeitig sind religiöse Tabus weggefallen, die dem menschlichen Handeln früher Grenzen setzten. Die Optionen für Arbeit, Freizeit und Konsum nehmen ständig zu, „anything goes“. Aber der Entscheid für die richtige Option wird schwieriger, da die steigende Zahl an Optionen auf ein konstantes Zeitbudget trifft. fft Die Auswahl wird so von einem Dürfen zu einem Müssen und damit zu einer Tyrannei. Ein gutes Beispiel dafür ist die Entwicklung des Fernsehens. Zu Beginn der 1950er-Jahre, als der Fernseher die Wohnstuben eroberte, hatten die meisten Menschen in Europa noch keine Programmauswahl und mussten sich mit einem nationalen Programm begnügen. Was für eine Freude war es da, als endlich auch ausländische Sender empfangen werden konnten und zweite oder sogar dritte Programme entstanden. Die neue Auswahlmöglichkeit emanzipierte die Menschen von der Diktatur des nationalen Monopolprogramms. Bald wurde aus dem Segen ein Fluch. Mit der Entwicklung von Kabel- und
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Satellitenfernsehen stieg die Zahl der Fernsehprogramme rasch auf über hundert, heute kann man zwischen tausend Fernsehprogrammen wählen. Nur leider ist unter solchen Bedingungen eine vernünft ft ige Auswahl nicht mehr möglich. Entweder man verbringt den Rest des Lebens damit, alle Fernsehprogramme zu studieren, oder man zappt sich wahllos durch das Angebot. Und häufi fig beschränken sich die Menschen einfach auf ein paar wenige Programme und ignorieren den Rest, womit sie de facto wieder auf der gleichen Stufe wie in den 1960er-Jahren sind. Schließlich gibt es eine Zeitspartretmühle, die uns ebenfalls zu schaffen ff macht. Technischer Fortschritt führt dazu, dass wir bestimmte Aktivitäten immer schneller und in kürzerer Zeit durchführen können. Trotzdem gelingt es uns im Allgemeinen nicht, Zeit zu sparen, denn es kommt zu einem sogenannten Rebound-Effekt. ff Je schneller eine Aktivität durchgeführt werden kann, umso mehr und umso häufi figer wird sie durchgeführt. Das beste Beispiel dafür ist der Verkehr. Je schneller die Transportmittel werden, umso weiter und häufi figer fahren wir. Die für Transport aufgewendete Zeit bleibt ungefähr konstant, ganz egal mit welchen Transportmitteln wir uns fortbewegen. Das ist die sogenannte Constant-Travel-Time-Hypothese, die praktisch weltweit gilt. Sowohl in Tansania als auch in den USA wenden die Menschen pro Tag etwa siebzig Minuten für Mobilität auf. Nur tun sie dies in Tansania zu Fuß, während die Fortbewegung in den USA fast nur mit dem Auto stattfindet. fi Mit anderen Worten: Wann immer wir das Straßennetz ausbauen, fangen die Menschen sofort an, größere Distanzen zurückzulegen. Zeitsparen wird zur Illusion.
Ökonomische Schlussfolgerungen Aus den eben dargestellten empirischen Ergebnissen zum Zusammenhang zwischen Glück und Einkommen ergibt sich eine eindeutige Schlussfolgerung: Wir sollten uns wieder auf den eigentlichen Daseinszweck der Wirtschaft ft besinnen, den der britische Schrift ftsteller George Bernard Shaw folgendermaßen beschrieben hat: „Ökonomie ist die Kunst, das Beste aus unserem Leben zu machen.“ Mit anderen Worten: Es geht nicht um Einkommensmaximierung, sondern darum, dass die Menschen eines Landes ein möglichst glückliches Leben führen können. Aus ökonomischer Sicht geht es dabei um einen zweistufi figen Prozess. Erstens müssen wir ein Einkommen erzielen, damit wir uns die Dinge leisten können, die wir für ein glückliches Leben brauchen. In dieser Hinsicht sind wir in den Industrieländern im Allgemeinen Profis. fi Von klein auf lernen wir die Fähigkeiten, die es braucht, um in der Arbeitswelt Karriere zu machen. Leider reicht das aber nicht aus, wie viele Menschen in ihrem späteren Leben schmerzlich erfahren müssen. Man muss auch in der Lage sein, das verdiente Einkommen so zu verwenden, dass es glücklich macht. Das ist die zweite, schwierigere Stufe. Und in dieser Beziehung sind wir oft ft grauenhaft fte Amateure. So gut wir beim Geldverdienen sein mögen, so schlecht sind wir bei der Umsetzung des Einkommens in Glück. Die
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dafür erforderlichen Fähigkeiten, die sich mit dem französischen Begriff ff „Savoirvivre“ oder dem deutschen Wort „Lebenskunst“ umschreiben lassen, werden uns in der Schule nicht beigebracht. Ein Mensch, der nur ans Geldverdienen denkt, handelt unökonomisch, weil er damit sein Glück nicht maximiert. Er verhält sich ineffi ffizient, und zwar in dem Sinn, dass er seine ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht optimal nutzt. Die wesentlichen Ressourcen für den einzelnen Menschen sind Zeit und Geld. Das Ziel muss sein, den optimalen Mix von Zeit und Geld zu finden, der zu einem möglichst glücklichen Leben führt. Bei der Frage nach dem Glück des Einzelnen trifft fft sich somit die ökonomische Betrachtungsweise mit der Psychologie und der Philosophie. Es geht um eine Rückbesinnung auf den eigentlichen Zweck des Wirtschaftens, ft der nicht in der Einkommensmaximierung, sondern in der Glücksmaximierung besteht. Eine ausschließlich auf Wirtschaft ftswachstum ausgerichtete Politik ist aus diesem Grund ökonomisch ebenfalls verfehlt, denn das macht nur dann Sinn, wenn die Menschen dadurch auch glücklicher oder zufriedener werden. Jede Zeit produziert ihre eigenen Verrücktheiten. Schon heute fragen wir uns, wie es möglich war, dass sich die Menschen in Russland ihr Leben über fast hundert Jahre mit dem Kommunismus vermiesen ließen. Und unser Verständnis hört ganz auf, wenn es um Inquisition oder Hexenverbrennungen geht, womit Kirche und staatliche Justiz über lange Zeit Angst und Schrecken verbreiteten. Doch wir sollten vorsichtig sein. Spätere Generationen werden sich auch einmal fragen, warum sich die Menschen in der heutigen Gesellschaft ft, trotz eines nie dagewesenen Wohlstands, ständig noch mehr stressen ließen, statt diesen Wohlstand zu genießen. Vor fast zweitausend Jahren degenerierte das damals reiche Rom, weil sich seine Bürger buchstäblich zu Tode amüsierten. Im Vomitorium steckten sie sich einen Finger in den Mund, um die eben genossenen Leckerbissen wieder herauszuwürgen, um noch mehr Köstlichkeiten zu sich nehmen zu können. So erfanden die alten Römer ständig noch perversere Methoden, um ihren Wohlstand zu verprassen. Dieser Degenerationsprozess jedoch war immerhin unterhaltsam und mit einem – wenn auch fragwürdigen – Genuss verbunden. In den Industrieländern laufen wir heute Gefahr, auf eine viel unattraktivere Art zu degenerieren. Es lohnt sich, dagegen etwas zu unternehmen.
Anmerkungen 1 Siehe z. B. Diener / Oishi, Money and Happiness. Kahneman und Riis machen noch eine andere Unterscheidung und zwar zwischen erlebtem Wohlbefinden fi (experienced wellbeing) und evaluiertem Wohlbefi finden (evaluated well-being) (Kahneman / Riis, Living, and thinking about it). 2 Vgl. Davis / Polonko, Telework America 2001 summary. 3 Vgl. Inglehart, Changing Values in the New Millennium.
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4 Siehe Frey / Stutzer, What Can Economists Learn from Happiness Research?; Easterlin, Income and Happiness; Clark / Oswald, A Simple Statistical Method. 5 Im Internet zu finden unter www.worldvaluessurvey.com. Siehe dazu auch Griffi ffith, Progressive Taxation and Happiness. 6 Siehe Ruut Veenhoven zu diesem Thema. Der Autor kommt allerdings zu dem Schluss, dass das unterschiedliche Glücksverständnis zwischen den Kulturen keine große Rolle spielt (Veenhoven, Freedom and Happiness). 7 Beschrieben sind diese Ergebnisse in Blanchfl flower / Oswald, Well-Being Over Time in Britain and the USA; Diener / Suh, Measuring quality of life; ders. / Oishi, Money and Happiness; ders. / Biswas-Diener, Will Money Increase Subjective Well-Being?; Easterlin, Will Raising the Incomes of All Increase the Happiness of All; ders. / Angelescu, Happiness and Growth the World Over; Kenny, Does Growth Cause Happiness. 8 Vgl. Layard, Happiness. 9 Vgl. Easterlin, Income and Happiness. 10 Vgl. Blanchfl flower / Oswald, Well-Being Over Time in Britain and the USA. 11 Siehe etwa Ahuvia / Friedman, Income, Consumption, and Subjective Well-Being; Easterlin, Will Raising the Incomes of All Increase the Happiness of All; Easterlin, Income and Happiness; Diener / Biswas-Diener, Will Money Increase Subjective Well-Being?; Frey / Stutzer, Happiness and Economics. 12 Diese Zuweisung von numerischen Werten zu den einzelnen Zuständen ist allerdings methodisch nicht ganz sauber, denn in Wirklichkeit wandelt man damit eine ordinale Größe (die verschiedenen Glückszustände) in eine kardinale Größe (die numerischen Werte) um. Man kann nicht sagen, dass jemand, der sehr glücklich ist, genau doppelt so glücklich ist wie jemand, der einigermaßen glücklich ist, doch das wird mit den numerischen Werten suggeriert. 13 Ausführlich untersucht wurden diese Daten in Easterlin, Income and Happiness. 14 Siehe Di Tella / MacCulloch / Oswald, The Macroeconomics of Happiness. 15 Siehe Bundesamt für Statistik, Sozialberichterstattung Schweiz. 16 Siehe dazu Binswanger, wo diese Tretmühlen ausführlich beschrieben sind (Binswanger, Die Tretmühlen des Glücks; ders., Why Does Income Growth Fail to Make Us Happier?).
Kennon M. Sheldon
Können wir glücklicher werden? Warum es wichtiger ist, Aktivitäten zu verändern als Lebensumstände1
Das subjektive Wohlbefi finden und die „hedonische Tretmühle“ M. werden? Sheldon Können wir Kennon glücklicher
Ist es möglich, ein glücklicherer Mensch zu werden? – Dies ist eine Frage von enormer Tragweite, nicht nur für die Forschungen im Bereich des subjektiven Wohlbefindens fi (subjective well-being, kurz: SWB) und für die junge Disziplin der Positiven Psycholoft steigern gie2, sondern ganz allgemein. Wenn sich das Glücksgefühl nicht dauerhaft lässt, dann gerät folgende Grundprämisse der Positiven Psychologie ins Wanken: dass sie nämlich mehr dazu beitragen könne, Menschen über den „Grad Null“ ihres durchschnittlichen Wohlbefi findens zu heben, ihnen zu Erfüllung und Zufriedenheit zu verhelfen, anstatt nur Störungen zu beseitigen und die Nullstufe wiederherzustellen.3 Wenn sich das Glücksempfi finden nicht steigern lässt, dann stellt dies ein schwerwiegendes Problem für einen Grundpfeiler der westlichen Weltanschauung dar: für unsere Überzeugung, dass Menschen ihr Glück und ihre Lebenserfüllung suchen können und sollen. Diese wichtige Frage sei gestellt, da es einen wachsenden Konsens gibt, dass unser SWB stark von unseren Genen bestimmt wird, laut der Zwillingsforschung mit einer Erblichkeit von ca. 50 %.4 Forschungen der Verhaltensgenetik lassen vermuten, dass ein genetisch vorbestimmter „Set-Point“ des subjektiven Wohlbefindens fi existiert, an den Individuen langfristig gebunden sind.5 Anders gesagt: Unser SWB scheint das Ergebnis einer homöostatischen, also selbsterhaltenden Tendenz zu sein, die versucht, den Basiswert nach Abweichungen wiederherzustellen.6 Unter dieser Annahme erscheint der Versuch glücklicher zu werden ebenso sinnlos wie „der Versuch, größer zu werden“7 – runter kommen sie alle. Auch die Ausbildung des positiven Charakters8 und spezielle Praktiken9, wie sie von der Positiven Psychologie vorgeschlagen werden, können die Gemütsverfassung der Menschen nicht längerfristig beeinflussen. fl Natürlich können der positive Charakter und die Techniken der Positiven Psychologie andere günstige Effekte ff haben, auch wenn sie nicht zu einem dauerhaft ft erhöhten SWB führen; doch gerade der Wunsch nach einer Steigerung des persönlichen Glücks motiviert viele Bemühungen im Bereich der Selbstvervollkommnung.10
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Die empirische Literatur zum langfristigen SWB liefert einen weiteren Anlass, der Realisierbarkeit eines gesteigerten Wohlgefühls kritisch gegenüberzustehen. In einer vierjährigen Feldstudie haben Headey und Wearing nachgewiesen,11 dass die Teilnehmer dazu neigten, zu ihrem Basiswert zurückzukehren, auch wenn dieser bei positiven oder negativen Lebensereignissen zeitweise variierte, wofür sie die Bezeichnung „dynamisches Gleichgewicht“ (dynamic equilibrium) prägten. Lucas, Clark, Georgellis und Diener12 analysierten Daten aus einer Langzeitstudie mit vielen Teilnehmern und fanden heraus, dass positive Ereignisse, wie zum Beispiel eine Heirat, eine zeitweilige Steigerung des SWB auslösen können, welche jedoch zeitlich begrenzt und typischerweise nach ein paar Jahren verklungen ist. Noch mehr beunruhigen weitere Studien von Lucas et al.: Sie wiesen nach, dass größere negative Ereignisse wie eine Verletzung, eine Scheidung oder Arbeitslosigkeit zeitresistente negative Auswirkungen haben können.13 Eine Auswahl von Patienten mit Rückenmarksverletzungen zeigte ein starkes Absinken des Glücksgefühls, das sich mit der Zeit nur minimal abfederte und auf einem Niveau einpendelte, das weit unterhalb des Basiswerts aus der Zeit vor der Verletzung lag.14 Insgesamt machen diese Befunde sehr skeptisch gegenüber den Zielen und Prämissen der Positiven Psychologie. Vielleicht sollten die Menschen nicht so sehr versuchen, ihr Glück zu maximieren (ein Ding der Unmöglichkeit), sondern sich stattdessen darauf konzentrieren, Katastrophen zu vermeiden, die ihr Wohlbefinden fi dauerhaft ft beeinträchtigen. Damit nicht genug, liefert uns die Literatur einen weiteren Grund für Pessimismus: Menschen haben demnach eine ausgeprägte Fähigkeit, sich an Veränderungen anzupassen – nicht nur an sensorische und perzeptuelle, sondern auch an solche, die in positiver oder negativer Weise ihre Emotionen beeinflussen. fl So lassen Brickmans, Coates’ und Janoff ff-Bulmans Befunde darauf schließen, dass Lotteriegewinner sich an ihre neue finanzielle Situation gewöhnen und mit der Zeit zu ihrem früheren emotionalen Basiswert zurückkehren.15 Diener und Biswas-Diener haben gezeigt, dass selbst Straßenprostituierte in Kalkutta ihrem Los erstaunlich gleichmütig und sogar fröhlich gegenüberstehen.16 Diese grundsätzliche Tendenz, sich an gefühlsrelevante Veränderungen anzupassen, hat man als „Lustanpassung“ (hedonic adaptation) oder als „hedonische Tretmühle“ (hedonic treadmill) bezeichnet.17 Aus dieser Perspektive erscheint der Versuch, glücksrelevante Veränderungen herbeizuführen, wie der Versuch, eine hinunterfahrende Rolltreppe hinaufzusteigen: Der Lebensstandard mag sich zunächst erhöhen, doch die Gewöhnung folgt auf dem Fuß, man nimmt die Veränderung nicht mehr wahr und wird sozusagen wieder ins Erdgeschoss, auf das Niveau des persönlichen Glückslevels zurückgebracht. Mit anderen Worten: Wenn ihre Lebensumstände sich verbessern, beispielsweise durch den Umzug in ein schickeres Viertel, und sich dementsprechend auch die Vorgaben ihres sozialen Umfelds erhöhen (wenn beispielsweise die Nachbarn noch schickere Partys geben), stecken die Menschen auch ihre zukünft ftigen Ziele höher; sie halten die bislang erreichten Verbesserungen für selbstverständlich und entwickeln nun noch höhere Glücksansprüche.
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Ein „Modell für nachhaltiges Glück“ Dürfen wir hoff ffen? Dem Sustainable Happiness Modell („Modell für nachhaltiges Glück“, kurz: SHM) zufolge: ja.18 Es konfrontiert ganz direkt mit der Frage, ob es möglich ist, den eigenen SWB-Wert anzukurbeln oder zu halten. Das SHM unterteilt die möglichen Einfl flüsse auf das subjektive Wohlbefi finden in drei große Kategorien: Genetik, Lebensumstände und Aktivitäten. Die Genetik stellt den Set-Point dar, das angeborene Temperament und die psycho-biologische Ausstattung, die einen starken und dauernden Einfl fluss ausüben. Wie erwähnt, bedingen Gene wahrscheinlich 50 % aller SWB-Varianzen. Die Lebensumstände umfassen das demographische Profil fi einer Person (Geschlecht, Volkszugehörigkeit, Einkommen, Gesundheit, soziale Stellung) sowie den Einfl fluss nicht-psychologischer Variablen wie Besitz, geographische Lage und direkte Umgebung. Besonderes Kennzeichen der Lebensumstände ist, dass sie auf Dauer gesehen relativ konstant bleiben. Aufgrund dieses statischen Wesens tendieren Menschen dazu, sich an ihre Lebensumstände anzupassen, sogar an Veränderungen wie einen „Umzug nach Kalifornien“.19 Diese Anpassungsprozesse erklären den relativ geringen Einfl fluss der Lebensumstände auf das SWB (ungefähr 10 % Varianz oder etwas mehr).20 Die verbleibenden 40 % Varianz werden dem SHM zufolge durch das bestimmt, was Menschen tun – also intentionale Aktivitäten, die sie in ihrem Alltag ausüben, zum Guten oder Schlechten und mit unterschiedlichem Lustgewinn und Erfolg. Freilich stellt „Aktivitäten“ eine sehr weitgefächerte Kategorie dar und kann sich mit „Lebensumständen“ überlappen, denn viele Lebensumstände erfordern Aktivitäten und ermöglichen unterschiedliche Arten und Ausmaße von Aktivität. Dennoch konzentriert sich das SHM auf die Kategorie der „Aktivitäten“ als Weg mit dem besten Potenzial zu einer nachhaltigen Verbesserung des persönlichen SWB. Gene sind unveränderbar; Lebensumstände sind grundsätzlich modifi fizierbar, unterliegen allerdings einer schnellen Anpassung. Aktivitäten hingegen lassen sich auch ändern, sind aber weniger Gegenstand der Gewöhnung. Dem SHM zufolge widerstehen Aktivitäten der Anpassung, da sie sich abwandeln lassen – das heißt, sie können je nach Bedarf verändert, entwickelt, zeitlich variiert und modifiziert fi werden. Man muss eine Aktivität nicht immer zur gleichen Tageszeit, am gleichen Ort, auf die gleiche Art und Weise oder mit den gleichen Zielen und Absichten ausführen. Stellen wir uns zum Beispiel eine Person vor, die im Rahmen ihrer täglichen Bemühungen um Gesundheit und Fitness zu laufen beginnt. Sie kann dies mit einem Gefühl von Verzicht und Schinderei tun, sie kann Laufen aber auch als einen Weg zu positiven Gefühlen verstehen. Laufen kann variiert werden: unterschiedliche Orte (ein Naturschutzgebiet, die eigene Nachbarschaft, ft eine Laufstrecke), unterschiedliche Zeiten (vor der Arbeit oder danach) und unterschiedliche Motivation (um einen stressigen Tag hinter sich zu lassen, um abzunehmen, um einen neuen Waldpfad auszuprobieren). Man kann auf Arten laufen, die eine Vielzahl positiver Erlebnisse bieten: So kann
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man beispielsweise zusammen mit einem Freund laufen, um sich mit diesem auszutauschen, oder mit einer Kamera, um das Morgenlicht einzufangen. Man kann sich auch Ziele setzen, die das Interesse am Laufen und seine Attraktivität zusätzlich fördern – so kann man sich beispielsweise vornehmen, in sechs Wochen einen Halbmarathon zu absolvieren oder jeden einzelnen Weg im nahegelegenen Wald abzulaufen. Dem SHM zufolge liegt der Schlüssel darin, sich auf eine Aktivität so einzulassen, dass sie einen ununterbrochenen Strom frischer, positiver Erlebnisse generiert. Dies zu erreichen, ist natürlich nicht leicht, allein der Weg dorthin ist aber schon ein angenehmes Abenteuer; Menschen neigen schließlich dazu, eigene Motivationen zu finden fi und zu verfolgen, sie suchen Zustände der Absorption und des „Flows“.21 Sobald die Aktivität jedoch zu bloßer Routine geworden ist, vermag sie das SWB nur noch wenig zu beeinfl flussen. Eine andere Möglichkeit, die Aussagen des SHM zu illustrieren, ist das Aufstellen einer intraindividuellen Gleichung (mit wiederholten Messungen), in der der SWB einer Person zu einem Zeitpunkt t von drei Hauptklassen von Faktoren beeinfl flusst wird: Genetik / Veranlagung, Lebensumstände / Demographie und Aktivität / Motivation. Der genetische Set-Point defi finiert den Nullpunkt der Gleichung (der wahrscheinlichste oder erwartete Wert, wenn alle anderen Faktoren gleich groß sind). Dieser Faktor wird als unveränderbar festgelegt. (Positive oder negative) Lebensumstände haben die Fähigkeit, das SWB zum Zeitpunkt t positiv oder negativ zu beeinfl flussen, aber ihre Auswirkungen sind relativ gering und tendieren überdies dazu, mit der Zeit abzunehmen. (Positive oder negative) Aktivitäten besitzen ein höheres Potenzial, auf das SWB zum Zeitpunkt t einzuwirken, denn sie sind in der Lage, dynamisch variierende Erlebnisse zu generieren. Das SHM hebt hervor, dass die Auswirkungen der Aktivitäten von einer Reihe von Einfl flussfaktoren abhängen, etwa davon, wie sorgfältig oder erfolgreich jemand eine Aktivität ausübt, wie sehr sie zur Persönlichkeit und zu den Interessen der Person passt und wie sehr Art und Zeitpunkt der Aktivität variiert werden. Diese Einfl flussfaktoren könnten ebenfalls Teil der Gleichung werden. Das Ziel besteht darin, sein Leben so zu gestalten, dass man auf einem Glücksniveau bleibt, das höher ist als das genetisch vorbestimmte. Sheldon und Houser-Marko haben gezeigt, dass das Anstreben von Zielen während des ersten Collegejahrs zu einem erhöhten SWB am Ende des ersten und nochmals am Ende des zweiten Semesters führen kann, was die Autoren als „Aufwärtsspirale“ (upward spiral) des Wohlbefindens fi bezeichneten.22 Darüber hinaus war das Verfolgen von Zielen umso mehr von Erfolg gekrönt, je mehr die Studierenden für das erste Semester „selbst-konkordante“ Ziele wählten, also Ziele, die mit ihrer Persönlichkeit übereinstimmten, die ihren Interessen und Werten entsprachen. Sheldon verfolgte die Ergebnisse bis ins Abschlussjahr und konnte zeigen, dass die Ziele vom Beginn der Studienzeit noch drei Jahre später einen ff-Nehmen von selbst geerhöhten SWB bedingten.23 Durch das erfolgreiche In-Angriff steckten Zielen gelang es den Studierenden also, ihre emotionale Befindlichkeit fi für die Dauer ihrer gesamten Studienzeit zu verbessern.
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Dass Aktivitäten ein größeres Potenzial haben, das SWB langfristig positiv zu beeinfl flussen, zeigt eine weitere Untersuchung von Sheldon und Lyubomirsky, in der sie Teilnehmer suchten, die kürzlich einen positiven Wechsel entweder im Bereich der Aktivität oder im Bereich der Lebensumstände erfahren hatten. Die Teilnehmer berichteten dann an das Labor. Als veränderte Lebensumstände wurden zum Beispiel genannt: „Ich habe gelernt, dass ich nicht in der Lotterie gewinnen muss, um in meinen Broadcast 1-Kurs zu kommen“; „meine Mitbewohnerin zu Beginn des Semesters war kokainsüchtig; nun ist sie nicht mehr meine Mitbewohnerin“, und „diese Woche habe ich erfahren, dass ich ein Stipendium bekommen werde, mit dem ich gar nicht gerechnet habe“. Beispiele für geänderte Aktivitäten waren unter anderem: „Als ich zuerst hierher kam, schienen mir die Kurse so schwer und ich studierte nicht so viel, wie ich hätte sollen. Ich habe mir dann vorgenommen, jeden Tag mindestens fünf Stunden zu studieren, und nun fallen mir die Kurse viel leichter“; „ich habe mich für einen Kurs eingeschrieben, der mir herauszufinden fi hilft ft, welche Karriere für mich richtig ist“, und „ich ging überhaupt nie in den Gottesdienst, aber jetzt gehe ich zu den Treff ffen der Campus Crusade und Gott ist ein wesentlicherer Teil meines Lebens als jemals zuvor“. Die Hauptbefunde dieser Studie bestanden darin, dass die Gruppe der geänderten Aktivität im Vergleich zur Gruppe mit den veränderten Lebensumständen (a) sich selbst mehr vorsätzliche Anstrengungen attestierte, die Veränderung herbeizuführen, (b) eine größere Varietät des Erlebens im Zusammenhang mit der Veränderung zu Protokoll gab, und (c) berichtete, dass die Veränderung weniger habitualisiert war, sie sich also nicht so sehr an die Veränderung „gewöhnt“ hatte. Die letzten beiden Merkmale helfen, den im Vergleich stärkeren Konnex von geänderter Aktivität und positiven Affekten ff zu erklären. Anders ausgedrückt: Wie vorhergesagt war die neue Aktivität weniger anfällig für aff ffektive Gewöhnung oder die „hedonische Tretmühle“ als die Änderungen der Lebensumstände. Diese drei Befunde werden zusätzlich gestützt von neuen Studien aus unserem Labor, die zeigen konnten, dass „Interventionen des Glücks“ (happiness interventions) erfolgreicher sind, das persönliche Glücksempfinfi den zu steigern und aufrechtzuerhalten, wenn die Teilnehmer dabei eigene Anstren24 wenn sie ihre Aktivitäten variieren und sich bemühen, das zu gungen aufbringen, fb schätzen, was sie haben. Eine wichtige Einschränkung bei dieser Untersuchung von Sheldon und Lyubomirsky besteht jedoch darin, dass die Teilnehmer sich selbst den Kategorien „positiv veränderte Aktivität“ oder „positiv veränderte Lebensumstände“ zuordneten bzw. eben auch diese beiden Veränderungen selbst evaluierten.25 Das SHM wäre besser abgesichert, wenn dasselbe Ergebnismuster im Rahmen einer experimentellen Methodik mit stichprobenartiger Auswahl gezeigt werden könnte. Dies wurde in zwei weiteren, umfassenden Studien berücksichtigt, die im Folgenden ausführlicher dargestellt werden sollen.
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Fallstudien zum SHM Vorgehen und Messkriterien
Kürzlich testeten Sheldon und Lyubomirsky die Schlüsselthesen des SHM mittels zweier zwölfwöchiger Studien.26 Zunächst sei das Vorgehen grob skizziert, um zu zeigen, auf welcher Grundlage die nachfolgend geschilderten Erkenntnisse beruhen: In beiden Studien wurde das SWB der insgesamt 113 Teilnehmer zu Beginn der Untersuchung (Zeitpunkt T1) gemessen; berücksichtigt wurden positive und negative Affekte, Lebenszufriedenheit, subjektives Glücksgefühl und die Skala des psychologischen Wohlbefi findens von Ryff ff und Keyes.27 Nach dieser ersten Messung erhielten einige der Teilnehmer, die zufällig ausgewählt wurden, den Auft ftrag, in ihrem Leben eine Veränderung der Aktivität vorzunehmen, während alle anderen eine Änderung ihrer Lebensumstände durchführen sollten – jeweils in der Erwartung, dass die Veränderung einen positiven Eff ffekt auf Stimmung und Lebenszufriedenheit haben würde. Eine „Aktivität“ war dabei defi finiert als „etwas, das Sie entschieden haben zu tun oder an dem Sie sich beteiligen wollen und das eine Anstrengung von Ihrer Seite erfordert. Zum Beispiel sind Sie einer neuen, bereichernden Gruppe beigetreten, einem Club oder einer Sportmannschaft ft, Sie haben sich für eine Karriere oder etwas Vergleichbares entschieden, was Ihnen die Richtung anzeigt, auf die Sie sich konzentrieren müssen, oder Sie haben ein anderes neues wichtiges Projekt oder Ziel in Ihrem Leben.“ „Lebensumstände“ waren defi finiert als „Tatsachen Ihres Lebens wie Wohnsituation, finanzielles Auskommen oder Kurspensum. Sie sind zum Beispiel in ein besseres Studentenwohnheim umgezogen oder haben einen passenderen Mitbewohner gefunden, Sie bekommen eine großzügigere finanzielle Unterstützung, sodass Sie Ihre Freizeit mehr genießen können oder haben sich entschieden, einen Kurs aufzugeben, der Ihnen Probleme bereitet hätte.“ Sechs Wochen später (Zeitpunkt T 2) beurteilten die Teilnehmer nochmals ihren SWB und bemaßen, in welchem Ausmaß sie eine positive Veränderung ihrer Lebensumstände oder Aktivitäten seit Beginn der Studie erlebt hatten. Es wurde auch berücksichtigt, ob es ihnen überhaupt gelang, die geplante Veränderung tatsächlich umzusetzen. Zuletzt wurde das SWB noch einmal zwölf Wochen nach Beginn der Studie gemessen (Zeitpunkt T 3). So konnte der zeitliche Verlauf der SWBKurve untersucht werden. Um eine Aussage über das SWB treffen ff zu können, füllten die Teilnehmer zu allen drei Zeitpunkten die positive und negative Affekt-Skala ff einer entsprechenden 20-teiliffekt-Balance“gen Liste von Watson, Clark und Tellegen28 aus. Daraus wurde ein „Aff Wert (AB-Wert) für jeden der drei Zeitpunkte errechnet, indem der negative vom positiven Aff ffekt subtrahiert wurde29 (je höher dieser AB-Wert, desto größer das subjektive Wohlbefi finden der Versuchsperson.) So ließen sich sowohl das relative Übergewicht der positiven Stimmung im Vergleich zur negativen im Leben der Teilnehmer, als auch
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das Schwanken der Aff ffekt-Balance im Lauf der Zeit bestimmen. Solche Aff ffekt-Kriterien sind theoretisch verankert30 und hängen auch mit anderen Kriterien des Wohlbefi findens wie Glücksgefühl und Lebenszufriedenheit zusammen. Wie bereits erwähnt, besteht ein wichtiges Element des Sustainable Happiness Modell darin, dass das „Zueinanderpassen“ einer Person und ihrer gewählten Veränderung einen merkbaren Unterschied machen sollte.31 Es ist also ratsam, nicht irgendeine Veränderung vorzunehmen, sondern etwas zu wählen, das für einen selbst eine bedeutende Rolle spielt, das man mit seiner ganzen Person vertreten kann. Um diesen Faktor auszuwerten, wurde das Messsystem zur Selbst-Konkordanz von Sheldon und seinen Kollegen32 verwendet, das seinerseits auf der Theorie der Selbstbestimmung beruht.33 Konkret wurden die Teilnehmer zum Zeitpunkt T 1 gebeten zu benennen, „warum Sie diese Veränderung vornehmen, in Hinblick auf jeden der folgenden Gründe.“ Die vier genannten Gründe waren: „Weil jemand anderes es von mir erwartet oder weil meine Situation mich dazu zwingt“, „weil ich mich schämte und schuldig oder ängstlich fühlen würde, wenn ich es nicht täte“, „weil ich es schätze und ich mich damit identifi fiziere; ich tue es freiwillig, auch wenn es mir keinen Spaß macht“ und „weil es mir wirklich Spaß macht, es mich interessiert und eine Herausforderung darstellt“. Diese vier Beweggründe (außenbestimmt, introjiziert, identifikatorisch fi und intrinsisch) füllen den Raum zwischen den Polen „überhaupt nicht internalisiert“ (eine fremdbestimmte Motivierung) und „ganz und gar internalisiert“ (eine intrinsische Motivation). Um herauszufi finden, inwieweit jemand in der Lage ist, sich ein mit der eigenen Persönlichkeit übereinstimmendes Ziel zu setzen, waren weitere Berechnungen nötig: Es wurde ein sogenanntes Aggregatmaß der Selbst-Konkordanz bestimmt, indem die externen und introjizierten Einstufungen von den identifikatorischen fi und intrinsischen subtrahiert wurden. Sheldon et al. haben dafür plädiert, dass dieses Maß im Fall selbstgenerierter persönlicher Ziele und Initiativen das „Passen“ des Ziels zu den der Person inhärenten Interessen und Werten zum Ausdruck bringt.34 Darüber hinaus wurden zum Zeitpunkt T 1 zusätzliche Messungen durchgeführt, die sich etwa darauf bezogen, wie viel Energie die Teilnehmer meinten aufwenden zu müssen, um Veränderungen umzusetzen (diese Frage diente dazu, das Postulat des SHM zu überprüfen, dass eine Veränderung der Aktivität verhältnismäßig mehr Engagement erfordere, da sie nicht nur einer einmaligen Änderung der Lebensumstände bedarf, sondern eine dauerhaft fte Willens-Aktivität verlangt), bzw. welche Erwartungen sie hinsichtlich ihrer Stimmungen hatten (Ziel war es hier zu untersuchen, ob die Teilnehmer ein Bewusstsein von der vermuteten Diff fferenz hatten, in der ihre Stimmung auf eine Änderung der Aktivität oder eines Lebensumstands reagiert). Bezüglich der Variablen der Vorhersagen machten wir keinerlei Vorannahmen, obwohl die bisherige Aff ffekt-Forschung ergab, dass Menschen ihre zukünft ft igen Gefühlszustände oft ft falsch beurteilen. Zu den späteren Zeitpunkten T 2 und T 3 erhoben wir noch weitere Daten von denjenigen Teilnehmergruppen, die eine Veränderung durchgeführt hatten (manchen
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Versuchspersonen gelang es auch nicht, ihr Vorhaben umzusetzen). Diese Messungen dienten dazu, die zu Beginn der Studie getroff ffenen Vorhersagen der Teilnehmer zu überprüfen und weitere Annahmen des SHM zu testen. Die Versuchspersonen sollten etwa erklären, „in welchem Ausmaß handelt es sich bei der Veränderung um etwas, das mit der Zeit variiert, also etwas, das Abwechslung in Ihr Leben bringt?“ Diese Frage sollte das Postulat des SHM testen, dass Veränderungen der Aktivität effektiver ff seien, wenn sie variiert werden, wie im oben erwähnten Beispiel des Läufers. Zu einem späteren Zeitpunkt bewerteten die Teilnehmer die Frage: „Inwieweit sind Sie sich Ihrer Veränderung immer noch bewusst, inwieweit denken Sie also immer noch an die Veränderung?“ Dies diente dazu, das SHM-Postulat zu hinterfragen, dass die Veränderung aufhören fh würde, den SWB zu beeinfl flussen, sobald man sie als selbstverständlich betrachtet. Damit nämlich ihre Eff ffekte anhalten und der Gewöhnung widerstehen, muss man sich ihrer bewusst bleiben. Ergebnisse und Hypothesentests
Wie aufgrund der rein zufälligen Auswahl der Versuchspersonen zu erwarten, waren beide Gruppen zu Beginn der Studie hinsichtlich ihrer Affekt-Balance ff äquivalent: Der durchschnittliche AB-Wert lag zum Zeitpunkt T 1 in der Aktivitäten-Gruppe bei 1,48 und in der Lebensumstände-Gruppe bei 1,42. Es gab zu diesem Zeitpunkt auch keine Unterschiede bezüglich des getrennt gemessenen positiven und negativen Aff ffekts. Anschließend wurden die Voraussagen der Teilnehmer bezüglich der Auswirkungen der Veränderung auf ihr SWB getestet. Zunächst einmal gab es keinerlei Unterschiede zwischen der Aktivitäten- und der Lebensumstände-Gruppe, weder auf der Seite der positiven noch der negativen Aff ffekt-Vorhersage. Im Fall der positiven Aff ffektVorhersage befanden sich beide Gruppen leicht über dem Wert 4 einer 5-Punkte-Skala, beide erwarteten von der Veränderung also einen starken positiven Einfluss fl auf ihre Stimmungen. Auch rechneten beide Gruppen fast gleichstark damit, dass die Veränderung ihnen helfen würde, ihre negativen Lebensstimmungen zu reduzieren (beide Werte lagen bei ca. 3,5). Dies lässt vermuten, dass die Teilnehmer nicht unsere theoriebasierte Erwartung teilten, dass eine Veränderung in der Kategorie „Aktivität“ langfristig förderlicher sein würde. Die Teilnehmer der Kategorie „Aktivität“ berichteten dann jedoch über mehr selbstkonkordante Motivation als die Teilnehmer der Kategorie „Lebensumstände“ (bei der Errechnung des Aggregatmaßes der Selbst-Konkordanz erreichte die AktivitätenGruppe im Durchschnitt den Wert 3,8; die Lebensumstände-Gruppe nur 3,5). Dieser Eff ffekt war vor allem der unterschiedlichen Relevanz intrinsischer Motivation geschuldet: Teilnehmer, die eine Aktivität ändern wollten, erwarteten, sich über diese Veränderung mehr zu freuen als Teilnehmer der Kategorie „Lebensumstände“. Darüber hinaus meinten erstere, dass die Veränderung mehr Anstrengung verlangen würde als
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die zweite Gruppe es vermutete. Beide Befunde konvergieren mit der Behauptung des SHM, dass Aktivitätsveränderungen einnehmender sind, aber zu ihrer Ausführung auch mehr Bemühen und Einsatz verlangen. Unsere Anfangshypothese bestand darin, dass die Durchführung der genannten Veränderung grundsätzlich einen erhöhten Affekt-Balance-Wert ff zum Zeitpunkt T 2 erzeugen würde, dass diese Erhöhung zum Zeitpunkt T 3 aber nur in der AktivitätenGruppe noch nachzuweisen wäre. Die Tabelle stellt die zwölf arithmetischen Mittel der Aff ffekt-Balance-Werte dar, die für diese Hypothese relevant sind. Tabelle: Durchschnittliche Aff ffekt-Balance-Werte zu den Zeitpunkten T 1, T 2 und T 3, unterschieden nach Art der Veränderung und danach, ob die Veränderung ausgeführt wurde oder nicht Studienteilnehmer insgesamt: 113
Veränderung der Aktivität
Veränderung der Lebensumstände
Zeitpunkt
Zeitpunkt
T3
Grundgesamtheit
T1
T2
T3
1,62
1,68
n = 36
1,42
1,48
1,26
0,76
1,26
n = 17
1,42
1,26
1,21
Grundgesamtheit
T1
T2
Veränderung ausgeführt
n = 39
1,42
Veränderung nicht ausgeführt
n = 21
1,58
Wie im unteren linken Teil ersichtlich, war die Aff ffekt-Balance derjenigen, die eine geplante neue Aktivität nicht durchgeführt hatten, zum Zeitpunkt T 2 bedeutend gesunken und hatte sich zum Zeitpunkt T 3 nur teilweise erholt. Im unteren rechten Teil sieht man, dass die AB-Werte derjenigen, die ihr Vorhaben etwas an ihren Lebensumständen zu ändern nicht ausgeführt hatten, zunächst ein wenig und dann noch etwas deutlicher absanken. Im Kontrast dazu zeigten diejenigen Teilnehmer, die einen Lebensumstand verändert hatten, eine leicht erhöhte Affekt-Balance ff zum Zeitpunkt T 2, die sich dann aber zum Zeitpunkt T 3 wieder massiv verringerte (rechter oberer Teil der Tabelle); nicht nur war ihre leichte Erhöhung nur vorübergehend, sie endeten sogar schlechter als sie begonnen hatten. Zu guter Letzt und von größter Bedeutung erfuhren diejenigen, die eine Aktivität verändert hatten, zum Zeitpunkt T 2 einen mäßigen Anstieg ihrer Aff ffekt-Balance und einen nochmaligen leichten Anstieg zum Zeitpunkt T 3 (linker oberer Teil). Eine Anpassung (also eine Rückkehr zum alten Glücks-Level) fand in dieser Gruppe nicht statt. Anders gesagt erlebten nur die Teilnehmer der Kategorie „Aktivität“, die die Änderung auch tatsächlich ausgeführt hatten, einen nachhaltigen Anstieg ihres subjektiven Wohlbefindens fi – zumindest für die Dauer der zwölf Wochen. Als Nächstes richteten wir unsere Aufmerksamkeit speziell auf die 75 Teilnehmer, die ihre Veränderung tatsächlich durchgeführt hatten. Sie wurden noch eingehender
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befragt, insbesondere daraufh fhin, ob die Veränderung mehr Vielfalt in ihr Leben gebracht hatte und ob sie ihnen auch weiterhin bewusst sei35 – diese Variablen, „Varietät“ und „Bewusstsein“, sollten ja der Theorie zufolge als Gegenwehr gegen die „hedonische Tretmühle“ dienen. Eine genaue Analyse ergab, dass unabhängig von dem Veränderungstyp (Aktivitäten vs. Lebensumstände) gilt: Wer berichtet, dass die Änderung Varietät ins Leben bringt und er oder sie sich ihrer bewusst bleibt, wird auch einen größeren Sprung im SWB vorweisen. Im Fall einer Kombination von hoher Varietät und starker Bewusstheit war der AB-Wert zum Zeitpunkt T 3 (unter Beachtung der anfänglichen Aff ffekt-Balance zum Zeitpunkt T 1) besonders hoch; die Hypothese hat sich also bestätigt. Es ist nicht überraschend, dass diese beiden Faktoren, Varietät und Bewusstheit, nach gängiger Auff ffassung der hedonischen Adaptation entgegenstehen. Varietät ist wichtig; sie ist von Haus aus stimulierend und befriedigend, da Adaptation sich ihrer Definition fi nach als Antwort auf konstante, nicht dynamische Impulse einstellt. Aufmerksamkeit ist wichtig, denn in dem Moment, in dem ein Umstand oder eine Aktivität keinen Erfolg damit hat, die Aufmerksamkeit zu fesseln, wird es Teil des psychologischen Hintergrunds und man kann davon sprechen, dass eine Adaptation stattgefunden hat. Es scheint allerdings Vorsicht geboten, wenn man diesen Mechanismus verhindern will. Wie verhält es sich nun mit dem Faktor „Aktivität vs. Lebensumstände“? In einer zweiten Analyse schlossen wir diese Variable in die Gleichung mit ein und untersuchten auch den Zusammenhang zwischen dem Veränderungstypus und den obigen Ergebnissen. Dabei entdeckten wir, dass die Interaktion von Varietät und Bewusstheit für den Typ „Aktivität“ signifikant fi war (Korrelationskoeffi ffizient r = 0,4436) und nicht signifi fikant für den Typ „Lebensumstand“ (r = 0,06). Insgesamt ergab sich, dass innerhalb dieser Gruppe der „Veränderer“ diejenigen Teilnehmer der Kategorie „Aktivität“ den höchsten Anstieg des AB-Werts – und damit ihres SWB – aufwiesen, die ihre Aktivität variierten, sie bewusst hielten und schätzten. Weitere Auswertung – wie wirken sich Veränderungen auf das persönliche Wohlbefinden fi aus?
Was sagen uns die Daten der Studie noch? Letztendlich suggerieren sie, dass es tatsächlich möglich ist, unter den richtigen Umständen den persönlichen Glückspegel zu erhöhen, wenigstens einige Wochen lang. Sowohl Teilnehmer aus der Aktivitäts- als auch aus der Lebensumstände-Gruppe, die ihre Veränderung tatsächlich durchführten, berichteten von einem höheren SWB im Lauf der Studie als die, die keine Veränderung durchführten, obwohl sich beide Gruppen in ihrem anfänglichen SWB nicht unterschieden. Das ist zu beachten, da argumentiert werden könnte, dass Menschen, die engagiert daran arbeiten, ihre Vorhaben zur Lebensveränderung umzusetzen, sich schon anfänglich in wichtigen Voraussetzungen (wie Glück, Gewissenhaft ftigkeit oder Umgänglichkeit) von Menschen unterscheiden, die ihre Vorhaben eher nicht zu Ende
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führen, und dass dies für die Unterschiede zwischen „Veränderern“ und „Nicht-Veränderern“ verantwortlich sein könnte. Mit anderen Worten: Obwohl die gegenwärtige Untersuchung eine Einschränkung unserer früheren Studien berichtigte, indem sie die Teilnehmer zufällig einer der beiden Gruppen, dem Wechsel der Aktivität oder der Lebensumstände, zuordnete, konnten wir die Teilnehmer nicht zufällig danach ordnen, ob sie die Veränderung vornahmen oder nicht. Persönlichkeits-Effekte ff könnten sich daher immer noch bemerkbar machen. Die Tatsache jedoch, dass „Vollzieher“ und „Nicht-Vollzieher“ mit einem gleichen SWB-Level begonnen haben, versichert uns, dass „Change-Makers“ nicht dispositionell glücklicher sind. Verblüff ffenderweise zeigen unsere Daten, dass diejenigen, die eine Veränderung vollzogen, keinen großen Aufstieg erfuhren, sondern eine relativ bescheidene Steigerung erlebten, während die „Nicht-Veränderer“ in größerem Umfang absanken. Heißt dies, dass man sich durch die Entscheidung, etwas zu verändern, einer Gefahr aussetzt: Im Erfolgsfall würde man nur mäßig belohnt, aber im Fall eines Misserfolgs wäre das eigene Gleichgewicht bedroht? Dann würde das Muster mit dem Argument übereinstimmen, dass „schlecht“ oft ft stärker als „gut“ ist,37 und es würde auch suggerieren, dass man sich besser bemühen sollte, negative Lebensereignisse zu vermeiden als positive zu suchen. Möglicherweise führt es in die Irre, sich nur auf die Abweichung der Teilnehmer von ihrem eigenen Grundwert zu konzentrieren, anstatt sich ihre Veränderung im Vergleich zu Teilnehmern mit anderen Bedingungen anzuschauen. Unsere vergleichbaren Untersuchungen zeigen typischerweise einen allgemeinen Abfall des SWB im Wintersemester, wenn der Winter einsetzt, Arbeit und Stress sich einstellen. Und in der Tat gab es einen allgemeinen Abfall der Affekt-Balance ff unter allen Teilnehmern, wenn man die Gruppe der „Aktivitäts-Veränderer“ ausschließt: Der durchschnittliche AB-Wert zum Zeitpunkt T 1 lag bei 1,47, später (T 3) war er auf 1,25 gefallen (die Gruppe der „Aktivitäts-Veränderer“ hingegen erlebte einen Trend zur Erhöhung der Affekt-Balance: ff AB = 1,42 (T 1) vs. 1,68 (T 3). Wenn alle Teilnehmer zum Zeitpunkt T 3 eine Erhöhung von 0,30 Punkten erhalten würden, um den allgemeinen zeitbedingten Abfall auszugleichen, dann würde der Anstieg der Aktivitäts-Veränderer bedeutend mehr zu Buche schlagen und sich nochmals etwas anheben, während die Nicht-Veränderer ein wenig abfallen und dann zu ihrem Ausgangswert zurückkehren würden (was genau der Vorhersage des SHM entspräche). Leider verfolgten wir die Gruppen nicht lange genug, um solche semesterlangen Zyklus-Effekte, ff welche die Rohdaten beeinflusst haben mögen, berücksichtigen oder ausschließen zu können. Daher glauben wir, dass es am instruktivsten ist, die Ergebnisse der beiden Gruppen im Vergleich zueinander zu beurteilen. In einer solchen Gegenüberstellung ist der Vorteil positiver Änderungen der Aktivität klar ersichtlich. Eine längerfristige Nachhaltigkeit der positiven Änderungen kann mit diesen 12-Wochen-Studien allerdings nicht belegt werden. Es ist zum Beispiel unwahrscheinlich, dass die Eff ffekte des Wechselfaktors (ausgeführt vs. nicht ausgeführt) noch ein
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Jahr später spürbar wären. Dies bedeutet gerade, dass man Glück nicht als gegeben ansehen kann, sondern kontinuierlich immer wieder von Neuem verfolgen muss. Mit anderen Worten: Nur in andauerndem, hartnäckigem und erfolgreichem Bemühen um variierte, neue Aktivitäten können Menschen hoff ffen, in der oberen Hälft fte ihres „Set-Points“ zu verbleiben. Ein Misslingen wird sie fast unvermeidlich wieder auf ihren genetisch vorbestimmten Wert zurückwerfen.
Konsequenzen für eine wirtschaftspolitische ft Perspektive Zuletzt soll noch kurz auf mögliche Konsequenzen unserer Resultate für eine wirtschaftspolitische ft Perspektive eingegangen werden. Unsere Daten suggerieren, dass es wenig fruchtbar ist, Menschen fi finanziell zu unterstützen, da Einkommen einen recht statischen „Lebensumstand“ darstellt, an den man sich schnell gewöhnt.38 Dies trifft fft besonders dann zu, wenn Menschen ihr steigendes Einkommen dazu benutzen, Luxusgüter und Statusobjekte zu erwerben, die in besonderem Maß der Adaptation unterworfen sind. Ein steigendes Einkommen kann jedoch durchaus zu einem Gewinn an SWB führen, wenn Menschen es dazu nutzen, die Bandbreite ihrer Aktivitäten und Erlebnisse zu erweitern.39 Geld zum Beispiel für Abenteuerreisen auszugeben oder sich eine Auszeit vom Job zu nehmen, um einen Traum zu verwirklichen (wie beispielsweise Theaterstücke Th zu schreiben), oder sich Dinge zu kaufen, die neue Hobbys ermöglichen (wie ein High-End-Mountain-Bike oder ein Ski-Domizil, das es einem erlaubt, oft ft Ski zu laufen), können einem helfen, nachhaltig glücklicher zu werden – aber nur, wenn jemand das neue Rad oder Domizil auch tatsächlich dazu benutzt, sich die variierenden und dynamischen, positiven Erlebnisse zu verschaffen, ff die der Lebensveränderung dauerhaft fte Beachtung sichern. In diesem Licht erscheint es wichtiger, über „Zeit-Reichtum“ zu verfügen, also genügend Freizeit zu haben, um sich an den Früchten der Arbeit erfreuen zu können.40 Dies ist natürlich die Perspektive des Arbeiternehmers – wie verhält es sich mit der des Arbeitgebers? Sollte es Arbeitgeber und Wirtschaftswissenschaft ft ft ler überhaupt kümmern, dass die Optimierung der Erlebnisse der Schlüssel zu einem erhöhten Glücksgefühl ist und dass die Optimierung ökonomischer Güter wie Einkommen, Konsumausgaben oder Nutzwert weniger zielführend sind? Wir behaupten, dass es sie interessieren sollte, denn glückliche Menschen sind im Vergleich zu unglücklichen Menschen produktiver, kreativer, flexibler, ausdauernder und gruppenorientierter.41 Da zufriedenere Arbeiternehmer es Unternehmen leichter machen, ihre Endresultate zu verbessern, handelt es sich um eine Win-Win-Situation für beide Seiten. Unsere Forschung kommt zu dem Schluss, dass dieses Ziel erreicht werden kann, wenn Arbeitnehmer die Gelegenheit erhalten, sich erfüllende neue Tätigkeiten und Aktivitäten zu suchen, sich ihnen zu widmen und sie glücken zu lassen.
Können wir glücklicher werden?
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Anmerkungen 1 Originaltitel: Is it possible to become happier? The importance of changing one,s actions, not one,s circumstances. Übers. aus dem Amerikanischen: Uta Degner und Ian Macgregor Morris. 2 Vgl. Seligman / Csikszentmihalyi, Positive psychology; Sheldon, Optimal human being. 3 Vgl. Seligman, Authentic happiness. 4 Vgl. Diener / Suh / Lucas / Smith, Subjective well-being. 5 Vgl. Lykken / Tellegen, Happiness is a stochastic phenomenon; Tellegen / Lykken / Bouchard et al., Personality similarity in twins. 6 Vgl. Cummins, Normative life satisfaction. 7 Lykken / Tellegen, Happiness is a stochastic phenomenon, 189. 8 Vgl. Peterson / Seligman, Character strengths and virtues. 9 Vgl. Emmons, Th Thanks! 10 Vgl. Myers, Union is strength. 11 Vgl. Headey / Waering, Personality. 12 Vgl. Lucas / Clark / Georgellis / Diener, Reexamining adaptation. 13 Vgl. Lucas, Time does not heal all wounds; ders., Long-term disability; ders. / Clark / Georgellis / Diener, Unemployment alters the set point for life satisfaction. 14 Vgl. Lucas, Long-term disability. 15 Vgl. Brickman / Coates / Janoff ff-Bulman, Lottery winners and accident victims. 16 Vgl. Diener / Biswas-Diener, Will Money Increase Subjective Well-Being? 17 Vgl. Brickman / Campbell, Hedonic relativism; Frederick / Loewenstein, Hedonic adaptation. 18 Vgl. Lyubomirsky / King / Diener, The Th benefi fits of frequent positive aff ffect; dies. / Sheldon / Schkade, Pursuing happiness; Sheldon / Lyubomirsky, Achieving sustainable new happiness; ders. / Lyubomirsky, Is it possible to become happier? 19 Vgl. Schkade / Kahneman, Does living in California make people happy? 20 Vgl. Andrews / Withey, Social indicators of well-being; Diener / Suh / Lucas / Smith, Subjective well-being. 21 Vgl. Csikszentmihalyi, Finding flow; Deci / Ryan, Self-determination theory. 22 Vgl. Sheldon / Houser-Marko, Self-concordance. 23 Vgl. Sheldon, Assessing the sustainability. 24 Vgl. Lyubomirsky / Dickerhoof / Boehm / Sheldon, How and why do positive activities work to boost well-being? 25 Vgl. Sheldon / Lyubomirsky, Achieving sustainable gains in happiness. 26 Vgl. ders. / Lyubomirsky, Achieving sustainable gains in happiness. 27 Vgl. Ryff ff / Keyes, The structure of psychological well-being revisited. 28 Vgl. Watson / Clark / Tellegen, Development and validation. 29 Vgl. Diener / Suh / Lucas / Smith, Subjective well-being. 30 Vgl. Diener, Subjective well-being. 31 Vgl. Lyubomirsky / King / Diener, The Th benefi fits of frequent positive aff ffect; dies. / Sheldon / Schkade, Pursuing happiness. 32 Vgl. Sheldon / Elliot, Goal striving; ders. / Houser-Marko, Self-concordance. 33 Vgl. Deci / Ryan, Intrinsic motivation; dies., Self-determination theory. 34 Vgl. Sheldon / Elliot / Kim / Kasser, What is satisfying about satisfying events? 35 Um diese Eff ffekte zu evaluieren, wurde eine Regressanalyse durchgeführt mit der Aff ffektBalance als abhängiger Variable.
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Kennon M. Sheldon
36 Der Korrelationskoeffi ffizient r ist das Maß für den Zusammenhang zweier Merkmale und kann Werte zwischen –1 (vollständig negativer Zusammenhang) und + 1 (vollständig positiver Zusammenhang) annehmen (je mehr sich r dem Wert 0 nähert, desto weniger hängen die Merkmale zusammen). 37 Vgl. Baumeister / Bratslavsky / Finkenauer / Vohs, Bad is stronger than good. 38 Vgl. Easterlin, Life cycle welfare; Layard, Happiness. 39 Vgl. Scitovsky, The joyless economy; Van Boven, Experientialism. 40 Vgl. Kasser / Sheldon, Material and time affluence. ffl 41 Vgl. Lyubomirsky / King / Diener, The Th benefi fits of frequent positive aff ffect.
Michael Musalek
Wenn die Sehnsucht, die Suche nach dem Glück, zur Sucht wird Michael Musalek Wenn die Sehnsucht nach dem Glück zur Sucht wird
Sucht, Sehnsucht und Suchen sind ähnlich klingende Begriffe ff und vermitteln damit den Eindruck, sie gehörten zur selben Wortfamilie, stehen aber dennoch für sehr unterschiedliche Sachverhalte. Mit Suchtt bezeichnen wir heute schwere psychische Erkrankungen aus dem Formenkreis der Abhängigkeiten. Sehnsuchtt ist ein für Menschen typisches Streben, das von starken Emotionen geleitet und begleitet wird. Das Suchen hingegen ist als Tätigkeit mit der Zielsetzung des (Wieder-)Findens keineswegs auf den Menschen beschränkt. Trotz dieser Unterschiede stehen die drei Bezeichnungen in engen Verbindungen mit- und zueinander. Ihr mannigfaches Wechselspiel, das noch durch begriffliche ffl Unsicherheiten und Unschärfen kompliziert wird, soll Inhalt ffl und der folgenden Diskurse1 im Spannungsverhältnis der genannten Begrifflichkeiten Sachverhalte sein. Dem Glück selbst wird nur wenig Raum gegeben, da ja, wie es der deutsche Philosoph Günther Bien so trefflich ffl ausdrückte, „Glück […] nicht das Ziel, sondern der Lohn [ist]“.2 Glück-Haben und Glücklich-Sein (beides bezeichnen wir heute allgemein als Glück) sind also nicht unmittelbar machbar, nicht direkt erreichbar, sondern stellen sich dann ein, wenn wir die geeigneten Voraussetzungen dafür geschaffen ff haben. Dabei kommt erfüllten Sehnsüchten eine besondere Rolle zu. Das Wort Sucht, wie wir es heute in der Medizin verwenden, stammt eben nicht von Suchen, sondern von Siechtum, womit schon deutlich wird, dass es sich bei Suchterkrankungen um schwere, chronische Leidenszustände handelt, die einer entsprechenden fachgerechten Betreuung und Behandlung bedürfen. Sehnsucht ist demnach als das Leiden am Sehnen, Wünschen, Erwarten zu übersetzen. Aber nicht jede Sehnsucht bedeutet schon unmittelbares Leiden; erst in ihren Extremvarianten wird Sehnsucht zu einem Leidenszustand. Sie ist aber als nicht weiter reduzierbares Urphänomen des Menschen dessen wesentlichste Triebfeder, Motor menschlichen Daseins und damit auch Inbegriff ff des Menschseins. Ohne Sehnen, ohne Wünschen, Hoff ffen, Erwarten, Begehren keine Bewegung, keine Weiterentwicklungsmöglichkeit, kein über sich selbst, kein über das gegenwärtige Dasein Hinauswachsen. Ohne diese allgemein menschliche Urkraft ft nur Stagnation. Die eng mit Sehnsucht verbundenen Phantasien und Träume eröff ffnen uns darüber hinaus Selbständigkeit, erst durch sie werden wir zu autonomen Wesen, zu einer Lebensgestaltung fähigen Kosmopoeten. Ohne Sehnen,
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ohne Wünsche, ohne Erwartungen wird aber auch Wunscherfüllung als unabdingbare Voraussetzung für ein freudvolles Leben unmöglich. Damit wird die Sehnsucht des Menschen und deren Förderung und Kultivierung zur zentralen Grundbedingung für eine autonome und freudvolle Lebensführung, die wir als glücklich bezeichnen und erleben. Sehnsuchtt als Urphänomen des Menschen ist primär eine auf zukünft ftige Veränderung verweisende, konkret noch ungerichtete Kraft ft. Mit dem Suffi ffi xum „-sucht“ wird hier ein sehr stark wirksames und lang andauerndes Geschehen ausgedrückt, übrigens durchaus vergleichbar mit dem „-sucht“ in Eifersucht, Habsucht und Rachsucht. Sehnsucht steht aber nicht nur für diese den Menschen in das Sich-selbst-Übertreffen ff treibende, im Konkreten aber noch ungerichtete Kraftquelle, ft sondern auch für konkrete Ziele. Wir kennen ganz konkrete Sehnsüchte, wie zum Beispiel die Sehnsucht nach Gesundheit, Reichtum, Macht, erfüllter Zweisamkeit, berufl flichem Erfolg etc. Auch hier geht es, ebenso wie bei der allgemeinen menschlichen Sehnsucht als treibender Urkraft ft, um Kräft fte mit der Zielsetzung, den jeweiligen Jetztzustand zu überwinden und zu übertreff ffen. Die primär noch ungerichtete Urkraft ft erhält durch unsere Gedanken und Vorstellungen einen bestimmten Vektor, der erst Sehnsuchtserfüllung bzw. -nichterfüllung als Wertung möglich macht. Sehnsüchte – in diesem Sinn verstanden – stehen in engen begrifflichen ffl Zusammenhängen mit Bezeichnungen wie Wunsch, Erwartung, Hoff ffnung, Begehren, Bedürfnis, Intention, Passion, Trieb, Phantasie, Traum etc. Trotz mannigfacher Überschneidungen dieser Begriff ffe steht jeder Einzelne aber auch für etwas Eigenes, für etwas ganz Spezielles. Wittgenstein sprach in diesem Zusammenhang von Familienverhältnissen der Begriffe. ff 3 Ganz so wie Familienmitglieder haben die einzelnen Bezeichnungen mehr oder weniger miteinander zu tun. Obwohl sie zur selben Familie gehören und daher ein hohes Maß an Gemeinsamkeit haben, stehen sie doch für Besonderes. Zum Teil sind sie sehr nahe, zum anderen wiederum eher entfernte Verwandte. Alle bleiben aber letztlich miteinander untrennbar verbunden, selbst dann, wenn man sie voneinander trennt. Besonders deutlich wird der Unterschied bei annähernd gleich verwendeten Bezeichnungen, etwa beim Begriffspaar ff Erwarten und Hoff ffen. Auf den ersten Blick liegt nahe, dass es sich hier um zwei Begriff ffe handelt, die mehr oder weniger dasselbe ausdrücken. Von vielen werden sie auch synonym verwendet, weisen aber doch markante Unterschiede auf, die in der klinischen Praxis von höchster Wichtigkeit sind. Erwarten ist ein nicht mehr auf die Zukunft ft gerichtetes Schon-Haben des eigentlich noch Fiktiven, ein Wünschen, bei dem das Erwartete zum Zeitpunkt des Erwartens gleichsam schon eingetroff ffen ist und nur noch abgeholt werden muss. Hoff ffen hingegen ist ein in die Zukunft ft off ffenes Wünschen, bei dem man noch nichts hat, aber möglicherweise zukünft ft ig haben wird. Ein einfaches Beispiel zeigt den Unterschied zwischen Hoff ffen und Erwarten: Nehmen wir einen Lottospieler, der in der Erwartung auf Gewinn spielt, und vergleichen wir ihn mit einem auf Gewinn hoffenden ff Spieler.
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Ersterer wird, wenn seine Zahl nicht gezogen wurde, dies als Verlust erleben. Verlieren kann man aber nur etwas, was man schon hat. Im Erwarten hat man also fiktiv fi bei Spielbeginn bereits gewonnen, es wird einem dann der Gewinn quasi wieder genommen. Das Nicht-gewonnen-Haben wird dann als Verlieren erlebt. Der hoffende ff Spieler kann dagegen nichts verlieren, da er noch nichts vom Gewinn hat, den er verlieren könnte. Er wird, wenn seine Zahl nicht gezogen wurde, sagen, er hätte nicht gewonnen. Nun könnte man meinen, dass verloren haben und nicht gewonnen haben keinen großen Unterschied macht. Beiden wurde ja kein Gewinn ausbezahlt. Im Erleben des Nicht-gewonnen-Habens im Vergleich mit dem Verloren-Haben zeigen sich aber ganz wesentliche Unterschiede, ganz so wie im Fall eines halbvollen bzw. halbleeren Glases. In beiden Fällen befi findet sich dieselbe Menge Flüssigkeit im Glas und doch erlebt man ein halbvolles Glas immer voller als ein halbleeres. Einmal wird es bis zur Hälft fte gefüllt, andernmals bis auf die Hälft fte entleert. Im einen Fall wird einem etwas gegeben, im andern etwas genommen. Im Fall des Erwartens wird das Nicht-Eintreff ffen des Erwarteten als Enttäuschung erlebt, weil das Erwartete schon als fi fiktiv Gewonnenes erlebt wurde. In der Enttäuschung stehen uns dann in der Regel nur zwei unmittelbare Reaktionsformen zur Verfügung: die depressive und die aggressive. Daher sind enttäuschte Erwartungen auch so oft ft von Depression und / oder Aggression begleitet. Unerfüllte Hoff ffnung hingegen kennt keine Enttäuschung. Es wurde nichts verloren, es wurde einem nichts genommen, sondern es ist etwas Gewünschtes nur (noch) nicht eingetroffen. ff Man hat also soviel wie zuvor und braucht daher nicht enttäuscht zu sein; die unmittelbaren Folgen der Enttäuschung bleiben aus. Viele Leiden der Menschen sind auf unerfüllte konkrete Sehnsüchte zurückzuführen, die nur, weil sie als Erwartungen gelebt und erlebt werden, den Menschen in Leidenszustände versetzen, während die gleichen Sehnsüchte als Hoff ffnungen gelebt und erlebt, zu zukunft ft weisenden Kraft ftquellen werden können. In Bezug auf ein glückliches, also weitgehend freudvolles und autonomes Leben sind ein Erlernen des Unterschieds der beiden und ein zielführender Umgang damit unverzichtbare Voraussetzungen. Weil die aus Enttäuschungen geborenen Depressionen häufi figste Ursache von Suchtentwicklungen sind, kommt dem Erleben-Lernen dieses Unterschieds in ressourcen-orientierten Behandlungsprogrammen, wie im „OrpheusProgramm“ des Anton-Proksch-Instituts (Näheres dazu: siehe unten), zentrale Bedeutung zu.4 Nicht alle Sehnsüchte werden bewusst wahrgenommen. Gerade die unbewussten Sehnsüchte bzw. diejenigen, die einem nur vage und unscharf bewusst sind, die man sich selbst nicht eingesteht, können dann, wenn sie nicht erfüllt werden, in massive Leidenszustände führen, gegen die man letztlich machtlos ist, weil sie im Verborgenen ihre Wirkung entfalten. Das gilt vor allem auch für alle vergangenheitsbezogenen Sehnsüchte, die auf Wiederherstellung bzw. Wiederherbeiführung von früheren Erlebniszuständen ausgerichtet sind und nach dem italienischen Wort für Sehnsucht (nostalgia) als Nostalgien bezeichnet werden. Da es nie möglich ist, Vergangenes wie-
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der zu Gegenwärtigem zu machen, sondern im besten Fall nur vergangenheitsähnliches Zukünft ftiges geschaff ffen werden kann, prädisponieren Nostalgien in besonderem Maß zu sehnsuchtsunerfülltem Leiden. Noch stärker sind in ihren negativen Auswirkungen nur als unerfüllte Bedürfnisse erlebte, unerfüllte Sehnsüchte. Das Nicht-Erfüllen solcher zu Bedürfnissen hochstilisierten Wünsche und Sehnsüchte, die praktisch immer Gestalt von Erwartungen (nahezu nie von Hoff ffnungen) annehmen, führt dann gar nicht selten in existentielle Bedrohung und Not. Ein Leben ohne Erfüllung als lebensnotwendig erlebter Bedürfnisse wird als ein sinnloses erlebt. Das Erleben von Sinnlosigkeit ist nicht nur immer mit Leiden verbunden, sondern kann sogar solche Ausmaße annehmen, dass ein Weiterleben als nicht mehr wünschenswert angesehen wird. Eine Ausstiegsmöglichkeit, neben der Extremvariante des Suizids, stellt dann der Konsum von betäubenden bzw. andere Realitäten vortäuschenden Suchtmitteln dar, womit eine weitere Verbindung zwischen Sehnsucht und Sucht hergestellt ist. Prinzipiell kann jeder Wunsch zur Sehnsucht werden. Betrachtet man jedoch die von Menschen üblicherweise geäußerten Sehnsüchte, dann fällt auf, dass sie sich um relativ wenige zentrale Themen ranken, die den Menschen bewegen. Neben der vordergründigen Sehnsucht nach Ruhm, Macht und Geld sind es vor allem (und vielmehr) Sehnsüchte nach Freiheit, nach erfüllter Weiterentwicklung, nach einem Über-sich-selbst-Hinauswachsen, nach gelungenen Beziehungen, vertrauensvoller Mitmenschlichkeit, nach dem Vom-anderen-gebraucht-Werden, nach Anerkennung durch den Anderen, nach Sicherheit, Geborgenheit und einem sicheren Zuhause, die die Menschen in ihrer Lebensgestaltung bestimmen. Mit anderen Worten: Die zentralen Sehnsüchte des Lebens sind das Streben nach einem möglichst autonom geführten und weitgehend freudvollen Leben. Ist das erreicht, erlebt der Mensch sein Leben als glücklich. Bleiben diese zentralen Sehnsüchte unerfüllt, stellt sich dann in der Regel die Existenzfrage: Hat ein solches Leben noch Sinn, lohnt es sich überhaupt, es weiterzuführen? In diesem Zusammenhang soll nicht unerwähnt bleiben, dass nicht nur die Nicht-Erfüllung von Sehnsüchten, sondern auch das Fehlen von Sehnsüchten Leiden bedingt. Ohne Sehnsüchte keine Kraftquelle, ft ohne Kraft ftquelle Sehnsucht keine Weiterbewegung, keine Zukunftsperspektive, ft kein Erleben des Möglichen. Nimmt man dem Menschen die Möglichkeit des Möglichen, führt das unweigerlich in Kraft ft losigkeit und Verlust des Lebensvertrauens. Enttäuschung, Lebensangst und das Erleben von Sinnlosigkeit des eigenen Daseins sind die Folgen. Wenn wir in chronische Zustände der Enttäuschung geraten, wenn sich also die Kraft ft unserer Sehnsüchte gegen uns richtet und wir dann von Aggression und Depression gefangen werden, versuchen wir natürlich alles, um diesen Leidenszuständen zu entkommen. Rasche und unmittelbare (wenn auch in der Regel nicht nachhaltige, dafür aber meist folgenschwere) Problemlösungen bieten hier Suchtmittel. Sie alle wirken vordergründig hervorragend gegen Enttäuschungszustände: die einen, indem sie betäuben, die anderen, indem sie Zustände vortäuschen, die uns von den Enttäuschun-
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gen entfernen – Betäubung und Täuschung gegen Enttäuschung. Sobald die Wirkung des Suchtmittels aber nachlässt, tritt das ursprüngliche Problem wieder vor den chemieinduzierten Vorhang, gar nicht selten sogar noch verschärft ft durch die durch das Suchtmittel selbst hervorgerufenen Probleme. Diese neue Leidenssituation lädt dann zu neuerlicher Suchtmitteleinnahme ein, womit sich der Teufelskreis schließt. Aufgrund einer mehr oder weniger rasch einsetzenden Toleranzentwicklung gegenüber dem Suchtmittel werden immer höhere Dosierungen gebraucht, um den gewünschten Effekt ff zu erreichen. Bei Hinzukommen von psychischen Störungen, wie zum Beispiel Depressionen oder Angstsyndromen bzw. von psychosozialen Problemen, wie etwa Partnerkonfl flikten oder berufl flichen Problemen, kann der Suchtmittelgebrauch dann auch nicht mehr im erforderlichen Maß selbst gesteuert werden, womit der zentrale treibende Prozess der Sucht, der Kontrollverlust, die Steuerung der Suchtmitteleinnahme übernimmt und damit das Suchtgeschehen aus dem Ruder läuft. ft Treten dann auch noch körperliche Entzugserscheinungen hinzu, kann mit neuerlicher Suchtmitteleinnahme nur mehr das Entzugssyndrom behandelt werden, das allerdings sofort wieder auft ftritt, wenn der Suchtmittelspiegel im Körper einen kritischen Wert unterschreitet: ein Teufelskreis, der krank macht. Demgemäß spricht man von einer Suchterkrankungg nach internationaler Übereinkunft ft dann, wenn zumindest drei der folgenden Symptome über einen längeren Zeitraum bestehen: (1) Ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, Suchtmittel zu konsumieren. Dieser starke Wunsch, auch „Craving“ genannt, ist nicht mit dem uns allen gut bekannten Gusto bzw. der Vorfreude auf einen bestimmten Konsum gleichzusetzen, sondern ist ein nahezu unstillbares Verlangen, das Suchtmittel zu sich zu nehmen. (2) Eine verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Suchtmittelkonsums. (3) Das Auft ftreten eines körperlichen Entzugssyndroms, sobald der Suchtmittelspiegel einen kritischen Wert unterschreitet (so kann zum Beispiel ein Alkoholentzugssyndrom auch im Rahmen einer noch bestehenden Alkoholisierung auft ftreten!). (4) Toleranzentwicklung bzw. Dosissteigerung. Nicht selten werden diese sogar noch positiv als ein „viel bzw. mehr Suchtmittel vertragen können“ bewertet. (5) Zeichen einer psychischen Abhängigkeit, die sich in einer fortschreitenden Vernachlässigung anderer Vergnügungen oder Interessen zugunsten des Suchtmittelkonsums im Sinn eines erhöhten Zeitaufwandes, um die Substanz zu beschaff ffen, zu konsumieren und sich von den Folgen zu erholen, ausdrücken. (6) Zeichen einer psychischen Abhängigkeit, die in einem anhaltenden Konsum trotz Nachweises eindeutig schädlicher Folgen sichtbar werden.5 Wenn wir uns heute mit Suchterkrankungen beschäft ftigen, können wir uns nicht mehr nur auf die substanzbezogenen (stoff ffgebundenen) Suchtformen beschränken, sondern müssen auch die substanzunabhängigen (stoff ffungebundenen) Suchterkranffgebundenen Suchterkrankungen zählen Alkoholkungen einbeziehen.6 Zu den stoff erkrankung, Nikotinsucht und Medikamentenabhängigkeit sowie alle Formen der Abhängigkeiten von illegalen Suchtmitteln. Als stoff ff ungebundene Suchtformen werden
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heute die Glücksspielsucht, die Online-Sucht, die Kaufsucht und die Arbeitssucht allgemein anerkannt. Die Existenz einer eigenständigen Sexsucht, die so oft ft als Ausrede für Ehebruch „prominenter“ Menschen herhalten muss, ist hoch umstritten, wiewohl einige wenige Fälle von unkontrollierbarem Sexualverhalten nicht völlig aus der Suchtdiagnostik auszuschließen sind. Mode-Suchten, wie zum Beispiel „Telefonsucht“, „Sportsucht“, „Geltungssucht“ etc., sind aber sicher keine Suchterkrankungen. Eine sorgfältige Eingrenzung des Begriff ffes ist schon allein deshalb nötig, als es sich bei Suchterkrankungen um schwere chronische Krankheitsformen handelt und eine Verwässerung des Begriffs ff mit leichten Formen von Verhaltensauff ff älligkeiten eine Bagatellisierung der Suchterkrankung bedeuten und damit die Anerkennung und das Ernst-Nehmen von Suchtkranken als Schwerkranke, die dementsprechend auch intensiver Behandlung bedürfen, gefährden würde. Suchterkrankung kann und darf daher nicht mit schlechten Gewohnheiten oder mit da und dort haltlosem bzw. grenzüberschreitendem Verhalten gleichgesetzt werden. Suchterkrankungen sind vielmehr hochkomplexe Krankheitsgeschehen. Eine Suchtkrankheit tritt praktisch nie isoliert, also nur allein für sich, in Erscheinung. In der Regel ist sie mit anderen psychischen Erkrankungen – am häufi figsten mit Depressionen und Angststörungen bzw. mit ausgeprägten psychosozialen Störungen – vergesellft auch Auslöser des schaft ftet.7 Diese „Komorbiditäten“ sind nicht nur Folge, sondern oft Suchtgeschehens. In jedem Fall sind sie eng verwoben mit der Suchtsymptomatik und brauchen gesonderte Behandlung bzw. Hilfestellung. Die Behandlung einer Suchterkrankung hat daher in der Regel sowohl medikamentöse als auch psychotherapeutische Angebote zu umfassen. In vielen Fällen sind auch sozio-therapeutische bzw. sozial supportive Maßnahmen nötig. Gelingt es, gemeinsam mit dem Patienten eine umfassende, längerfristige, mehrdimensionale Behandlung der Suchterkrankung durchzuführen, ist die Prognose, entgegen anderslautenden Vorurteilen, sehr gut. In jedem Fall ist sie wesentlich besser als bei anderen chronischen Erkrankungen, wie zum Beispiel dem Diabetes mellitus („Zuckerkrankheit“), dem Bluthochdruck oder der chronischen Gelenksentzündung. Das Hauptproblem bei der Behandlung liegt nicht so sehr in der Behandlung selbst, sondern in dem Umstand, dass viele Patienten erst sehr spät in Therapie Th kommen, bzw. daran, dass sie aus einer begonnenen wieder aussteigen (hohe „Drop-outRaten“!). Daher kommt hier auch der Motivationsarbeit einerseits und einer Attraktivitätsverbesserung von Behandlungsangeboten andererseits ein besonderer Stellenwert zu (siehe unten: Diskussion neuer Behandlungsformen, wie zum Beispiel „Orpheus-Programm“). Die Pathogenese der Sucht ist ein komplexes multifaktorielles (multikausales) Geschehen. Im Zentrum stehen meist unerfüllte Sehnsüchte bzw. nicht gestillte Bedürfnisse. Bedürfnisse sind Sehnsüchte, die als existentielle Notwendigkeiten erlebt werden. Das Ausbleiben ihrer Befriedigung wird als existentielle Bedrohung erlebt, selbst dann, wenn einem vorher die Bedürfnisse als solche gar nicht so bewusst waren. Viel wurde bis heute über Bedürfnistheorien publiziert. Den nachhaltigsten Effekt ff hatte hier ohne
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Zweifel die Maslow’sche Bedürfnispyramide.8 Nach Ansicht Maslows bilden die lebenserhaltenden Bedürfnisse wie Essen und Trinken die unverzichtbare Basis der Pyramide. Ihnen folgen die Bedürfnisse nach Sicherheit, Dazugehörigkeit und Anerkennung. Die Spitze der Pyramide bilden Selbstverwirklichungswünsche des Menschen. Das Hauptproblem in dieser Bedürfnispyramide liegt in ihrer fi xierten Hierarchisierung. Befragt man einzelne Menschen nach ihren Grundbedürfnissen, dann zeigt sich nämlich, dass die Rangordnung der einzelnen Bedürfnisse nicht nur von Mensch zu Mensch differiert, ff sondern dass sich ihr Stellenwert auch während eines Lebens signifikant fi verschieben kann. Dieser so hohen inter- und intra-individuellen Variabilität menschlicher Bedürfnisse soll in der hier vorgeschlagenen, die sieben Grundbedürfnisse des Menschen repräsentierenden „Bedürfnisblume“ Rechnung getragen werden. Das Bild der Blume wurde aus zwei Gründen gewählt. Zum einen, weil eine Blume unterschiedlich große, aber doch prinzipiell gleichwertige Blütenblätter hat, womit eine vorgegebene Hierarchisierung vermieden wird. Und zum zweiten, weil einer Blume (im Unterschied zu einer statischen und unveränderlichen Pyramide) die Möglichkeit des Wachsens, das Potenzial der Entwicklung innewohnt. Die einzelnen Blütenblätter können im Verlauf des Wachstums durchaus unterschiedliche Größe annehmen; ein Umstand, der in kosmopoetischen Behandlungsprogrammen, wie im nachfolgend vorgestellten „Orpheus-Programm“ des Anton-Proksch-Instituts, nutzbar gemacht werden kann. Die Blütenblätter der Bedürfnisblume stehen für die sieben Grundbedürfnisbereiche des Menschen: (1) den Bedürfnissen nach Überleben und Weiterleben (Erhaltungstrieb), (2) den Bedürfnissen nach Erklären und Verstehen (Kausalitätstrieb), (3) den Bedürfnissen nach Sicherheit, Geborgenheit und einem Zuhause, (4) den Bedürfnissen nach Freundschaft ft (nach Lieben und Geliebt-Werden), (5) den Bedürfnissen nach Erleben des Schönen, Faszinierenden und Sublimen, (6) den Bedürfnissen nach dem Transzendenten, dem Spirituellen, den Menschen in seinem Dasein Überhöhenden und Übertreff ffenden und (7) den Bedürfnissen nach Bewegung, Variation und Veränderung. All diesen sieben Grundbedürfnisfeldern des Menschen gemein sind die alles mitbestimmenden Globalbedürfnisse, nämlich das nach autonomer Entwicklung und Entfaltung („das Mögliche möglich machen“) einerseits und nach freudvollem Leben („Freude im und am Leben“) andererseits. Beides zusammen, ein weitgehend selbstbestimmtes und ein im Wesentlichen freudvolles Leben, wird bei Erreichen vom Betroffenen ff dann als ein glückliches Leben bzw. als Lebensglück erlebt. Wählt man als Therapieziel ein möglichst autonom geführtes und gestaltetes sowie ein möglichst freudvoll gelebtes und erlebtes Leben (wie im neu entwickelten Behandlungsprogramm für Suchtkranke im Anton-Proksch-Institut), dann wird zwangsläufig eine Individualisierung des Behandlungsangebots nötig. Autonomie und Freude fi können nicht verordnet werden. Sie stellen sich auch nicht allein durch Wegfall von krankheitsbedingten Defi fiziten ein. Zu ihrer Verwirklichung sind gezielte lebensgestalterische Aktivitäten des Betroff ffenen nötig. Die gestalterischen Handlungsmöglichkei-
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ten des Einzelnen hängen natürlich ganz wesentlich von seinen Ressourcen ab. Wir verfügen über mannigfache Ressourcen, über körperliche, kognitive, emotionale, soziale, interaktionelle und spirituelle, um nur einige wenige, die immer wieder angeführt werden und die im therapeutischen Prozess positiv genutzt werden können, zu nennen.9 Seltener fi finden ästhetische und fiktionale Ressourcen Erwähnung. Dies völlig zu Unrecht, da gerade ihnen im Behandlungsverlauf wesentliche Funktionen zukommen. Unter dem Begriff ff ästhetische Ressourcen werden all jene zusammengefasst, die sich auf ästhetische Koordinaten beziehen lassen, wie zum Beispiel Faszination, Begeisterung, Erhabenes, Spannendes, Bewegendes und Schönes. Das Schöne ist als lebensbejahender Aspekt des menschlichen Lebens eine ganz besondere Kraftquelle. ft Alles, was wir als schön erleben, können wir bejahen. Alles, was wir bejahen können, erfüllt uns mit Kraft ft. Denken wir nur an einen sonnigen Frühlingsmorgen, an ein Abendessen mit einem uns faszinierenden Menschen, an den Besuch eines uns begeisternden Konzerts, an das Lesen eines schönen und spannenden Buchs – man fühlt dann unmittelbar den damit verbundenen Kraft ftzuwachs. Auch die fiktionalen fi Ressourcen sind schier unerschöpfliche fl Kraft ftgeneratoren. Die Fiktion im Sinn dessen, was wir für möglich halten, was wir als unsere Zukunft ftsentwicklungsmöglichkeit sehen, erfüllt uns mit ungeahnten Kräft ften; umgekehrt mündet der Verlust von Möglichkeiten über die damit verbundene Aussichtslosigkeit in erheblichen Kraftverlust ft bis hin zu Kraft ftlosigkeit. Das Erleben des Möglichen – das Friedrich Hölderlin als etwas bezeichnet, „welches in die Wirklichkeit tritt, indem die Wirklichkeit sich aufl flöst“ und das im „Zustande zwischen Seyn und Nichtseyn“10 real wird – und die aus ihm erwachsenden zu realisierenden Zukunft ftsmöglichkeiten eröff ffnen den uns anvertrauten Suchtkranken neue Betätigungs- und Erlebnisfelder, in denen unser übergeordnetes Ziel eines möglichst selbstbestimmten und freudvollen Lebens erreicht werden kann. Demgegenüber verschließt das Erleben des Mir-Unmöglichen, des Mir-nicht-mehr-Möglichen, des Für-mich-nicht-mehr-in-Frage-Kommenden die Türen. Ein trotz Abstinenz und Abwesenheit von unmittelbaren Krankheitszeichen der Sucht wenig begeisterndes und faszinationsarmes, freudloses, qualvolles Leben ist dann die Folge. Dass eine solche Lebenskonstellation natürlich auch ideale Voraussetzung für einen Rückfall bzw. einen Ausstieg aus dem Therapieprogramm (Drop-out) ist, ist gut nachvollziehbar. Im therapeutischen Prozess gilt es daher, nicht nur die Bedeutung des Pathologischen zu erfassen,11 sondern vor allem auch Wege aus den gewähnten Unmöglichkeiten zu finfi den, in dem man neue Möglichkeiten eröffnet ff bzw. (oft ft im wahrsten Sinn des Wortes) verschüttete Möglichkeiten ans Tageslicht bringt. Das ist auch das Kernstück des im Anton-Proksch-Institut Wien entwickelten „Orpheus-Programms“.12 Im Gegensatz zur Moraltherapie,13 in der es um das Aufzeigen der rechten Lebenswege und um das Trainieren vom Therapeuten vorgegebener Lebensweisen und -formen ging, zielt das Orpheus-Programm auf Eröffnen ff von Spielräumen und Schaff ffen von Atmosphären, in denen die ganz speziellen Möglichkeiten der einzelnen Suchtkranken deutlich werden.
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Hauptanliegen ist nicht mehr Wiederherstellung bzw. Wiedereingliederung, sondern Entfaltung und Neugestaltung. Die Orpheus-Module dienen dabei als Schutzzonen und Geländer für die ersten Schritte der Umsetzung des für den Einzelnen Möglichen. Die Bezeichnung „Orpheus-Module“ ist durchaus programmatisch zu verstehen; sie weist auf den entscheidenden Unterschied zu herkömmlichen Behandlungs- und Betreuungsansätzen bei Suchtkranken hin. In der Antike überwanden zwei Heroen die Insel der Sirenen, die eine eindrucksvolle Metapher für Suchtmittel sind: Die Sirenen, ebenso wie Suchtmittel, sind in ihrer Wirkung betörend, begeisternd, faszinierend und verführerisch, kommt man ihnen allerdings zu nah, dann bleibt man ihr Gefangener bis hin zum Tod. Der eine, der sie überwand, war Odysseus. Er band sich bekanntermaßen am Schiffsmast ff fest und widerstand auf diese Weise mit aller Kraft ft und Ausdauer der Versuchung. Die Ähnlichkeit dieser Strategie zu herkömmlichen Suchtbehandlungsformen ist unübersehbar: Mit aller Kraft ft und Gewalt, mit großer Überwindung und allem mobilisierbaren Durchhaltevermögen wird lebenslange Abstinenz zu erreichen versucht. Orpheus, der zweite Heroe, der auf die Sirenen traf, wählte eine völlig andere Strategie: Er nahm seine Leier, machte einfach schönere und lautere Musik und nahm damit den Sirenen nachhaltig ihre verführerische Wirkung. Mittels der Orpheus-Module sollen nun den Suchtkranken Gestaltungsmöglichkeiten für ein so freudvolles, faszinierendes und begeisterndes Leben eröff ffnet werden, dass die damit erzeugte Lebensmusik dem Suchtmittel seine verführerische Kraft ft nachhaltig nimmt. Im besten Fall wird das Suchtmittel sogar als Störfaktor eines nun selbst gestalteten Lebens aus tiefer Überzeugung heraus abgelehnt. Hier wird auch der enge Zusammenhang zwischen Autonomie und Selbstbestimmung auf der einen Seite und freudvollem, genussreichem Leben auf der andern Seite sichtbar. Hier kreuzen sich die ästhetischen mit den fiktionalen Lebensvektoren. Vielen Suchtkranken (aber nicht nur ihnen) mangelt es eben an Möglichkeiten ästhetischen Erlebens. In Sensibilisierungs-, Körperwahrnehmungs-, Interaktions-, Selbstreflexionsfl und Genussmodulen sollen im „Orpheus-Programm“ ästhetische Wahrnehmungsbereitschaft ft und Wahrnehmungsfähigkeit geweckt und geschärft ft werden, damit ein neuer vielgestaltiger Lebenszugang möglich wird. Um ein möglichst autonomes und freudvolles Leben zu erreichen, braucht es die Freilegung bzw. Schaff ff ung von Ressourcen, die dann als Kraft ftfelder Energien und Vektoren auf dem Weg zum Ermöglichen des Möglichen zur Verfügung stellen. Nur wenn wir unsere Sehnsüchte (auch die noch unbewussten) und unsere Möglichkeiten (auch die so häufi fig vom Lebensschlamm verdeckten und von Lebensbruchstücken verschütteten) sehen lernen, nur dann, wenn wir sie wahrund ernst nehmen und sie zum Ausgangspunkt unserer Hoff ffnungen machen, können wir ein freudvolles Leben erreichen, ein Leben, in dem das Mögliche möglich wird, ein Leben, das wir zu Recht als ein glückliches bezeichnen dürfen.
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Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
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Vgl. Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe. Vgl. Bien, „Glück ist nicht das Ziel, sondern der Lohn …“. Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. Vgl. Musalek, Social Aesthetics and the Management of Addiction. Vgl. Weltgesundheitsorganisation, Taschenführer zur ICD-10 Klassifi fi kation psychischer Störungen, 73 f. Vgl. Musalek / Mader / Poppe, State of the art: Stoff ff ungebundene Süchte. Musalek, Neue Wege in der Diagnostik der Alkoholkrankheit. Maslow, A Theory of Human Motivation. Vgl. Flückiger / Caspar / Holtforth / Willutzki, Working with patient’s strengths; Lutz, Flow and the sense of coherence. Hölderlin, Das untergehende Vaterland …, 142. Vgl. Stanghellini, The meanings of psychopathology. Der hervorragende Artikel fokussiert die verschiedenen Bedeutungsfelder von Psychopathologie und deren Auswirkungen auf die klinische Praxis. Siehe dazu Anton-Proksch-Institut (API): http: // www.api.or.at / typo3 / startseite / orpheusprogramme.html (zuletzt abgerufen am 10. 02. 2011); Musalek, Social Aesthetics and the Management of Addiction. Vgl. Jacobsohn / Howard, Moral treatment: 1840–1972; Sederer, Moral Therapy and the Problem of Morale.
Gottfried Bachl
Glück und Jenseits Gottfried Bachl Glück und Jenseits
Wie alle elementaren Worte, die wir in unserer Sprache gebrauchen, fährt auch das Wort Glück auf einer Wolke der Bedeutungen daher. Es ist eine Art „Badedas“-Wort. Daher sei kein Klagelied gesungen über die Endlosigkeit dieses Themas. Im Augenblick kann uns ein vorläufi figer Begriff ff genügen. Vielleicht klärt sich manches noch auf dem Weg der Gedanken, die wir jetzt an die Sache wenden.
Vielsinnig Glück also. Das wünschen wir uns in den Stunden der Freundschaft ft, vor gefährlichen Abenteuern, in der Lotterie, auf der Suche nach der Liebe des Lebens, im magischen Drängen, dass wir das entscheidende Examen bestehen. Wir sagen „Glück gehabt!“ nach einem glimpfl flich verlaufenen Verkehrsunfall, und der glückliche Zufall verwandelt sich manchmal in den Schutzengel, der rechtzeitig zur Stelle war. Oder in das Schwein, das wir gehabt haben, weil das Pech, das wir hätten haben können, an uns vorbeigeronnen ist. Glücklich sein, die Stimmung des Unglücks erleiden, ein tief nach der Seele greifender Rhythmus, dem die bewegtesten Sprachspiele gewidmet sind. Im Glück, sagen wir fürs Erste, geschieht eine Antwort auf das menschliche Streben nach dem dauerhaft ften Wohlergehen. Gegen die Redensart, dass jeder „seines Glückes Schmied“ sein könne, steht die Erfahrung, dass es dem Menschen im Glück unvermutet unverdient gut geht und er das weiß, im Unterschied zum Hund, der es nur spürt. Glück ist nicht durch gezielte Maßnahmen herzustellen. Wir sind in diesem Sprachspiel dem Schönsten und dem Schlimmsten ausgesetzt. Aber in der biblischen Religion ist Glück kein fatum, keine moira, keine ananke, sondern immer ein entschieden personbezogenes Geschehen. Alle noch so schroff ffe Widerfahrnis ist im Grund getragen vom göttlichen Willen, und die Korrespondenz mit diesem Willen gibt allem Glücklich- und Unglücklich-Werden die eigentümliche Form.
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Jenseits Eine Vokabel der Geographie, eine vorwiegend räumliche Kategorie, die seit dem 16. Jahrhundert bekannt ist: Jenseits. Wir sagen: Jenseits der Grenze liegt ein anderes Land. Das trägt weniger Emotion, klingt objektiver als die Glücksvokabel, auch wenn uns manchmal das Fernweh zu Herzen geht. Was jenseits liegt, ist nicht nur weit weg, es ist vielleicht gar nicht fern, es ist drüben, in einer anderen Dimension. Aus dem Adjektiv ist mit der Zeit ein sächliches Substantiv geworden, das Jenseits, die Wirklichkeit auf jener Seite, die andere Welt, das Leben nach dem Tod, das andere Sein gegenüber der hiesig-jetzigen Wirklichkeit. Jenseits also kein Wort der relativen Entfernung innerhalb der räumlich zeitlichen Welt, die wir bewohnen. Das Wort hat transzendente Bedeutung, zielt auf die Abgeschiedenheit der Toten, in der alle Kommunikation abgebrochen ist, in der aber auch die kosmische Ordnung nicht mehr als bewohnbares System dient. Es bringt die Erfahrung der fremden Andersheit zur Sprache, die sich an der Grenze des Todes einstellt. Gleichzeitig lockt es die Wissbegier und die Lust, hinüberzudringen und nach geeigneten Medien für diese Erkundungsreise zu suchen. So kann auch die Frage nicht ausbleiben, wo sich das Jenseits befindet, fi und die religiöse Tradition zählt dazu eine Reihe von Örtlichkeiten auf. Die einfachste jenseitige Unterbringung ist das Grab. Von dieser anschaulichen Stelle wandert die Vorstellung weiter über die Erdoberfl fläche, unter die Erde, über die Erde, bis hin zum Wohnort der Götter und der vergöttlichten Ahnen, bis hin zu den nicht mehr vorstellbaren Formen des Dortseins, die nicht örtlich defi finiert sind, also ein ungebundenes Jenseits darstellen. Wir sehen das Gefälle vom Grab bis nirgendwo, das deutlich transzendierende Moment in der Bewegung der Sprache. Immer ist es die Religion, in der hauptsächlich das Interesse am Jenseits entsteht und sich in verschiedenen Gestalten auslegt. Es gibt noch kein rein säkulares Jenseitsministerium oder eine entsprechende Wirtschaftsft kammer.
Zurückhaltung der Theologen Wir haben zu beachten, dass die Rede vom Glück in Konkurrenz steht zur anderen Rede vom Heil. In diesem Feld hat sich keine einheitliche Begriffl fflichkeit durchgesetzt. „Während Heill sich zu einem religiösen Sonderbegriff ff entwickelt hat, der vorwiegend die jenseitige, künft ftige, von Gott geschenkte Vollendung artikuliert, wird Glück fast ausschließlich als diesseitige, durch den Menschen selbst zu leistende lustvolle Befriedigung des Lebens verstanden.“1 Daher rührt die skeptische Zurückhaltung in der Theologie. Sie hat das Thema Glück nicht aus freien Stücken aufgegriffen, ff sondern es sich vielmehr aufnötigen lassen. In der kritischen Betrachtung der rhetorischen Wellness-Philosophie ist man vorwiegend der Meinung, Glück sei zum guten Teil ein Aus-
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druck der Stimmung, ein Gefühls-Hauptwort, nicht geeignet, das Sein, die objektive Seite dieser Befindlichkeit fi exakt zu benennen. Zu oft ft werde es auch dazu benutzt, die Zufälligkeit wohltuender Erfahrungen zu beschreiben. Alles in allem also stehe es für groben Subjektivismus. Daher haben wir halbwegs deutlich zu sagen, in welchem Sinn hier vom Glück die Rede sein soll. Es geht off ffensichtlich um den religiösen Zusammenhang der Frage nach dem Glück, in der bestimmten Perspektive der Zukunft ft und der Nähe. So meinen wir jetzt Glück als denjenigen Ausdruck, in dem alles Positive zur Sprache kommt. Was immer dem Menschen Gutes gelingt oder widerfährt, wo immer und von woher immer das geschieht, das soll Glück heißen. Die Nachbarschaft ft zu den synonymen Ausdrücken lassen wir beiseite. Das Recht zu solcher abrupten Sprachregelung liegt in der Tradition, die davon gesprochen hat, dass alle Menschen nach Glück streben, wie auch alle Menschen das Heil suchen.
Über die Grenze Jede philosophische und theologische Bemühung um das Glück stößt, wenn sie sich nicht auf therapeutische Anweisungen beschränkt, auf das härteste Glückshindernis, das in der irdischen Welt errichtet ist: das Grenzerlebnis Tod. Ernst Bloch hat es wuchtig beschrieben: „Kein Feind erschien darum zentraler, keiner so unausweichlich postiert, keine Gewissheit in dem durchaus ungewissen Leben und seinen Zweckbildungen ist mit der des Todes auch nur vergleichbar. Nichts steht so finalistisch fi wie er am Ende, und nichts zerschmettert zugleich den Subjekten der historischen Zwecksetzung ihre Arbeit so antifi finalistisch zum Fragment. Die Kiefer des Todes zermalmen alles, und der Schlund der Verwesung frißt jede Teleologie, der Tod ist der große Spediteur der organischen Welt, aber zu ihrer Katastrophe. Keine Enttäuschung also mißt sich mit seinem negativen Ausblick, kein Verrat kurz vor Ziel scheint dem des Exitus letalis gleichzukommen.“2
Glück heißt deshalb zuallererst, dass hier, an diesem Ort der Unmöglichkeit, noch etwas möglich ist. Hört man die zugehörigen Sprachspiele ab, kommt immer das Gelingen an dieser Mauer zu Wort. Die Option auf lebendige Dauer, gegen die tödliche Befristung, der alles Leben ausgesetzt ist, wird in dieser oder jener Form realisiert. Es ist die einzigartige Grenzüberschreitung, der Exodus aus dem verschlossensten Gefängnis, das unüberbietbare Erlebnis Freiheit. In diesem Glück korrespondieren die platonische Freiheit der Seele und das Freiheits-Leben des auferstandenen Jesus.
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Jenseitsbilder Der religionswissenschaft ft liche Überblick bietet eine anschauliche Liste von Jenseitsmodellen.3 Sie seien kurz vorgestellt, weil daran zu sehen ist, dass der Ausdruck Jenseits nicht einen Allerweltsort bezeichnet, sondern immer den Ort des Menschen. Damit ist auch die lebendigste Imagination darüber verbunden, wie es diesem Menschen in der jenseitigen Sphäre ergehen mag, wenn er nolens volens dahin verschickt wird. – Die einfachste Vorstellung nimmt an, dass sich das irdische Leben schlicht und geradlinig fortsetzt als Versammlung zur Familie, zur Sippe, die häufi fig im Grab angesiedelt wird. Daher rührt auch das anhaltende Interesse am Grab, an dessen Ausstattung und ritueller Pfl flege. – Anders sieht es aus, wenn das irdische Leben fortgesetzt wird, aber gesteigert im Sein und in der Wirkung. Die Toten werden zu mächtigen Geistern oder Göttern – in einem Totenreich, auf elysischer Flur. – Das kann sich aber auch wenden, sodass sich das fortgesetzte irdische Leben nach dem Tod verschlechtert: Die Seelen werden zu Gespenstern, sie fristen ein schattenhaftes ft Dasein in der biblischen Sheol, im babylonischen arallú, im griechischen Hades. – Im bunten Getriebe der Vorstellungen verbreitet sich auch der Glaube an eine Fortsetzung des Lebens nach dem Tod auf dieser Erde. Die vom Körper gelöste Seele übersiedelt in eine andere Gestalt menschlicher, tierischer, pflanzlicher, fl auch anorganischer Art im Kreislauf der Reinkarnationen. – Mit dem Einbruch der Idee Gerechtigkeitt in die religiöse Welt ändert sich das Großklima in den Kulturen. Gut und Böse lassen sich in der irdischen Welt nicht adäquat darstellen und realisieren, daher wird die Erwartung an einen kommenden Äon lebenswichtig. Dort wird das im Modus einer klaren Vergeltung möglich sein. So entstehen Himmel und Hölle. Auch mit diesem Modell ist häufi fig der Glaube an eine Seelenwanderung verbunden. Die Sehnsucht nach einem Leben mit und in Gott dringt in alle Winkel des Bewusstseins ein, die Stimmung ist stark vom Gefühl der Gottesverwandtschaft ft gefärbt. – Über alle primitiven, ethischen, mystischen und kultischen Formen des Jenseitsglaubens hinaus reichen die Jenseitsdefi finitionen der Hochreligionen. In der Konsequenz und Radikalität, die sich nun in der Lehre von den Letzten Dingen durchsetzt, wird die andere Welt zur Ziel- und Vollendungswirklichkeit. Auf diese Zukunft ft ist das Leben in der hiesigen Welt ausgerichtet, in positiver oder auch in negativer Vorläufigkeit, fi je nach der Einschätzung der weltlichen Existenz. Das Christentum ist in diesem Rahmen eine Jenseitsreligion von hoch ausgeprägtem Stil, für die das vollkommene Sein, das Glück in der weltübersteigenden Zukunft ft liegt.
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Verdacht auf Vertröstung Gerade am christlichen Evangelium ist die schroff ffe Gegenrede zu allem jenseitigen Wesen und Treiben entstanden. Die guten Dinge, die unter dem Titel „Jenseits“ oder gar mit dem „Himmel“ versprochen werden, sollen hier und jetzt zu haben sein. Unter dem Schlagwort Vertröstungg ist heute noch das alte Thema der Religionskritik zu hören. Heinrich Heine hat seine Verse immer wieder auf dieses Postulat abgestimmt. „Mich locken nicht die Himmelsauen Im Paradies, im selgen Land; Dort find ich keine schönre Frauen Als ich bereits auf Erden fand. Kein Engel mit den feinsten Schwingen Könnt mir ersetzen dort mein Weib; Auf Wolken sitzend Psalmen singen, Wär auch nicht just mein Zeitvertreib. O Herr! ich glaub, es wär das Beste, Du ließest mich in dieser Welt; Heil nur zuvor mein Leibgebreste, Und sorge auch für etwas Geld. […]““4
In anderem, ernsthaft ftem Ton, erst recht auf das hiesige Jetztt gerichtet: Goethe. „Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt; Tor! wer dorthin die Augen blinzelnd richtet, Sich über Wolken seinesgleichen dichtet; Er stehe fest und sehe hier sich um; Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm; Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen; Was er erkennt, lässt sich ergreifen; Er wandle so den Erdentag entlang; Wenn Geister spuken geh’ er seinen Gang, Im Weiterschreiten find’ er Qual und Glück, Er! unbefriedigt jeden Augenblick.“5
Die Verschiebung des Glücks in ein fernab verborgenes Dorado gilt als spezifisch fi religiöses Blendungsmanöver, als List der frommen Mächtigen, die ihr Spiel guten Gewissens spielen wollen. Die Religionen und die sie begleitende Theologie argumentieren dagegen mit dem Erweis der konstitutiven Jenseitshaft ftigkeit der Welterfahrung. Wer die Welt liebt, muss ihr das Jenseits zugestehen. Denn sie ist wohl das Feld, auf dem die Glückserfahrungen wachsen, aber sie ist nicht der ausreichende Raum für das Glück. Man spricht daher
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von der Anfänglichkeit der geschaff ffenen Welt. Alle Bewegung in ihr, wie weit immer sie führt, hat hier und jetzt nicht genug Kapazität, sie muss über alle erreichten Ziele hinaus. Die Religionen sind davon getrieben, undeutlich oder stark, je nach dem Grad des Jenseitsinteresses. Ihr Wirken dient der positiven Vorläufi figkeit, in der die Schritte, die zu tun sind, nicht eine listige Ablenkung sein können, sondern zum Rhythmus der religiösen Bewegung gehören. Im Konzept der Jenseitshoff ffnung geschieht demnach keine Flucht aus der hiesigen Wirklichkeit, sondern deren entschiedene Bejahung. Denn es existiert, was einer Überbietung wert ist. In diesem Postulat ist der Anker des Glaubens an die reale Zukunft ft über den Tod hinaus festgemacht.
Inhalte des Jenseitsglücks Im Folgenden soll es um Inhalte gehen, die in der Jenseits-Hoff ffnung herangetragen werden; dabei im Bezirk der christlichen Tradition bleibend. Was bedeutet hier konkret die Konjunktion Glück und Jenseits? Die große Metamorphose in den Status der Vollendung erfasst die Gesamtheit der Kreaturen, die den neuen Himmel und die neue Erde darstellen. Die Welt wird frei gemacht von den Bedingungen der Vergänglichkeit. Dieser Zustand der Vollkommenheit wird selbst innerhalb der christlichen Tradition in großer Variation beschrieben, die von prachtvoller Üppigkeit bis zur Zurückhaltung einer eschatologia negativa (Eschatologie: Lehre von den letzten Dingen, von der Hoff ffnung auf Vollendung) reicht. Das ist keine reine Schwell-, sondern auch eine Schwundgeschichte im Gefälle der Beschreibungsund Vorstellungsfreude. Die Zuversicht, hier konkrete Information liefern zu können, wird im Lauf der Zeit zurückhaltender. Die ehemals anschauliche Jenseitsgeographie verwandelt sich in ein schwebendes Alphabet von Metaphern, der Stereoeffekt ff schwindet, kaum einer traut sich heute noch zu schreiben wie Albert der Große im 13. Jahrhundert, auch Josef Ratzinger nicht. Die Dominante aber bleibt in allen Versionen und Stilen der Frömmigkeit: Die kommende Welt wird Freiheit sein, Freiheit von Daseinsangst und allen Zwängen der Endlichkeit.
Gotteserfahrung Zum Glück des Jenseits gehört die Unmittelbarkeit und Endgültigkeit der Erfahrung Gottes, das totale Gott-Erleben. Die Religion kämpft ft mit der elementaren Angst, die Existenz könnte der puren Endlichkeit ausgeliefert sein, der Mensch als individuelle Person vollständig und für immer im Tod verschwinden, sodass absolut nichts mehr da ist, in keiner Hinsicht. Auf die Frage, ob es religiöse Konzepte gibt, die das Programm der absoluten Jenseitslosigkeit vertreten, sei nicht näher eingegangen, sondern ausschließlich die biblische Tradition betrachtet. In dieser erfahren wir von der ent-
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schiedenen Bejahung des Glücks, denn die Botschaft ft heißt: Das wahre Glück ist jenseitig, und das Glück entströmt der Kernzone des göttlichen Seins, kann also keineswegs als beiläufi figes Akzidens angesehen werden. Glück, das wir haben, dass es einen Gott gibt, sagt der biblische Psalmdichter und meint das Frohmachende an der Existenz Gottes: Gott ist der Genuss, wie er tiefer und höher und reicher nicht gedacht und nicht gewünscht werden kann. Die Gott-Texte in der Bibel sprechen von ihm hauptsächlich im Ton der Gebote und des Gehorsams. Aber es gibt in eher verhaltenen Sätzen die Rede von der Lust, in der sich Gott seinen Geschöpfen gibt. Die mitreißende Freude, die dem finalen Gotterlebnis entspringt, überwältigt alle Zweifel, ob es gut ist, da zu sein. Was immer du erzählen kannst aus deinem irdischen Leben, du wirst deinen Geburtstag loben, sagt das Evangelium. In diesem Sinn heißt es bei Paulus im Römerbrief (8,18): „Ich bin überzeugt, dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar ff werden soll.“
Mit Jesus sein Ein weiteres Glücksmoment bringt die Begegnung und das Zusammensein mit Jesus. In ihm nimmt Gott die leibhafte ft menschliche Existenz an und erhebt sie zum Medium seiner Gegenwart. Es macht die Eigenart der biblisch-christlichen Tradition aus, dass nicht der Demiurg, sondern der Messias den göttlichen Willen zur Welt repräsentiert. Die Treue zur Schöpfung steht gegen die gnostische Philosophie der Verabschiedung und Aufl flösung der Natur. Die Dummfeindlichkeit der kosmischen Ursachen und Wirklichkeiten, von der die Bezweifl fler der Schöpfung predigen, wird bestritten in der Überzeugung, dass die Materie als Quelle der Freude gelten darf. Der ungeheuerlich um uns und mit uns wirbelnde Kosmos ist zu lesen als die Hieroglyphe der göttlichen Weisheit.
Der Himmel als Gespräch Der Zustand seliger Vollendung ist bestimmt von der unüberbietbaren Nähe zu Gott. Daraus entspringt auch die Vollkommenheit der sozialen Kommunikation. Das meint das Wort von der communio sanctorum, der Gemeinschaft ft der Heiligen, als finales Zusammensein der Menschen in der Gnade Gottes, die Festlichkeit des gemeinsamen Lebens. Damit korrespondiert in bedenkenswerter Weise die Sprachutopie des kommunikativen Handelns, dass alle mit allen unter allen Umständen frei reden können.6 Sie scheint freilich nur jenseitig einlösbar zu sein und mehr eine Beschreibung des Himmels als der irdischen Realität zu bieten. Ein Gespräch können wir nur sein in der vorausgesetzten göttlichen Aktion einer Auferweckung der Toten, dass Gott die
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Menschen über alle Hindernisse hinweg zueinander bringt.7 So kommen die Menschen ganz zu sich selber im Gelingen der Liebe, der Freundschaft, ft dass sie, wie sie schon ein Gespräch sind, dieses auch noch in Wahrheit werden.
Immer neues Leben Die Attraktivität des himmlischen Glücks leidet häufi fig unter zwei Vorstellungen: der Bewegungslosigkeit und der Langeweile. Der Himmel ist längst verwitzelt als ewiger Choral oder unaufh fhörlicher Bach. Auch der im Pietismus erzogene Immanuel Kant spricht von der empörenden Vorstellung für alle Einbildungskraft, ft die von einem für immer stillstehenden Himmel ausgeht. „Alsdann wird nämlich die ganze Natur starr und gleichsam versteinert; der letzte Gedanken, das letzte Gefühl bleiben alsdann in dem denkenden Subjekt stehend und ohne Wechsel immer dieselben. Für ein Wesen, welches sich seines Daseins und der Größe desselben (als Dauer) nur in der Zeit bewußt werden kann, muß ein solches Leben, wenn es anders Leben heißen mag, der Vernichtung gleich erscheinen […]. Die Bewohner der andern Welt werden daher so vorgestellt, wie sie, nach Verschiedenheit ihres Wohnorts (dem Himmel oder der Hölle), entweder immer dasselbe Lied, ihr Halleluia, oder ewig eben dieselben Jammertöne anstimmen: wodurch der gänzliche Mangel alles Wechsels in ihrem Zustande angezeigt werden soll.“8
Die christliche Theologie spricht allerdings ausdrücklich von der Neuheit und der ewigen Frische des Seins mit Gott, das keine statische Verkapselung und keine Verherbstung kennt. Die Symbolsprache für den Himmel, die Hochzeit, Liturgie, die Engelchöre, die sitzende Trinität, überhaupt der Himmel als Sitzordnung der Konzilsversammlungen, – die Bildergeschichte und Symbolsprache begünstigen teilweise die statische, irgendwie eingeschlafene Form. In dieser Übergutheit und schattenlosen Schönheit bekommt man Sehnsucht nach dem Teufel und seiner Hölle, die unterhaltsamer zu sein scheinen. Michelangelo hat das Gericht, nicht den Himmel, gemalt, immerhin auch den fahrenden Gott bei der Erschaff ff ung des Menschen. Die Phantasie ist überfordert mit der Verbindung von Bewegung und Ruhe, Harmonie und Differenz, ff Frieden und Streit, Licht und Schatten. Der Himmel soll kein Museum der Weltgeschichte werden, er ist eine Hoff ffnungsgröße: das heißt Bewegung, Änderung der Zustände, Wachstum, Ergänzung und Heilung, ein fahrendes, kein stehendes Gebilde. Der griechische Theologe Gregor von Nyssa hat gemeint, am ehesten sei Gott im Flug zu erreichen und im Flug sei der Himmel am wirklichsten zu erleben. Ein dynamischer Prozess also, bedeutsam „im Hinblick auf Schulderfahrungen, auf allzu früh Verstorbene oder Ermordete, auf das behinderte und kranke oder auf das kaum begonnene Leben.“9 Das Unfertige in der Menschenwelt wird eingeholt, es bleibt nicht auf einer Deponie liegen. Daher schreibt die Bibel von der Neuen Schöpfung.
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Der Gott, den sie verkündet, arbeitet an seinem Projekt, in einer glücklich machenden Endgültigkeit.
Erleben der Gerechtigkeit Der Himmel ist nicht zuletzt die Gelegenheit, das Ereignis der Gerechtigkeit zu sehen, die Sättigung des Hungers nach ihr zu erleben. Erläutert sei das an einem Text Tertullians (um 150–um 230 n. Chr.), der ein christlicher Theologe und Schrift ftsteller von großer Autorität und bildender Wirkung war. In seiner Schrift ft über das antike Showbusiness10 richtet er seinen Appell an die Christen, die falschen Vergnügungen der sündigen Welt zu meiden und sich der wahren voluptas zuzuwenden, sich zu freuen am kommenden spectaculum, dem universalen Gericht in der Stunde der Wiederkunft ft Christi. Das 30. Kapitel bringt das auch sprachlich höchst dramatische Finale des Buches. Welches Glück wird da geboten? Nichts Geringeres als das Schauspiel des Weltgerichts, bei dem die Christen als Zuschauer den großen Rollentausch erleben können, wie die Menschen des Heidentums die Vergeltung Gottes erleiden und selber auf das Rad geflochten fl werden. Tertullian stellt eine Liste der Personen vor, über die Gottes strafende Hand kommt. Zuerst nennt er die Kaiser des Imperiums, die statt in den Himmel zu fahren, wie auf dem Titusbogen in Rom zu sehen ist, samt ihrem obersten Gott Jupiter in die tiefste Finsternis gestürzt werden. Dann die Beamten, „die eine führende Rolle bei der Verfolgung des Namens des Herrn gespielt haben – wenn sie in Flammen zergehen, die noch grausamer sind als diejenigen, mit denen sie voller Hohn gegen die Christen gewütet haben“. Und an dritter Stelle: „Jene weisen Philosophen, wie sie rot werden in Gegenwart ihrer Schüler, die gemeinsam mit ihnen brennen. Sie redeten ihnen ein, Gott kümmere sich um nichts, und behaupteten entweder, es gebe gar keine Seelen, oder diese würden in ihre früheren Körper nicht zurückkehren.“ Dann kommen die Dichter dran, die Tragöden, das gesamte Personal, das in den Spielen aufgetreten ist, die Triathleten, die Gladiatoren. Die christlichen Zuschauer dürfen ihren unersättlichen Blick (conspectum insatiabilem conferre) auf die richten, die gegen den Herrn gewütet haben, und die Genugtuung fühlen, den verhöhnten und geschändeten Jesus als Triumphator kommen zu sehen. Schließlich: „So etwas anzuschauen, über so etwas zu jubeln: Welcher Praetor oder Consul, Quaestor oder Priester wird dir das mit seiner Freigebigkeit bieten können?“ Dieses dürstende Interesse an der Gerechtigkeit hat auch die scholastische TheoTh logie des Mittelalters zu der Überzeugung angeleitet, es zähle zu den hauptsächlichen Seligkeitserfahrungen im Himmel, dass die Gerechten vom Himmel in die Hölle schauen können und in untrüglicher Evidenz miterleben, wie das Gericht Gottes an den Verdammten vollzogen wird. Die Augen verlangen nach dieser Freude, man will die Gerechtigkeit erleben als geschehende, in der genauen Umkehr der Rollen, die im
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Spiel der Weltgeschichte auft ftreten. Mit diesem Thema ist die christliche Religion seit eh und je befasst, in verwandelter Form auch heute noch.
Süße Rache? Schnelles Moralisieren gegen die Vehemenz Tertullians ist ebenso wenig überzeugend wie das Pathos in der heutigen Atmosphäre. Einerseits darf nur ja kein Fädchen Rache im Gewebe des modernen Gerechtigkeitsdenkens sichtbar werden. Die humane Pädagogik wendet sich mit aller Aufmerksamkeit den Tätern zu, um sich in der Wohltat der Umerziehung zu üben. Andererseits sitzt wie in jedem Bewusstsein, also auch im heutigen, modernen, die spontane Vergeltungserwartung. Kennt man nicht die Genugtuung, wenn es heimkommt auf die Köpfe derer, die das Unrecht verübt haben? Beispiel: Heute will man gleichzeitig alle Rechts- und Strafmittel gegen SS- und Nazi-Verbrecher ausschöpfen und anwenden. Man schreibt von der Unverzeihlichkeit ihrer Taten und verübt mit besonderem Fleiß die damnatio memoriae,, die heutige Form der Sprachverdammnis in der strikten Verpfl flichtung der öff ffentlichen Mitteilung auf die härteste Negativsprache, die kein verstehendes Wort erlaubt. Die Stimmung in der säkularen Welt ist sehr zwiespältig gegenüber den globalen Bösewichten. Versuchen Sie zur Probe in der heutigen Öff ffentlichkeit laut den Satz zu sagen: „Hitler hat auch seine guten Seiten gehabt.“ – Sie werden sehr klare und simple Reaktionen erleben. Ließe Gott in geheimer Abstimmung von der Weltbevölkerung entscheiden, wohin der Mann aus Braunau gehören soll, eine satte Mehrheit würde für die Hölle sprechen; oder, wenn es irgendwie ginge, für die totale Ausmerzung dieses Individuums aus den Annalen der Menschheit überhaupt. Ist nicht im heimlichen Gefühl die Rache immer noch Rache und immer noch süß? Nicht nur der Himmel, auch die Hölle ist das Ziel der ins Jenseits gerichteten Wünsche. Seligkeit in Gott und Freude am Jüngsten Gericht haben mit der Kunst Gottes zu tun, das Recht geschehen zu lassen. Die Gewissheit, dass es eine Hölle gibt, die saubere Trennung von gut und böse, löst kein geringes Glücksgefühl aus. Die in den innigsten Formen der Frömmigkeit immer wieder aufbrechende Genugtuung, dass Gott sichtbar richtet, die Täter, die man kennt – dies gehört zu den spezifi fisch religiösen Zufriedenheiten. Damit ist freilich noch nicht entschieden, wie Gott die Gerechtigkeit real herstellt. Die Tradition ist bis heute gespalten in die Meinung, dass im Gericht die Bosheit ihre ewige Gestalt – die Hölle – erhält, und der anderen Möglichkeit, dass die Kunst Gottes in der Lage ist, die Subjekte des Bösen so mit ihren Taten bekannt zu machen, dass sie ihr Böses spüren und sich für das Gute gewinnen lassen. Ob sich im Lauf der gegenwärtigen Missbrauchsdebatte auch auf diesem Feld Änderungen ergeben werden, lässt sich kaum prophezeien. Die Stimmungen fahren gerade im religiösen Ambiente wild durcheinander.
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Nützliche Hölle Es ist jetzt nicht möglich, in angemessener Ausführlichkeit davon zu sprechen, aber wenigstens deutlich genannt sei ein dunkler Komplex in der Überlieferung der Frömmigkeit. Die Kirche hat in ihrer Predigt und in ihrer Praxis die Jenseits-Gerechtigkeit vielfach instrumentalisiert. Die Ausnutzung des Wissens um Hölle und Verdammnis zugunsten irdischer Interessen war zuweilen ein erfolgreiches Geschäft ft. Da wäre jetzt zu berichten vom konkreten Gegenglück: der Angst, vom seelischen Terror der Geistlichen, vom angemaßten Einblick in die faktischen Urteile Gottes,11 von der Infl flation der schweren Sünden, von der Herrschaft ft über die Seelen von der Kanzel herunter und aus dem Beichtstuhl heraus. Da stand das Glaubensgefühl die längste Zeit unter dem Leitgedanken, dass Gott in seiner ewigen Verfügung die Menschheit geteilt, die überwiegende Mehrheit für die Hölle und eine geringe Minderheit für den Himmel bestimmt habe, von vorneherein, ehe noch eine gute oder eine böse Tat getan war. Hans Urs von Balthasar hat in diesem Zusammenhang von der „furchtbaren Verfi finsterung des christlichen Glaubens [gesprochen], unter der der mittelalterliche und reformatorische, aber auch noch der gegenreformatorische Mensch – ganz im Gegensatz zum Menschen des Urchristentums und der Väterzeit – unsäglich gelitten hat“.12 Das Jenseits kann auch das Arsenal der Drohungen sein, in dem sich die seltsamsten Seelsorger bewaff ffnen. Es ist ganz leicht zugänglich, ohne Aufschrift ft, die vor seiner Gefährlichkeit warnen könnte.
Ungeduldige Himmelfahrt In der Gegenwart gibt es eine aktuelle Version des jenseitigen Glücks: das schnelle Glück im Paradies oder die maximale Beschleunigung des Aufbruchs fb dahin. Dazu ein sehr weit herbeizitiertes Beispiel: Josephus Flavius (37 / 38–100 n. Chr.), jüdisch-hellenistischer Historiker, erzählt in seinem Geschichtswerk über den Jüdischen Krieg von der Rede, die der römische Caesar Titus seinen Legionären vor dem Sturm auf die Burg Antonia in Jerusalem gehalten hat. Darin habe er unter anderem gesagt, er wolle keinen Hymnus auf den Tod in der Schlacht und die Unsterblichkeit anstimmen, aber er wünsche denen, die anders denken: „den friedlichen Tod auf dem Krankenbett, wo mit dem Körper auch die Seele zum Grab verurteilt ist. Welcher Tapfere wüßte nicht, daß die auf dem Schlachtfeld durch das Schwert vom Leibe befreiten Seelen das reinste Element, der Äther, aufnimmt und unter die Sterne versetzt, von wo sie als gute Geister und gnädige Heroen ihren Nachkommen erscheinen, während die in kranken Körpern dahinsiechenden, wenn sie auch noch so rein wären von Sünden und Befl fleckung, die Nacht der Unterwelt verhüllt, wo tiefe Vergessenheit sie umfängt, und Leib, Leben und Gedächtnis ihnen auf einmal genommen wird?“13
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Und der römische General legt seinen Soldaten nahe, ein Vorteilskalkül anzustellen. Der Tod ist unvermeidlich über alle Menschen verhängt. In dieser Lage ist das Schwert ein erträglicherer Diener als irgendeine Krankheit. Daher zeuge es von unedler Gesinnung, wenn sich seine Krieger jetzt weigerten, ihr Leben dem allgemeinen Nutzen zu opfern, zumal ihnen das Schicksal des Todes sowieso vorbestimmt sei. Wenn das Paradies diese Wirklichkeit tatsächlich ist, die höchstmögliche, lustvollste Daseinsweise überhaupt, dann ist es wohl vernünft ftig, auf dem kürzesten und schnellsten Weg dahin zu gelangen. Die Explosion in ihrer abrupten Plötzlichkeit wird zur adäquaten Form, in der das Glück erreicht werden kann. Dieser naheliegende kurze Schluss lag wohl von Anfang an als Möglichkeit auch vor Augen der christlichen Gemeinden. Paulus refl flektiert im Brief an die Philipper (1,21–25) die Motivationslage und bringt das Für und Wider zur Sprache: „Für mich nämlich ist Christus das Leben und Sterben Gewinn. Soll ich aber im Fleisch weiterleben, so bedeutet das für mich fruchtbare Arbeit. Und was ich wählen soll, weiß ich nicht. Von beiden Seiten werde ich in Bann gehalten, habe ich doch das Verlangen, aufzubrechen und mit Christus zu sein. Denn das wäre um vieles besser. Am Leben zu bleiben ist notwendiger euretwegen. Im Vertrauen darauf weiß ich, dass ich bleiben und bei euch allen ausharren werde, um euch im Glauben zu fördern und zu erfreuen.“
Das religiöse Privileg der Märtyrer beschreiben die Quellen eindringlich, wie im 3. Jahrhundert n. Chr. ein Brief römischer Christen an Bischof Cyprian von Carthago in Nordafrika bezeugt.14 Da heißt es: „Denn welch höheren Ruhm oder welch größeres Glück könnte irgendeinem Menschen zuteilwerden als das [Martyrium].“ In langer Aufzählung werden die Vorteile genannt: – Im Martyrium darf der Christ die Welt verlassen, um dem Himmel zuzustreben. – Er trennt sich von den Menschen, um unter die Engel zu treten. – Alle weltlichen Fesseln werden zerbrochen und frei darf der Zeuge vor das Angesicht Gottes treten. – Er hat die Kraft ft, das Himmelreich ohne alles Zaudern festzuhalten. – Er wird ein Leidensgenosse Christi. – Durch die göttliche Gnade wird er selbst zum Richter erhoben. – In letzter Konsequenz wird der Märtyrer das Weiterleben in der Welt als den Verlust seines wirklichen Lebens betrachten. In der Argumentation des Paulus wird diesen Privilegien ein Gegengewicht hinzugefügt. Es wäre zwar um vieles besser, bei Christus zu sein, das irdische Leben auf der Stelle zu beenden, aber dieses Leben in der Welt hält ihn noch fest, das Arbeiten und Dasein in der Gemeinde verhindert den jähen, eigenwilligen Aufbruch. fb Die Christen, die wie der Apostel vom verlockenden Sein mit Christus reden, tragen kein Schwert. In ihrer Waff ffen- und Wehrlosigkeit wagen sie den schärfsten Konfl flikt im Kampf um den Glauben. Daher ist keine Rede von aktiver Paradieseroberung. Weder Mord noch Selbstmord sind erlaubte Mittel, um auf schnellerem Weg ans Ziel zu kommen. Dem
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Christen sagt das Gewissen: Dein Glück soll kompatibel sein mit dem Glück anderer. Das christliche Märtyrerprivileg steht unter dem Kreuz, dem führenden Symbol des Evangeliums. Die vom Jenseits ausgehende Motivation für irdisches Verhalten lässt kein eigenmächtiges Drängen zu, kein Herausfordern des Martyriums, auch keine Ungeduld, die den Lauf der Zeit eigenmächtig abbricht. Mit dem Leben in der aufregenden, kurzweiligen, wilden Welt ist ein großer Anfang gemacht. Alle Tage konfrontiert uns das Gespür der Religionen mit einem Überschuss an Glücks-Erwartung, die mit dem Aufwand an menschlicher Weltgestaltung nicht eingelöst werden kann. Nur ein großer Verlauf genügt für den Entwurf, ein ständiges Darüberhinaus in der Gewissheit eines freien Entgegenkommens aus der Sphäre der Gnade. Das wird also mehr sein als eine simple Fortsetzung, mehr als eine Wiederholung, nämlich eine unmessbare Überbietung, die unseren Glück-Wünschen gewachsen ist.
Anmerkungen 1 Greshake, Gottes Heil, 160. 2 Bloch, Das Prinzip Hoff ff nung, 1301. 3 Vgl. Heiler, Erscheinungsformen und Wesen der Religion, 516 ff.; ff Hoheisel, Artikel „Jenseits“, 318–326. 4 Heine, „Mich locken nicht die Himmelsauen“, 208. 5 Goethe, Faust. Der Tragödie Zweiter Teil, Fünfter ft Akt, Palast / Mitternacht, 199 f. 6 Vgl. Habermas, Theorie Th des kommunikativen Handelns. 7 „Viel hat von Morgen an, / Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, / Erfahren der Mensch; […]“ (Hölderlin, „Friedensfeier“, 346). 8 Kant, Das Ende aller Dinge, 184. 9 Vorgrimler, Artikel „Himmel“, 292. 10 Vgl. Tertullian, De spectaculis, 85 und 87. 11 Vgl. Pfi fister, Das Christentum und die Angst; Vorgrimler, Geschichte der Hölle; Minois, Die Hölle. 12 Balthasar, Verbum caro, 288. 13 Flavius, Geschichte des Judäischen Krieges, 421 f. 14 Vgl. Texte der Kirchenväter, 76.
Karlheinz Rossbacher
Glück in der Literatur1 Karlheinz Rossbacher Glück in der Literatur
Im Folgenden sei skizziert, wie vielfältig in der Literatur – mit ein wenig Philosophie und Psychologie – über Glück nachgedacht worden ist. Angelegt ist dies als eine Art Besichtigungstour. Im Einakter „Agonie“ aus dem Zyklus „Anatol“ von Arthur Schnitzler sagt Freund Max zu Anatol sinngemäß: Du bist seit längerer Zeit bedrückt, du hast einen „Wirrwarr von Einst und Jetzt und Später“ in dir, vergangene Liebschaft ften, jetzige Liebschaft ften, mir scheint, du bist krank, und Max sagt auch: „Werde gesund, Anatol!“ Und Anatol antwortet: „Es gibt so viele Krankheiten und nur eine Gesundheit! … Man muß aber immer genau so gesund sein wie die anderen – man kann aber ganz anders krank sein wie jeder andere!“ Die Grammatik gibt Anatol recht: Von „Gesundheit“ gibt es keinen grammatischen Plural. Von „Glück“ auch nicht, aber doch eine Vielfalt davon. Die Porträtsendung „Menschenbilder“ im Österreichischen Rundfunk (Ö 1) hatte lange Jahre hindurch den Untertitel „Die Sendung vom geglückten Leben“, seit einigen Jahren allerdings nicht mehr. Vielleicht haben die Sendungsmacher keine weiteren Menschen mit geglücktem Leben gefunden. Jedenfalls kam seinerzeit der Gedanke auf: Interessant, off ffenbar glückt nicht jedes Leben, sonst würde man geglücktes nicht so hervorheben. Hat der Philosoph Peter Sloterdijk recht mit seiner These, Th „die schweigenden Mehrheiten aller Zeiten leben im Konsensus des mittleren Unglücks“2, aus dem, so mag man zur Gegenwartsliteratur hin assoziieren, ein wunschloses werden kann? Gemeint ist natürlich der biographische Roman „Wunschloses Unglück“ von Peter Handke, wo es über das Leben der Mutter des Erzählers, oft ft zitiert, heißt: „[…] anderes gab es ja nicht. Selten wunschlos und irgendwie glücklich, meistens wunschlos und ein bißchen unglücklich.“ Stimmt es, dass solche Menschen auch die Hauptmasse moderner Gesellschaften ft ausmachen und „die Klientel der psychologischen und philosophischen Dienstleistungen im gegenwärtigen TherapieTh und Be3 ratungsbetrieb“ und – fügen wir hinzu – Coaching-Betrieb bilden? In der 1930 veröff ffentlichten Abhandlung „Das Unbehagen in der Kultur“ fragt Sigmund Freud, was wohl die Menschen als Zweck und Absicht ihres Lebens wollen. Die Antwort, schreibt er, sei kaum zu übersehen: „Sie streben nach dem Glück, sie wollen glücklich werden und so bleiben.“ Freud spricht hier von Glück im Sinn des Lustprinzips, das mit der Befriedigung „aufgestauter Bedürfnisse“ zu erreichen sei.
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Dauerndes Glück sei jedoch nicht möglich. Es folgt der berühmte Satz: „[…] man möchte sagen, die Absicht, daß der Mensch ,glücklich‘ sei, ist im Plan der ,Schöpfung‘ nicht enthalten.“4 („Glücklich“ und „Schöpfung“ setzte Freud selbst in Anführungszeichen.) Aber ganz ausgeschlossen hat Freud das Glücklichsein doch nicht, denn ein bekannter Satz aus der Abhandlung „Der Dichter und das Phantasieren“ setzt irgendwie doch glückliche Menschen voraus: „Der Glückliche phantasiert nie […].“5 Das meint, glückliche Menschen verspüren nicht das Bedürfnis zu imaginieren, d. h. Tagträumen nachzugehen, zu dichten, zu lesen, zu schreiben. Diesen Ansatz findet man auch bei Imre Kertész, dem ungarischen Nobelpreisträger für Literatur des Jahres 2002, der in seinem „Galeerenbuch“ festgehalten hat: „Das glückliche Leben ist ein einfaches Leben: demzufolge stumm. Die Menschen reden – anders als etwa die Vögel – zumeist über ihre Nöte.“6 Das meint auch, die Dichter reden, wenn sie schreiben, wohl eher über Nöte, seltener über Glück. Was bleibt uns, samt den Dichtern, zu tun? Wir könnten zum Beispiel beim amerikanisch-ungarischen Psychologen Mihaly Csikszentmihalyi nachsehen, der in seinen Forschungen der Natur der „optimalen Erfahrung“ nachgegangen ist. Sein bekannt gewordenes Werk heißt „Flow“, die deutsche Übersetzung schreibt im Untertitel „Das Geheimnis des Glücks“, was gegenüber dem Original-Untertitel „Th The Psychology of the Optimal Experience“ allerdings etwas unseriös klingt. Die unserem Thema näherliegende Antwort ist bei Alexander von Villers (1812–1880) zu finden, dem Verfasser exzeptioneller Briefe des 19. Jahrhunderts, die im Rang literarischer Kunstwerke stehen („Briefe eines Unbekannten“). In einem davon schrieb Villers: „In das Menschenglück hat einmal ein großer Wind geblasen, das ist auf und davon; aber ganz kleine Freuden sind genug auf die Erde gefallen, wie Blätter vom Baum. Da heißts auflesen fl 7 und sich bücken. Das wollen wir tun.“ Das sei auch hier versucht, in einer gewissen übersichtlichen Gruppierung. Fangen wir an mit Fragen von Waltraud Prothmann, einer Psychoanalytikerin aus Salzburg: „Also wie ist das nun? Werden wir zum Glück geboren oder nicht? Ist die Suche nach dem Glück einfältig, sinnlos und vergebens? Ist das Glück außerhalb von uns oder in uns? Flieht es uns, wenn wir es suchen, oder ist es der Lohn für Güte, Tüchtigkeit und Geschick? Gibt es Regeln für das Glück? Hat es Tücke, hat es Maß? Nimmt man es erst wahr, wenn es sich mit großem Getöse verabschiedet?“8 Bei Franz Schubert (Text Georg Philipp Schmidt) heißt es: „Da, wo du nicht bist, ist das Glück.“9 Das ist eine Position der Romantik, zu beziehen auf individuelles Glück oder NichtGlück. Fragt man aber nach der Möglichkeit kollektiven Glücks oder GlücklicherWerdens, so begegnet man dem Gedanken, die Verabschiedung des Fortschrittsgedankens, ob im Gefolge der Aufk fk lärung oder im Gefolge menschheitsverbessernder Ideologien, habe die Idee vom Glück für viele beschädigt. Beim Kulturwissenschaftler ft Hartmut Böhme lesen wir: „Die historische Dynamik der Rationalität, der wir jahrhundertelang vertraut haben, scheint erschöpft. ft Immer ferner rückt die Utopie des Glücks.“10 Darauf ist noch zurückzukommen.
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Die Vorstellung vom Glück ist dauerhaft ft. Goethe verlegte sie in die „Persönlichkeit“, d. h. die bekanntlich keineswegs jedermann / frau mögliche allseitige Ausbildung aller Anlagen und Seelenkräft fte. Arthur Schopenhauer, Begründer des weltanschaulichen Pessimismus in der Philosophie, gab es bescheidener: „Das Glück ist das Aufhören fh von Leiden.“11 Eindrucksvolle Vorstellungen von Glück, und keineswegs unerreichbare, findet fi man bei Albert Camus: „1. Das Leben im Freien. 2. Die Liebe zu einem Menschen. 3. Die Loslösung von jedem Ehrgeiz. 4. Die schöpferische Tätigkeit.“12 Wenn wir davon beeindruckt sind, müssen wir uns allerdings daran erinnern, dass Albert Camus auch den Stellenwert des Absurden in der menschlichen Existenz des 20. Jahrhunderts beschrieben hat. Seine berühmte Abhandlung „Der Mythos von Sisyphos“, die er 1942, also im Zweiten Weltkrieg, verfasst hat, endet mit dem oft ft zitierten Satz: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ Sisyphos, der in der griechischen Mythologie dazu verdammt ist, einen Stein auf einen Berggipfel zu wälzen, ihn dann wieder herabkollern zu sehen und ihn aufs Neue zu wälzen, ist nur dann, mit Camus, überhaupt als glücklicher Mensch zu verstehen, wenn man die Philosophie des Existenzialismus dazu denkt, mit der Vorstellung, dass wir ins Sein geworfen sind, ohne dass unser Wesen für erfolgreiche Sinnsuche ausreicht. Aber Sisyphos hat seinen Stein, er akzeptiert ihn, er gehört ihm. Nichtsdestoweniger relativiert das doch Camus’ „Voraussetzungen des Glücks“ beträchtlich, ohne dass sie uns deshalb weniger ansprechen. Ein Stück Semantik bzw. Etymologie: „Im Glück sein“ (beatitudo, happiness) ist zu unterscheiden von „Glück haben“ (fortuna, luck). Und sogar da gibt es Nuancen in der deutschen Sprache, die, natürlich sprechsituationsabhängig, Unterschiede deutlich machen. Das kann man an einer bekannten Anekdote zeigen, in der ein deutschsprachiger Jude, Exilant in New York, auf die Frage, ob er happy sei, antwortet, ja, happy sei er, aber glücklich sei er nicht. Er hat fortuna gehabt, er war lucky enough, den Nationalsozialisten entronnen zu sein, ist nun happy, aber Glück / beatitudo ist halt doch etwas anderes, erst recht im Exil. Die Vorstellung von der launischen, blinden Göttin Fortuna, die wandelbar ist wie der Mond oder das Glücksrad dreht, ist alt. Sie findet fi sich zum Beispiel im Eingangschor der „Carmina burana“ von Carl Orff ff („O Fortuna / velut luna / semper variabilis“). Das sich drehende Glücksrad hat eine wohlbekannte Entsprechung im Rad des Roulette oder in den sogenannten „einarmigen Banditen“, beide stellvertretend für Glücksspiele überhaupt. Wer eine Vorstellung von der Macht der Göttin Fortuna erhalten will, gegen die heute ja bereits Anti-Sucht-Programme mobilisiert werden, begleitet von der Bemühung, der Glücksspiel-Sucht den Status einer (therapierbaren) Krankheit zuzuerkennen, sollte Fjodor Dostojewskis Roman „Der Spieler“ (1867) lesen. In diesem Roman, er spielt in einer deutschen Stadt namens Rulettenburg, erhält man, auf dem Weg über die Schilderung eines Spielerdaseins – Dostojewski selbst war einer –, eine Vorstellung vom Kampf um die Gunst der Göttin, einem Kampf, der zum Un-Glück, zur Selbstzerstörung führt. In diesem Zusammenhang überrascht eine Erkenntnis der empirischen Sozialforschung, dass
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nämlich von Glücksspielen nicht etwa die „Faulen und Arbeitsunlustigen“ besonders fasziniert sind, sondern überdurchschnittlich oft ft und viele zufriedene, langfristig planende Menschen.13 „Ich hatte Glück.“ So endet eine Reflexion fl von Max Frischs Romanfi figur Gantenbein (als Enderlin), der um ein Haar auf Glatteis eine Gruppe von elf Schulkindern niedergefahren hätte.14 Dies ist eine der Geschichten, von denen der vorgeblich blinde Gantenbein sagt, er probiere sie an (bzw. aus) „wie Kleider“. Es ist eine erzählte Fassung der Redewendung „(Glücks-)Schwein gehabt!“ Auf der Straße stand eben zufällig die Göttin und dirigierte Gantenbeins Lenkrad. Der wiederum realisiert das erst wirklich, als er im Gasthaus einen Kirschschnaps trinkt. Auf Glücksempfi findungen, wie kurz auch immer, stößt man in vielen Werken der Literatur. Eine Konstante dabei ist, auch wenn es nicht so formuliert ist, die Abwesenheit von Selbstsorge. Damit kann man einen Zustand bezeichnen, in dem literarische Figuren als in einem Paradoxon befindlich fi beschrieben werden: in einem Zustand, in dem sie von sich und dem Bewusstsein, ein Ich zu haben, absehen können und nicht nur frei von Lebenssorge, sondern auch, das ist das Paradoxe, frei von dem Drang nach Glücklichwerden sind, weil sie im Glück sind. „Glücklich wer nichts von sich bemerkt“15, meinte der im Juni 2008 verstorbene Hamburger Lyriker Peter Rühmkorf, denn das Ich lebt normalerweise in der Selbstsorge. Die Figur des Hanno Buddenbrook in Thomas Manns Roman erfährt einen solchen Zustand in den Ferien am Ostseestrand, wobei er, der von Thomas Mann als letzter Buddenbrook gezeichnet ist, allerdings am ersten Tag dieser gleichsam ozeanischen Selbstvergessenheit bereits ihr Ende fürchtet. Robert Musils Figur Azwei aus der Erzählung „Die Amsel“ (veröffentff licht 1936) erzählt der Figur Aeins von solchen enthobenen Augenblicken sogar im Ersten Weltkrieg, als er an der Gebirgsfront im Schützengraben unter einem glänzenden Sternenhimmel liegt, „in Entzücken“ schwimmend. „Dann hielt ich es manchmal nicht aus und kroch vor Glück und Sehnsucht spazieren; […].“16 Hermann Hesse hatte ein ähnliches Erlebnis als Zehnjähriger.17 Im Kunsterlebnis wiederum kann man von der sonst kaum je schlummernden Selbstsorge befreit sein, weil man in ihm das Individualisiertsein vergessen kann. Theodor Fontane hat es indirekt wiedergegeben, in einem Brief an seine Tochter Mete: „Neulich fand ich in der Sonntagsbeilage [der „Vossin“ (= die „Vossische Zeitung“)] einen hübschen Aufsatz von einem Berliner Gymnasial-Direktor, Franz Kern […]. Nun, dieser Franz Kern schrieb ungefähr: ,Die schönste Wirkung eines Kunstwerkes auf uns, namentlich beim Lesen einer Dichtung, ist die, daß wir uns dabei vergessen.‘“ Fontane, weiter diesen Gewährsmann reportierend: „Die Sprache, immer tiefsinnig, nennt dies ,sich verlieren‘ und drückt damit das Höchste aus, das uns zu Theil Th werden kann. Auch das höchste Glück. Denn dies gerade liegt in dem ,sich verlieren‘. In unserm gewöhnlichen Zustande sind wir immer nur mit unserm Ich beschäft ft igt, das wir befriedigen wollen, und je mehr wir danach ringen, je weniger fühlen wir uns befriedigt, je unglücklicher werden wir. Denn das Ich und wieder Ich ist unser Leid, unser Druck, unsere Qual. Und nun treten wir an ein Kunstwerk heran und verlieren uns darin! Das ist Erlösung vom ,ich‘, Befreiung, Glück.“18
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Ob Hanno Buddenbrook oder Azwei als literarische Figuren oder Theodor Th Fontane in einer Refl flexion: Glücksempfi findungen sind etwas dem persönlichen Leben Hinzugegebenes. Aber in der langen Geschichte des Nachdenkens über Glück gibt es immer auch den Versuch, das Glück aktiv zum Bleiben zu veranlassen. Es sind die Anleitungen, sein Glück zu machen, aber nicht, wie es doppeldeutig im Englischen heißt, „to make one’s fortune“, nicht als Vermögen / Geld, sondern als ethische und Beständigkeit verheißende Arbeit an sich selbst. Lucius Annaenus Seneca, Erzieher, dann auch Berater Kaiser Neros, von diesem schließlich zum Selbstmord gezwungen, war der stoischen Ethik verpflichtet, fl hielt Vernunft ft, Urteilskraft ft und gute „Befreundung“ mit den Verhältnissen für Faktoren, die zu persönlichem Glück führen.19 Kaiser Marc Aurel, Epiktet und andere Philosophen haben ähnliche Gedanken vertreten. Leben in fl flachen Aff ffektkurven, wie der Kultursoziologe Norbert Elias sie als Ergebnis des Prozesses der Zivilisation beschrieben hat (allerdings auch mit psychischen Kosten), wären dabei nur der Anfang.20 Immerhin: Die Lebensleitlinie, der Leitspruch des ehemaligen österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky, den er bereitwillig des Öfteren ft im Fernsehen verkündet hat, war ein Distichon des römischen Dichters Horaz: „Den Gleichmut wahr dir mitten im Ungemach, / wahr’ ihn dir desgleichen, lächelt dir hold das Glück.“ Dass solche Lebenseinstellung unter ungünstigen Umständen die Psyche rebellieren machen kann, davon steht bei Horaz nichts. Es scheint überhaupt so, als provoziere das Nachdenken über Glück einseitige Positionen, zum Beispiel bei der dänischen Schrift ftstellerin Tanja Blixen, der Verfasserin von „Out of Africa“ (in der Verfi filmung „Jenseits von Afrika“). Für sie, das hat bei ihrem Lebensgang natürlich eine gewisse Folgerichtigkeit, waren Mut und die Risikobereitschaft ft, auch Un-Glück hinzunehmen die Voraussetzungen von Glücklich21 ft erweist sich das zum Sprichwort gewordene Dikwerden. Als ziemlich dauerhaft tum von Appius Claudius Caecus, wonach jeder „seines Glückes Schmied“ sei: „Suae quisque fortunae faber est.“ Aber ausgerechnet Max Frischs Romanfi figur „Homo faber“ (1957), ein Techniker, der alles im Leben für machbar hält, muss ein kurzes Glück in der Liebe mit seiner Tochter (Inzest, was er nicht wissen kann) mit Tod und Todeskrankheit büßen. Für den Landsmann Max Frischs im 19. Jahrhundert, Gottfried Keller, bekennender Atheist und Anhänger des Christentum-Kritikers Ludwig Feuerbach, waren Leit-Tugenden der Aufk fk lärung noch nicht diskreditiert. In seiner Novelle „Jeder ist seines Glückes Schmied“ treibt er seiner Figur John Kabys alle Flausen und Träume von einem schnellen Glück durch günstige Heirat aus und führt ihn in ein Leben mit Arbeit und Rechtschaff ffenheit als gute Voraussetzungen für Lebensglück. So also kann man, meinte der Realist Keller, die launische Fortuna am ehesten zum Bleiben einladen und von „luck“ auf „happiness“ schalten. Carl Zuckmayer, einer der erfolgreichsten Dramatiker des 20. Jahrhunderts, hat gleich zu Anfang seiner Autobiographie „Als wär’s ein Stück von mir“ (1966) geschrieben: „[…] die einzige dauerhaft fte Form irdischer Glückseligkeit liegt im Bewußtsein der Produktivität.“
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Es ist überhaupt erstaunlich, wie oft ft in der Literatur Aktivsein und Arbeit genannt werden, wenn es um den Versuch geht, Glück dauerhaft fter zu machen. Beim Physiker und Workaholic Robert von Lieben (1912 jung gestorben, quasi ein Franz Schubert der Physik), dem Erfinder fi der für die Radiotechnik bahnbrechenden Lieben-Röhre, bei dem Hugo von Hofmannsthal einen engen Zusammenhang von Berufsarbeit und Lebensglück ortete,22 mag einen das nicht wundern. Aber lange vorher, im 16. Jahrhundert, äußerte Michel de Montaigne sich ähnlich und lange danach, im 20. Jahrhundert, auch André Gide.23 Johann Wolfgang Goethe, natürlich darf er hier nicht fehlen, arbeitete während seiner ersten zehn Jahre in Weimar in der herzoglichen Regierung wie ein Pferd, verschafft ffte sich eine fast zwei Jahre dauernde Auszeit, war in Italien als Schauender und Dichtender produktiv und glücklich. Im Alter aber meinte er zu Johann Peter Eckermann, dass er zwar für einen vom Glück begünstigten Menschen gehalten werde, dass er es aber alles in allem auf kaum drei Wochen entsprechendes „Behagen“ gebracht habe. Wir dürfen ihm das nicht so ohne Weiteres glauben. Goethe lebte, wenn auch nicht mit der Uhr in der Hand, nach einem Prinzip, das er aus der Beobachtung der Natur, dem Wechsel der Jahreszeiten, dem Wetter ebenso wie dem Wachstum der Pfl flanzen, aber auch seinem eigenen Leben mit der Selbstbeobachtung seiner Schaff ffens- und Ruheimpulse ableitete: Systole und Diastole, Einatmen und Ausatmen, Konzentration und Loslassen. Es ist interessant, wie, wohl ohne Anlehnung an Goethe, dieses Prinzip bei Georg Forster ein Glücksfaktor ist. Forster war Teilnehmer an Kapitän James Cooks Weltumseglung (1769–1771), war später, wie sein Freund Friedrich Hölderlin, Sympathisant der Französischen Revolution. Im Jahr 1787 schrieb er in der Abhandlung „Cook, der Entdecker“: „Glücklich sein, scheint […] wenigstens in der einzigen Welt, die wir kennen, einen Zustand zu bezeichnen, wo Arbeit und Ruhe, Anstrengung und Ermattung, Begierde und Befriedigung, Wollust und Schmerz, Freude und Leid miteinander wechseln, wo aber die frohen Augenblicke des Genusses zu neuer Thätigkeit reizen, und lebenslang die möglichste Entwicklung aller physischen und sittlichen Kräft fte befördern.“
Der letzte Satz dieses Abschnitts: „Die Extreme einer zu heft ftigen Erschöpfung und einer gänzlichen Befreiung von aller Mühe ersticken beide die Tätigkeit und machen nicht glücklich.“ In diesem Satz hat Georg Forster Erkenntnisse der heutigen StressForschung vorweggenommen: „burn out“ einerseits, Untätigkeits-Stress andererseits. Beide sind Glücks-Killer. Natürlich haben Dichter auch über menschliche Beziehungen als Glücksstifter ft nachgedacht. Das ist allerdings ein Bereich, in dem jeder Mensch selbst direkt zuständig ist. Aber es ist doch sehr bemerkenswert, dass in Johann Wolfgang Goethes berühmtem Gedicht „Willkommen und Abschied“ Lieben wichtiger erscheint als Geliebtwerden, weil Goethe im Lieben die „Götter“ im Spiel sieht bzw. fühlt. Johann Nepomuk Nestroy zeigt seine Souveränität, dem Wortspiel Wahrheiten anzuvertrauen, in dem Ausspruch: „Verdoppeln läßt sich das Glück nur, wenn man es teilt.“24 Liebende wissen das.
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Die österreichische Lotto-Gesellschaft ft hat einen Glücks-Berater angestellt; sein Name ist Populorum. Seine Aufgabe ist es, die „Glücklichen“ mit sechs Richtigen zu beraten, damit sie sich mit dem vielen Geld nicht unglücklich machen, wie allzu oft ft geschehen. Das rührt an den Zusammenhang von Glück und Geld. Dass Geld allein nicht glücklich macht, wird kaum jemand bestreiten, denn gemeint ist im Sprichwort, sehr viel Geld zu haben und sonst nichts. Und wer hat schon sehr viel Geld und sonst nichts? Aber einem deutschen Verfasser von Lustspielen, Curt Goetz, fiel der gegensätzliche Ausspruch ein: „Geld allein macht nicht unglücklich.“25 Also ist es wohl eine Kunst, über Geld und Haben-Wollen etwas Tiefsinnig-Hintergründiges, Skeptisches und Witziges zugleich zu schreiben. Deshalb sei hier das Gedicht „Das Ideal“ von Kurt Tucholsky – bedeutender Schrift ftsteller der Weimarer Republik – wiedergegeben: „Ja, das möchste: Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse, vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße; mit schöner Aussicht, ländlich-mondän, vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn – aber abends zum Kino hast dus nicht weit. Das Ganze schlicht, voller Bescheidenheit: Neun Zimmer, – nein lieber doch zehn! Ein Dachgarten, wo die Eichen drauf stehn, Radio, Zentralheizung, Vakuum, eine Dienerschaft ft, gut erzogen und stumm, eine süße Frau voller Rasse und Verve – (und eine fürs Wochenend, zur Reserve) –, eine Bibliothek und drumherum Einsamkeit und Hummelgesumm. Im Stall: Zwei Ponies, vier Vollbluthengste acht Autos, Motorrad – alles lenkste natürlich selber – das wär ja gelacht! Und zwischendurch gehst du auf Hochwildjagd. Ja, und das hab ich ganz vergessen. Prima Küche – erstes Essen – alle Weine aus schönem Pokal – und egalweg bleibst du dünn wie ein Aal. Und Geld. Und an Schmuck eine richtige Portion. Und noch ne Million und noch ne Million. Und Reisen. Und fröhliche Lebensbuntheit. Und famose Kinder. Und ewige Gesundheit. Ja, das möchste! Aber, wie das so ist hienieden: manchmal scheints so, als sei es beschieden
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Karlheinz Rossbacher nur pöapö, das irdische Glück. Immer fehlt dir irgendein Stück. Hast du Geld, dann hast du nicht Käten, hast du die Frau, dann fehln dir Moneten – hast du die Geisha, dann stört dich der Fächer: bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher. Etwas ist immer. Tröste dich. Jedes Glück hat einen kleinen Stich. Wir möchten so viel: Haben, Sein. Und gelten. Dass einer alles hat: das ist selten.“26
Dazu fügt sich gut ein Kommentar Hugo von Hofmannsthals zu seinem lyrischen Drama „Das Kleine Welttheater“, das den Untertitel „Die Glücklichen“ trägt. Darin charakterisiert er – man kann dies als ernste Form dessen, was bei Tucholsky satirisch ist, auff ffassen – kurz seine Figuren, „von denen jede auf ihre Art glücklich ist, und jede auf verschiedene Art: durch das Haben, durch das Noch-nicht-Haben, durch das Gehabt-haben, durch das geträumte Haben – aber keine von ihnen ist besessen von dem niedrigen Haben-wollen“27. Der Aspekt der unvorhersehbaren Flüchtigkeit des Glücks sei übersprungen und nur darauf aufmerksam gemacht, dass diese allgemeine Erfahrung ihre Gestaltung sowohl im Volkslied („Das Glück is a Vogerl“), in der Dichtung bei Friedrich Hebbel, in Friedrich Schillers „Wallensteins Tod“ (Wallenstein war bekanntlich sternengläubig) und zum Beispiel auch in Max Frischs frühem Roman „Die Schwierigen“ gefunden hat. Ein sehr berührendes Beispiel gibt es von Ernst Jandl mit dem Titel „junger sperling“: Jandl fi xiert darin die Erfahrung, dass das Glück, als Vogerl, ja auch einmal zurückkommen kann, wenn auch nicht für immer: „mein bißchen lebensglück fliegt zu mir zurück es liegt in meiner hand als zitternd unterpfand für die dräuenden beschwerden. und es will abend werden.“28
Jandl bezieht sich am Ende auf die Beschwerden des Alterns einerseits, intertextuell auf das Neue Testament andererseits: Herr bleibe bei uns, denn es will Abend werden. „Glücklich ist, wer vergißt, / was doch nicht zu ändern ist.“ Damit haben in der Operette „Die Fledermaus“ die Librettisten Carl Haffner ff und Richard Genée eine Zeile vorgelegt, die durch die Vertonung durch Johann Strauß Sohn berühmt geworden und
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geblieben ist. Sie wird gerne im Zusammenhang mit einer tatsächlichen oder propagierten österreichischen Leichtlebigkeit zitiert, ebenso wie mit einer tatsächlichen oder auch etwas zu leichthin beschworenen österreichischen Geschichtsvergessenheit. Weitergeführt wird dieser Gedanke in der Operette „Im Weißen Rössl am Wolfgangsee“ von Ralph Benatzky und Hans Müller / Erik Charell, in der das Glück plötzlich vor der Tür steht und zum Vergessen der Sorgen aufruft ft. Und sogar noch beim Anzweifeln ihrer Gültigkeit beweist die Aussage ihre Zählebigkeit: Am Ende von Heimito von Doderers großem Roman „Die Strudlhofstiege“ greift ft der Amtsrat Zihal den Satz aus Strauß’ Operette auf, widerlegt ihn zwar irgendwie, bestätigt ihn letztlich irgendwie doch, tut es mit etwas Charakteristischem: mit dem Amtsschimmel-Deutsch des österreichischen Bürokraten. So klingt Glücklichsein auf Bürokratisch: „,Glücklich ist nicht‘ (so hat der Amtsrat am Ende zusammengefaßt), wer vergißt, was nicht mehr zu ändern ist; so etwas kann überhaupt nur in einer Operette vorkommen. Eine derartige Auff ffassung würde nicht weniger wie ein Unterbleiben der Evidenz bedeuten, beziehungsweise als solches anzusehen sein. Glücklich ist vielmehr derjenige, dessen Bemessung seiner eigenen Ansprüche hinter einem diesfalls herabgelangten höheren Entscheid so weit zurückbleibt, dass dann naturgemäß ein erheblicher Übergenuß eintritt.‘“
Anfangs wurde erwähnt, bei Sigmund Freud sei Glück im Bauplan der Schöpfung nicht vorgesehen, aber auch sein Satz „Der Glückliche phantasiert nie“ zitiert. Freud bezieht diesen Satz auf diejenigen, denen, anders als dem Dichter, das Träumen, Tagträumen und Imaginieren – hinzugefügt sei: das Schreiben und Lesen – fremd sind. Noch einmal Imre Kertész: Glück mache eher stumm, außer bei den Vögeln, die heft ftig tirilieren, wenn sie das Leben genießen. Beim Menschen, auch das ist gemeint, erzeugt Glück im Allgemeinen keine große Literatur. Durchlaufen nämlich Schriftsteller ft Phasen von Glück, schreiben sie kaum etwas. Das sehen wir bei Fernando Pessoa, dem Klassiker der portugiesischen Moderne („Das Buch der Unruhe“); bei ihm tritt ein Identitätswechsel ein, wenn er „eine Empfi findung transponierten Glücks“29 durchlebt. („Transponiert“ bedeutet bei Pessoa: Er verfügte über mehrere dichtende Ichs in sich; die Pessoa-Forschung spricht von Heteronymen). Wir sehen es auch bei André Gide: Sein Tagebuch ist leer während der Zeit, in der er „in einem Taumel des Glücks“ gelebt hat. Wenn aber dann Schreiben gelingt, stellt sich ein Ersatz-Glück ein. So ist auch Thomas Mann zu verstehen: „[…] die Rückkehr zur Arbeit als Ersatz für das Glück, so muß es sein.“30 Die Autobiographie-Forschung hat davon gesprochen, dass, wie es bei Max Frisch heißt, jeder Mensch sich früher oder später eine Geschichte erfindet, fi die er für sein Leben hält. In solchen Geschichten erscheint Kindheit häufi fig als glücklich. Ist dem zu trauen? „Sei glöcklich, du gutes Kind!“, sagt die Internatsleiterin Sesemi Weichbrod in Thomas Manns „Buddenbrooks“ zu ihren Zöglingen, aber die ironische Grundhaltung des Erzählers lässt uns wissen: So einfach ist das nicht. Der Roman trägt den Untertitel „Verfall einer Familie“, glücklich werden weder Tony Buddenbrook, noch ihre Brüder
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Thomas und Christian, am allerwenigsten der kleine Hanno (außer er ist vier Wochen am Meer, aber auch da muss er am Anfang der Ferien bereits an ihr Ende denken). Goethe hat um die Schwierigkeit gewusst, eine Kindheit ohne Stilisierung als glücklich zu bezeichnen, denn er hält nur jenen Menschen für glücklich – und er meint: bruchlos – „der das Ende seines Lebens mit dem Anfang in Verbindung setzen kann.“31 Johann Nestroy spricht zum Beispiel vom Glücklichkeitszwang, den man gerne an Kinder heranträgt: Du bist ein Kind, du musst doch glücklich sein.32 Peter Handke ist, was das betrifft fft, gegenüber seinem Gedächtnis argwöhnisch: „Eine ,glückliche Kindheit‘ verbringe ich erst in der glückenden Erinnerung (18. Januar).“33 Ein weiterer Aspekt: Von Goethe stammt in seinem bekannten Gedicht „Erinnerung“ der Rat, nicht immer weiter zu schweifen, sondern das Gute und das Glück dort ergreifen zu lernen, wo es bequem zu haben ist: „Denn das Glück ist immer da.“ Keine Frage: Goethe lernte nach der Italienischen Reise, wo er das entfernte Glück in der Form ergriff ff, dass er sich als Dichter quasi neu entwarf, auch jenes Glück zu ergreifen, wo es sich ihm, in Gestalt der Christiane Vulpius, darbot: zu Hause in Weimar. Bei Franz Grillparzer, dem sein Landesherr Kaiser Franz I., der seinen Zensoren nicht immer traute und Grillparzer gern einmal persönlich auf die Finger schaute, wurde, aus dem Geist des Biedermeier heraus, das nahe Glück auf der Bühne öffentlich. ff Aber die Zensoren konnten beruhigt sein: In Grillparzers Drama „Der Traum ein Leben“ wird der Held Rustan, ein ehrgeiziger junger Mann, im Traum gleichsam politisch aktiv und führt jene großen Taten aus, die ihn ihrerseits ins Verbrechen führen. Er empfiehlt fi nach dem Erwachen das „kleine“ Leben als Glück bringend (was übrigens Grillparzer privat nicht gelang). Die Verse sind wohlbekannt: „Eines nur ist Glück hienieden, Eins, des Innern stiller Frieden Und die schuldbefreite Brust. Und die Größe ist gefährlich, Und der Ruhm ein leeres Spiel. Was er gibt, sind nichtge Schatten, Was er nimmt, es ist so viel.“
Fast sieht es aus, als läge Heinrich Heine auf derselben Linie, aber wer Heine kennt, weiß, dass es bei ihm immer den Schwenk in die Ironisierung gibt: „Fliegt dir das Glück vorbei einmal, So faß es am Zipfel. Auch rat ich dir, baue dein Hüttchen im Tal Und nicht auf dem Gipfel.“34
Das ist durchaus als eine Satire auf die Erkenntnis des Grillparzerschen Rustan zu lesen. Den Preis des einfachen Glücks haben aber auch andere gesungen, ohne satirische Absicht. Das Glück, das einmal ein Wind verblasen hat, sodass nur mehr Stückchen davon aufzulesen sind, kennen wir schon von Alexander von Villers, aber auch
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zwei zu ihrer Zeit renommierte Pariser Großstädter, die Brüder Goncourt, wussten es zu schätzen (ein Rebhuhn essen, Salzluft ft am Meer atmen).35 Theodor Fontane, dem ein Roman mit dem Titel „Allerlei Glück“ vor Augen stand, den er dann leider nicht geschrieben hat, fasste es noch einfacher: „Gott, was ist Glück! Eine Griessuppe, eine Schlafstelle und keine körperlichen Schmerzen – das ist schon viel.“36 Inhaltlich nah an diesem Aspekt zieht sich durch Literatur und Philosophie die Frage, wie viel Außenwelt das Glück, oder zumindest die Glücksmomente, benötigen. Wie sich das in Poesie übersetzen lässt, möge eine Impressionskette der deutschen Schriftstellerin ft Iris Hanika veranschaulichen: Sie sitzt in einem Mövenpick-Rasthaus an der Autobahn, es ertönt das Lied „Walking in Memphis“: „und außerdem reden viele Leute viel Zeug, und darin bin ich plötzlich ganz abwesend, aber ganz da, weil alle Geräusche miteinander verschmelzen und ich dem Geschehen um mich herum nichts entgegenzusetzen habe, ohne dass mich das stören würde. Ich bin ganz bei mir, nichts geht durch mich hindurch, zugleich bin ich aber ganz verschmolzen mit den Dingen, bin selbst ein Ding, und die Geräusche bilden eine Schutzwand um mich herum, und ich bin ganz glücklich.“37
Nun zum Gegenteil der eben zitierten, ganz individuellen Bedeutungsschicht von Glück, zu jener, die das Glück aller betrifft fft, oder wie es Jeremy Bentham, der englische Aufk fk lärer und Utilitarist des 18. Jahrhunderts, formuliert hat: „the greatest happiness of the greatest number“ – das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl. Dies ist natürlich ein wichtiger Aspekt. Denn obwohl am Beginn das Zitat des Kulturwissenschaftlers ft Hartmut Böhme stand – „Immer ferner rückt die Utopie des Glücks. Die Träume des Fortschritts sind ausgeträumt“, sollte man doch über dem Gedanken, individuell nach Glück zu streben, die Idee von der Anhebung des Glückspegels für alle nicht preisgeben. Die Unabhängigkeitserklärung der USA von 1776, verfasst von Thomas Jeff fferson im Geist der Aufk fk lärung und der Menschenrechte, spricht davon, dass der Schöpfer die Menschen mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet habe, zu denen Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören. Also nicht das Glück selbst, sondern das Streben danach, „the pursuit of happiness“, gehört zu diesen Rechten, ist also ein sehr individuelles Recht, für das eine Regierung den öffentlichen ff Handlungsrahmen garantieren soll. Die Diskussion darüber, wie weit das Individuelle reicht und inwieweit die Regierung auf dieses Recht achten muss, oder eigentlich, im Sinn vieler Amerikaner, darf, hat nie aufgehört und ist eben wieder in vollem Gang. Der österreichische Kommunikationstheoretiker und Konstruktivist Paul Watzlawick, Laufbahn fb in den USA, gestorben in Palo Alto, Kalifornien, hat in seinem Noch-immer-Bestseller von 1983, „Anleitung zum Unglücklichsein“, Jeffersons ff Deklaration über das Streben nach Glück als Ammenmärchen bezeichnet, mit dem den Menschen eingeredet werden soll, dass das Streben nach Glück auch zum Glück führt.38 Ein österreichischer Schrift ftsteller, Alfred Paul Schmidt, hat in verschärft fter Form Ähnliches gemeint mit dem Bild, das Glück sei der Futtersack, der dem Esel vor die
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Schnauze gehängt wird, damit er ihm nachrennt, sprich, damit die Menschen bei strebsamer Laune bleiben.39 Fest steht, dass die beiden umfassenden, aber dann doch nicht umfassend genug wirkenden Ideologien des 20. Jahrhunderts kollektive Glücksversprechen, die Lösung von Weltproblemen, verwendet haben, um Gewaltherrschaft ft zu rechtfertigen: der Nationalsozialismus mit seinem Versprechen der Rassenreinheit, der real existierende Sozialismus mit der Diktatur des Proletariats. „Der Rückblick auf das totalitäre Zeitalter führt zu der Erkenntnis, dass gerade das maßlose Streben nach Glück, das eng mit dem Fortschrittsglauben verknüpft ft ist, die blutigen Katastrophen herbeigeführt hat.““40 Nach dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft ft trat dem Sowjetkommunismus ein freundlicherer Gegenspieler entgegen: die demokratische Warenproduktions- und Konsumgesellschaft ft. Beide Systeme, das gilt für den Kommunismus natürlich nur bis zur Wende von 1989, verschrieben ein Glücks-Gebot und Melancholie-Verbot, wie Günter Grass es formuliert hat: die Konsumgesellschaft ft mit dem Say-cheese-and-be-happy-Gebot im American Way of Life, die Sowjetunion mit der Drohung an nicht mitmachende und nicht mitlachende Systemkritiker, sie in psychiatrische Anstalten einzuweisen, was dokumentiert ist.41 Sowohl im kollektiven Glücks-Gebot als auch im kollektiven Melancholie-Verbot lauert die Gewalt. Abschließend sei gefragt: Sollte Gottfried Benn, der in der deutschen Literatur und in der europäischen Geistesgeschichte den Platz des Nihilismus bzw. des weltanschaulichen Pessimismus einnimmt, recht behalten, wenn er sagt: „Nein, die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks […]““42? Kann man, wenn man sich dies ständig vor Augen hält, den Alltag überhaupt bestehen, geschweige sich Zukunfts-Perspektiven ft für unsere Welt vorstellen? Oder sollten wir es kleiner geben und vorderhand, und immer wieder vorderhand, es mit Bobby McFerrin halten: „Don’t worry, be happy!“?
Anmerkungen 1 Der Vortrag bezieht sich fallweise auf einen Reader, der den Hörern der Ringvorlesung zuvor zugesandt worden war. Dieser Reader wiederum ist ein Extrakt aus einer Anthologie aus Gedichten, Kurztexten und Zitaten zum Thema. Vgl. Rossbacher / Tanzer, Glück. Der Beitrag ist eine veränderte Fassung eines Beitrags in: Darf’s ein bisserl mehr sein? Glück in der Kinder- und Jugendliteratur. Tagung des Instituts für Jugendliteratur in Schloss Puchberg bei Wels, 18.–22. August 2008. Hrsg. vom Institut für Jugendliteratur. Wien 2009, 4–12. 2 Sloterdijk, Weltfremdheit, 281. 3 Ebd., Anm. 2, 282. 4 Freud, Das Unbehagen in der Kultur, 208. 5 Ders., Der Dichter und das Phantasieren, 173. 6 Kertész, Galeerentagebuch, 64. 7 Villers, Briefe eines Unbekannten, 171 (Dezember 1877, an Graf Kalman Nako). 8 Prothmann, Das verdammte Glück. 9 Schmidt, Des Fremdlings Abendlied. 10 Böhme, Der Melancholiker.
Glück in der Literatur 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42
Arthur Schopenhauer, zit. in: Jung, Ein großer Psychologe im Gespräch, 194. Camus, Tagebücher 1935–1951, 82 (April 1939). Noelle-Neumann, Weich keinem Glücke nicht. Frisch, Mein Name sei Gantenbein, 22. Rühmkorf, Tabu I, 348. Musil, Die Amsel, 554. Vgl. Hesse, Glück, 894 ff ff. Fontane, Briefe, 102 (Brief an Mete, 27. Febr. 1891). (Hervorhebungen von K. R.) Vgl. Seneca, Vom glückseligen Leben, 5. Vgl. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, bes. Band 2, 369 ff. ff Tanja Blixen, zit. in: Bjoernvig, Der Pakt, 14 f. Vgl. Hofmannsthal, Robert von Lieben, 457. Vgl. Montaigne, Essais, 140; Gide, Aus den Tagebüchern, 387 (4. August 1935). Nestroy, Aus dem literarischen Nachlaß, 577. Curt Goetz, zit. in: Knapp, Wirtschaft ft in Zitaten: Geld, 45. Tucholsky, „Das Ideal“, 22 f. Hofmannsthal, Das kleine Welttheater, 625 (16. Juli. 1928, an Alma Mahler). Jandl, junger sperling. Pessoa, Das Buch der Unruhe, 47. Mann, Tagebücher 1949–1950, 218 (14. 07. 1950). Goethe, Maximen und Refl flexionen, 515. Vgl. Nestroy, Der Schützling, 13 f. Handke, Am Felsfenster morgens, 441. Heine, „O laß nicht ohne Lebensgenuß“. Vgl. Goncourt / Goncourt, Tagebücher, 319. Fontane, Allerlei Glück, 49 (Brief an Wilhelm Hertz am 13. 07. 1884). Hanika, Chronik, 544. Vgl. Watzlawick, Anleitung zum Unglücklichsein, 10. Vgl. Schmidt, Ein unkommoder Geselle, 121. Mannheimer, Fortschritt, 208. Vgl. Grass, Vom Stillstand im Fortschritt, 356. Benn, Wie Miss Cavell erschossen wurde, 1657.
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Wilhelm Genazino
Das Glück in glücksfernen Zeiten – Lesung und Gespräch mit Ulrike Tanzer
Lesung Wilhelm Genazino Das Glück in glücksfernen Zeiten
[…] Das Problem ist: Traudel will nun doch geheiratet werden. Nicht sofort, aber irgendwann schon. Ich räume ein, dass ich zu Beginn unseres Zusammenlebens eine „Eheschließung“ (Schon dieses Wort!) nicht völlig ausgeschlossen habe. Allerdings habe ich eher damit gerechnet, dass sich Traudels Ehewunsch mit den Jahren verlieren wird. Das Gegenteil ist der Fall. Meine Abwehrstrategie war zunächst, dass ich mich als ungeeigneten Ehekandidaten dargestellt habe. Immer wieder habe ich gesagt, dass es mir rätselhaft ft ist, warum eine Frau ausgerechnet mit mir verheiratet sein wolle. Ich habe sowohl über meine off ffene als auch über meine versteckte Schlamperei gesprochen, über meine Scheu vor Verantwortung, über meine katastrophalen Defizite fi als Handwerker, überhaupt über meine Unlust, mich um Belange der Urlaubsplanung, der gelegentlichen Kellerreinigung, der Fürsorge fürs Auto und so weiter zu kümmern. Traudel antwortet stets, dass ihr meine Mängel seit langem bekannt sind, dass diese aber keine Gründe seien, mit mir nicht verheiratet sein zu wollen. Danach machte ich ein Argument geltend, von dessen Subtilität ich überzeugt war. Ich sagte, dass ich mich von einer Ehe stark eingeschränkt fühlte; nicht faktisch eingeschränkt, sondern nur phantasiert eingeschränkt, aber eine phantasierte Einschränkung sei viel tückischer als eine wirkliche. Dann habe ich darüber geredet, dass der Sicherheitszugewinn, in dem sich verheiratete Frauen wähnen, eine Gespensterei sei, im Grund ein Wahn. Ja, sagte Traudel daraufhin, fh die Sicherheit der verheirateten Frau ist ein Wahn, aber nicht wahnhafter ft als dein Gefühl von der phantasierten Einschränkung. Daraufhin fh fiel mir nichts mehr ein. Sollen wir nicht beide unseren Wahn aufgeben, sagte Traudel, du deinen Wahn von der Einschränkung und ich meinen Wahn von der Sicherheit? Zerknirscht hielt ich den Mund, jedenfalls eine Weile. Dann fragte ich, was von der Ehe bleibt, wenn beide Partner auf ihre wahnhaften ft Strategien verzichten. Traudel schwieg lange. Jetzt, beim Abendbrot, sagt sie: Es gibt auch viele praktische Gründe, warum eine Ehe sinnvoll ist. Als Beispiel nennt sie: Stell dir vor, dir passiert
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etwas, ein Unfall irgendwo. Sagen wir, du sitzt in einer S-Bahn, die leider entgleist, du wirst schwer verletzt und landest in irgendeinem Provinzkrankenhaus. Ich erfahre davon erst in den Nachrichten, setze mich sofort ins Auto, weil ich nach dir sehen will. Ich finde heraus, in welchem Krankenhaus du bist, ich fahre los, nach zwei Stunden bin ich an Ort und Stelle, aber dann komme ich nicht rein. Der Pförtner fragt: Sind Sie mit dem Verletzten verwandt? Nein, wieso, sage ich. Dann darf ich Sie nicht zu ihm lassen. Nur Ehefrauen, Ehemänner, Kinder und Eltern dürfen zu den Verletzten, sagt der Pförtner. Jetzt steh’ ich dumm da. Ich darf nicht zu dir, weil ich nicht mit dir verheiratet bin! Weißt du, dass es derartige Vorschrift ften gibt? Nein, sage ich kleinlaut. Natürlich fühle ich mich jetzt (wie soll ich sagen) schachmatt. Gleichzeitig ist mein Widerstand gegen die Ehe noch stärker. Muss man sich verheiraten, weil man nur so die Bürokratie von Krankenhäusern überlisten kann? Dummerweise macht mir Traudel gerade jetzt einen albernen Vorwurf. Ich soll meine Hose nicht mehr so hässlich über den Stuhl werfen. Könntest du deine Hose nicht einmal ordentlich auf den Balkon hängen, und zwar mindestens eine Nacht lang, damit sie auch mal richtig auslüftet? ft Gegen meinen Willen verstumme ich, obwohl ich gleichzeitig froh bin, dass das Ehe-Th Thema erledigt ist, jedenfalls für den Moment. Es beginnt das, was ich eine innere melancholische Verwilderung nenne. Ich werde selbstmitleidig und jammerig, ich hänge meiner alten Überzeugung nach, dass es für mich besser gewesen wäre, in einer Hundehütte auf den Alpen zu leben, aber nein, du musstest dich an den Rockzipfel einer hübschen aufstrebenden Frau klammern, jetzt kriegst du die Quittung. Du musst dir sowieso mal wieder eine neue Hose kaufen! Und einen neuen Sakko dazu!, sagt Traudel. Ich will dich mal wieder in anderen Klamotten sehen! Ich bin an Kleidung kaum interessiert, sage ich mit bereits schwächer gewordener Stimme. Auch das weiß ich, sagt Traudel, dämpft ft ihre Stimme jedoch sofort ab, weil auch sie eine Abendverfi finsterung vermeiden will. Noch streiten wir uns zärtlich. Zum Zeichen, dass sie zu einem weiteren Themawechsel bereit ist, lobt sie plötzlich den Käse, den sie heute gekauft ft hat. Und wiederholt leider die Botschaft ft des Käsehändlers, die auch ich mir schon oft ft anhören musste: Der Ziegenkäse ist achtzehn Monate lang in einer Steinhöhle in den Pyrenäen gereift. ft Am liebsten würde ich aufb fbrausen, dass ich von den Sprüchen der Käseindustrie verschont bleiben möchte, aber auch ich will die fragile Stimmung nicht verderben. Ich kann trotzdem nicht verhindern, dass ich jetzt stiller und stiller werde, bis ich vollständig in meinem Innenraum angekommen bin. Dort bedauert mich niemand so kenntnisreich wie ich selbst. Die Leisigkeit, mit der ich neben Traudel sitzen bleibe und gleichzeitig verschwinde, wirkt auch auf mich unangenehm. Ich bin in einer Stimmung, in der ich kaum ertrage, dass es abends immer Abend wird und dass die Dunkelheit draußen auch in unsere Wohnung eindringt. Wie sonderbar es ist, dass Traudel die Verkommenheit meiner Hose bemerkt, nicht aber die Verkommenheit der Rosen, die in einer Vase auf dem Wandbord stehen und
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schon seit Tagen vor sich hindarben. Die Rosen werden erst fahl, dann papieren, dann faltig, schließlich welk. Traudel hält den Vorgang der Einschrumpfung der Rosen für romantisch und schön. Ich dagegen werde, wenn ich die immer mehr ihre Köpfe senkenden Rosen sehe, an Friedhöfe und Gräber erinnert, und daran will ich in der Wohnung nicht erinnert werden. Aber es ist mir nicht erlaubt, die ausgedienten Rosen wegzuwerfen, das ist allein Traudel vorbehalten. Sie möchte immer noch einen Tag länger und dann noch einen Tag länger die Verwelkung anschauen und dabei kitschige oder poetische Stimmungen durchleben. Erst wenn der Kitsch zu stinken anfängt, ist auch Traudel zum Handeln bereit. Bis dahin werden noch mindestens zwei Tage vergehen. […]1 […] Es ist ein Kennzeichen wirklicher Seelenscheu, wenn die Menschen über das Leben, das sie führen, nichts mehr sagen wollen, obwohl ihnen das Herz überfließt. fl Wo soll ich denn hin? Nicht weit von hier wird ein hässliches altes Haus mit der Abrissbirne abgeräumt. Merkwürdig erscheint mir, dass das Haus überhaupt jemals gebaut worden ist. Schon beim Bau hätte jedermann sehen müssen, wie scheußlich das Haus ist und dass es wegen dieser Scheußlichkeit eines Tages wieder verschwinden wird. Ich nähere mich dem Abrissbagger und schaue zusammen mit einigen Rentnern und Kindern den Arbeiten zu. Es sind festliche Augenblicke, wenn die Abrissbirne gegen blank dastehende Zimmerwände schlägt, bis diese zuerst bröckeln und dann in sich zusammensinken. Eine ältere Blumenfrau kommt vorbei und will Rosen verkaufen, aber sie hat kein Glück. Die Frau geht weiter, ich schaue ihr nach und erinnere mich an meine tote Mutter. Als sie ungefähr so alt war wie die Blumenfrau, verkaufte ft sie Eier an die Hausfrauen der Nachbarschaft ft. Einmal in der Woche brachte ein Bauer aus dem Odenwald einen Karton mit frischen Eiern vorbei. Es war mir als Kind nicht recht, dass fremde Leute meine Mutter die Eierfrau nannten. Nach einiger Zeit nannte sie sich sogar selbst Eierfrau, was ich nicht verstand. Außer Eiern verkaufte ft sie später auch Bienenhonig und Bauernbrot. Das Geld, das sie dabei verdiente, schenkte sie mir. Ihre Großzügigkeit hinderte mich, gegen das Wort Eierfrau zu protestieren. Ich war nicht nur gegen das Wort Eierfrau, ich war auch dagegen, dass sie überhaupt Eier verkauft fte. Noch sonntagnachmittags im Kino, das ich nur mit Hilfe des von meiner Mutter verdienten Geldes besuchen konnte, war ich im Dunkeln so sehr gegen den Eierhandel meiner Mutter eingestellt, dass ich den Filmen kaum folgen konnte. Seit dem Misserfolg im Hotel Transit erfüllt mich zunehmende Müdigkeit. Eine kleine Erleuchtung sollte mir jetzt aufh fhelfen, aber es ist nichts dergleichen in Sicht. Im Gegenteil, ich gehe in Richtung Innenstadt und sehe seltsam verlorene und in ihrem Elend starrsinnig gewordene Menschen, schamhafte ft Flaschensammler, niedergekauerte Alkoholiker, umherschweifende Jungfaschisten, gehetzte Prospektverteiler, traurig blickende Pförtner. Ich möchte gute, aufstrebende, meinetwegen einfältige Menschen anschauen, um von meiner inneren Überempfindlichkeit fi loszukommen. Stattdessen erblicke ich diese angeschlagenen Untergeher, die meine
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Empfi findlichkeit nur aufreizen. Manchmal (jetzt gerade wieder) stelle ich mir vor, ich würde an einer plötzlich hereinbrechenden Überempfi findlichkeit sogar sterben. Ein Notarzt würde herbeieilen und könnte nur noch meinen Tod feststellen. Als Todesursache würde er in den Totenschein eintragen: Überempfindlichkeit. fi Auf diese Todesursache wäre ich sogar als Toter noch stolz. Traudel würde in der Lokalzeitung eine Todesanzeige aufgeben, deren erster Satz lauten würde: Nach langjährig ertragener Überempfi findlichkeit starb plötzlich und unerwartet mein Geliebter … In der Ferne wird der Opernplatz sichtbar, und ich erkenne eine große Zahl Polizeiautos und in Gruppen herumstehende Polizisten. Mir ist nicht klar, warum ich bis heute durch den Anblick von Polizei so tief erschrecke wie früher nur am Tag der Zeugnisausgabe in der Schule. Dabei weiß ich, dass sich die Überpräsenz der Polizei nicht auf mich bezieht, sondern auf vier Großereignisse, die heute in die Stadt eindringen und ihre Zuckungen vorauswerfen: In den Messehallen sammelt sich der Evangelische Kirchentag, im Waldstadion spielt die Frankfurter Eintracht gegen Bayern München, in der Festhalle poltern die Rolling Stones und durch die Straßen stiefelt der Schwarze Block. Sonnige Jungchristen, angetrunkene Fußball-Debile und abstoßende Anarchisten laufen mit gesteigerter Fremdheit aneinander vorbei. Immer mal wieder sieht es so aus, als würde es zwischen den Anhängern der verschiedenen Ereignisse zu Zusammenstößen kommen, aber es sieht nur so aus. Die Polizei wendet (bis jetzt) keine eigene Gewalt an, sondern dämmt vorhandene Gewaltlust zurück. Dadurch wird die Stadt beißend bedrohlich und gleichzeitig duldsam. Traudel und ich haben in der vergangenen Nacht nach längerer Zeit wieder einmal miteinander geschlafen. Tatsächlich löst die Körperlichkeit meines Geschlechts bei mir immer noch Befremden aus. Ich kann kaum hinnehmen, dass ausgerechnet dieses Organ derartig sonderlich ausschaut. Besonders unangenehm ist mir, wenn ich frühmorgens mit einer Erektion aufwache. Weil diese Erektionen zwar an mir und mit mir, aber ohne mein Zutun und ohne meine Absicht und ohne mein Wissen geschehen, nenne ich sie die Ohne-mich-Erektionen. Traudel verschweige ich meine Vorbehalte. Sie denkt nach wie vor, jede einzelne Erektion gelte ihr und nur ihr. Das heißt, in jüngerer Zeit verdächtigt sie mich, dass ich eigentlich nur noch ihren Busen anschauen wolle. Genaugenommen verstehe ich diesen Vorwurf nicht. Traudel tut ein bisschen so, als sei es zu dürft ftig, dass sich ein Mann immer wieder und immer noch für die Brüste seiner Gefährtin begeistert. Ohnehin habe ich oft ft den Eindruck, viele Frauen wissen nicht wirklich, was sie da in doppelter Ausfertigung Tag für Tag mit sich herumtragen. Die tägliche Wiederkehr der körperlichen Tatsachen (das ist meine Vermutung) hat bei diesen Frauen unmerklich zu einer Geringschätzung ihrer Brust geführt. Ich bilde mir ein, dass ich schon als Säugling die Brust meiner Mutter mehr schätzte als meine Mutter selber. Meine Mutter hatte eine unangenehm keifende Stimme, die ich sofort vergessen konnte, sobald ich an ihrem Busen lag. Ich war ungefähr zwei Jahre alt, als für mich feststand: Durch die Brust der Frau tritt die Sanftheit ft in die Welt. Daran glaube ich bis heute. […]2
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Heute Abend gehen Traudel und ich ins Theater. Th Wir sehen uns das Stück „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ des amerikanischen Autors Eugene O’Neill an. Traudel freut sich schon seit Tagen, meine Erwartungen sind eher gedämpft. ft Traudel schätzt die robusten Familienstücke amerikanischer Dramatiker (wie etwa Tennessee Williams, Arthur Miller, Edward Albee) erst seit wenigen Jahren, während ich mich schon in meiner Jugend an ihnen sattgesehen habe. Das Stück von O’Neill habe ich als Student, als ich Mitte Zwanzig war, schon einmal angeschaut. Es geht (vereinfacht gesprochen) in diesen Texten eigentlich immer um dasselbe: Ein Vater, ein Ehemann oder ein Sohn kommt durch zuviel Alkohol, zu viele Frauen oder zuviel Misserfolg vom rechten Weg ab und stürzt mitsamt seiner Familie ins Unglück. Dennoch freue ich mich auf den Abend, ein bisschen auch deswegen, weil wir gegen unseren Willen fast theaterentwöhnt sind und weil Traudel und ich endlich mal wieder einen außerordentlichen Abend miteinander verbringen. Nach dem Theater wollen wir essen gehen und haben dafür in einem sogenannten besseren Lokal einen Tisch reserviert. Gerade habe ich an der Abendkasse unsere vorbestellten Karten abgeholt. Traudel muss sich leider bis zur letzten Minute ihres Arbeitstages in ihrer Sparkasse abarbeiten. Wenn es unterwegs keine Staus gibt, wird sie gegen 19.30 Uhr im Foyer des Theaters Th eintreff ffen. Die Auff ff ührung beginnt um 20.00 Uhr, jetzt ist es 18.30 Uhr. Ich überlege, ob ich das Programmheft ft vorher lesen oder ob ich in der Theaterbar vorab ein Glas Wein trinken soll. Aber Theater-Programmheft fte kann ich eigentlich nicht mehr lesen. Die Artikel in diesen Heft ften kenne ich schon so lange wie die Stücke, von denen wir heute Abend eines sehen werden. Ich schaue kurz in die Theaterbar und kehre wieder um. An der langen Theke sitzen erkennbar kleinbürgerliche Damen und Herren in festlicher Kleidung. Auch Traudel wird in gehobener Garderobe erscheinen. Sie wird nach Büroschluss nach Hause fahren und sich umziehen. Es ist mir verboten, mich über Traudels Abendgarderobe lustig zu machen, und es ist Traudel verboten, sich über meine Alltagskluft ft zu mokieren. Das ist unsere Vereinbarung, mit der wir gut über die Runden kommen. In einer der Seitenstraßen rund um das Theater sehe ich ein kleines Mädchen, das seinen Hund kämmt. Der Hund hält still und schaut sich die Spatzen an, die um ihn herumtschilpen. Die Vögel warten auf die kleinen wattigen Fellknäuel, die das Mädchen mit der Hand aus dem Kamm herauszieht und wegwirft. ft Die Spatzen stürzen sich auf die zottigen Knäuel und fliegen mit ihnen weg, wahrscheinlich werden sie für den Nestbau gebraucht. Ich würde mich gerne ein bisschen hinsetzen, aber es gibt hier keine einzige Bank oder sonst eine Sitzgelegenheit. Das Mädchen merkt, dass mir die allmähliche Verschönerung des Hundes gefällt, und kämmt das Tier für mich noch einmal. Wenn ich ehrlich sein dürft fte, wäre die Darbietung des Mädchens ein für mich ausreichendes Abendprogramm. Aber dann, eine halbe Stunde später, sehe ich Traudel und bin hingerissen wie in alten Zeiten. Sie sieht schön aus. Stöße des Verlangens zucken durch mich hindurch, wenn ich sie nur ansehe. Sie trägt ein neues Seidenkleid mit tiefem Ausschnitt und breitem Stoff ffgürtel, der sich wie eine Schleife vom Rücken
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her nach vorne über den Leib zieht. Natürlich darf ich nicht sagen, dass ich O’Neills Stück für einen alten Schinken halte. Dann würde Traudel erwidern, dass ich nur meine ebenso alte Negativität zeigen will, und der Abend wäre verdorben, noch ehe er angefangen hätte. Also halte ich den Mund und lasse ein abgestandenes Theaterstück Th über mich ergehen. Aber dann, im Theater, geschieht eine seltsame Verwandlung. Ich höre den Nörgeleien der Hauptfi figur mit wachsendem Interesse zu und erinnere mich dabei an ähnliche Beschwerden meines Vaters. Genau wie die Th Theaterfi figur überwarf er sich mit dem von ihm gewählten Leben. Auch mein Vater wurde nicht damit fertig, dass er einen Beruf, eine Wohnung, eine Frau und Kinder hatte. Die meisten Männer, glaube ich, verstehen nicht, daß sie eine Familie haben. Das Leiden der Männer fängt damit an, dass sie eine Frau lieben. Dieses Leiden leuchtet ihnen gerade noch ein, weil es ihnen auch Lust und Befriedigung bringt. Später heiraten die Männer die von ihnen geliebte Frau. Das verstehen die Männer auch noch, wenn auch nicht mehr ganz so problemlos. Dann bekommt die Frau zwei oder mehr Kinder. Diese Vorgänge verstehen die Männer nicht mehr. Denn jetzt sitzen sie zu viert oder fünft ft an einem Tisch und essen zusammen mit mehreren Leuten Abendbrot. Den Mann nennen die Kinder bald ihren Vater, was die Männer befremdet. Jetzt gehen die Männer dazu über, ihre Frau zu beschuldigen und ihre Kinder zu verängstigen. Der Held des Theaterstücks Th redet und trinkt immer mehr und versteht immer weniger von seiner Familie. Ich schaue und höre ihm zu und erinnere mich genau an die Augenblicke, als mir eines Tages aufging, wie glücklich meine Eltern vor ihrer Heirat gewesen sind. Ich war dreizehn Jahre alt und betrachtete zusammen mit meiner Mutter ältere Familienfotos. Vor ihrer Hochzeit waren meine Eltern zwei lachende junge Leute, die in Bierzelten und Gartenlokalen saßen und sich zukunft ftsfroh anschauten. Sie folgten wie fast alle der Überschätzung ihrer Kräft fte und heirateten und zeugten Kinder. Auf den späteren Fotos hatten meine Eltern beklommene und überforderte Gesichter. Plötzlich, alte Familienbilder betrachtend, ging mir auf, dass meine Eltern ihren Versuch, das Glück (die Genügsamkeit zu zweit) und die neue Unfreiheit (die Ehe) zu vereinbaren, mit einer sich kaum je aufh fhellenden Trauer bezahlen mussten. In diesen Augenblicken berührt ausgerechnet dieses abgestandene und jetzt doch hervorragende Theaterstück Th nicht nur das Leben meiner Eltern, sondern auch mein eigenes. Momentweise bin ich überzeugt, dass Traudel nicht nur ein Kind will, sondern mindestens zwei, wahrscheinlich drei. Ich bin froh, dass ich in einem dunklen Raum sitze und nicht sprechen muss. Es ist nichts los, ich sitze mit Traudel in einem Theater, aber es beschleicht mich die Ahnung eines bösartigen Schicksals. Off ffenkundig hat Traudel das öde Leben als Leiterin einer Sparkassen-Filiale satt und sucht ein neues Glücksgebiet. Sie braucht, um das Leben zurückzugewinnen, ein paar deutliche Geschmacksverstärker, sie braucht Kinder. Zwei Sekunden später durchflutet fl mich eine mir bis dahin unbekannte Erschrockenheit und kurz danach das Gefühl einer inneren Lähmung. Es müsste jemand erscheinen und mich aus meiner Erschrockenheit herausführen. Aber es kommt wie üblich niemand. Wer soll denn auch kommen? Das Herausführen aus
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einer Lähmung ist eine dem Menschen unvertraute Geste. Dann und wann schaue ich zu Traudel hinüber. Sie folgt mit weit geöff ffneten Augen und trockenen Lippen dem Geschehen auf der Bühne. Soeben zeigt sich, dass Jamie, der Sohn des Vaters, sein Geld ebenfalls für Prostituierte und Alkohol ausgibt. Ich bin dankbar, dass kein Mensch der Welt von meiner momentanen Schwäche weiß. Der Schock liegt in der plötzlich eintretenden Gewissheit, dass sich in Traudel und mir das Schicksal meiner Eltern wiederholen wird. Ich muss es sogar für möglich halten, dass ich mich ebenfalls dem Alkohol zuwende, wenn Traudel von ihrem Glücksfeldzug nicht ablässt. Insofern ist das vor mir ablaufende Theaterstück das aktuellste meines Lebens. Ich empfi finde einen heimlichen Genuss an meinen Befürchtungen, was mir nicht recht ist. Natürlich verstehe ich Traudels Lebenslage, auch wenn ihre Absichten einen Missbrauch meiner Person einschließen. Es ist typisch, dass Traudel nicht mit mir über mein Geschick als Familienvater redet. Der Mensch, dem ein neues Geschick droht, kann nicht zugleich der Mensch sein, mit dem zusammen die neue Lage erörtert wird. Es muss immer so aussehen, als hätte es keine Wahl gegeben. Nur so wird alles, was geschieht, ein Fatum sein können. In meiner Schlichtheit, die zu beteuern ich nicht müde werde, habe ich mir immer vorgestellt, dass zwei Personen, die zusammen ein Kind haben wollen, sich eines schönen Tages zusammensetzen und ihre Glückswünsche gemeinsam klären. Stattdessen ist es jetzt so, dass ich als unpassender Partner in der Unübersichtlichkeit der Liebeshandlungen irgendwie überrumpelt werden muss, weil es anders nicht geht. Im Theatersaal wuchert still und heimlich meine melancholische Verwilderung. Denn Traudel wird, daran gibt es für mich keinen Zweifel, das Kinder-kriegen-Wollen gegen mich durchsetzen. Möglicherweise wird sie mich nach der Geburt eines Kindes sogar wegschicken, wenn ich mich nicht anpasse. In den Zeitungen steht, dass es immer mehr Frauen gibt, die von einem Mann nur die Befruchtung wollen; danach kann der Mann gehen. Mit sinnloser Heft ftigkeit denke ich in den dunklen Saal hinein, dass ich mich nicht wegschicken lassen werde. Es wäre schrecklich für mich, ein vor die Tür gesetzter Vater zu sein, der sein Kind nicht sehen darf, weil die Mutter es so will. Inzwischen habe ich den Kontakt zu dem vor mir ablaufenden Theaterstück weitgehend verloren. Die Erschrockenheit hat mich in ihr eigenes Dunkel eingehüllt. Momentweise komme ich mir selbst vor wie die Hauptfi figur eines untergegangenen Theaterstücks, nein, ich meine: wie die versunkene Hauptfi figur eines niemals untergehenden Theaterstücks. Traudel hingegen hat in dem Stück unsere eigene Problematik off Th ffenbar nicht erkannt. Jedenfalls kann ich in ihrem Gesicht keine Spuren von Irritation oder Erschütterung erkennen. Nach dem Ende des vierten Aktes klatscht sie lebhaft ft Beifall und flüstert mir zu, dass sie schon sehr lange nicht mehr einen so eindrucksvollen Theaterabend erlebt habe. Eine Frau, der das Leben gerade gefällt, wird dadurch noch schöner. Traudel zieht ihr schimmerndes Seidenjäckchen über und klatscht im Stehen weiter. Sechsmal kehren die Schauspieler auf die Bühne zurück, dann verebbt der Beifall. Das Lokal, in dem wir einen Tisch bestellt haben, ist etwa zehn Gehminuten vom Theater entfernt. Die Luft ft ist lau, fast schwül. Das warme Wetter hat die Teer-Einfas-
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sungen der Schienen und Pfl flastersteine so sehr aufgeweicht, dass man auf der Straße fast wie auf Teppichen geht. Auf dem Weg zum Restaurant redet Traudel in dringlichem Ton darüber, dass wir in Zukunft ft unbedingt öft fter ins Theater gehen müssen. Das haben wir uns schon oft ft vorgenommen, sage ich. Warum machen wir es dann nicht? Wir müssen zu lange arbeiten, so dass wir für einen plötzlichen Theaterabend Th nicht mehr zurechtkommen, sage ich, wenn ich noch einen Termin gehabt hätte, hättest du allein ins Theater gehen müssen. Das hätte ich nicht gemacht, sagt Traudel. Warum nicht? Ich kann mich nur richtig freuen, wenn du dabei bist und dich mitfreust. Wenn ich allein bin, komme ich von dem Gedanken nicht los, dass ich eine verdammte Egoistin bin. Wir lachen. Meine heimliche Strategie ist, Traudel möge plötzlich erkennen, dass sie, wenn sie erst Mutter ist, noch seltener ins Theater kommen wird. Aber meine Strategie führt nicht zum Ziel; wahrscheinlich fallen mir die richtigen Sätze nicht ein. Aber du bist keine verdammte Egoistin, sage ich, und du weißt es. Ich weiß es, sagt Traudel, aber mein Gefühl beschuldigt mich trotzdem. Wie kompliziert du bist, sage ich. Kennst du solche Widersprüche nicht? Und wie!, rufe ich aus. Meine Widersprüche sind noch viel krasser. Dann bin ich beruhigt, sagt Traudel. Wir lachen erneut über unsere Widersprüche und betreten das Restaurant, in dem wir einen Tisch reserviert haben. Fast alle Tische sind besetzt. Mir kommt es so vor, als würde ich einzelne Paare aus dem Theater wiedererkennen. Es sind gut verdienende, vermutlich kinderlose Paare, gehobener Mittelstand. Die Woche über arbeiten sie hart, trinken wenig, rauchen nicht und gehen früh zu Bett, damit sie am nächsten Morgen wieder fit sind. Es behagt mir nicht, dass wir dieser Schicht angehören. Ich möchte nicht Teil einer empirisch festgestellten Gruppe sein. Ein Ober führt uns zu einem kleinen Tisch an der hinteren Wand und reicht uns zwei in Kunstleder eingebundene Speisekarten. Traudel ist guter Laune und blättert in der Speisekarte. Obwohl wir unseren gemeinsamen Angeberabend verbringen, werden wir Menüs unter 18 Euro wählen. Als Mittelständler, die auch abends aufsteigen, fallen wir nicht aus dem Rahmen. Der Ober bringt uns angewärmtes italienisches Brot und ein Schälchen mit schwarzen Oliven. Traudel entscheidet sich für gefüllte Seezungenröllchen mit Fenchelragout, ich wähle Kalbsrückenscheiben mit Mohnkartoff ffelkrapfen, dazu zwei Gläser Bordeaux und eine Flasche Mineralwasser. Traudel plaudert, sie lacht mich an und manchmal auch die Leute um uns herum. Sie redet undeutlich, aber begeistert über das Stück. Ich erwähne, dass Eugene O’Neill viele Jahre lang nicht wusste, was aus ihm werden sollte, dass er viele Jobs hatte und fast gescheitert wäre, wenn er nicht eines Tages gemerkt
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hätte, dass er das Talent eines Dramatikers hatte. Traudel ist entzückt über mein locker serviertes Bildungswissen. Sie hebt ihr Glas, wir prosten uns zu, Traudel lobt mich als Unterhalter und Literaturkenner. Der Ober bringt unsere Menüs, Traudel lächelt sogar ihre Seezungenröllchen an. Wenn ich mich nicht irre, hat Traudel im Augenblick sehr gute Lebensgefühle; sie hat den Eindruck, dass sie mit dem richtigen Mann zusammenlebt, was sie auch schon bezweifelt hat. Zwei kleine Mädchen rennen im Lokal herum und verbreiten den Geruch ihres süßlichen Kinderschweißes. Der Mann am Nebentisch redet über unser aller Freiheit, die es seiner Meinung nach nicht gibt. Jeder weiß doch, wie unmöglich es ist, eine bezahlbare Wohnung zu fi finden, eine bessere Stelle zu kriegen oder gar die Stadt zu verlassen, sagt der Mann zu seiner Begleiterin. Traudel und ich essen geziemend langsam. Unser wechselweises Aufschauen bedeutet: Derartig anstrengende Freiheitsgespräche wie am Nebentisch brauchen wir nicht. […]3
Gespräch4 Ulrike Tanzer: Sie haben für die Lesung Stellen ausgesucht, in denen es vor allem um die Paarbeziehung geht, die ja wesentlich ist in diesem Roman. In dieser Beziehung, so scheint es mir, treff ffen zwei unterschiedliche Glückskonzeptionen aufeinander oder anders gesagt, Vorstellungen von dem, was ein geglücktes Leben sein könnte. Wenn man der empirischen Glücksforschung glauben darf, dann sind eine geglückte Partnerschaft ft, Familie, ein stabiles persönliches Umfeld, soziale Beziehungen wesentliche Glücksfaktoren. Im Roman wird aber von dem männlichen Protagonisten dieser Wunsch nach Familie, nach einer stabilen Beziehung radikal hinterfragt, bzw. bringt ihn dieser Wunsch seiner Lebensgefährtin total aus dem Lot. Und als Leser oder Leserin verfolgt man gespannt, wohin das führen wird. Es wird ein Weg geschildert, ohne das Ende vorwegnehmen zu wollen, der den Helden unfähig macht, am normalen Leben teilzunehmen. Ist es so schwierig geworden, gerade im modernen Roman diese Vorstellung eines geglückten Lebens, wie Peter Handke das auch bezeichnet hat, diese Formel, einen Baum pfl flanzen, ein Kind zeugen, einen Roman schreiben, darzustellen – ohne irgendwie flach zu werden oder in den Kitsch abzugleiten? Oder ist es in einem Ihrer Bücher „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“ doch noch irgendwie verwirklicht worden? Gerade im Leben eines 17-jährigen Lehrlings, der die Welt noch vor sich hat? Vielleicht sind die 40-Jährigen da schon etwas beschädigter? Wilhelm Genazino: Ja, wie soll ich sagen? Ich misstraue natürlich dieser reduzierten Schlichtheit, zum Beispiel von Handke. Weil ich daran nicht glaube, weil ich auch weiß, dass die Konfl fliktstruktur des Menschen verhindert, dass sie, sagen wir mal, auf einfache Weise leben können. Man kann, das wird Ihnen jeder Analytiker sagen, als Subjekt seine Konflikte fl eine Weile zurückdämmen. Eine Weile fast unscheinbar werden lassen, aber das rächt sich, das Verdrängte kehrt zurück, das wissen wir ja alle.
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Und das ist auch bei diesem Protagonisten der Fall. Und nicht ganz so versteckt, er gibt ja zu, dass er sozusagen Angst hat vor der Erfüllung der Wünsche. Und Traudel unterschätzt die Wirkmacht dieser Angst. Sie denkt, sie ist die Frau und sie hat das schon im Griff, ff den Mann so hinzudrehen, dass er auch ihr Glück will, und das wird auch so sein. Allerdings ist sie dann tatsächlich auch sehr überrascht, dass der innere Druck des Mannes ihn, wenn auch nur kurz und wenn auch nur in einem minderschweren Fall, in die Klinik bringt. Weil er nicht weiß, wie er den Konflikt fl auf eine milde Weise lösen könnte. Und er ist halt auch, wie soll ich sagen, ein sehr konservativer Mann, der seine Glücksvorstellung, die eben sehr dualistisch ist, also Mann und Frau, kaum aufgeben kann. Da sind enorme Widerstände. Das weiß man ja, das ist auch nicht erfunden von mir, sondern das ist tatsächlich sehr verbreitet, besonders bei Männern. Frauen haben da natürlich, sagen wir mal einen leichteren Zugang zur vervielfältigten Lebensform, also mit Kindern und Familie usw. und all diesen Sachen. Während viele Männer, nicht alle, aber doch viele, abblocken und sich fürchten. Und die Angst, die dahinter steckt, kann gar nicht thematisiert werden. Also das kommt vielleicht in der Klinik, das ist ja eine psychosomatische Klinik, d. h. sie ist von einer Psychoanalyse begleitet und möglicherweise, aber das lässt das Buch offen, ff wird der Mann das Glück haben, sozusagen den Kern seines inneren Vorbehalts aufzudecken und ihn dadurch auch, sagen wir mal, zu verkleinern oder vielleicht sogar zum Verschwinden zu bringen. Das ist ja immer die Vorstellung der Psychoanalyse, dass durch Konfliktbearbeifl tung sozusagen ein Damm bricht. Ulrike Tanzer: Das Beziehungsproblem ist ja nur ein Problem dieses Protagonisten, Dr. phil. Gerhard Warlich mit Namen. Er ist ausgebildeter Akademiker, promovierter Philosoph, und kann nicht in seinem Beruf arbeiten. Er ist – wie viele seiner Generation – in einem nicht spezifi fischen Berufsumfeld tätig. Er ist Arbeitsstrukturen ausgeliefert, mit denen er nicht zurande kommt. Die Erfüllung im Beruf ist sicherlich auch eine Quelle des Glücks bzw. eine Möglichkeit, zum Glück zu finden. fi Vielleicht ist das auch eine Motivation für einen Schriftsteller ft zu schreiben? Wilhelm Genazino: Ja, ich kann das nur von der heutigen Situation, wenn Sie mich fragen, bejahen. Aber ich hab’s zum Glück leicht, weil sich meine Konstruktion als tragfähig erwiesen hat. Das war einige Jahrzehnte lang im Leben der meisten Schriftft steller nicht klar. Es kann, wie jeder weiß, denn jeder kennt die Biographien verunglückter Schrift ftsteller, sehr ins Auge gehen, sich sozusagen an ein Phantasma zu klammern und einfach irgendwie wild in die Gegend und in die Zeit hinein zu hoffen, ff es möge gut gehen. Viele Schrift ftsteller, sogar die besten darunter, sind mit dieser Annahme gescheitert. Sie haben das einfach nicht verstetigen können, das ist auch bei meinem Fall tatsächlich ein sprachloses Glück, das unter anderem darauf zurückgeht, dass ich die Produktion auch habe verstetigen können, dass es nicht mit dem dritten Buch aufgehört hat. Das sind lauter Unwägbarkeiten, die so am Wegesrand lauern und
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diese Biografien fi nicht immer, aber doch häufi fig stören oder auch aufl flösen oder sehr unerfreulich werden lassen. Ulrike Tanzer: Um noch einmal auf das Buch zurückzukommen: Es sind Glücksmomente, die der Protagonist erlebt, zum Beispiel wenn er dieses Kind beobachtet, es sind kleine Augenblicke des Glücks, die beschrieben werden. Sie haben das auch in Ihrer Poetik-Vorlesung ausgeführt, dass in der modernen Literatur es vor allem Augenblicke des Glücks sind, die formuliert werden. Sie haben sich hier auf eine Ahnenreihe berufen, etwa auf Marcel Proust, James Joyce, Virginia Woolf, die sich als „Augenblicksautoren“ mit der Problematik von Zeit und Glück auseinandergesetzt haben. Die begrenzte Dauer des Glücks, die komplexen Zeitstrukturen in epiphanischen Momenten, das scheint eine Möglichkeit zu sein, auch heute im modernen Roman über Glück schreiben zu können. Wilhelm Genazino: Ja, ich würde Ihnen natürlich zustimmen. Ich will noch etwas hinzufügen: dass glücksbegabte Menschen nach meiner Beobachtung die Fähigkeit haben, ihre Nebentätigkeiten zu entdecken, die Nebensachen ihres Lebens, also neben den Hauptsachen oder der Hauptsache. Und in dieser Nebentätigkeit oder in der Nebensache dann sozusagen die Spur des Glücks finden, also in den eigentlich übergangenen Dingen, in den eigentlich als nicht sehr gehaltvoll und nicht sehr wertvoll eingeschätzten Belanglosigkeiten schlummern ja Leidenschaften, ft und die sind in der Regel auch verhüllt. Oft ft ist ein ganzes Leben damit verknüpft ft, sie zu entdecken oder wenigstens weitgehend zu entdecken. Denken Sie, mir fällt gerade Nabokov ein, denken Sie, Nabokov war in seinem Nebenberuf ein Schmetterlingsforscher, übrigens ein sehr berühmter, also der genießt in der Forschung große Wertschätzung, und die Entdeckung des Lebens der Schmetterlinge war sozusagen eine der Nebensachen im Leben Nabokovs, die Hauptsache war das Schreiben. Eines Tages hatte er bemerkt, was für eine Freude es ihm macht, die Schmetterlinge zu beobachten, und dann las er darüber und tauchte immer tiefer in dieses Gebiet ein, dann war aus der Nebensache eine Art heimlicher Hauptsache geworden. Und das ist, glaube ich, ein wichtiger Schlüssel zur Empfi findung von Glück. Also ich zucke immer zusammen, wenn ich Menschen reden höre, die genau wissen, was für großartige Dinge sie für ihr Glück halten. Dann denk’ ich immer, ja, ja, das glauben die halt und das wird für sie jetzt grade in diesem Augenblick schon stimmen und hoff ffentlich kommt noch irgendwas dazu, was von vornherein sozusagen nicht die Bestimmung hat, unter allen Umständen das Glück des Lebens hervorzudrängen. In der Regel ist das nicht so. Andere Dinge, die von diesem Anspruch frei sind, treten hervor. Ulrike Tanzer: Pascal Bruckner, ein französischer Essayist und Romancier, spricht ja davon, dass wir von der Pfl flicht, glücklich zu sein, gleichsam umgeben sind, dass unsere Gesellschaft ft uns geradezu dazu auff ffordert, uns rechtfertigen zu müssen, wenn wir
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nicht glücklich sind. Sie haben von diesen überzogenen Glücksverheißungen gesprochen. Da fällt mir Theodor Fontane ein, der dies alles relativiert hat, der nüchternpragmatisch, vielleicht auch etwas resignativ, seine Vorstellung von dem, was Glück ist, formuliert hat. Vielleicht sind es gerade diese medial inszenierten Glücksverheißungen, die es uns heute auch so schwer machen, mit diesem Th Thema, das so vielschichtig und komplex ist, umzugehen. Wilhelm Genazino: Ja, ich denke schon, dass das glücksmäßig gesprochen kontraproduktiv ist. Also die Propagierung der Großglücke, zum Beispiel die Südsee, es gibt kaum eine Woche, in der nicht irgendeine Illustrierte erscheint und uns einen wunderbaren weißen Strand mit wunderbarem blauem Wasser zeigt und wunderbare nackte Südseefrauen wedeln an uns vorüber, und Männer kriegen einen trockenen Mund, sind hilflos fl und denken, ja genau, das wär’s doch. Also, mir tun die Leute leid. Und ich weiß nicht, warum die Medien das immer wieder tun. Wahrscheinlich, weil sie einfach die Glückshoff ffnungen der Menschen, besonders der einfältigeren unter uns, dermaßen missbrauchen. Sie wissen natürlich, das schlichte Gemüt des Menschen fährt auf solche Sachen ab und lässt sie dann hinterher völlig trocken, missmutig usw. zurück. Hauptsache wir haben die Illustrierte gekauft ft. Gerade diesen Menschen ist es völlig unmöglich, den Nabokovschen Ausweg zu sehen. Der ja in ihrer Nähe ist. Das ist unglaublich, das mögliche Glück ist nie weit weg, das ist phantastisch, also man muss natürlich bereit sein, die Unkonventionalität des möglichen Glücks überhaupt zu sehen. Und auch es für sich zu behalten. Also Leute, die die Tendenz haben, ihr Glück an die große Glocke zu hängen, das erregt sofort Misstrauen, weil man natürlich auch sieht, die Leute wollen damit angeben, dass sie ihr Glück gefunden haben. Der wirklich glückliche Mensch will nicht mit seinem Glück angeben. Das ist eine zarte Pflanze, fl und die beschützt man eher durch Schweigen, als dass man jetzt sich da groß verbreitet und sie dadurch auch verrät, oder sich als glücklicher Mensch darstellen zu wollen, das ist ja auch ein eigenartiger Drang vieler Menschen, die sich so darstellen wollen, mir auch als Motiv nicht völlig klar, die brauchen dringend wenigstens eine rhetorische Aufb fbesserung. Dass wenigstens auf der rhetorischen Ebene irgendein Glanz in diesen Trübsinnsalltag hineinkommt. Ulrike Tanzer: Schweigt der Glückliche also? Kann man über das Glück schreiben? Das ist natürlich eine Frage, die die Literaturwissenschaft ft umtreibt. Die deutschsprachige Literaturwissenschaft ft ist hier eher skeptisch. Über die deutsche „Glücksverachtung“ haben wir schon gesprochen. Der „Spiegel“-Journalist Matthias Schreiber schreibt in seinem letzten Buch „Das Gold in der Seele. Über die Lehre vom Glück“, die geistige Reifeprüfung eines deutschen Intellektuellen zeige sich an dessen Fähigkeit zur Melancholie. Also Glück ist banal, langweilig, trivial, sofort mit dem Verdacht des Kitsches behaftet. ft Dies greift ft aber meiner Ansicht nach zu kurz. Das Potenzial, Glück darzustellen, ist vielfältig, und die Literatur ist voll von Konzeptionen des Glücks, sodass man von einer Literaturgeschichte des Glücks sprechen könnte.
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Wilhelm Genazino: Ja unbedingt. Also ich meine, die ganze Literatur ist unter anderem eine Literatur der Suche nach dem Glück. Und diese Suche ähnelt, wie ich gestern einmal gesagt habe, einer Rasterfahndung, die ohne Festnahme endet. Aber ich bin selbst ein leidenschaft ft licher Sucher, und ich kann Ihnen nur sagen, dass natürlich diese Suche ihrerseits Glückshormone in sich trägt. Also, es ist ein bisschen so wie das Stiftersche Konzept, sagen wir mal so. Also der Stift ftersche Mann im „Nachsommer“ zum Beispiel oder auch in kürzeren Sachen, der verfehlt ja das Objekt, also die Frau seiner Wünsche. Obwohl sie sich in seiner Nähe aufgehalten hat. Aber er ist zu ungeschickt oder auch zu talentlos, wie auch immer, jedenfalls geht das daneben, und nun beginnt sozusagen die Rekonstruktion des verfehlten Glücks. Und durch diese Rekonstruktion wird diese Sache wieder herbeigeholt, natürlich ausschließlich auf der Ebene einer Innerlichkeit, die aber für denjenigen, der diese Innerlichkeit hervorbringt, etwas völlig Unverdächtiges hat. Der innerliche Mensch hat Freude an seiner Innerlichkeit. Und sie gilt ihm als etwas Reales. Also nicht als etwas Konstruiertes. Obwohl sie, wenn man das psychohistorisch oder psychodynamisch verfolgt, in der Regel verfehlt wird, so wie’s ja auch in Stift fters „Nachsommer“ ist und übrigens auch in Stift fters Leben selber, er hat ja tatsächlich seine Jenny verfehlt und sein Leben lang darunter gelitten, dass das nicht geklappt hat. Aber er hat trotzdem die Fähigkeit gehabt, sozusagen in der Innerlichkeit die Sache lebendig zu halten. Stift fter war leider nicht sehr glücklich. Er hat eine schreckliche Frau geheiratet, das muss man sagen, und er hat sich dann mit der Rasierklinge die Kehle aufgeschnitten. Ulrike Tanzer: Das Konzept des Bildungsromans ist natürlich auch ein Konzept, in dem Versuche eines geglückten Lebens konstruiert und beschrieben werden. Das Glück in der Entsagung, im Verzicht, ist angeklungen, das auch eine Rolle spielt, nicht nur in der Literatur, sondern eben auch in der Frage, wie man mit Unglücksfällen umgeht. Wie kann man Unglück in sein Lebenskonzept integrieren? Gleichzeitig kommt natürlich, wenn Sie auf die Biographie Stift fters anspielen, mit herein, was der Linguist Harald Weinrich festgestellt hat: „Vom Glück sollen nicht nur die Glücklichen reden.“ Gerade viele Philosophen und Schrift ftsteller, von denen es heißt, sie seien unglückliche Menschen gewesen, ich denke hier etwa an Arthur Schopenhauer oder Friedrich Nietzsche, haben wichtige Konzepte des Glücks formuliert oder gerade in der Negation sich über das Glück Gedanken gemacht. Aber: Was kann Literatur besser als andere Disziplinen, als etwa die Philosophie? Welchen Mehrwert haben Leserinnen und Leser, wenn sie sich mit dem Glück beschäft ftigen? Wilhelm Genazino: Ja, der Nährwert, der Mehrwert, ich hab’ an den sinnlichen Nährwert gedacht, den gibt’s auch. Also, natürlich ist die Literatur ein Gefährte des Menschen. Und das ist die Soziologie nicht. Und was weiß ich, die Pädagogen auch nicht. Aber in der Literatur gibt es ja tatsächlich die eigenen Glücke. Dass ein Mensch zur rechten Zeit auf das richtige Buch trifft fft und da eine wunderbare Echolotung seines
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eigenen Umtriebes sieht und kennenlernt und auch dadurch besänft ftigt wird, also das hat ja neben der Wirkung auch die Nebenwirkung. Die erfreuliche Nebenwirkung, dass der Realkonfl flikt im Umgang mit Texten über diesen Realkonfl flikt in der Brust des Betroff ffenen sich mildert. Das ist eine eigenartige Wirkung, die von den meisten Lesenden gar nicht bemerkt wird. Obwohl sie aus diesem Grund oft ft lesen und dadurch eine Art von Dauerbesänft ftigung durch Literatur, durch Lesen eintritt. Und ich habe mich früher, als ich jünger war, natürlich über diese Wirkung der Literatur lustig gemacht bzw. habe sie natürlich auch geringgeschätzt, weil ich dachte, was ist denn hier los mit dieser Literatur, also so geht’s ja nicht. Der Mensch erlebt eine reale Enttäuschung und schmeißt dann sein gesamtes Konfliktpotenzial fl ins Schrift ft tum. Dort wird es langsam zerhäckselt und zerkleinert und besänft ftigt und beschwichtigt. Und dann ist der unglückliche Mensch auch noch zufrieden damit, dass ihm die Metaphysik der Literatur ja eine Art Lebensbeschwichtigung besorgt hat und es am Ende vielleicht noch gar nicht merkt. Ich bin heute weit entfernt von jedem Hohn über diese Möglichkeit, das Leben der Menschen hat nicht viele Möglichkeiten, um sich über erlittene Unglücke im Leben zu besänft ftigen. Also, ich erinnere an eine wunderbare Stelle von Freud aus „Das Unbehagen der Kultur“, dass der fortgeschritten Lebende sowieso darauf achtet, dass in der Vermeidung von Unglück sozusagen die größere Tätigkeit liegt als etwa im Erreichen von Glück. Die Leidvermeidung ist schon das Glück, das ist erstaunlich, also dass Freud das dermaßen ungeschützt sagt. Heute merke ich, auch belehrt durch mein eigenes Leben, völlig gelassen, dass das ein großartiger Gedanke ist. Man kann keinem Menschen vorwerfen, dass er danach trachtet, Leid zu vermeiden. Ulrike Tanzer: Dies erinnert an die antiken Glückslehren, die uns nahelegen, die Ansprüche herunterzuschrauben, dann sei die Wahrscheinlichkeit, Glück zu empfinden, fi eine höhere. Wilhelm Genazino: Ja, natürlich, und das ist auch von Freud, die Ansprüche sind befreit von Überschätzung. Das ist ein großartiger Fortschritt in der Erfahrung, in der Selbsterfahrung eines Menschen, dass natürlich beides überschätzt wird. Sowohl als Glück als auch als Unglück. Also das Erste muss unter allen Umständen erreicht werden, das Zweite muss unter allen Umständen vermieden werden. Und in beiden steckt eine fürchterliche Überschätzung. Und wenn man die sozusagen weglässt, dann ähnelt das plötzlich einander sehr stark. Also das nichteingetretene Glück ähnelt sozusagen dem bearbeiteten Unglück. Das ist sehr merkwürdig, aber es ist so.
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Anmerkungen 1 Wir danken dem Carl Hanser Verlag München für die Abdruckerlaubnis. Genazino, Das Glück in glücksfernen Zeiten, 21–24 (© 2009 Carl Hanser Verlag München). 2 Ebd., 93–96. 3 Ebd., 64–71. 4 Das Gespräch, das im Rahmen der Ringvorlesung „Auf der Suche nach Glück“ am 2. Dezember 2009 an der Universität Salzburg geführt wurde, wurde für die Drucklegung nur geringfügig verändert, der mündliche Duktus beibehalten.
Renate Prochno
Kunst und Glück Renate Prochno Kunst und Glück
Das Thema „Glück“ wird selten genug mit Kunst und noch seltener mit Kunstgeschichte in Verbindung gebracht.1 Vielleicht liegt es daran, dass die Frage nach dem Glück, nach dem Sinn erst dann gestellt wird, wenn es keine Freude mehr macht. Mit dieser These sind drei hohe Werte verbunden: Glück, Sinnerfüllung, Freude. Inwieweit sie alle in der Kunst miteinander verbunden werden, ist Thema dieses Beitrags. Die deutsche Sprache kennt für „Glück“ zwar nur dieses eine Wort, jedoch mehrere Komposita. „Glück“ umfasst das dauerhaft fte Lebensglück genauso wie das momentane Glücksempfi finden, und es begreift ft auch das Zufallsglück (im Sinn von Lottoglück oder „Schwein gehabt“) in sich. Die Kunst befasst sich mit jeder dieser Spielarten von Glück. Um es vorwegzunehmen: Es gibt keine Darstellungstradition des dauerhaften ft Lebensglücks. Wohl gibt es Darstellungen glücklicher Menschen, glücklicher Momente, man findet Darstellungen scheinbaren Glücks, und es existieren auch allegorische Darstellungen des Zufallsglücks. Am interessantesten ist die Fehlstelle, sie gibt zu denken. Warum kam es nicht zu einem ikonographischen Typus des dauerhaften ft Glücks? Existierte es nicht – oder war das dauerhaft fte Glück nicht von Belang? Zählten stattdessen andere Werte? Ein Blick in die Philosophiegeschichte zeigt, wie verschieden und kontextgebunden das Verständnis von „Glück“ im Lauf der Zeit ist. Deshalb seien hier schlaglichtartig nur Ausschnitte behandelt, beginnend mit dem Mittelalter. Diese Epoche kennt vor allem die Glückseligkeit, die beatitudo. In die Kunst fand sie vorrangig als theologisches Glück Eingang, geprägt von den Vorstellungen des Augustinus und in der Frühscholastik von denen des Anselm von Canterbury. Ihnen zufolge stellt sich Glückseligkeit vor allem nach dem Tod ein; dann allerdings dauert sie ewig. Das geht über das hinaus, was in der Bibel gesagt wird. Die Gottesschau ist gleichbedeutend mit der beatitudo; auf sie hin ist das Denken gerichtet, zu diesem Zweck ist der Mensch als rationales Wesen erschaff ffen worden.2 Die Kunst nimmt diese Gottesschau vorweg, und zwar in Gestalt des Himmlischen Jerusalem. Diese Stadt wird in der Apokalypse (21,9–21) als quadratische Anlage mit großen, hohen Mauern aus Jaspis und drei Toren an jeder Seite beschrieben. Ihr Umfang beträgt 144 Ellen, d. h. pro Seite 36 Ellen. Zwölf verschiedene Edelsteine bilden die Grundsteine der Stadtmauern. Das Innere der Stadt glänzt, weil es aus reinem Gold besteht. Diese biblische Beschreibung wird auf verschiedenste Weise umgesetzt. Die
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großen Radleuchter, die ab der Jahrtausendwende in vielen Kirchen hingen, sind dafür nur ein Beispiel.3 Mit dem Vielfachen von Zwölf in der Zahl der Kerzen spielten diese Lichtkronen, wie sie damals genannt wurden, auf das Maß der Mauer an. Der Goldglanz der Himmlischen Stadt erschien in der vergoldeten Bronze der Leuchter. Wie gelangt man zur Gottesschau, zur ewigen Glückseligkeit? Die Antwort lautet: durch das Gotteswort, durch die vier Kardinaltugenden und die drei christlichen Tugenden, d. h. durch Klugheit, Gerechtigkeit, Mäßigung, Mut, und durch Glaube, Liebe, Hoff ffnung. Indirekten Ausdruck finden diese Tugenden in den Seligpreisungen der Bergpredigt (Mt 5,3–10). Darum sind sie zum Beispiel am Aachener Leuchter (ca. 1145) in die Bodenplatten der Türme eingraviert.4 Doch Vorsicht: Wer diese Lichtkronen sah, erblickte nicht das Himmlische Jerusalem selbst, sondern nur ein Abbild, einen Verweis. Die echte Gottesschau kann nur im Geist stattfi finden. Sie ist die höchste Stufe des Erkennens, denn sie lässt das direkte Sehen und das Erinnern gesehener Bilder hinter sich. Sehen und Erinnern sind nur Hilfsmittel, um das Höchste zu erkennen, nämlich laut den „Libri Carolini“: „[…] die Gerechtigkeit, die Liebe, Gott selbst, des Menschen Geist selbst, der keinen Körper hat und nicht die Masse eines Körpers.“5 Das ist das Ziel des Erkennens, das ist die beatitudo jenseits alles Irdischen: die „vollkommene Erkenntnis und Liebe Gottes“.6 Spätere Darstellungen waren für heutige Begriffe ff etwas anschaulicher. Auf dem Weltgerichtsaltar des Hans Memling gelangen die Gerechten in die Himmelsstadt: Sie ist als goldenes Leuchten am Eingang einer gotischen Kirche angedeutet.7 Neben der ewigen Glückseligkeit im Himmlischen Jerusalem kennt die Kunst des Mittelalters auch das momentane Glück. Mit der Verkündigung an Maria bricht das dritte Zeitalter – „sub gratia“ – an, das die Zeit vom Erscheinen Christi auf der Erde bis zum Jüngsten Gericht umfasst. Im Regensburger Dom landet auf dem linken Chorpfeiler ein glückstrahlender Engel – und noch bevor er richtig zum Stehen gekommen ist, platzt er schon mit seiner frohen Botschaft ft für Maria auf dem Chorpfeiler gegenüber heraus. Es ist schwer, vor der Gotik ein Lächeln in der Kunst zu finden, aber dann macht sich unübersehbar himmlische Freude breit. Nicht nur Freude, sondern Gefühle jedweder Art werden jetzt, im späten Mittelalter, dargestellt. So nimmt zum Beispiel Maria endlich ihr Kind zärtlich in den Arm und gibt ihm die Brust. Aber nicht nur Maria nährt, sondern auf seine Art auch Josef als Ziehvater, als Nährvater Christi. Er kocht einen Brei für das Kind, schürt Feuer für die Mahlzeit oder zerschneidet seine Hosen zu Windeln. Seit der zweiten Hälfte ft des 14. Jahrhunderts wird Josef in dieser Rolle aktiv. Diese Ikonographie ist als Einwirken bürgerlicher Kultur interpretiert worden, denn solche Motive finden fi sich vor allem in Norditalien und Flandern, wo die Städte immer mächtiger wurden und die Stadtkultur diff fferenzierter. Was so anrührend-menschlich als häusliches Glück wirkt, wird erneut theologisch ausgedeutet. Nach den Schrift ften der Mystiker sollen sich die Gläubigen in Meditation, innerer Schau, die Geburt Christi in allen Details vergegenwärtigen.
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Wenn die Seele das tut, vereinigt sie sich mit Christus selbst. Die innige Verbundenheit von Maria und Christus in den Geburtsbildern ist als Gleichnis dieser Vorstellung gemeint – dabei ist Maria zugleich als „Ecclesia“ zu deuten, d. h. als Einheit von Kirche und Christus.8 Über das Schauen, das Anschauen wird vermittelt: Einzig durch die Ecclesia kann man zu Christus und damit zum Heil, zur beatitudo, gelangen. Diese ist das Ziel, die „unio mystica“ ist der lebendige Vollzug im Sich-Versenken. Ganz anders geartet ist das Zufallsglück. Es wird erst ab dem späten 12. Jahrhundert dargestellt, zunächst vor allem in Handschriften, ft zum Beispiel als Rad der Fortuna im „Hortus deliciarum“ der Herrad von Landsberg (fol. 215), um 1170. Ein Fresko in St. Cyriakus in Berghausen (Sauerland), um 1220, zeigt Fortuna in Gestalt einer jungen verführerischen Frau mit langem offenem ff Haar. Auf ihrer rechten Seite steht ein König aufrecht, doch der andere auf ihrer linken Seite schwankt und droht zu stürzen. Ihr Rad – das Rad der Zeit – geht also selbst über die Herrschaft ft von Fürsten hinweg. Die Herrschaft ft des himmlischen Königs hingegen ist überzeitlich und beständig. In Berghausen ist er in unmittelbarer Nähe zu Fortuna dargestellt.9 Die Frage, wie sich das flüchtige Zufallsglück in haltbares Glück wandeln lässt, ist ein Dauerthema. Deshalb wird die wankelmütige Fortuna oft ft gemeinsam mit den Tugenden dargestellt: die Tugend als „Virtus domitor Fortunae“ und als „Fortuna comes Virtutis“10 und unüberhörbar im Subtext: Warnung und Mahnung. Noch in einer späten Ausgabe des großen Kompendiums der allegorischen Darstellungen, in Cesare Ripas „Iconologia“ (1709) wird das Glück („Happiness“) mit den Tugenden der Seligpreisungen verbunden.11 Was aber ist denn „das Glück“? Darunter wird zu verschiedenen Zeiten Verschiedenes verstanden. Oft ft ist damit die Frage verbunden, welche Rolle irdische Güter spielen. Diese Fragen und Antworten sind auch in der Kunst dargestellt worden. Als Beispiel mag ein Gemälde Tizians (um 1487 / 90–1576) dienen, entstanden um 1515, also noch ein Frühwerk. Der originale Titel ist nicht bekannt.12 Eine junge Dame neigt den Kopf etwas zur Seite, lächelt ein wenig und blickt den Betrachter aus den Augenwinkeln an. Wäre sie real, würde man es als eindeutige „Anmache“ oder als „Flirt“ auffassen; ff die Dame macht ein Angebot. Zudem ist ihr Gewand nicht ganz comme il faut, denn die Manschette eines Ärmels ist aufgebunden und auch die Schnürung des Kleides selbst ist schon gelöst. Halb von der Schulter geglitten, hat die schöne Trägerin diese süße Unordnung scheinbar (!) noch gar nicht bemerkt, weshalb sie umso atemberaubender wirkt. So präsentiert sich keine anständige junge Venezianerin. Es ist Fortuna, die hier weiterlebt, mit halb aufgelöstem Haar, nicht vollständig bekleidet: schön anzusehen, verführerisch, aber nicht von beständigem Charakter. Sie hält uns aber kein Rad vor, sondern einen Spiegel. Der zeigt bekanntlich nicht die Dinge selber, sondern nur ihr Abbild, ihren Widerschein. Die Juwelen, die im Spiegel erscheinen, liegen auf unserer Seite. Ein Geldbeutel dazwischen, Münzen: die irdischen Güter eben, zum Greifen nah – eine Verführung wie die junge Frau selber. Der Spiegel steht etwas schräg, sodass er auch schemenhaft ft zeigt, wie weiter hinten im
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Tizian – Die Eitelkeit der Welt © Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Alte Pinakothek München
Raum, also hinter dem Betrachter, eine alte Frau mit Spinnrocken sitzt. Es ist eine der Parzen, die unseren Schicksalsfaden spinnt und irgendwann abschneiden wird. Schließlich ist das Leben mit seinen Genüssen vergänglich, die Schönheit der Frau ebenfalls, das Spiegelbild nur Schein. Die Kerze in der Hand der Dame ist deshalb
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verloschen. Es wäre zu kurz gedacht, das Bild als Vanitas-Darstellung abzutun, die irdischen Güter als billigen Tand zurückzuweisen und, die Endlichkeit des Lebens bedenkend, sich höheren Werten zuzuwenden. Das frühe 16. Jahrhundert mochte das Gemälde vor allem als moralische Auff fforderung lesen, aber es ist mehr. Alle Fragen des Gemäldes sind ernst gemeint. Was ist Reichtum und was bedeutet er uns? Dies ist kein Bild mehr, das für einen Kirchenraum geschaff ffen wurde. Es gehört nicht unbedingt in einen theologischen Zusammenhang, sondern man kann es sich zum Beispiel im Haus eines wohlhabenden Kaufmanns vorstellen. Neben dem durchaus enthaltenen moralischen Appell ist das Gemälde vor allem ein Kunstwerk. Die Malerei selbst ist ganz sinnlich, die Art des Farbauft ft rags, die Lichtführung, wie sich das Licht auf dem grünen Stoff ff niederlässt, ihn zum Leuchten bringt, sich als Schatten in die Falten zurückzieht, oder wie das weiße Hemd auf der hellen Haut leuchtet. Es gilt traditionell als sehr schwierig, weißen Stoff ff auf hellem Inkarnat darzustellen. Tizian zeigt hier auch seine Virtuosität. So ist das Gemälde an sich Genuss, Glück des Schauens. Beim Betrachten spürt man den Stoff ff zwischen den Fingern: Die zarte Gaze des Haartuchs hat eine ganz andere Qualität als die des Leinenhemdes oder des Kleides oder gar der Haut. Demgegenüber treten die Juwelen in den Hintergrund und werden vom Farblich-Malerischen her fast bedeutungslos. Diese Malerei wertet, sie gibt zumindest optisch der blühenden Schönheit der Frau den Vorrang vor Geld und Schmuck. Selber trägt die Dame, abgesehen von einem schmalen Fingerring, keinerlei Schmuck. Ob diese Wertung Tizians Überzeugung entsprach – er war ca. 25 Jahre alt, als er dieses Bild malte – oder vielleicht der eines möglichen Auft ftraggebers, wissen wir nicht. Das Bild stellt aber die Frage nach dem, was im Leben wirklich zählt: Was war es wert, wenn man am Ende zurückblickt, kurz bevor der Lebensfaden abgeschnitten wird? Das Gemälde hängt in der Alten Pinakothek. Zwei Schritte weiter hängt Tizians „Dornenkrönung“.13 Auf den ersten Blick stellt sich das Gemälde als das Gegenteil von Glück dar. Entstanden in den letzten Lebensjahren des Künstlers, ist es ein Bild äußerster Brutalität. Die Schergen drücken mit Stöcken die Dornenkrone noch fester auf das Haupt Christi, einer ruft ft weitere Kumpane herbei, ein Kind schleppt noch mehr Stöcke heran. Christus selbst erträgt die Qualen gelassen, nicht gebeugt, nicht niedergedrückt. Seine Gestalt ist ein Zitat nach dem Belvedere Torso,14 einer der berühmtesten Antiken. Im Gegensatz zum Torso hält sich Christus aber aufrechter. Das Gemälde führt vor, wie selbst im Augenblick größter Demütigung, in einer Situation des absoluten Ausgeliefertseins, das Opfer sich doch noch die Würde des Menschseins ungebrochen erhält. Christus erscheint deshalb unverletzlich, selbst wenn am Hals das Fleisch in Fetzen hängt. Zugleich ist diese Stelle eine Partie wunderbarer Malerei, ähnlich wie das Tuch, das über die Stufen hängt. Kaum angedeutet, mit nur wenigen Pinselstrichen fast trocken aufgesetzt, erweckt es die perfekte Illusion eines sanft ft über die Stufen hinfl fließenden Stoff ffes.
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Tizian – Dornenkrönung © Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Alte Pinakothek München
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Die enorme Spannung zwischen dem Bildthema der Folter und der Schönheit der Malerei ist aufgehoben in der Seelenruhe Christi. Das Bild ist ein Paradebeispiel für das, was seit der Renaissance von bildender Kunst erwartet wurde, nämlich zu erfreuen, zu belehren und zu bewegen. Diese ciceronische Triade „delectare, docere, movere“ wurde schon früh auf die Kunsttheorie übertragen und immer weiter ausgearbeitet.15 Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts gilt, dass Kunst zunächst erfreuen muss, erfreuen durch Schönheit, sei es durch das Thema der Darstellung, sei es durch die Art der Darstellung, die Kunstfertigkeit. Die Belehrung erfolgte vor allem durch das Thema aus Geschichte oder Religion, d. h. durch die exempla. Die vornehmste Aufgabe aber war es, den Betrachter zu bewegen, ihn in seiner Seele anzurühren und möglichst zu läutern. Damit war der Kunst eine Funktion zuerkannt, die vorher allein der Theologie und der Philosophie zugekommen war, nämlich Wahrheit darzustellen und den Menschen zu verbessern. „Wahrheit“ war synonym mit dem Schönen und dem Guten. Diese Triade war sinnstift ftend, nicht das Glück. Lässt sich aber manchmal vielleicht doch das noch nicht zur Formel erstarrte Wahre, Schöne und Gute mit dem Glück zur Deckung bringen? Dazu hatte zum Beispiel Peter Paul Rubens (1577–1640) einiges beizutragen. Er hat sichtbar glückliche Menschen gemalt, auff ffallenderweise immer in Zusammenhang mit der Liebe. Es beginnt mit seinem ersten Hochzeitsbild, der sog. „Geißblattlaube“, von 1609. Der Fingerzeig auf den Ehering, die schützende Geste des um die Schultern der Frau gelegten Arms, beide umhüllt vom Geißblatt, das auch als Jelängerjelieber bekannt ist,16 folgt der Emblematik von Hochzeitsbildern. Doch strahlen die beiden eine menschliche Verbundenheit aus, die über das Normative der ikonographischen Tradition für Paarbildnisse hinausgeht. Dasselbe Thema der Verbindung eines Paares malt Rubens einige Jahre nach seiner zweiten Eheschließung, nämlich 1638, noch einmal in einer anderen Stillage. Kein Patrizierpaar, sondern Schäfer und Schäferin treffen ff mit sichtlichem Vergnügen bzw. Vorfreude aufeinander.17 Diese Trennung von galanter, domestizierter Liebe und ausgelassener, sinnlicher Liebe hat Rubens in seinem gesamten Œuvre durchgehalten. Das Thema der Brautschau bzw. des Liebesglücks spielte Rubens auch noch in einer mythologischen Variante durch, als er den „Raub der Töchter des Leukippos“ malte.18 Castor und Pollux haben ihre Brautschau beendet und greifen zu. Ihre Wahl ist auf Hilaeira und Phoibe gefallen, die Töchter des Königs Leukippos. Castor, der sterbliche der Zwillingsbrüder, ist an seiner schützenden Rüstung zu erkennen. Der Blickkontakt zwischen Castor auf dem Pferd und der noch halb am Boden liegenden Frau (Hilaeria und Phoibe sind nicht unterscheidbar) ist noch kein Glück – aber bei allem Schrecken über den Überfall kommt ihr doch die Ahnung von etwas ganz Anderem. Ihre Schwester wird emporgehoben, sanft ft im Rücken gestützt. Aber im Grunde schwebt sie aus eigener Kraft ft empor, das Gesicht schon verklärt. Es ist eine Art Himmelfahrt, die hier stattfindet, fi ab in die Seligkeit. Außerdem ist es nicht einfach die Geschichte einer Entführung, die hier ein gutes
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Rubens und Isabella Brant in der Geissblattlaube © Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Alte Pinakothek München
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Rubens – Raub der Töchter des Leukippos © Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Alte Pinakothek München
Ende zu nehmen scheint.19 Sie enthält eine Moral im Sinn des delectare, docere, movere, denn das Pferd galt als Symbol männlicher Lust. Um diese buchstäblich zu zügeln, hält ein Liebesgott die Zügel des einen Pferdes. „Für Rubens ist der Reiter oder Ritter der erzogene und kultivierte Mensch, der seine Triebe in Zaum zu halten versteht und nicht ,amore bestiale‘ Herr über sich werden lässt.“20 Das aber ist klassische Ikonographie neu inszeniert: Die Prudentia, die Umsicht und Klugheit, hat als Attribut die Zügel und einen Spiegel, in den sie aufmerksam blickt, um zu sehen, was hinter ihrem Rücken vorgeht. Sie zügelt sich und sie schaut genau hin. Darum steht diese Tugend
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traditionsgemäß an erster Stelle unter den vier Kardinaltugenden21 – dies eine Anleitung zum Glücklichsein. Als Rubens Anfang 50 ist und auf eine Karriere als Maler und weitgereister Diplomat zurückblicken kann, als er sieben Jahre verwitwet ist, und mit Tacitus meint: „Das Leben und ich, wir haben einander kennengelernt“, da entschließt er sich, sein Leben zu ändern.22 Er heiratet im Alter von 53 Jahren am 16. 12. 1630 die erst sechzehnjährige Helene Fourment. Vier Jahre später schreibt er in einem Brief: „Nun lebe ich durch Gottes Gnade seit drei Jahren wieder in ruhiger Beschaulichkeit, da ich jeder Art von Beschäft ft igung, die mich meinem teuren Beruf fernhielt, entsagt habe […]. Tag und Nacht von einem Heer beschwerlicher Geschäft fte bedrängt, […] faßte ich den Entschluß, mir selbst Gewalt anzutun und diese goldenen Knoten des Ehrgeizes zu zerschneiden, um meine Freiheit wieder zu erlangen […]. Bedenkend, daß […] man sich von Fortuna abwenden müsse, wenn sie uns günstig ist […]. Ich habe mich zur Heirat entschlossen, da ich noch nicht geneigt war, in der Entsagung des Zölibats zu leben und primas damus alla mortifi ficatione fruimur licita voluptate cum gratiarum actione etc. (da wir die erlaubten Freuden mit Dankbarkeit genießen dürfen). Ich habe eine junge Frau aus gutem, aber bürgerlichem Haus genommen, obwohl alle Welt mich zu überreden trachtete, eine Hofdame zu ehelichen. Aber ich fürchtete commune illud nobilitatis malum superbiam praesertim in illo sexu (den Stolz, dieses dem Adel anhaftende ft Laster, besonders in diesem Geschlecht), und deshalb hat es mir gefallen, ein Weib zu nehmen, das nicht errötet, wenn es mich den Pinsel zur Hand nehmen sieht. Und um die Wahrheit zu sagen, wäre es mir hart angekommen, den kostbaren Schatz der Freiheit gegen die Liebkosungen einer Alten einzutauschen.“23
Es wirkt wie ein Entschluss, glücklich zu sein, nicht wie ein zufälliges Geschenk des Schicksals oder der Fortuna. Rubens wählt mit Bedacht. Wohl gibt er seinen Neigungen nach, aber mit Umsicht, prudentia. Er ist dabei glücklich geworden, wie er selber sagt (zu seiner Frau fehlen Zeugnisse). Zur Zeit des zitierten Briefs malt Rubens den „Liebesgarten“, so der heutige Titel, von 1632–1634.24 Es ist kein Auft ftragsbild, sondern Rubens hat es für sich selbst gemalt. Es hat den Anschein, dass in den Frauen vor allem seine junge Ehefrau verewigt ist. Zugleich hat sich Rubens selbst verjüngt und sich zweimal seiner Frau auf der Leinwand zugesellt sowie weitere Familienmitglieder versammelt. Das jedenfalls war die früheste Interpretation des Gemäldes. Sie stammt von Gustav Glück und konnte sich nicht durchsetzen.25 An dieser Stelle sei eine Nebenbemerkung eingeschoben, die ebenfalls mit Glück zu tun hat. Bis 1988 wurden die Donald Duck-Geschichten von einer Kunsthistorikerin, Dr. Erika Fuchs (1906–2005), ins Deutsche übersetzt. Ihr ist es zum Beispiel zu verdanken, dass Donald und seine Neff ffen nicht in Duckburg, sondern in Entenhausen leben. Sie erfand auch die Namen Tick, Trick und Track für die Neffen. ff Der Name der Glückspilzente Gustav dagegen war keine creatio ex nihilo. Er dürft fte eine Referenz gegenüber dem geschätzten Kollegen gewesen sein, dem Kunsthistoriker Gustav Glück.
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Rubens – Der Liebesgarten © bpk, Joseph Martin
Zurück zum Liebesgarten und seiner Deutung. 1593 veröffentlichte ff Cesare Ripa eine Sammlung von Personifi fikationen. Seine „Novissima Iconologia“ wurde zur Bibel der Ikonographie. Hier fanden Künstler und Kenner eine Art Lexikon, wie abstrakte Begriff ffe darzustellen waren. Die erste Ausgabe war noch unbebildert, die zweite von 1603 dann mit Holzschnitten illustriert. Das Kompendium wurde zu einem wahren Bestseller, immer wieder neu aufgelegt, ergänzt und abgewandelt.26 Rubens’ Gemälde zeigt links das Werben eines Kavaliers. Vorsichtig umfasst er seine Angebetete, wirbt mit bittendem Blick, sie möge doch nicht gar so zurückhaltend sein.27 Es ist aber schon gewiss, was aus den beiden wird, denn ein Putto schiebt die junge Frau energisch in seine Arme, selbst wenn sie noch etwas unentschlossen auf die anderen Paare und Damen auf der Wiese schaut. Was so natürlich wirkt, findet sich in Ripa als Sinnbild von „Fried und Eintracht der Eheleuten“.28 Deshalb sausen über Rubens’ Paar zwei Putti mit weißen Tauben, den Venusvögeln, und dem Ehejoch heran,29 selbst wenn die Dame noch zögert. Auf der Wiese hat sich ein weiteres Paar niedergelassen. Er flüsfl tert ihr ins Ohr, sie lehnt sich vertraut an ihn, blickt aber nicht diesen Kavalier, sondern den Betrachter an. Hier haben die Putti ihr Werk schon gut vorangebracht. Drei weitere Damen, ganz entspannt, werfen scheele Blicke auf das turtelnde Paar, richten ekstatisch den Blick zum Himmel oder ziehen eine vierte Dame, die auch gerne dazugehören möchte, zu sich hin. Ein Lautenspieler sorgt für entsprechende Stimmung.
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Die Stufen des Palastes schreitet ein Kavalier stolz mit seiner Dame herab, bzw. sie mit ihm, den Fächer – eine Pfauenfeder – wie eine Trophäe hoch erhoben. Das ist nicht weiter verwunderlich, ist doch der Pfau der Juno heilig, die die Ehe beschützt. Der kleine Hund, Symbol der ehelichen Treue, folgt den beiden auf dem Fuß und hält angesichts des Treibens im Garten verdutzt inne. Venus selbst als Göttin, unter deren Schutz dieses Fest steht, reitet auf einem Delphin und spendet aus ihren Brüsten Wasser: ein Fruchtbarkeitsmotiv, passend zur Ehe. Der Delphin ist antikes Glückssymbol (!) und nach Ripa „Merckmal eines angenehmen und liebreichen Gemüth […] das sich leichtlich lencken und regieren läst.“30 Putti wirbeln durch die Luft ft, schießen Pfeile, bringen Blütenkränze und streuen Blumen auf die Damen. Diese Blumen und Kränze, vor allem Rosen, sind laut Ripa Attribute der Fröhlichkeit. Die Fröhlichkeit ist auch insofern ein Attribut der Jugend, als sie vorzeitiges Altern verhindert.31 Ziel dieser Geschosse ist auch ein Paar, das eng umschlungen auf der Brüstung sitzt und den fröhlichen Spielereien eines anderen Paares zusieht. Der Kavalier dort oben versucht, mit seinem breitrandigen Hut und vollem Körpereinsatz gleich zwei Damen vor den Wasserspritzern eines Brunnens zu schützen. Solche neckischen Wasserspiele waren überaus beliebt, denn sie erleichtern unter dem Vorwand des Schutzes oder des Schutzsuchens die Annäherung der Geschlechter. Die drei Grazien auf der Brunnenschale feiern die weibliche Schönheit. Zugleich sind sie Symbol der Freundschaft, ft denn sie geben einander, sie nehmen voneinander und sie vergelten einander im Guten.32 Die drei Damen auf der Wiese sind als Verkörperungen der drei Sinne Sehen, Hören, Fühlen gedeutet worden; wir kommen auf die fünf Sinne später noch zurück.33 Julius Held erkannte in ihnen neuzeitliche Grazien, moderne Pendants zu den antiken Statuen hinter ihnen.34 Aber wieder ist bei der Interpretation Vorsicht geboten: Das Bild zeigt Liebe, wie sie im Flandern des 17. Jahrhunderts genau nichtt war.35 Das macht misstrauisch. Schließ36 lich wurden die drei Damen im Zentrum als neoplatonische Allegorien identifiziert. fi Pico della Mirandola kannte drei Arten von Liebe: amor celestis, amor humanus, amor vulgaris. Er versuchte, sie mit den Erkenntnisstufen der menschlichen Seele zu analogisieren: „intelletto“, „ragione“, „senso“. Leone Ebreo verfeinerte das System weiter. Er ordnete der höchsten Stufe, der anima intellectiva, das Erkennen und Wollen zu. Die anima sensitiva ist die Welt der Sinne, des Bewegens und des Vorstellens, der „fantasia“. Die unterste Ebene ist die der anima vegetativa; sie umfasst das Zeugen, Ernähren und Wachsen. Vielleicht ist tatsächlich etwas davon in Rubens’ Bild eingeflossen. fl Die Dame mit dem klassischen Denker- bzw. Meditationsgestus des aufgestützten Kopfes gebraucht offenbar ff ihre Sinne, ihren Verstand. Die ekstatische kann diejenige Liebesform darstellen, die Leone Ebreo als die „dilettazione intellettuale“ bezeichnet: „[…] sie ersehne die innigste Vereinigung mit dem geliebten Wesen, die körperliche als Anzeichen der seelischen.“ Die dritte Dame, an die sich ein Putto anschmiegt, entspricht in dem mütterlichen Charakter der „potentia nutritionis, generationis, augmenti“ Ebreos.37 In
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der Kunstgeschichte entdeckten vor allem Erwin Panofsky38 und Edgar Wind39 diese philosophische Schule als Quelle der Kunst. Es gelang aber längst nicht immer, dies nahtlos auf die Werke zu übertragen und eine eindeutige Interpretation zu liefern. Nicht umsonst scheitert man an Gemälden wie Tizians „Himmlischer und irdischer Liebe“, sobald man Monothematik und Eindeutigkeit sucht (siehe unten).40 Das neoplatonische Gedankengut darf für das 16. und 17. Jahrhundert als geistiges Allgemeingut gelten, aber Künstler haben sich zu allen Zeiten das Recht vorbehalten, ihre Werke nicht als buchstabengetreue Illustration der Philosophie- oder Theologiegeschichte zu schaffen. ff Schließlich verstanden sie sich oft ft selber als Hüter und als Vermittler von Wahrheit und gestatteten sich deshalb ihre eigene Auslegung. So ließ sich auch die neoplatonische Philosophie nicht als die einzig seligmachende Deutung halten. Elise Goodman interpretierte das Gemälde von seinem zeitgenössischen Titel her: „Conversatie à la Mode“.41 In diesem Genre der Konversationsstücke ist kein Platz für allegorische Personen oder moralphilosophische Überlegungen. Diese Bilder versammeln Freunde, manchmal auch Verwandtschaft ft auf einer Terrasse oder in einem Garten zu einem friedlichen, harmonischen Miteinander. Es können auch junge Paare sein oder solche, die es werden wollen. „À la mode“ bedeutete: „modern“, „der letzte Schrei“ und wurde eben auf Mode bezogen. Entsprechend sind die Paare und Damen im Gemälde Rubens’ tatsächlich nach der neuesten Mode gekleidet. Nimmt man die Sprache der Blicke hinzu, ist dieses Miteinander durchaus nicht spannungsfrei. Blicke aneinander vorbei, der Blick aus dem Bild heraus, Blicke, die vergleichen, künden von Neugier ebenso wie vom Vergnügen und von einem Mehr an Möglichkeiten. Ripa weiß dazu: „Es ist die Gesellschafft fft / oder Gemeinschafft fft nichts anders / als ein solcher Gebrauch / da ein Freund mit dem andern umbgehet und sich diejenigen, welche einander kennen, zusammen halten, und auß guter auff ff richtiger und ehrlicher Vertraulichkeit ergötzliche Freundschafft fft pfl flegen; dannenhero auch in gemein gesagt wird, es seye nichts annehmlichers und lieblichers in dem menschlichen Leben als eben eine holdselige gute Gesellschafft fft.“
Dies, so Ripa, sei Ausweis menschlicher Bildung und angenehmer Umgangsformen. Mehr junge als alte Menschen widmen sich diesen Ergötzungen, wobei sie aber unbedingt auf gute Gesellschaft ft achten sollten.42 Das gelang nicht immer. Genau aus diesem Grund wurden Darstellungen der Liebesgärten mit Liebesbrunnen auch kritisiert, leisteten sie doch den Lastern der acedia und luxuria (der Faulheit bzw. „Trägheit des Herzens“ und der Wollust, Völlerei, Zügellosigkeit) Vorschub. Mit dem Aufenthalt in Liebesgärten war die ewige Seligkeit im Paradiesgarten nicht zu erlangen!43 Das galt umso mehr, als die Feste im Liebesgarten mit Essen, Trinken, Musik und dem Beisammensein der Geschlechter mitunter sehr an das Gleichnis vom Verlorenen Sohn erinnerten, der in der Fremde auf diese Weise sein Erbe verprasst hatte.
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Rubens konnte sich Inspirationen aus zahlreichen Stichen und der gängigen Ratgeber-Literatur holen. Das Thema Th war im 17. Jahrhundert ziemlich beliebt, denn zu den Konversationsstücken gehörten oft ft Musik, Flirten und Promenieren sowie Essen und Trinken unter freiem Himmel, häufi fig vor prächtiger Architekturkulisse. Die Liebesgärten legten den Akzent eher auf Paardarstellungen, gelegentlich unter Alkoholeinfluss, fl und auf schon fortgeschrittene Annäherung. Versatzstücke des antiken locus amoenus gestalteten die Liebesgärten aus: eine Quelle oder ein Brunnen, gerne auch eine Grotte als Rückzugsmöglichkeit. Immer gehörten modische Kleidung, eine gewisse Eleganz und Reichtum dazu. Alle Komponenten konnten vereinigt werden, weshalb Rubens’ „Conversation à la mode“ eben auch zum „Liebesgarten“ werden konnte. Einer der damals gängigen Ratgeber, „Le Manuel d’amour“ von 1614, erklärt die höfl flich-höfi fische Konversation zum Kern des gesellschaft ft lichen Umgangs. Was ist deren bevorzugtes Thema, Th wozu rät das Handbuch? Es ist die Liebe, denn sie ist für Eintracht und alles Glück grundlegend.44 „Le Jardin d’amour“, ebenfalls aus dem frühen 17. Jahrhundert, gibt jungen Männern Tipps, wie sie sich ihren Angebeteten erst nähern und sie dann beeindrucken können. Man solle sie in der Gesellschaft ft ihrer Freundin aufsuchen, am besten an Orten, wo man zum Entspannen hingeht.45 Ein weiterer Ratgeber empfiehlt fi dafür Gärten, weil sie alle Sinne ansprechen. Im Garten soll man Spiele machen, die Realität und Fiktion miteinander vermischen, wie z. B „Venus, Cupid und die drei Grazien““46 – Rollenspiele würde man heute sagen. Außerdem solle man sich modisch anziehen und das Gespräch auf Themen Th wie Mode und 47 Liebe lenken. Rubens tadelt diesen Luxus in Kleidern, „die neue Form der Galanterie, […] des Liebes- und Modegesprächs““48 nicht – für ihn als geadelten Künstler und Diplomaten gehört er zur standesgemäßen Repräsentation. Diese Deutungen – einerseits das Hohelied von Freude und Lust, andererseits verhaltene Tugendlehre – widersprechen einander nicht; das Gemälde trägt alle diese Interpretationen. Rubens’ „Liebesgarten“ ist vor allem ein Bild von Lebensbejahung, von Lebensfreude, auch wenn es eben die Liebe zeigt, wie sie im Antwerpen des 17. Jahrhunderts genau nicht war. Es ist wieder Fiktion, vielleicht Vision, und nur darum so gelungen.49 Kurz nach diesem „Liebesgarten“ malte Rubens sozusagen seinen privaten „Liebesgarten“. Zusammen mit Helene Fourment und dem Sohn Nicolas aus erster Ehe wandelt er im Garten von Het Steen,50 dem Schloss, das er gekauft ft hatte. Alle Topoi inklusive des Pfaus der Ehe-Beschützerin Juno finden fi sich hier wieder, und doch ist das Bildnis sehr persönlich. Hier steht nicht die allegorische Deutung im Vordergrund, sondern es wirkt aufgrund der drei Portraits und des kleineren, intimeren Formats vor allem wie ein Bild von Rubens’ ganz persönlichem Glück. Wie geht es weiter mit den Bildern und Vorstellungen vom Liebesglück? Dazu ein Blick auf Jean-Antoine Watteau (1684–1721): „Die Einschiff ff ung nach Cythera“.51 Unter diesem Titel reichte Watteau das Gemälde der französischen Akademie ein. Der Sekretär strich den Titel durch und trug stattdessen ein: „une feste galante“.52
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Watteau – Die Einschiff ff ung nach Kythera © bpk, Stift ftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg
Nah am Ufer, unter dem Schutz der Venus, haben sich die wiederum modisch gekleideten jungen Liebespaare versammelt. Ganz ähnlich wie bei Rubens erwacht auch diese Statue zum Leben. Leier und Bücher zeigen an, dass sich selbst Kunst und Wissenschaft ft in den Dienst der Liebesgöttin gestellt haben. Mars, Gatte der Venus, hat seine Waff ffen als Votivgaben am Sockel der Statue abgelegt, und ein Putto garniert sie mit einem Olivenzweig, Symbol des Friedens. Venus nimmt auch Amor seine Waff ffen, die Liebespfeile, ab. Der Grund der Entwaff ffnung: Es geht hier nur vordergründig um die besinnungslose, die blinde Liebe. Vielmehr geht es um die Zügelung der Leidenschaft ft, um ein gesittetes, höfl fliches Miteinander der Geschlechter. Jutta Held hat auf die veränderte Stellung der Frau im 18. Jahrhundert hingewiesen und auf die Salons mit ihrer Konversationskultur: „Wer in der Welt Erfolg haben wollte, war gehalten, die Damen aufzusuchen, ihnen zu gefallen und zu gehorchen.“53 Deshalb hat nicht nur Venus den Cupido entwaffnet, ff sondern auch eine Dame in Gelb ihren Gefährten. Bei Ripa bedeutet der an der Seite gegürtete Degen „die Lust der Ehrsüchtigen oder Gehzornigen [Jähzornigen, R. P.], die zu ihren Zweck lauter Macht, Gewalt und Sieg haben“54 – dieser Mann ist dank seiner Dame zum Besseren gewandelt. Darum ist auch der Aufb fbruch nicht überstürzt, sondern überlegt. So zwängte der Sekretär der Akademie eine ungebärdige Geschichte in die Gesetze einer Gattung und entschärft fte damit das Bild, machte es gesellschaft ftsfähig, als er mit
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seinem veränderten Bildtitel aus einem Historiengemälde ein Konversationsstück machte. Das Paar zu Venus’ Füßen fesseln die kleinen Liebesdiener gerade mit einer Rosengirlande, um es am Aufbruch fb zu hindern. Die Dame in Gelb blickt sich sehnsuchtsvoll – oder auff ffordernd? – um, während ihr Begleiter sie zum Schiff ff drängt. Ihr Umdrehen ist auch so interpretiert worden, dass die Glücklichen von der Insel abreisen.55 Am Schiff ff sind schon einige Paare versammelt, um an Bord zu gehen. Zwei Eroten drangsalieren einen Kavalier: Sie ziehen ihn am Pilgerstab und am Gewand vorwärts; das wiederum spricht für einen Aufb fbruch zur Liebesinsel. Ob die Putti das Begrüßungsoder Abschiedskomitee bilden, bleibt vorerst in der Schwebe: zwei jedenfalls schlagen sich eilig in die Büsche. Nah bei ihnen füllt ein Jüngling seiner Herzensdame Blüten in die angehobene Schürze, ein ziemlich deutliches sexuelles Signal. Die anderen, die sich schon gefunden haben, ziehen zum Schiff ff – und dort schießt ein Putto seinen Pfeil verkehrt herum ab. Das erzeugt nicht Liebe. In der damaligen Auff ffassung bestimmter höfischer fi Kreise, der Preziösen, beendete die Eheschließung die Liebe. Liebe und Ehe waren für sie zweierlei; sie zu verbinden, war nicht unbedingt angeraten.56 Watteau ist anderer Meinung. Kythera ist die Insel, wo der Sage nach Venus, aus dem Schaum des Meeres geboren, an Land gestiegen ist. Diese Insel wurde mit Zypern oder auch Curgo bei Kreta gleichgesetzt. Kythera war der Venus Urania geweiht, der Patronin der glücklichen Ehe. Die Paare machen sich also auf nach Kythera. Dort werden sie ihre Liebe durch Eheschließung besiegeln, und die Putti, die um das Schiff ff 57 ff sind einander selbstverherumwirbeln, verheißen Kindersegen. Die Paare am Schiff ständlich verbunden, deshalb auch hier der Hund als Symbol der ehelichen Treue. Diejenigen Paare, die bleiben, nah bei Venus, dicht am Waldrand, sind noch der „galante(n) und zugleich sinnliche(n) Liebe, die an keinen Aufb fbruch denkt“, verhaftet,58 der noch nicht domestizierten Liebe. Aber das wird in Ordnung kommen, wie die abgelegten Waffen ff verraten. Liebe und Vernunft ft finden dank der prudentia zueinander – darum geht es in diesem Gemälde. Es geht um den „seelischen Einklang“ als Weiterentwicklung aus der körperlichen Anziehung.59 Mit ihren Pilgerstäben machen sich die Paare zu einer Reise auf, deren Gelingen auch in ihrer eigenen Hand liegt, nicht nur der der Fortuna. Ihr Schiff ff werden sie selber steuern müssen, denn gegenüber der früheren Pariser Fassung gibt es in der hier gezeigten dritten, der Berliner Fassung, keinen Steuermann mehr. Der locus amoenus, Arkadien, lebte weiter. Das Gartenmotiv, verbunden mit Paarmotiv und Anklängen an den Liebesgarten, wurde zum Standard. Ein später Nachkomme ist zum Beispiel Auguste Renoirs „Tanz im Moulin de la Galette“ (1876).60 Die Annäherung aneinander, das Zögern der Damen, milder Sonnenschein, Vergnügungen unter freiem Himmel, Essen und Trinken – das alles fi findet sich hier wieder. Wenn Renoir (1841–1919) selbst noch das Motiv des Fortziehens von Watteau entleiht61 und seine Paare immer wieder in sonniger Landschaft ft traute Zweisamkeit pfl flegen,62 und wenn selbst noch Henri Matisse (1869–1954) mit seinen vielen verschiedenen Fassun-
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Ripa – Iconologia, Ausgabe Frankfurt 1669, Lemma Erlustigung, Ergötzlichkeit
gen von „Le bonheur de vivre“63 in dieser Tradition steht, dann ist klar, dass wir es hier mit einem Topos zu tun haben.64 Vielleicht war er auch deshalb so langlebig, weil er einen Wunsch anspricht, einen Wunsch, der so stark ist, dass er seit der Antike in imft entfaltete: Der mer neue Form gefasst wurde65 und immer wieder neue Bannkraft Wunsch nach einem liebevollen, respektvollen Miteinander, das alle Facetten der Liebe umfasst.
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Macht das die Menschen wirklich glücklich? Oder ist es womöglich eine nicht erreichbare Illusion, die uns zum Narren hält? Kehren wir noch einmal zu Rubens und zu Ripa zurück, um den Lautenspieler zu betrachten und seiner Musik zu lauschen. Zwar gehört er zum Personal der Gelage des Verlorenen Sohnes, aber regelmäßig auch zu den Konversationsstücken, die das ideale Miteinander der Geschlechter feiern. Seiner Musik verdankt sich die Ekstase der Rubens-Dame im Zentrum des „Liebesgartens“. Ist sie wirklich nur eine Darstellung des Hörens, eines der fünf Sinne? Oder sind die beiden Gestalten, Musiker und Hörerin, der Schlüssel zu dem, was wirklich glücklich macht? Ripa fasst zusammen, was zum Thema „Erlustigung / Ergötzlichkeit“ für seine Zeit verbindlich war.66 Sinnbild ist ein junger Mann mit Leier oder Geige, mitunter auch einer Flöte oder Laute. Neben ihm liegt ein Buch des Aristoteles. Damit spielt Ripa auf dessen Abhandlung über die Seelenkräfte ft an, die er mit den fünf Sinnen in Verbindung bringt. Dahinter ist ein Notenbuch aufgeschlagen. Ripa erläutert: „Das Buch […] bemercket die Lust zum philosophiren und eines auß dem andern vermittelst der Vernunfft fft zu schliessen und herauß zu suchen, welche meistentheils im lernen bestehet, und nach Platonis Meinung durch fünff ff oberzehlte Mittel, als das Iudicium oder der Verstand, die Erfahrung, die Klugheit, Vernunfft fft und Warheit außgeübt wird.“ Soweit die Wissenschaft ft und warum sie glücklich macht. Was aber zur Kunst? Ripa fährt fort: „Das Music-Buch bedeutet nicht allein das Singen, so fern es das Gehör betrifft fft, sondern auch die Lust und sonderbahre Ergötzung, so die Music zu erwecken pfl fleget. Dannenhero als Socrates das Oraculum fragte, was er thun solte, daß er möchte glückselig werden? Ward ihm zur Antwort gegeben? Er solte die Musik lernen […].“67 Ripa führt es mit Philostrat weiter aus, und damit ist der Bogen zurück zum „Liebesgarten“ geschlagen: „die Music benehmt den Traurigen den Unmuth, macht die Fröhliche noch lustiger, die Verliebte noch hitziger, die Andächtige und Geistliche noch andächtiger […].‘“68 Soviel zur Musik und ihrer Fähigkeit, zu beglücken – aber selbst das ist noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Dorthin führen die schnäbelnden Tauben zu Füßen des Musikers bei Ripa bzw. in den Lüft ften bei Rubens. Sie bedeuten die „Ergötzung der Liebe, welche von Platone allen andern Belustigungen vorgesetzet wird in seinem Buch, welches er Convivium, oder De Amore nennet, allwo er unter andern also redet: Nulla voluptatem est maiore potentior; Unter allen Wollüsten ist keine mächtiger als die Liebe.“ Demgegenüber verblasst für Ripa selbst aller irdischer Reichtum: „So wird der Reichthumb selbst, so Liebe lebt, gering. / Die macht, daß ich sonst nichts in meinem Herzen achte […].“69
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Anmerkungen 1 Eine Ausnahme ist Sladek, Der Weg ins Paradies. 2 Vgl. Pesch, Artikel „Glück (Mittelalter)“, Sp. 692. 3 Exemplare des 11. und 12. Jahrhunderts sind im Dom von Hildesheim, auf der Großcomburg bei Schwäbisch Hall und als Stift ftung Friedrichs I. und Beatrix’ in der Aachener Pfalzkapelle erhalten. 4 Die irdische Ecclesia soll als gelebtes Abbild auf das Himmlische Jerusalem vorausweisen. Nur durch sie kann man zu den Auserwählten gehören, die einstmals in die Himmelsstadt zur Gottesschau einziehen werden. So wie das Himmlische Jerusalem Wohnstatt Christi ist, so soll schon die irdische christliche Gemeinde die Himmelsstadt abbilden. Die Gemeindemitglieder werden außerdem oft ft mit „lebendigen Steinen“ verglichen, die das Haus Christi bauen. 5 Bastgen, Libri Carolini, 161; siehe auch Luther, Das Arnulfciborium, 114. Dieselben Gedanken schrieb auch Alkuin (Epistola CCIV, in: Patrologia Latina 100, Sp. 478–479) nieder. 6 Pesch, Glück (Mittelalter), Sp. 693. 7 Hans Memling: Weltgerichtstriptychon, 1467–1471, Danzig, Nationalmuseum. 8 Vgl. Schiller, Ikonographie der christlichen Kunst, 69–99; Demus, Romanische Wandmalerei, 86. 9 Vgl. Ristow, Artikel „Fortuna“. 10 Vgl. Wittkower, Chance, Time and Virtue. 11 Vgl. Ripa, Iconologia, 10, fig. 38. 12 Tizian: Die Eitelkeit der Welt, um 1515, München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Alte Pinakothek. Vgl. dazu: Bayerische Staatsgemäldesammlungen, [Katalog] Alte Pinakothek München, 531 f. (Rolf Kultzen). 13 Tizian: Dornenkrönung Christi, Spätzeit, München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Alte Pinakothek. Vgl. dazu: Bayerische Staatsgemäldesammlungen, [Katalog] Alte Pinakothek München, 534 f. (Rolf Kultzen). 14 Belvedere Torso, Rom, Musei Vaticani, Marmor, 159 cm hoch. 15 Dazu Lee, Ut pictura poesis. 16 Peter Paul Rubens: Rubens und Isabella Brant in der Geißblattlaube, 1609, München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Alte Pinakothek. Vgl. dazu: Bayerische Staatsgemäldesammlungen, [Katalog] Alte Pinakothek München, 432 (Ulla Krempel). 17 Peter Paul Rubens: Schäfer und Schäferin, um 1638, München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Alte Pinakothek. Vgl. dazu: Bayerische Staatsgemäldesammlungen, [Katalog] Alte Pinakothek München, 458 f. (Ulla Krempel). 18 Rubens: Raub der Töchter des Leukippos, um 1618, München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Alte Pinakothek. Vgl. Evers, Peter Paul Rubens, 191–196, zur ikonographischen Tradition bes. 193. 19 Zu den Quellen, die Rubens hier sehr frei umsetzt, vgl. Bayerische Staatsgemäldesammlungen, [Katalog] Alte Pinakothek München 456 f. (Ulla Krempel). 20 Glang-Süberkrüb, Der Liebesgarten, 72. Glang-Süberkrüb verweist auf Bocchi: Symbolicae quaestiones, no. CXVII: „Semper libidini imperat prudentia“; hierzu Wind, Pagan Mysteries in the Renaissance, Kapitel 9: Sacred and Profane Love, 141–151, hier 145, Anm. 15, Abb. 41. 21 Es erinnert an die mittelalterliche Lehre, dass der Weg zur ewigen Glückseligkeit über die Tugenden führt.
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22 Rubens hatte 1609 die 1591 geborene Isabella Brant geheiratet. Sie starb unerwartet am 20. 06. 1626. Das Zitat nach Tacitus, Historiae, 2.47: „experti sumus inciem fortuna et ego“ im Brief an Peiresc vom 18. 12. 1634, zit. nach: Rubens, Die Briefe des P. P. Rubens, 439. 23 Brief vom 18. 12. 1634 an Peiresc, zit. nach Rubens, Die Briefe, 438 ff ff. 24 Rubens: Liebesgarten, 1632–1634, Madrid, Prado. 25 Vgl. Glück, Rubens’ Liebesgarten, 63 und 96–98. 26 Vgl. Ripa, Novissima Iconologie. Padua 1593. Eine sehr gute Einführung ist immer noch Mandowsky, Untersuchungen zur Iconologie des Cesare Ripa. 27 Das formale Vorbild dürft fte die Braut der Aldobrandini-Hochzeit, Rom sein. Hierzu GlangSüberkrüb, Der Liebesgarten, 69–71 mit weiteren Beispielen zur Vorgeschichte des Motivs. 28 Vgl. Ripa / Strauß, Herrn Caesaris Ripae erneuerte Iconologia, 8 f. Der Text ist eine Übersetzung der Ausgabe Rom 1603. 29 Die Deutung als Ehejoch bei Held, Antoine Watteau, 34. 30 Ripa / Strauß, Herrn Caesaris Ripae erneuerte Iconologia, 66 f. 31 Vgl. ebd., Lemma „Fröhligkeit“, 32; ebd., Lemma „Bestättigung der Freundschafft“, fft 14 f.: Der Blumenkranz ist genauso Attribut der Freundschaft, ft ebenso wie ein Pokal voller Wein, den eine junge in Grün gekleidete Dame anbietet. 32 Vgl. ebd., Lemma „Freundschafft fft“, 43. 33 Vgl. Evers, Rubens, 339–348. 34 Vgl. Held, Th The Oil Sketches of Peter Paul Rubens, 412 f. 35 Zum Wandel von Gattenzwang zu Gattenwahl siehe Luhmann, Liebe als Passion, Kap. 13– 14. Siehe auch Kuhn, Artikel „Liebe“; ders., Liebe. 36 Die Forschungsgeschichte zu dieser Identifi fizierung referiert Glang-Süberkrüb, Der Liebesgarten, 23 f. 37 Vgl. ebd., 24. Sie stützt sich ihrerseits auf Pflaum, fl Die Idee der Liebe, 95. 38 Vgl. Panofsky, Studies in Iconology, Kap.: The Th blind Cupid. (Deutsch: Studien zur Ikonologie, Kap.: Der blinde Amor, 153–202.) 39 Vgl. Wind, Pagan Mysteries in the Renaissance, Kap. 9 (Sacred and Profane Love, 141–151) und Kap. 10 (Orpheus in Praise of Blind Love, 53–80). 40 Tizian: Himmlische und irdische Liebe, 1515, Rom, Galleria Borghese. 41 Vgl. Goodman, Rubens’s „Conversatie à la Mode“. 42 Vgl. Ripa / Strauß, Herrn Caesaris Ripae erneuerte Iconologia, Lemma „Gemeinschafft fft / Gesellschafft fft“, 45–48, Zitat 45. Ebd., Lemma „Gastung / Mahlzeit“, 51 f.: Essen und Trinken spielen bei diesen Konversationen eine wichtige Rolle. 43 Vgl. Held, Antoine Watteau, 35 ff. zu den Vorläufern der Liebesgärten und der geistlichen Kritik. 44 Vgl. Goodman, Rubens’s „Conversatie à la Mode“, 251 und ebd., Anm. 28, wo Goodman aus dem Vorwort von „Le Manuel d’amour“ zitiert. 45 Vgl. ebd., 251. 46 Vgl. ebd., 251 f., wo sie auf René Bary, „La Maison des jeux“ (Paris 1642) verweist. 47 Vgl. Goodman, Rubens’s „Conversatie à la Mode“, 251 f. 48 Held, Antoine Watteau, 36, im Rückgriff ff auf Goodman, Rubens’s „Conversatie à la Mode“. 49 Dass Rubens seine zweite Frau sehr bewusst ausgewählt hat und sich dabei von vernünftigen Überlegungen leiten ließ, dies aber nicht ausschließlich, passt genau in dieses Muster. 50 Rubens und seine zweite Frau im Garten, 1631, München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Alte Pinakothek. Vgl. dazu: Bayerische Staatsgemäldesammlungen, [Katalog] Alte Pinakothek München, 435 f. (Ulla Krempel). 51 Watteau hat drei Fassungen dieses Themas gemalt. Erste Fassung: um 1710, Frankfurt,
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Städelsches Kunstinstitut. Zweite Fassung: 1717, Paris, Louvre. Dritte Fassung: um 1719, Berlin, Schloss Charlottenburg. Vgl. Held, Antoine Watteau. Vgl. Held, Antoine Watteau, 12. Vgl. ebd., 38–40, Zitat 38. Ripa / Strauß, Herrn Caesaris Ripae erneuerte Iconologia, 130; vgl. auch ebd., 125. Ripa behandelt den Degen im Lemma „Erlustigung / Ergötzlichkeit“, 123–131. Vgl. Levey, The real theme of Watteau’s Embarkation for Cythera; Börsch-Supan, Antoine Watteaus Embarquement im Schloß Charlottenburg, 27 folgt ihm darin zumindest für die Berliner Fassung. Zur Diskussion siehe Held, Antoine Watteau, 58. Vgl. Held, Antoine Watteau, 58 f.; zu den Preziösen 38–41. Vgl. ebd., 60. Vgl. ebd., 25. Vgl. ebd., 61 f. Auguste Renoir: Tanz im Moulin de la Galette, 1876, Paris, Musée d’Orsay. Auguste Renoir: Der Spaziergang, 1870, Los Angeles, John Paul Getty Museum. Auguste Renoir: Die Verliebten, um 1875, Prag, Nationalgalerie. Henri Matisse: Le bonheur de vivre, 1905 / 06, Merion (Pennsylvania), The Th Barnes Foundation. Zum Verhältnis von Landschaft ftsmalerei und Realität siehe Benjamin, The Decorative Landscape. Vgl. die bekannten Worte aus den Oden des Horaz: Beatus ille, qui procul negotiis, … Ripa / Strauß, Herrn Caesaris Ripae erneuerte Iconologia, Lemma „Erlustigung / Ergötzlichkeit“, 123–132. Ebd., 130 f. Ebd., 131, er zitiert Philostrat. Ebd.
Manfred Mittermayer
Glück im Film – Eine kleine Beispielsammlung
Zum Begriff ff „Glück“ im Film Manfred Mittermayer Glück im Film
Wer sich mit dem Thema „Glück im Film“ befasst, sieht sich vor einer widersprüchlichen Situation. Einerseits besteht der Eindruck, als würde es in einem Großteil zumindest der Mainstream-Produktion ohnedies um nichts anderes gehen. Immerhin folgen die am Modell des klassischen Hollywood-Films orientierten Streifen nach David Bordwells Befund zumeist der konventionellen Doppelplot-Struktur, bei der eine der Plot-Linien der Lösung eines zentralen Problems gewidmet ist (etwa im Kriminalfilm der Aufk fi fk lärung eines ungelösten Falls), die andere üblicherweise einer romantifi lms mit Happy End gehört zu schen (Liebes-)Handlung.1 Der Abschluss eines Spielfi den beliebtesten Möglichkeiten, das Publikum aus dem Kinosaal in die Realität zu entlassen – und es zuvor an die Kassen zu locken. Andererseits ist die konkrete Darstellung des reinen Glücks keineswegs so leicht zu bewerkstelligen, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. „Glücklich und zufrieden zu sein, ist zwar alles andere als langweilig; glückliche und zufriedene Menschen sind es anscheinend auf die Dauer schon“2, schreibt Felicitas Kleiner in einem Essay über filmische „Glücksvisionen“. Glückliche Menschen hätten gewissermaßen „keine Geschichte“, bemerkt Philipp Brunner in seiner Analyse von Liebeserklärungen im Spielfilm. Glück sei nur dann „fi fiktionswürdig“, wenn es „gesucht, erkämpft ft oder gefunden“ werde. Stehe das Glück zu Beginn einer Handlung, müsse es beeinträchtigt, verhindert oder zerstört werden; erst in seiner „Bedrohung oder Beschädigung“ liege ein „als erzählenswert erachteter Keim, der Interessantes verspricht“.3 Im folgenden Beitrag werden wir uns diesem Thema in zwei ausgewählten Abschnitten annähern. Zunächst soll ein Blick in einige signifikante fi Filmsequenzen geworfen werden, in denen jeweils das Wort „glücklich“ eine besondere Rolle spielt. Dabei werden einige Möglichkeiten und Konventionen fi lmischer Darstellung von Glückszuständen zur Sprache kommen. Im zweiten Teil sollen – in chronologischer Reihenfolge – einige Produktionen der letzten eineinhalb Jahrzehnte kurz vorgestellt werden, in deren Titel der Begriff ff „Glück“ in irgendeiner Form genannt wird. Aus einem knappen Abriss der wichtigsten Handlungselemente und Themen Th dieser Filme
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wird sich dabei ein Spektrum unterschiedlicher Aspekte ergeben, unter denen die Frage nach dem Glück im Kino behandelt wurde.
Bilder des Glücks im Film – ausgewählte Beispiele In dem eingangs zitierten Beitrag von Felicitas Kleiner wird gezeigt, wie der deutsche Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau in einigen seiner Filme trotz des oftmals ft düsteren Bildes, das er von der Welt zeichnet, immer wieder eindrucksvolle Bilder des Glücks einstreut. Ein Beispiel dafür ist der Film „Sunrise – A Song of Two Humans“ (1927), der von vielen Kritikern als Murnaus bester eingeschätzt wird – im Jahr 2002 wurde er bei einer Umfrage des British Film Institute (BFI) zum siebtbesten Film aller Zeiten gewählt. In diesem Streifen, der nach Hermann Sudermanns „Reise nach Tilsit“ aus den „Litauischen Erzählungen“ entstand, fi findet sich bereits nach kurzer Zeit das Wort „happy“ auf einem der Zwischentitel (es handelt sich noch um einen Stummfilm); im Verlauf seiner Handlung wird vorgeführt, wie dieser Zustand des Glücklichseins verloren geht, schließlich aber doch wiedergewonnen wird. „Sunrise“ ist die Geschichte einer radikalen Ehekrise zwischen einem Bauern und seiner Frau, die fast im Mord endet und dennoch glücklich ausgeht. Wenn wir die zitierte Glücksvision zu sehen bekommen (ab 8.45 min), ist die Krise bereits eingetreten: Die kurze Sequenz ist eine Rückblende, in der die Vergangenheit der Bauernfamilie beschrieben wird. Bemerkenswert sind die Bestandteile des gezeigten filmischen fi Tableaus: die ländliche Natur, ein glückliches Paar, ein Kind, die Ochsen als Basis für die landwirtschaftliche ft Arbeit. Dazu heißt es im Zwischentitel, als Kommentar der Mägde über die verlorengegangene Harmonie: „Th They used to be like children, carefree […] always happy and laughing […].“ Der Glückszustand erscheint somit als ländliche Idylle, und er wird auch mit dem kindlichen Lebensalter in Verbindung gebracht – eine nicht nur bei Murnau häufi fig wiederkehrende Vorstellung. Mittlerweile ist jedoch eine attraktive, zugleich verderbte Frau aus der Stadt gekommen; der Mann hat mit ihr eine Aff ff äre begonnen und den Hof fast in den Ruin geführt. Der städtische Vamp verführt den Bauern dazu, seine Frau in einem vorgetäuschten Bootsunfall zu ermorden; als er aber dazu ansetzt, vermag er die Tat nicht auszuführen. Nun folgt der schwierige Prozess der Wieder-Annäherung. Der gesamte zweite Teil des Films besteht aus einer Serie sich steigernder Glücksmomente, in deren Verlauf die eheliche Beziehung wiederhergestellt wird; interessanterweise spielen sie alle in der Stadt. Der Beobachtung einer Eheschließung, der das Paar zufällig beiwohnt, folgt die entscheidende Bitte des Mannes um Verzeihung. Als hätten sie selbst gerade neu geheiratet, verlassen die Bauersleute den Kirchenraum. Völlig auf sich und ihr neues Glück bezogen vergessen sie die Welt um sich herum; der städtische Straßenverkehr weicht ihnen auf wundersame Weise aus, der Hintergrund verwandelt sich plötzlich in eine der idyllischen Naturszenerien aus dem Anfangsteil
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des Films, dann ruft ft sie der von ihnen blockierte Verkehr wieder in die Wirklichkeit zurück. Später legen die neu vereinten Bauersleute in einem riesigen Vergnügungspark einen ländlichen Tanz hin, absentieren sich dann im Restaurant von den übrigen Tanzenden und geben sich lukullischen Genüssen hin; ein abschließendes Feuerwerk bildet den äußerlichen Höhepunkt der Ekstase. Auf der Rückfahrt zum Hof kentert das Boot durch einen Sturm tatsächlich und die Bäuerin kommt nun doch ums Leben – scheinbar, denn zuletzt stellt sich heraus, dass sie überlebt hat; die verführerische Frau aus der Stadt muss besiegt in ihren urbanen Lebensraum zurückkehren. Auch wenn die Forschung vielfach betont hat, dass Murnau die scheinbar holzschnittartige Entgegensetzung von Land und Stadt durchaus komplexer gestaltet hat als es auf den ersten Blick scheinen mag: Im Hintergrund steht die Vorstellung, dass wahres Glück mit naturnahen, ländlichen Verhältnissen und traditionsgebundenen Lebensformen assoziiert ist. Während „Sunrise“ auf der konventionellen Kontrastierung weiblicher Stereotypen, der reinen, unschuldigen Bauersfrau und des erotisch-gefährlichen Vamps aus dem urbanen Milieu, aufgebaut ist, spielt der folgende Film, eine Produktion des klassischen Hollywood, phasenweise subversiv mit den Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit. Das Biopic („biographical picture“) „Queen Christina“ (1933) beschäftigt sich in der für dieses Genre charakteristischen Mischung aus Faktentreue und Fiktion mit dem Leben der schwedischen Königin Christine (dargestellt von Greta Garbo), die nach dem Tod ihres Vaters Gustav Adolf dessen Nachfolgerin wird. Zunächst widerspricht ihr Verhalten den gängigen heterosexuellen Lebensmustern: Die Königin legt eine innige Zuneigung zu ihrer Hofdame an den Tag und hat kein Interesse an einer standesgemäßen Vermählung; außerdem benimmt und kleidet sie sich zunächst eher wie ein Mann. Als sie jedoch, als Page verkleidet, aufs Land reist, begegnet sie dem spanischen Gesandten Don Antonio, der nach Schweden gekommen ist, um für seinen König um sie zu werben. Da es in dem Gasthof, den beide aufsuchen, nur noch ein repräsentatives Zimmer gibt, müssen es sich die beiden vermeintlichen Männer teilen – bis der Spanier erkennt, dass er eine Frau vor sich hat. Sie verlieben sich ineinander und verbringen eine Nacht zusammen. Eine der berühmtesten Sequenzen des Films spielt nach dem Liebesakt (ab 43 min). Die Königin erhebt sich und beginnt, den umgebenden Raum mit ihren Blicken, aber auch mit zärtlichen Berührungen in Besitz zu nehmen, zu „besetzen“. Mittlerweile ist sie betont weiblich gekleidet, und sie spricht von Glücksgefühlen, die sie sich in ihrer Vorstellung nicht habe ausmalen können: „I have imagined happiness but happiness you cannot imagine. Happiness you must feel, joy you must feel. Oh, and this great joy I feel now.“ Als sie Don Antonio fragt, welche Bedeutung ihr liebevoller Umgang mit dem Raum und seinen Gegenständen habe, erklärt sie ihm: „I have been memorizing the room. In the future, in my memory, I shall live a great deal in this room.“ Glück und Erinnerung – die Vergänglichkeit von Glück, seine Zeitgebundenheit und
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damit die Gefahr, dass es für immer schwinden könnte, bekommen in diesem Film besondere Relevanz. Denn die Königin weiß, dass ihr neu gewonnenes Glück nicht andauern wird, es sei dann, sie gibt ihre Position als Herrscherin auf. Sie dankt tatsächlich ab, doch der Spanier stirbt in einem Duell; in einer berühmt gewordenen Schluss-Einstellung sieht man Garbos Gesicht in Großaufnahme, wie sie mit beinahe ausdrucksloser Mimik auf einem Schiff ff davonfährt. Für den nächsten Film bleiben wir im Norden Europas; erneut handelt es sich um eine tragisch endende Liebesgeschichte, wobei diesmal – anders als im Fall der Königin Christine – der tödliche Ausgang historisch beglaubigt ist: Am 20. Juli 1889 nahmen sich der schwedische Leutnant Sixten Sparre und die dänische Seiltänzerin Hedvig Jensen, bekannt unter dem Künstlernamen Elvira Madigan, auf der kleinen dänischen Insel Tåsinge das Leben – übrigens im gleichen Jahr wie der österreichische Thronfolger Erzherzog Rudolf und seine Geliebte Marie Vetsera. Sparre, der aus altem Adel stammte, hatte sich in die junge Zirkusartistin verliebt und war aus der Armee desertiert, weil er bereits verheiratet und Vater zweier Kinder war; Elvira hatte den Zirkus Madigan, dessen Hauptattraktion ihr Auftritt ft bildete, ebenfalls heimlich verlassen. Kein Wunder, dass dieser Stoff ff gleich mehrmals verfi filmt wurde, jeweils mit dem Namen der weiblichen Protagonistin als Titel: 1943 entstand ein schwedischer Film (Regie: Åke Ohberg), 1967 folgte eine dänische Version (Regie: Poul Erik Møller Pedersen). Am erfolgreichsten war jedoch die im selben Jahr, neuerlich in Schweden produzierte Version unter der Regie von Bo Widerberg – nicht zuletzt wegen der Hauptdarstellerin Pia Degermark, die bei den Filmfestspielen von Cannes mit dem Preis für die beste Schauspielerin ausgezeichnet wurde. Wesentlichen Anteil an der Wirkung von „Elvira Madigan“ hat der Einsatz der Musik: vor allem das „Andante“ aus Wolfgang Amadeus Mozarts Klavierkonzert Nr. 21 C-Dur, KV 467; bis heute ziert ein Standbild aus dem Film das Cover der darin verwendeten Aufnahme mit Géza Anda. Eine besonders eindrucksvolle Sequenz zu Beginn ist bereits mit Mozarts Musik unterlegt (ab 2.50 min). Sie spielt in der blühenden Natur – ein Mittel der Glücksdarstellung, dem wir bereits begegnet sind. Diesmal wird das Glück aber auch mit dem Ausstieg aus dem gesellschaft ft lichen Rollengefüge verknüpft: ft Sixten entfernt seine militärischen Abzeichen und legt die Uniform ab, später wird er sich auch den Bart als Zeichen soldatischer Männlichkeit abrasieren. Als die Musik anhebt, fragt er Elvira, ob sie jetzt „glücklich“ sei, und sie bejaht; sie könne kaum glauben, dass sie die Flucht gewagt habe, sie sei immer nur auf dem Seil mutig gewesen, noch nie auf dem Boden. In einer späteren Sequenz (ab 18.30 min) wird die Fähigkeit des Balancierens zum Bestandteil der gezeigten Glücksvision; wir sehen Elvira bei der Ausübung ihrer Kunst, wobei das Seil erneut in freier Natur, nicht – wie im Leben, das sie verlassen hat – im Zirkus gespannt ist. Auch hier setzt der Regisseur Musik ein, diesmal einen Ausschnitt aus Vivaldis „Vier Jahreszeiten“; mittels Handkamera rücken wir den Liebenden ganz nahe, das Bild verschwimmt, als würde sich alles in einem Farbenrausch aufl flösen.
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Die Affi ffinität von Glücksvorstellungen zur Musik lässt sich an zahlreichen Filmen belegen. Denkt man diesen Umstand konsequent weiter, so landet man bei der Idee, sämtliche Dialoge einer Handlung singen zu lassen – wie sie der französische Regisseur Jacques Demy in seinem Film „Les Parapluies de Cherbourg“ („Die Regenschirme von Cherbourg“) in die Tat umgesetzt hat, zur Musik von Michel Legrand. Man denkt in diesem Zusammenhang natürlich an die Tradition des Musicalfilms fi aus der Traumfabrik Hollywood; nicht zufällig ließen sich aus diesem Kontext eine beträchtliche Anzahl an musikalisch umgesetzten Glücksdarstellungen zitieren, etwa die Sequenz mit dem durch eine verregnete Stadtkulisse tanzenden und singenden Gene Kelly aus „Singing in the Rain“ (USA 1951). Doch Demys Film aus dem Jahr 1964 ist eher eine ironische Auseinandersetzung mit den Stereotypen des klassischen Liebesfilms fi als die bloße Reproduktion von dessen Handlungsmustern; man könnte von einer „poetischen Versuchsanordnung“ über die Unwägbarkeiten und Enttäuschungen der Liebe sprechen.4 Der junge Automechaniker Guy und Geneviève, die Tochter einer verwitweten Regenschirmhändlerin, haben sich ineinander verliebt. Wir sehen sie bei einem nächtlichen Spaziergang (ab ca. 12 min), wie sie sich ihren Vorstellungen von einer gemeinsamen Zukunft ft hingeben: Geneviève möchte eine Tochter bekommen, sie solle Françoise heißen; Guy werde eine Tankstelle aufmachen, dabei nach Benzin riechen – „Quelle bonheur! Welch ein Glück!“, lautet (ausgerechnet an dieser Stelle) der gesungene Kommentar. Die beiden würden glücklich sein („tres heureuse“) und einander immer lieben. Dann wird der junge Mann jedoch zum Algerienkrieg eingezogen. Ähnlich wie Königin Christine beschwört nun auch Guy die Macht der Erinnerung (ab 26.25 min): Geneviève solle versuchen, glücklich zu sein („heureuse“), meint er; sie solle diesen Augenblick nie vergessen und so die Zeit der Trennung überstehen. Sie schlafen miteinander, Geneviève wird schwanger. Doch ihre Mutter bringt sie dazu, einen wirtschaftlich ft besser gestellten Mann zu ehelichen. Guy heiratet Madeleine, die ihn schon seit längerem liebt, bekommt mit ihr einen Sohn namens François und eröffnet ff tatsächlich eine Tankstelle. Dort kommt es zu einer abschließenden Begegnung zwischen ihm und Geneviève. Als sie ihn fragt, ob er die gemeinsame Tochter sehen will, die im Auto sitzen geblieben ist (sie heißt tatsächlich Françoise), verneint er; auf ihre Frage, ob es ihm gut gehe, antwortet er: „Oui, tres bien.“ Die Kamera fährt hoch, wir sehen ihn, wie er vor der Tankstelle seine Frau und seinen kleinen Sohn begrüßt. Und die Musik zitiert jenes Motiv, das auch erklungen ist, als sich Guy vor seiner Abreise in den Krieg von Geneviève verabschiedet hat. Am Ende dieses Abschnitts steht der vielleicht künstlerisch interessanteste Film zum Thema „Glück“, der diesen Begriff ff obendrein zum Titel hat: Es handelt sich um den Film „Le Bonheur“ („Glück aus dem Blickwinkel des Mannes“) der französischen Regisseurin Agnès Varda – übrigens der Ehefrau von Jacques Demy; der Film entstand 1965, also nur ein Jahr nach den „Regenschirmen von Cherbourg“. Sie habe sich dabei eine schöne Sommerfrucht vorgestellt, sagt die Regisseurin im Interview (Extra zur
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DVD-Edition): einen Pfi firsich mit seinen perfekten Farben, in dessen Innerem sich jedoch ein Wurm befi finde. Außerdem habe sie an impressionistische Gemälde gedacht, die in ihrer Darstellung von alltäglichem Glück gleichzeitig eine gewisse Melancholie ausstrahlen würden. Eine detaillierte Analyse der Bildsprache von „Le Bonheur“ lässt sich in einem auf den deutschen Verleihtitel anspielenden Essay von Miriam Fuchs über das „Glück aus dem Blickwinkel der Kamera“5 nachlesen. Hier sei sich auf einzelne Sequenzen aus dem Film beschränkt, in denen ausdrücklich vom Glück die Rede ist. Zu Beginn sehen wir inmitten der leuchtenden Farben der Natur eine kleine Familie: das Ehepaar François und Emilie mit ihren Kindern. Wieder spielt die Musik im Hintergrund eine wichtige Rolle; diesmal hören wir, so wie im Fortlauf der Handlung immer wieder, den Eröff ffnungssatz aus Mozarts Klarinettenquintett A-Dur KV 581. Auf dem Heimweg von ihrem kleinen Picknick besuchen sie die Großeltern; im Fernsehen wird Jean Renoirs Film „Le Dejeuner sur l’herbe“ („Das Frühstück im Grünen“) zitiert, mit dem Definitionsversuch fi einer der Filmfi figuren, Glück sei die Unterwerfung unter die Ordnung der Natur. Mithilfe einer Montage von Kürzesteinstellungen arrangiert Varda Momentaufnahmen aus Emilies Leben als fürsorgliche Mutter; zuletzt erinnert ein Wiesenblumenstrauß an den gemeinsamen Ausfl flug. Dann aber begegnet François in einem Café Thérèse, einer alleinstehenden jungen Frau, die seiner Gattin nicht unähnlich sieht. Als er sie in ihrer neuen Wohnung aufsucht, kommt es zum ersten sexuellen Kontakt. Wiederum spielt das Wort „Glück“ eine wichtige Rolle (ab 31.40 min): Sie sei glücklich („heureuse“), meint Thérèse, Th er solle es auch sein und sie lieben. In der Folge entwickelt sich zwischen den beiden eine Beziehung; François besucht seine Geliebte heimlich, die Liebe zu seiner Frau scheint sich dadurch nicht zu vermindern. Gegen Ende des Films kommt es zur Aufdeckung seines Doppellebens: Als er bei einem neuerlichen Picknick bemerkt, er fühle sich sehr glücklich („heureuse“), fragt sie ihn, was ihm denn dieses Glück („bonheur“) verschaff ffe, das noch größer zu sein scheine als sonst. Er gesteht ihr die Aff ff äre, wobei er argumentiert, dass das Glück für ihn in der Addition liege: Seine Familie sei ein Apfelgarten, meint er, ein abgegriffenes ff Naturbild bemühend; nun sei ein weiterer Apfelbaum hinzugekommen, das würde sich einfach summieren. Er spricht davon, die Beziehung zu Thérèse aufgeben zu wollen, denn er wolle, dass seine Frau mit den Kindern glücklich sei („heureuse“). Doch nachdem sie noch einmal miteinander geschlafen haben, wird Emilie im Fluss ertrunken aufgefunden. Das Provozierende an Vardas Film ist die Selbstverständlichkeit, mit der Thérèse Th nun binnen kurzer Zeit die Stelle der Ehefrau einnimmt. Die filmische Inszenierung unterstreicht dies in mehrfacher Hinsicht: Nach einem gemeinsamen Ausfl flug von François und Thérèse Th in die Natur, der ähnlich abläuft ft wie die Eingangssequenz des Films (damals mit Emilie in der Rolle der Ehefrau), folgt eine neuerliche Variante der Montage von Alltagstätigkeiten der Frau, diesmal mit Thérèse; Th am Schluss der Sequenz steht erneut der Wiesenblumenstrauß. Musik verbindet auch die abschließenden
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Sequenzen; wieder ist es Mozart, diesmal allerdings das etwas herbere Stück Adagio und Fuge c-Moll KV 546. Die letzte Einstellung zeigt, wie ein Mann, eine Frau und zwei Kinder davongehen – von hinten ist kaum zu erkennen, dass es nicht mehr die gleiche Familie ist wie zu Beginn der Handlung. Im Erscheinungsjahr des Films entspann sich eine heft ft ige Diskussion zwischen den beiden „Filmkritik“-Redakteuren Ulrich Gregor und Enno Patalas: Für Gregor war die von manchen Kommentatoren aufgestellte These vom „durchgängig ironischen Charakter des Films“ nicht aufrechtzuerhalten; er meinte, dass Agnès Varda selbst an dessen „falsche, beschränkte und reaktionäre Glücksutopie“ glaube. Nach der Meinung von Patalas stellt der Film hingegen „die Herrschaft ft des Konsumgüterangebots ganz präzise dar als die freundliche, aber eiserne Diktatur, die sie ist“.6 Er kann sich dabei auf die zahlreichen Signale aus dem Bereich der modernen Konsumindustrie berufen, die den Film durchziehen – zum Beispiel Werbeschilder, die zentrale Begriff ffe aus dem behandelten Themenkomplex benennen: „Confi fiance“ („Vertrauen“, Name einer Metzgerei und einer Versicherung), „La Tentation“ („Die Versuchung“, Reklame für Speiseeis) und „Porte dorée“ („Goldene Pforte“, Bushaltestelle). Genau diese Intention betont auch die Regisseurin in dem zitierten Interview: Es habe sie vor allem interessiert, in einer Welt, die von vorfabrizierten Glücksbildern erfüllt sei, die Klischees auseinanderzunehmen.
Glück als Titelbegriff ff – ein Überblick über die neuere Filmproduktion Unser Überblick über die Filmproduktion der letzten 15 Jahre beginnt mit einem Film von 1995, der keinerlei künstlerischen Anspruch erhebt, aber vor allem in seinem Herkunft ftsland Frankreich zu einem großen Publikumserfolg avancierte. „Le Bonheur est dans les Pré“ („Das Glück liegt in der Wiese“) ist eine unterhaltsame Verwechslungsund Besserungskomödie. Der Sanitärunternehmer Francis Bergeade sorgt sich nicht nur um den Fortbestand seiner Firma, er leidet auch unter dem Egoismus seiner Frau und seiner Tochter, von denen er sich ausgebeutet fühlt. Da bietet sich ihm durch die TV-Show „Wo bist du?“ die Chance, seiner misslichen Lage zu entkommen: Die Bäuerin Dolores sucht vor laufender Kamera ihren Ehemann, der seit zweieinhalb Jahrzehnten spurlos verschwunden ist. Als Bergeade feststellt, dass ihm der Gesuchte verblüff ffend ähnlich sieht, meldet er sich und zieht zu Dolores und ihren beiden Töchtern aufs Land. Am Ende stellt sich heraus, dass der verschollene Ehemann ein Bankräuber war, der in Wahrheit längst tot ist; Bergeade kann mit dem damals erbeuteten Geld seine Firma retten, und auch seine Familienmitglieder machen unter dem Einfluss fl seines Freundes Gérard, der mit der Ehefrau Bergeades ein Verhältnis beginnt, eine Wandlung durch, sodass die verlorene Harmonie zuletzt wiederhergestellt wird. Die Suche nach dem Glück erfolgt also wieder einmal mithilfe der Qualitäten des ländlichen Lebens, das in diesem Fall der Tristesse des spießbürgerlichen Lebens in einer französischen Industriegegend entgegengesetzt wird.
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Von ganz anderem qualitativen Zuschnitt ist ein Film aus Hongkong, der 1997 unter der Leitung des Regisseurs Wong Kar-wai entstand. Wenn der Titel, unter dem er in westlichen Kinos gezeigt wurde, „Happy Together“ lautet (der chinesische Titel bezeichnet die Entblößung von etwas Indezentem), so handelt es sich dabei um eine ironisch gemeinte Bezeichnung. Denn die Hauptpersonen des Streifens sind keineswegs die gesamte Handlung hindurch glücklich vereint. Wie in den meisten Filmen Wong Kar-wais dominieren entfremdete Existenzen und enttäuschte Gefühle; die Menschen, die er zeigt, sind einsam und vermögen nur für kurze Zeit diese Isolation zu durchbrechen. „Happy Together“ erzählt die konfl fliktreiche Liebesgeschichte der beiden homosexuellen Chinesen Ho Po-Wing und Lai Yiu-fai im fernen Argentinien. Die Handlung besteht aus einem ständigen Wechsel von Trennungen und Wiedervereinigungen, ehe Lai zuletzt die Kraft ft findet, sich endgültig von Ho zu lösen, der immer wieder Beziehungen mit anderen Männern eingeht und ihn dadurch jedes Mal tief verletzt. Nach einer kurzen Liebesbeziehung mit einem anderen Chinesen aus Taiwan, der das Gegenteil von Hos destruktivem und illoyalem Charakter repräsentiert, fährt Lai allein zum ursprünglich gemeinsam mit Ho angestrebten Reiseziel, den Wasserfällen von Iguazu, und kehrt nach Hongkong zurück. „Happy Together“ besticht vor allem durch die fi lmische Umsetzung seines unkonventionellen Inhalts. Wong Karwai stellt die schwierige Beziehung der beiden Protagonisten in einer überkomplexen modernen Welt mithilfe von kunstvollen Montagen, von fragmentierten Handlungsabläufen und ungewöhnlich gestalteten Einstellungen dar. An den emotionalen Höhepunkten, wenn Ho und Lai für kurze Zeit in Harmonie zueinanderfinden, fi kommt die Dynamik des Films vorübergehend zum Stillstand; in Slow Motion wird der glückhaft fte Moment aus dem Fluss der Zeit herausgehoben, ehe der Zustand des „Happy Together“ erneut zerbricht. In Wong Kar-wais Film erscheint das Glück als fragiler, transitorischer Augenblick einer problematischen Beziehung zweier Menschen, die auch durch ihre sexuelle Orientierung von der gesellschaft ft lichen „Normalität“ abweichen. Auf noch radikalere Weise werden konventionelle Glücksvorstellungen in einem Streifen des amerikanischen Regisseurs Todd Solondz unter die Lupe genommen, der nur ein Jahr nach „Happy Together“ in die Kinos kam. „Happiness“ (1998) ist eine „ätzende Satire über den Hunger nach Glück und das verzweifelte Aufrechterhalten mittelständischen Scheins, hinter dem sich die seelischen Abgründe und sexuellen Frustrationen einer ganzen Gesellschaft ft auft ftun“.7 Der Film handelt von drei Schwestern und den Männern, mit denen sie auf ganz unterschiedliche Weise in Kontakt sind. Die als perfekte Hausfrau und Mutter eingeführte Trish ist mit einem erfolgreichen Psychiater verheiratet, der sich jedoch als Päderast entpuppt und durch den sexuellen Missbrauch an einem Schulfreund seines Sohnes das scheinbare Glück der kleinen Familie jäh zerstört. Joy ist eine erfolglose Musikerin mit alternativen Lebensvorstellungen, deren Ängste und Komplexe sie daran hindern, gelingende Beziehungen zu Männern einzugehen – entweder sie weist sie zurück (was während der Handlung auch zum Selbstmord eines Verehrers führt) oder sie
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gerät an gewaltbereite Menschen wie den russischen Zuhältertypen, der sie bloß finanfi ziell ausnutzt. Helen hingegen hat als Autorin großen Erfolg, weiß ihre körperliche Attraktivität durch teure Designerkleidung zu unterstreichen, hat aber ebenfalls nur frustrierende Männerbeziehungen, in denen sie ihre hoch angesetzten Vorstellungen von Glück nicht umsetzen kann. Eine weitere tragikomische Figur ist ihr von Philip Seymour Hoff ffman gespielter Nachbar, der nächtens alle möglichen Frauen mit obszönen Telefonanrufen belästigt, ehe ausgerechnet Helen auf sein Angebot eingeht. Der Film zeigt am Beispiel mehrerer Menschen und ihrer Suche nach dem Glück ein ganzes Set an stereotypen Lebensentwürfen, an ernüchternden Variationen des amerikanischen Traums. Mittlerweile hat Todd Solondz mit „Life During Wartime“ (2009) eine Fortsetzung gedreht, wobei er ein ungewöhnliches Spiel mit Darstellungskonventionen wagte: Er besetzte die drei Schwestern Trish, Joy und Helen sowie auch die übrigen Figuren mit anderen Darstellern, die ihren Vorgängern gar nicht ähnlich sehen. Mit dem nächsten Film begeben wir uns in eine völlig andere Welt. Sein Originaltitel lautet „Heremakono“, ein Hassaniaya-Wort, das auf Französisch „En attendant le bonheur“ bedeutet – die Assoziation mit Becketts „Warten auf Godot“ ist angebracht (deutscher Titel: „Reise ins Glück“). Es handelt sich um eine französisch-mauretanische Koproduktion des Regisseurs Abderrahmane Sissako, die 2002 bei den Filmfestspielen von Cannes den Preis der Internationalen Jury erhielt. Der Film spielt in Nouadhibou, einem Fischerstädtchen an der mauretanischen Atlantikküste. Umgeben von Wüstensand bildet der kleine Ort eine Übergangszone, in der Abdallah, der 17-jährige Protagonist, auf das Glück wartet, das er in Europa finden fi möchte. Ehe er dorthin emigriert, besucht er noch einmal seine Mutter. Aus der Position des Außenseiters heraus – er spricht nicht einmal den lokalen Dialekt – beobachtet er die traditionsgebundene Bevölkerung mit ihrer farbenprächtigen Bekleidung und ihrer Musik. Der mauretanische Ort zeigt aber auch Spuren der westlichen Zivilisation; alte Autos sind zu sehen, Fernsehgeräte werden benutzt, eine chinesische Emigrantin folgt ihrer Leidenschaft ft für Karaoke. In Rückblenden wird die Erinnerung einer jungen Frau namens Nana an eine Reise nach Europa gezeigt, wo sich ihre romantischen Hoff ffnungen nicht erfüllt haben. Der Film macht die prekäre Situation zwischen afrikanischer Tradition und europäischer Moderne zum Thema, wobei wir keine spektakuläre Handlung miterleben, sondern ruhige Bilder aus einer fremden Kultur, deren Angehörige im Zeitalter der Globalisierung allmählich ihre Wurzeln verlieren – oder sie bewusst aufgeben, um in der Ferne ein Glück zu suchen, das ihnen in ihrer angestammten Heimat verwehrt ist. Auch das tschechische Wort „Štěstí“, das einer mehrfach preisgekrönten und beim Publikum sehr erfolgreichen Tragikomödie aus Tschechien und der Slowakei aus dem Jahr 2005 den Titel gab, bedeutet „Glück“; auf Deutsch heißt der Film „Die Jahreszeit des Glücks“. Erneut geht es um die Lebensbedingungen in einer Region, die nicht gerade zu den Gewinnern des entfesselten Kapitalismus im beginnenden 21. Jahrhundert gehört. Im Mittelpunkt stehen junge Menschen in einer der hässlichen Trabanten-
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städte des postkommunistischen Tschechien, deren wirtschaft ft liche Lage sich am ehesten durch einen Wechsel ihres Wohnorts verbessern könnte, die aber auch nach dem privaten Glück in familienartigen Strukturen suchen. Die weibliche Hauptfi figur ist Monika, deren Freund zu Beginn des Films nach Amerika fliegt, um dort Arbeit zu finden. Seit ihrer Kindheit ist sie mit Tonda befreundet, der im desolaten Haus seines Großvaters lebt und zum Missfallen seiner Eltern keiner konventionellen Arbeit nachgeht. Im selben Wohnblock wie Monika wohnt deren Freundin Dascha, die ihre beiden Kinder völlig vernachlässigt; als wieder einmal eine ihrer Männerbeziehungen scheitert, verliert sie völlig die Kontrolle über ihr Leben und muss in eine psychiatrische Klinik. Monika übernimmt die Betreuung der Kinder und zieht mit ihnen für eine Weile zu Tonda; die beiden verlieben sich ineinander, vorübergehend entsteht eine kleine Familie. Doch als Dascha aus dem Krankenhaus entlassen wird, folgt Monika ihrem Freund nach Amerika, und Tonda verkauft ft das Haus an die Fabrik. Nach ihrer Rückkehr findet sie das Haus demoliert vor, Tonda ist verschwunden, der Ausgang des Films bleibt off ffen – und damit auch die Frage, inwieweit die jungen Leute ihr Glück tatsächlich finden werden. Zwischendurch hat es der Regisseur Bohdan Sláma in Szene gesetzt, in Form von ruhigen Einstellungen wie einer Bootsfahrt auf den Industrieabwässern. Aber am Ende wird das zerbrechliche Idyll von den Abrissmaschinen des alles beherrschenden Industriebetriebs niedergewalzt. Der folgende Film führt uns in die Welt der modernen Geldwirtschaft ft zurück, und zwar gleich in ihr Zentrum, in die USA. „Th The Pursuit of Happyness“ („Das Streben nach Glück“) aus dem Jahr 2006 basiert auf einer wahren Geschichte. Der Handelsvertreter Chris Gardner versucht Anfang der 1980er-Jahre in San Francisco davon zu leben, dass er neuartige Geräte für die Messung von Knochendichte verkauft ft – mit mäßigem Erfolg. Als seine Frau Linda die finanziellen Schwierigkeiten nicht länger ertragen kann, verlässt sie ihn; Chris holt seinen Sohn zu sich. Als sich ein FerrariFahrer, den er nach der Herkunft ft seines Einkommens fragt, als Broker an der Börse herausstellt, beschließt Chris, ebenfalls Finanzmakler zu werden. Er bewirbt sich um eine Stelle bei einer Investmentbank und erhält die Möglichkeit eines sechsmonatigen Praktikums, das zunächst unbezahlt ist, ihm aber die Chance auf eine Festanstellung eröffnet ff – vorausgesetzt, er schlägt zwanzig Konkurrenten aus dem Feld. Zwischenzeitlich müssen er und sein Sohn wegen Steuerschulden ihre Mietwohnung aufgeben und im Motel wohnen, schließlich werden sie sogar obdachlos. Doch am Ende des Praktikums erhält Chris die angestrebte Stelle als Broker und gründet 1987 eine eigene Investmentfi firma; 2006 kann er eine Firmenbeteiligung im Wert von mehreren Millionen Dollar verkaufen. Der Film ist eine einzige Zelebration des amerikanischen Traums vom Tellerwäscher, der zum Millionär wird. Angesichts der Finanzkrise von 2008 / 09 erscheint besonders problematisch, dass sein Protagonist „Glück“ ausgerechnet im Bereich des Investment-Bankings fi findet – wobei keinerlei Kritik an dem ökonomischen System geübt wird, das kurze Zeit später die Weltwirtschaft ft an den Rand des Abgrunds führte. Sein Titel entstammt dem bekannten Satz aus der Declaration of
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Independence: „We hold these Truths to be self-evident, that all Men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain inalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.“ (Der Schreibfehler mit dem „y“ im Filmtitel geht auf ein Graffi ffiti zurück, das dem Regisseur als Inspiration diente.) Im selben Jahr entstand in Deutschland ein Film, der die Frage nach dem Glück unter höchst ungewöhnlichen Voraussetzungen stellte: „Emmas Glück“ (2006), nach einem Roman gleichen Titels von Claudia Schreiber. Die Protagonistin ist eine junge Bäuerin, die früh zur Waise wurde, sie betreibt einen einsamen Bauernhof, den sie von ihrem Großvater geerbt hat. Emma hat eine besondere Art, Tiere zu töten: Wenn sie ein Schwein schlachtet, liebkost sie es, schneidet ihm möglichst schnell die Kehle durch und spricht beruhigend auf das Tier ein, um ihm das Sterben zu erleichtern. Dem Tod nahe ist auch der junge Mann, der eines Tages auf ihren Hof kommt: Der Gebrauchtwagenverkäufer Max leidet an einem inoperablen Pankreas-Karzinom. Als er beim Diebstahl von Schwarzgeld aus seiner Firma ertappt wird und flüchtet, fl macht er mit dem ebenfalls gestohlenen Jaguar einen Selbstmordversuch; er überlebt jedoch den bewusst eingeleiteten Unfall und wird von Emma geborgen. Da ihr Hof hoch verschuldet ist, hofft fft sie, mit dem vielen Geld, das sie in dem Autowrack findet, die Zwangsversteigerung abwenden zu können. Die beiden jungen Menschen verlieben sich ineinander, und Max stellt seiner Pfl flegerin tatsächlich das Geld zur Verfügung. Auf dem nunmehr geretteten Hof finden fi die Bäuerin und der Todkranke ein temporäres Glück. Sie feiern sogar Hochzeit – zusammen mit dem zuvor bestohlenen Chef und Freund, der Max den Diebstahl verzeiht. Doch dann erweist Emma ihrem Ehemann den gleichen Liebesdienst wie den Tieren auf ihrem Hof: Auf sein Verlangen hin erzählt sie ihm eine Geschichte und schneidet ihm die Kehle durch; erst als er tot ist, lässt sie ihrem Schmerz freien Lauf. Der Film behandelt das Glücksthema in Verbindung mit der Frage nach dem selbstbestimmten Ausstieg aus einer durch Krankheit unerträglich gewordenen Existenz, aber auch in der Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Todes, der jeglichem Wunsch nach Dauer, der gerade mit dem Erlebnis von Glück so stark verbunden ist, eine Grenze setzt: „Nur die Angst vor dem Tod ist schlimm, nicht der Tod selbst“, sagt Emma im Film zu dem Menschen, den sie am meisten liebt und dem sie genau darum das Sterben zu erleichtern sucht. Der letzte Film, der hier besprochen wird, behandelt das Thema Th abermals im Kontext wirtschaft ft licher Zusammenhänge. Felix, „der Glückliche“, so hieß der berühmteste Hochstapler der deutschen Literatur, der Protagonist von Th Thomas Manns Roman „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ (1922 / 1954). Der Held des Films „So glücklich war ich noch nie“ (2009) hat mit Absicht die gleichen Initialen: Er heißt Frank Knöpfel. Der Regisseur des Streifens, Alexander Adolph, hatte sich bereits im Jahr 2007 in seiner viel beachteten Dokumentation „Die Hochstapler“ mit diesem Lebensmodell, das ihm für die moderne Welt besonders signifikant fi erschien, beschäftigt. Zu Beginn der Handlung möchte Knöpfel in einer exklusiven Boutique nicht nur selbst eine Menge teurer Kleidungsstücke kaufen, sondern auch einer jungen Frau den
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Manfred Mittermayer
eben anprobierten Mantel schenken, den sie sich offenbar ff nicht leisten kann. Beim Versuch zu zahlen, wird er allerdings als Betrüger entlarvt und kommt ins Gefängnis. Nach seiner Entlassung zwei Jahre später arbeitet er zunächst als Reinigungskraft, ft doch dann begegnet er zufällig erneut der Frau aus der Boutique und reaktiviert seine hochstaplerischen Qualitäten: Sie betätigt sich nämlich unter dem Namen Tanja als Prostituierte, und er hofft fft, sie freikaufen zu können, unter anderem, indem er Mietvorauszahlungen für eine Penthouse-Wohnung kassiert, die ihm gar nicht gehört. Während Frank und Tanja bzw. Hannelore, wie sie in Wahrheit heißt, auf der Terrasse des Penthouse von einer besseren Zukunft ft sprechen, ist bereits die Polizei im Anmarsch – hier fällt in den letzten Sekunden des Films der Satz, der ihm seinen Titel gab: „So glücklich war ich noch nie.“ Wie der Traum vom Glück und die ernüchternde Realität auseinanderklaff ffen, so widersprechen einander Schein und Wirklichkeit in einer Welt, in der das Vortäuschen eines Charakters, der Wechsel von einer Rolle zur anderen, die Fähigkeit zur Manipulation des jeweiligen Gegenübers über Erfolg oder Misserfolg entscheiden. Der Augenblick des vermeintlich größten Glücks erweist sich als Illusion; der Versuch, dieses Glück mit Mitteln des Betrugs herbeizuführen, mündet in die Selbsttäuschung.
Glückliches Leben – Zwei Film-Beispiele aus dem 21. Jahrhundert Zum Abschluss sollen zwei Protagonistinnen aus Filmen zu Wort kommen, in denen zu Beginn des 21. Jahrhunderts im internationalen Mainstream-Kino mit besonders großem Erfolg über die Voraussetzungen für ein glückliches Leben nachgedacht wurde. In dem Film „Le fabuleux destin d’Amélie Poulain“ („Die fabelhafte ft Welt der Amélie“) aus dem Jahr 2001 ist zu verfolgen, wie sich eine junge Frau zunächst ängstlich vom realen Leben fernhält und lieber in den Bereich der Fantasie zurückzieht, ehe sie nicht nur darangeht, anderen Menschen zum Glück zu verhelfen, sondern auch ihre eigene Geschichte zu einem glücklichen Ausgang führt. In einer frühen Einstellung sehen wir sie noch, wie sie im Kino die Menschen beim Zuschauen beobachtet und sich an deren glücklichen Gesichtern erfreut. Später arrangiert sie für ihre Concierge mithilfe gefälschter Liebesbriefe die Illusion, dass der Mann, der sie betrogen und verlassen hat, sie in Wahrheit doch geliebt hat. Einer vereinsamten Tabakverkäuferin vermittelt sie das ersehnte erotische Glück, ihren einsamen Vater bringt sie dazu, endlich in die Welt hinaus auf Reisen zu gehen. Nach all diesen Ersatzhandlungen, für die sie sich mit der Wunschfantasie belohnt, nach ihrem Tod würde im Fernsehen ein Nachruf ihrer Verdienste als Helferin aller Menschen gedenken, legt sie schließlich ihre Hemmungen ab und bewirkt für sich ebenfalls ein Happy End mit dem jungen Mann, in den sie sich verliebt hat – als hätte sie sich das folgende Zitat aus dem Film zu Herzen genommen: „Das Glück ist wie die Tour de France. Man wartet so lange, und dann rast es vorbei.“
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Im Jahr 2008 erhielt die Schauspielerin Sally Hawkins bei den Berliner Filmfestspielen den Preis für die beste Darstellerin zuerkannt. Sie hatte in Mike Leighs Film „Happy-go-lucky“ die 30-jährige Grundschullehrerin Pauline verkörpert – die Inkarnation einer glücksfähigen Person, an der aber auch die Probleme gezeigt werden, die ihr in einer nicht immer mit Sympathie reagierenden Umwelt begegnen. Ganz im Sinn des Titels (auf Deutsch: „unbekümmert“, „sorglos“) lebt Poppy, wie sie allgemein genannt wird, eine möglichst unbeschwerte Existenz und behandelt alle Menschen mit naiver Freundlichkeit – was nicht von jedem erwidert wird. So führt der Kontakt mit ihrem rassistischen, paranoiden Fahrlehrer nur zu Missverständnissen; als sie ihm zu verstehen gibt, dass seine unbeholfenen Annäherungsversuche nicht zum gewünschten Ziel führen, wirft ft er ihr vor, leichtfertig mit seinen Gefühlen gespielt zu haben. Ihre Schwester fragt sich, wann Poppy endlich erwachsen zu werden gedenkt. Tatsächlich hat sie – wie viele der Glücklichen, denen wir begegnet sind – eine besondere Affinität ffi zum Kindlichen: In der Buchhandlung, die sie zu Beginn des Films aufsucht, stellt sie ein Buch mit dem Titel „Road to Reality“ sofort wieder ins Regal und greift ft stattdessen nach dem Kinderbuch „Kingdom of the Sun“. Doch sie vermag durchaus als verantwortlicher Mensch zu handeln, als sie für ihren vom Freund seiner Mutter misshandelten Schüler professionelle Hilfe auftut. ft Dabei lernt sie den Sozialarbeiter Tim kennen und findet mit ihm – zumindest bis zum Ende des Films – ihr persönliches Glück. Ihr Lebensmotto formuliert Poppy bereits in der zitierten Eröff ffnungssequenz; dort verabschiedet sie sich von dem griesgrämigen Buchhändler, der auf ihre freundlichen Kontaktversuche nur mit mürrischen Blicken reagiert, mit dem augenzwinkernden Appell: „Stay happy!“
Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7
Vgl. Bordwell, Narration in the Fiction Film, 157. Kleiner, Paradise Lost, 89. Brunner, Konventionen eines Sternmoments, 213. Vgl. Koll, Die Regenschirme von Cherbourg, 557. Vgl. Fuchs, Unter die Haut. Zit. nach Giesenfeld, Le Bonheur, 18. Brunner, Konventionen eines Sternmoments, 212.
Anton A. Bucher
Haribo, Taschengeld, Lob? Was Kinder glücklich macht
Einleitung A. Bucher Haribo, Taschengeld, Lob? Was KinderAnton glücklich macht
„Du bist nicht auf Erden, um glücklich zu sein, sondern um deine Pfl flicht zu tun“, meißelten Steinmetze noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts über die Portale von Schulhäusern, damit die Kinder Tag für Tag lesen konnten, was „preußischer“ Geist von ihnen erwartete. Ganz anders die Vertreter der Vereinten Nationen, als sie am 20. November 1959 zusammenkamen, um die Erklärung der Kinderrechte zu beschließen. In deren Präambel steht, die Menschheit schulde dem Kind das Beste, was sie zu geben habe, und dies mit dem ausdrücklichen Ziel, „dass es eine glückliche Kindheit“ habe. Sind Kinder glücklich? Gemäß der vielfach üblichen Katastrophensemantik über Kindheit kaum. Am 11. Januar 2006 erschien im „Hamburger Abendblatt“ ein Artikel, wonach 60 % der Kinder „unkonzentriert, nervös und überdreht“ sind, „47 Prozent hatten Kopf- oder Bauchschmerzen, 45 Prozent waren aggressiv, 37 Prozent traurig und zurückgezogen“.1 Heutige Kinder hätten keine Spielzeit mehr; sie seien zerteilt in Rosenkriegen; die Bilderflut fl aus Flachbildschirmen hindere sie an einer normalen Gehirnentwicklung und mache sie dick und fett; der Schulstress werde ärger und ärger, sodass der Gang dorthin ein „Albtraum“ sei und immer mehr Jungen und Mädchen Sedativa einnehmen müssten, damit ihre Hände vor den Tests nicht zu sehr zittern. Aber: Sind Kinder wirklich so unglücklich? Lange demonstrierte empirisch fundiert, wie sehr populäre „Kindheitsrhetorik“ und empirische Fakten auseinanderklaff ffen können.2 Heutige Kinder würden von einem Termin zum anderen gehetzt und müssten die ganze Woche vorausplanen, oft ft telefonisch, sodass Kindheit auch Handykindheit sei. Demgegenüber haben empirische Studien, etwa des Deutschen Jugendinstituts, gezeigt, dass Kinder von ihren – ohnehin nicht so vielen – Terminen gar nicht dermaßen belastet werden, sondern diese gerne, ja mit Spaß wahrnehmen.3 Angesichts der Tatsache, dass Kinder noch vor wenigen Generationen neben der Schule dreißig oder mehr Stunden in Fabriken gearbeitet oder daheim bis tief in die Nacht Heimarbeit verrichtet haben, oft ft unzureichend und einseitig ernährt, klingt es zynisch, wenn heutige Kinder wegen drei oder vier Terminen pro Woche als „gehetzt“ bedauert werden.
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Wenn gefragt wird, wie glücklich Kinder sind, führt kein Weg an diesen selber vorbei. Der analytische Philosoph Wright hielt „happiness“ für ein Urteil der ersten Person („fi first person judgment“), das weder wahr noch falsch sein könne, sondern mehr oder weniger authentisch. „Ultimately, a man himself is judge of his own happiness““4 – ebenso sieht es die Glückspsychologie.5 Auch im Kindesalter: Jedes Kind ist seines eigenen Glückes Richter; sie sind diesbezüglich „wissend“.6 Kinder können bei Tätigkeiten glücklich sein, wo Erwachsene dies nur schwerlich nachvollziehen können, sei es beim Computerspiel, das viele Eltern aus ihrer eigenen Kindheit nicht kennen, sei es – so eine Tochter des Verfassers – als die lange als Haustier ersehnte Ratte auf ihrer Schulter umherkrabbelte, bis die Hauskatze dazwischen kam. Dieser Beitrag beginnt mit glückspsychologischen Skizzen. Aus diesen werden Hypothesen hergeleitet, insbesondere die, dass Kinder – anders als von der Katastrophensemantik der Kindheit suggeriert – mehrheitlich glücklich sind, weil sie sich unvermeidlich an ihre Lebensumstände adaptieren. Und: dass auch in der Kindheit die stärksten Glücksfaktoren in Tätigkeitsvariablen bestehen. Anschließend wird stichwortartig der im Jahr 1999 durchgeführte Kindheitsglückssurvey im Bundesland Salzburg referiert. Ausführlicher sei danach die Kindheitsglücksstudie erläutert, die vom ZDF anlässlich des zehnjährigen Jubiläums von „Tabaluga tivi“ in Auft ftrag gegeben wurde.
Glückspsychologische Fundamente und Hypothesen Glücksforschung hat in den letzten Jahren einen Boom erlebt, speziell innerhalb der „Positiven Psychologie“.7 Diese ist insofern ein notwendiges Korrektiv einer primär an der Krankheitsideologie ausgerichteten Psychologie, als in den einschlägigen Journalen bisher mehr als zwanzigmal so viele Artikel zu „Depression“ und „Angst“ als zu „Glück“ (happiness) veröffentlicht ff wurden. Die erste – und schwierigste – Aufgabe einer Psychologie des Glücks ist es, dieses zu defi finieren bzw. zu konzeptualisieren.8 Wie in der angelsächsischen Diskussion üblich, wird in beiden Studien ein breiter Glücksbegriff ff verwendet, der „Zufriedenheit“ und „Freude“ einschließen kann und Glück als subjektives Urteil ernst nimmt.9 Eine der ersten Psychologien des Glücks, vor gut 80 Jahren von Hellmann veröffentff licht, behauptete, es gäbe mehr Glück, als man ahnt, „denn der Schmerz schreit auf allen Straßen, das hohe Glück ist stumm oder verbirgt sich“10. In der Tat weisen glückssoziologische Studien stets mehr Menschen als glücklich denn als unglücklich aus, obschon kein geringerer als Freud behauptete, Glück sei nur als episodisches Phänomen möglich und im Plan der Schöpfung nicht enthalten. In einer jüngst von der Bertelsmann Stift ftung durchgeführten Repräsentativbefragung in der Bundesrepublik konnten die gut 1000 Befragten ihr bisheriges Lebensglück auf einer 10-Punkte Skala eintragen. 57 % kreuzten bei den drei höchsten Ausprägungen an, bloß 5 % bei den drei
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niedrigsten.11 Ruut Veenhoven, weltweit führender Glücksforscher, gelangte nach der Durchsicht tausender Studien zur Einsicht, Glück sei eine „normale Bedingung“. Warum sind mehr Menschen glücklich als unglücklich? In ihrem Aufsatz „Paradox des Wohlbefi findens“ verweist Staudinger auf die starken Adaptionskräft fte des Menschen.12 Eindrücklich werden diese durch die weltweit bekannt gewordene Studie von Brickman, Coates und Janoff ff-Bulman belegt.13 Unfallopfer, fortan an den Rollstuhl gefesselt, fanden nach einem Jahr zu ihrem ursprünglichen Glückslevel zurück. Lotteriegewinnern gelang es nicht, längerfristig auf dem Stimmungshoch zu bleiben, sie adaptierten sich schnell an den neuen Porsche oder die Attikawohnung. Die Adaption aber erklärt nicht, warum Menschen off ffensichtlich darauf programmiert sind, eher glücklich denn unglücklich zu sein. Aufschlüsse geben evolutionspsychologische Zugänge. Glücksgefühle werden zurückgeführt auf das Belohnungssystem im Gehirn, das aktiviert wird, wenn Menschen Tätigkeiten ausüben, die der inklusiven Fitness förderlich sind. Hieraus ergibt sich die erste Hypothese: Auch Kinder schätzen sich mehrheitlich als glücklich ein, dies umso mehr, als sie auch als „geborene Adaptionskünstler“ bezeichnet wurden.14 Sicher ist, dass soziodemographische Variablen enttäuschend wenig Varianz von Glück erklären. Andrews und Withey, die in den 1970er-Jahren repräsentative Umfragen zur Lebenszufriedenheit in den USA durchführten, fanden heraus, dass Geschlecht, Alter, Bildung, Einkommen, Wohnumgebung, Lebensform (Single, verheiratet) 8 % der Varianz von „happiness“ erklären.15 Begründen lässt sich die geringe prognostische Kraft ft von objektiven Lebensumständen auf Glück damit, dass es diese Umstände als objektive nicht gibt, sondern nur so, wie das Subjekt sie assimiliert und emotional bewertet. Weit verlässlichere Prognosen auf das subjektiv eingeschätzte Glück ermöglichen Tätigkeitsvariablen. Gemäß der empirisch gut fundierten Formel von Lyubomirsky ist Glück zu 50 % genetisch festgelegt, zu 10 % durch die Lebensumstände und 40 % durch das Aktivitätsspektrum.16 Um glücklicher zu werden: „Change your actions not your circumstances.“17 Daraus ergibt sich die zweite Hypothese: Auch bei Kindern erklären objektive Situationsvariablen nur wenig Varianz des Glücks; als aussagefähiger werden sich Tätigkeitsvariablen herausstellen: Freizeitaktivitäten, Hobbys etc. Dafür spricht eine der ältesten Glückstheorien, die des Aristoteles: Glück ist Tätigkeit der Seele. Aber auch das FlowKonzept von Csikszentmihalyi: Kinder nehmen mit der Notwendigkeit eines Naturgesetzes Tätigkeiten in Angriff, ff die idealiter in den Flow-Zustand führen, in dem die Zeit vergessen wird und die Subjekte mit ihrer Tätigkeit verschmelzen.18 Ein weiterer Topos der Psychologie besagt, dass Glück durch einige Persönlichkeitseigenschaft ften (Big Five) begünstigt wird, durch andere hingegen erschwert.19 Aus den ersteren ragt „Extraversion“ heraus, die Fähigkeit, off ffen auf Menschen zuzugehen, eine lahme Party in Schwung zu bringen. Glücksmindernd ist hingegen Neurotizismus, der sich in häufi figem Grübeln, Melancholie und geringer Belastbarkeit konkretisiert. In der
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zweiten Studie wird erstmals anhand einer Stichprobe mit Kindern die dritte zentrale Hypothese geprüft ft: Extravertierte Kinder schätzen sich glücklicher ein als solche, die weniger leicht Freunde finden fi etc.
Der Salzburger Survey zu Kindheitsglück Schrift ft lich befragt wurden 1319 Kinder im Alter von acht bis dreizehn Jahren. Mehrheitlich stufen sie ihre Kindheit als sehr positiv ein:20
Bilanzierung der Kindheit durch Kinder im Bundesland Salzburg in % (n = 1319) – Salzburger Survey zu Kindheitsglück
Am glücklichsten sind Jungen und Mädchen in den Ferien und an Weihnachten, sehr glücklich auch bei der Mutter – dies noch mehr als beim Vater und den Geschwistern, sofern vorhanden, sodann bei ihren Freunden und in ihren Freizeitaktivitäten: besonders, wenn sie draußen und in Bewegung sind. Nur seltene Glücksorte sind demgegenüber die Kirche oder auch die Schule – die Differenz ff zur Befi findlichkeit beim Zahnarzt ist nur gering. Faktoren wie Wohnsituation oder Taschengeld sind für das Kindheitsglück unerheblich, auch der Umstand, ob Geschwister da sind oder nicht – Einzelkinder sind, entgegen dem gängigen Klischee, keineswegs unglücklicher. Wenn Kinder bei einer alleinerziehenden Mutter leben, sind sie zwar seltener „total glücklich“, aber gleichwohl häufi figer glücklich als unglücklich. Mit steigendem Alter sinkt das subjektiv bilanzierte Glück drastisch, besonders um das zwölft fte Lebensjahr herum, wenn die Pubertät einsetzt. Multiple Regressionsanalysen zeigen, dass Kindheitsglück am stärksten durch die Familie begünstigt wird, speziell durch gemeinsame Unternehmungen (wobei das Ausmaß an Zeit zweitrangig ist), ein fröhliches Klima und eine Kultur des Lobes, der Anerkennung und der sozial-integrativen Erziehung. Als wichtiger Glücksprädiktor
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stellte sich auch heraus, ob Kinder genug Platz registrieren, in der Wohnung wie auch deren unmittelbarer Umgebung – Glück braucht seinen Raum, speziell für Bewegung auf dem Fahrrad, dem Skateboard etc. Wenig überraschend ist, wie gewichtig sich schulische Variablen herausstellten: Wer sich oft ft langweilt oder im Klassenzimmer Angst verspürt, schätzt sein gesamtes Leben signifi fi kant weniger positiv ein. Anders hingegen ist generell glücklicher, wer in der Schule Tag für Tag freundliche Lehrer(innen) erlebt und mitmacht. Insgesamt gilt: Viele pessimistische Szenarien des aktuellen Kindheitsdiskurses wurden durch diese Studie widerlegt. Aber – fragten sich die Medienwissenschaftler ft des ZDF – gilt dies auch für Kinder, die nicht in „Felix Austria“ leben, zu Füßen schneegekrönter Gipfel, sondern in der Rhein-Main-Ebene, über der im Herbst wochenlang Nebel dräuen kann?
Die ZDF „Tabaluga tivi“ Studie zu Kindheitsglück Die Datenerhebung fand in Face-to-Face-Interviews statt, die psychologisch geschulte Mitarbeiter des Instituts iconKids&Youth (München) bei den Kindern zu Hause durchgeführt haben. Repräsentativ über die Bundesrepublik verteilt, wurden 1239 Kinder befragt, zur Hälft fte Jungen und Mädchen, zwischen sechs und dreizehn Jahre alt. Befragt wurde auch ein Elternteil; dafür stellten sich zu 89 % Mütter zur Verfügung. Sie schätzten nicht nur ein, wie glücklich ihr Kind sei, sondern auch seine Persönlichkeitseigenschaft ften und lieferten Informationen zu Haushaltseinkommen, objektiver Wohnsituation etc. Kinder – mehrheitlich und in den meisten Bereichen glücklich
Die Kinder konnten ihr bisheriges Lebensglück sowie ihre Zufriedenheit in verschiedenen Lebensbereichen auf einer 5-Punkte Gesichterskala beurteilen.
Bilanzierung der Kindheit durch Kinder in der BRD in % (n = 1239) – ZDF „Tabaluga tivi“ Studie
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Gemäß den wenigen früheren Studien stufen sich Kinder mehrheitlich als glücklich ein, so in der pionierhaft ften Arbeit von Lang21, ebenso in den Surveys von Bucher22 und 23 Alt. Global eingeschätztes Kindheitsglück ist präzisierungsbedürft ftig. Mit 40 Items wurde erfragt, wobei Kinder mehr oder weniger glücklich sind. Am glücklichsten sind Jungen und Mädchen, wenn sie das Taschengeld bekommen (78 % „total glücklich“), in den Ferien (76 %), an Weihnachten (74 %), bei Freunden (71 %), bei der Mutter (61 %) und draußen im Freien (61 %). Am wenigsten glücklich sind sie, wenn sie krank (glücklichstes Smiley: 1 %) oder beim Zahnarzt sind (1 %), im Haushalt mithelfen (6 %), alleine sind (7 %) oder an den Hausaufgaben sitzen, die zu den stärksten Glückskillern gehören.
Glück in verschiedenen Bereichen der Kindheit, Mittelwerte (n = 1239) – ZDF „Tabaluga tivi“ Studie
Im theoretischen Mittel liegt das Wohlbefi finden in der Kirche, wozu 54 % aufgrund fehlender Praxis keine Angaben machten. Geringfügig über der Mitte rangiert die Schule, allerdings mit massiven Diff fferenzen zwischen Altersgruppen und Schularten: Grundschüler finden die Schule zu 76 % beglückend, Hauptschüler nur zu 46 %. Zu den „aktiven Hobbys“ zählen lesen und zeichnen / malen / basteln (woran Mädchen doppelt so viel Freude haben), Musik hören und der Umgang mit Haustieren:
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„Meine Haustiere haben mich am meisten glücklich gemacht. Wenn wir mal ein junges Vogelbaby am Boden gesehen haben, das aus dem Nest gefallen war, haben wir es gepfl flegt und später rausgelassen. Wir haben schon vier Vögel, einen Igel und eine Maus gepfl flegt.“
Bei „Freiraum draußen, Freunde, Spiel“ ist bemerkenswert, dass Kinder pädagogische Kontrollnischen, in denen sie nicht überwacht werden und tun können, was sie wollen, beglückender finden fi (total: 50 %) als vorstrukturierte Spielplätze (31 %). Wovon hängt Kindheitsglück ab?
Soziodemographische Variablen – Gemäß der zweiten aus der Glückspsychologie abgeleiteten Hypothese sind soziodemographische Variablen nur schwache Prädiktoren des von Kindern eingeschätzten Glücks. Mädchen und Jungen fühlen sich gleich glücklich. Stärker ist der Alterseff ffekt: Sechsjährige sind zu 57 % total glücklich, Zwölfjährige 37 % und ein Jahr später, in der einsetzenden Adoleszenz, sinkt die Quote auf 25 % – ein Trend, den auch andere Studien feststellten. Schon Rousseau und die Romantiker verorteten Glück in unberührter Natur. Sind Kinder, am Chiemsee aufwachsend, glücklicher als die in der Hamburger Innenstadt? Die Wohnortgröße zeigt keinerlei Eff ffekt auf das bilanzierte Kindheitsglück, durchaus signifi fi kant hingegen ist die Wohnsituation: Kinder in Einfamilienhäusern sind geringfügig glücklicher – dies umso mehr, wenn sie jederzeit in einen Garten hinausgehen können (45 % total glücklich) – als jene, die in Wohnungen leben (31 %). Zu den soziodemographischen Variablen gehört auch, ob Geschwister da sind oder nicht; wie bereits angedeutet, sind Einzelkinder nicht unglücklicher. Stärker ist der Eff ffekt der Familienform. Kinder bei beiden leiblichen Eltern sind zu 12 % tendenziell traurig, in Patchworkfamilien zu 15 %, und, wenn allein erzogen, zu 31 %, womit gleichzeitig gesagt ist, dass sich die Mehrheit grundsätzlich glücklich fühlt. Eine Trennung der Eltern macht Kinder nicht zwingend unglücklich, vielmehr kann es für sie sogar besser bzw. ein Ende des Schreckens sein, wenn sie nicht mehr beständige Konflikte ertragen müssen.24 Die Variable „Familienform“ ist verbunden mit dem Haushaltseinkommen: Liegt dieses unter 1500 Euro im Monat, bilanzieren Kinder ihr bisheriges Leben deutlich weniger positiv; von monatlich 2000 Euro an wirkt sich das Einkommen nicht mehr auf Kindheitsglück aus – ein Ergebnis, das in der Glückspsychologie wiederholt festgestellt wurde: Viel Geld macht nicht glücklich, aber keines bereitet bedrückende Sorgen;25 55 % der alleinerzogenen Kinder fallen in die niedrigste Einkommensgruppe, aber bloß 7 % jener, die in vollständigen Familien leben. Widersprüchlich scheinen die Ergebnisse zum Taschengeld, das 63 % der Befragten regelmäßig erhalten, 18 % bei Bedarf – pro Woche durchschnittlich 14 Euro. Dies zu bekommen, rechnen die Kinder zwar zu den besonders glücklichen Episoden in ihrem Leben, aber faktisch wirkt sich die Taschengeldhöhe auf das Kindheitsglück nicht aus. Diejenigen, die pro Woche
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mehr als 40 Euro erhalten, sind zu 36 % total glücklich, jene ohne Taschengeld zu 43 %, was aber an das Alter gebunden ist. Als soziodemographische Variable wurde auch die berufliche fl Situation der Eltern betrachtet. Kinder, deren Mütter ganztägig daheim sind, stufen sich keineswegs als glücklicher ein (total glücklich: 38 %). Am positivsten beurteilten diejenigen Jungen und Mädchen ihr bisheriges Leben, deren Mütter Teilzeit beschäft ftigt sind (46 %). 33 % sind es, wenn die Mütter den ganzen Tag arbeiten und am Abend noch den Haushalt zu bewältigen haben. Das Bildungsniveau der Eltern zeitigt keinen Effekt, ff ebenso wenig ihr Alter. Und es ist auch nicht zutreff ffend, dass Kinder mit Migrationshintergrund weniger glücklich wären, ebenso wenig wie Kinder in den alten Bundesländern ihr bisheriges Leben positiver beurteilen. Insgesamt gingen 15 soziodemographische Variablen als Prädiktoren in die Berechnungen ein, und es zeigte sich, dass sie zusammen für 13 % der Beeifl flussung des subjektiv eingeschätzten Glücks verantwortlich sind – nahezu gleichviel wie gemäß der Glücksforscherin Lyubomirsky26 auf äußere Umstände zurückzuführen ist. Von allen Prädiktoren erreichten folgende eine Signifikanz: fi Alter, Familienform, ob ein Garten benutzt werden kann (ein traditionsreiches Bild des Glücks), die Schulart (Grundschüler und Gymnasiasten überdurchschnittlich glücklich) sowie die teilzeitmäßige Berufstätigkeit der Mutter. Diese Variablen sind also tatsächlich ausschlaggebend dafür, wie glücklich sich ein Kind einschätzt. Tätigkeitsvariablen – Lyubomirsky zufolge kann der Mensch 40 % der Glücksvarianz 27 durch „bewusste Verhaltensweisen“ beeinflussen. fl Trifft fft dies auch bei Kindern zu? Erfragt wurde ein breites Spektrum von Aktivitäten, in der Familie und in der Freizeit ebenso wie in der Schule, in Vereinen, mit Medien etc. Trotz aller Katastrophensemantik über das Ende der Familie wird Kindheit auch heute nach wie vor durch die Familie geprägt, die „die primäre Lebenswelt von Kindern“ ist28 und maßgeblich über deren Glück entscheidet, wie auch diese Studie untermauert. Die Skala „Aktivität und Wohlbefi finden in der Familie“ (aus 16 Items bestehend, unter anderem: „Ich spiele mit meinen Eltern und Geschwistern; an freien Tagen unternimmt unsere Familie etwas: Ausfl flüge, Wanderungen, Besuche; bei uns zu Hause wird gelacht“) wies einen recht großen Zusammenhang mit Kindheitsglück auf: Mit einem flussen diese Variablen das Glücksempfi finden Korrelationskoeffi ffizienten r = 0,5929 beeinfl mehr als doppelt so stark wie die 15 soziodemographische Prädiktoren. Heutige Kindheit ist auch „Schulkindheit“. Wie diese Institution erlebt wird, färbt signifikant fi auf das gesamte Wohlbefi finden ab. Die Auswertung der Skala „Positives Erleben der Schule“ ergab, dass Kinder, die in der Schule mitmachen („stimmt total“: 29 %), die leicht lernen (22 %) und die gerne dorthin gehen (26 %), generell glücklicher sind (r = 0,49).
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„Als ich erfuhr, dass meine beste Freundin in der Hauptschule nicht in meiner Klasse war, befürchtete ich, keine neue Freundin zu finden. Doch alles kam ganz anders. Alle waren nett zu mir. Das hat mich am meisten glücklich gemacht.“
Allerdings nimmt – wie zahlreiche andere Studien30 nachweisen – mit steigendem Alter die „Schulunlust dramatisch zu“.31 Sechsjährige gehen zur Hälft fte „sehr gerne“ in die Schule, Dreizehnjährige dreimal seltener (16 %). Auch registrieren von den Ältesten nur 7 %, dass ihre Lehrer regelmäßig sehr spannenden Unterricht erteilen. Wie relevant die Schule für das Wohlbefi finden von Kindern ist, zeigt sich auch ex negativo: 14 % haben regelmäßig Angst vor Tests, 37 % eher, und 6 % sitzen jeden Tag „lange an den Hausaufgaben“, 46 % mehrmals die Woche. Wer sich so durch die Schule belastet fühlt, ist seltener „total glücklich“. Es gibt die These, Th heutigen Kindern sei die Freizeit abhanden gekommen.32 Kinder sehen es anders: 41 % hätten „total genug Freizeit“, 51 % „eher genug“. Allerdings: Wer als Kind zu wenig Freizeit registriert, ist seltener „total glücklich“ (21 %) als diejenigen, die davon genug haben (61 %). In ihrer Freizeit gehen Jungen und Mädchen vielfältigsten Aktivitäten nach und sind häufi figer in Bewegung als in Ruhestellung: 18 % treiben täglich Sport, 47 % mehrmals die Woche: Sie sind geringfügig glücklicher. 41 % machen täglich etwas draußen (Fahrrad fahren, skaten, herumtoben, Ballspiele), weitere 50 % mehrmals die Woche (mit steigendem Alter geringfügig seltener werdend), sodass die These „vom Straßenkind zum verhäuslichten Kind“ zu hinterfragen ist. Freizeit ist für Kinder – nach wie vor – Zeit mit Freunden, von denen die Befragten im Schnitt fünf bis sechs haben: 58 % treff ffen sich täglich mit ihnen, weitere 39 % mehrmals die Woche, draußen häufi figer als drinnen. Wer jeden Tag mit seinen Freunden etwas unternehmen kann, ist zu 43 % „total glücklich“, wem dies seltener als einmal die Woche vergönnt ist, zu 18 %. Ob Kinder Freunde finden, hängt auch davon ab, ob in der Wohnumgebung genug Kinder leben. Jungen und Mädchen, die das vermissen, schätzten ihre Kindheit signifi fi kant weniger glücklich ein (total: 20 %) als jene, die immer jemanden treff ffen, wenn sie hinausgehen (55 %). „Solange ich Freunde habe, bin ich glücklich.“ Medien, die, wenn sie neu waren, regelmäßig pädagogisches Misstrauen auslösten (bei Rousseau waren es Bilderbücher), sind aus dem Kinderleben nicht mehr wegzudenken. Eine der häufi figsten Freizeitbeschäft ftigungen ist das Fernsehen. An einem durchschnittlichen Wochentag sitzen Kinder 75 Minuten vor dem Bildschirm, wenn sie am folgenden Morgen nicht in die Schule müssen sogar 118 Minuten. Wie auch andere Studien zeigen, steigt die tägliche Sehdauer mit dem Alter kontinuierlich.33 Auch wenn die Kinder das Fernsehen zu den besonders beglückenden Tätigkeiten rechneten (89 % assoziieren es mit glücklichen Gesichtern), ist hervorzuheben, dass die Sehdauer nicht positiv mit dem subjektiven Kindheitsglück korreliert, im Gegenteil: r = –0,19. Kinder sind also nicht wirklich glücklicher, wenn sie mehr fernsehen.
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Ähnliches gilt für die Spielkonsolen, die in zusehends mehr Kinderzimmern stehen (in diese Studie bei 65 % der Befragten). Diese verbinden die meisten Kinder (78 %) mit „glücklich“, 55 % spielen mehrmals wöchentlich. Zu Kindheitsglück besteht jedoch eine schwach negative Korrelation (r = –0,09). Des Weiteren wurde eine Skala zur „Häufi figkeit von Hobbys“ eingesetzt, wozu auch Musik hören zählt, was mit steigendem Alter häufi figer wird. 37 % beschäft ftigen sich täglich mit einem Haustier, Mädchen geringfügig häufi figer. 60 % gehen zumindest mehrmals die Woche kreativen Hobbys nach – basteln, musizieren, malen – und 17 % gaben an, täglich zu lesen, Mädchen dreimal so oft ft wie Jungen. Diese Skala korreliert zu r = 0,30 mit dem global bilanzierten Kindheitsglück und hat nur knapp weniger Einfl fluss auf das subjektive Glücksempfi finden als die 15 soziodemographischen Variablen. Persönlichkeitseigenschaften ft – Der bekannte Psychologe Hans Jürgen Eysenck defifi 34 nierte Glück als „dauerhaft fte Extraversion“. Die Studien, die positive Zusammenhänge zwischen Extraversion und Glück nachwiesen, sind kaum mehr zu überblicken.35 In unserer Studie wurde die Hamburger Neurotizismus- und Extraversionsskala für Kinder und Jugendliche von Buggle und Baumgärtel verwendet,36 die Extraversion mit Items wie den folgenden misst: „Ich finde schnell Freunde / Freundinnen; ich mag es, wenn um mich herum viel passiert und es nicht langweilig wird“, Introversion hingegen beispielsweise mit: „Ich mache lieber etwas für mich allein als mit anderen zusammen, ich träume zu Hause oder im Kindergarten / in der Schule oft ft vor mich hin“). Unter dem theoretischen Skalenmittelwert liegen nur 14 % der Befragten. Und: Je extravertierter die Jungen und Mädchen, je häufi figer sie einander auch Witze erzählen und gemeinsam Streiche spielen, desto glücklicher schätzen sie ihr bisheriges Leben ein (r = 0,45).
Kindheitsglück und Extraversion in % (n = 1239) – ZDF „Tabaluga tivi“ Studie
Deutlich weniger Kinder sind introvertiert als extravertiert. Nicht einmal jedes fünfte ft macht lieber etwas für sich allein; jedes vierte ist eher still, wenn es mit anderen zu-
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sammen ist, knapp die Hälft fte träumt gelegentlich vor sich hin. „Introversion“ korreliert mit r = –0,22 deutlich schwächer mit Kindheitsglück als Extraversion. Stärker introvertierte Kinder sind nur geringfügig seltener total glücklich als die extravertierten.
Zusammenfassung und Diskussion Leider war es in diesem Rahmen nicht möglich, alle Variablen zu beschreiben, die in der „Tabaluga tivi“ Studie erörtert wurden. Speziell die Auswertung der Umgebungsvariablen („ausreichend Wohnraum“, „gefährliche Straßen“ etc.), aber auch der Fernsehvorlieben oder der Nachmittagsbetreuung (institutionelle vs. Beschäft ftigung alleine zu Hause) liefern weitere interessante Erkenntnisse. Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle jedoch sagen, dass sich die Familie, wie schon in früheren Studien, als am glücksrelevantesten herausstellte, wobei insbesondere die in ihr ausgeübten Tätigkeiten und das dort herrschende Klima, das durch sozial-integrative Erziehung begünstigt wird, eine große Rolle spielen.37 38 % der Kinder erleben regelmäßig, dass ihre Eltern ihre Anweisungen begründen, 13 % selten bzw. nie. Daneben ist es – wie auch schon nachgewiesen – vor allem die Schule, die – positiv formuliert – das Potenzial hätte, das Wohlbefi finden von Kindern zu erhöhen, etwa indem der Unterricht regelmäßig von körperlich-sportlicher, sozialer oder künstlerisch-expressiver Aktivität unterbrochen wird und Jungen und Mädchen nicht mit vielen Hausaufgaben heimgeschickt werden. Neben Aktivitätsvariablen und Persönlichkeitseigenschaft ften prognostiziert „Selbstwert“ subjektives Kindheitsglück enorm, in der Befragung formuliert als „Ich fi finde mich in Ordnung, so wie ich bin“ (für 30 % total richtig, für 62 % eher richtig) sowie „Es gibt viele Dinge, die ich gut kann“ (44 % bzw. 50 %). Ob Selbstwertgefühl ein sinnvoller Prädiktor für Glück ist, lässt sich freilich diskutieren, weisen doch beide starke Überlappungen auf, die sich in hohen Korrelationen (r > 0,60) niederschlagen, sodass auch behauptet werden könnte, positives Selbstwertgefühl und Glück seien deckungsgleich (eine Person sei glücklich, weil sie mit den eigenen Stärken und Leistungen zufrieden ist). Räumliche Faktoren sind nicht unerheblich, speziell dass in der Wohnung genug Freiraum besteht und dass die Umgebung nicht zu gefährlich und zu laut ist – wir Menschen adaptieren uns an viel, aber nur begrenzt an Lärm. Glück braucht – gerade bei Kindern – seinen (Frei-)Raum, denn sie fühlen sich an Plätzen besonders wohl, wo sie nicht gestört werden. Kinder mit ungehindertem Zugang zu pädagogischen Kontrollnischen sind zu 60 % „total glücklich“, ohne ihn nur zu 30 %. Wie jede Studie, hat auch diese ihre Grenzen. Ihre zentralste Variable ist retrospektiv eingeschätztes Kindheitsglück. Aus der Glückspsychologie ist bekannt, wie trügerisch Erinnerungen an Emotionen sind und wie sehr sie von situativen Faktoren abhängen (dem Wetter, ob man zuvor ein Kompliment bekommen hat, ob der Interviewer
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freundlich ist etc.).38 Es wäre präziser, die Experience-Sampling Methode (ESM) anzuwenden, in der die Versuchspersonen zu festgelegten oder zufallsgenerierten Zeitpunkten ihre aktuelle Befi findlichkeit in einen Handcomputer eingeben. Dieses Verfahren, auch mit Schulkindern anwendbar, ist jedoch enorm aufwendig, und die Ergebnisse von ESM-Studien decken sich gut mit retrospektiven Erhebungen.39 Alles in allem: Kinder sind besser als ihr Ruf, aktiver als von Fernsehgegnern behauptet, begeisterungsfähiger als von Nostalgikern des angeblich „besseren“ Früher angenommen, weniger gestresst und im Umgang mit ihrer Freizeit souveräner als von skandalisierender Kindheitsrhetorik unterstellt, glücklicher als von Kulturpessimisten gezeichnet und glückswürdiger als von vielen Pädagogen gesehen.
Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29
Hörbst, Jedes fünfte ft Kind ist stresskrank. Vgl. Lange, Kindheitsrhetorik und die Befunde der empirischen Forschung. Vgl. Alt, Kinderleben. Wright, Th The varieties of goodness, 99. Vgl. Argyle, The psychology of happiness. Vgl. Zinnecker, Forschen für Kinder, 69. Vgl. Snyder / Lopez, Handbook of positive psychology. Vgl. Bucher, Psychologie des Glücks. Vgl. Argyle, The psychology of happiness. Hellmann, Psychologie des Glücks, 13. Vgl. Bertelsmann Stift ftung, Glück, Freude, Wohlbefi fi nden. Vgl. Staudinger, Viele Gründe sprechen dagegen. Vgl. Brickman / Coates / Janoff ff-Bulman, Lottery winners and accident victims. Vgl. Tügel, Kult ums Kind, 8. Vgl. Andrews / Withey, Social indicators of well-being. Vgl. Lyubomirsky, Glücklich sein. Vgl. Sheldon / Lyubomirsky, Achieving sustainable gains in happiness. Vgl. Csikszentmihalyi, Das Flow-Erlebnis. Vgl. Argyle, The psychology of happiness. Ausführlicher: Bucher, Was Kinder glücklich macht. Vgl. Lang, Lebensbedingungen. Vgl. Bucher, Was Kinder glücklich macht. Vgl. Alt, Kinderleben. Vgl. Grunert / Krüger, Kindheit und Kindheitsforschung in Deutschland, 75 f. Vgl. Easterlin, Happiness. Vgl. Lyubomirsky, Glücklich sein, 31. Vgl. ebd. Vgl. Grunert / Krüger, Kindheit und Kindheitsforschung in Deutschland, 68. Der Korrelationskoeffi ffizient r ist das Maß für den Zusammenhang zweier Merkmale und kann Werte zwischen –1 (vollständig negativer Zusammenhang) und + 1 (vollständig positiver Zusammenhang) annehmen (je mehr sich r dem Wert 0 nähert, desto weniger hängen die Merkmale zusammen).
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Zinnecker / Behnken / Maschke / Stecher, Null Zoff ff & voll busy. Grunert / Krüger, Kindheit und Kindheitsforschung in Deutschland, 129. Vgl. dazu ebd., 142–145. Vgl. Feierabend / Klingler, KIM-Studie 2003. Eysenck, I do: Your guide to a happy marriage, 87. Vgl. Bucher, Psychologie des Glücks. Vgl. Buggle / Baumgärtel, Hamburger Neurotizismus- und Extraversionsskala für Kinder und Jugendliche. 37 Vgl. Lang, Lebensbedingungen; Alt, Kinderleben. 38 Vgl. Bucher, Psychologie des Glücks. 39 Vgl. Veenhoven, Advances in understanding happiness.
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Soziale und ökonomische Bedingungen von Lebensqualität1
Einleitung Popp / Reinhard Hofbauer Pausch Soziale Reinhold und ökonomische Bedingungen von/ Markus Lebensqualität
Die Internet-Plattform „Amazon“ bietet bereits mehr als 1500 deutschsprachige Fachund Sachbücher zum Zukunft ftsthema „Glück“ an. Neben einigen Werken zur sogenannten Glücksforschung dominiert in diesem Berg die Ratgeberliteratur mit ihren immer gleichen Tipps zu Bewegung, Ernährung, Partnerbeziehung, Spiritualität und Entschleunigung. In unserer wirtschaft ft lich unsicheren Zeit werden diese Rat-Schläge für den ganz persönlichen Weg in eine glückliche Zukunft ft oft ft auch mit esoterischen Askese-Konzepten in Richtung eines heiteren Konsumverzichts garniert. Off ffensichtlich passt die Auseinandersetzung mit den Rahmenbedingungen des privaten Glücks weniger gut zu solch ich-bezogener Sinnsuche. Dies erinnert an die Unabhängigkeitserklärung der USA, in der das individuelle „Streben nach Glück“ als eines der unveräußerlichen Rechte des Menschen verankert ist. Dass dieses Streben ohne eine ordentliche Sozialversicherung an frühe Grenzen stößt, wissen 50 Millionen Amerikaner und Amerikanerinnen aus eigener leidvoller Erfahrung. Nach der Logik der europäischen Sozialstaaten lässt sich das Glück der Einzelnen nicht so leicht von der (Mit-)Verantwortung für das Glück aller abkoppeln. Dieser guten europäischen Tradition fühlen sich die Autoren dieses Beitrags verpflichtet. fl
Lebensqualität im wissenschaftlichen ft Diskurs In der deutschen Alltagssprache wird kaum zwischen Glück (im Sinn von glücklich sein), Lebensqualität, Zufriedenheit und Wohlbefi finden unterschieden. Wer sagt: „Ich bin glücklich“, könnte auch sagen: „Ich bin mit meinem Leben sehr zufrieden“ oder „Meine Lebensqualität ist hoch“. Sinnverwandte Sätze lassen sich auch mit „Wohlbefinden“ bilden, auch wenn dieser Begriff ff ein wenig altertümlich klingt. Lebensqualität steht eher für eine zusammenfassende Beschreibung der gesamten Lebenssituation, also sowohl für die objektiven gesellschaftlichen, ft wirtschaft ft lichen und politischen Rahmenbedingungen unseres Lebens als auch für deren subjektive Bewertung.
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Die Begriffe ff Glück, Zufriedenheitt oder Wohlbefinden fi beziehen sich meist eher auf die psychische Dimension. Eine allgemein verbindliche Abgrenzung zwischen den Begriffen ff Lebensqualität, Glück, Zufriedenheit und Wohlbefi finden gibt es auch in der Wissenschaft ft nicht. Dies gilt sowohl für die Lebensqualitätsforschung als auch für die Glücksforschung. In der (Sozial-)Psychologie steht vor allem die subjektive Dimension des guten Lebens im Vordergrund, wofür sich der Begriff ff Glück besser eignet als Lebensqualität. Ein ähnliches Interesse haben die derzeit sehr populären Neurowissenschaften, ft die sich primär um biochemische Ursachen von Glücksgefühlen kümmern. Auch die Theologie bevorzugt für die Analyse der spirituellen Aspekte des guten Lebens den Glücksbegriff ff, wobei es vor allem um Religiosität und den Sinn des Lebens geht. In der Betriebswirtschaft ftslehre dominiert der Glücksbegriff ff, während in der Volkswirtschaft ftslehre eher von Lebensqualität die Rede ist. Besonders stark verbreitet ist Lebensqualität als Begriff ff in der Soziologie und der Politikwissenschaft ft. In der Medizin wird Lebensqualität meist auf die Möglichkeiten eines guten Lebens trotz gesundheitlicher Beeinträchtigungen bezogen. In der stark interdisziplinär orientierten Pädagogik werden all diese Zugänge aufgegriffen ff und im Hinblick auf die Bildungsfrage handlungstheoretisch reflektiert. fl Im vorliegenden Beitrag geht es um die Rahmenbedingungen eines guten Lebens, also um die sozialen, ökonomischen und politischen Grundlagen des Glücks. Deshalb wird hier der Begriff ff Lebensqualitätt in den Vordergrund gestellt.
Höhere Lebensqualität in reichen Ländern Eine Reihe von Untersuchungen belegt, dass Zufriedenheit und Lebensqualität stark an die wirtschaft ft liche Entwicklung gebunden sind. „Die Vorstellung, Personen in ärmeren Ländern seien glücklicher, weil sie ,natürlicher‘ und weniger angespannt leben“, kann deshalb „ins Reich der Mythen verwiesen werden“2. Menschen in Ländern mit einem hohen Sozialprodukt pro Kopf sind im Durchschnitt eindeutig glücklicher als in Ländern mit niedrigem Pro-Kopf-Einkommen. In diesem Zusammenhang sollte auch nicht vergessen werden, dass in wohlhabenden Ländern mit hohem Sozialprodukt oft ft auch andere Wohlfahrtsindikatoren auf hohem Niveau liegen, etwa gute Versorgung mit Nahrung, sauberes Trinkwasser, Qualität des Ausbildungssystems, höhere Lebenserwartung, geringere Kindersterblichkeit, Sozialausgaben pro Kopf u. a.3 Eine weitere groß angelegte Vergleichsstudie zur Zufriedenheit in den Ländern der Europäischen Union, der „European Quality of Life Survey“ (EQLS 2007), kommt zum gleichen Ergebnis: Die Lebensqualität ist in den reicheren Ländern Europas deutlich höher als in den ärmeren. Der EQLS-Survey zeigt aber auch ein weiteres interessantes Phänomen: Die Zufriedenheit der oberen Einkommensschicht in den armen Ländern ist immer noch niedriger als die Lebenszufriedenheit der ärmeren Schichten der reicheren Länder. Das bedeutet, dass der Vergleich mit anderen zur Erklärung von
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Lebenszufriedenheit weiter wirksam ist. Allerdings haben sich die Vergleiche offenbar ff „transnationalisiert“: Die oberste Einkommensschicht in armen Ländern vergleicht sich weniger mit den ärmeren Landsleuten, als vielmehr mit den Bezugsgruppen in den reichen Ländern der EU.4
Zum Zusammenhang zwischen Lebensqualität, BIP und Wirtschaftswachstum ft Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist im Wesentlichen der Messwert für die zu Marktpreisen in einem Jahr in einem Land hergestellten Güter und Dienstleistungen. Durch das BIP lässt sich darstellen, welche Bereiche der Gesamtwirtschaft ft wachsen bzw. schrumpfen, was für die Politik von großer Bedeutung ist. Allerdings wird die Kritik am BIP immer lauter. So erfahren wir etwa nicht, wie viele Menschen an der Herstellung des BIP beteiligt sind, wie viel sie dafür arbeiten, wie die öff ffentliche Verwaltung funktioniert, wie es um die Qualität von Luft ft und Wasser bestellt ist oder ob die Einkommen im Land gerecht verteilt sind. Nicht zuletzt erhöht sich das BIP in vielen Fällen auch dann, wenn unsere Lebensqualität sinkt. So steigt das BIP etwa durch mehr Medikamente gegen Depressionen oder durch mehr Autounfälle und die damit verbundenen Reparaturen. Das BIP kann also „Lebensqualität“ nicht messen. Deshalb wird von der EU daran gedacht, daneben noch andere Wohlfahrtsindikatoren zu entwickeln.5 Manche Kritiker des BIP bezweifeln ganz generell die Notwendigkeit des Wirtschaft ftswachstums, weil stetiges Wirtschaft ftswachstum übermäßigen Natur- und Ressourcenverbrauch verursache und auch die menschliche Arbeitskraft ft über Gebühr ausbeute. Ständiges Wachstum sei letztlich menschenfeindlich und verringere die Lebensqualität. Diese Auff ffassung trifft fft in breiten Bevölkerungskreisen auf eine latent wachstumskritische Haltung. Dabei wird vielfach nicht beachtet, dass ohne eine Steigerung des Wirtschaftswachstums ft von mindestens 2 % pro Jahr die Rahmenbedingungen für unsere Lebensqualität auf Dauer nicht finanzierbar fi sind.6 Mangelndes Wachstum der Erträge aus Produktion und Dienstleistung hat nachhaltig negative Konsequenzen für die Qualität des Bildungsangebots, für die soziale Sicherheit, für ein sozial ausgewogenes Gesundheitssystem oder auch für die unverzichtbaren Investitionen in Maßnahmen zum Klima-, Umwelt- und Naturschutz. Nur (wenigstens moderates) Wirtschaftswachstum ft schafft fft Arbeit. Arbeit und Einkommen sind bekanntlich die zwei wichtigsten Schlüsselfaktoren für Glück und Lebensqualität. Lebensqualität und Wirtschaft ftswachstum sind also keine Gegner. Glück und Lebensqualität sind dort höher, wo es ein ausgebautes Sozialwesen gibt und die wirtschaft ft liche Leistungskraft ft hoch ist. Freilich ist es nicht egal, wie das für unsere Lebensqualität relevante Wachstum zustande kommt. Wirtschaft ft liches Wachstum sollte mit möglichst geringem Ressourcenverbrauch verbunden werden. Ökonomisch und sozial nachhaltig ist außerdem nur ein Zuwachs, der in Form von realwirtschaftlicher ft r Produktion und
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Dienstleistung erarbeitet wird. Die Idee, man könne privaten und gesellschaftlichen ft Wohlstand durch hybride Wetten auf mögliche und unmögliche Zukünfte ft der Wirtschaft ftswelt und abgekoppelt von der Realwirtschaft ft für sich arbeiten lassen, funktioniert volkswirtschaft ft lich auf Dauer nicht. Der Traum vom Finanz-Schlaraff ffenland mit hohen Gewinnen im globalen Finanzkasino wird in regelmäßigen Abständen durch das Platzen spekulativer Wett-Blasen recht unsanft ft beendet. Die diesbezüglichen Erfahrungen von 2008 und 2009 sollten wir nicht zu schnell verdrängen.
Lebensqualität und Arbeit / Beruf Erwerbsarbeit schafft fft die ökonomischen Grundlagen für hohe Lebensqualität. Seriöse Vergleiche zeigen, dass dort, wo die Wirtschaftskraft ft ft und die Einkommen höher sind, die Menschen auch zufriedener sind. Gleichzeitig ist die Zeit, die wir in der Arbeit verbringen, in den letzten Jahrzehnten gesunken. Die Prägekraft ft der Arbeit für unsere Persönlichkeit und unseren Lebensstil ist gesunken. Aber nach wie vor ist die Bedeutung von Arbeit und Einkommen für unsere soziale Stellung und für unsere Chancen in der Gesellschaft ft sehr hoch. Für berufstätige Menschen gibt es ohne eine gute Qualität des Arbeitslebens keine hohe Lebensqualität. Die Arbeitszufriedenheit ist aber nicht von einem einzigen Faktor abhängig. Untersuchungen zeigen, dass bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern der Wunsch nach mehr Einkommen und weniger Stress dominiert. Dazu kommen immer stärker Wünsche nach interessanter Tätigkeit und Wertschätzung sowie Autonomie bei der Gestaltung der Arbeit. Besonders wichtig für die Zufriedenheit ist die Arbeitszeit. In Zukunft ft wird die Arbeitswelt in vielerlei Hinsicht noch flexibler sein als heute, eine totale Deregulierung der Arbeit ist aber nicht in Sicht. Arbeit zwischen Leid und Lust
Viele Österreicher(innen) sind fest davon überzeugt, dass die eigentliche Lebensqualität erst nach der Arbeit beginnt. Aus dieser Sicht passen die Begriffe ff Lebensqualität und Freizeit viel besser zusammen als Lebensqualität und Arbeit. Der überwiegende Teil der älteren Arbeitnehmer(innen) zählt lustvoll die restlichen Tage bis zur Pensionierung. Faktum ist allerdings, dass für die meisten Mitglieder der Gattung Mensch das Leben seit jeher mit Arbeit verbunden war. Nahrung, Bekleidung und Behausung mussten mühsam erarbeitet werden. In diesem weiten Sinn gehören Arbeit und Leben off ffensichtlich so eng zusammen, dass große Denker(innen) immer wieder verklärende Worte fanden, zum Beispiel Friedrich Engels: „Die Arbeit ist die erste Grundbedingung alles menschlichen Lebens, und zwar in einem solchen Grade, dass wir in gewissem Sinn sagen müssen: Sie hat den Menschen selbst geschaff ffen.“7 Noch 1958 fragte sich die Philosophin Hannah Arendt in ihrem berühmten Buch
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„Vita activa oder Vom tätigen Leben“, wie es mit dem Sinn des Lebens beschaffen ff ist, wenn uns die Arbeit ausgeht.8 Bei den meisten hielt sich allerdings die Begeisterung für die Arbeit in überschaubaren Grenzen, wie ein Blick auf die Sprachgeschichte zeigt: Das mittelhochdeutsche Wort arebeitt bedeutet „Mühe“. Das lateinische laborare bedeutete ursprünglich „leiden“ und im Spanischen wird trabajo, die Arbeit, gar von „tripolum“, einem Folterinstrument, abgeleitet. In der Bibel ist Arbeit die Strafe Gottes für den Sündenfall: Erst nach der Vertreibung aus dem Paradies mussten die Menschen ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts verdienen. Im antiken Griechenland war man davon überzeugt, dass Arbeit den Körper entstellt und den Geist verroht. Daher war es für freie Bürger unwürdig, einer körperlichen Arbeit nachzugehen; diese war Unfreien und Sklaven vorbehalten. Die privilegierte Minderheit widmete sich der als würdiger empfundenen Philosophie und Politik. Freiheit und Arbeit waren also ein Widerspruch. Bis weit in die Neuzeit hatte Arbeit keine Strahlkraft. ft Ganz unten auf der gesellschaft ft lichen Stufenleiter stand jene Schicht bzw. Klasse, die ihre Arbeitskraft ft zum Überleben einsetzen musste. Oben standen diejenigen, denen dieses Joch erspart blieb. Erst im Zuge des aufkommenden fk Kapitalismus entstand eine neue Ethik der Arbeit, verbunden mit Sparsamkeit und Disziplin: Arbeit und Arbeitsteilung wurden zu Grundlagen des Wohlstands. Im Industrie-Zeitalter wurde der Mensch zum Rädchen im Getriebe einer durchorganisierten Fabrik. Dieses Arbeitsverständnis hat heute – jedenfalls in unseren Breiten – weitestgehend ausgedient. Mit dem Schlagwort „Ende der Arbeitsgesellschaft ft“ suggerieren manche Autor(inn)en (etwa Ralf Dahrendorf, André Gorz oder Jeremy Rifk fk in), dass die Erwerbsarbeit immer unwichtiger wird. Auch der Soziologe Ulrich Beck ist fest davon überzeugt, dass der Beruf durch die zunehmende Unsicherheit im Arbeitsleben seinen zentralen Stellenwert im Leben verliere.9 Ähnlich sieht es der Philosoph Zygmunt Bauman, der die These vertritt, dass Selbstverwirklichung und Glückserleben zunehmend in Freizeit und Konsum gesucht und gefunden werden, Arbeit dagegen als Sinngeber und Identitätsstift fter auf dem Rückzug ist.10 Die Gegenposition – etwa von Hurrelmann – lautet: Berufl fliche Arbeit wird zum knappen Gut. Durch den schleichenden Bedeutungsverlust des Sozialstaats und die damit verbundene sinkende soziale Absicherung wird die Berufsarbeit als Garant für die Existenzsicherung immer wichtiger.11 Genauer betrachtet stimmt beides: Offensichtlich ff nahm der Anteil des Berufs an der gesamten Lebenszeit in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter ab, dennoch ist Erwerbsarbeit nach wie vor ein wichtiges Phänomen sowohl im individuellen als auch im gesellschaftlichen ft Leben.12 Der Beruf prägt nicht nur unsere Zeitstrukturen, sondern auch unsere Zeitvorstellungen. Wir sagen: „Ich habe noch viel Arbeit vor mir“ oder „Nach der Arbeit gehen wir ins Kino.“ Auch unser Wohnort richtet sich vor allem nach dem Standort des Arbeitsplatzes: Die urbanen Zentren in modernen Ländern wie Österreich wachsen auf Kosten der ländlichen Peripherie, weil die Menschen der Arbeit nachziehen. Eltern ermöglichen ihren Kindern eine gute Ausbildung, damit
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diese einmal eine „gute Arbeit“ bekommen. Off ffensichtlich ist der Arbeitsbegriff ff so attraktiv, dass er nicht nur als Bezeichnung für die bezahlte Lohnarbeit, sondern auch für viele unbezahlte Bereiche unseres Lebens verwendet wird: Wir leisten Hausarbeit, Betreuungsarbeit, Beziehungsarbeit, Erziehungsarbeit und manchmal auch Trauerarbeit. Gleichzeitig nimmt aber auch die quantitative und qualitative Bedeutung der Freizeit zu. Beruf und Freizeit verlieren zunehmend den Charakter von Gegenwelten. Beruf: Nur mehr zehn Prozent der Lebenszeit
1975 brauchte man für die Herstellung eines Fernsehgerätes noch 81 Stunden. Bereits Anfang der 1990er-Jahre war dafür nur mehr eine (1!) Stunde nötig. „Arbeitsproduktivität“ nennen das die Ökonomen. Je höher die Produktivität der Arbeit, umso mehr Zeit verbleibt sowohl individuell als auch gesellschaft ft lich, sich mit anderen Dingen des Lebens zu befassen. Durch die gestiegene Arbeitsproduktivität ist die mit Erwerbsarbeit verbrachte Zeit deutlich geringer geworden. Betrug die Arbeitszeit 1872 noch rund 70 Wochenstunden, so arbeiten wir heute durchschnittlich 40 Stunden. Und nicht nur die wöchentliche Arbeitszeit, auch die Lebensarbeitszeit wurde geringer. Die im Beruf verbrachte Zeit beträgt heute statistisch betrachtet im gesamten Lebensverlauf ca. 70 000 Stunden. Dies entspricht etwa 39 Arbeitsjahren mit einer durchschnittlichen Jahresarbeitszeit von ca. 1800 Stunden. Bei einer durchschnittlichen Lebenszeit von etwa 700 000 Stunden verbringen wir also selbst im Fall einer durchgehenden Arbeitskarriere mit Vollzeitanstellung nur etwa 10 % der gesamten Lebenszeit mit beruflicher fl Arbeit! Bis 2030 wird zwar die Lebensarbeitszeit ansteigen, allerdings erhöht sich auch die Lebenserwartung, sodass der Anteil der Berufszeit die Zehn-ProzentMarke nicht überschreiten wird. In diesem Zehntel der Lebenszeit müssen wir jedoch die finanzielle Wertschöpfung für die restlichen neun Zehntel unseres Lebens erarbeiten. Dies ist wohl einer der Gründe, warum wir diesen objektivv sehr übersichtlichen Anteil unseres Lebenszeitbudgets subjektivv als Zentrum des Lebens wahrnehmen! Lebensqualität im Spannungsfeld zwischen Beruf und Freizeit
Der Club of Rome hat bereits 1984 den Bedeutungszuwachs des Lebensbereichs Freizeit „als eine der größten Herausforderungen für die Lebensqualität der Menschen im 21. Jahrhundert“ erkannt.13 Kein Wunder also, dass die mit diesem gesellschaftlichen ft Phänomen zusammenhängenden vielfältigen Dienstleistungen sowohl global als auch regional wachsen. Tendenz weiter steigend! In Österreich erzielt die Freizeitwirtschaft ft (einschließlich Tourismus) mit einem Anteil von rund einem Fünftel ft des Bruttoinlandsprodukts (BIP) eine beachtliche Wertschöpfung. Heute werden etwa 90 % der Lebenszeit außerhalb des Berufs gestaltet. Noch zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts waren es beim überwiegenden Teil der Bevölkerung höchstens 50 %. Diese Entwicklung hängt zum kleineren Teil mit der kollektiven
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Verkürzung der Berufszeit zusammen, vielmehr jedoch mit der gigantischen Verlängerung der durchschnittlichen Lebenszeit-Erwartung.14 Das große außerberufliche fl Segment unseres Lebenszeitbudgets besteht selbstverständlich nicht nur aus Freizeit. Immerhin schlafen wir ja auch fast ein Drittel unseres Lebens und haben noch viele weitere Dinge zu erledigen, zum Beispiel Partnerschaften ft pfl flegen, Kinder erziehen, einkaufen, kochen, waschen, putzen. Die Ausweitung der freien Zeit wird offensichtff lich in erster Linie konsumierend genutzt. Freizeit ist insgesamt über weite Strecken Konsumzeit. So wird etwa schon heute dem häuslichen Fernsehkonsum im gesamten Lebensverlauf mehr Zeit gewidmet als der berufl flichen Arbeit! Für fast jedes Bedürfnis scheint es ein konsumierbares Waren- und Dienstleistungsangebot zu geben. Mehr Freizeit führte also bisher off ffensichtlich zu mehr Konsum. Im Vergleich dazu nimmt sich die eher auf Engagement und Aktivität bezogene Freizeitgestaltung (zum Beispiel aktive Sportausübung, musizieren, freiwilliges bürgerschaft ft liches Engagement etc.) recht bescheiden aus. Trotz der wachsenden quantitativen und qualitativen Bedeutung des außerhalb des Berufs verbrachten Zeitbudgets gibt es bei seriöser Betrachtung der einschlägigen Daten keinen Grund zu der Annahme, dass wir auf eine „hedonistische Freizeitgesellschaft ft“ zugehen. Die Zeiten, in denen die Mehrheit der Menschen glaubwürdig sagen konnte „Wir leben, um zu arbeiten“ und die spärliche Freizeit überwiegend der Erholung für den Beruf dienen musste, sind allerdings längst vorbei. Insgesamt betrachtet, hängen Lebenszufriedenheit und Lebensglück für eine wachsende Zahl von Menschen vermehrt von Erfolgserlebnissen auch außerhalb des Berufs ab. Der vielleicht wichtigste Trend der ersten Jahrzehnte unseres 21. Jahrhunderts besteht also in einem tief greifenden Wertewandel im Hinblick auf den selbstbewussten, möglichst selbstbestimmten und subjektiv befriedigenden Umgang mit der gesamten Lebenszeit! Der Wunsch nach Lebensqualität bezieht sich mit steigender Tendenz keineswegs – wie in früheren Lebensentwürfen – nur auf den Lebensbereich der sogenannten Freizeit, sondern auf die gesamte Lebenszeit, also auch auf die Berufswelt. Damit steigen die Ansprüche an das Leben insgesamt. Was beeinfl flusst die berufl fliche Lebensqualität?
Die Österreicher(innen) haben sehr klare Vorstellungen davon, was zu ihrer Arbeitszufriedenheit beiträgt.15 Gute Entlohnung ist erwartungsgemäß das mit Abstand wichtigste, jedoch keineswegs einzige Kriterium für eine qualitativ hochwertige Berufstätigkeit. Dahinter folgt der Wunsch nach weniger Stress. Besonders wichtig ist den Arbeitnehmerinnen und -nehmern auch die Wertschätzung ihrer Leistung sowie die autonome Einteilung der Zeit. Der zukunft ftsfähige Mix von subjektiv befriedigenden und objektiv leistungsfördernden Faktoren für das Arbeitsplatz-Profi fil von morgen lässt sich folgendermaßen 16 zusammenfassen: – Gutes Einkommen und passende Arbeitszeiten fördern den Fleiß.
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Abwechslung und selbstständige Arbeitseinteilung fördern die Zufriedenheit. Anerkennung und Wertschätzung fördern Erfolgserlebnisse. Karrierechancen und kollegiale Kommunikation fördern die Motivation. Mitbestimmung und Weiterbildung fördern die Identifikation fi mit dem Betrieb. Zum Zusammenhang zwischen Einkommen, Arbeitsbedingungen und Lebensqualität
Nur die Hälft fte der Österreicher(innen) ist mit dem Einkommen sehr (16 %) oder eher (34 %) zufrieden.17 Für die andere Hälft fte gilt dies nicht. 6 % bewerten ihr Einkommen sogar mit der schlechtesten Schulnote „5“, 13 % mit „4“ und 28 % mit „3“. Objektiv betrachtet liegt allerdings Österreich im europäischen Vergleich beim Haushaltseinkommen sehr weit vorne und wird nur von Luxemburg, Norwegen, Irland und den Niederlanden übertroff ffen. Auch die Einkommensungleichheit ist hierzulande relativ schwach ausgeprägt – und nur in fünf anderen EU-Staaten noch geringer. Somit ergibt sich eine paradoxe Situation: Obwohl die Österreicher(innen) zu den einkommensstärksten Bürgern der EU gehören, ist ihre Zufriedenheit mit dem Einkommen verhältnismäßig gering – und in den letzten Jahren sogar noch auff ffallend geschrumpft ft. Mit ihren Arbeitsbedingungen sind die Österreicher(innen) allerdings zufrieden.18 Die Österreicher(innen) unterscheiden also sehr präzise zwischen Einkommen und Arbeitsbedingungen. Immerhin zeigen sich etwa 90 % der Erwerbstätigen mit ihren Arbeitsbedingungen durchaus zufrieden.19 Damit zählt Österreich zu den Ländern in Europa mit überdurchschnittlich hoher Arbeitszufriedenheit. Ein Zusammenhang erweist sich erneut als robust: Die Arbeitszufriedenheit ist dort hoch, wo die wirtschaftft liche Leistungskraft ft hoch ist. Länder mit niedrigem Bruttoinlandsprodukt (BIP), wie Rumänien, zeigen demzufolge die niedrigste Arbeitszufriedenheit. Psychosoziale Arbeitsbelastungen beeinflussen fl die Lebensqualität
Mit dem Wandel der Arbeitswelt haben sich auch die Belastungen der Arbeitnehmer(innen) verändert. Aus einer von der österreichischen Nationalbank unterstützten Umfrage geht hervor, dass die traditionellen Belastungen heute nur mehr eine Nebenrolle spielen: schwere körperliche Arbeit, isoliertes Arbeiten, langweilige Tätigkeit.20 Einseitige körperliche Belastungen und Lärm beeinträchtigen jedoch auch im 21. Jahrhundert die Lebensqualität. Der / die moderne Arbeitnehmer(in) fühlt sich besonders stark durch psychosoziale Herausforderungen belastet: hohe Verantwortung, Zeitstress, Entscheidungsdruck, häufi fige Konfl flikte, permanente Anpassung an Innovationen, zu kurze Erholungsphasen.21 Der „European Working Conditions Survey“ (EWCS), eine Untersuchung der Arbeitsbedingungen in ganz Europa, weist für Österreich als größtes Problem die Zunahme der Arbeitsintensität aus. 72 % der österreichischen Arbeitnehmer(innen)
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empfinden fi die Arbeitsintensität als hoch; ein Wert deutlich höher als der europäische Durchschnitt (60 %). 16 % der Österreicher(innen) meinen, sie hätten selten oder nie Zeit, ihre Aufgaben zu erledigen. Mehr als die Hälft fte der Befragten leidet unter knappen Abgabeterminen, ein Drittel wird durch häufi fige Unterbrechungen gestört.22 Unterbrechungen sind oft ft die direkte Folge engerer Kooperation in der Arbeitsorganisation und auch Ausdruck einer zunehmenden Kundenorientierung. Dies zeigt die Widersprüchlichkeit mancher Entwicklungen in der Berufswelt: So erfordert etwa die höhere Kundenorientierung zwar einen stärkeren Einsatz kommunikativer Fähigkeiten und verringert eintönige Arbeit, führt jedoch gleichzeitig oft ft zu Zeitmangel und Stress. Denn Kommunikation ist anstrengend und zeitintensiv. Im Vergleich zum Stress werden laufende technische oder organisatorische Veränderungen – wie etwa das Erlernen eines neuen Computerprogramms – als weit weniger belastend wahrgenommen. Der Arbeitsklimaindex der Salzburger Arbeiter(innen)kammer zeigt, dass mindestens jede(r) dritte Arbeitnehmer(in) durch Zeitstress belastet ist, während der Wandel der Arbeitsanforderungen nur jede / jeden Zehnten belastet.23 Die Stressbelastung steigt mit der Höhe des Einkommens. Dementsprechend klagen mehr Männer als Frauen über Stress. Arbeitszeit als Schlüsseldimension der beruflichen fl Lebensqualität
Die durchschnittliche Arbeitszeit in Österreich beträgt rund 40 Stunden. Hinter dieser Zahl verbergen sich aber beträchtliche Unterschiede. Nur 50 % der Österreicher(innen) arbeiten zwischen 37 und 40 Stunden. Die anderen 50 % arbeiten teils deutlich länger, teils deutlich kürzer. Österreich ist mit den auseinanderdriftenden ft Arbeitszeiten kein Einzelfall. Allerdings ist in kaum einem europäischen Land die Arbeitszeit für vergleichsweise viele Menschen so ähnlich wie in Österreich.24 Dauer, Einteilung und Organisation der Arbeitszeit haben auch enorme Auswirkungen auf den gesamten Lebensalltag. Deshalb stellt die Arbeitszeit eine Schlüsseldimension der beruflichen fl Lebensqualität dar. Regelmäßige Arbeitszeiten verbessern die Lebensqualität in Familie und Freizeit
Für das Th Thema „Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Freizeit“ verwenden wir den weitverbreiteten Begriff ff Work Life Balance bewusst nicht. Dieser Begriff ff stellt nämlich Beruf und Leben einander gegenüber. Damit wird sinnwidrig suggeriert, dass der Beruf nicht Teil des Lebens sei. Ein wesentlicher Faktor für die Zufriedenheit mit der Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Freizeit ist die Arbeitszeit. Arbeitszeiten außerhalb des Normalen (Abend, Wochenende) verschlechtern diese Balance spürbar. Vier von fünf Beschäft ftigten in den EU-Mitgliedsländern waren mit ihrer Arbeitszeit im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Freizeit im Jahr 2005 zufrieden.25 Damit blieb dieser Wert gegenüber dem Jahr 2000, in dem er das erste Mal abge-
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fragt wurde, gleich. Österreich liegt im europäischen Vergleich im Spitzenfeld: Nur 11 % der Beschäft ftigten sind unzufrieden. Eines zeigt sich für ganz Europa: Je kürzer die Arbeitszeit, desto eher sind Arbeitnehmer(innen) mit der Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Freizeit zufrieden. Es ist erstaunlich, dass Männer mit dieser Balance unzufriedener sind als Frauen, die doch den Großteil der unbezahlten Erziehungs- und Hausarbeit leisten. Europaweit ist jeder vierte Mann unzufrieden, aber nur jede fünfte ft Frau.
Lebensqualität und Konsum Für die Österreicher(innen) ist Lebensqualität eng mit dem Lebensstandard verbunden. Wer mehr besitzt, fühlt sich zufriedener. Wer schon Vieles hat, wird mit mehr Konsum dagegen kaum noch glücklicher. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich das Konsumverhalten der durchschnittlichen Österreicher(innen) deutlich verändert: weniger zur Deckung des notwendigen Lebensbedarfs, sondern immer mehr für Erlebniskonsum und langlebige Konsumgüter. Für die untersten Einkommensschichten reicht es allerdings nur für das Nötigste. Konsumakte beeinflussen fl unsere Lebensqualität stark. Sie helfen uns einerseits, uns selbst zu verwirklichen (Urlaub, Sport, Bücher, Gesundheit …), andererseits teilen wir so auch immer anderen mit, wer wir sind und wer wir sein wollen. Konsumieren ist ein sehr sozialer Akt. Deshalb sind Konsummuster auch äußerst langlebig und schwer zu ändern. Gekaufte ft Lebensqualität – Warum wir konsumieren
Unsere Motive sind sehr unterschiedlich: – Konsum ermöglicht das Überleben: „Ich kaufe nur das Nötigste.“ – Konsum als Anlass für Kommunikation. Seit jeher diente der „Markt“ (in seiner ursprünglichen Form) in allen Kulturen nicht nur dem Kauf von Waren, sondern auch der Interaktion mit anderen Menschen. – Konsum als gefühlte Freiheit: „Ich entscheide frei und unabhängig, was ich kaufen will.“ – Konsum vermittelt Machtgefühle: „Ich kann mir das leisten.“ – Konsum signalisiert Zugehörigkeit. Der Konsum gängiger Waren und Dienstleistungen signalisiert: „Ich kann mithalten, ich bin dabei.“ – Konsum dient auch dem Ausdruck der eigenen Persönlichkeit. Mit Kaufakten unterscheiden wir uns bewusst von anderen. – Konsum symbolisiert sozialen Status: „Die Nachbarn werden vor Neid erblassen.“ – Gekauft ft wird auch als Belohnung nach Entbehrungen: „Lange genug geschuft ftet, jetzt hab ich mir aber was verdient.“ – Konsum ist manchmal auch mit der Sehnsucht nach Anerkennung, Liebe, Wert-
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schätzung verbunden. In solchen Fällen ersetzen Kaufakte soziale Zuwendungen und trösten über Enttäuschungen hinweg. Jeder konkrete Konsumakt resultiert aus einem Mix dieser Motive, ist also niemals ausschließlich rationales Handeln. Dies gilt besonders, seit im Zeitalter des Massenkonsums der Versorgungskonsum gegenüber dem Erlebniskonsum immer mehr in den Hintergrund getreten ist. Denn der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Lebensqualität im Spannungsfeld zwischen Versorgungs- und Erlebniskonsum
Der für die Zeiten des Versorgungskonsums typische Einkaufszettel ist längst aus der Mode gekommen: 45 % der Österreicher(innen) wissen vor dem Einkauf nicht, was sie eigentlich kaufen wollen. Die Deckung des physischen Bedarfs steht beim Kaufen schon längst nicht mehr im Vordergrund. Immer häufi figer kaufen wir gemeinsam mit Gütern auch Erlebnisse. Das gilt etwa für Autos, die ein einzigartiges Fahrerlebnis versprechen. Noch viel mehr gilt dies für Angebote, die materielll im strengen Sinn gar nicht erworben werden können, weil der Erlebnisanteil überwiegt: Urlaub in einem Wellnesshotel am stillen Bergsee, ein Nachmittag im Spaßbad oder ein Rockkonzert. Ist das Erlebnis gekauft ft und konsumiert, haben die Verbraucher(innen) nur noch die Erinnerung an eine hoff ffentlich eindrucksvolle Stimmung. 145 Milliarden Euro für konsumierte Lebensqualität
Im Jahr 2008 gaben die österreichischen Haushalte rund 145 Milliarden Euro für private Konsumzwecke aus.26 Im Rahmen der sogenannten „Konsumerhebung“ wird das entsprechende Verhalten in regelmäßigen Abständen erfasst. Eine für die österreichische Gesamtbevölkerung repräsentative Auswahl von Haushalten dokumentiert dafür ihre Ausgaben über einen längeren Zeitraum. Damit liegt quasi amtlich vor, was die Österreicher(innen) kaufen und wie viel sie dafür zahlen. Weil diese Konsumerhebungen schon seit Jahrzehnten stattfi finden, lassen sich Veränderungen und Trends sehr gut nachvollziehen. Der in den Konsumerhebungen gemessene durchschnittliche Warenkorb der österreichischen Haushalte ermöglicht einen guten Einblick in die Veränderungen der „gekauften ft Lebensqualität“. Mit gestiegener Kaufk fk raft ft hat sich das Gewicht in Richtung der dauerhaft ften Konsumgüter verschoben. Während 1954 noch 42,5 % des Haushaltseinkommens für Lebensmittelkäufe verwendet wurden, waren es im Jahr 2004 / 05 nur noch 12 %. Hingegen haben sich im gleichen Zeitraum die Ausgaben für Wohnen von 12 % auf 21 % fast verdoppelt, für Individual- und öffentlichen ff Verkehr von 4 % auf 13 % mehr als verdreifacht und für Gastronomiebesuche fast verdoppelt (von 3,7 % auf 6,8 %). Im Zeitraum zwischen den letzten beiden Konsumerhebungen (1999 / 2000 und 2004 / 2005) kam es zu einem weiteren Bedeutungsverlust der Ausgaben für Beklei-
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dung, während vor allem für Gesundheit und Bildung deutlich mehr ausgegeben wurde.27 Den allgemeinen Wohlstandszuwachs hat der bekannte deutsche Soziologe Ulrich Beck in den 1980er-Jahren mit dem Fahrstuhleff ffekt beschrieben: Alle Gruppen der Gesellschaft ft sind eine Etage höher gefahren, aber die Abstände zwischen den Gruppen sind gleich geblieben.28 Der zweite Teil der Analyse kann heute als überholt gelten: Der über lange Zeit wirkende Trend zu mehr Kaufkraft fk ft je Beschäft ftigtem ist seit einigen Jahren stark eingebremst, für die untere Hälfte ft der Verdiener(innen) ist er überhaupt gestoppt. Allerdings ist zu beachten, dass die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen – auch wenn sie zu rund 40 % in Teilzeit arbeiten – die Haushaltsbudgets der Familien deutlich verbessert haben. Möglich wurde damit ein Wohlstandszuwachs, der vor allem Frauen mehr Eigenständigkeit und Unabhängigkeit gebracht hat. Finanzierbar wurde damit oft ft ein Zweitauto oder auch der kurze Zweiturlaub. Die geschilderte Entwicklung der Ausgabenpositionen der Haushalte spiegelt den allgemeinen Wohlstandszuwachs bis weit in die 1990er-Jahre wider. Der Wohlstandszuwachs speiste sich übrigens aus zwei Quellen: Zum einen stiegen die Haushaltseinkommen, zum anderen sanken die Preise für elementare Güter. Größter Posten des Haushaltsbudgets für das Zentrum der Lebensqualität: Wohnen
Der Wohnbereich ist das Zentrum unserer Lebensqualität. Geschätzte 60 % unserer Lebenszeit verbringen wir darin. Dementsprechend geben die Österreicher(innen) mehr als ein Fünft ftel des Haushaltsbudgets für Wohnen (und die dafür erforderliche Energie!) aus. Traditionell ist Österreich ein Land von Eigenheimbesitzern: 54 % der Haushalte sind Besitzer ihrer vier Wände. Sie wenden mit knapp 23,2 % ihrer Ausgaben etwas mehr fürs Wohnen auf als jene Haushalte, die in Mietobjekten wohnen (21,6 %). Allerdings verfügen die Wohnungs- bzw. Hausbesitzer auch über um ein Drittel höhere Einnahmen. Eigentümer wohnen auf durchschnittlich 121 m2, während Mieter sich mit durchschnittlich 70 m2 bescheiden müssen. Seit 1954 haben sich die Ausgaben für das Wohnen von 12 % auf 21 % des Haushaltseinkommens fast verdoppelt.29 Die Ursachen dafür sind vielfältig. So hat sich etwa die Wohnqualität in diesen mehr als fünf Jahrzehnten radikal verbessert. Österreich gehört zu den Ländern mit einem vergleichsweise neuen bzw. sanierten Wohnungsbestand. Neben entscheidend verbesserter Wohnqualität steht heute dem Einzelnen deutlich mehr Fläche zur Verfügung als vor über 50 Jahren. Moderne Wohnungen sind auch erheblich größer. Die Ausgaben für Wohnen wuchsen in den letzten Jahren recht stabil mit der allgemeinen Teuerung. Die räumliche Ausstattung verschlingt übrigens 6,2 % der österreichischen Haushaltsbudgets.
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Mobile Lebensqualität: mehr Geld für Autos als für Kinder
An zweiter Stelle der Ausgaben steht mit über 16 % schon der Verkehr. Fast jeder sechste Euro wird damit vom Pkw geschluckt. Dagegen fällt der Ausgabenanteil für den öff ffentlichen Verkehr mit weniger als 1 % sehr bescheiden aus. In den 1960er-Jahren lag der Anteil der Haushaltsausgaben für den Verkehr noch deutlich unter 10 %. Aber das Verkehrsaufk fkommen hat sich inzwischen rasant entwickelt. Die gefahrenen Pkw-Kilometer in Österreich haben sich in den letzten 40 Jahren verachtfacht, die Zahl der Pkw stieg auf das Zehnfache. Rund 17 Milliarden Euro geben die Österreicher ft ftjährlich für ihren Pkw, Zubehör und Treibstoff ff aus.30 Grazer Wirtschaftswissenschaft ler(innen) haben die Verkehrsausgaben der Österreicher(innen) mit den Ausgaben für Bildung und Kinder in Beziehung gesetzt und nach Einkommensgruppen differenziert ff analysiert. Das Ergebnis: Inzwischen übertreff ffen die Pkw-Ausgaben die Ausgaben für Kinder deutlich. Verantwortlich dafür sind insbesondere die höheren Einkommensklassen (im obersten Einkommensviertel mit einer Pkw-Fahrleistung von durchschnittlich 90 Kilometern pro Tag und Haushalt). Auch im durchschnittlichen Zeitaufwand der Österreicher(innen) schlägt der Verkehr deutlicher zu Buche als die Kinderbetreuung.31 Naturgemäß geben die Bewohner ländlicher Gebiete mehr Geld für Verkehr aus als die Städter. Umgekehrt ist es bei den Ausgaben für die Bereiche Freizeit, Sport und Hobby. Gekaufte ft Lebensqualität und soziale Schicht
Das unterste Einkommensviertel der österreichischen Haushalte gibt mehr als 20 % für Ernährung und Getränke (einschließlich Alkohol) aus, das oberste Viertel nur rund 11 %. Der Anteil der Kosten für Bekleidung beträgt bei allen Einkommensklassen etwa 5–6 %. Wohnausgaben schlagen dagegen beim untersten Viertel mit über 34 % zu Buche, beim obersten Viertel nur mit 18 %. Am deutlichsten unterscheiden sich die sozialen Gruppen aber beim Verkehr: Während das untere Einkommensviertel nur rund 6 % seines Haushaltsbudgets für Pkw und Treibstoff ff ausgibt, sind dies beim oberen Einkommensviertel mit knapp 22 % rund vier Mal so viel.32 Noch weit stärker ausgeprägt sind die Unterschiede, wenn man die Gesellschaft ft in Einkommenszehntel teilt: Beim untersten Zehntel fließen fast zwei Drittel des Einkommens in Ausgaben für Ernährung und Wohnen, während das oberste Zehntel dafür nur etwa ein Viertel aufwendet. Das unterste Einkommensviertel investiert 40 % des Haushaltsbudgets in das Wohnen (einschließlich Energie) und 4 % in den Verkehr. Das oberste Viertel gibt 18 % für Wohnen und Energie, aber fast 25 % für Verkehr aus. Die Ausgaben für Pkw sind auch die einzige Ausgabengruppe, in der es keine Sättigung zu geben scheint. Es gilt: Je höher das Einkommen, desto höher ist hier der Ausgabenanteil. Off ffensichtlich signa-
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lisiert das Auto Kaufk fk raft ft und wird – wie alle Konsumerhebungen zeigen – als Unterscheidungsmerkmal immer wichtiger.33
Lebensqualität – Politik – Sozialstaat Aristoteles war fest davon überzeugt, dass Glückseligkeit nur im Rahmen eines Staats möglich und der Mensch ein politisches Wesen sei. Historisch findet fi man eher das Gegenteil belegt, nämlich dass der Mensch erst dann beginnt, sich für Politik zu interessieren, wenn gewisse Grundbedürfnisse abgedeckt sind. Wenn man nichts zu essen hat und existentiell bedroht ist, hält sich der Wunsch nach politischer Beteiligung eher in Grenzen. Philosophisch und literarisch wurde viel darüber sinniert, ob den Menschen politische Freiheit tatsächlich so wichtig ist. In Dostojewskijs Roman „Die Brüder Karamasow“ wird in der Legende des Großinquisitors eindrucksvoll darüber gestritten, ob man sich im Zweifelsfall für Brot oder Freiheit entscheiden würde. Die Menschen seien schwach und hätten kein Interesse daran, über sich selbst zu bestimmen, meint darin der Kleriker, und rechtfertigt so die eigene Machtposition. Brot und eine klare Führung würden die Menschen viel zufriedener und glücklicher machen als Freiheit. Jedenfalls prägt die Politik ganz maßgeblich die Rahmenbedingungen unserer Lebensqualität. In der demokratischen Mitgestaltung gehören die Österreicher(innen) eher zu jenen, die nicht besonders aktiv und dynamisch sind. Vieles überlässt man gern den politischen Eliten, von denen erwartet wird, dass sie Lösungen für die alltäglichen Probleme der Menschen finden. Im Lauf der Zweiten Republik hat sich die politische Kultur hierzulande dennoch verändert. Zum starken Wunsch nach Konsens und Kompromiss sind seit den 1980er-Jahren auch eine gewisse Konfliktbereitschaft fl ft und -fähigkeit dazugekommen. Die konventionelle Beteiligung ist rückläufig fi und das Interesse an der Parteipolitik nimmt ab. Politikerverdrossenheit und Distanz zur Berufspolitik sind besonders unter jüngeren Menschen ausgeprägt, die aber sehr wohl an kurzfristigeren Projekten interessiert und nicht gänzlich entpolitisiert oder apolitisch sind. Internationalisierung und Europäisierung verändern auch das politische System Österreichs und elektronische Formen der Beteiligung werden bedeutender. Der unmittelbare Einfl fluss dieser Entwicklungen auf die Lebensqualität mag nicht immer auf den ersten Blick sichtbar werden. Er kommt aber bei genauerer Betrachtung schnell an die Oberfläche. fl Politische Mitbestimmung als Kriterium der Lebensqualität
Nach Abdeckung der Grundbedürfnisse ist die Möglichkeit der Mitbestimmung ein wesentliches Kriterium für eine hohe Lebensqualität. Die Betonung liegt dabei auf der Möglichkeit! Die tatsächliche Beteiligung ist zweitrangig, wie am Beispiel der Schweiz
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eindrücklich gezeigt werden kann. Die höchste Lebensqualität wird regelmäßig in Ländern gemessen, die einen hohen Grad an sozialem Frieden und besonders ausgeprägte Möglichkeiten der politischen Partizipation haben. So findet fi man eben neben den skandinavischen Ländern auch die Schweiz auf den vorderen Rängen. Entsprechend weist der niederländische Glücksforscher Ruut Veenhoven darauf hin, dass die Menschen dort glücklicher sind, wo sie nicht nur Wohlstand, sondern auch die Möglichkeit zur Partizipation haben.34 Das heißt aber nicht, dass eine hohe Wahlbeteiligung gleichzeitig hohe Lebensqualität bedeutet. Ein Blick auf die Schweiz macht das deutlich: Bei den Eidgenossen sind zwar die Möglichkeiten zur Partizipation vergleichsweise am stärksten ausgeprägt, sie hält sich aber mit einem Durchschnittswert von unter 50 % in bescheidenen Grenzen. Die Lebensqualität ist in jenen Ländern höher, in denen man sich politisch beteiligen kann, aber nicht notwendigerweise dort, wo man sich tatsächlich beteiligt. Daraus ergibt sich die Frage, wie viel und welche Partizipation die Menschen für ihre Zufriedenheit brauchen. In der heutigen Demokratie ist kaum jemand (nicht einmal ein überzeugter Schweizer) ernsthaft ft der Meinung, dass die Bürger, wie im antiken griechischen Stadtstaat, über jede politische Frage direkt und unmittelbar abstimmen sollten. In der modernen Demokratie gibt es viele Formen der Bürgerbeteiligung. Am einen Ende des Spektrums gibt es die Befürworter(innen) möglichst vieler direktdemokratischer Entscheidungen durch Referenden oder Volksabstimmungen, wofür die Schweiz als Modell gilt. Am anderen Ende stehen jene, für die in regelmäßigen Abständen abgehaltene Wahlen ausreichen. Diese Meinung vertrat etwa der große Demokratietheoretiker, Ökonom und Finanzminister der Ersten Republik, Joseph Schumpeter.35 Dazwischen liegt eine Reihe von Varianten, die sich in den politischen Systemen Europas mehr oder weniger gut bewährt haben. In Österreich hat man sich darauf geeinigt, bei ganz fundamentalen Fragen (etwa wenn es um die Verfassungsprinzipien geht) das Volk zu konsultieren, ansonsten aber weitgehend den Politikern die Entscheidungen zu überlassen. Immerhin gibt es aber die Möglichkeit, als Bürger(innen) selbst direktdemokratische Prozesse in Gang zu bringen und durch eine Unterschriftensammlung ft ein Volksbegehren zu initiieren. Außerdem gibt es die direktdemokratischen Verfahren der Volksabstimmung und der Volksbefragung. In Deutschland hat man sich – nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus – dazu entschlossen, Volksabstimmungen auf Bundesebene gar nicht zuzulassen. Allein im deutschsprachigen Raum finden fi wir also drei verschiedene Varianten der Demokratie: eine ausgeprägt direktdemokratische Schweiz, eine stark repräsentative Demokratie in Deutschland und ein Mischsystem in Österreich. Das höchste Maß an persönlichem Wohlbefinden fi weist unter diesen drei Ländern bei diversen Studien tatsächlich die Schweiz auf, gefolgt von Österreich und schließlich Deutschland. Die Möglichkeit zur Mitbestimmung erhöht also offenbar ff die Lebensqualität.
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Sozialstaat und Sicherung der Lebensqualität
Die Entwicklung der sozialen Marktwirtschaft ft und des Sozialstaats ist wohl eine der meist unterschätzten Errungenschaft ften des vergangenen 20. Jahrhunderts. Es sieht ganz danach aus, dass eine modernisierte Variante dieses Megaprojekts auch in den kommenden Jahrzehnten eine der wesentlichsten Grundlagen für unsere Lebensqualität sein wird. Die von den einen viel beklagte und von anderen dringend erhoffte fft Demontage des Sozialstaats ist nicht erkennbar. Gerade die jüngste Finanz- und Wirtschaft ftskrise hat gezeigt, dass der Sozialstaat ein wirtschaft ft licher Produktivfaktor ist. Nur wenn das Vertrauen in die soziale Sicherheit ungebrochen bleibt, führen die Menschen ihr gewohntes Konsumleben weiter und halten damit die Wirtschaft ft in Schwung. Soziale Ängste führen dagegen zu „Angstsparen“ und zu massiven Störungen des wirtschaft ft lichen Kreislaufs. Sozialausgaben und Wirtschaft ftswachstum sind kein Widerspruch, sondern stützen sich wechselseitig. Der österreichische Sozialstaat trat seinen Siegeszug nach 1945 an. Schritt für Schritt kam es zu einer Ausweitung der Tätigkeitsfelder, der bezugsberechtigten Personengruppen sowie der Leistungen. Dies kann nicht losgelöst vom wirtschaftlichen ft Aufschwung der Nachkriegsjahre gesehen werden, denn jeder Sozialstaat erhält die benötigten Finanzmittel nur aus den im Wirtschaftsprozess ft erzielten Einkommen.36 In diesem Sinn hat es ein Sozialstaat grundsätzlich schwer: Er benötigt nämlich immer dann höhere Mittel, wenn die Einnahmen gering sind. Wächst die Wirtschaft ft kaum, zahlen weniger Menschen in die Sozialsysteme ein. Gleichzeitig benötigen jedoch mehr Menschen sozialstaatliche Hilfen, deshalb muss der Staat mit zusätzlichen Sozialausgaben einspringen. Diese müssen in guten Zeiten wieder an die geänderte Bedarfslage angepasst werden. Ob ein Sozialsystem leistbar ist, hängt von drei Faktoren ab: – wirtschaft ft liche Entwicklung, – Bevölkerungsanzahl (vor allem Verhältnis zwischen Versorgenden und zu versorgenden Personen) und – politische Maßnahmen. Vieles spricht dafür, dass im Rahmen der Modernisierung der Sozialsysteme auch Elemente des sogenannten aktivierenden Sozialstaats eine größere Rolle spielen werden. Dabei werden soziale Leistungen des Staats verstärkt an Gegenleistungen der jeweils Hilfe suchenden Bürger(innen) geknüpft ft. Diese Aktivierungsmodelle sollen die Eigenverantwortung stärken und soziale Leistungen effizienter ffi machen. Von manchen Sozialexperten wird kritisiert, dass damit nicht mehr die Bedürfnislage der Individuen im Vordergrund steht, sondern die Bedarfslage der Gesellschaft ft und des Staats. Eine große Mehrheit der Österreicher(innen) misst der Sozialfunktion des Staats eine zentrale Bedeutung bei. Eine durchaus beachtliche Minderheit (30 %) wünscht sich allerdings einen deutlich schlankeren Staat („Wir haben schon zu viel Staat, der Einzelne sollte sich mehr durch eigene Anstrengung helfen“).
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In einer Erhebung des Zentrums für Zukunft ftsstudien landen bei der Frage, welche Aufgaben zukünft ftig in staatlicher Verantwortlichkeit liegen sollen, folgende Punkte auf den vorderen Rängen:37 – Sicherung eines angemessenen Lebensstandards der Pensionisten (90 %). – Effi ffiziente Preiskontrolle (85 %). – Abbau der Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich (79 %). Lediglich 14 % der Österreicher(innen) lehnen diese (auf Umverteilung bezogene) Aufgabe des Staats ab. – Jeder, der arbeiten will, soll auch einen Arbeitsplatz bekommen (71 %). – Sicherung eines angemessenen Lebensstandards von Arbeitslosen (67 %). Der Sozialstaat als Umverteilungsprojekt für mehr Lebensqualität
Der in der österreichischen Bevölkerung weitverbreitete Wunsch nach einem hoch entwickelten Sozialstaat hat seinen Preis, nämlich eine Steuer- und Abgabenquote von 42 %. Das bedeutet eine durchschnittliche Umverteilung von 42 % der Einkommen und zwar zunächst an den Staat und die Sozialversicherungen. Etwa zwei Drittel fl fließen als Sozialleistungen an die einzelnen Bürger(innen) und die Haushalte zurück. Ein positives Bild haben die Österreicher(innen) im Hinblick auf den Einsatz der sozialstaatlichen Leistungen. Knapp 29 % der gesamten Wirtschaft ftsleistung (BIP) werden als Sozialleistungen für Pensionen, Kinderbeihilfen, Arbeitslosenunterstützungen u. a. umverteilt. Im statistischen Durchschnitt sind das immerhin 8100 Euro pro Österreicher(in).38 Am Ende der goldenen 1970er-Jahre lag diese sogenannte Sozialquote noch bei etwa 26 %, also um 3 % niedriger als heute. Diese Zahlen zeigen, dass der immer wieder behauptete Kahlschlag des Sozialstaats nicht stattgefunden hat. Zwar gab es bei manchen Leistungen (zum Beispiel bei den Pensionen) durchaus beachtliche Einsparungen, die jedoch im Vergleich zu den schmerzhaften ft Einschnitten in anderen Ländern (zum Beispiel in Deutschland) eher moderat ausfielen. fi Insgesamt ist der österreichische Sozialstaat dadurch gekennzeichnet, dass er relativ hohe Geldzahlungen an die Haushalte gibt, vor allem in den Bereichen der Alters- und Familienpolitik (zum Beispiel Pensionen, Ausgleichszahlungen, Familienbeihilfen, Stipendien u. a.). Die Fürsorge-Leistungen, also Hilfen für Menschen mit individuellen Not- und Problemlagen (zum Beispiel Sozialhilfe), liegen dagegen auf relativ niedrigem Niveau. Auch aktivierende Dienstleistungen der sozialen Arbeit (zum Beispiel Sozialberatung) und soziale Dienste (zum Beispiel Betreuungseinrichtungen wie Kindergärten etc.) sind schwach ausgebaut. Knapp die Hälft fte (48 %) der gesamten österreichischen Bevölkerung ist (selbstständig oder unselbstständig) erwerbstätig. Den allergrößten Teil staatlicher Einnahmen stellen Steuern und Abgaben dieser Erwerbstätigen. Mehr als die Hälfte ft der Bevölkerung (52 %) ist mehr oder weniger stark von den Einkommen der erwerbstätigen Menschen sowie von steuerfi finanzierten und staatlich umverteilten Sozialleistungen
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abhängig. Dazu zählen etwa Kinder, Pensionist(inn)en, Arbeitslose, beeinträchtigte Menschen (ohne Erwerbstätigkeit) oder im Haushalt (einschließlich Kindererziehung) tätige Ehepartner(innen). Aber auch in der Gruppe der Erwerbstätigen bezieht fast die Hälft fte der Menschen mehr Sozialleistungen als sie einzahlt.39 Nur etwa ein Viertel der Österreicher(innen) gehört also zum illustren Kreis der „Nettozahler“. Derartige Zahlenspiele sind interessant. Sie zeigen nämlich, wie groß bzw. klein der Anteil jener Personen ist, die den Sozialstaat finanzieren. Allerdings können Vergleiche mit „Köpfen“ auch zu Fehlschlüssen führen, denn für die Finanzierung des Sozialstaats ist nicht die Zahl der Köpfe entscheidend, sondern das Einkommen, das von den Besitzern dieser Köpfe erarbeitet wird. Wer ist arm?
In Anbetracht der vielfach nachgewiesenen problematischen Lebenssituation und der eingeschränkten Lebenschancen von armen Menschen kann man den Slogan „Arm aber glücklich“ nur als schwer erträglichen Zynismus bewerten. Arme Menschen haben übrigens auch – statistisch betrachtet – erheblich höhere Gesundheitsrisiken als Menschen mit besseren Einkommen. Zwei Drittel (66,7 %) der Österreicher(innen) sind fest davon überzeugt, dass auch in der wohlhabenden Alpenrepublik zukünft ftig die Kluft ft zwischen Armen und Reichen größer werden wird.40 Wenn man das Bild der „Kluft ft“ nicht überstrapaziert, ist diese Einschätzung durchaus realistisch. Aber wann ist man eigentlich arm? Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Und so gibt es auch unter Armutsforschern sehr unterschiedliche Defi fi nitionen. Dies liegt daran, dass Armut – jedenfalls in unseren privilegierten Breiten – ihr Gesicht im Lauf der letzten Jahrzehnte stark verändert hat. Hungern oder frieren müssen arme Menschen in Österreich oder Deutschland heute selten. Armut und Ungleichheit sind heute auch weniger sichtbar. Die offi ffizielle Defi finition der Armutsgefährdung durch die EU-Kommission bezieht sich ausschließlich auf die ökonomische Dimension: Jemand gilt als „armutsgefährdet“, wenn er oder sie 60 % des mittleren Einkommens („Medianeinkommen“) eines Landes nicht erreicht. Denn Menschen mit Einkommen unterhalb dieser 60-ProzentMarke verfügen „über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in ihrem Staat als Minimum annehmbar ist“41. Damit steigt bei steigendem Medianeinkommen auch die Armutsgrenze, bei sinkendem Medianeinkommen sinkt sie. Diese EU-Defi finition bedeutet, dass sich Armut und Armutsgefährdung in jedem EU-Land anders darstellen. Denn 60 % des Medianeinkommens liegen in Österreich bei etwa 900 Euro, in Italien bei etwa 750 Euro, in Griechenland bei etwa 500 Euro und in der Slowakei gar nur bei etwa 200 Euro. In Österreich verfügen etwa eine Million Menschen bzw. rund 12 % der Bevölkerung über weniger als 60 % des Medianeinkommens und gelten daher als „armutsgefährdet“. Allfällige Sozialleistungen sind dabei schon berücksichtigt. Dieser Anteil von
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12 % ist übrigens seit der ersten Erhebung in Österreich im Jahr 2003 recht konstant und liegt deutlich unter dem EU-Durchschnitt (17 %). Von „manifester Armut“ wird dann gesprochen, wenn zusätzlich zum niedrigen Einkommen erhebliche Probleme in grundlegenden Lebensbereichen (zum Beispiel Gesundheit oder Wohnen) auftreten. ft In Österreich sind dies derzeit etwa 400 000 Personen, also ca. 5 % der gesamten Bevölkerung! Zu den Risikogruppen der Armut gehören: – allein lebende Personen – Menschen mit geringer formaler Bildung – Arbeitslose – alleinerziehende Elternteile – Menschen mit Migrationshintergrund – Haushalte mit drei oder mehr Kindern Für die Entstehung der Armutsgefährdung sind vor allem zwei Faktoren zuständig: Verlust der Erwerbsarbeit und Verlust der familiären Einbindung. Es gilt als gesichert, dass kaum etwas die Lebenszufriedenheit so stark verschlechtert wie unfreiwillige Arbeitslosigkeit, denn der beträchtliche finanzielle fi Einschnitt verbindet sich mit dem außerordentlich kränkenden Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden. Der Sozialstaat verringert die Kluft ft zwischen Arm und Reich
Die durch Erwerbsarbeit verdienten Einkommen drift fteten in den vergangenen Jahren auch in Österreich immer weiter auseinander, wenn auch deutlich verringert durch staatliche Unterstützungsleistungen. Wer profi fitiert von dieser Umverteilung? Diese Frage lässt sich beantworten, wenn man die österreichischen Haushalte in drei Gruppen teilt: – Das unterste Einkommensdrittel hat einen Anteil von 14 % an allen Einkommen, die durch Arbeit verdient werden.42 Kommen die Einnahmen aus sozialstaatlichen Leistungen dazu, verfügt das unterste Drittel jedoch über 23 % aller Einkommen. – Das mittlere Drittel der Einkommen (pro Haushalt) verliert nicht, gewinnt aber auch kaum. Es legt durch umverteilte Sozialleistungen von etwa 29 % nur um etwa 1,5 Prozentpunkte zu. – Das oberste Drittel dagegen verliert rund 10 %. Vor dem Staatseingriff ff verfügt es über etwa 57 %, danach sind es etwa 47 % der Einkommen. Das oberste Drittel der Einkommen finanziert also das unterste Drittel. Noch präziser fällt die Antwort auf die Frage nach den Nutznießern des österreichischen Sozialstaats aus, wenn man sich das unterste Einkommens-Zehntel genauer ansieht.43 In diesem Segment stehen durch Markteinkommen (einschließlich Pensionen) pro Kopf nur etwa 385 Euro pro Monat zur Verfügung. Durch staatliche Umverteilung („monetäre und reale Transfers“) kommen pro Kopf etwa 745 Euro dazu. Mit steigendem Markteinkommen in den besser verdienenden neun Zehnteln sinkt
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der Einkommenszuschuss durch den Staat. Betrachtet man diese Umverteilungswirkung unter dem Gesichtspunkt der gesamtgesellschaftlichen ft Lebensqualität, dann agiert der österreichische Sozialstaat schlau. Er nimmt dort Einkommen weg, wo es zur Lebensqualität deutlich weniger beiträgt und verschiebt es hin zu jenen Menschen, für die mehr finanzielle Mittel einen beträchtlichen Zugewinn an Lebensqualität auslösen können. Daran knüpft ft auch ein Gedanke des Wirtschaft ftsnobelpreisträgers Amartya Sen an, der Lebensqualität vor allem mit „Verwirklichungschancen für ein gutes Leben“ verbindet.44 Obwohl die untersten Schichten von allen Sozialtransfers am meisten profitieren, fi kommt auch der Mittelstand nicht zu kurz. Immerhin ein knappes Drittel aller sozialstaatlichen Leistungen landet dort.45 Selbst das oberste Einkommensdrittel der Bevölkerung geht nicht leer aus: 25 % der Sozialtransfers (zum Beispiel Familienbeihilfen, Pfl flegegeld …) gehen an die Wohlhabenderen. Sie profi fitieren auch am meisten von der „Deckelung“ der – in Österreich relativ hohen – Sozialversicherungsbeiträge durch die Höchstbeitragsgrundlage. Dies über viele Jahrzehnte hin entwickelte und erprobte Umverteilungsprogramm trägt wesentlich dazu bei, dass in Österreich der Sozialstaat trotz seiner relativ hohen Steuer- und Abgabenbelastung mehrheitlich auf Akzeptanz stößt. Andernfalls gäbe es ihn in einer Demokratie wohl nicht! Während also die Unterschiede bei den Arbeitseinkommen in den letzten Jahren größer wurden, trifft fft das auf die Einkommensunterschiede nach Einrechnung der staatlichen Leistungen nicht mehr zu. Der sogenannte „Gini-Koeffi ffizient“ (eine Formel, mit der die Ungleichheit der Einkommen in einem Land gemessen werden kann) zeigt, dass durch staatliche Umverteilung die Einkommensungleichheit 2005 etwa so hoch war wie im Jahr 2000. Sie war aber geringer als im Jahr 1991.46 Der österreichische Sozialstaat konnte also im längerfristigen Rückblick eine noch deutlichere Spaltung der Gesellschaft ft verhindern. Dennoch ist es hierzulande schwierig, in eine jeweils höhere Sozialschicht aufzusteigen, was unter anderem mit einem starren Bildungssystem zu tun hat. Ist die Lebensqualität in Ländern mit hohen Sozialleistungen besser als in Ländern mit einem unterentwickelten Sozialstaat? Das österreichische Wirtschaft ftsforschungsinstitut untersuchte wichtige Aspekte des gesellschaftlichen ft und sozialen Lebens in mehreren europäischen Ländern (u. a. auch das Ausmaß der Sozialleistungen).47 Die Ergebnisse dieser Untersuchung wurden mit Schlüsselindikatoren zur Lebensqualität (auf der Basis der Eurobarometer-Befragungen) verglichen, zum Beispiel mit Lebenserwartung, Einkommensungleichheit, Armutsrate, Kindersterblichkeit, Ausmaß der jährlich geleisteten Arbeitszeit, Zahl der Gefängnisinsassen. Das Ergebnis dieser vergleichenden Analyse ist eindeutig: In Ländern mit einem ausgeprägten Sozialsystem gibt es eine höhere Lebensqualität. Dies zeigt sich besonders deutlich am Beispiel der skandinavischen Länder, in denen – im europäischen Vergleich – die wenigsten Menschen (11 %) armutsgefährdet sind und auch die Ungleichheit der Einkommen am
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geringsten ist: Immerhin 95 % der Skandinavier(innen) verfügen – nach eigenen Angaben – über eine hohe Lebenszufriedenheit. Die Rahmenbedingungen des individuellen Glücks sollten also nicht vernachlässigt werden. Anmerkungen 1 Der vorliegende Beitrag ist eine überarbeitete Zusammenfassung des Buches: Popp / Hofbauer / Pausch, Lebensqualität – Made in Austria. „Zukunft ft: Lebensqualität“ ist einer der wichtigsten Forschungsschwerpunkte des Zentrums für Zukunftsstudien ft (http: // www.fh fhsalzburg.ac.at / zfz). Das am Campus Urstein in Salzburg situierte Zentrum für Zukunftsft studien (ZfZ) ist derzeit das einzige in eine Hochschule integrierte Institut für Zukunftsft forschung in Österreich und wird von den Sozialpartnern AK Salzburg und WK Salzburg sowie von der FH Salzburg getragen. Das Zentrum für Zukunftsstudien ft beschäft ft igt sich mit der wissenschaft ft lich vorausschauenden Analyse gesellschaft ft lich, wirtschaft ft lich und politisch bedeutsamer Entwicklungen, mit der wissenschaft ft lichen Begleitung von Innovationsprozessen in Gesellschaft, ft Politik und Wirtschaft ft, sowie mit der Weiterentwicklung der Methodologie und Methodik der Zukunft ftsforschung. 2 Frey / Benz, Ökonomie und Psychologie, 23. 3 Mit dem Begriff ff „Sozialprodukt“ wird die zu Marktpreisen berechnete Gesamtproduktion eines Landes bezeichnet. Das BSP sagt nichts über das Vermögen einer Gesellschaft ft aus. 4 Vgl. Böhnke, First European Quality of Life Survey. 5 Vgl. European Commission, Beyond GDP 2007. Diese Initiative der Europäischen Kommission (DG Environment) setzt sich mit der Frage auseinander, welche Indikatoren für die Messung von Fortschritt, Wohlstand und Wohlbefi finden zusätzlich zum BIP geeignet sind. Die Ergebnisse der Lebensqualitätsforschung werden dabei stark rezipiert. 6 Vgl. Österreichisches Institut für Wirtschaft ftsforschung, WIFO-Weißbuch, 4. 7 Engels, Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen, ff 9. 8 Vgl. Arendt, Vita activa. 9 Vgl. Beck, Risikogesellschaft. ft 10 Vgl. Junge / Bauman, Soziologie zwischen Moderne und flüchtiger Moderne, 33. 11 Vgl. Hurrelmann / Albert, Jugend 2002. 12 Vgl. Blaschke / Cyba, Einstellungen zu Beruf und Arbeit. 13 Vgl. Peccei / Pestel / Mesarovic et al., Der Weg ins 21. Jahrhundert. 14 Ausführliche Überlegungen siehe Kapitel 2. 15 Vgl. Popp / Hofbauer fb / Pausch, Lebensqualität – Made in Austria, 85. 16 In Anlehnung an Opaschowski, Deutschland 2030, 146. 17 Vgl. Popp / Hofbauer fb / Pausch, Lebensqualität – Made in Austria, 83. 18 Vgl. Parent-Th Thirion, Fourth European Working Conditions Survey. 19 Vgl. ebd. 20 Das „Zukunft ftsforum Österreich“ hat im Rahmen des OeNB-Jubiläumsfondsprojekts von 2003 bis 2005 Studien zur „Sozialen Kohäsion der Generationen“ durchgeführt. Vgl. Zukunft ftsforum Österreich, Generationen. 21 Vgl. Popp / Hofbauer fb / Pausch, Lebensqualität – Made in Austria, 86. 22 Vgl. Parent-Th Thirion, Fourth European Working Conditions Survey. 23 Vgl. Groessenberger, Arbeitsklimaindex Salzburg 2010. 24 Vgl. Parent-Th Thirion, Fourth European Working Conditions Survey. 25 Vgl. ebd., 71.
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Reinhold Popp / Reinhard Hofbauer fb / Markus Pausch Vgl. Statistik Austria, Volkswirtschaft ft liche Gesamtrechnung 1997–2008, 50 ff. Statistik Austria, Verbrauchsausgaben 2004 / 05, 27. Vgl. Beck, Risikogesellschaft. ft Vgl. Statistik Austria, Verbrauchsausgaben 2004 / 05. Vgl. ebd. Vgl. ebd.; Friedl / Steininger, Private Konsumausgaben österreichischer Haushalte. Vgl. Statistik Austria, Verbrauchsausgaben 2004 / 05. Vgl. ebd. Vgl. Veenhoven, Freedom and Happiness. Vgl. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. Vgl. Bäcker / Bispinck / Hofemann / Naegele / Neubauer, Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, Bd. 1, 64. Popp / Hofb fbauer / Pausch, Lebensqualität – Made in Austria, 166. Eigene Berechnung; vgl. auch Steiner / BMASK, Können wir uns den Sozialstaat leisten? Vgl. Wallner / Industriellenvereinigung Österreich, Wohlstand, Armut und Umverteilung in Österreich. Vgl. Popp / Zellmann, Österreich 2030. Kommission der europäischen Gemeinschaft ften, Schlussbericht des Zweiten Europäischen Programms zur Bekämpfung der Armut 1985–1989, 4. Bezogen auf unselbstständig Erwerbstätige. Vgl. Österreichisches Institut für Wirtschaft ftsforschung / Guger / Agwi / Buxbaum, Umverteilung durch den Staat in Österreich, 3. Kostenloser Download: http: // www.wifo.ac. at / wwa / jsp / index.jsp?fi fid=23923&id=36801&typeid=8&display_mode=2 (zuletzt abgerufen am 29. 01. 2010). Vgl. Sen, Commodities and Capabilities. Vgl. Österreichisches Institut für Wirtschaft ftsforschung / Guger, Umverteilung durch den Staat in Österreich. Vgl. ebd. Vgl. ebd.
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Filmographie Chun gwong cha sit (Happy Together), Hong Kong 1997, Regie: Wong Kar-Wai, Darst.: Leslie Cheung, Tony Leung Chui-Wai, Chen Chang, 96 min. Elvira Madigan (Das Ende einer großen Liebe), Schweden 1967, Regie: Bo Widerberg, Darst.: Pia Degermark, Thommy Berggren, Lennart Malmer, Cleo Jensen, 91 min. Emmas Glück, Deutschland 2006, Regie: Sven Taddicken, Darst.: Jördi Triebel, Jürgen Vogel, Martin Feifel, Hinnerk Schönemann, 99 min. Happiness, USA 1998, Regie: Todd Solondz, Darst.: Jane Adams, Dylan Baker, Lara Flynn Boyle, Ben Gazzara, Jared Harris, Philip Seymour Hoffman, ff 134 min. Happy-Go-Lucky, Großbritannien 2008, Regie: Mike Leigh, Darst.: Sally Hawkins, Samuel Roukin, Alexis Zegerman, Eddie Marsan, Kate O’Flynn, 118 min. Heremakono (Reise ins Glück), Frankreich / Mauretanien 2002, Regie: Abderrahmane Sissako, Darst.: Katra Ould Abder Kader, Matta Ould Mohamed Abeid, Nana Diakité, 96 min. Le Bonheur (Glück aus dem Blickwinkel des Mannes), Frankreich 1965, Regie: Agnes Varda, Darst.: Jean-Claude Drouot, Claire Drouot, Sandrine Drouot, Olivier Drouot, Marie-France Boyer, 79 min. Le Bonheur est dans les Prés (Das Glück liegt in der Wiese), Frankreich 1995, Regie: Etienne Chatiliez, Darst.: Michel Serrault, Sabine Azéma, Carmen Maura, Eddy Mitchell, 106 min. Le fabuleux destin d’Amélie Poulain (Die fabelhaft fte Welt der Amélie), Frankreich / Deutschland 2001, Regie: Jean-Pierre Jeunet, Darst.: Audrey Tautou, Mathieu Kassovitz, Rufus, Yolande Moreau, Dominique Pinon, Serge Merlin, 122 min. Les Parapluies de Cherbourg (Die Regenschirme von Cherbourg), Frankreich / BRD 1964, Regie: Jacques Demy, Darst.: Catherine Deneuve, Nino Castelnuovo, Ellen Farner, Marc Michel, Anne Vernon, 91 min.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Queen Christina (Königin Christine), USA 1933, Regie: Rouben Mamoulian, Salka Viertel, S. N. Behrman, Darst.: Greta Garbo, John Gilbert, Lewis Stone, Elizabeth Young, 99 min. So glücklich war ich noch nie, Deutschland 2009, Regie: Alexander Adolph, Darst.: Devid Striesow, Nadja Uhl, Jörg Schüttauf, Elisabeth Trissenaar, 92 min. Štšstí (Die Jahreszeit des Glücks), Tschechien / Deutschland 2005, Regie: Bohdan Sláma, Darst.: Pavel Liska, Tatiana Vilhelmová, Anna Geislerová, Zuzana Kronerová, 102 min. Sunrise – A Song of Two Humans (Sonnenaufgang – Lied von zwei Menschen), USA 1927, Regie: Friedrich Wilhelm Murnau, Darst.: George O’Brien, Janet Gaynor, Margaret Livingston, 94 min. The Pursuit of Happyness (Das Streben nach Glück), USA 2006, Regie: Gabriele Muccino, Darst.: Will Smith, Jaden Christopher Syre Smith, Thandie Th Newton, 117 min. Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Gottfried Bachl, Prof. em. Dr., Universität Salzburg, FB Systematische Theologie, Universitätsplatz 1, A-5020 Salzburg, E-Mail: [email protected] Emmanuel J. Bauer, r Prof. Dr., Universität Salzburg, FB Philosophie an der Kath.-Th Theologischen Fakultät, Franziskanergasse 1, A-5020 Salzburg, E-Mail: [email protected] Mathias Binswanger, r Prof. Dr., Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Wirtschaft ft, Institute for Competitiveness and Communication, Riggenbachstr. 16, CH-4600 Olten, E-Mail: [email protected] fh Anton A. Bucher, r Prof. Dr., Universität Salzburg, FB Praktische Theologie, Universitätsplatz 1, A-5020 Salzburg, E-Mail: [email protected] Wilhelm Genazino, Schrift ftsteller, c/o Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, Postfach 86 04 20, D-81679 München Alois Halbmayr, r Prof. Dr., Universität Salzburg, FB Systematische Theologie, Universitätsplatz 1, A-5020 Salzburg, E-Mail: [email protected] Reinhard Hofbauer fb r, Mag., Fachhochschule Salzburg, Zentrum für Zukunft ftsstudien, Urstein Süd 1, A-5412 Puch/Salzburg, E-Mail: reinhard.hofbauer@fh fb fh-salzburg.ac.at Manfred Mittermayer, r Dr., Universität Salzburg, FB Germanistik, Erzabt-Klotz-Str. 1, A-5020 Salzburg, E-Mail: [email protected] Michael Musalek, Prim. Prof. Dr., Anton-Proksch-Institut, Stift ftung Genesungsheim Kalksburg, Gräfi fin-Zichy-Str. 6, A-1230 Wien, E-Mail: [email protected] Otto Neumaier, r Prof. Dr., Universität Salzburg, FB Philosophie an der KGW-Fakultät, Franziskanergasse 1, A-5020 Salzburg, E-Mail: [email protected] Markus Pausch, Dr., Fachhochschule Salzburg, Zentrum für Zukunftsstudien, ft Urstein Süd 1, A-5412 Puch/Salzburg, E-Mail: markus.pausch@fh fh-salzburg.ac.at Reinhold Popp, Prof. Dr., Fachhochschule Salzburg, Zentrum für Zukunftsstudien, ft Urstein Süd 1, A-5412 Puch/Salzburg, E-Mail: reinhold.popp@fh fh-salzburg.ac.at Renate Prochno, Prof. Dr., Universität Salzburg, FB Kunst-, Musik- und Tanzwissenschaft, ft Erzabt-Klotz-Str. 1, A-5020 Salzburg, E-Mail: [email protected] Karlheinz Rossbacher, r Prof. em. Dr., Universität Salzburg, FB Germanistik, Erzabt-Klotz-Str. 1, A-5020 Salzburg, E-Mail: [email protected] Kennon M. Sheldon, Prof. PhD, University of Missouri, Department of Psychology, 112 McAlester Hall, Columbia, MO 65211, E-Mail: [email protected] Ulrike Tanzer, r Prof. Dr., Universität Salzburg, FB Germanistik, Erzabt-Klotz-Str. 1, A-5020 Salzburg, E-Mail: [email protected]