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German Pages 356 Year 2018
Sven Kirschlager Auf den Straßen des Südens
Studien zur Popularmusik
Sven Kirschlager, geb. 1981, arbeitet als freier Autor und Regisseur. Er hat an der Freien Universität Berlin in Ethnologie promoviert und war dort von 2010 bis 2013 Mitglied des Graduiertenkollegs »Entre Espacios« am Lateinamerika-Institut.
Sven Kirschlager
Auf den Straßen des Südens Musiker, Räume und Performance in mexikanischen Überlandbussen
D188
© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikrove First published in 2018 by transcript Verlag rfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Sven Kirschlager, Coyuca de Benítez, 2015, © Sven Kirschlager Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4421-0 PDF-ISBN 978-3-8394-4421-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
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»Mein reisender Freund, reisen Sie zufrieden!« Der Einstieg | 9
2
Busmusiker, Räume und Orte | 21
2.1 Tomás Ramírez und die Räume zwischen El Papayo und Coyuca | 22 2.2 Ein relationales Raumkonzept | 25 2.3 Transiträume, Busräume und Performanceräume | 34 3 Methoden einer Feldforschung in Bewegung | 39 3.1 Forschungsräume: Die methodische Umsetzung des relationalen Raumkonzeptes | 40 3.2 Interviews und Gespräche | 52 3.3 Beobachtungen in den Forschungsräumen | 56 3.4 Aufnahmen | 60 4
Die Streckennetze und ihre Protagonisten | 65
4.1 4.2 4.3 4.4
Streckennetz 1: La Mixteca Poblana | 65 Streckennetz 2: La Zona Norte de Guerrero | 76 Streckennetz 3: Costa Grande y Costa Chica | 93 Streckennetz 4: El Paradero 30-30 | 128
5
Transiträume | 151
5.1 Taktstriche auf dem Asphalt: Die räumliche Ordnung der Streckennetze | 154 5.2 Turnos und Territorien: Die Organisation der Musiker | 163 5.3 Räume der Angst: Überfälle und Gewalt in Bussen und ihre Folgen | 176 5.4 Corridos von drüben: Busmusiker und die Hörgewohnheiten der Transiträume | 191 Erster Halt: Aus »Zwischen-Räumen« in die Busse | 203 6 Busräume | 207 6.1 Die Vielfalt der Busräume | 208 6.2 »Choferes« und »Chivas«: Von Busfahrern und Inspekteur/innen | 222 6.3 Beitrag oder Almosen? Das soziale Ansehen von Musik in Überlandbussen | 247
Zweiter Halt: Die Performance der Busräume | 273 Performanceräume | 277 7.1 »Man muss eh zuhören«: Das Publikum und die Feedback-Schleife an Bord der Busse | 278 7.2 Katastrophen, Verkehrsunfälle und andere Ereignisse der Transiträume als Thema in Gabriel Villanuevas corridos | 303 7.3 »Ich habe Oaxaca schon verlassen und bin unterwegs nach Tuxtla«: Räume und Orte in Texten | 317 7
8
»Jetzt verabschiede ich mich von allen« Der Ausstieg | 333
Literatur | 347
Por los caminos del sur
Auf den Straßen des Südens
vámonos para Guerrero.
fahren wir nach Guerrero.
Porque me falta un lucero
Denn mir fehlt ein Licht,
y ese lucero eres tu.
und dieses Licht bist Du. Titel: Por los caminos del sur Interpret: Salvador Hernández Komponist: Agustín Ramírez Transkription einer Aufnahme vom 9.11.2011
1
»Mein reisender Freund, reisen Sie zufrieden!«: Der Einstieg
Abbildung 1: Ruta FYPSA Oaxaca-Tuxtla Gutiérrez.
Abbildung: Kirschlager
Im Frühjahr 2008 saß ich im hinteren Drittel eines Busses der Transportgesellschaft FYPSA, der sich entlang der Bundesstraße 190 von Oaxaca Richtung Tuxtla Gutiérrez bewegte.1 Der verbrauchte Bus der Marke Dina entsprach der Klasse, die viele Reisende als »Segunda« bezeichneten und die an den Schaltern der Terminals in der Regel als »servicio económico« oder »de paso« ausgeschrieben war. Hinter den getönten Scheiben trennte ein schmaler staubiger Streifen die asphaltierte Fahrbahn und das Gestrüpp, das die dünn besiedelte, bergige Gegend bedeckte. Irgendwo auf diesem schmalen Streifen musste der Musiker gewartet haben, und irgendwie war er in diesen Bus gelangt. Jetzt stand er zwei Reihen vor mir etwa auf der Hälfte des Ganges. Er trug ein weißes Hemd, Jeans und Stiefel, sang den bolero »Toda una vida« und begleitete sich dabei auf einer Gitarre. Obwohl er sein Gesäß gegen die Lehne eines Sitzes
1
Die in folgendem Beispiel verwendeten Informationen entstammen der Performance eines unbekannten Musikers vom 25.2.2008 in einem Bus der línea FYPSA zwischen Oaxaca und Tuxtla Gutiérrez. Die Beschreibung basiert auf den entsprechenden Feldnotizen, dem Tagebucheintrag und der Audioaufnahme der Performance.
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stemmte, wankte sein Oberkörper durch die zahlreichen Kurven und ließ vermuten, dass es nicht einfach war, die Balance zu halten. Als zweites Stück spielte er »Al estilo mexicano«, das die Band »Los Tigres del Norte« berühmt gemacht hatte. Der Text feierte die Reize einzelner Bundesstaaten anhand der berauschenden Wirkung ihrer Bewohnerinnen und ihrer alkoholischen Getränke. Allerdings zeichnete sich der Protagonist des Textes, der ehrbare und kühne Prototyp eines mexikanischen Mannes, nicht wie im Original durch seinen tollkünen Reitstil aus (»Rifo mi suerte a las patas de un caballo«), sondern riskierte seine Haut an Bord der Busse (»Rifo mi suerte cantándole aquí en los carros«). Nach dem ersten Refrain wechselte der Musiker, in einen anderen, vermutlich selbst geschriebenen Text. Über die gleichen Akkorde pries dieser nicht mehr die Schönheit ganz Mexikos und seiner Bewohnerinnen, sondern zeichnete anhand einzelner Orte entlang der MEX-1902 die Route des Busses nach, in dem wir reisten: Ya estoy de vuelta, paisano, y los quiero saludar. Es cierto traigo unos tragos de chocolate con pan. Yo ya salí de Oaxaca y voy a Tuxtla pasear.
Da bin ich wieder, Landsmann, und ich will euch grüßen. Tatsächlich habe ich ein Paar Schluck heiße Schokolade und Brot dabei. Ich habe Oaxaca schon verlassen und bin auf dem Weg nach Tuxtla.
Atrás ya quedó Huajuapan umbral de nuestra [unverständlich] Nochixtlan, Telixtlahuaca, también nuestra Villa de Etla. Ya veo mi lindo Oaxaca y a mi raza Zapoteca.
Hinter uns liegt schon Huajuapán Schwelle unseres/r [unverständlich] Nochixtlán, Telixtlahuaca, auch unser Villa de Etla. Ich sehe schon mein schönes Oaxaca und meine Zapoteken-Leute.
Después me sigo al sur y paso por Tlacolula. Me acerco al región del Istmo, llego a Tuxtla y Tapachula. Dos estados muy bonitos y sus mujeres tan chulas.
Danach fahre ich weiter nach Süden vorbei an Tlacolula. Ich nähere mich dem Istmus und gelange nach Tuxtla und Tapachula. Zwei schöne Staaten mit so hübschen Frauen. Titel, Interpret und Komponist: unbekannt Transkription einer Aufnahme vom 25.2.20083
Nach dieser vielversprechenden Charakterisierung der Endstation unserer Reise wechselte der Musiker, ohne abzusetzen, vom treibenden 2/4- in einen getragenen 3/4-Takt 2
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Bundesstraßen werden im Folgenden mit der offiziellen Abkürzung MEX-Nummer bezeichnet. Autobahnen werden durch ein der Nummer folgendes »D« gekennzeichnet, beispielsweise MEX-132D. Lokale Landstraßen werden mit dem Kürzel ihres Bundesstaates und ihrer Nummer bezeichnet, beispielsweise PUE-361. Übersetzungen von Zitaten aus Interviews, direkter Rede in Tagebucheinträgen und spanischsprachiger Literatur ins Deutsche von Sven Kirschlager.
Einstieg | 11
und lenkte durch den Rhythmuswechsel neue Aufmerksamkeit auf den Text seines letzten Stückes. Dieser führte von den Orten entlang der MEX-190 in die Performancesituation an Bord des Busses und richtete sich direkt an uns, die Passagier/innen: ¡Usted mi amigo viajero, vaya contento viajando! ¡Lleguen muy bien donde vayan y que no estén esperando! Como me dice el Señor: ›Se irá multiplicando.‹
Mein reisender Freund, reisen Sie zufrieden! Kommen Sie gut an Ihr Ziel, ohne lang zu warten! So wie der Herr sagt: ›[Was Du gibst] wird sich vervielfältigen.‹
Ya hemos durado, noble él que va manejando. Pasa que numero uno, siempre nos han ayudado. Usted con su monedita, a guitarra hemos cambiado.
Wir kennen uns schon lange, edler Fahrer. Er ist der Beste und hat uns immer geholfen. Mit Ihrer Münze haben wir zur Gitarre gewechselt.
Si yo fuera un asaltante, ninguna se dormiría. Les quitaba la cartera y a todos le robaría. Mejor que dan una moneda, escuchan la melodía.
Wäre ich ein Räuber schliefe hier niemand. Ich stöhle ihre Brieftaschen und raubte alle aus. Es ist besser, Sie geben mir eine Münze und lauschen der Melodie. Titel, Interpret und Komponist: unbekannt Transkription einer Aufnahme vom 25.2.2008
Die Bitte um Kleingeld wiederholte er nach dem Stück in wenigen routiniert klingenden Worten, während er seine Gitarre unter den einen Arm klemmte und sich mit dem anderen durch den Gang hangelte, um das erhoffte Geld entgegenzunehmen. Kurze Zeit später hielt der Bus und setzte den Musiker irgendwo auf dem staubigen Streifen zwischen Straße und Gestrüpp wieder ab. Mich ließ der Musiker keinesfalls so zufrieden zurück, wie er es mir mit den Worten »¡Usted mi amigo viajero, vaya contento viajando!« wünschte. Stattdessen hatte sein Auftritt unzählige Fragen aufgeworfen. Warum ließ der Fahrer ihn in seinem Bus spielen? Duldete die Transportgesellschaft FYPSA Subunternehmertum an Bord ihrer Busse? Wenn nicht: Kannten sich Fahrer und Musiker, waren sie befreundet, teilten sie den Gewinn untereinander auf, oder war der Fahrer schlicht ein Musikliebhaber? Und die Passagier/innen? Gaben sie dem Musiker Geld als Anerkennung seiner musikalischen Leistung, als Dank für Unterhaltung auf einer monotonen Reise oder aus Mitleid, weil sie davon ausgingen, er habe es nötig? Welche Rolle spielte die Tatsache, dass sie ihn in einem Bus hörten? Und der Musiker? Reiste er durchs ganze Land, oder wohnte er in der Nähe und bewegte sich auf einer bestimmten Strecke hin und her? Spielte er immer dieselben drei Stücke? Was tat er in einem Bus in entgegengesetzter Richtung, sang er dann die Orte entlang der MEX-190 in umgekehrter Reihenfolge?
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Stieg er tatsächlich »irgendwo« am Straßenrand ein und aus, oder hatten diese Orte bestimmte Eigenschaften oder Bedeutungen? Räume und Arbeit der músicos ambulantes an Bord der Überlandbusse Den Musiker sollte ich nie wieder treffen, jedoch war es seine Performance, die mich dazu bewegte, Musiker4 in den Überlandbussen Südmexikos als Protagonisten meiner Doktorarbeit zu wählen. Sie selbst nannten5 sich »músicos ambulantes«, »cancioneros«, »trovadores« oder schlicht »cantantes«. Die Überlandbusse6, in denen sie auftraten, hatten sich seit ihrer Einführung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und besonders, seitdem der Passagierverkehr auf weiten Teilen des mexikanischen Eisenbahnnetzes in den 1990er Jahren eingestellt worden war, zum wichtigsten Transportmittel der interstädtischen und ländlichen Personenbeförderung in Mexiko entwickelt. 7 Die Passagier/innen, die an Bord der Busse über die Landstraßen reisten, waren in
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Ich spreche in meiner Arbeit bewusst nur von Musikern, da es sich bei jenen, die dieser Arbeit nachgingen, beinahe ausnahmslos um Männer handelte (vgl. Kapitel 3.1). Um die theoretischen Grundlagen dieser Arbeit auch in der Repräsentation der Ergebnisse umzusetzen und die Inhalte dieser Arbeit zu verzeitlichen, ist die Verwendung des Imperfekts notwendig. Diese darstellerische Notwendigkeit betrifft nicht nur die Handlungen der Akteur/innen, die ich zu einer bestimmten Zeit während meiner Feldforschung traf, sondern auch Räume und die sozialen Güter, aus denen sie konstituiert wurden. Um die theoretischen Grundlagen in der Repräsentation der Ergebnisse umzusetzen, ist es daher notwendig, die Inhalte dieser Arbeit durch die Verwendung des Präteritums zu verzeitlichen, anstatt durch die Verwendung des Präsens – »a tenseless tense« (Crapanzano 1986: 65) – die Verknüpfung von Raum und Zeit zu ignorieren. Mit dem Begriff »Überlandbusse« bezeichne ich in meiner Arbeit Busse des interurbanen Personentransports, für die in Mexiko häufig der Begriff »transporte foráneo« verwendet wird. Sie unterscheiden sich von den Bussen des urbanen Nahverkehrs, dem »transporte metropolitano«, beziehungsweise Bussen, die als »urbanos« bezeichnet wurden, nicht nur in der Länge ihrer rutas und den durchreisten Räumen, sondern auch in ihrer Bauweise (vgl. Kapitel 6.1 und Kapitel 6.3). Im Jahr 2007 transportierten Überlandbusse in Mexiko etwa 2.551.743.000 Passagier/innen. Wobei der größte Teil der Passagier/innen (etwa 1.867.938.000 Passagier/innen beziehungsweise 73,2%) im servicio económico, der auch im Zentrum dieser Arbeit steht, reisten (Aguilera 2010: 11). Vor diesem Hintergrund überrascht die knappe Zahl wissenschaftlicher Arbeiten über die Überlandbusse Mexikos, ihre Routen und Haltestellen. Neben Chris Kyles wirtschaftsethnologischen Artikel »From Burros to Busses«, der sich mit den Auswirkungen der Überlandbusse auf die Transportkosten landwirtschaftlicher Produkte aus den Gemeinden ihrer Produzent/innen zu lokalen Märkten im Bundesstaat Guerrero befasst (Kyle 1996), finden sich zum Thema der Überlandbusse Mexikos hauptsächlich wirtschaftswissenschaftliche Arbeiten, wie beispielsweise der bereits zitierte Aufsatz Nelly Aguileras über die zunehmende Monopolisierung dieses Marktes (Aguilera 2010), oder medizinische Untersuchungen der Arbeitsbedingungen der Busfahrer (Bonilla Barragán; Chávez; Adalberto; de Haro und Silva 2012).
Einstieg | 13
dünn besiedelten Gebieten meistens die größten Menschenansammlungen, auf die Musiker täglich Zugriff hatten. So verwandelten músicos ambulantes Überlandbusse in fahrende Performanceräume.8 Die Busmusiker bildeten also eine faszinierende Schnittstelle zwischen Musik und Raum. Auf der einen Seite waren es die Räume ihrer Performance, die sie besonders machten. Sie spielten nicht in Nachtclubs oder in Konzertsälen vor einem Publikum, das sich zusammenfand, um gemeinsam Musik zu hören. Músicos ambulantes spielten an Bord oft lauter Busse, deren Passagier/innen von einem Ort zu einem anderen befördert werden wollten und nicht die Absicht verfolgten, gemeinsam Musik zu hören. Gerade weil die Busmusiker die Passagier/innen suchten und nicht umgekehrt, waren sie in besonderem Maße gezwungen, sich sowohl mit dem Raum ihrer Performance an Bord der Busse als auch mit den Räumen, die sie während ihrer Performance durchreisten, auseinanderzusetzen. Den Zutritt zu den Überlandbussen mussten sie mit anderen Akteur/innen – meistens Busfahrern – immer wieder neu aushandeln. Auf der anderen Seite zeigte die Performance zwischen Oaxaca und Tuxtla, wie die músicos ambulantes die Arbeit in den Bussen und deren Bewegungen durch bestimmte Räume in ihren Performances reflektierten. Über die Akkorde des Stücks »Al estilo mexicano« der vermutlich bekanntesten mexikanischen Band »Los Tigres del Norte«, das die nationalen Reize des Landes feierte, hob der Musiker wie mit einem Vergrößerungsglas jenen regionalen Ausschnitt hervor, durch den wir uns bewegten. Dabei zeichnete er eine gesungene Karte durchreister Räume, deren Namen und Markierungen Ortsfremden im Bus vermutlich entgangen waren und deren Nennung Ortskundigen eventuell das wohlige Gefühl, sich ihrem Wohnort zu nähern, bescherte. In seinen Texten dankte er dem großzügigen Fahrer, der ihn spielen ließ, erinnerte Passagier/innen an die mit Busreisen verbundene Gefahr bewaffneter Raubüberfälle, stellte sich selbst auf die Schwelle zum Absturz in die Kriminalität und hob die Spenden hervor, die ihn vor diesem Absturz bewahrten. Wenn sich die Musiker zwischen offiziellen Haltestellen Zugang zu vorbeifahrenden Überlandbussen verschafften, warfen sie Fragen nach dem vermeintlichen »Irgendwo am Straßenrand« auf. Moderne Verkehrsmittel stehen seit der Erfindung der Eisenbahn im Verdacht, nicht nur Start und Ziel ihrer Reise miteinander zu verbinden, sondern auch die Räume dazwischen zu schrumpfen, zu vernichten oder zumindest zu isolieren (vgl. Schivelbusch 2007: 16). So beruft sich Doreen Massey auf Dea Birketts Beispiel der pazifischen Pitcairn Islands, deren Lage Ende des 20. Jahrhunderts durch die zahlreichen Flugverbindungen zwischen Asien und Nordamerika isolierter denn je sei, und leitet daraus die Bedeutung der »power geometry of space-time compression« ab (vgl. Massey 1991: 25). Tatsächlich lebten mehrere Musiker, die ich während meiner Forschung begleiten sollte, an den nahezu trockenen Verkehrsadern MEX-95 und MEX-190, auf denen einst der Verkehr zwischen Mexiko-Stadt und Acapulco beziehungsweise zwischen Puebla und Oaxaca floss, bis Anfang der 1990er Jahre direkte
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Der Begriff »músicos ambulantes« bezeichnete nicht allein Musiker, die an Bord von Überlandbussen auftraten, sondern auch solche, die auf Märkten spielten oder durch Restaurants und Bars zogen. In dieser Arbeit bezeichne ich mit diesem Begriff jedoch ausschließlich Busmusiker.
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Autobahnen das Zentrum des Landes mit dem Pazifik und den südöstlichen Bundesstaaten verbanden.9 Aber anders als die Eisenbahn oder gar transpazifische Flugverbindungen boten Überlandbusse den Musikern Möglichkeiten, an Bord zu gelangen, sich mit ihnen zu bewegen, in ihnen Geld zu verdienen und sogar noch über die vermeintlich vernichteten »Zwischen-Räume« zu singen. Meine Feldforschung fiel in die Folgejahre der schweren Wirtschaftskrise 2009 und immer mehr Musiker suchten ihr Glück an Bord der Busse. Dort trafen sie nicht nur auf etablierte Musiker, die ihr Wissen und ihre Beziehungen zu Fahrern nutzten, um sich gegenüber der neuen Konkurrenz einen Vorteil zu verschaffen. Sie trafen auch auf verstärkte Kontrollen der Transportgesellschaften, die in ihrer Absicht, Korruption und Unterschlagungen zu unterbinden, Busmusiker und Händler/innen aus den Bussen verdrängten. Die Busse hatten sich in umkämpfte Räume verwandelt. Musiker entwickelten Strategien, um ihre Arbeit trotz der erdrückenden Konkurrenz rentabel zu halten und die Kontrollmechanismen der Transportgesellschaften zu umgehen. An der Performance des Musikers zwischen Oaxaca und Tuxtla beeindruckte allerdings auch, dass er erklärte, dem Absturz in die Kriminalität zu trotzen. Auch die Protagonisten meiner Arbeit betonten bei ihren Performances an Bord der Busse immer wieder, dass sie einer ehrlichen Arbeit nachgingen, und distanzierten sich sowohl von Räubern als auch von Bettlern, die Almosen ohne Gegenleistung verlangten. Bei Auftritten auf privaten Feiern oder in Restaurants, wiesen dieselben Musiker hingegen nicht auf die Ehrbarkeit und Professionalität ihrer Tätigkeit hin. Músicos ambulantes befürchteten offensichtlich, nicht anhand ihrer musikalischen Fähigkeiten, sondern anhand der Räume ihrer Performances beurteilt zu werden. Musiker kämpften an Bord der Überlandbusse nicht nur um den Raum, sondern auch gegen den Raum beziehungsweise eine durch den Raum geprägte Wahrnehmung, die sie von professionellen Musikern zu Bettlern mit Musikinstrument degradierte. Gerade in Anbetracht des geringen sozialen Ansehens der músicos ambulantes und der Geringschätzung ihrer künstlerischen Leistung ist es Absicht dieser Arbeit, die kreativen Leistungen der músicos ambulantes ins Licht zu rücken. Zu diesen gehörte mehr als die Komposition und Performance von Musik, die von ihnen auf Bühnen und privaten Feiern verlangt wurde. Gezwungen, den Zutritt zu Bussen auszuhandeln, erschufen músicos ambulantes mit ihren Performances an Bord Räume, die nicht nur Passagier/innen und Fahrer als Publikum zusammenschlossen. Wie der unbekannte Musiker in Oaxaca kreierten sie Verbindungen zu den Räumen jenseits der Busfenster. Sie trugen lokale Erzählungen und die musikalischen Genres durchreister Räume in die klimatisierten Busse und schärften ein Bewusstsein für jene Räume zwischen Abfahrt und Ziel der Reise, die seit Beginn der Mechanisierung der Zugkräfte im Ruf standen, vergessen und vernichtet zu werden. Die Forschungsfragen Um auf der einen Seite der zentralen Bedeutung der Räume, die die músicos ambulantes nicht nur von anderen Musikern unterschieden, sondern offensichtlich auch großen Einfluss auf ihre Musik, ihre Texte und ihr soziales Ansehen hatten, gerecht zu werden
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Zu den Wohnorten und Biographien der Musiker vgl. Kapitel 4.
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und auf der anderen Seite die kreative Leistung der Musiker erfassen zu können, liegt meiner Arbeit ein relationales Verständnis von Räumen zugrunde. Dieses Raumverständnis beruht – vereinfacht dargestellt – darauf, dass Räume nicht nur in ihnen agierende Menschen beeinflussen, sondern auch umkehrt Menschen durch ihre Handlungen Räume erst hervorbringen.10 In Bezug auf die Busmusiker ergaben sich auf Grund dieses Verständnisses zwei zentrale Forschungsfragen: • •
Wie beeinflussten Überlandbusse und die Räume, durch die sie sich bewegten, die músicos ambulantes und ihre Performances? Auf welche Art und Weise konstituierten Musiker durch ihre Performances Räume an Bord und außerhalb der Busse?
Die erste Frage ergibt sich aus der Annahme, dass die Busse und die Räume, durch die sie sich bewegten, nicht lediglich einen passiven Hintergrund für die Handlungen der Busmusiker bildeten, sondern sie entscheidend beeinflussten. Ich befasse mich daher mit den Eigenschaften der Orte, die Musiker wählten, um in die Busse zu steigen und sie nach ihren Performances wieder zu verlassen. Genauso betrachte ich, wie sich die Räume, durch die sich die Musiker an Bord der Busse bewegten, in ihren Texten, ihrer Musik und ihren Performances spiegelten. Im Rahmen dieser ersten Frage ist auch die räumliche Ordnung, auf die Musiker im Innern der Busse stießen, von Interesse. Somit spielten auch die Akteur/innen, mit denen sie die Erlaubnis, an Bord der Busse spielen zu dürfen, aushandeln mussten, eine wichtige Rolle. Die zweite Frage dreht sich um die raumstrukturierenden Prozesse. Sie wirft Licht darauf, wie Musiker durch ihre Bewegungen Ein- und Ausstiegsorte zunächst zu Strecken und dann zu Streckennetzen verbanden. Sie beleuchtet die räumlichen Ordnungen, die Machtverhältnisse überall dort hervorbrachten, wo mehrere Musiker um die Gunst der Busfahrer konkurrierten. Die zweite Frage bezieht sich außerdem auf die Räume, die sich aus der Interaktion zwischen Musikern, Busfahrern und Passagier/innen an Bord der Busse ergaben, aber auch nach den diskursiven Räumen, die Musiker in ihrer Musik und ihren Texten synthetisierten. Literatur und Forschungsstand Im Hinblick auf die musikethnologische Beschäftigung mit Räumen reiht sich meine Arbeit nicht in jene Strömung ein, die sich auf Murray Schafers »Soundscape« (vgl. Schafer 1994) aufbauend phänomenologischen Betrachtungen der »Senses of Place« widmet (vgl. z.B. Feld 1994 und 1996; Hirschkind 2006 und Sakakeeny 2010). Stattdessen analysiere ich die kulturelle und soziale Konstitution von Räumen durch Musik und Musiker. Entsprechend baut meine Arbeit auf einem Fundament soziologischer Raumkonzepte auf und schlägt interdisziplinäre Brücken in performancetheoretische, musik- und literaturwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Raum. Bisher existieren keine wissenschaftlichen Arbeiten über Musiker/innen in mexikanischen Überlandbussen, allerdings widmet ihnen der Journalist Elijah Wald ein Kapitel seines Buches Narcocorrido. Während er sich in dem Buch, wie der Titel bereits
10 Zum relationalen Raumkonzept dieser Arbeit vgl. Kapitel 2.2.
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verrät11, in erster Linie mit den umstrittenen Balladen über den Drogenhandel befasst, besucht er in einem Exkurs den Musiker und Komponisten Gabriel Villanueva, den er auf eine seiner Performances in einem Bus an der Costa Chica begleitet. Wald stellt sowohl Gabriel Villanuevas Kompositionen, die er als gesungene Nachrichten deutet, und ihre Interpretation im dueto de guitarras12 als auch die Mobilität des Busmusikers den vermeintlich moderneren narcocorridos als eine ursprünglichere Form des corridos gegenüber. Wissenschaftliche Arbeiten, deren Autor/innen sich mit Musiker/innen in Verkehrsmitteln auseinandersetzen, behandeln hingegen Musiker/innen in urbanen Räumen, nämlich den Metrosystemen von Großstädten. Susie J. Tanenbaums Underground Harmonies von 1995 ist den Musiker/innen in New Yorks Metrosystem gewidmet, die sie als »paradigm of beauty« im krassen Gegensatz zu den düsteren, schmutzigen Räumen ihrer Performance einführt (vgl. Tanenbaum 1995: IX). Dabei interviewte Tanenbaum allerdings ausschließlich Musiker/innen, die nicht in den Waggons, sondern auf Bahnsteigen und Eingangshallen von Metrostationen auftraten. Im Zentrum ihrer Betrachtungen stehen die Verhältnisse zwischen städtischen Institutionen und Musiker/innen, wie beispielsweise das »Music Under New York«-Programm der New York City Transit Authority, die nach einem Auswahlprozess nicht nur Genehmigungen ausstellt, sondern auch die lukrativsten Orte für die Teilnehmer/innen des Programms reserviert. Zusätzlich bietet Tanenbaums Arbeit einen historischen Überblick über die diversen Versuche, Performances im Metronetz der Stadt zu reglementieren. Nichts desto trotz beschäftigt sich Tanenbaum in einem Kapitel auch mit der Interaktion zwischen Musiker/innen und Nutzer/innen der Metro. Mit Hilfe von Erving Goffmans Begriffen »unfocused interaction« und »focused interaction« (Goffman 1963: 24) beschreibt sie die Entwicklung der Zuhörer/innen, die sich in Hallen und auf Bahnsteigen von »unfokussiert interagierenden« Passant/innen in das »fokussiert interagierende« Publikum der Musiker/innen verwandeln, um letztendlich, so ihr Schluss, eine »community« zu bilden (vgl. Tanenbaum 1995: 102). Sie reiht sich damit in Arbeiten über street performances ein, in denen die Kreise, die sich aus den Strömen vorbeigehender Passant/innen um die Musiker/innen und anderen Performer/innen bilden, eine zentrale Rolle spielen (vgl. Harrison-Pepper 1990; Clyne 2006 oder Carlin 2014). Jane McMahan berücksichtigt hingegen in ihrem Artikel »Subway Performance« von 1996 auch solche Musiker/innen, die sich ebenfalls in New York gemeinsam mit den Passagier/innen der Metro an Bord der Waggons bewegen. Sie beginnt ihren Artikel mit der These, dass Musiker/innen und andere Performer/innen den unwirtlichen 11 Bei corridos und entsprechend auch dem Subgenre der so genannten narcocorridos handelte es sich um narrative Balladen, die zu einer in der Regel einfachen Struktur vorgetragen wurden. Häufig handelten sie von den tollkühnen Taten ihrer Protagonist/innen und deren meist tragischem Ende (vgl. auch Kirschlager 2015b und Kapitel 5.5). 12 Die vor allen Dingen unter den músicos ambulantes im Bundesstaat Guerrero populäre Ensembleform »dueto de guitarras« bestand aus »guitarra« (Rhythmus-Gitarre) und »requinto« (einer kleineren Gitarre mit cutaway). Die zwei Gesangsstimmen standen in enger Harmonie, meist parallelen Terzen, zueinander. Oft sangen die Sänger/innen der höheren Stimme die Dezime im Falsett. Auch wenn auf Aufnahmen und größeren Live-Auftritten ein dritter Musiker mit E-Bass dazu gehörte, wurde das Ensemble weiterhin als »dueto« bezeichnet.
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Raum der Metro vermenschlichten (vgl. McMahan 1996: 159). Der kurze, sehr deskriptive Artikel bietet allerdings in erster Linie ein Panorama der verschiedenen Performances, denen die Autorin auf einer einzigen Fahrt beiwohnt. Geographisch ist meiner Arbeit das Buch Trovadores Posmodernos über die Metro Mexiko-Stadts von Olivia Domínguez Prieto aus dem Jahr 2010 am nächsten. Allerdings liegt der Schwerpunkt der Stadtplanerin Domínguez Prieto eindeutig auf der Geschichte und den verkehrsplanerischen Vorzügen des Metrosystems der stau- und emissionsgeplagten Millionenstadt. Erst in der zweiten Hälfte des Buches beschäftigt sich Domínguez Prieto mit den Musiker/innen. Dabei legt sie besonderes Gewicht auf die Biographien der Musiker/innen. Domínguez Prieto verfolgt mit ihrer Arbeit das sehr praktische Interesse, Musiker/innen an Bord der Metrowaggons institutionell zu fördern, und beschließt ihr Buch entsprechend mit Vorschlägen zur Integration der bisher informell agierenden Musiker/innen in das offizielle Kulturprogramm des Sistema de Transporte Colectivo Metro (vgl. Domínguez Prieto 2010: 361-363). Genauso wie Tanenbaum greift Domínguez Prieto – wenn auch nur am Rande – auf Goffman zurück und verwendet seine Begriffe »Hinterbühne« und »Vorderbühne« (vgl. Goffman 1969: 104-105), um die Bahnsteige und die Waggons entsprechend der Aktivitäten der Musiker/innen räumlich zu ordnen (vgl. Domínguez Prieto 2010: 181-182). Räumliche Aspekte spielten also auch in den Arbeiten über Musiker in urbanen Verkehrsmitteln eine Rolle. Allerdings ließen sich die Beobachtungen und Ergebnisse der Autorinnen aufgrund gravierender Unterschiede kaum auf die músicos ambulantes an Bord von Überlandbussen übertragen. Der offensichtlichste Aspekt, der alle drei Arbeiten über Musiker/innen in Metrosystemen von der meinen unterscheidet, ist die Besonderheit, dass sich die músicos ambulantes an Bord der Überlandbusse durch ländliche Räume bewegten und auch vor einem überwiegend ländlichen Publikum spielten. Ihre Performances waren deutlich länger als die der Musiker/innen in Metrowaggons und das Problem vermeintlich komprimierter Zwischenräume trat bei der Betrachtung der Musik an Bord von Überlandbussen sehr viel deutlicher zutage als im Metrosystem von Großstädten. Anders als Tanenbaums Betrachtung des Wandels »unfokusierter« Passant/innen in ein »fokusiertes« Publikum, sobald sie im Kreis rund um Metro-Musiker/innen innehalten, fand sich das Publikum an Bord der Busse eben nicht ein, um den Musikern zuzuhören, sondern wurde mit den Musikern an Bord des Busses eingesperrt. Entsprechend ließen sich Goffmans Begriffe nicht auf die Überlandbusse übertragen.13 Ein dritter wichtiger Unterschied ist, dass Musiker/innen in Metrosystemen zwar gelegentlich in Konflikte mit der Polizei und anderen Ordnungskräften gerieten, ihre Performances allerdings keinesfalls von einer so zentralen zwischenmenschlichen Beziehung wie der zwischen Busfahrern und músicos ambulantes abhing.14 Dennoch bietet vor allen Dingen Domínguez Prietos Arbeit bereits durch ihre geographische Nähe hilfreiche Anknüpfungspunkte und sogar räumliche und personelle 13 Auch wenn Goffman die »unfocused interaction« um den Sonderfall des »unfocused gathering« erweitert (Goffman 1963: 24), trifft auch dieser nicht wirklich auf die Passagier/innen an Bord der Überlandbusse zu, die bereits in ihrer Reiseabsicht und der besonderen Sitzordnung gemeinsame Aufmerksamkeiten teilten. 14 Zur Beziehung zwischen músicos ambulantes und Busfahrern vgl. Kapitel 6.2.
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Überschneidungen. Zwei Stationen der von Domínguez Prieto untersuchen Linie 3 der Metro befanden sich an der für músicos ambulantes wichtigen nördlichen Ausfahrt Mexiko-Stadts und mehrere der Musiker hatten vor ihrem Einstieg in die Busse meist frustrierende Erfahrungen in der Metro gesammelt. 15 Die wichtigsten Quellen meiner Arbeit bilden allerdings die empirischen Daten aus meinen eigenen Beobachtungen und Interviews mit Musikern, Busfahrern, Passagier/innen, Händler/innen und Angestellten der Transportgesellschaften, die ich im Zuge dreier mehrmonatiger Feldforschungsaufenthalte in Mexiko durchführen konnte.16 Aufbau der Arbeit An die Einleitung schließt sich das theoretische Kapitel »Busmusiker, Räume und Orte« an. Ich erarbeite ein Raumkonzept, das es ermöglicht, die räumliche Vielfalt aus materiellen, sozialen und diskursiven Elementen, die während der Performances der Musiker eine Rolle spielten, zu erfassen. Dabei handelt es sich um das bereits erwähnte relationale Raumkonzept auf der Grundlage sozialwissenschaftlicher Theorien, die ich mit performancetheoretischen, literatur- und musikwissenschaftlichen Ansätzen ergänze. Nur auf diese Weise ist es möglich, die Aneignung der Räume an Bord der Überlandbusse durch die músicos ambulantes zugleich als einen kreativen Prozess, der seinerseits Räume hervorbringt, zu verstehen. Die Tatsache, dass sich die Akteur/innen, die ich beobachtete, begleitete, interviewte und aufnahm, in steter Bewegung befanden, verlangte nach einer besonderen Methodologie. Das dritte Kapitel »Feldforschung in Bewegung« beinhaltet neben Informationen über Interviews, Beobachtungen, Audioaufnahmen und deren Analyse, auch solche über die Räume, in denen ich meine Feldforschung durchführte. Mit Rücksicht auf das relationale Raumkonzept entwickelte ich dynamische und fragmentierte Forschungsräume. Inspiriert von George E. Marcus Methoden einer »multi-sited ethnography« zeichnete ich die Bewegungen einzelner Musiker auf, setzte sie ins Verhältnis zu den Bewegungen anderer, interagierender Musiker und synthetisierte sie schließlich zu vier Streckennetzen. Die Beschreibungen der Streckennetze und der Musiker, auf deren Bewegungen sie beruhten, bilden den Inhalt des vierten Kapitels »Die Streckennetze und ihre Protagonisten«. Das Augenmerk gilt den räumlichen Besonderheiten, zentralen Verkehrswegen, den Busrouten und ihren Frequenzen, Haltestellen, den Zusammensetzungen ihrer Passagier/innen und vor allen Dingen den Ein- und Ausstiegsorten, die Musiker durch ihre Performances an Bord der fahrenden Busse zu Strecken verbanden. Ebenfalls in diesem Kapitel, ihren Streckennetzen zugeordnet, finden sich die Biographien der músicos ambulantes, deren Schwerpunkt auf dem Weg der Musiker in die Überlandbusse liegt. Der Hauptteil untergliedert sich in die drei räumlichen Ebenen »Transiträume«, »Busräume« und »Performanceräume«. Das erste dieser drei Kapitel »Transiträume«
15 Zu den umkämpften Zustiegsorten zu Metro und Überlandbussen vgl. Kapitel 5.3. 16 Zu den Methoden meiner Feldforschung vgl. Kapitel 3.
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behandelt jene Räume, durch die Busse fuhren, in ihrer Wechselwirkung zu den Performances der Musiker. Ich betrachte zunächst die Wahl der Ein- und Ausstiegsorte, die Musiker schließlich zu Strecken verbanden. Häufig befanden sich an diesen Orten soziale Güter, die die Fahrt der Busse unterbrachen oder bremsten und somit die Strecken und mit ihnen die Performances an Bord der Busse gliederten. An solchen Orten entstanden oft Räume erbitterter Konkurrenz. Etablierte Musiker organisierten den Zustieg und es bildeten sich Hierarchien, die sich räumlich manifestierten. Des Weiteren befasse ich mich mit Überfällen, die auf konkreten Straßenabschnitten und in bestimmten Serviceklassen verortet wurden und so Strecken und Räume der Angst schufen. Diese überschnitten sich mit denen der Musiker, zogen diese in Mitleidenschaft und brachten sie sogar in den Verdacht der Komplizenschaft. In diesem Kapitel geht es auch um die regionalen Zuordnungen verschiedener Genres17, die musikalische Räume bildeten. Sie hatten entscheidenden Einfluss auf die Wahl der Stücke an Bord der Überlandbusse. Passagier/innen platzierten wiederum Busmusiker und synthetisierten anhand ihrer Performances musikalische Räume, durch die sie sich zu bewegen glaubten. Das sechste Kapitel ist den »Busräumen« gewidmet. Im Zentrum dieses Kapitels stehen jene Akteur/innen, mit denen Musiker ihren Aufenthalt an Bord der Busse aushandeln mussten, allen voran die Busfahrer. Das Kapitel zeichnet auch die zunehmenden Kontrollen an Bord der Busse nach, welche die Busfahrer ihrer Macht beraubten und Musiker aus den Fahrzeugen verdrängten. Die músicos ambulantes kämpften jedoch nicht nur um Raum an Bord der Busse, sie wehrten sich auch gegen ihre Wahrnehmung als Bettler mit Musikinstrument, die, wie dieses Kapitel zeigt, eng an die Räume ihrer Performances an Bord der Busse geknüpft war. Im siebten Kapitel beschäftige ich mich mit den Räumen die Musiker, Passagier/innen und Busfahrer durch ihre Performances konstituierten. Besonderes Gewicht liegt in diesem Kapitel auf dem Publikum, den Passagier/innen, und den feedback-Schleifen, die sich zwischen ihnen und den Musikern entfalteten. Das Kapitel behandelt außerdem Kompositionen der Busmusiker über lokale Ereignisse durchreister Räume. Dabei liegt ein Fokus auf corridos über Unfälle, die die Lokalität des Ereignisses mit der Mobilität der Busse verbanden. Es schließt mit zwei Beispielen diskursiver Räume, die Musiker, wie jener zwischen Oaxaca und Tuxtla, in den Texten ihrer Stücke konstituieren.
17 Der Begriff »Genre« bezeichnet in dieser Arbeit stets »musikalische Genres«. Ich bin mir der Problematik interdisziplinärer Unschärfe bewusst (vgl. Moore 2001). Jedoch war sowohl unter den von mir interviewten Musikern als auch unter Passagier/innen der entsprechende Begriff »género« üblich, um bestimmte Stücke von anderen zu unterscheiden. Daher habe ich mich in dieser Arbeit ebenfalls dazu entschlossen, den Begriff zu verwenden, und beziehe mich dabei auf Franco Fabbris Definition von »Musical Genre« als »a set of musical events (real or possible) whose course is governed by a definite set of socially accepted rules.« (Fabbri 1981: 52).
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Busmusiker, Räume und Orte
Es waren ihre Auftritte an Bord der Überlandbusse die músicos ambulantes, die Protagonisten dieser Arbeit, von anderen Musiker/innen unterschieden. Mit Straßenmusiker/innen in Fußgängerzonen und Metrostationen von Großstädten teilten sie die Besonderheit, dass Räume ihrer Performances nicht als solche vorgesehen waren (vgl. Harrison-Pepper 1990: 9 und Tanenbaum 1995: 1). Im Unterschied zu diesen urbanen Musiker/innen bestand das Publikum der Busmusiker aber nicht aus Passant/innen, die innehielten, Kreise bildeten und gingen, sobald sie der Performance müde wurden. Ihr Publikum in Überlandbussen bestand aus Passagier/innen, die gezwungen waren, der Performance beizuwohnen. Trotz dieses statischen Verhältnisses zwischen músicos ambulantes und ihrem Publikum befanden sie sich gleichzeitig in steter Bewegung durch Räume jenseits der Busfenster. Diese Räume ihrer Performances hatten entscheidenden Einfluss auf die Busmusiker und ihre Arbeit. Auf der anderen Seite verknüpften Musiker die Orte ihres Ein- und Ausstiegs durch ihre Performances zu Strecken, bewegten sich währenddessen durch die Busse und spielten auffällig häufig Stücke, deren Musik und Texte Referenzen an die durchreisten Räume darstellten. Die Musiker wurden also nicht nur von Räumen beeinflusst, sondern konstituierten durch ihre Handlungen selbst Räume. Aus dieser Wechselwirkung ergaben sich die zwei Forschungsfragen: Wie beeinflussten Überlandbusse und die Räume, durch die sie sich bewegten, die Busmusiker und ihre Performances? Und auf welche Art und Weise konstituierten Musiker durch ihre Performances Räume an Bord und außerhalb der Busse? Gegenstand dieses Kapitels ist ein relationales Raumkonzept, das es ermöglicht, dieses Verhältnis zwischen Räumen und Akteur/innen zu erfassen. Die räumliche Vielfalt aus materiellen, sozialen und diskursiven Elementen, die in Bezug auf die Musiker an Bord der Überlandbusse von Bedeutung waren, verlangte dabei nach einem interdisziplinären Ansatz.
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2.1 TOMÁS RAMÍREZ UND DIE RÄUME ZWISCHEN EL PAPAYO UND COYUCA Tomás Ramírez und ich betraten an der Haltestelle der kleinen Ortschaft El Papayo an der Costa Grande einen Bus der línea AMS, der sich auf der ruta Lázaro Cárdenas-Acapulco bewegte.1 Wir stiegen die Stufen in den klimatisierten Innenraum hinauf und, während ich bezahlte, mich am Fahrer vorbei in den Gang des Busses begab und in einen der ersten freien Sitze fallen ließ, begrüßte Tomás Ramírez den Fahrer mit einem überschwänglichen »Was gibt’s, Kollege?« und blieb neben dem Fahrersitz stehen, um ein paar Worte zu wechseln. Ich bereitete mein Aufnahmegerät vor und schnappte Fetzen ihrer Unterhaltung auf. Der Musiker erkundigte sich nach den Kontrollen, die in jüngerer Vergangenheit zu mehreren Entlassungen bei der línea geführt hatten: »Habt ihr immer noch solche Probleme mit den Inspekteuren?« – »Nicht mehr so wie früher,« erklärte der Fahrer, »am Anfang… Nein! Wie viel Ärger die uns gemacht haben!« Der Rest der Unterhaltung ging im Lärm des anfahrenden Busses unter. Tomás Ramírez musste kein Ticket lösen. Nachdem die beiden ihre Unterhaltung beendet hatten, machte der blinde Musiker einen Schritt an der Glasscheibe im Rücken des Fahrers vorbei in den Gang und tastete sich mit Hilfe der Rückenlehnen ins hintere Drittel des Busses. Auf dem Weg dorthin hielt er einen kurzen Monolog und zog, wie er später im Interview erklärte, aus den Reaktionen der Fahrgäste Rückschlüsse auf die Stimmung seines Publikums und darüber, wie es sich auf die Sitze des Busses verteilte. Den Eindruck, den sein aktuelles Publikum auf seinem Weg durch den Gang bei ihm hinterließ, kombinierte er mit seinen Erfahrungen, die er über Jahre in Überlandbussen entlang der Costa Grande gesammelt hatte. Im Gegensatz zu den Bussen der Kooperative AGC, deren Passagier/innen er in Interviews einen »nivel bajo«, einen »niedrigen Stand« attestierte, vermutete Tomás Ramírez bei den Passagier/innen der gepflegteren und etwas teureren línea AMS, in deren Bus wir uns befanden, einen weiteren Bildungshorizont. Im hinteren Drittel des Busses angelangt, spielte er entsprechend keine »música folclórica«, wie er sie nannte, sondern eine spanisch-sprachige Version des Stückes »My Way«, wobei er in der Einleitung großes Gewicht auf die kanadische Herkunft des Komponisten Paul Anka legte. Der Klang seiner Akkorde und seine kraftvolle Stimme beschallten den gesamten Innenraum des Busses, vermischten sich dabei mit dem monotonen Surren der Klimaanlage und den gedämpften Fahrtgeräuschen, die durch die verschlossenen Fenster des Busses ins Innere drangen, bevor sie schließlich die Ohren ihrer Empfänger/innen erreichten. Nach Ende seines ersten Stücks bewegte sich Tomás Ramírez einige Schritte in Fahrtrichtung bis zur Mitte des Ganges und verschob das Zentrum seiner Performance. Er überbrückte die Pause, die
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Die im folgenden Beispiel verwendeten Informationen entstammen einer Performance des Musikers Tomás Ramírez vom 8.10.2011 in einem AMS-Bus zwischen El Papayo und Coyuca de Benítez. Die Beschreibung basiert auf den entsprechenden Feldnotizen, dem Tagebucheintrag, der Audioaufnahme der Performance und einem Interview mit Tomás Rámirez im Anschluss an die Performance. Informationen über die durchreisten Räume entstammen den Notizen diverser Busreisen entlang desselben Abschnitts der MEX-200, Interviews mit Passagier/innen in Bussen an der Costa Grande Guerreros, oder sie sind entsprechend gekennzeichnet.
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keine/r der Passagier/innen mit Applaus füllen wollte, mit einer weiteren ausführlichen Einleitung zu seinem zweiten Stück des Brasilianers Roberto Carlos, in dessen Folge er sich für das letzte Stück von Ricardo Arjona – einem Guatemalteken, wie er betonte – in das vordere Drittel des Ganges begab. Währenddessen rollte der Bus über die langen Geraden und durch die sanften Kurven der MEX-200, die zwischen El Papayo und Coyuca de Benítez auf einem flachen Damm durch Kokos- und Mangoplantagen führte. Obwohl die Regenzeit schon ein paar Wochen zurücklag, erstreckten sich beiderseits der Straße riesige Pfützen und Tümpel, in denen die Stämme der Kokospalmen und Mangobäume verschwanden. Aus dem Wasser ragten Plastikflaschen, derer sich die Benutzer/innen der Bundesstraße aus den Fenstern vorbeifahrender Fahrzeuge entledigt hatten. Hinter den ebenen Plantagen erhoben sich linker Hand die ersten Hügel der Sierra Madre del Sur. Ganz in der Nähe waren 1995 in einem trockenen Flussbett bei Aguas Blancas Bauern auf dem Weg zu einer Demonstration von Polizisten ermordet worden.2 Nun erzählten sich die Leute an der Küste ehrfurchtsvoll, welch tollkühne und brutale Typen der Drogenkrieg in der sierra hervorbrachte.3 Rechter Hand musste sich hinter einem niedrigen, wenn auch steilen Bergkamm der Pazifik befinden, schließlich bewegte sich der Bus durch die Costa Grande. Obwohl der Ozean von diesem Abschnitt der MEX-200 aus nicht zu sehen war, bestimmte er das Leben der Menschen, die an ihr wohnten. In den Bussen reisten Händler/innen, die Fisch und Meeresfrüchte zu den großen Märkten brachten, auf den Verandas der Häuser am Straßenrand hingen Fischernetze und an den Busstationen erinnerten sich wartende Fahrgäste an die verheerenden Folgen der zahlreichen Zyklone, die die Küste in den vergangenen Jahrzehnten heimsuchten. 4 2011 war gerade dieser Abschnitt der MEX-200 zwischen El Papayo und Coyuca berüchtigt für
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»Dijeron los policías/ al grupo de campesinos,/ ›¡Todas las manos en alto!/ Si es que quieren seguir vivos.‹/ Ahí empezó la masacre/ y sonaron muchos tiros./ Fueron diecisiete muertos/ y como veintiocho heridos.« [»Die Polizisten sagten/ zu der Gruppe Bauern:/ ›Alle Hände hoch!/ Wenn ihr leben wollt.‹/ Dann begann das Massaker/ und es erklangen viele Schüsse./ Es gab 17 Tote/ und etwa 28 Verletzte.«] (Titel: Masacre en el Vado; Komponist: Gabriel Villanueva Noyola; Interpreten: Los Pajaritos del Sur; Album: Masacre en el Vado; Jahr: 1995) »Der Busfahrer erzählt nicht ohne Stolz von der hohen Dichte und der Vielfalt der Kraftausdrücke, die die Sprache der Männer an der Küste Guerreros prägten. Er prahlt sogar, sie hätten in ganz Mexiko den Ruf von valientes› die sich Brust an Brust töten‹. Trotz dieses harschen Konzeptes lobenswerter Eigenschaften verändert sich seine Miene, als er auf das Panorama der Sierra Madre del Sur, das sich am Horizont erstreckt, weist. Die Männer dort oben hätten keinen Respekt vor dem Leben. ›Sie töten Männer als seien sie Hunde,‹ sagt er und spricht plötzlich leiser, als könnten sie ihn dort oben hören.« (Tagebucheintrag vom 15.8.2010 in San Luis La Loma) »Unter dem Vordach des Terminals [in Tecpan de Galeana] laden mich zwei Wartende ein, mich zu ihnen zu setzen. Es sind ein Mann und seine Mutter. Die alte Frau fährt zum Markt nach Chilpancingo, um dort Käse zu verkaufen, den sie in ihrem Dorf an der Küste einkauft. Der Mann erzählt, dass 1961 der Zyklon Tara die Hälfte ihres Dorfes ins Meer getragen habe.« (Tagebucheintrag vom 14.8.2010 in Tecpan de Galeana).
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bewaffnete Überfälle auf Busse, weshalb nachts die Busse verschiedener líneas aufeinander warteten, um diesen Abschnitt der Gefahr gemeinsam als Kolonne zu durchqueren.5 Spielte Tomás Ramírez nicht gerade in einem Bus der línea AMS, so spielte er regionale corridos, die diese Geschichten erzählten oder er spielte boleros, von denen er sagte, dass sie beim Publikum der Costa Grande besser als jedes andere Genre ankamen. In den zehn Jahren, die Tomás Ramírez mittlerweile entlang der Costa Grande auftrat, war er für Busfahrer sowie für pendelnde und häufig reisende Passagier/innen selbst Teil dieses Abschnitts geworden. Sie kannten ihn und begrüßten ihn, wenn er im Gang an ihnen vorbeilief. Tomás Ramírez selbst war auf seiner Strecke längst mit jeder Kurve vertraut und wusste stets genau, wo sich der Bus gerade befand. Als dieser sich schließlich langsam über die topes hob, die dem blinden Musiker verrieten, dass er sich seinem Ein- und Ausstiegsort in Coyuca näherte, tastete er sich ein zweites Mal durch den Gang ans hintere Ende des Busses und bat die Passagier/innen mit geöffneter Hand um die coperacha, eine finanzielle Unterstützung für seinen Auftritt. Er bedankte sich beim Busfahrer, bevor wir vor dem Terminal in Coyuca ausstiegen und die Straßenseite wechselten, um auf den nächsten Bus in Richtung Lázaro Cárdenas zu warten. Diese Performance des blinden Tomás Ramírez illustrierte die Vielfalt räumlicher Ebenen, die sich während der Performances von Busmusikern entfalteten und bestanden. Der Bus, in dem er auftrat, passierte Transiträume auf der MEX-200 entlang der Costa Grande durch den mexikanischen Bundesstaat Guerrero. Das Fahrzeug bildete Teil der Flotte der línea AMS und bediente die ruta zwischen den Orten Lázaro Cárdenas und Acapulco, wobei Tomás Ramírez lediglich auf seiner Strecke zwischen El Papayo und Coyuca spielte. Der Musiker betrat den Busraum, wo er auf Fahrer und Passagier/innen traf. Durch seine Stimme, den Klang seiner Gitarre und die Interaktion zwischen ihm und seinem Publikum entstanden Performanceräume, deren Verhältnisse Tomás Ramírez mehrfach veränderte, indem er sich durch den Gang bewegte, während er in seinen Ansagen, seiner Musik und seinen Texten Ereignisse aus den lokalen Transiträumen entlang der MEX-200 verarbeitete oder bewusst den internationalen Charakter seiner Stücke herausstellte. In meiner Arbeit befasse ich mich mit der Rolle der Busmusiker in diesem räumlichen Wechselspiel, frage, welche Auswirkungen Räume auf ihre Tätigkeit an Bord der Busse hatten, und gehe der umgekehrten Frage nach, welche Räume Musiker durch ihre Performances konstituierten und wie sie dies taten. Beide Fragen verlangen nach einem theoretischen Fundament, das dabei hilft, die beschriebene räumliche Vielfalt und die Wechselwirkungen zwischen Räumen, Akteur/innen und Handlungen zu verstehen.
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Gespräch mit dem Busfahrer »Mario«, der lange Zeit für die línea Los Galgos zwischen Acapulco und Lázaro Cárdenas fuhr (Gespräch mit »Mario« in TER zwischen Buenavista de Cuéllar und Cuautla am 14.12.2011).
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2.2 EIN RELATIONALES RAUMKONZEPT Besonders auffällig am Wechselspiel verschiedener Räume während Tomás Ramírez Performance waren ihre auf den ersten Blick mal physischen, mal sozialen und mal virtuellen Eigenschaften. So trafen die blechernen Außenwände der Busse, auf die Beziehungen zwischen Musikern und Publikum und die narrativen Texte der gesungenen Stücke. Diese diversen Eigenschaften verlangten nach interdisziplinären Perspektiven. Im Zuge des »Spatial Turn«, den Edward W. Soja zunächst innerhalb der Humangeographie konstatierte (vgl. Soja 1989: 39), wurden Räume nicht mehr wie zuvor als rein physische, sondern als soziale Phänomene betrachtet. Der Begriff »Spatial Turn« entwickelte sich zu einer Schnittstelle, von der aus die Auseinandersetzung mit dem Raum in die Sozial- und Kulturwissenschaften Einzug hielt (vgl. z.B. Dünne 2006: 12; Döring und Thielmann 2008: 7). In Bezug auf die Musiker an Bord der Überlandbusse bieten sich vor allen Dingen soziologische Ansätze in ihrer Verbindung materieller und sozialer Elemente bei der Konstitution von Räumen an. Allerdings stoßen diese Ansätze bei der Analyse diskursiver und performativer Aspekte an ihre Grenzen. Deshalb ist es notwendig, sie durch Brücken zu performancetheoretischen, literatur- und musikwissenschaftlichen Konzepten zu ergänzen. Bereits die Referenzen zwischen Tomás Ramírez Performance und jenen Räumen, die jenseits der Fenster vorbeizogen, verdeutlichten, dass es sich bei Bussen keinesfalls um Behälter handelte, die hermetisch abgeschlossen auf Straßen durch eine bedeutungslose Kulisse rollten. Anhand der durchreisten Räume wählte Tomás Ramírez Genres, von denen er annahm, dass sie den dominanten Hörgewohnheiten der Costa Grande entsprächen. Wenn er nicht gerade in Bussen der línea AMS auftrat, spielte er häufig corridos, die von lokalen Ereignissen berichteten. So spiegelten, prägten, erweiterten oder veränderten diskursive Räume das Bild der Transiträume. Verschiedene Räume überlagerten sich, bewegten sich gegeneinander und wirkten aufeinander. Entsprechend ungeeignet ist daher ein Raumkonzept, das Räume als das so häufig herangezogene Bild der Container konzipiert.6 Vielmehr verlangt der Gegenstand meiner
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Der Begriff des »Container-Raumes«, der auf Albert Einstein zurückgeht (vgl. Einstein 1980: XV), bezeichnet die Vorstellung eines absoluten, unveränderlichen und daher zeitlosen Raumes, der – selbst passiv – Handlungen und Handelnde beinhaltet. Während dieses absolute Konzept weiterhin die Alltagswelt beherrscht, wurde der »Container-Raum« in der Physik durch Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie zum Bild einer antiquierten Raumvorstellung. [Einstein selbst allerdings bezeichnete die Auffassung von »Behältern« beziehungsweise »containern« im Gegensatz zur relativen »Lagerungs-Qualität der Körperwelt« differenzierter nicht nur als den neueren Raumbegriff, sondern auch als einen zunächst physikalisch notwendigen Schritt, bevor die Entwicklung über Umwege den Vertretern eines relationalen Raumbegirffs Recht gab (vgl. Einstein 1980: XVI).] Gegen Ende des 20. Jahrhunderts folgten zunächst Humangeograph/innen und später Wirtschafts-, sozial- und Geisteswissenschafter/innen und warfen ebenfalls die Vorstellung von Räumen als passive Container über Bord (vgl. z.B. in der Ökonomie Läpple 1991: 193; in der Soziologie Löw 2001: 34; in der Geschichte Rau 2013: 25; in den Theaterwissenschaften Fischer-Lichte 2004: 187 und McAuley 2000: 41).
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Arbeit nach einem relationalen Raumkonzept.7 Relationale Raumkonzepte beruhen, wie die Historikerin Susanne Rau zusammenfasst, auf der Annahme, »dass sich Raum und Gesellschaft gegenseitig konstituieren, das heißt, dass das soziale Zusammenleben Räume hervorbringt und dass umgekehrt Räume das Verhalten der Menschen beeinflussen.« (Rau 2013: 62) Die Soziologin Martina Löw ergänzt, die für meine Arbeit zentrale Erkenntnis, dass sich sowohl die an der Konstitution von Räumen beteiligten Gegenstände als auch Menschen immer in Bewegung befinden. Sie hebt also neben der Wechselwirkung zwischen Raum und Gesellschaft Zeit als eine wichtige Komponente hervor (vgl. Löw 2001: 34). Eine geeignete Metapher, die zum einen relationale Raumkonzepte illustriert und diese zugleich an den Gegenstand dieser Arbeit heranführt, bieten akustische Räume: Schallwellen breiten sich kugelförmig von ihrer Quelle aus und definieren die Grenzen des akustischen Raumes durch ihre Reichweite. Dieser akustische Raum besteht nur für die Dauer des Klangereignisses. Edmund Carpenter und Marshall McLuhan kommen entsprechend zu der Aussage: »[Acoustic Space is] a sphere without fixed boundaries, space made by the thing itself, not space containing the thing.« (Carpenter und McLuhan 1970: 67) Auch Raus Charakterisierung relationaler Raumkonzepte, dass Räume das Verhalten der Menschen beeinflussen, lässt sich anhand der Metapher des akustischen Raumes darstellen. So definieren Schallwellen nicht nur den Raum, sondern die physischen Eigenschaften des Raumes wirken auch auf die Schallwellen, ihren Verlauf und ihre Ausdehnung. Die Schallwellen werden durch Oberflächen und Hindernisse beeinflusst, alle Informationen über die physische Struktur des Raumes sind in ihnen enthalten (vgl. La Belle 2010: XVI). Gleich den Schallwellen in dieser Metapher konstituieren Handlungen Räume, die – abhängig von diesen Handlungen – nur zeitlich begrenzt bestehen. Auch andere Arbeiten über Musik und Räume vertreten eben dieses relationale Raumverständnis (z.B. Sterne 1997: 29; Forman 2002: 3) und berufen sich dabei auf das Zitat des französischen Soziologen Henri Lefebvre: »(Social) space is a (social) product.« (Lefebvre 1991: 26) Neben der Erkenntnis, dass Räume produziert werden, enthält Lefebvres Buch The Production of Space auch die hilfreiche Folgerung, dass jede Gesellschaft ihren eigenen Raum produziert (vgl. ebd.: 31). Dabei bestimmen Kapital, Vorstellungen und soziale Praktiken der jeweiligen Gesellschaft ihre Produktion des Raumes. Folglich spielen Machtverhältnisse bei der Konstitution von Räumen eine wichtige Rolle (vgl. ebd.: 98). 7
Während David Harvey zwischen »relative space« und »relational space« unterscheidet, indem er Ersteren als die Lage verschiedener Objekte zueinander und Letzteren als im Objekt liegende Referenz auf andere Objekte versteht (Harvey 1973: 13), werden die Begriffe »relational« und »relativ« oder »relativistisch« häufig synonym verwendet. Rau stellt hingegen fest, dass die beiden letzteren Begriffe als eigentlicher Gegensatz zum absoluten Raumverständnis zunächst Räume im Sinne von Gottfried Wilhelm Leibniz als Lagerelationen bezeichneten und später häufig mit Einsteins Relativitätstheorie in Verbindung gebracht wurden. Der Begriff »relational« jedoch bezeichnet laut Rau zwar ebenfalls ein Raumkonzept, das auf Lagerelationen basiert, betont jedoch die soziale Komponente bei der Konstitution von Räumen. Der Begriff bezieht sich auf die These, dass sich Raum und Gesellschaft gegenseitig konstituieren (vgl. Rau 2013: 62-63). In diesem Sinne verwende ich den Begriff »relational« in meiner Arbeit.
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Während diese Feststellungen Lefebvres meiner Arbeit wichtige Denkanstöße liefern, ist jedoch die sehr fixe Definition des zentralen Begriffes »product« in seinem vielzitierten Grundsatz mit dem Gegenstand meiner Arbeit weniger vereinbar. In der Tradition der marxistischen Theoriebildung definiert Lefebvre den Begriff wie folgt: »[A] product can be reproduced exactly, and is in fact the result of repetitive acts and gestures.« (Ebd.: 70) Die Definition des Begriffs »product« als exakt reproduzierbar widerspricht jedoch der Annahme, dass Performances, wie die Auftritte der Musiker an Bord mexikanischer Überlandbusse, eben niemals genau wiederholbar sind (vgl. Fischer-Lichte 2004: 127). Somit konnten die Räume, die durch die Performances der músicos ambulantes hervorgebracht wurden, keine Produkte in Lefebvres Sinne sein. Spacing und Syntheseleistung Dieter Läpple geht in seinem Aufsatz »Essay über den Raum« wie Lefebvre davon aus, dass Räume produziert werden, ohne allerdings den Begriff »Produkt« in so strikter Weise auszulegen. In Form vorläufiger Arbeitshypothesen entwickelt er ein relationales Raumkonzept, das er als »Matrix-Raum« bezeichnet und das die gesellschaftlichen Zusammenhänge – die Herstellung, Verwendung und Aneignung materieller Güter – bei der Konstitution von Räumen berücksichtigt (Läpple 1991: 194-197). Die Räume die sich im Wirken dieser gesellschaftlichen Zusammenhänge entfalten, sind nicht unmittelbar wahrnehmbar, sondern ergeben sich erst als »Resultat menschlicher Syntheseleistung, als eine Art Synopsis der einzelnen ›Orte‹, durch die das örtlich Getrennte in einem simultanen Zusammenhang, in ein räumliches Bezugssystem gebracht wird.« (Ebd.: 202) Martina Löw überträgt Läpples Hypothesen in die Soziologie. Dabei übernimmt sie seinen Begriff der »Syntheseleistung« und macht sie zu einem von zwei analytisch zu unterscheidenden Prozessen, die bei der Konstitution von Räumen wirken. Im anderen Prozess fasst sie die gesellschaftlichen Zusammenhänge, die Läpple im Wirken des »Matrix-Raumes« herausstellt, unter dem einen Begriff »Spacing« zusammen. Im »Spacing« werden soziale Güter an Orten platziert und in der »Syntheseleistung« werden soziale Güter zu Räumen zusammengefasst (vgl. Löw 2001: 204). In Bezug auf die in meiner Arbeit betrachteten Räume bietet sich dieses Raumkonzept als Grundlage an, denn es ist handlungsorientiert. Beide Bestandteile raumkonstituierender Prozesse, sowohl Spacing als auch Syntheseleistung, werden von Akteur/innen vollzogen und konstituieren sich folglich in der Zeit (vgl. ebd.: 131). Zumindest auf den ersten Blick entspricht das Raumkonzept folglich der ersten Hälfte der Metapher eines akustischen Raumes: Handlungen definieren Räume, die nur für die Dauer der Handlungen bestehen. Diese Handlungen lassen sich nun mit Hilfe der Begriffe »Syntheseleistung« und »Spacing« in zwei Prozesse unterteilen: Während die Schallwellen und die Position der Schallquelle dem Prozess des Spacings entsprechen, besteht die Syntheseleistung darin, Wellen und Quelle zu einem Raum zu fassen. Somit würde der akustische Raum erst durch Menschen, die diese Handlungen vornehmen, zu einem solchen. Auch in Bezug auf die zweite Hälfte der Metapher des akustischen Raumes, nämlich dass Räume Handlungen beeinflussen, bietet Konzept von Spacing und Syntheseleistung eine differenziertere Sicht. Löw schreibt: »Die Möglichkeiten, Räume zu konstituieren, sind […] immer auch von den in einer Handlungssituation vorgefundenen
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symbolischen und materiellen Faktoren abhängig.« (Löw 2001: 190) Löw stellt also fest, dass räumliche Anordnungen sozial vorstrukturiert sind. Strukturprinzipien wie Geschlecht und Klasse spielen folglich ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Konstitution von Räumen (ebd.: 190).8 Die differenzierte Annahme, dass nicht die Räume selbst, sondern die bei ihrer Konstitution vorgefundenen symbolischen und materiellen Faktoren Handlungen beeinflussen, bewahrt davor, Raum als Subjekt zu stilisieren. 9 Nichts desto trotz gehören andere, bereits bestehende Räume zu eben diesen symbolischen und materiellen Faktoren und beeinflussen die Konstitution neuer Räume. Um diese Präzisierungen einzufügen und die Metapher dem Gegenstand meiner Arbeit zu näherzubringen, lässt sich annehmen, dass es sich bei der Schallquelle um die Stimmbänder eines Musikers, der im Gang eines Überlandbusses singt, handelt. Die übrigen im Bus platzierten Objekte, wie Sitze und der Teppich unter ihnen, Fenster und die Vorhänge und nicht zuletzt die Körper der Passagier/innen haben Einfluss auf die Schallwellen, die vom Musiker und seinen Zuhörer/innen zu einem akustischen Raum synthetisiert werden. Zugleich ist die Anordnung dieser Objekte bereits Folge und Ursache des Busraumes, der ebenfalls als symbolischer und materieller Faktor die Konstitution des mit der Performance des Musikers verbunden akustischen Raumes beeinflusst. Ergänzungen zur Umsetzung des Konzeptes von Spacing und Syntheseleistung Die von Läpple und Löw herausgearbeiteten Prozesse von Spacing und Syntheseleistung stehen im Interesse, Räume von ihrem Stigma der Passivität zu lösen und die Wechselwirkungen zwischen materiellen und sozialen Faktoren zu berücksichtigen. Diese Verbindung macht das Konzept zu einem nützlichen Werkzeug, um eben diese Wechselwirkung in Bezug auf die Performances der Busmusiker in Südmexiko zu verstehen. Ihr Fokus auf die Verbindung zwischen materiellen und sozialen Faktoren lässt allerdings einige wichtige Aspekte des Gegenstandes meiner Arbeit unterbeleuchtet. Platzierung und Ortung Löw, die ihr Buch Raumsoziologie vor allen Dingen auf stadtsoziologische Studien zuschneidet, beschreibt den raumkonstituierenden Prozess des Spacings stets als eine aktive Platzierung von sozialen Gütern durch Akteur/innen. Obwohl sie davon ausgeht, dass auch bereits vorhandene Güter in die Raumkonstitution einfließen können (vgl. Löw 2001: 190), vernachlässigt sie jedoch den Prozess des Spacings in Bezug auf diese Güter, die im Laufe der konkreten Raumkonstruktion nicht physisch bewegt werden. Das Problem, das sich daraus ergibt, betrifft in besonderer Deutlichkeit geographische
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So zeigte sich beispielsweise, dass Busse eine wichtige Rolle bei der Stigmatisierung von Busmusikern als Bedürftige spielten (vgl. Kapitel 6.3) und beinahe keine Musikerinnen an Bord der Busse auftraten (vgl. Kapitel 3.1). Nicht nur Rau, sondern auch mehrere Geograph/innen betrachten Raumdeterminismus als gefährliche Analogie zum nationalsozialistischen Raumverständnis oder beklagen wiederum, dass die Angst, in Raumdeterminismus zu verfallen, die Auseinandersetzung mit Räumen lähme (vgl. Rau 2013: 38; Stockhammer 2005: 13-14; Soja 2005: 118).
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Objekte, wie beispielsweise Berge, die niemals von Akteur/innen physisch platziert wurden, aber auch jene Güter die im Zuge früherer Raumkonstitutionen platziert wurden. Güter dieser Art spielten eine zentrale Rolle, wenn beispielsweise Musiker Hindernisse, die die Fahrt der Busse bremsten, nutzten, um an Bord zu gelangen. In meiner Arbeit werde ich daher Löws Begriff »Spacing« erweitern, so dass er nicht mehr allein die Platzierung beziehungsweise die Verortung von Gütern bezeichnet, sondern auch ihre Ortung. Akteur/innen müssen dementsprechend soziale Güter nicht mehr notwendigerweise an einen Ort bewegen, sondern es handelt sich ebenfalls um Spacing, wenn Akteur/innen Güter als an einem bestimmten Ort wahrnehmen, um sie dann im Prozess der Syntheseleistung mit anderen Gütern zu Räumen zu fassen. Als Nachteil dieses weiteren Spacing-Begriffes erscheint zunächst, dass Löws wichtige Erkenntnis, dass soziales, ökonomisches und kulturelles Kapital des/der Einzelnen entscheidend seinen/ihren Handlungsspielraum bezüglich des Spacings begrenzen (vgl. ebd.: 212-213), Gefahr läuft relativiert zu werden. Tatsächlich sperrt sich der erweiterte Spacing-Begriff aber keinesfalls gegen die Annahme, dass Menschen mit größerem sozialem, ökonomischem oder kulturellem Kapital andere Möglichkeiten der Platzierung »primär materieller« sozialer Güter besitzen. Er berücksichtigt allerdings, dass diese Güter und ihre Platzierung nicht von allen gleich interpretiert werden müssen, und ermöglicht auf diese Weise eine genauere Betrachtung gegenkultureller Raumkonstitutionen. Zusätzlich bringt diese Erweiterung den Vorteil mit sich, dass allen Beteiligten eine aktivere Rolle bei der Konstitution von Räumen zukommt, und macht Löws Raumtheorie, wie sich zeigen wird, an musikwissenschaftliche und performancetheoretische Ansätze anschlussfähig. »Feedback-Schleife« und »Musicking«: Performancetheoretische und musikwissenschaftliche Ergänzungen Im anderen Extremfall, der Konstitution von Räumen zwischen Menschen, bieten Spacing und Syntheseleistung bereits hilfreiche Impulse. Obwohl Löws Fokus eher auf der Platzierung materieller sozialer Güter als auf dem räumlichen Verhältnis menschlicher Akteur/innen zueinander liegt, berücksichtigt sie, dass Menschen in die Konstitution von Räumen integriert werden: »Menschen werden durch Handlungen anderer Menschen positioniert, zum anderen positionieren sie sich aktiv.« (Löw 2001: 154) Daraus lässt sich bereits schließen, dass Passagier/innen während der Performances von Musikern in mexikanischen Überlandbussen nicht allein die Rolle im Bus platzierter Objekte spielten, sondern sich selbst aktiv positionierten. So wählten Passagier/innen ihren Sitzplatz im Bus, drehten sich während Performances zu den Musikern oder blickten aus dem Fenster, und gelegentlich schoben sie sich an Musikern im Gang vorbei, um den Bus zu verlassen.10 Um die Rolle von Musikern, Busfahrern und Passagier/innen bei der Konstitution von Räumen differenzierter betrachten zu können, bietet es sich jedoch an, das Konzept von Spacing und Syntheseleisung an dieser Stelle performancetheoretisch und musikwissenschaftlich anzureichern.
10 Zu den Rollen der Passagier/innen in den Performances der músicos ambulantes vgl. Kapitel 7.2.
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Der Begriff »Performance« entspricht in meiner Arbeit der Definition Erika Fischer-Lichtes, die allerdings in der Tradition der Theaterwissenschaften von »Aufführungen«11 spricht, wenn sie mit Bezug auf Max Hermann schreibt: »Es ist die leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern, welche eine Aufführung allererst ermöglicht, welche die Aufführung konstituiert. Damit eine Aufführung stattfinden kann, müssen sich Akteure und Zuschauer für eine bestimmte Zeitspanne an einem bestimmten Ort versammeln und gemeinsam etwas tun.« (Fischer-Lichte 2004: 47) Für meine Arbeit begründet diese Annahme die zentrale Bedeutung der Passagier/innen und Busfahrer als Publikum der Busmusiker. Erst sie verwandelten die Handlungen der Musiker in Performances. So wie Löw bemerkt, dass Menschen bei der Konstitution von Räumen platziert werden können, sich aber auch selbst platzieren, bricht auch Fischer-Lichte – genauso wie ihre Kollegin Gay McAuley (2000) und der Musikwissenschaftler Christopher Small (1998) – mit der traditionellen Aufteilung zwischen aktiven Performer/innen und passiven Zuschauer/innen. Sowohl in Fischer-Lichtes Buch Ästhetik des Performativen als auch in Smalls Musicking stehen die Wechselwirkungen zwischen Performer/innen und Publikum im Mittelpunkt. Small lenkt zunächst die Aufmerksamkeit vom musikalischen Werk auf die Performance und gelangt zur Betrachtung von Musik als gemeinsamer Tätigkeit aller Anwesenden und sogar im Moment der Performance abwesender Personen, wie beispielsweise der Komponist/innen. Dementsprechend spricht Small nicht von Musik, sondern wählt das alle Anwesenden einschließende Gerundium »musicking« (Small 1998: 9). Fischer-Lichte führt den Begriff der »autopoietischen feedback-Schleife«12 ein, um die Wechselwirkungen zwischen Publikum und Schauspieler/innen im Theater zu betonen. Zwischen allen Beteiligten ergibt sich ein komplexes Netzwerk aus Aktionen, Reaktionen und Einflüssen, das sich permanent verändert. Diese unzählbaren Faktoren der feedback-Schleife sind dafür verantwortlich, dass jede Performance unvorhersehbar und damit auch einzigartig und unwiederholbar ist (Fischer-Lichte 2004: 59).13 Die Überlegungen Fischer-Lichtes und Smalls sind mit Löws Raumkonzept kompatibel. Sie setzen, wenn auch mit Einschränkungen, ebenfalls ein relationales Raum-
11 Ich vermeide bewusst den Begriff »Aufführung«, wenn ich die Auftritte der Busmusiker bezeichne, da diesem Begriff das Konzept eines »Werkes« beziehungsweise »Dramas«, welches aufgeführt wird, innewohnt. Ein Konzept gegen dessen Bedeutungsschwere beispielsweise Christopher Small in Musicking (vgl. Small 1998: 4-11) aber auch Fischer-Lichte selbst argumentieren (vgl. Fischer-Lichte 2004: 43). 12 Der Begriff »Autopoiesis« suggeriert, dass die Prozesse zwischen Zuschauer/innen und Performer/innen in einem in sich geschlossenen System stattfinden, was der Absicht dieser Arbeit, das Zusammenspiel verschiedener räumlicher Ebenen zu betrachten, widerspricht. Daher werde ich im Folgenden lediglich von einer »feedback-Schleife« sprechen. 13 Gay McAuley beschreibt den gleichen Prozess als räumliches Verhältnis: »Actors are energized by the presence of the spectators, […] due to the live presence of both spectators and performers, the energy circulates from performer to spectator and back again, from spectator to performer and back again.« (McAuley 2000: 246)
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verständnis, das materielle Güter und soziale Handlungen mit einander verbindet, voraus (vgl. Small 1998: 29; vgl. auch McAuley 2000: 41).14 Diese Raumkonzepte aus den Theater- und Musikwissenschaften lassen sich also nicht nur in das Konzept von Spacing und Syntheseleistung übertragen, sie unterstreichen auch die Beziehungen einzelner Akteur/innen untereinander bei der Konstitution von Räumen. Genauso wie alle Anwesenden in Form einer feedback-Schleife aktiv an der Performance mitwirken, nehmen sie an der Konstitution der Räume der Performance teil. Räume der Performance entstehen folglich aus dem Spacing und der Synthese aller Anwesenden, die ihrerseits durch die Wechselwirkungen einer feedback-Schleife verbunden werden. Raum als Text und Text als Raum: Eine topographische Erweiterung Ein in Bezug auf meine Arbeit großes Problem des soziologischen Konzeptes von Spacing und Syntheseleistung ist die Vernachlässigung symbolischer sozialer Güter. In Läpples Arbeitshypothesen fließen Symbole und Zeichen nur an materielle »Symbolund Zeichenträger« gebunden, in die Konstitution von Räumen ein (vgl. Läpple 1991: 197). Auch Löw geht davon aus, dass einzig »primär materielle soziale Güter« als mögliche Bausteine im Prozess des Spacings platziert werden können. »Primär symbolische soziale Güter« werden hingegen aus ihrer Betrachtung ausgeklammert (Löw 2001: 153). Zu »primär symbolischen Gütern« zählt Löw an selber Stelle »Lieder«15. Diese Einschränkung bezüglich virtueller Räume muss also überwunden werden, um Raumkonstitutionen in Texten und Musik der Busmusiker zu analysieren und diskursive Räume einzubinden. Entsprechend bieten sich literaturwissenschaftliche Ansätze an, um das Konzept von Spacing und Syntheseleistung zu ergänzen. Doch bringt dieser interdisziplinäre Brückenschlag zwischen soziologischen und literaturwissenschaftlichen Raumkonzepten mehr Schwierigkeiten mit sich, als die theaterwissenschaftlichen Anleihen. So wird besonders in der europäischen Literaturwissenschaft in Anlehnung an einen Artikel Sigrid Weigels (vgl. Weigel 2002) häufig nicht vom »Spatial Turn« sondern von einem »Topographical Turn«16 gesprochen. Dabei liegt der Fokus nicht mehr wie in soziologischen Raumtheorien auf der materiellen Komponente, sondern auf der Beschreibung des Raumes. Der Raum ist nicht mehr Ursache und Ausgangspunkt der Erzählung, sondern wird selbst als eine Art Text betrachtet, dessen Zeichen sich semiotisch und grammatologisch entziffern lassen (vgl. Weigel 2002: 160). Somit bleibt
14 Fischer-Lichte verzichtet zwar nicht auf das Konzept eines fixen »geometrischen Raumes« in Form des Theatergebäudes, stellt diesem Konzept aber den »performativen Raum« entgegen (vgl. Fischer-Lichte 2004: 187). Als »performativen Raum« bezeichnet sie die sowohl physische als auch symbolische Gestaltung im Rahmen der durch den »geometrischen Raum« gegebenen Möglichkeiten. Dabei legt Fischer-Lichte bei ihren Ausführungen immer wieder das Augenmerk auf das räumliche Verhältnis zwischen Performer/innen und Publikum. 15 Es ist anzunehmen, dass Martina Löw ihre Aussage nicht auf das Genre »Lied« begrenzt, sondern mit dem Begriff umgangssprachlich Musikstücke im Allgemeinen bezeichnet. 16 Der Begriff »topographical« bezieht sich in diesem Zusammenhang nicht auf seine übliche spezifische Bedeutung als exakte Vermessung und Darstellung der Erdoberfläche, sondern viel weiter auf die Beschreibung des Raumes.
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der »Topographical Turn« der Literaturwissenschaften dem älteren »Kultur-alsText«-Paradigma eng verbunden (vgl. Döring und Thielmann 2009: 17). Diese Umwandlung von Räumen zu Texten bedeutet jedoch keinesfalls, dass nicht derselbe Weg auch in umgekehrter Richtung beschritten würde. Auch in den Literaturwissenschaften werden die Wechselwirkungen zwischen Repräsentationen von Räumen und materiellen Räumen berücksichtigt. So bemerkt Birgit Neumann in Bezug auf literarische Werke, dass diese die Raumordnungen ihrer Zeit spiegeln (vgl. Neumann 2009: 117) und bereits lange vor der Verkündung des »Topographical Turn« machte Edward Saids wegweisende Studie Orientalism (Said 1994) die raumpoietische Wirkung von Diskursen und Texten bekannt und wurde seitdem in zahlreichen Studien bestätigt (vgl. z.B. Neumann 2009 oder Ette 2009). In ähnlicher Form lenken musikwissenschaftliche Arbeiten ihren Blick auf die Rolle von Musik und Klang im Zusammenspiel mit materiellen Faktoren bei der Konstitution von Räumen. So verweist Grandmaster Flash in Murray Formans Buch The ’Hood Comes First auf Platzierungen der Musik verschiedener Soundsystems in unterschiedlichen Stadtteilen New Yorks in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren (vgl. Grandmaster Flash in Forman 2002: 67). Jonathan Sterne zeigt in seinem Artikel »Sounds like the Mall of America« die raumkonstituierende Wirkung von Musik und Klang in der größten Shopping Mall der USA: »In places like the Mall of America, music becomes a form of architecture. Rather than simply filling up an empty space, the music becomes part of the consistency of that space.« (Sterne 1997: 23) Robert Stockhammer stellt daher fest, dass es methodologisch vollkommen gleichgültig sei, ob Zeichen des Raumes oder eine Repräsentation desselben betrachtet werden (vgl. Stockhammer 2005: 16). Die Brücke, die er auf diese Weise zwischen materiellen und diskursiven Räumen schlägt, lässt sich auch von Seiten des soziologischen Konzeptes nutzen, um es auf die Konstitution diskursiver Räume in Texten und Musik der Busmusiker und deren Wirkung auf materielle Räume zu übertragen. Arbeiten des »Topographical Turn« zeigen also zum einen auf, dass »primär symbolische« soziale Güter durchaus platziert werden können. Ebenso wurden die Erzählungen der blutigen Auseinandersetzungen, die Tomás Ramírez in seinen corridos aufgriff, an konkreten Orten in der Sierra platziert. Zum anderen lässt sich folgern, dass »primär symbolische« Räume, beispielsweise in Beschreibungen, konstituiert werden können und ihrerseits auf die Konstitution vermeintlich materieller Räume wirken. Die Annahme, dass auch in Musik oder im Text soziale Güter, wenn auch primär symbolischer Form, platziert werden können, zieht die Konsequenz nach sich, dass auch Syntheseleistungen immer mit einem Spacing verbunden sind. Durch diese Ergänzung lassen sich folglich die raumpoietischen Wirkungen von Diskursen, Musik und Texten (vgl. Hallet 2009: 21) auf die materielle Raumordnung und umgekehrt die Wirkung materieller Raumordnungen auf Diskurse, Musik und Texte mit den Begriffen des Konzeptes von Spacing und Syntheseleistung erfassen.17 Das Konzept erhält 17 Allerdings hat eine solche Ergänzung des Konzeptes seinen Preis. Denn während Löw bereits selbst einräumt, dass die beiden Prozesse Spacing und Syntheseleistung nicht klar voneinander zu trennen sind, so bieten ihr die Kategorien »materiell« und »symbolisch« zumindest die Möglichkeit einzelne Aspekte eher dem Spacing oder eher der Syntheseleistung zuzuordnen. Die Annahme, dass sich auch »primär symbolische« soziale Güter platzieren lassen und somit zum Spacing gezählt werden können, verwischt die Grenzen zwischen beiden
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auf diese Weise Anschluss an Michel de Certeaus These der zentralen Rolle von Erzählungen bei der Konstitution von Räumen: »[Eine Erzählung] ›beschreibt‹ nur, aber ›jede Beschreibung ist mehr als eine Festschreibung‹, sie ist ein ›kulturell schöpferischer Akt‹. Wenn eine Reihe von Umständen zusammenfällt, hat sie sogar eine distributive Macht und eine performative Kraft (sie macht, was sie sagt). Somit schafft sie Räume. Umgekehrt gilt, dort wo die Erzählungen verschwinden […], gibt es einen Raumverlust[.]« (de Certeau 1998: 228)
Orte Zwischen El Papayo und Coyuca spielte der Musiker Tomás Ramírez im Laufe seiner Performance an drei verschiedenen Punkten im Gang des Überlandbusses und stand dabei jeweils in einem bestimmten räumlichen Verhältnis zu den Passagier/innen, die ihm zuhörten, und Objekten an Bord des Busses. Gleichzeitig rollte derselbe Bus über die MEX-200 entlang der Costa Grande vorbei an Siedlungen und Haltestellen, über Brücken und topes, vermeintlich fixe Punkte der Transiträume, die in ihrem Verhältnis zu den Menschen im Bus jedoch flüchtig waren. Wenn Tomás Ramírez umgekehrt im Bus der línea AMS einen bestimmten Punkt im Gang zwischen den Passagier/innen als Zentrum seiner Performance wählte, so blieb er aus der Perspektive der Fahrgäste zumindest für die Dauer eines Stückes an diesem Punkt stehen. Im Verhältnis zu Transiträumen bewegte sich dieser relativ fixe Punkt im Busraum nichtsdestotrotz mit der Geschwindigkeit des Busses über die MEX-200. So ließ sich Michel Foucaults Aussage, dass ein Zug ein außergewöhnliches Bündel von Relationen sei (Foucault 2006: 320), ebenso über einen mexikanischen Überlandbus treffen. Die Punkte, die entsprechend der räumlichen Ebene aus der sie betrachtet werden mal fix und mal flüchtig erscheinen, verlangen nach einer Definition des Begriffes »Ort«. So nennt auch Löw die Unterscheidung zwischen »Raum« und »Ort« eine wesentliche Begriffsbestimmung (vgl. Löw 2001: 199) Im Zuge des Spacings erzeugt jede Platzierung sozialer Güter Orte und umgekehrt werden Räume an Orten lokalisiert, wenn letztere im Zuge der Syntheseleistung zusammengefasst werden (ebd.: 272-273). Wie bereits erwähnt ist Löws Definition des Begriffes »Ort« jedoch nicht vollständig mit dem Gegenstand meiner Arbeit vereinbar, da sie Orte als stets materiell betrachtet und an Grund und Boden knüpft. Obwohl sie annimmt, dass an einem Ort verschiedene Räume entstehen und nebeneinander sowie in Konkurrenz zueinander existieren können (vgl. ebd.: 273), setzt sie für Orte selbst offensichtlich ein einziges absolutes Referenzsystem voraus. Sie erweckt damit den Eindruck, Orte seien fix und, mögen auch mehrere Räume an einem Ort entstehen, transzendierten Orte alle räumlichen Ebenen. Tomás Ramírez Beispiel im fahrenden Bus zeigt jedoch, dass auch Orte in meiner Arbeit ein relationales Verständnis erfordern. So gehe ich in dieser Arbeit zwar davon aus, dass Orte im Zuge des Spacings entstehen, allerdings sind sie dabei nicht Koordinaten eines absoluten Referenzsystems, das in allen Räumen gleichermaßen gilt, sondern vielmehr in ihrer Relation zu anderen Orten des konstituierten Raumes konkret benennbar und einzigartig. Prozessen weiter. Als Unterscheidungsmerkmal beider Prozesse muss daher gelten, dass das Spacing die Platzierung, beziehungsweise Ortung, einzelner Güter umfasst, während durch die Syntheseleistung mehrere Güter zu Räumen gefasst werden.
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Um die Begriffe »Ort« und »Raum« deutlich voneinander zu unterscheiden, begreife ich Orte zudem nicht als einen besonders kleinen Raum oder eine besonders kleine Fläche, sondern folge Tim Ingold in der Annahme, dass sich Orte nicht über ihre Ausdehnung beziehungsweise ihre Grenzen, sondern vielmehr über ihre Zentren definieren (vgl. Ingold 2002: 192).
2.3 TRANSITRÄUME, BUSRÄUME UND PERFORMANCERÄUME Die Vielfalt der Räume, die das Beispiel der Performance des Busmusikers Tomás Ramírez zu Beginn dieses Kapitels offenlegt, verlangt nach Ordnung und Hierarchisierung. Die verschiedenen Räume, die im Zusammenhang mit den Performances der músicos ambulantes durch Spacing und Syntheseleistung konstituiert wurden, lassen sich drei räumlichen Ebenen zuordnen: Transiträume, Busräume und Performanceräume.18 Auf der Ebene der Transiträume sind sämtliche Räume zusammengefasst, die die Busse und mit ihnen Passagier/innen, Busfahrer und Musiker durchquerten. 19 Obwohl diese durchreisten Räume selbst keinesfalls fix und unbeweglich sein mussten, war ihr Verhältnis zu den bewegten Bussen und deren Passagier/innen flüchtig. Auf der Ebene der Transiträume befindet sich zugleich jener »Raum«, den zahlreiche Arbeiten im Zuge der Moderne beziehungsweise später als Folge der Globalisierung im Verschwinden begriffen sehen.20 Für Passagier/innen, vor allen Dingen aber für die Busfahrer, die ihre Busse durch Transiträume lenken mussten, und die Busmusiker, die in ihrer Mehrzahl in eben jenen vermeintlich im Verschwinden begriffenen Räumen lebten, spielten Transiträume jedoch eine zentrale Rolle. Musiker mussten bereits am Straßenrand die Aufmerksamkeit der Busfahrer auf sich lenken und ihre Platzierung zugleich mit anderen Busmusikern aushandeln. So ergaben sich aus der Organisation der músicos ambulantes untereinander Räume, in denen sich Hierarchien spiegelten, wenn einzelne Musiker gegenüber anderen exklusive Räume für ihre Performances absteckten.21 Passagier/innen und Busfahrer wiederum verbanden mit bestimmten Transiträumen ein hohes Überfallrisiko.22 Musiker platzierten Genres und konstituierten auf diese Weise musikalische Transiträume, die sie durch die Wahl ihrer Stücke an Bord
18 Der Plural »Räume« beinhaltet, dass es sich niemals um einen einzelnen Raum, sondern stets um eine Vielzahl handelte. Denn Räume ließen sich zum einen immer weiter untergliedern oder umgekehrt als Element größerer Räume fassen und wurden zum anderen von allen beteiligten Akteur/innen jeweils unterschiedlich konstituiert. 19 Rau bezeichnet diese Räume in ihrer Typologie als »Transitionsräume« oder »Durchgangsräume« (Rau 2013: 144). 20 Zur vermeintlichen Vernichtung der »Zwischenräume« vgl. Kapitel 5.1. 21 Zu den umkämpften Einstiegsorten vgl. Kapitel 5.2 und 5.3. 22 Zu diesen »Strecken der Angst« und ihrem Einfluss auf die Arbeit der músicos ambulantes vgl. Kapitel 5.4.
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der Busse reproduzierten23 oder verarbeiteten lokale Ereignisse aus durchreisten Räumen in ihren Texten.24 Daher hatten Transiträume großen Einfluss auf Busräume und Performanceräume, die ihrerseits – reich an Referenzen auf Transiträume – den Kreis wieder schlossen. Die Ebene der Busräume umfasst nicht allein den Innenraum der Busse, der durch Wände, Dach und Unterboden der Fahrzeuge definiert wurde. Zu den Busräumen zähle ich auch die als »líneas« bezeichneten Transportgesellschaften, deren Busse wiederum auf bestimmten »rutas« durch Transiträume fuhren. Líneas ließen sich auch »servicios«, Serviceklassen, zuordnen.25 An Bord ließen sich die Busse in Fahrgast- und Fahrerräume untergliedern. Letztere waren die Arbeitsräume der Busfahrer, mit denen músicos ambulantes ihren Zustieg aushandeln mussten.26 Zu den Performanceräumen zählen zum einen die feedback-Schleifen die sich aus Aktionen und Reaktionen zwischen músicos ambulantes und ihrem Publikum an Bord der Busse entfalteten. Zum anderen traten deutlicher als auf den Ebenen der Busräume und der Transiträume Diskurse bei der Konstitution von Performanceräumen hervor. In Texten, Musik und Monologen der Musiker wurden »primär symbolische« soziale Güter platziert und sowohl zu rein diskursiven Räumen als auch in Verbindung mit materiellen Gütern synthetisiert. Am offensichtlichsten zeigte sich dies, wenn Musiker Haltestellen ausriefen. Taten sie dies noch vor ihrem Einstieg an der Tür des Busses zeichneten sie für die wartenden Passagier/innen die ruta des eingefahrenen Busses nach, riefen sie die Haltestellen an Bord des Busses aus, verorteten sie den Bus in Transiträumen. Ebenso enthielten die Texte der Musiker eine Vielzahl an Ortsangaben, die sich sowohl innerhalb der Texte diskursiv zu Räumen konstituieren ließen, aber gleichzeitig bewusst von músicos ambulantes als Referenzen an Transiträume gewählt wurden.27 Ein gutes Beispiel dafür bot der in der Einleitung zitierte Text des unbekannten Musikers auf der MEX-190 in Oaxaca. Die räumlichen Ebenen waren keinesfalls klar voneinander getrennt, sondern durchzogen und beeinflussten einander. Die »Strecken« der Musiker verbanden alle drei räumlichen Ebenen. Mit dem aus der Mathematik gewählten Begriff »Strecke« bezeichne ich die Abschnitte zwischen zwei Orten auf einer ruta, die Musiker als Einbeziehungsweise Ausstiegspunkte wählten.28 Bei diesen Orten handelte es sich um besondere Orte in Transiträumen, wie topes, Kreuzungen oder retenes, die Musiker aufgrund ihrer Abstände zueinander, ihrer besonderen Infrastruktur und ihrer Erreichbarkeit wählten. Gleichzeitig lagen die Strecken der Musiker auf den rutas bestimmter líneas. So spielten sie nicht notwendigerweise auf allen líneas, die ihre Ein- und Ausstiegspunkte miteinander verbanden. Sie waren also in dieser Hinsicht eher an die Busräume gekoppelt als an die Straßen, über die sich die Busse bewegten. An Bord der 23 24 25 26
Zur Platzierung regionaler Genres vgl. Kapitel 5.5. Zur Platzierung lokaler Ereignisse in corridos vgl. Kapitel 7.3. Zu líneas, rutas und servicios vgl. Kapitel 6.1. Zu der Unterteilung in Fahrer- und Fahrgasträume vgl. Kapitel 6.1 und zur Rolle der Busfahrer vgl. Kapitel 6.2. 27 Zu Platzierungen und Synthesen in Texten vgl. Kapitel 7.3 und 7.4. 28 Da Busmusiker in Bezug auf die von mir als »Strecken« bezeichneten Abschnitte ebenfalls von »rutas« sprachen, war ein neuer Begriff notwendig, um die Bewegungen der Musiker von denen der Busse zu unterscheiden.
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Busse bestimmten die Strecken die Dauer der Performances der músicos ambulantes und flossen als zeitlicher Faktor in die Konstitution der Performanceräume ein. Das wichtigste Bindeglied zwischen den Ebenen bildeten jedoch die Beteiligten der Performances. Während Tomás Ramírez im Gang des Busses der línea AMS, der sich über die MEX-200 entlang der Costa Grande bewegte, die Aufmerksamkeit der Passagier/innen und des Fahrers mit dem Stück »My Way« auf sich zog, befanden sich sämtliche Insass/innen des Busses gleichzeitig in Transiträumen, Busräumen und Performanceräumen. Zusammenfassung Im Zentrum meiner Arbeit stehen die zwei Fragen, welche Auswirkungen Räume auf die Tätigkeit der Musiker an Bord der Überlandbusse haben und welche Räume Musiker durch ihre Performances konstituieren. Den Fragen liegt ein relationales Raumverständnis zugrunde. Mit Lefebvres Aussage »(Social) space is a (social) product« gehe ich davon aus, dass Räume nicht gegeben sind, sondern vielmehr Ergebnis sozialer Handlungen. Lefebvre formuliert allerdings eine sehr starre Definition des Begriffes »product« und legt großen Wert auf die Reproduzierbarkeit von Räumen, die letztendlich mit der Unwiederbringlichkeit von Performances nicht vereinbar ist. Daher betrachte ich die Konstitution von Räumen mit Läpple und auf diesem aufbauend Löw als Ergebnis zweier analytisch zu unterscheidender Prozesse: Spacing und Syntheseleistung. Das Spacing bezeichnet die Platzierung sozialer Güter und Menschen, die in der Syntheseleistung zu Räumen gefasst werden. Dabei werden Räume niemals aus dem Nichts konstituiert, stattdessen fließen stets in der Handlungssituation vorgefundene materielle und symbolische Faktoren ein. Der Vorteil dieses handlungsorientierten Konzeptes besteht in der Möglichkeit, materielle und soziale Faktoren bei der Konstitution von Räumen miteinander zu verknüpfen. Jedoch verlangte das Konzept von Spacing und Syntheseleistung einige Erweiterungen und interdisziplinäre Brückenschläge, um den Gegenstand meiner Arbeit vollständig beleuchten zu können. Sämtliche Veränderungen, die ich an diesem Konzept vornehme, um es in Bezug auf meine Arbeit operationalisierbar zu machen, beziehen sich auf den von Löw formulierten Prozess des Spacings. Die erste Veränderung betrifft die Definition der Handlungen, die als Spacing bezeichnet werden. Die Platzierungen im Spacing erscheinen bei Löw stets als Transport sozialer Güter an einen bestimmten Ort und somit als Handlung einzelner beziehungsweise weniger, während diese Güter dann von vielen zu Räumen synthetisiert werden. So bleiben nicht von Menschen bewegte Elemente, wie Berge oder Flüsse, ebenso wie im Rahmen anderer Raumkonstitutionen bewegte Elemente außen vor. Einer großen Mehrheit der an Raumkonstitution beteiligten Akteur/innen wird somit eine aktive Teilnahme am Spacing-Prozess abgesprochen. Statt allein von Platzierungen beziehungsweise Verortungen als Bestandteil des Spacings auszugehen, betrachte ich daher Ortungen, also die Wahrnehmung eines Gutes oder eines Menschen an einem bestimmten Ort, ebenfalls als Form des Spacings. Die zweite Veränderung betrifft die platzierten sozialen Güter, da Löw ausschließlich materielle Güter als im Spacing platzierbar betrachtet. Diese Annahme schließt die Konstitution diskursiver Räume, die durch Musik und Texte der Busmusiker entstehen, aus. Kulturwissenschaftliche Arbeiten des so genannten »Topographical Turn«
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zeigen jedoch zum einen, dass Diskurse materielle räumliche Strukturen spiegeln, und zum anderen, dass auch Diskurse über eine raumpoietische Wirkung verfügen. So stellt Stockhammer fest, dass sich Repräsentationen von Räumen in gleicher Weise betrachten lassen, wie die Zeichen der Räume selbst. Daher beziehe ich in meiner Arbeit symbolische Platzierungen in Texten und Musik als Bestandteil der Konstitution diskursiver Räume mit ein und gehe davon aus, dass auch symbolische Güter an materiellen Orten als Teil von Spacing-Prozessen platziert und in Syntheseleistungen zu Räumen gefasst werden können. Zudem ergänze ich das Konzept von Spacing und Syntheseleistung mit performancetheoretischen und musikwissenschaftlichen Konzepten, da schließlich Performances von Musikern vor Passagier/innen und Busfahrern in Überlandbussen im Zentrum meiner Arbeit stehen. Während Spacing und Syntheseleistung bereits berücksichtigen, dass nicht nur Objekte, sondern auch Menschen platziert werden, sich selbst platzieren und zu Räumen gefasst werden, werfen Fischer-Lichtes Konzept der »feedback-Schleife« und Smalls Begriff »Musicking« Licht auf die Beziehungen der Akteur/innen untereinander. Sie unterstreichen, dass nicht nur einzelne bei der Konstitution von Räumen aktiv sind, sondern Performer/innen und Publikum in einer fortwährenden Wechselwirkung befinden, so dass sich die Grenzen zwischen beiden Gruppen auflösen. Auch bezüglich des Begriffs »Orte« erweitere ich das Konzept von Spacing und Syntheseleistung. Löw knüpft den Begriff »Ort« an Grund und Boden und setzt – entgegen ihres eigenen relationalen Raumverständnisses – ein fixes und vor allen Dingen absolutes Referenzsystem, dass sämtliche Räume transzendiert, fest. Die Räume, die ich in meiner Arbeit betrachte, befinden sich jedoch in Bewegung zueinander. Es ist daher notwendig, Orte zwar als Ergebnis von Platzierungen jedoch vor allen Dingen in ihrem Verhältnis zu anderen Orten im jeweils konstituierten Raum zu betrachten. Zusätzlich unterscheide ich in meiner Arbeit zwischen Räumen und Orten, da ich Orte nicht in Bezug auf ihre Ausdehnung, sondern nach Ingold in Hinblick auf ihr Zentrum definiere. Außerdem ordne ich in diesem Kapitel die Vielfalt der Räume, die die Performances der músicos ambulantes beeinflussten und die durch die Performances konstituiert wurden, drei verschiedenen räumlichen Ebenen zu, die auch den Hauptteil dieser Arbeit gliedern: Transiträume, Busräume und Performanceräume. Zu der Ebene der Transiträume zähle ich sämtliche Räume, die die Busse und mit ihnen Passagier/innen, Busfahrer und Musiker durchquerten. Die Ebene der Busräume umschließt nicht nur jene Räume an Bord der Busse, sondern auch so genannte líneas, Transportgesellschaften, die einzelne Busse zu Räumen zusammenfassen, oder rutas, die Orte in Transiträumen verbanden. Auf der Ebene der Performanceräume betrachte ich Räume, die die Wechselwirkungen zwischen Musikern und Publikum an Bord der Busse hervorbrachten. Zu den Performanceräumen gehörten zudem die diskursiven Räume, die músicos ambulantes in ihrer Musik, ihren Texten und ihren Monologen konstituierten.
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Methoden einer Feldforschung in Bewegung »Hallo, guten Tag! Entschuldigen Sie die Störung! Ich bin ein Student aus Deutschland und schreibe eine Arbeit über Busse in Mexiko. Deshalb interviewe ich Passagiere. Falls Sie nichts dagegenhaben, würde ich Ihnen gerne ein paar Fragen stellen. Es dauert nicht länger als fünf Minuten.« Vorstellung bei Passagier/innen vor Interviews festgehalten am 9.12.2011
So oder so ähnlich stellte ich mich Passagier/innen an Bord der Überlandbusse vor, um sie um ein Interview zu bitten – immer wieder, ein- oder zweimal pro Sitzbank eines jeden Busses, in dem ich Interviews führte. Zuvor hatte ich mich dem Busfahrer vorgestellt, meine Motive erläutert und um Erlaubnis gefragt, die Passagier/innen seines Busses um Interviews zu bitten. All das passierte, lange nachdem ich über mehrere Monate músicos ambulantes in Überlandbussen gesucht, angesprochen und sie über meine Absichten informiert hatte, sie im besten Fall interviewen und begleiten durfte, auf Grundlage ihrer Bewegungen die relevanten rutas ermittelt hatte, auf denen ich wiederum Busfahrer ansprach, um letztendlich im Gang ihres Busses hockend Passagier/innen mit den zitierten Worten anzusprechen. Meine Feldforschung brachte nicht das eine »tale of entry« hervor, das Vincent Crapanzano als Klischee der Ethnographie beschreibt (vgl. Crapanzano 1986: 69). Auch wenn ich den zentralen Akteur/innen über nahezu die gesamte Zeit meiner Forschung1 folgte, war meine Feldforschung vom steten Fluss Unbekannter, mit denen die músicos ambulantes interagierten, geprägt. Die fortwährende Bewegung, in der sich meine Feldforschung befand, bedeutete jedoch nicht allein, dass ich mich und meine Absichten ständig neu einführen musste, sondern erforderte auch spezielle Methoden (vgl. Marcus 1995: 95; Welz 2008: 203 und Jain 2009: 92). Es galt, die Bewegungen
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Im Rahmen dieser Arbeit unternahm ich drei Forschungsaufenthalte in Mexiko in 2010, 2011 und 2013 von fünf, vier und anderthalb Monaten Länge. Der erste Aufenthalt beinhaltete die Suche nach Musikern in Überlandbussen, teilnehmende Beobachtung, erste Interviews und Gespräche und die Auswahl jener Musiker, mit denen ich im Folgenden zusammenarbeitete. Während des zweiten Aufenthaltes führte ich mit den Musikern Leitfrageninterviews, begleitete Musiker und Busfahrer bei ihrer Arbeit und interviewte Passagier/innen. Im Zuge des dritten Forschungsaufenthaltes war es mir in Interviews möglich, Antworten auf offene Fragen, die sich aus meiner fortschreitenden Arbeit ergeben hatten, zu erhalten.
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der Musiker, die vielen einzelnen Busse, in denen sie spielten, und die Straßen, über die sie währenddessen fuhren, in Forschungsräume zu fassen.
3.1 FORSCHUNGSRÄUME: DIE METHODISCHE UMSETZUNG DES RELATIONALEN RAUMKONZEPTES Durch den theoretischen Fokus meiner Arbeit kam den Räumen meiner Forschung besondere Bedeutung zu. Auch diese Räume waren keine passiven Hintergründe oder umfassende Container, in denen ich die Handlungen meiner Forschung vollzog, sondern Resultat meiner Platzierungen und Ortungen, der Platzierungen der Protagonisten meiner Arbeit und meiner Synthesen. Daher galt es im Einklang mit dem theoretischen Fundament Forschungsräume zu definieren, die sich an den Musikern, den übrigen Akteur/innen und ihren Bewegungen orientierten. So waren die Räume meiner Feldforschung nicht ihr Ausgangspunkt, sondern vielmehr eines ihrer Ergebnisse. Während ich meine Suche nach Akteur/innen mit anfänglichen Hypothesen begann, legten schließlich die Handlungen der Musiker und meine eigenen Bewegungen relationale räumliche Zusammenhänge offen. Dabei handelte es sich zum einen um konkrete Räume, die eng mit verschiedenen Aktivitäten meiner Feldforschung verbunden waren, nämlich Fahrer- und Fahrgasträume der Busse, jene Räume am Straßenrand, die sich an Endpunkten der Strecken der Musiker befanden, und die Wohnhäuser der Musiker und deren unmittelbares Umfeld. Zum anderen ergaben sich komplexere Räume aus den Bewegungen mehrerer Musiker, die in Verbindung zueinanderstanden: die Streckennetze. Die Suche nach Musikern in Bewegung Ich startete meine Suche in einem sehr grob begrenzten Raum zwischen Mexiko-Stadt und der Pazifikküste, der die Bundesstaaten Morelos, Puebla, Oaxaca und Guerrero einschloss. Meine Wahl fiel auf diese Region, da zum einen die wenigen Hinweise der Literatur (Wald 2002: 232) dort eine gewisse Dichte an Busmusikern vermuten ließen und ich zum anderen selbst auf früheren Reisen vor allen Dingen in den Bundesstaaten Guerrero und Oaxaca am häufigsten Busmusikern begegnet war. Zusätzlich bestärkten mich in dieser Annahme ein Interview und Gespräche, die ich mit dem ehemaligen Busmusiker Andrés Contreras in Mexiko-Stadt führte. Im Gegensatz zu Wald, der Musiker an der Costa Chica des Bundesstaates Guerrero begleitete, verwies Andrés Contreras jedoch auf die Zona Norte Guerreros und den angrenzenden Bundesstaat Morelos: »Rund um Cuernavaca. Drüben in Cuernavaca gehst du an die Haltestellen von Bussen nach Jocotepec, nach Cuautla und denen, die nach – wie heißt es gleich – Milcingo fahren, nach Guerrero, Iguala… Sie bewegen sich zwischen all diesen Orten. Ich glaube nirgendwo singen sie mehr in Bussen als in dieser Gegend, in Morelos und Guerrero.« (Contreras, Andrés 6.8.2010)
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Um Busmusiker zu finden und mit ihrer Hilfe die Räume meiner Forschung weiter zu präzisieren, fuhr ich in Bussen durch diese provisorischen Forschungsräume südlich der Hauptstadt. Ich beschränkte meine Suche dabei überwiegend auf rutas des servicio económico entlang mautfreier Bundesstraßen und Landstraßen, da sich aufgrund der Eigenschaften höherer servicios2 recht schnell abzeichnete, dass es deutlich unwahrscheinlicher war, in den direkten Bussen des servicio de primera auf Busmusiker zu stoßen. Unterwegs halfen mir Gespräche mit Busfahrern bei meiner Suche. Die Busfahrer arbeiteten auf vielen verschiedenen rutas ihrer líneas und konnten somit über ein sehr weites Netz an rutas und Straßen Auskunft geben. Dennoch beeinflussten sehr viele weitere Faktoren die Suche nach Busmusikern. So mussten wir zur gleichen Zeit auf derselben Strecke unterwegs sein und der Musiker durfte nicht gerade in einem Bus in Gegenrichtung spielen. Ich musste in einem Bus mit einem dem Musiker freundlich gesonnenen Busfahrer sitzen und das Wetter musste es dem Musiker erlauben, am Straßenrand auf Busse zu warten. Deshalb war es großes Glück, als ich bereits auf einer der ersten Fahrten in einem Bus der línea ERCO entlang der MEX-190 auf den Musiker Efraín Balbuena traf: »Im kleinen Ort Nuevos Horizontes, taucht plötzlich ein Musiker im Gang des Busses auf. Obwohl ich die ganze Zeit den Straßenrand beobachtet habe, ist mir vollkommen schleierhaft, wo er genau zugestiegen ist, denn wir haben nicht wirklich gehalten. Vielleicht befindet er sich bereits seit dem Abzweig nach Tlapa de Comonfort im Bus. Er trägt einen weißen Westernhut und ein derbes Hemd. Ich bin sehr aufgeregt und, während ich mich innerlich darauf vorbereite, ihn anzusprechen, bekomme ich von seinem eigentlichen Auftritt nur wenig mit. […] Als er nach dem dritten Stück von vorne nach hinten durch den Gang geht und um eine Spende bittet, gebe ich ihm 20 Pesos. Unsicher, ob 20 Pesos nicht eventuell zu dick aufgetragen waren, lasse ich ihn erst nach hinten durchgehen, nehme meinen Mut zusammen und spreche ihn auf dem Rückweg Richtung Fahrer an. Meine Nervosität ist vollkommen unbegründet. Er ist sehr offen, erklärt mir nicht nur, dass er sehr oft auf dieser Strecke unterwegs sei, er schreibt mir auch gleich seine Adresse auf und bedauert, dass er kein Telefon habe. Wir verabreden uns für nächsten Mittwoch in seinem Haus.« (Tagebucheintrag vom 26.7.2010 in ERCO zwischen Puebla und Huajuapan de León)
Während ich Efraín Balbuena folglich das erste Mal an Bord eines Busses in Bewegung traf, erwies es sich bald als effektiver, Busfahrer und Passagier/innen nach Einstiegsorten von Busmusikern zu befragen, und dort zu warten. Mit dieser Methode begegnete ich Hexiquio Hernández vom »Dueto Águila y Sol«, als er an der Ausfahrt des Terminals in Iguala auf einen Bus wartete: »Ich gehe […] der Empfehlung des Busfahrers nach und stelle mich an die Ausfahrt des Busterminals. […] Die Händler, die dieses Nadelöhr noch enger machen, bestätigen mir, dass es jede Menge Musiker gebe, die hier in Busse einsteigen. ›Die sammeln sich an der Eisdiele.‹ Tatsächlich taucht nach kurzer Zeit ein Mann mit einer Gitarre und dem für die Region typischen Hut auf und isst Tacos vor der Mauer des Terminals. Er macht erst einen etwas ruppigen Eindruck, aber ich gehe hin und spreche ihn an. Ich bezahle seine Tacos und er ist gleich sehr offen und 2
Zum Verhältnis der servicios zu informellen Akteur/innen an Bord ihrer Fahrzeuge vgl. Kapitel 6.1.
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freundlich. Er hat auch nichts dagegen, als ich ihn frage, ob es in Ordnung sei, wenn ich ihn den Tag über begleite. Er heißt Hexiquio und gibt mir Tipps, was ich beim Einstieg in den Bus sagen soll, um nicht zu weit zu bezahlen, bevor wir in einen Bus nach Taxco steigen.« (Tagebucheintrag vom 25.11.2010 in Iguala)
In anderen Fällen kannte ich zwar den Einstiegsort der Musiker, konnte diesen aber lediglich als Ausgangspunkt meiner Suche verwenden, weil die Musiker unregelmäßig arbeiteten. Wald schreibt in seinem Buch Narcocorrido, dass das Gitarrenduo »Los Pajaritos del Sur« zwar in einem der Vororte Acapulcos lebt, jedoch in San Marcos an der MEX-200 in die Busse entlang der Costa Chica steigt (vgl. Wald 2002: 236 und 244). Anstatt »Los Pajaritos del Sur« also in den wirr angelegten Vororten der Großstadt zu suchen, fuhr ich in das übersichtliche San Marcos und befragte am Terminal Taxifahrer nach den Musikern. Obwohl nahezu alle »Los Pajaritos del Sur« kannten, wussten sie nicht, wo die beiden in Acapulco lebten, und erkannten auch keine Regelmäßigkeit im Erscheinen des duetos in San Marcos, so dass ich die Musiker hätte abfangen können. Schließlich fand ich einen Taxifahrer, der sich zu erinnern glaubte, dass der jüngere der »Los Pajaritos del Sur« in Acapulcos Vorort La Frontera lebte. In La Frontera fand ich wiederum Menschen, die wussten in welcher Straße und welchem Haus Lorenzo Villanueva lebte. Am Ende meiner Suche war ich weit über 50 Musikern begegnet und führte mit 27 von ihnen erste Gespräche und Interviews. Mit 13 Musikern vertiefte ich den Kontakt, führte weitere Interviews, begleitete sie auf ihrer Arbeit, zeichnete ihre Bewegungen nach und machte sie schließlich zu den Protagonisten meiner Arbeit. Dabei handelte es sich um: • • • • • • •
Efraín Balbuena aus Acatlán de Osorio, Puebla Salvador und Hexiquio Hernández aus Buenavista de Cuéllar, Guerrero Gabriel und Lorenzo Villanueva und Tomás Ramírez aus Acapulco, Guerrero Julio und Jesús García aus Bajos de Ejido, Guerrero José David, Rubén Jaímez und Endir de León aus Tecámac, Estado de México Marco Antonio Calderón aus Mexiko-Stadt, D.F »Eduardo«3 aus San Cristóbal Ecatepec de Morelos, Estado de México
Ich wählte gerade diese Musiker aus, weil sie regelmäßig – meistens täglich – an Bord von Überlandbussen auftraten und es sich dabei um ihre Haupteinnahmequelle han-
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»Eduardo« und andere Musiker der Haltestelle »30-30« interviewte und begleitete ich nur während meines ersten Feldforschungsaufenthaltes 2010. Die Verlegung der Haltestelle »3030« führte dazu, dass sie ihre alten Strecken verließen und ich sie bei den folgenden Aufenthalten nicht wieder auffinden konnte. Allerdings machte gerade ihre Verdrängung und ihr konfliktgeladenes Verhältnis zu meinen übrigen Interviewpartnern im Estado de México Musiker, wie »Eduardo«, so interessant und ihre Aussagen notwendig, um die komplexen Strukturen rund um die ehemalige Haltestelle »30-30« zu verstehen. Da an der Haltestelle »30-30« Spitznamen und Vornamen den Umgang bestimmten, fehlen mir bedauerlicherweise »Eduardos« Nachnamen.
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delte, wenn auch viele nebenher anderen Berufen nachgingen. Bei allen Musikern handelte es sich um Männer4 zwischen 17 und 65 Jahren. Während einige der Musiker, wie beispielsweise Efraín Balbuena, noch ganz am Anfang ihrer Karriere an Bord der Busse standen, blickten andere, wie Gabriel Villanueva oder José David Jaímez, auf jahrzehntelange Erfahrung zurück. Auch gingen sie ihrem Beruf mit unterschiedlichem Erfolg nach. So hatte es Gabriel Villanueva an Bord der Überlandbusse zu lokaler Berühmtheit gebracht und sich relativen Wohlstand erspielt. Die Mehrzahl der übrigen Musiker verdiente mit ihren Auftritten in Bussen allerdings weit weniger, als sie zum Leben brauchte. In ihrem musikalischen Repertoire, entsprachen die ausgewählten Musiker jeweils lokalen Standards, die sie mit anderen Musikern, die auf denselben oder benachbarten Strecken auftraten, teilten.5 Ebenso in der Tatsache, dass es sich bei all en Musikern um Gitarristen und Sänger handelte6, bestätigten sie die Regel an Bord der Überlandbusse. Meine Auswahl hatte auch räumliche Gründe, so wählte ich Musiker aufgrund der Nachbarschaft ihrer Strecken zueinander aus. Entsprechend ließen sich die Musiker in Gruppen fassen. Jede dieser Gruppen brachte im Zusammenwirken der Musiker untereinander und spezifischen Bedingungen an Bord der Busse wertvolle Perspektiven auf den Gegenstand meiner Arbeit hervor. Aus den Bewegungen der einzelnen Mitglieder dieser Gruppen synthetisierte ich letzten Endes die Streckennetze.
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Es war auffällig, dass sich beinahe ausschließlich Männer als Musiker an Bord der Busse verdingten, weshalb sich keine Busmusikerinnen unter den interviewten Musikern befinden. Während meiner Feldforschung begegneten mir nur vier Musikerinnen, die an Bord von Bussen spielten, und die jeweiligen Umstände verhinderten, dass ich mit ihnen Interviews hätte führen können. In allen Fällen traf ich auf diese Frauen in urbanen Transiträumen, kurz vor der Einfahrt in das Terminal im Zentrum Cuernavacas, an der Haltestelle »30-30« nahe Mexiko-Stadt oder in den urbanos von Acapulco. Einer der Gründe dafür, dass so wenige Frauen an Bord von Überlandbussen auftraten, mochte darin liegen, dass ausschließlich Männer diese Busse steuerten. »Daniel«, ein Fahrer der línea SUR erklärte mir, dass die einzigen drei Busfahrerinnen in der gesamten grupo ADO, die seine línea einschloss, TuriBus Sightseeing-Busse in der Hauptstadt steuerten. Obwohl er gehört habe, dass ADO eigentlich den Plan gehabt habe, Fahrerinnen einzusetzen, sei das schon aufgrund mangelnder Infrastruktur, Toiletten und Schlafsäle unmöglich (Gespräch mit »Daniel« in SUR zwischen Colonia Tres de Mayo und Cuautla am 12.12.2010). Einzige Ausnahme war Tomás Ramírez, der für einen Busmusiker an der Costa Grande unüblich häufig Rock’n’Roll-Klassiker und rock nacional interpretierte (vgl. Kapitel 4.3.2). Nur Efraín Balbuena spielte zusätzlich zur Gitarre Harmonika und betrachtete sie als Alleinstellungsmerkmal. Jesús García wechselte kurz nach meiner Feldforschung 2014 zum Akkordeon, um gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Salvador, der nun Gitarre spielte, aufzutreten. Auch Octavio Hernández, der älteste Neffe der beiden Brüder Salvador und Hexiquio Hernández, spielte Akkordeon an Bord der Busse und trat dabei gelegentlich gemeinsam mit seinen Onkeln auf. Lorenzo Villanueva spielte im Studio als »Los Pajaritos del Sur« mit seinem Vater Gabriel den Bass und das requinto. In den Bussen spielte er allerdings ausschließlich requinto.
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Die konkreten Räume der Beobachtungen, Interviews und Dokumentationen Die drei Methoden, Musiker in Bewegung zu finden, bestanden also darin – erstens – in Bussen zu fahren und auf ihren Zustieg zu hoffen, – zweitens – an ihren Ein- und Ausstiegspunkten zu warten oder – drittens – ihre Wohnorte in Erfahrung zu bringen und sie dort aufzusuchen. Diese drei Methoden standen zugleich für drei zentrale Raumtypen meiner Feldforschung: »an Bord der Busse«, »am Straßenrand« und »bei den Musikern zu Hause«. Jeder dieser drei Raumtypen eröffnete andere Einblicke in das Leben und die Arbeit der Musiker und die kulturellen und sozialen Zusammenhänge, in denen sie sich bewegten. »Kommt zu mir nach Hause, damit Ihr seht wie ich lebe«: Die Häuser der Musiker Die Wohnhäuser der Musiker und deren unmittelbare Umgebung aufzusuchen, war nicht nur die sicherste Methode, Busmusiker zu treffen. Die Häuser bildeten vor allen Dingen während des ersten Aufenthaltes zentrale Räume meiner Feldforschung. Die Gastfreundschaft der Musiker, die mich meist bereits bei unseren ersten Treffen zu sich nach Hause einluden, eröffnete mir tiefe Einblicke in ihre familiären Verpflichtungen und in das Leben, das sie mit ihrer Arbeit in den Bussen finanzierten. Gerade wegen des geringen sozialen Ansehens, das ihnen an Bord der Busse entgegenschlug7, waren die Musiker darauf bedacht, die Biographien hinter ihrer Arbeit herauszustellen. José David Jaímez entgegnete häufig Fahrgästen, die ihn ihre Geringschätzung spüren ließen, dass sie sich die Mühe machen sollten, ihn zu Hause zu besuchen, bevor sie über ihn urteilten: »Wenn mir jemand sowas sagt, dann antworte ich: ›Kommt vorbei! Ich lade Sie zu mir nach Hause ein, damit Sie sehen, wie ich lebe, wa! Wie viele Leute von mir abhängen! Damit Sie nicht mehr diesen Eindruck von mir haben, wa!‹« (Jaímez, José David 8.3.2013) Die Wohnlage und ihre Nachbarschaft vermittelten mir in der Regel eine erste Idee der ökonomischen und sozialen Verhältnisse, in denen die Musiker lebten. An den Gebäuden, die die Musiker bewohnten, ließen sich Teile ihrer Biographien ablesen. So befand sich das Haus Efraín Balbuenas an der MEX-190 im Wandel von einer Autowerkstatt hin zu einem Hähnchenrestaurant und veranschaulichte sowohl die Vergangenheit seines Besitzers als Mechaniker als auch seine erhoffte Zukunft als Restaurantbesitzer: »Efraín Balbuenas Haus liegt direkt an der MEX-190 und Markierungen, die Arbeiter etwa dreißig Zentimeter vor seiner Schwelle auf den staubigen Boden sprühten, lassen ahnen, dass sein Haus mit dem geplanten Ausbau der Fahrbahn um einiges näher an die Straße rücken wird. Noch allerdings befindet sich ein schmaler Schotterstreifen zwischen der Fahrbahn und dem Metalltor vor Efraín Balbuenas Veranda. An einem Baum lehnt ein Schild, auf dem Fotos von Rindern, Ziegen und Hühnern Reisenden Lust auf einen Restaurantbesuch machen sollen: ›La Casa del Camino – Gerichte, Tacos, Erfrischungen und Snacks – Treten Sie ein!‹ An der Wand des Hauses wiederholt sich dieses Angebot, und es wird mit Live-Musik geworben. Auf der Veranda stehen
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Zum geringen sozialen Ansehen der músicos ambulantes vgl. Kapitel 6.3.
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Tische und ein langer Betontresen mit gasbetriebenem Comal. Die Säulen und Wände des Hauses sind blau-gelb gestrichen und an mehreren Stellen verspricht der Schriftzug ›Corona‹ Bier der bekanntesten mexikanischen Brauerei. Rechts neben der Veranda befindet sich eine zweite Einfahrt und ein Unterstand, in dem Efraín einmal seine Autowerkstatt betrieb. Als einziges Bild im Zimmer, in dem mich Efraín übernachten lässt, hängt sein Gesellenbrief des ›Centro de Estudios Diesel y Vehiculos Automotores del Estado de México‹ mit einem Foto, das ihn als jungen Mann zeigt. Efraín nennt das kleine Zimmer sein ›Studio‹. Hier verbringt er einen Großteil seiner Freizeit und übt auf Gitarre, Bass und Keyboards. Entsprechend lagern hier nicht nur seine Instrumente, die er vermutlich in den USA gekauft hat, sondern auf einem niedrigen Tisch stapeln sich Lehrbücher und Videos, mit deren Hilfe Efraín sich selbst unterrichtet.« (Tagebucheintrag vom 5.12.2011 in Colonia Tres de Mayo)
Das Haus und auch der große Garten, die beide fortwährenden baulichen Veränderungen unterworfen waren, standen im krassen Gegensatz zu den bescheidenen Einkünften Efraín Balbuenas als Busmusiker und zeugten von seiner jahrelangen harten Arbeit in US-amerikanischen Restaurantküchen, womit er sich Haus und Grundstück finanziert hatte. Der Name »La Casa del Camino«, »Haus am Weg«, den sein Restaurant einmal tragen sollte, beschrieb sowohl die Lage des Hauses am Rand der Bundesstraße als auch den Wandel des Gebäudes. Die Feldforschung in den Wohnhäusern war vor allen Dingen mit dem ersten Feldaufenthalt und bestimmten Feldforschungstechniken verbunden. Die im Tagebuch beschriebenen Erkenntnisse, wie beispielsweise über Efraín Balbuenas Wohnhaus, waren das Ergebnis eigener teilnehmender Beobachtungen8, die ich vor dem Hintergrund biographischer Informationen interpretierte. Ich nahm allerdings nicht nur am Leben der Musiker und ihrer Familien in ihren Häusern teil, sondern auch an ihren Aktivitäten in ihren Dörfern und Vierteln. Ich begleitete Lorenzo Villanueva zu den Fußballspielen seiner Mannschaft und wurde Zeuge, wie er am Spielfeldrand Kontakte zu Busfahrern knüpfte. Ebenso half ich Salvador Hernández, sein Pferd zu füttern, Bewässerungsgräben durch die Erde seiner Parzelle zu ziehen und Mandarinen zu ernten, und lernte, welche Tätigkeiten die erste Hälfte seines Tages strukturierten, bevor er am frühen Nachmittag in die Busse stieg. Die Wohnhäuser der Busmusiker waren auch Orte narrativer, offener Interviews. 9 Die eigenen Wohnzimmer, Veranden, Küchen und Gärten boten den Musikern in diesem Zusammenhang nicht nur eine vertraute Umgebung, in der sie offener sprachen als am Straßenrand. Sie nutzten ihre Häuser und persönliche Gegenstände, um Passagen ihrer Interviews zu illustrieren. Zum Beispiel demonstrierte Gabriel Villanueva die Dramatik des Zyklons Paulina, indem er an der Wand seines Wohnzimmers den damaligen Wasserpegel in seinem Haus zeigte. Er schuf auf diese Weise ein beeindruckendes Bild von der Naturkatastrophe, die einen Großteil seines Eigentums, vor allen Dingen das Archiv seiner Musik und sein musikalisches Equipment, vernichtete. Obwohl teilnehmende Beobachtung und offene, narrative Interviews in den Wohnhäusern vor allen Dingen während der ersten Feldforschungsphase dazu dienten, biographische Informationen zu sammeln und relevante Forschungsfragen zu formulieren, kehrte ich ebenso während des zweiten und dritten Aufenthaltes im Feld immer 8 9
Zu den Beobachtungen vgl. Kapitel 3.3. Zu Interviews und Gesprächen vgl. Kapitel 3.2.
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wieder zu den Häusern der Musiker zurück. Ich besuchte ihre Wohnorte nicht nur, weil dort die Wahrscheinlichkeit, die Musiker anzutreffen, am höchsten war. Sie eigneten sich als ruhige und sichere Räume meistens am besten für studioähnliche Aufnahmen10, obwohl auch dort die kahlen Betonwände der meist spärlich eingerichteten Zimmer, der Lärm von Hunden und Hähnen und die lauten Stereoanlagen und Fernseher der Nachbarn Aufnahmen schwierig gestalteten. Überraschenderweise vermittelten mir die Entwicklungen meiner Beziehungen zu den Musikern den Eindruck, dass mein Aufenthalt in ihren Wohnhäusern das Fundament ihres Vertrauens zu mir bildete und sich mir oft erst daraufhin die Räume ihrer Arbeit öffneten. Mit dieser Beobachtung schloss sich der Kreis zu José David Jaímez Aufforderung, ihn zu Hause zu besuchen, um seine Arbeit als Busmusiker beurteilen zu können. An Bord der Überlandbusse Auch wenn sich die Suche nach Busmusikern an Bord der Überlandbusse als mühsam erwiesen hatte und nur mit Glück und hohem Zeitaufwand zum Erfolg führte, waren Busse die zentralen Räume meiner Feldforschung. Aus dem Blickwinkel meiner Sitzplätze in den Fahrgasträumen der Überlandbusse notierte ich systematische Beobachtungen. Obwohl ich niemals als Musiker im Gang der Busse auftrat, so nahm ich auf den meisten Reisen die Rolle eines Passagiers ein und war somit nicht nur in der Lage Objekte, Menschen und Geschehen an Bord der Busse zu beobachten, sondern konnte Erfahrungen häufig reisender Passagier/innen an eigenen psychischen und physischen Veränderungen besser nachvollziehen. Die Interviews mit Passagier/innen waren an die Fahrgasträume von Bussen gebunden. Die Busse des servicio económico stellten ein ausgesprochen günstiges Umfeld für Interviews dar. Die meisten Passagier/innen waren für die Abwechslung zur Monotonie der Reise dankbar und häufig boten vorangegangene Auftritte von Busmusikern Impulse, die abstrakte Fragen illustrierten und spontane Antworten provozierten. Zugleich veränderten die Interviews mit Passagier/innen meine eigene Rolle im Bus, und ich wandelte mich in der Wahrnehmung von Passagier/innen und Busfahrern vom Kunden in jemanden, der an Bord der Busse arbeitete. Dieser Wandel vollzog sich auch räumlich als Wechsel zwischen Fahrgastraum und Fahrerraum, den ich aufsuchen musste, um die Fahrer um Erlaubnis für meine Tätigkeit zu bitten, und ich wartete neben den Fahrersitzen, wenn Musiker oder Händler/innen vor mir im Gang des Busses auftraten: »›Der Nächste!‹ ruft der Busfahrer, sieht mich an und nickt mit seinem Kopf in Richtung Gang, als Hexiquio seine Coperacha eingesammelt hat und wieder nach vorne kommt. Ich tausche meinen Platz auf der Treppe mit Hexiquio und frage die erste Passagierin, ob ich ein Interview mit ihr führen kann. Wir sind in Iguala mit den üblichen Verkäufern und einem Clown eingestiegen, nachdem die Verkäufer fertig waren, trat der Clown auf, bis der Bus auf die Ausfahrtsstraße abbog, wo dann Hexiquio übernahm. Ich bin mit meinen Interviews letzter in dieser Performanceschlange auf den Treppenstufen des Einstiegs. Wie Hexiquio und die anderen habe ich kein Ticket bezahlen müssen. Die Aufforderung ›Der Nächste!‹ des Fahrers und mein Platz in
10 Zu Audioaufnahmen vgl. Kapitel 3.4.
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der Schlange nach Hexiquio und dem Clown geben mir das Gefühl, dazu zu gehören.« (Tagebucheintrag vom 3.12.2011 in TER zwischen Iguala und Puente de Ixtla)
Nach meinen Interviews luden mich Fahrer ein, den Rest der Fahrt in ihrem Raum zu verbringen. So saß ich viele Stunden auf den Stufen zum Gang oder stand auf der Treppe zur Tür. Dort ergab sich ein Großteil meiner Gespräche mit Busfahrern, die auf Grund der zunehmenden Kontrollen ansonsten sehr misstrauisch auf Fragen reagierten. Vor allen Dingen ließen sich an Bord der Überlandbusse auch die Performances der Busmusiker und die feedback-Schleifen, die sich zwischen ihnen und ihrem Publikum entspannten, beobachten. Mal kniend oder stehend im Gang, aber meistens von einem Sitzplatz aus dokumentierte ich Performances mit meinem Recorder oder fertigte Notizen an. Mal betrat und verließ ich die Busse gemeinsam mit Musikern, folgte ihnen durch verschiedene Busse, mal reiste ich im Bus und beobachtete, wie Musiker auftauchten und wieder verschwanden. Wie die Ein- und Ausstiegspunkte der Musiker strukturierten auch andere Orte entlang der rutas meine Tätigkeiten an Bord. Beispielsweise baten mich Busfahrer der línea TER, mit meinen Interviews nicht zu beginnen, bevor wir die Ortschaft Zacapalco passiert hatten, da dort Inspekteur/innen zustiegen und die Fahrer Probleme befürchteten, wenn mich Inspekteur/innen bei Interviews sahen. Die Busse der línea Teotihuacanos wurden nahe San Juan Teotihuacán an den Straßenrand gewinkt und ich musste gemeinsam mit allen anderen männlichen Passagieren den Bus verlassen, um mich auf Waffen durchsuchen zu lassen. Zäsuren wie diese und die Ein- und Ausstiegsorte der Musiker bildeten zugleich Bindeglieder zum dritten Raumtyp, der meine Feldforschung prägte: Der Straßenrand. Am Straßenrand: Ein- und Ausstiegsorte der Musiker Die Räume am Straßenrand, in denen ich auf Hexiquio Hernández traf und meine Suche nach den »Los Pajaritos del Sur« begann, erstreckten sich nicht entlang der gesamten Bundesstraßen, sondern befanden sich an den Endpunkten der Strecken der Musiker. Bereits der Weg vom Wohnhaus der Musiker zu diesen Orten half oft, die Überlegungen der Musiker, die zur Wahl dieser Orte und letztendlich zur räumlichen Organisation ihrer Arbeit führten, nachzuvollziehen. Am Straßenrand angekommen ließen sich die Gegebenheiten beobachten, die den Musikern ihren Einstieg in die Busse erleichterten oder überhaupt erst möglich machten. Auf Bundesstraßen bremsten topes die Busse, an Autobahnen stiegen Musiker an Haltestellen zu, andere Einstiege befanden sich an Kreuzungen und Ortsdurchfahrten.11 Manchmal hatten Musiker die Möglichkeit, sich in kleinen Läden am Straßenrand mit Getränken und Geschenken für die Fahrer zu versorgen, manchmal nutzten sie Tacostände, in deren Schatten sie warteten, oder sie genossen an Straßensperren des Militärs Schutz vor Überfällen. Am Straßenrand erschlossen sich mir diese mehr oder weniger stationären Merkmale der Einstiegsorte, aber ich zählte auch die Busse, die diese Orte passierten, und notierte, was mir Musiker über sie erzählten. Nur am Straßenrand ließ sich beobachten, wie Musiker Busfahrer auf sich aufmerksam machten, und nur dort konnten sie erklären, warum sie ihr Glück in bestimmten Bussen gar nicht erst versuchten. 11 Zu den Merkmalen der Einstiegsorte vgl. Kapitel 5.2.
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Da Musiker meistens bemüht waren, ihren Einstiegsort so schnell wie möglich in einem Bus zu verlassen, waren es an größeren Haltestellen häufig Verkäufer/innen, die mich über die Funktionsweisen der Haltestellen informierten und mich Musikern, anderen Verkäufer/innen und Angestellten der líneas vorstellten. So verbrachte ich nahe des Terminals in Buenavista de Cuéllar viel Zeit am Tacostand von Minerva Hernández und an der Ortsdurchfahrt in Coyuca de Benítez an den provisorischen Ständen der Verkäuferin »Erika« und ihrer Kolleginnen. An der Haltestelle »30-30« baute mir der Verkäufer »Yiro« unter seiner gelben Plane aus Getränkekisten und Eimern etwas, das er »Oficina de Seven12« nannte. Oft kehrte »Yiro« von seiner Tour durch einen Bus mit Musikern zurück, die ihre Wartezeit in meinem »Büro« verbrachten, um sich mit mir zu unterhalten. Zwischen Bussen erzählte er von der Geschichte der Haltestelle und erklärte mir seine Arbeit, die sehr viele Parallelen mit der Arbeit der Musiker aufwies: »Heute ist Yiro sehr schick gekleidet. Er trägt ein gestreiftes Hemd zu dunkelblauen Khakis. Yiro ist allerdings alles andere als gut gelaunt. Er tritt heftig gegen einen der vielen Eimer, in denen er seine Getränke kühlt. Er hat einen 500-Peso-Schein verloren. Er flucht über die neuen Plastikscheine, die so leicht aus den Taschen rutschen. Seine Laune scheint sich allerdings schnell zu bessern, oder er beherrscht sich mir zuliebe […]. Erneut referiert er über Hitler und Napoleon, wenn er nicht gerade mit einer seiner Kisten in einen Bus hetzt. Wann immer Yiro vor der Tür eines Busses steht, in den er einsteigen will, ruft er laut dessen Stationen Richtung Wartende. Ich nehme an, dass er dies tut, um sich bei den Busfahrern, die ihn in ihren Bussen arbeiten lassen, zu revanchieren. Wahrscheinlich erklärt sich so auch seine ewig heisere Stimme. Wenn er seit 24 Jahren Busrouten in den Staub von Ecatepec brüllt, dann müssen seine Stimmbänder darunter leiden. Yiro verkauft sowohl in Bussen erster wie auch zweiter Klasse. Offensichtlich aber nicht bei allen Líneas. So habe ich ihn bisher nur in Bussen von Futura, Estrella Blanca und Teotihuacanos gesehen. Das beste Geschäft scheint er in Futura-Bussen zu machen, als ihn wieder ein Bus mitnimmt, weil er nicht schnell genug fertig wird, kommt er nach 10 Minuten Fußmarsch zurück und fragt besorgt, ob Futura schon durchgefahren sei. Für die Erste-Klasse-Busse von Futura hat er auch einen besonderen, größeren Korb: ›Einen für die Reichen und einen für die Armen.‹ Er erklärt mir das auch von IKEA bekannte Konzept, dass Produkte in großen Mengen eher die Aufmerksamkeit von Kunden wecken als einzelne Waren: ›Wenn viel da ist, kaufen die Leute auch viel. Wenn nur wenig da ist, überlegen sie es sich. Keine Ahnung… ist psychologisch.‹ Er sagt, dass es daher am Ende des Tages schwierig sei, die letzten Reste zu verkaufen. Dennoch werde er immer alles los, was nicht zuletzt an seiner guten Beziehung zu Gott liege: ›Wenn ich aufstehe in meinem armseligen Haus, bete ich zu Gott dem Vater und seinem Sohn, der Jesus heißt, dass er mich segnet und auch die Blinden und die Taubstummen.‹ Das tut er jeden Morgen sehr früh, denn er steht bereits um fünf Uhr an der Straße, um
12 Die Musiker an der Haltebucht »30-30« gaben mir den Namen »Seven«, der offensichtlich leichter auszusprechen war. Zudem waren Spitznamen unter Musikern genauso wie unter Busfahrern üblich. Ich gewöhnte mich so sehr an diesen Namen, dass ich selbst zu seiner Verbreitung beitrug, wann immer jemand Probleme hatte, meinen eigentlichen Namen auszusprechen. Am Ende meiner Feldforschung war ich bei all meinen Interviewpartnern unter diesem Synonym bekannt.
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seine Waren an die ersten Busse zu verkaufen: ›Ich bin hyperaktiv. Ich wäre was für eine Witzsendung im Fernsehen.‹« (Tagebucheintrag vom 2.10.2010 an der Haltestelle »30-30« in San Cristóbal, Ecatepec)
Erst im Zusammenspiel zwischen den Räumen an Bord der Busse und jenen am Straßenrand ergab sich ein vollständiges Bild des Arbeitsalltags der Musiker, der sich zu einem großen Teil eben nicht aus Performances vor Publikum, sondern aus Wartezeiten an Einstiegspunkten zusammensetzte. Auch wenn die Busfahrer und Passagier/innen an Bord der Busse die wichtigsten Kontakte der Musiker bildeten, so zeigte sich in den Räumen am Straßenrand, dass sie dort häufig mit einer ganzen Reihe anderer Akteur/innen aushandeln mussten, wo sie auf Busse warten und in welche Busse sie überhaupt einsteigen durften.13 Zu diesen Akteur/innen gehörten Verkäufer/innen wie »Erika« oder »Yiro«, aber vor allen Dingen andere Busmusiker und Performer, wie Clowns oder pomaderos14. In Räumen am Straßenrand trafen mehrere Busmusiker aufeinander und warteten gemeinsam oder eben gerade getrennt voneinander auf den nächsten Bus für ihre Performance. Dabei tauschten sie sich über die Erlebnisse ihres Arbeitstages aus, erfahrenere Musiker berieten Neulinge und die Anwesenden lästerten über Abwesende. Nur in Räumen am Straßenrand ließ sich die Organisation der Musiker untereinander beobachten. Streckennetze: Die analytischen Räume einer »multi-sited ethnography« Bereits die verschiedenen Räume der Arbeit mit einzelnen Musikern machten deutlich, dass sich meine Feldforschung nicht in einem zusammenhängenden, lokalen Raum vollzog, der dem eng umrissenen Forschungsraum der klassischen »ethnographischen Gemeindeforschung« entsprochen hätte (vgl. Welz 2008: 206). Die Musiker an Bord von Überlandbussen waren, was Gisela Welz als »moving targets« beschreibt (ebd.: 203). Meine Forschungsräume bestanden aus Fragmenten, die durch die Bewegungen der Busmusiker miteinander verbunden waren. Noch deutlicher wurde dies, wenn ich das Zusammenspiel und die Beziehungen einzelner Musiker, die einander häufiger begegneten, betrachtete oder gar Vergleiche zwischen Musikern, die einander bei ihrer Arbeit nicht begegneten, herstellen wollte. Es ergaben sich Räume, die einander nicht notwendigerweise überschnitten und manchmal nicht einmal in direkter Nachbarschaft zueinander lagen. Die Feldforschung ließ sich daher am besten mit George E. Marcus Begriff »multi-sited ethnography« (vgl. Marcus 1995) beschreiben.
13 Zu den hierarchischen räumlichen Strukturen der músicos ambulantes vgl. Kapitel 5.3. 14 Als »pomaderos« wurden die Verkäufer von Naturheilprodukten bezeichnet. Bei ihnen handelte es sich, wie bei den Musikern, meist ebenfalls um Männer, die sich – anders als die übrigen Verkäufer/innen – von Bussen mitnehmen ließen, um ihre Waren im Gang anzubieten. Die Performances der pomaderos dauerten nicht selten bis zu einer halben Stunde, in der sie das Wirkungsspektrum ihrer Cremes, Pillen und Augentropfen erläuterten und ihre Anwendung demonstrierten.
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Um diese fragmentierten Räume und besonders die Verbindungen zwischen ihnen erfassen zu können, entwickelte ich mobile Forschungsräume, die sich aus den Bewegungen der Protagonisten meiner Arbeit ergaben: die Streckennetze. Dabei hielt ich mich an die erste Methode, die Marcus für eine »multi-sited ethnography« empfiehlt und die sich hervorragend in die raumtheoretischen Grundlagen meiner Arbeit eingliedern ließ, da sie eine an die betrachteten Akteur/innen und Objekte gebundene Definition von Forschungsräumen propagiert. Marcus bezeichnet diese Methode als »Follow the People«: »[T]he procedure is to follow and stay with the movements of a particular group of initial subjects.« (Marcus 1995: 106). So begleitete ich die Musiker bei ihrer Arbeit in den Überlandbussen. Mein Interesse bestand allerdings nicht allein in den Handlungen der Menschen, die ich begleitete, sondern in ihren Bewegungen selbst. Deshalb zeichnete ich diese Bewegungen – zu Beginn mit Stift und Landkarte und später mit Hilfe eines GPS-Trackers – auf. Das Ergebnis waren die Strecken, die die Musiker spielend an Bord der Überlandbusse verbrachten, und ihre Ein- und Ausstiegsorte, zwischen denen sich diese Strecken entspannten. Die dokumentierten Bewegungen bildeten je nach Musiker mehr oder weniger komplexe Netze ab. Der Busmusiker Hexiquio Hernández bewegte sich auf den Bundesstraßen rund um den Verkehrsknotenpunkt Iguala. Dabei spielte er beispielsweise in einem Bus, der ihn aus Buenavista de Cuéllar nahe seinem Wohnort im kleinen Dorf Palmillas über die mautpflichtige Schnellstraße nach Iguala brachte. An der Ausfahrt des Terminals in Iguala bestieg er dann einen Bus Richtung Taxco und spielte darin entlang der MEX-95, bis er in El Naranjo ausstieg. In El Naranjo wartete er auf den nächsten Bus in selber Richtung, in dem er bis Puente Campuzano auftrat. In Puente Campuzano stieg er in einen Bus in Richtung Taxco, den er in Cerro Gordo verließ, um dort umzukehren und dann den Rest des Tages zwischen Cerro Gordo und El Naranjo zu pendeln, bevor er über Iguala nach Palmillas zurückkehrte. Allerdings verbrachte Hexiquio Hernández nur Donnerstage auf diesen Strecken, da donnerstags ein tianguís15 in El Naranjo die Busse auf der MEX-95 aus und nach Taxco füllte. An anderen Wochentagen bewegte er sich zwischen Iguala und Huitzuco oder zwischen Iguala und Puente de Ixtla im Nachbarstaat Morelos. Das Netz, das Hexiquio Hernández Bewegungen zeichneten, besaß folglich eine zeitliche Dimension. Hexiquio Hernández Beispiel zeigt also, dass Musiker keinesfalls täglich zwischen denselben zwei Orten auf nur einer Strecke pendelten. Gelegentlich spielten sie auf einer Kette hintereinanderliegender Strecken auf einer ruta oder wechselten abhängig von Uhrzeit, Wochentag und gelegentlich sogar Jahreszeit zwischen verschiedenen rutas. Diese aufgezeichneten Bewegungen einzelner músicos ambulantes verband ich mit den Bewegungen anderer Busmusiker, die sich mit ihnen kreuzten. Daraus ergaben sich die Streckennetze. Die Busmusiker eines Streckennetzes waren miteinander bekannt und meistens gezwungen, sich untereinander zu organisieren, um Konflikte zu vermeiden. Die auf 15 Im Gegensatz zum Wort »mercado«, das einen festinstallierten Markt, meistens auch ein Marktgebäude bezeichnete, bezog sich der Begriff »tianguís« auf einen Wochenmarkt. Tianguís waren in der Regel für starke Passagierbewegungen an Bord der Überlandbusse verantwortlich, weshalb das Wissen, wann und wo im Streckennetz ein tianguís stattfand, für die Musiker von zentraler Bedeutung war (vgl. Kapitel 5.2).
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diese Weise zusammengefassten Musiker sprachen von »ihren Strecken« (»mis rutas«), wenn sie sich innerhalb des Streckennetzes befanden. Obwohl einzelne Musiker ihr Streckennetz gelegentlich verließen, lag ihrer Arbeit stets eine deutliche territoriale Ordnung zugrunde. Sie waren sich bewusst, dass sie sich in die Räume anderer Musiker begaben und betrachteten umgekehrt unbekannte Musiker im eigenen Streckennetz häufig als Eindringlinge.16 Dabei lagen Wohnorte von Busmusikern nicht notwendigerweise an den rutas ihres Streckennetzes. Einige Musiker waren zu weiten Anfahrten, die sie häufig bezahlen mussten, gezwungen. So arbeiteten José David und Rubén Jaímez in den Bussen der línea Teotihuacanos zwischen Mexiko-Stadt und den Pyramiden von Teotihuacán, lebten allerdings viele Kilometer entfernt in der Satellitenstadt Tecámac im Estado de México. Streckennetze waren in erster Linie an die rutas der Busse gebunden. Auch wenn die Endpunkte der Strecken am Straßenrand, an topes, Kreuzungen oder Haltestellen lagen, konnten sich zwei Musiker durchaus auf derselben Straße bewegen und den Bus, in dem der jeweils andere auftrat, dennoch als fremdes Terrain betrachten. 17 Zudem musste ich über die Streckennetze hinaus an die Endstationen reisen. Nur durch die Kenntnis einer gesamten ruta, ihrer Passagierflüsse, Haltestellen und Kontrollpunkte wurde deutlich, warum die Musiker gerade die Abschnitte gewählt hatten, auf denen sie nun spielten. Die Räume meiner Forschung ließen sich in die vier Streckennetze »Mixteca Poblana«, »Zona Norte«, »Costa Grande y Costa Chica« und »Paradero 30-30« unterteilen. Jedes dieser Streckennetze besaß Besonderheiten, die eine andere Perspektive auf den Gegenstand meiner Arbeit ermöglichten. So bewegte sich Efraín Balbuena als einziger músico ambulante in der »Mixteca Poblana« im Dreieck der Bundesstaaten Puebla, Guerrero und Oaxaca und musste sich, die Busse, in denen er täglich auftrat, lediglich mit pomaderos teilen. Im Gegensatz dazu stand die erdrückende Konkurrenz der Musiker in »Paradero 30-30« nördlich Mexiko-Stadts im Estado de México, die hierarchische und räumliche Ordnungen entwickelt hatten, um sich gegen neue Musiker zu schützen und ihre Arbeit rentabel zu halten. Die Verlegung des »Paradero 30-30« zeugte von den plötzlichen Umbrüchen, die die Arbeit der Busmusiker betrafen, wenn ihre Einstiegspunkte wegfielen oder rutas gestrichen wurden, und den Reaktionen der Musiker auf diese Umbrüche. Die Busse des Streckennetzes »Costa Grande y Costa Chica« an der Küste des Bundesstaates Guerrero erwiesen sich als umkämpfte Räume, in denen Inspekteur/innen Musiker und Händler/innen vertrieben. Das Streckennetz »Zona Norte« im Norden des Bundesstaates funktionierte hingegen noch weitgehend nach jenen »alten Regeln«, denen die Musiker an der Küste nachtrauerten.
16 Zu den Auseinandersetzungen zwischen lokalen und fremden Musikern vgl. Kapitel 5.3. 17 Dies wurde besonders deutlich, als der Busmusiker Lorenzo Villanueva in Acapulcos urbanos wechselte und sich auf den Ausfallstraßen der Stadt, die er vorher in Überlandbussen täglich befahren hatte, vollkommen neuen Regeln unterwerfen musste (vgl. Kapitel 5.3. und Kapitel 6.3).
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3.2 INTERVIEWS UND GESPRÄCHE Interviews und Gespräche mit den Akteur/innen standen im Zentrum aller drei Feldaufenthalte, variierten aber in Form, Methode, Länge und Ort entsprechend dem Erkenntnisinteresse der jeweiligen Forschungsphase. So wählte ich die Musiker, die ich letztendlich zu den Protagonisten meiner Arbeit machte, erst nach anfänglichen Gesprächen aus. Ich brachte in Erfahrung, ob, wo und wie regelmäßig Musiker in Überlandbussen auftraten. Umgekehrt stellte ich mich vor und informierte die Musiker über meine Absichten. Auf Grundlage der Gespräche entschieden folglich beide Seiten über eine mögliche Zusammenarbeit. Da ich deutlich weniger zu verlieren hatte als meine Interviewpartner, während gleichzeitig mein Interesse an Interviews sehr viel eindeutiger war, übernahmen oft meine zukünftigen Interviewpartner die Führung dieser Gespräche: »Gabriel Villanueva öffnet mir die Tür. Er trägt, wie viele Männer an der Küste in ihrem eigenen Haus, nur eine Badeshort. Er hat eine leichte Vokuhila und sehr viel Gel in den Haaren. In der Wohnung befindet sich auch eine Menge anderer Familienmitglieder. Gabriel lädt mich ein, mich zu setzen, und es gibt sofort Agua de Fruta. […] Zuerst lässt mich Gabriel erzählen, was mein Anliegen ist und stellt scharfe Zwischenfragen. Der Rest seiner Familie sitzt und steht im Kreis um mich herum und sieht mich ernst an. […] Als er bereits anfängt, seine Geschichte zu erzählen, und ich frage, ob ich meinen Rekorder anstellen könne, hält er mich an, zu warten, bis alles erledigt sei. Er fragt mich nach dem Titel meiner Arbeit. ›¡Música en Movimiento!‹[18] schwärmt er, während er mit den Händen eine Bewegung macht, als sähe er eine riesige Leuchtreklame. Ihm scheint der Titel zu gefallen. ›Ein guter Titel! Musik ist immer in Bewegung.‹ Danach wird er wieder todernst: ›Mir gefallen ehrliche Männer.‹ Ich versuche besonders männlich und besonders ehrlich auszusehen. […] Ich setze mich gerade hin und versuche, verklärt zu gucken. Glücklicherweise ist Gabriel überzeugt, die Fähigkeit zu besitzen, den Charakter eines Mannes in dessen Augen lesen zu können. Meine Augen sind offensichtlich in Ordnung. Jedenfalls bestehe ich den Test und Gabriel bietet mir sofort an, dass ich ihn und seinen Sohn interviewen und dass ich bei ihm übernachten kann.« (Tagebucheintrag vom 16.10.2010 in Ciudad Renacimiento, Acapulco)
Der Gastfreundschaft und Großzügigkeit von Gabriel Villanueva und allen anderen Musikern, die mir jeweils viele Stunden, oft Tage ihrer Zeit opferten, verdankte ich den großen Luxus, mit jedem von ihnen mehrere Interviews in den verschiedenen Stadien meiner Arbeit zu führen. Dabei brachten narrative Interviews während des ersten Feldaufenthaltes die Biographien der Musiker zutage und zeigten die aus der Perspektive der Musiker relevanten Aspekte ihrer Arbeit auf. Den zweiten und dritten Aufenthalt im Feld dominierten hingegen Leitfrageninterviews, mit deren Hilfe ich die Informationen der ersten Phase ergänzte und Vergleichbarkeit zwischen den Aussagen der Musiker herstellte. Neben den músicos ambulantes interviewte ich auch Passagier/innen, Busfahrer, Händler/innen, Angestellte der líneas und andere Musiker.
18 »Musik in Bewegung« war der damals aktuelle Arbeitstitel.
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Einen der wichtigsten Bestandteile des ersten Forschungsaufenthaltes bildeten offene narrative Interviews (vgl. Schlehe 2003: 77 und Hopf 2008: 356)19, die die Biographien der Musiker und ihre Motivationen, in den Bussen zu spielen, zum Gegenstand hatten. Als Ort dieser Interviews wählte ich in der Regel die Wohnhäuser der Musiker. Die offenen Narrationen der Musiker ermöglichten eine weitgehend emische Perspektive und den Blick auf die für meine Interviewpartner relevanten Aspekte ihrer Arbeit. Die narrativen Interviews meines ersten Forschungsaufenthaltes wurden somit eine der Grundlagen bei der Präzisierung der inhaltlichen Schwerpunkte meiner Arbeit. Zugleich hatten diese Interviews das Ziel, die Musiker »zur Sprache kommen zu lassen« (Schlehe 2003: 74). Es lag in der Natur ihres Berufes, dass es sich bei vielen meiner Interviewpartner um großartige Erzähler handelte. Allein um ihr außergewöhnliches narratives Talent einzufangen, war es notwendig, ihnen die größtmöglichen Freiheiten während unserer Interviews zu verschaffen. Freie Passagen ließen meine Gesprächspartner von einem Antwortmodus in einen Erzählmodus umspringen. So entstanden lange Zitate, die die Stimmen der Musiker in meine Arbeit trugen. Den Leitfrageninterviews (vgl. Schlehe 2003: 78-79) meines zweiten und dritten Feldaufenthaltes lagen Fragen zugrunde, die sich aus der Auswertung und Analyse der narrativen Interviews des ersten Feldaufenthaltes ergaben. Sie dienten dazu, die bis dahin gesammelten Informationen zu ergänzen und die Informationen verschiedener Musiker untereinander abzugleichen und vergleichbare Daten zu sammeln. Entsprechend erstellte ich individuelle Fragelisten und befragte – vereinfacht dargestellt – den Musiker »A« zu Themen, die das offene, narrative Interview mit Musiker »B« bestimmt hatten, und Musiker »B« zu Themen, denen Musiker »A« besondere Relevanz verliehen hatte. Bei den Interviews mit Passagier/innen handelte es sich ebenfalls um Leitfadeninterviews, in denen ich einen Fragenkatalog abarbeitete. Trotzdem hielt ich die Abfolge der Fragen offen und ließ meinen Gesprächspartner/innen Raum für Exkurse und Ergänzungen. Die Leitfäden beinhalteten Fragen nach dem Alter, den Berufen, der räumlichen Herkunft und den Reisegewohnheiten der Befragten. Der zweite Teil des Interviews war offener gestaltet und bezog sich, falls gegeben, auf die Performance, der die Befragten zuvor beigewohnt hatten. Der direkte Bezug auf vorangegangene Performances ermöglichte es mir, die unmittelbaren Reaktionen der Passagier/innen im Interview einzufangen. Unabhängig davon, ob die Passagier/innen vor dem Interview einer Performance beigewohnt hatten oder nicht, befragte ich sie jedoch in jedem Interview nach ihren allgemeinen Ansichten zu Auftritten von Busmusikern und auch Händler/innen an Bord der Busse und bezüglich ihres Spende- beziehungsweise Kaufverhaltens. Abhängig von der Mitteilungsfreude meiner Interviewpartner/innen dauerten die Interviews zwischen fünf und 40 Minuten, wobei eine Dauer zwischen fünf und zehn Minuten die Regel war.
19 Die Kategorisierungen und Anleitungen verschiedener Interviewformen, wie sie in Handbüchern für Feldforschungen und qualitative Forschung geführt werden (vgl. z.B. Schlehe 2003; Sökefeld 2003; Kvale 2007 oder Hopf 2008), dienten mir als Leitlinien und Orientierungshilfen. Jedoch entsprach keines meiner Interviews einer Reinform dieser Interviewtypen. Meine Interviewpartner/innen und die Interviewsituationen unterschieden sich so stark voneinander, dass sich jedes Interview unterschiedlich gestaltete.
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Das Sample, mit dem ich diese Interviews durchführte, war weniger durch die direkte Auswahl der Interviewpartner/innen geprägt, sondern vielmehr durch die Wahl des Busses, in dem ich die Interviews durchführte. Ich wählte Busse, die sich auf den rutas bewegten, entlang derer die Strecken der Musiker lagen. Diese rutas befuhr ich zu verschiedenen Tageszeiten und an verschiedenen Wochentagen. In den Bussen unternahm ich stets den Versuch, alle Passagier/innen an Bord zu interviewen. Allerdings beschränkten mich die Auflagen der Busfahrer und die Regeln allgemeinen Anstands, so dass ich schlafende Passagier/innen nicht weckte, was die Zahl meiner Interviewpartner/innen drastisch reduzierte. Die überwältigende Mehrheit der übrigen Passagier/innen stimmte meiner Bitte nach Interviews zu.20 Besonders zu Beginn meiner Feldforschung halfen mir kurze Gespräche mit Busfahrern, die grundsätzlich am Ende einer jeden Fahrt führte, Musiker entlang der rutas ausfindig zu machen. Ich führte diese Gespräche stets erst beim Ausstieg, um das Verhalten der Busfahrer gegenüber Musikern während der Reise nicht zu beeinflussen. Diese Gespräche dauerten niemals länger als wenige Minuten und bestanden aus einer knappen Schilderung meines Forschungsvorhabens und kurzen Antworten der Busfahrer. Mit Busfahrern führte ich auch zu keinem späteren Zeitpunkt formelle Interviews. Die angespannte Situation zwischen Busfahrern, Inspekteur/innen und der Verwaltung der líneas21 erforderte informelle Gesprächsformen, die Busfahrer nicht an die Kontrollmechanismen ihrer Arbeitgeber erinnerten. Busfahrer beantworteten nur ungern Fragen zu ihrer Arbeit und ihrem Verhältnis zu Passagier/innen ohne Tickets, die Busmusiker aus Sicht der Verwaltung der líneas nun einmal waren.22 Auf der anderen Seite schienen lange Gespräche den Busfahrern eine willkommene Abwechslung zu ihrer langweiligen, einsamen Arbeit zu sein. Nachdem Interviews mit Passagier/innen mich in den arbeitenden Teil der Menschen an Bord der Busse integriert hatten, sprachen Busfahrer oft, lange und überraschend offen und erklärten sich einverstanden, dass ich ihre Informationen verwendete. Den größten Anteil unserer Konversationen nahm meistens relajo23 ein. Dennoch erzählten Busfahrer über ihre eigene Arbeit, ihren Alltag und ihr Verhältnis zu Busmusikern und Händler/innen. Während bewertende und kommentierende Aussagen seitens des Interviewers in Methodenhandbüchern gemeinhin als schwere methodologische Fehler dargestellt werden (vgl. Hopf 2008: 359), for-
20 Zwar war es bedauerlich, dass gerade jene Passagier/innen, die schliefen oder sich dem Interview verweigerten, sich eventuell auch von Busmusikern belästigt fühlten. Dennoch fing ich in mehreren Interviews kritische Stimmen gegenüber Musikern und Händler/innen ein, die der Vermutung widersprachen, dass alle Passagier/innen mit einer geringen Toleranz gegenüber Musikern, sich ebenfalls meinen Interviews verweigerten. 21 Zu Verhältnis zwischen Busfahrern, Inspekteur/innen und den líneas vgl. Kapitel 6.2. 22 Daher habe ich sämtliche Namen von Busfahrern in dieser Arbeit durch Synonyme ersetzt. 23 Der »relajo« zwischen Fahrern, Musikern und Händler/innen umfasste Scherze über den/die jeweils andere. Während Busfahrer und Händlerinnen oft flirteten, waren die Spitzen zwischen Männern derber und liefen oft darauf hinaus die heterosexuelle Orientierung des jeweils anderen in Frage zu stellen. Dabei waren »albures«, Doppeldeutigkeiten und Wortspiele, ein beliebtes Instrument. Relajo dominierte die Mehrheit der Unterhaltungen zwischen Busfahrern und Musikern (vgl. Kapitel 6.2) und vermutlich einer der Gründe, warum es Musikerinnen schwerer fiel, in Überlandbussen zu arbeiten.
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derten Busfahrer oft nach einer Meinung, die sie in ihrer Position bestärkte. Komplizenschaft förderte die Gesprächssituation, während neutrale Distanz den Verdacht erweckte, ich sei im Auftrag der Verwaltung unterwegs (z.B. Gespräch mit »Luca« in TER zwischen Iguala und Buenavista de Cuéllar am 26.11.2010 und Gespräch mit »Alberto« in TER zwischen Iguala und Puente de Ixtla am 4.12.2011). Zu Beginn meiner Feldforschung führte ich viele Gespräche mit Musikern, die ich letztendlich nicht in meine Arbeit aufnahm. Dazu führten mal geographische Gründe, weil ihre Strecken praktisch nicht in meine Arbeit einzufügen waren oder keine neuen Erkenntnisse versprachen, und mal professionelle Gründe, weil sie nur selten oder seit langer Zeit nicht mehr an Bord von Bussen auftraten. Aus einigen dieser Gespräche ergaben sich allerdings kurze Interviews, aus denen sich anhand von auf den jeweiligen Interviewpartner abgestimmten Leitfragen Informationen ziehen ließen, die beispielsweise bei der Suche nach Busmusikern halfen oder die Gründe darlegten, warum diese Musiker eben nicht oder nicht mehr an Bord von Überlandbussen auftraten. Besonders hervorzuheben waren Interviews und Gespräche mit dem Musiker und politischen Aktivisten Andrés Contreras, der lange Jahre als Busmusiker auf rutas in den nördlichen Bundesstaaten gearbeitet hatte und mich an mehreren Punkten meiner Feldarbeit beriet. Des Weiteren führte ich Gespräche und Interviews mit Händler/innen, Inspekteur/innen, boleteros24, checadores25 und den Leiter/innen von Terminals. Auswertung der Interviews Da ich sämtliche Interviews aufnahm, war der erste Schritt ihrer Auswertung ihre Transkription.26 Bei den Transkriptionen, die ich möglichst zeitnah auf das Interview durchführte, kombinierte ich die Audioaufnahmen mit schriftlichen Notizen, die ich während des Interviews gemacht hatte, so dass die daraus resultierenden Texte nicht nur die akustischen Äußerungen meiner Interviewpartner/innen enthielten, sondern auch begleitende Gesten und andere nicht-akustische Äußerungen: »Für meine Kinder und Enkel habe ich eine hervorragende Schule. Die Schule, die auch ich durchlebt habe, die beste: die Armut, das Leben, [es klappert die goldene Uhr, die er sich kurz vor unserem Interview angezogen hat] die Arbeit, die Misshandlung.« (Villanueva, Gabriel 16.10.2010) Auf Grundlage der Transkriptionen ordnete ich die Daten der narrativen Interviews durch thematisches coding (vgl. Gibbs 2007: 38-39). Die Codes halfen mir, die Leitfrageninterviews zu entwickeln und die einzelnen Themen der Musiker untereinander abzugleichen. Bei diesem ersten Codierungsprozess handelte es sich folglich überwiegend um deskriptive Codes, die sich thematischen Kategorien zuordnen ließen. Anhand der Kategorien konnte ich die aus Sicht meiner Interviewpartner/innen relevanten
24 »Boletero/as« wurden die Ticketverkäufer/innen an Haltestellen genannt. 25 Die Aufgabe der »checadore/as« war es, die Ankunfts- und Abfahrtszeiten der Busse an Haltestellen zu notieren, damit Busfahrer ihre Fahrt nicht absichtlich verzögerten, um folgenden Fahrern die Passagier/innen und mit ihnen die Kommission abzugraben. 26 Die Transkription zähle ich mit Sabine Kowal und Daniel C. O’Connell zur Auswertung der Interviews, weil bereits die verschriftlichte Auswahl aus der akustischen Datenmenge durch »theoriegeladene, konstruktive Prozesse« (vgl. Kowal und O’Conell 2008: 440) zustande kommt.
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Aspekte herausfiltern und in meiner Arbeit berücksichtigen. So wurde ich zum Beispiel auf die gestiegenen Kontrollen an Bord der Überlandbusse durch Inspekteur/innen der líneas aufmerksam, über die sich viele der Musiker beklagten. In einem dritten Prozess, den ich mehrfach wiederholte, setzte ich in sämtlichen Interviews analytische Codes, in denen ich die Aussagen meiner Interviewpartner/innen auf der Grundlage bisheriger Ergebnisse interpretierte (vgl. Schmidt 2008: 452-453). So ließ sich das Adjektiv »honrado« (»ehrlich«), das Busmusiker sowohl in Interviews als auch bei Monologen während ihrer Performances auffällig oft verwendeten, als Verteidigung gegen die Stigmatisierung als Bedürftige deuten. Dies ergab sich aus langen Ausführungen über Scham in den Interviews der Musiker und vor allen Dingen aus Interviews mit Passagier/innen, die meistens den karitativen Aspekt ihrer Spenden und nicht die musikalische Leistung der Musiker in den Vordergrund stellten.27
3.3 BEOBACHTUNGEN IN DEN FORSCHUNGSRÄUMEN Den zweiten zentralen methodologischen Bereich meiner Forschung stellte die teilnehmende Beobachtung dar. Sie bedeutete zum einen »Ko-Präsenz« (vgl. Goffman 1963: 17) zwischen mir und den Akteur/innen, die mir half ihr Vertrauen zu gewinnen und sie in vielen Fällen überhaupt erst zu einer Zusammenarbeit zu bewegen (vgl. Bernard 2011: 256). Zum anderen handelte es sich, um eine Form der Datenerhebung aus beobachteten Situationen, an denen ich selbst teilnahm (vgl. Breidenstein; Hirschauer; Kalthoff und Nieswand 2013: 71). Dabei erforderte jede/r Akteur/in und jede Forschungssituation unterschiedliche Taktiken (vgl. Lüders 2008: 385). Nicht immer handelte es sich um andere, die ich beobachtete, vieles beobachtete ich an mir selbst. Im Laufe meiner Feldforschung wechselte ich zwischen unterschiedlichen Rollen, »fieldwork roles« (vgl. Bernard 2011: 260), die zwischen den Extremen »Teilnehmer« und »Beobachter« schwankten, und sich mal an Busmusikern, mal an Busfahrern und mal an Passagier/innen orientierten. Dabei war es unmöglich, die ethnographische Arbeit gegenüber den Interviews abzugrenzen, wie es oft in Methodenhandbüchern geschieht (vgl. z.B. Lüders, 2008: 391 und Breidenstein; Hirschauer; Kalthoff und Nieswand 2013: 71-72). Die Interviews mit Passagier/innen wurden sogar zu einem Schlüssel, der mir die Türen zu den Fahrerräumen der Busse öffnete und mir Einlass in den Zirkel derer, die an Bord der Busse arbeiteten, gewährte. Auch wenn ich nicht, wie die Busmusiker im Gang der Busse mit Gitarre und Gesang auftrat, so rückte mich die Tatsache, dass ich an Bord der Busse einer Arbeit nachging, in die Nähe vieler Akteur/innen, die dort ebenfalls ihren Lebensunterhalt verdienten. Erst die tägliche Teilnahme an Bord der Busse und am Leben der Akteur/innen zeigte relevante Fragen auf und ließ mich Hypothesen, die sich als falsch oder unbedeutend erwiesen, verwerfen. Meine ersten Handlungen, nachdem ich einen Bus betrat, entsprachen der Rolle eines Beobachters. Meine Sitzplätze in den Fahrgasträumen der Überlandbusse nutzte ich als Orte systematischer Beobachtung (vgl. Beer 2003: 119). Ich notierte einem festen Protokoll folgend die Merkmale des Busses, in dem ich reiste: línea und servicio, seine ruta, der Abschnitt, den ich auf ihr bereiste, die Uhrzeit und den Preis, den ich
27 Zur Wahrnehmung der músicos ambulantes durch die Passagier/innen vgl. Kapitel 6.3.
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bezahlte. Im Fahrer- und Fahrgastraum interessierten mich vor allen Dingen der generelle Zustand des Busses, seine Gestaltung und seine räumliche Ordnung. War der Fahrerraum durch eine Tür oder einen Vorhang vom Fahrgastraum getrennt? War der Fahrerraum individuell dekoriert? Wie vielen Passagier/innen bot der Bus Platz und – war er voll – transportierte er auch stehende Fahrgäste? Wo nahmen Fahrgäste bevorzugt Platz? Saßen sie lieber allein oder mit einem/r Nachbar/in? Unterhielten sie sich? Kommunizierten sie mit dem Busfahrer? Womit beschäftigten sich die Passagier/innen sonst? War der Bus mit Bildschirmen ausgestattet und zeigten sie Filme? Lief Radio oder Musik von CD? Ließen sich die Fenster öffnen oder besaß der Bus eine Klimaanlage? Die Ereignisse in Fahrer- und Fahrgastraum setzte ich ins Verhältnis zu rutas und Transiträumen. Wo hielten Busse? Hielten sie ausschließlich an offiziellen Haltestellen oder an scheinbar beliebigen Orten? Wo stiegen Menschen zu und wo stiegen sie aus? Des Weiteren notierte ich, wenn Händler/innen in den Bus stiegen. Was verkauften sie und fanden ihre Waren Absatz unter den Passagier/innen? Wie verkauften sie ihre Waren? Stiegen keine Händler/innen zu, beobachtete ich am Straßenrand, ob sie eventuell um Zustieg baten, aber stehen gelassen wurden. Verkauften sie eventuell durch offene Fenster in den Bus? Stiegen Musiker zu, notierte ich, wo sie sich im Bus platzierten, die Anzahl der Stücke, die sie spielten und um welches Genre es sich handelte, wie die Passagier/innen auf sie reagierten und wie viele von ihnen Geld gaben.28 Neben diesen sehr strukturierten Informationen bestand der Großteil meiner Notizen aus der Beschreibung von Besonderheiten: Gesprächsfetzen, Transkriptionen der beeindruckenden Verkaufspredigten von pomaderos, Kommentare zu auffälligen Mitreisenden und Schilderungen des Umgangs zwischen Busfahrern und Inspekteur/innen. Die auf diese Weise gesammelten Notizen fügte ich, wenn möglich, noch an Bord der Busse zu zusammenhängenden Texten für mein Feldtagebuch. Die relative Ereignislosigkeit auf vielen der rutas bot mir dazu oft Gelegenheit. Die Beobachtungen und Notizen an Bord der Busse tätigte ich jedoch nicht allein aus der Position eines distanzierten Betrachters. Ich war zugleich Passagier. Ich hatte wie andere Passagier/innen meistens ein Ticket gelöst.29 Ich besetzte einen für Passagier/innen vorgesehenen Platz im Bus oder stand mit anderen weniger Glücklichen im Gang. Mit der Zeit veränderte sich auf diese Weise meine Wahrnehmung von Busreisen, die zu Beginn noch stark vom touristischen Blick geprägt war. Alles vor dem Fenster war neu, und mich beeindruckten die gewaltigen Bergpanoramen der Sierra Madre del Sur oder die spektakulären Ausblicke auf den Pazifik. Je mehr Zeit ich jedoch an Bord von Bussen verbrachte, desto mehr ernüchterte mein Blick. Wiederholung führte dazu, dass markante Stellen der Reise sich von beeindruckenden Sehenswürdigkeiten zu Wegmarkierungen wandelten: vom Bergkegel bis nach Cuautla war es etwa eine dreiviertel Stunde, von der Panoramastraße über dem Strand von Pie de la Cuesta bis Acapulco waren es noch zehn Minuten.
28 Besonders wenn ich Musiker auf ihren Performances begleitete, waren die Notizen allerdings viel ausführlicher. 29 Später in meiner Forschung reiste ich wie andere erfahrene Passagier/innen oft ohne Ticket und bezahlte direkt beim Busfahrer eine niedrigere Summe. Zur Praxis der Busfahrer, Passagier/innen ohne Ticket zu transportieren, vgl. Kapitel 6.2.
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Auch die Passagier/innen, die das Publikum der Auftritte von Busmusikern bildeten, fuhren selten das erste Mal entlang der rutas, auf denen sich unsere Wege kreuzten. Kaum jemand unter meinen Mitreisenden hielt sich zum Vergnügen an Bord der Busse auf, selbst Tourist/innen zwischen Mexiko-Stadt und den Pyramiden von Teotihucán machten selten den Eindruck, dass sie den Aufenthalt im Bus und die Fahrt als unterhaltsam empfanden. Die meisten Passagier/innen waren Pendler/innen, Händler/innen oder aufgrund der schwachen Infrastruktur ihrer Wohnorte und durch Arbeitsmigration gezwungen, regelmäßig weite Reisen zu unternehmen. Busreisen und besonders ihre Wiederholungen brachten mich folglich der Perspektive meiner Mitreisenden näher. Umgekehrt brachten mir gerade Situationen, auf die meine Mitreisenden anders als ich reagierten, Erkenntnisse, die dem Verständnis ihres Verhältnisses zu den Busmusikern halfen. Dazu gehörte beispielsweise die im Vergleich zu mir offensichtlich hohe Toleranz gegenüber Geräuschen.30 Brigitte Hauser-Schäublin verweist allerdings auf ein Paradoxon, das im Zusammenhang mit meiner teilnehmenden Beobachtung an Bord der Busse in besonderer Weise deutlich wurde. Sie bemerkt die Widersprüchlichkeit zwischen dem Anspruch, sich zu verhalten, wie jemand zugehöriges, während es zugleich gilt, das Geschehen mit einem distanzierten ethnographischen Blick zu beobachten (vgl. Hauser-Schäublin 2003: 38). Daher blieb mir der Zugang zu prägenden Gefühlen der Passagier/innen verwehrt. Langeweile konnte durch die fortwährende Beobachtung und Dokumentation kaum aufkommen. Ebenso empfand ich nicht die Entspannung von den Sorgen meines Arbeitsalltags, die andere Passagier/innen mit Busreisen verbanden. Sowohl Langeweile als auch der Wunsch nach Entspannung wirkten als wichtige Faktoren auf die Haltung der Passagier/innen gegenüber Performances von Busmusikern. 31 Besonders als ich begann, während meiner Busreisen andere Passagier/innen zu interviewen, entfernte ich mich von der Rolle des Passagiers und näherte mich der Rolle jener, die an Bord ihren Lebensunterhalt verdienten. Eine Besonderheit bildete in meinem Feld, dass ich mich niemals in einer definierten überschaubaren Gruppe aufhielt, sondern meine Mitreisenden immerfort wechselten. Das bedeutete allerdings nicht, dass ich an Bord eines jeden Busses von Null begann, Vertrauen aufzubauen und die übrigen Anwesenden an mich zu gewöhnen. Gerade die eingeschworene Gemeinschaft der Busfahrer ermöglichte mir, das Vertrauen eines Busfahrers als Referenz vorzubringen, wenn ich einen zweiten traf. Dabei kopierte ich Taktiken, die músicos ambulantes anwandten, um ihre Netzwerke befreundeter Busfahrer auszubauen. Ich erkundigte mich zu Beginn meiner Gespräche mit unbekannten Busfahrern nach dem Befinden anderer Fahrer derselben línea, die ich bereits kannte. Ich lernte, dass es half die Busfahrer mit ihren Spitznamen anzusprechen, da ich auf diese Weise bewies, dass ich mein Wissen von anderen Busfahrern und nicht etwa von Personallisten der verhassten Verwaltung hatte. Der wichtigste Schritt war allerdings, dass ich die Busfahrer über meine Absichten aufklärte und vermittelte, dass ich einen persönlichen Gewinn aus meiner Anwesenheit an Bord der Busse zog. Mein Einkommen war eines der häufigsten Themen, die Busfahrer in Gesprächen mit mir aufwarfen. Es waren daher vor allen Dingen die Interviews mit Passagier/innen, die
30 Zur Toleranz der Passagier/innen gegenüber músicos ambulantes vgl. Kapitel 7.2. 31 Vgl. ebd.
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mich den Busfahrern entscheidend näherbrachten. Plötzlich war ich nicht mehr Passagier und Kunde. Wie Musiker, Händler/innen und letztendlich auch die Busfahrer selbst verdiente ich meinen Lebensunterhalt an Bord der Busse. Wenn ich nach den Interviews auf der Stufe zum Gang direkt neben dem Fahrersitz saß oder auf der Treppe zum Ausstieg stand, widersprach ich nicht mehr der räumlichen Aufteilung des Busses.32 Ich war Ziel des relajos und wurde gelegentlich geschickt, um Dinge aus dem Gepäckraum zu holen oder Passagier/innen fehlendes Wechselgeld zu ihrem Sitzplatz zu bringen. Mit der Zeit sprach sich meine Anwesenheit unter den Fahrern herum und Musiker wurden nach mir gefragt, wenn ich sie nicht begleitete. Der Aufenthalt in den Fahrerräumen eröffnete die Perspektive jener Männer, die aus Sicht der Musiker oft anhand der binären Begriffe »camaradas«, jene Fahrer, die sie mitnahmen, und »calabazas«, die sie stehenließen, beurteilt wurden. Erst von den Fahrern selbst hörte ich von ihren langen Arbeitszeiten und schlechten Arbeitsbedingungen, der Angst um ihre Arbeitsplätze, ihrem permanenten Kampf gegen Müdigkeit, ihrer Langweile und ihrer Einsamkeit.33 Intensiver als alle übrigen Akteur/innen begleitete ich die Busmusiker selbst. Ich teilte ihren Alltag nicht allein in Bussen, sondern auch in ihren Häusern, Wohnorten und am Straßenrand. Ich begleite die Bewegungen der Musiker entlang ihrer Strecken, zeichnete sie auf und konstruierte aus ihnen schließlich die Streckennetze. Die langen Aufenthalte am Straßenrand verdeutlichten erst, dass die Performances in den Gängen der Überlandbusse nur einen kleinen Teil ihrer Arbeitszeit in Anspruch nahmen, und das Wissen, das ihre Arbeit erforderte, sich nicht allein auf ihre musikalischen Fähigkeiten beschränkte, sondern unter anderem die Kenntnis der Fahrpläne, der rutas und der Infrastruktur der Transiträume einschloss. Aufenthalte an Ein- und Ausstiegsorten der Musiker gewährten mir Einblicke in die Organisation der Musiker untereinander und die teils verbitterten Konkurrenzkämpfe, die dem ersten Blick hinter höflichen Begrüßungen und dem pragmatischen Miteinander des Alltags verborgen blieben. Besonders die Haltestelle »30-30«, die tragischen Schicksale, die ihre plötzliche Verlegung begründete, und die Atmosphäre der neuen Haltestelle »Puente Morelos«, ließen sich nur in der direkten Erfahrung teilnehmender Beobachtung erschließen. Die Teilnahme an den Performances der Busmusiker bedeutete, dass ich Bestandteil der feedback-Schleife wurde, egal ob ich mit einem Mikrophon vor dem Musiker im Gang kniete, vorne im Fahrerraum blieb und mich mit dem Fahrer unterhielt oder auf einem Sitz im Fahrgastraum der Musik lauschte. Viele der Performances schnitt ich mit einem Audiorecorder mit und machte mir erst im Nachhinein Notizen. Während ich mich dabei meistens mit meinem Recorder auf einem Passagiersitz positionierte, vermittelten mir besonders Aufnahmen, die ich stehend oder kniend im Gang vor dem Musiker verbrachte einen Eindruck der Balance und Schwindelfreiheit, die der Beruf des Busmusikers erforderte. So schrieb ich beispielsweise die Aufnahme einer Performance von Salvador Hernández auf der rasanten Abfahrt entlang der kurvigen Schnellstraße Richtung Iguala: »Ich stehe im Gang während Chava [Salvador Hernández] performt. Ich drücke meinen Hintern gegen eine Rückenlehne und lege meinen linken Arm entlang der Gepäckablage, um auf der 32 Zur räumlichen Ordnung zwischen dem Fahrerraum und dem Fahrgastraum vgl. Kapitel 6.1. 33 Zu den Arbeitsbedingungen der Fahrer vgl. Kapitel 6.2.
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kurvigen Abfahrt die Balance zu halten. In der rechten Hand halte ich mein Mikro. Bereits nach zwei Minuten ertappe ich mich dabei, wie ich auf die Zeitanzeige des Aufnahmegerätes starre. Mein rechter Arm wird schwer. Ich weiß, dass die Show etwa 15 Minuten dauern wird. Aus dem Frontfenster kann ich nur den unterbrochenen Mittelstreifen sehen, den der Bus in sich hineinzuziehen scheint. Die zuckende gelbe Linie verschwimmt mit den Vibrationen des Busses. Zu den Seiten sehe ich nur die Gepäckablage, auf der vereinzelte Reisetaschen und Plastiktüten hin und her rutschen. Mir wird langsam übel. In Rechtskurven bammelt meine Umhängetasche einem schlafenden Jungen ins Gesicht und in Linkskurven befürchte ich, dass ich der Frau hinter mir mein Gesäß an die Schläfe drücke. Chava scheint keine derartigen Probleme zu haben, obwohl er gelegentlich nach vorne schwankt und seine Füße umsetzen muss. Er steht mit seinem Rücken genau umgekehrt zu mir an die linke Sitzreihe gelehnt anderthalb Meter vor mir im Bus und blickt entgegen der Fahrtrichtung den Passagieren ins Gesicht. Im Gegensatz zu mir hat er keine Hand frei, um sich festzuhalten, da er beide zum Gitarre spielen braucht. Nach seinem letzten Stück nickt er mir kurz zu, und ich lasse mich in einen der wenigen freien Sitze fallen, während ich seinen Coperachatext mitschneide. Ist mir schlecht!« (Tagebucheintrag vom 2.12.2011 in TER zwischen Buenavista de Cuéllar und Iguala)
Bei anderen Performances ließ ich meinen Recorder zwar laufen, richtete meine Aufmerksamkeit jedoch auf die schriftliche Dokumentation der Performance, fertigte ausführliche deskriptive Notizen an und achtete besonders auf jene Aspekte, die sich einer Audioaufnahme entzogen, wie die nicht-akustischen Reaktionen des Publikums, das Spendeverhalten der einzelnen Passagier/innen, Standorte der Musiker, ihre Gesichtsausdrücke und ihre Technik. Auswertung der ethnographischen Daten Mit Gregory F. Barz verstehe ich Feldnotizen und Tagebucheinträge nicht als reine Abbildung der Beobachtungen, die sie dokumentieren, sondern immer bereits als Interpretationen (vgl. Barz 1997: 45). In diesem Sinne unterzog ich Feldnotizen und Tagebucheinträge den gleichen Codierungsprozessen, wie die Transkriptionen der gesammelten Interviews. Auch die in Text übersetzten Beobachtungen lieferten mir Kategorien, die ich in Leitfadeninterviews und folgende Beobachtungen einband. Genauso wie Aussagen meiner Interviewpartner/innen finden Tagebucheinträge in Form von Zitaten Einzug in diese Arbeit. Sie stehen somit nicht über den Aussagen meiner Interviewpartner/innen, sondern bilden eine weitere Perspektive aus dem Feld, die sich vom übrigen Text zeitlich und räumlich unterscheidet.
3.4 AUFNAHMEN Neben Interviews und teilnehmender Beobachtung bildeten Tonträger und Audioaufnahmen die dritte Quelle meiner Arbeit. Ich machte Aufnahmen von Musikern in verschiedenen Performance-Situationen, kaufte gleichzeitig Aufnahmen, die sie bereits produziert hatten, und erwarb in Musikgeschäften, auf Märkten und am Straßenrand, wann immer sich die Möglichkeit ergab, Musik. Da sich die Busstationen meiner Forschungsregion fast immer in der Nähe der zentralen Märkte befanden, boten sich Pausen zwischen Busreisen hervorragend an, um einen Überblick über die lokalen Hörgewohnheiten zu gewinnen. Auf allen Märkten befanden sich Stände mit gebrannten
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CDs, die für die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung den wichtigsten Zugang zu aufgenommener Musik darstellten.34 Die so genannten piratas35 beschallten häufig einen ganzen Abschnitt des Marktes mit Musik aus ihren mächtigen Anlagen. Ich verbrachte viel Zeit an ihren Ständen, erhielt einen akustischen Überblick und sah mir gleichzeitig das ausgestellte Angebot an. Ich bat piratas um Empfehlungen regionaler Gruppen aber auch um jene Musik, die sie am besten verkauften, und sammelte diese CDs. Nicht nur ich, sondern auch die Musiker, die ich begleitete, informierten sich an den Ständen über die neusten Veröffentlichungen, um die sie ihr Repertoire erweitern wollten. Auf diese Art und Weise entstand ein Bild lokaler Hörgewohnheiten, die für die Arbeit der Busmusiker eines der relevantesten Elemente bei der Konstitution von Transiträumen darstellten.36 Sofern die Musiker über eigene Musikproduktionen verfügten, kaufte ich sämtliche Tonträger direkt bei ihnen. Besonders »Los Pajaritos del Sur«, die 2013 ihr 30. Studioalbum veröffentlichten, versorgten mich auf diese Weise mit großen Teilen ihrer Diskographie. Von den Musikern, die ich begleitete, fertigte ich Aufnahmen ihrer Auftritte in Bussen und anderen Performancesituationen, beispielsweise auf Feiern oder in Bars und Restaurants an. Dabei richtete ich vor allen Dingen an Bord der Busse die Aufnahmen nicht so aus, dass Stimme und Instrumente der Musiker möglichst rein aufgezeichnet wurden. Stattdessen wählte ich für die Mikrophone bewusst eine distanziertere Position – meistens auf einem Sitz nahe des Standortes des Musikers – und einen weiteren Winkel, der sie sowohl Stimme und Instrument als auch die übrigen Geräusche des Fahrgastraumes einfangen ließ. Die so entstandenen Aufnahmen dokumentieren daher ebenfalls den akustischen Kontext, der Teil der Performances an Bord der Überlandbusse bildete. Die Musik ist auf diesen Aufnahmen in Motorengeräusche, das Surren der Reifen auf dem Asphalt, das Flattern der Vorhänge vor offenen Fenstern, Fetzen von cumbias37 oder rancheras38 aus den Radios der Busfahrer und die Unterhaltungen von Passagier/innen gebettet. Die Aufnahmen von Performances spielten auch deshalb eine wichtige Rolle, weil die Musiker die Texte ihrer Stücke häufig an Transiträume beziehungsweise die jeweilige ruta, auf der sie gerade performten, anpassten.39 Ich nahm Musiker ebenfalls in studioähnlichen Situationen auf. Diese Aufnahmen führten wir vor allen Dingen in den Wohnhäusern der Musiker durch. Wir nahmen die Stücke der Musiker auf, hörten sie gemeinsam durch, diskutierten die musikalische Leistung und die Qualität der Aufnahme und nahmen erneut auf, wenn die Musiker 34 Einen zweiten immer wichtiger werdenden Zugang zu Musik stellten Internet-Cafés dar. Insbesondere die erschwinglichen Preise von Mobiltelefonen mit Mp3-Player-Funktion, ermöglichten ihren Nutzer/innen Musik aus dem Internet herunterzuladen und zu speichern, um sie beliebig abrufen zu können (vgl. Kapitel 7.2). 35 Als »piratas« wurden Verkäufer/innen kopierter Kassetten und CDs bezeichnet. 36 Zur Platzierung regionaler Genres und der Synthese musikalischer Transiträume vgl. Kapitel 5.5. 37 Als Adaption der cumbia colombiana erfreute sich das Subgenre »cumbia mexicana« in Mexiko großer Beliebtheit. 38 Das Genre der »canción ranchera« war vor allen Dingen durch Filmproduktionen der 1940er Jahre zu einem der populärsten mexikanischen Genres aufgestiegen (vgl. Kapitel 5.5). 39 Zu Räumen und Orten in Texten vgl. Kapitel 7.4.
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mit dem ersten Ergebnis unzufrieden waren. Mit diesen Aufnahmen verfolgte ich verschiedene Ziele. So dienten sie mir dazu, saubere und möglichst klare Mitschnitte zu erhalten. Während die Aufnahmen von Auftritten in den Fahrgasträumen der Busse ein Gefühl für die in dieser Arbeit zentrale Performancesituation vermittelten, ermöglichten Aufnahmen aus studioähnlichen Situationen ein einfacheres Text- und Musikverständnis. Die studioähnlichen Aufnahmen und besonders die anschließenden Diskussionen mit Musikern gewährten mir zudem Einblicke in ihre Vorstellungen bezüglich idealem Klang und idealer Performance ihrer Stücke. Mit den Audioaufnahmen aus studioähnlichen Situationen revanchierte ich mich auch bei meinen Interviewpartnern. Während es sich bei Gabriel und Lorenzo Villanueva um erfahrene recording artists handelte, hatten andere Musiker wenig oder gar keine Möglichkeiten, ihre Kompositionen festzuhalten. Obwohl die Aufnahmen schon aufgrund der Aufnahmeräume und der Ausrüstung nicht die Qualität kommerzieller Studioaufnahmen erreichten, dienten sie den Musikern als Dokumentation ihrer eigenen Musik. In einigen Fällen waren die Aufnahmen von solcher Qualität, dass die Musiker sie in Bussen zum Verkauf anboten. Die Aufnahmen der Performances glich ich gegenüber kommerziell produzierten CDs oder auch den von mir angefertigten studioähnlichen Aufnahmen ab. Der Vergleich förderte das Verständnis für Vorstellungen der Musiker von einer idealen Interpretation, die sie aufgrund verschiedener Umstände an Bord von Überlandbussen nicht umsetzen konnten. So interpretierten Musiker der beiden Streckennetze in Guerrero ihre Musik in der Regel als dueto de guitarras und die etablierten Musiker im Streckennetz »Paradero 30-30« ihre boleros als trio40, wenn nicht räumliche und finanzielle Gründe an Bord der Busse sie zwangen alleine aufzutreten. Häufig beklagten sich Busmusiker über den Verlust dynamischer Nuancen während ihrer Performances an Bord der Busse, wo sie oft gezwungen waren, fortissimo zu singen, um sich durchzusetzen.41 So gehörte Lautstärke zu den wichtigsten technischen Eigenschaften der Busmusiker: »Du musst lauter singen, dann kann man es hören. […] Ich kann sehr laut singen. Ich singe so laut, dass es man es überall im Wagen hört. Ich habe schon mehrere Sänger gehört, die leiser singen.« (Hernández, Hexiquio 29.3.2013) Nachdem músicos ambulantes in Interviews deutlich gemacht hatten, dass sie Genres in bestimmten Transiträumen platzierten, lenkten sie meine Aufmerksamkeit auch auf die in der Fachliteratur üblichen räumlichen Zuordnungen der so genannten »música regional« (vgl. Sheehy 1998: 605). Ich untersuchte daher die Aufnahmen im Hinblick auf jene Merkmale, die Musiker Stücke bestimmten Genres zurechnen ließen. Dabei spielten in erster Linie Harmonik, Metrik und Instrumentierung eine wichtige Rolle. So waren corridos und chilenas in Moll-Tonarten eine Besonderheit der Costa 40 Beim »trio« oder auch »trio romántico« handelte es sich um das typische Ensemble der música romántica (vgl. Kapitel 5.5). Unter dem Einfluss kubanischer Musik auf der YucatánHalbinsel entstanden, brachte vor allen Dingen das »Trio Los Panchos« diese Ensembleform nach Mexiko-Stadt und verschaffte ihr nationale und internationale Bekanntheit. Das Ensemble besteht aus drei Gitarren (»guitarra primera«, »guitarra segunda« und »requinto«) und dreistimmigem Gesang. Unter meinen Interviewpartnern war diese Ensembleform genauso wie die música romántica urban konnotiert. So traten nur Musiker des Streckennetzes »Paradero 30-30« als trio auf. 41 Die musikalischen Kompromisse, zu denen sie ihre Performances an Bord von Bussen zwangen, hatten gravierenden Einfluss auf ihr Selbstverständnis (vgl. Kapitel 6.3).
Methoden einer Feldforschung in Bewegung | 63
Chica, während sowohl corridos als auch sones42 anderer Regionen in der Regel in Dur standen. Salvador Hernández betrachtete seine Fähigkeit die komplexeren Rhythmen lokaler sones zu interpretieren, als einen Vorteil, den er gegenüber seinem Bruder besaß, der auf denselben Strecken lediglich die rhythmisch einfacheren corridos spielte. Im Fall Gabriel Villanuevas, der einen Großteil der Musik, die er an Bord der Überlandbusse spielte, selbst komponierte, eröffneten sich weitere Perspektiven. So spielte die Metrik im Zusammenhang auf die textlichen Inhalte seiner Kompositionen eine wichtige Rolle. Er begleitete traurige corridos, wie jene, in denen er Katastrophen und Unfälle besang, im »valseado« genannten 3/4-Takt. Mit dem 2/4-Takt, den er als »paso doble« bezeichnete, versah Gabriel Villanueva hingegen corridos, wenn er diese tanzbar gestalten wollte (Villanueva, Gabriel 10.10.2011). Die Metrik seiner Stücke hatte zugleich große Bedeutung im Zusammenhang mit seinen Performances an Bord der Busse, wo er in der Regel als letztes Stück einen corrido valseado spielte, weil er nur über diesen seinen grito, mit dem er Fahrgäste weckte, singen konnte.43 Hingegen waren die corridos im paso doble eng mit den Auftritten auf privaten Feiern vor einem tanzenden Publikum verbunden. Gemeinsam mit transkribierten Interviews, Feldnotizen und Tagebüchern bildeten Texte der aufgenommenen Performances, der studioähnlichen Aufnahmen und der von Busmusikern verkauften Tonträger eine wichtige Quelle. Ich analysierte sowohl Texte, die von den Busmusikern selbst komponiert worden waren, als auch Texte von Stücken fremder Komponisten, die die Musiker für ihre Performances an Bord der Busse auswählten. Auch dabei legte ich den Schwerpunkt auf räumliche Aspekte. So organisierten zwei zentrale Fragen die Analyse: »Auf welche Weise wurden in den Texten Räume konstituiert?« und »Wie entstanden in den Texten Verknüpfungen zwischen verschiedenen räumlichen Ebenen?« Im Interesse der ersten Frage standen Raumbeschreibungen materieller und symbolischer Eigenschaften und Lokalisierungen, die in den Texten zu Räumen synthetisiert wurden. Bei vielen der Stücke, die Musiker an Bord der Überlandbusse spielten, handelte es sich um corridos, Balladen mit großem Gewicht auf ihren langen narrativen Texten, in denen meist tragische Ereignisse geschildert wurden. Präzise Ortsangaben waren für corridos nicht nur charakteristisch, sondern sogar ein entscheidendes Merkmal bei der Bewertung ihrer Qualität. 44 Auch andere sehr präsente Genres, wie chilenas und sones waren reich an ausführlichen Raumbeschreibungen. Selbst in canciones rancheras und canciones románticas, deren räumliche Bezüge auf den ersten Blick weniger prominent erschienen45, wurden Inhalte an konkreten Orten oder bestimmten Räumen platziert. Lokalisierungen erfolgten dabei nicht notwendigerweise inhaltlich durch die Nennung von Orten, sondern auch durch geographische Markierungen auf der Ebene der Sprache und des verwendeten Vokabulars. Dabei implizierten diese Elemente innertextlicher Raumkonstitution immer bereits außertextliche räumliche Verknüpfungen. Bei den Orten, an denen in den Texten besungene Handlungen und Ereignisse platziert wurden, handelte es sich oft 42 Der Begriff »son« stellte eine Sammelbezeichnung für diverse lokale Genres dar, die aber in Aufbau, Rhythmik und Harmonik viele Gemeinsamkeiten aufweisen (vgl. Kapitel 5.5). 43 Zu Techniken, wie Musiker schlafende Fahrgäste weckten vgl. Kapitel 7.2. 44 Zum Anspruch an corridos über lokale Ereignisse vgl. Kapitel 7.3. 45 Zu regionalen Genres vgl. Kapitel 5.5.
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um konkrete Orte der Transiträume. Wichtige Details, die diese Rolle der Texte in den Wechselbeziehungen der räumlichen Ebenen beleuchteten, ließen sich mit der Frage, ob Musiker die Texte immer gleich sangen oder variierten, aufdecken. Auch hier half der Vergleich zwischen Aufnahmen von Performances und kommerziellen Aufnahmen beziehungsweise studioähnlichen Aufnahmen. Passten Musiker Lokalisierungen in ihren Texten der ruta, auf der sie sich bewegten an? Oder: Wählten sie bestimmte Stücke für konkrete Strecken? Welche Texte standen im Zusammenhang zur Bewegung an Bord der Überlandbusse? Behandelten sie etwa Reisen, Mobilität oder Unfälle? Manche Texte reflektierten sogar die Performanceräume, derer sie einen Teil bildeten, und kommentierten als typisch empfundene Gestalten der feedback-Schleifen bei Performances von Busmusikern.46 Obwohl nur wenige Texte autobiographische Züge besaßen, reflektierten Texte, die von Busmusikern selbst komponiert worden waren, über deren Leben und Arbeit und ergänzten somit nicht nur Informationen aus Interviews, sondern zeichneten Bilder der Selbstrepräsentation, die nicht durch meine Fragen vorbestimmt waren. Die Audioaufnahmen dokumentierten allerdings nicht allein Text und Musik der Performances der músicos ambulantes, sondern auch die akustischen Reaktionen des Publikums, wie Zwischenrufe, Applaus und Gesang. Außerdem gaben sie Geräusche an Bord der Busse wieder, die ebenfalls in die Performance einflossen, wie das Radio des Fahrers, die Tonspur von Filmen und Fahrtgeräusche. In extremen Fällen fing die Aufnahme Signale der Transiträume ein. So ließen sich die Reflektionen eines langen Tunnels auf Aufnahmen der Performances von Lorenzo Villanueva vernehmen und sich ins Verhältnis zu Lorenzo Villanuevas Reaktion setzen, da er seine Stimme deutlich stärker pressen musste, um sich gegen die Reflektionen der Betonröhre durchzusetzen.47
46 Beispielsweise Salvador Hernández »Corrido del Cancionero« (vgl. Kapitel 4.2.1 und Kapitel 7.2). 47 Zu den widrigen Bedingungen, unter denen Lorenzo Villanueva arbeitete vgl. Kapitel 6.3.
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Die Streckennetze und ihre Protagonisten
In diesem Kapitel werden die vier Streckennetze vorgestellt, die sich aus den Bewegungen der 13 Musiker, die ich während ihrer Arbeit begleitete, ergaben. So ist jedes der vier Unterkapitel einem Streckennetz gewidmet. Der erste Teil eines jeden Unterkapitels beinhaltet jeweils allgemeine Informationen über die Streckennetze, und im zweiten Teil befinden sich die Biographien jener Musiker, die darin arbeiteten.
4.1 STRECKENNETZ 1: LA MIXTECA POBLANA Abbildung 2: Rutas und Einstiegsorte im Streckennetz »Mixteca Poblana«.
Abbildung: Kirschlager
Das Streckennetz »Mixteca Poblana« beruhte auf den Bewegungen des Musikers Efraín Balbuena, dessen Strecken sich nicht mit denen anderer Busmusiker überschnitten. Er spielte entlang der MEX-190 zwischen Izúcar de Matamoros und Acatlán de Osorio, aber auch auf der MEX-93 zwischen der Kreuzung Las Palomas und Tulcingo del Valle und auf der PUE-361 zwischen Amatitlán und Mixquitlixco. Er stieg in erster Linie in die Überlandbusse der líneas SUR, ORO, ERCO und FYPSA, jedoch spielte
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er gelegentlich auch in den combis1 der Kooperative SCAR. Dabei waren die Ein- und Ausstiegspunkte, die seine Strecken definierten, immer dieselben: »In den Überlandbussen spiele ich die ganze Route von hier bis Matamoros. Von Matamoros fahre ich bis Pitayo[2], von Pitayo bis Puente Marqués, von Puente Marqués bis Tehuitzingo und von Tehuitzingo bis Palomas, von Palomas bis Nuevos Horizontes, von Nuevos Horizontes bis Amatitlán und von Amatitlán gibt es eine andere Strecke, die bei einer Brücke abzweigt. Bis nach Mariscala, von der Brücke geht es bis nach Mariscala und die Straße kommt in Huajuapán wieder raus. Dort wohnen viele, viele Leute und dort gibt es eine Buslinie und die nehme ich bis dorthin. [...] Dort fahre ich bis Misquitepec [Mixquitlixco].« (Balbuena Reyes 19.3.2013)
Die MEX-1903 war bis Anfang der 1990er Jahre die wichtigste Verbindung MexikoStadts und Pueblas mit Oaxaca. Mit der endgültigen Fertigstellung der Autobahn MEX-135D zwischen Tehuacán und Oaxaca verlor die Straße an Bedeutung. Hinter Izúcar de Matamoros, wo der nördlichste Einstiegsort in Efraín Balbuenas Streckennetz lag, verließen die Busse auf der MEX-190 die ebenen Täler, die sich in Richtung Nord-Osten bis Puebla erstreckten, und fuhren Richtung Süden in die Mixteca Poblana. Aus den Busfenstern reichte der Blick nun nicht mehr über scheinbar endlose Zuckerrohrfelder. Der Verlauf der zweispurigen, gut asphaltierten Straße wurde kurviger, auf beiden Seiten säumten Hügel die Fahrbahn und versperrten die Sicht. Kleine Bäume und Gestrüpp überwucherten die Hügel grün in der Regenzeit, und während der Trockenzeit ragten einzig schlanke bläuliche Kakteen aus dem beige-braunen Geäst. Die Abstände zwischen Siedlungen wurden größer und die wenigen Ansammlungen von Häusern zwischen den Hügeln waren deutlich kleiner als auf der Ebene Richtung Puebla. So war die erste Haltestelle nach Izúcar de Matamoros Tehuitzingo, wo am staubigen Straßenrand zahlreiche Restaurants, Läden, öffentliche Toiletten und eine Tankstelle die Bedeutung der Bundesstraße und der auf ihr Reisenden für den kleinen Ort vermuten ließen. Zwölf Kilometer hinter Tehuitzingo entlang MEX-190 erreichten die Busse die Kreuzung Las Palomas. Hier zweigte die MEX-93 ab und führte nach Tlapa de Comonfort im Nachbarstaat Guerrero. Ein Großteil der Passagier/innen des servicio económico wechselte in Las Palomas die Busse. Auf der einen Seite der Straße befand sich ein kleiner grün-weißer Unterstand der línea SUR, auf der anderen ein Marienschrein und ein flaches Gebäude, das einen kleinen Laden und öffentliche Toiletten beherbergte. Unter Bäumen und einem ausladenden Vordach vor dem Haus warteten boleteros und Inspekteur/innen gemeinsam mit Fahrgästen auf die Busse. Etwa 35 Minuten weiter südlich passierten die Busse bei Amatitlán den Abzweig der PUE-361 Richtung Mariscala, um dann wenig später in Acatlán de Osorio
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Der Begriff »combi« bezeichnete kleine Transporter, die 10 gelegentlich auch mehr Personen transportieren konnten. Allerding war ihre Deckenhöhe zu niedrig, um darin stehend spielen zu können. An anderer Stelle sprach Efraín Balbuena von Jaulillas, einer Siedlung einige Kilometer südlich von El Pitayo (Balbuena Reyes 28.7.2010). Die MEX-190 war auf diesem Abschnitt deckungsgleich mit der MEX-160, die MexikoStadt mit Oaxaca verband.
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das erste Mal seit Izúcar de Matamoros wieder in ein Terminal einzufahren. Das Gebäude der líneas ORO und ERCO und das Gebäude der líneas ADO und SUR befanden sich unmittelbar nebeneinander in der Calle de la Independencia. Die wenigen Haltestellen in der Mixteca Poblana hatten zur Folge, dass Efraín Balbuena topes in kleinen Siedlungen wie Jaulillas oder Nuevos Horizontes oder an Brücken zum Ein- und Ausstieg nutzte.4 Er bewegte sich sowohl über die MEX-190, als auch über die MEX-93 zwischen der Kreuzung Las Palomas und der kleinen Ortschaft Piaxtla. Genauso pendelte er zwischen dem Abzweig bei Amatitlán und Mixquitlixco entlang der PUE-361. Im Verhältnis zu den übrigen Streckennetzen verfügte die »Mixteca Poblana« über sehr dünnen Busverkehr. Die Orte an den beiden Bundesstraßen wurden durch rutas der líneas ERCO, ORO, SUR und OCC5 im Norden nach Mexiko-Stadt, Puebla und Cuautla und im Süden nach Huajuapan und Tlapa de Comonfort angebunden. Die Reisezeiten der rutas betrugen zwischen acht (SUR Tlapa de Comonfort-MexikoStadt/TAPO) und fünf Stunden (ORO Huajuapan-Puebla/CAPU). Die Busse des servicio de primera ORO hielten in Izúcar de Matamoros, Tehuitzingo und Acatlán de Osorio. Die Busse der líneas ERCO und SUR im servicio económico stoppten hingegen auch zwischen den offiziellen Haltestellen an der Kreuzung Las Palomas. ERCO und SUR befuhren insgesamt vier verschiedene rutas jeweils einmal stündlich in jeder Richtung. Nur einmal täglich fuhr ein Bus des servicio económico der línea FYPSA von Oaxaca nach Mexiko-Stadt und umgekehrt über die MEX-190. Zwischen Izúcar de Matamoros und Acatlán de Osorio verkehrten außerdem combis der línea SCAR. Sie fuhren in der Regel schneller als die großen Busse, kosteten in etwa dasselbe und hielten überall dort, wo ihre Passagier/innen es verlangten. Unter den Passagier/innen in den Bussen fanden sich keine regelmäßigen Pendler/innen und die meisten unter ihnen reisten – zumindest in Richtung Norden – bis ans Ende der rutas in Mexiko-Stadt oder Puebla. Im servicio de primera ORO bewegten sich campesino/as aus dem Süden des Bundesstaates Puebla und dem Norden des Nachbarstaates Oaxaca ebenso wie bürgerliche Passagier/innen, oft Rentner/innen, aus Puebla und Umgebung, die in die kleineren Städte entlang der ruta reisten. In den Bussen von SUR und ERCO hingegen befanden sich kaum Passagier/innen höherer Einkommensschichten und urbaner Herkunft, was allerdings weniger am niedrigeren Ticketpreis, sondern vielmehr an der höheren Haltefrequenz dieser líneas lag.6 Für kürzere Reisen entlang der MEX-190 zwischen Acatlán de Osorio und Izúcar de Matamoros stiegen die Passagier/innen in die combis. Die Busse des servicio económico der línea FYPSA hatten einen besonders unzuverlässigen Ruf und wurden hauptsächlich von Menschen, die auf ihre niedrigen Ticketpreise angewiesen waren, in Anspruch genommen. Die Busse innerhalb des Streckennetzes füllten sich besonders an Markttagen in Acatlán, in Piaxtla, in Tehuitzingo und einem großen überregionalen tianguís in Atlixco nahe Puebla, der viele Menschen aus der Mixteca Richtung Norden reisen ließ. 4 5
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Zur Rolle von topes für Efraín Balbuena und die übrigen Musiker vgl. Kapitel 5.2. Die direkten Busse der línea OCC hielten allerdings nur im Terminal von Acatlán de Osorio und gehörten somit praktisch nicht zum Streckennetz Efraín Balbuenas, obwohl er gelegentlich versuchte, sie anzuhalten. Zur Haltepolitik im servicio económico vgl. Kapitel 6.1.
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4.1.1 El Solitario del Sur: Efraín Balbuena Das Haus von Efraín Balbuena Reyes lag direkt an der MEX-190 eingebettet in die Hügel der Mixteca Poblana zwischen Tehuitzingo und Acatlán de Osorio. An einem Baum vor dem Haus lehnte ein Schild, auf dem Fotos von Rindern, Ziegen und Hühnern Reisenden Lust auf einen Restaurantbesuch machen sollten: »La Casa del Camino – Gerichte, Tacos, Erfrischungen und Snacks – Treten Sie ein!« An der Wand des Hauses wiederholte sich dieses Angebot, und es wurde mit Live-Musik geworben. Auf der Veranda standen bereits Tische und ein langer Betontresen mit gasbetriebenem comal.7 Die Säulen und Wände des Hauses waren blau-gelb gestrichen und an mehreren Stellen versprach der Schriftzug »Corona« Bier der bekanntesten mexikanischen Brauerei. Jedoch hatte das Restaurant noch nicht eröffnet. Efraín Balbuena fehlten Zeit, Geld und Kunden, um sich ganz der Gastronomie zu widmen. Der Name »La Casa del Camino«, »Das Haus am Weg«, den er liebevoll an seine Hauswand gemalt hatte, wurde zur Metapher für die Entwicklung, die er und mit ihm sein Haus in den letzten Jahrzehnten durchgemacht hatten und dessen Ziel das eigene Restaurant war. Abbildung 3: Efraín Balbuena in einer combi der línea SCAR.
Foto: Kirschlager
Efraín Balbuenas Weg in die Überlandbusse Efraín Balbuenas Leben war eng mit der Gegend und auch mit der MEX-190 verbunden. Hier wurde er Anfang der 1950er Jahre als Sohn armer campesinos geboren. Er begann früh, zu arbeiten und Vieh in den Bergen der Mixteca zu hüten. Als junger Mann erkannte er, dass der einzige Ausweg aus der Abhängigkeit von Viehbesitzern
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Ein »comal« ist eine flache Pfanne, auf der Tortillas erhitzt werden.
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in der Stadt und fern der Mixteca lag. Er war bereits verheiratet und hatte Kinder, als er nach Mexiko-Stadt zog und dort in diversen Fabriken und als Lastenträger arbeitete. 1981 schloss er eine Ausbildung als KFZ-Mechaniker am »Centro de Estudios Diesel y Vehículos Automotores del Estado de México« ab. Nun reparierte Efraín Balbuena Überlandbusse in den Werkstätten der líneas SUR und Flecha Roja: »In Mexiko-Stadt habe ich bei großen Firmen gearbeitet, wie der Fabrik, wo sie die Überlandbusse zusammensetzen. Die nehmen nicht jeden! Die machen eine praktische Prüfung, eine theoretische Prüfung, die gehen sicher, dass einer ausgebildet ist. […] Ich konnte in der Kantine essen, hatte guten Lohn, es ging mir gut. […] Ich habe auch bei der Busgesellschaft, die nach Acapulco fährt, gearbeitet.« (Balbuena, Efraín 28.7.2010)
Doch Efraín Balbuena und seiner Frau war das Leben in der Großstadt zu stressig und schnelllebig. Zudem träumte er weiterhin von beruflicher Unabhängigkeit. So zogen sie zurück in die Mixteca, wo er seine eigene Werkstatt öffnete: »Mir gefiel die Stadt nicht mehr. Ich sagte: ›Nein! In der Stadt ist mir zuviel los, ich muss mir zuviel ansehen. Nein! Ich will wieder in mein Dorf.‹ Aha. Und ich packte zusammen. Das war so um 1985. […] Dann eröffnete ich meine Werkstatt. […] Dort arbeitete ich und verdiente mehr oder weniger gut. Ich verdiente gut, weil ich der Besitzer war.« (Balbuena, Efraín 28.7.2010)
Um für sein neues Haus und die Werkstatt ein Grundstück zu finden, das ihm einen Standortvorteil verschaffte, war er über 20 km entlang der MEX-190 von Acatlán de Osorio in Richtung Tehuitzingo gelaufen, bis er nahe dem Dorf San Bernardo fündig wurde. Damals war die MEX-190 noch die wichtigste Verbindung zwischen MexikoStadt und Oaxaca, und auf ihr bewegte sich reichlich potentielle Kundschaft. Dank seines guten Verhältnisses zu seinem alten Arbeitgeber SUR reparierte Efraín Balbuena auch weiterhin Überlandbusse, wenn in Acatlán de Osorio oder Tehuitzingo ein Mechaniker gebraucht wurde. Seine Frau betrieb parallel zur Werkstatt einen comedor8. Die isolierte Lage seines Hauses und seiner Werkstatt brachte allerdings auch Probleme mit sich. Efraín Balbuena war die ersten Jahre gezwungen, bei seiner Arbeit ohne Strom auszukommen, und arbeitete mit batteriebetriebenen Lampen bis in die Nacht. Bis 2012 war sein Haus nicht an das Telefonnetz angeschlossen und lag in einem Funkloch sämtlicher Mobilnetze. Nachdem er seine Werkstatt an der Bundesstraße etwa zehn Jahre und – wie er berichtet – mit Erfolg betrieben hatte, zwangen ihn zwei Ereignisse 1996 zu drastischen Veränderungen. Zum einen wurde 1994 weiter im Osten das letzte Teilstück der Autobahn Mexiko-Stadt-Puebla-Oaxaca eröffnet und plötzlich nahmen der Verkehr auf der MEX-190 und mit ihm die Kundschaft seiner Werkstatt und des comedors rapide ab. Zum anderen hatte sein Sohn einen Unfall mit dem Auto eines Kunden, und Efraín Balbuena verschuldete sich bei der Reparatur des Wagens schwer. Da er keine Möglichkeit sah, mit dem verbleibenden Geschäft seine Schulden abzubezahlen, folgte er der Einladung eines Freundes in die USA und ließ seine Frau und seine Kinder in der Mixteca zurück: 8
Die kleinen Restaurants am Straßenrand und auf Märkten wurden meistens als »comedor« bezeichnet.
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»Ein Freund sagt: ›Wenn du willst, gehen wir in die Staaten, in die Vereinigten Staaten mal sehen, was da läuft.‹ Ich sage zu meiner Frau: ›Ich habe das alles über. Ich fühle mich nicht mehr gut.‹ Ich sage: ›Ich möchte andere Dinge – was weiß ich – ein Freund läd mich in die Staaten ein, und ich möchte gehen.‹ […] Und ich gehe in die Vereinigten Staaten. Ich erinnere mich, das war 96. Ich habe zusammengepackt und bin weg. Drüben habe ich lange gearbeitet, vielleicht zehn Jahre.« (Balbuena, Efraín 28.7.2010)
Er arbeitete als Tellerwäscher und Küchenhilfe in verschiedenen Restaurants zunächst an der Ostküste in New Brunswick, New Jersey und später in Los Angeles. Dabei arbeitete er größtenteils zwei Schichten täglich. Ohne Papiere oder gar einen Aufenthaltstitel war es für ihn äußerst riskant, seine Familie zu besuchen. In zehn Jahren reiste er lediglich zwei Mal zurück in die Mixteca. Aber er sparte Geld und schickte es seiner Frau, die damit das gemeinsame Haus an der MEX-190 ausbaute. Als er 2006 die USA verließ, um zu seiner Familie zurückzukehren, war sich Efraín Balbuena sicher, dass er nicht mehr als KFZ-Mechaniker arbeiten wollte. Er fühlte sich zu alt für die schwere Arbeit und befürchtete, den Anschluss an die Technik verloren zu haben: »Natürlich hatte ich nach der ganzen Zeit den Anschluss verloren. Das musste man akzeptieren. Sie verbauten nun andere Motoren, mit Computern. Das ist was anderes, nicht? […] Ich musste feststellen, dass Autos nun Computer und Direkteinspritzung hatten. Die Motoren hatten nun viele Dinge und mir war das zu kompliziert. Ich sagte: ›Schluss jetzt! Früher gab es nur Vergaser in Mexiko. […] Das war einfach. […] Jetzt müsste ich kämpfen, müsste wieder in die Berufsschule, um mich in die neuen Motoren einzuarbeiten. Dafür bin ich zu alt‹« (Balbuena, Efraín 19.3.2013)
Er hatte sich allerdings auf einen Berufswechsel vorbereitet. Noch in Los Angeles im Jahr 2000 hatte Efraín Balbuena einen Teil seiner Ersparnisse in eine Gitarre investiert, Gitarrenunterricht genommen und seine knappe Freizeit darauf verwandt zu üben. Er verfolgte die Absicht, professioneller Musiker zu werden: »Als ich drüben war, sagte ich mir: ›Ich gehe zurück nach Mexiko, nach Hause. Aber ich will kein Schlosser mehr sein. […] Was werde ich tun? Ich werde Gitarre spielen!‹ Ich überlegte nicht viel. Ich kaufte mir eine Gitarre und suchte eine Schule, drüben in den USA.« (Balbuena, Efraín 28.7.2010) Allerdings war es keinesfalls Efraín Balbuenas Absicht auf großen Bühnen Erfolg zu haben: »Von Anfang an plante ich, in den Bussen zu spielen.« (Balbuena, Efraín 19.3.2013) Zurück in Mexiko stieg er nicht sofort in die Überlandbusse vor seiner Haustür, sondern reiste zunächst nach Mexiko-Stadt, wo er in urbanos spielte. Er suchte die Anonymität der Megametropole, da er befürchtete in der Mixteca auf Bekannte und Nachbar/innen in seinem Publikum zu treffen.9 Erst nach einem halben Jahr begann Efraín Balbuena, Auftrittsmöglichkeiten nahe seinem Wohnort zu nutzen. Er spielte in den Restaurants und comedores in Acatlán de Osorio und schließlich auch in den Überlandbussen der líneas, bei denen er Jahre zuvor als Mechaniker angestellt war.
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Zur Scham der músicos ambulantes vgl. Kapitel 6.3.
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Efraín Balbuenas Performances an Bord der Überlandbusse »Efraín trägt einen weißen Hut, ein derbes blau gestreiftes Hemd und schwere Schnürstiefel. Er bleibt im ersten Drittel des Busses mit gespreizten Beinen stehen und schwankt beeindruckend sanft durch die verhältnismäßig scharfen Kurven. Efraín spielt eine Gitarre mit Nylonsaiten, von deren Kopfplatte ein Rosenkranz baumelt. Um seinen Hals hängt ein Gestell, in dem er eine Harmonika befestigt hat. Auf ihr spielt er Einwürfe zwischen den Strophen. Dabei blockt er weder mit der Zunge noch mit seinen Lippen, so dass er nie einen einzelnen Kanal, sondern immer Akkorde spielt. Um das Handgelenk seiner Schlaghand trägt er einen Schellenkranz, der leicht verzögert auf jede Schlagbewegung anspricht. Besonders auffällig an seiner Performance ist, die sehr zerbrechliche und melancholische Stimme, die sich kaum gegen die tiefen Motorengeräusche und die surrenden Reifen auf dem rauen Asphalt durchsetzt. Er spielt drei canciones rancheras und beendet seinen Auftritt bemerkenswert bescheiden mit einer Entschuldigung: ›Meine Damen und Herren, entschuldigen Sie bitte all meine Fehler…‹ Seine Ansprache schließt mit der Bitte nach einer Spende, die er von den meisten Fahrgästen erhält.« (Tagebucheintrag vom 18.12.2010 in ERCO zwischen Nuevos Horizontes und Acatlán de Osorio)
Efraín Balbuena bewegte sich während seiner Performances entlang der MEX-190 zwischen Izúcar de Matamoros und Acatlán de Osorio, aber auch auf der MEX-93 Richtung Tlapa de Comonfort bis Tulcingo del Valle und auf der PUE-361 Richtung Mariscala bis Mixquitlixco. Er spielte für gewöhnlich morgens in den Bussen bis er gegen 14 Uhr in Acatlán de Osorio blieb, wo er durch die comedores zog, in denen zu dieser Zeit Hochbetrieb herrschte: »Habe ich keine Lust mehr auf die Busse, gehe ich in die Restaurants. Drüben in Acatlán gibt es viele comedores und Bars. Da gehe ich hin, stelle mich vor und spiele. Da gibt es welche, die geben 20 Pesos, andere geben 10 Pesos und am Ende fahre ich mit meinen 300 oder 400 Peso nach Hause.« (Balbuena, Efraín 28.7.2010) Gelegentlich machte Efraín Balbuena mehrtägige Abstecher abseits seiner wöchentlichen Routine, die ihn bis nach Puebla, Mexiko-Stadt oder sogar bis nach Toluca führten. Auf diesen Abstechern verdiente er mehr Geld, allerdings verriet die Begeisterung, mit der er von diesen Reisen sprach, dass sie ihm auch eine willkommene Abwechslung boten. Auf kurzen Strecken reiste er bis in die Hauptstadt und wechselte nach jeder Performance den Bus: »Ich wechsle Busse. […] Zum Beispiel laufe ich von hier bis Nuevos Horizontes, dort nehme ich den ersten Bus – den SUR nach Mexiko-Stadt – ich steige ein und steige in Palomas wieder aus […]. Von dort mache ich mir keinen Kopf mehr, dass ich wieder nach Hause muss. […] Ich stoppe in Tehuitzingo, ich stoppe in Jaulillas, von Jaulillas nach Matamoros, und von Matamoros fahre ich entweder nach Puebla oder nach Cuautla. Wenn ich nach Cuautla fahre, fahre ich danach mit mehreren Zwischenstopps bis ›Carcel de las Mujeres‹. Dort komme ich gegen 5 Uhr an. Dafür muss ich hier allerdings um 6 Uhr morgens los. […] Dann komme ich meistens mit 500 oder 600 Pesos an.« (Balbuena, Efraín 28.7.2010)
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In Mexiko-Stadt wechselte Efraín Balbuena das Transportmittel und spielte in peseros10, in anderen urbanos und in der Metro. Die Nacht verbrachte er bei seinem Bruder, der in Mexiko-Stadt lebte. Mit den bis zu 600 Pesos, die Efraín Balbuena als seine täglichen Einnahmen auf einem solchen Trip angab, verdiente er deutlich mehr als die 300 bis 400 Pesos, die er nach seiner täglichen Routine auf der MEX-190 nach Hause brachte. Dabei waren 300 Pesos Tageseinkommen bereits ungewöhnlich viel im Vergleich zu anderen Busmusikern. Dies überraschte vor dem Hintergrund von Efraín Balbuenas geringer Erfahrung, die er in der kurzen Zeit seiner musikalischen Karriere sammeln konnte, und dem eher spärlichen Busverkehr in der Mixteca Poblana. Allerdings wirkte sich die fehlende Konkurrenz positiv auf Efraín Balbuenas Einkommen aus. Die einzigen Musiker, die ebenfalls in Überlandbusse stiegen, traf Efraín Balbuena sehr selten auf der nördlichsten seiner Strecken zwischen El Pitayo und Izúcar de Matamoros, wo er für gewöhnlich umkehrte. Die wenigen Male, die Efraín Balbuena auf das dueto traf, verliefen daher entspannt und freundschaftlich: »Wenn ich dort hinfahre sehe ich sie, und sie sehen mich. Wir grüßen uns, unterhalten uns. [...] Wir kommen miteinander aus. Ich habe nie mit ihnen gespielt, und sie wissen nicht, wie ich spiele. Wenn sie einsteigen, höre ich sie natürlich nicht. Wenn ich einsteige, hören sie mich nicht. [lacht]« (Balbuena, Efraín 28.7.2010) Unter den Busfahrern und anderen Menschen, denen er während seiner Arbeit begegnete, trug Efraín Balbuena den Namen »El Solitario« [»Der Einsame«]. Diesen Spitznamen besaß er nicht nur, weil er als einziger Musiker der Gegend in Bussen auftrat, sondern auch weil er dabei Gitarre spielte und zugleich zwischen seinen Gesangspassagen kurze licks auf einer Harmonika einwarf. So spielte er nicht nur als einzelner die Rollen mehrerer Musiker, er stand auch im Gegensatz zu duetos de guitarra, die die übliche Besetzung an Bord der Busse bildeten.11 Efraín Balbuena übernahm »El Solitario« als Künstlernamen. Der Zusatz »del Sur«, »des Südens«, den er selbst angefügt hatte, bezog sich auf den Süden des Bundesstaates Puebla, in dem er lebte und arbeitete. Es erfüllte Efraín Balbuena mit Stolz, dass seine Zuhörer fanden, er klänge allein wie eine komplette Band: »Ich spiele drei Instrumente und […] in den Bussen staunen die Leute: ›Nein, der spielt drei Instrumente gleichzeitig!‹ […] Ich allein. Das fällt auf: mit meiner Harmonika und meiner Gitarre und oft trage ich hier [zeigt auf sein Handgelenk] einen Schellenkranz oder ein, zwei Rasseln.« (Balbuena, Efraín 28.7.2010)
Tatsächlich erzielte Efraín Balbuena mit seiner Harmonika Effekte, die seine Performance um einiges abwechslungsreicher gestalteten, auch wenn seine Koordination zwischen Gesang, Gitarre und Harmonika gelegentlich rhythmische und harmonische Ungenauigkeiten aufwies. Sein Gitarrenlehrer in den USA hatte ihm zur Harmonika geraten (Balbuena, Efraín 11.12.2010). Nun trug er sie in einem selbstgebautem 10 Als »peseros« wurden in Mexiko-Stadt die grün-weißen Microbusse bezeichnet, die neben Metro und Metrobús vor allen Dingen in den Außenbezirken zu den wichtigsten öffentlichen Verkehrsmitteln zählten. 11 Allerdings hatte zur Zeit meiner Feldforschung das geringe Einkommen auch in anderen Streckennetzen dazu geführt, dass sich duetos aufgeteilt hatten und ihre Mitglieder alleine auftraten (vgl. Kapitel 6.3).
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Gestell um den Hals, so dass er sie freihändig spielen konnte. Auf ihr spielte Efraín Balbuena die Zwischenspiele, die in den duetos der übrigen Busmusiker das requinto übernahm: »Ich glaube, dass mir die Harmonika hilft. Die Gitarre alleine bringt es nicht. Ich kann die Akkorde spielen und dann hier die Einwürfe [spielt Zwischenspiel] – ich kann auch die requinto-Parts – aber wenn ich das tue, verliere ich den Rhythmus. […] Mit der Harmonika passiert das nicht, da bleibe ich im Rhythmus. Ich spiele eine Einleitung. Alles wird viel besser. Die Leute bewundern mich wegen der Harmonika. Dann sagen sie: ›Nein, wenn deine Harmonika nicht wäre…‹ Ich sage ihnen: ›Aber einfach ist das nicht!‹« (Balbuena, Efraín 11.12.2010)
Efraín Balbuenas Gitarrenspiel beschränkte sich meist auf die Begleitstimme, die der Rhythmusgitarre in den duetos entsprach. Dabei spielte er an seiner Schlaghand allein mit dem Daumen, um den er ein Daumenpick trug, sowohl die schweren Zählzeiten im Bass als auch die Akkorde auf den schwachen Zählzeiten. 2011 begann er, gelegentlich die requinto-Stimme auf der Gitarre anstatt auf der Harmonika zu spielen. Im gleichen Jahr legte er sich einen tragbaren Verstärker zu, den er selbst mit einer leistungsstarken Batterie verband, um den Verstärker über seinen gesamten Arbeitstag nutzen zu können. Seitdem war Efraín Balbuena der einzige Musiker, den ich während meiner Feldforschung in Bussen traf, der elektrisch verstärkt auftrat. Im starken Gegensatz zu seinem nun lauten und verzerrten Gitarrensound stand seine leise, melancholisch und zerbrechlich wirkende Stimme. Es war vermutlich auch seiner Stimme geschuldet, dass sich Efraín Balbuena in schnelleren Tempi hörbar wohler fühlte, als bei langsamen, getragenen Stücken, bei denen er die Töne länger halten musste. Seine Interpretationen bekannter Stücke spielte er deutlich schneller als die Originale. Er selbst legte allerdings Wert darauf, dass er diese Veränderungen nicht aufgrund seiner technischen Möglichkeiten, sondern aufgrund ästhetischer Überlegungen vorgenommen hatte (Balbuena, Efraín 28.7.2010). Unter den Busmusikern machte Efraín Balbuena besonders, dass er kontinuierlich übte, um seine musikalischen Fähigkeiten zu verbessern. Sein Ehrgeiz richtete sich dabei nicht nur auf funktionale Fähigkeiten, die seine Arbeit in Bussen und comedores optimierten. In seinem Übungsraum stapelten sich neben Lehrbüchern und Lehrvideos für Gitarre auch solche für Bass und Keyboards, Instrumente, die sich kaum für seinen mobilen Arbeitsalltag als Busmusiker eigneten. Während die übrigen músicos ambulantes meist um Autodidakten waren oder von Verwandten ausgebildet wurden, suchte Efraín Balbuena stets institutionalisierten Unterricht. Trotz seines fortgeschrittenen Alters hatte er ambitionierte Pläne für seine musikalische Zukunft: »Ich darüber nachgedacht, mir bald einen Lehrer zu suchen, einen Lehrer der mir Keyboard und Gitarre und das alles beibringt. […] Obwohl ich schon älter bin, will ich ein guter Musiker werden. Ich will in einer guten Band spielen.« (Balbuena, Efraín 28.7.2010) Efraín Balbuenas Repertoire setzte sich hauptsächlich aus rancheras und einigen corridos zusammen. Er spielte Stücke, die seinem Publikum durch die Interpretationen berühmter Sänger, allen voran Vicente Fernández, bereits bekannt waren, denn er hatte die Erfahrung gemacht, dass sein Publikum sich freute, diese Stücke von ihm zu hören: »Ich spiele bekannte Stücke für die Leute. Dann sagen sie: ›Oh, verflixt, der spielt sogar das Stück!‹« (Balbuena, Efraín 28.7.2010) Er betonte, dass es wichtig war, über ein möglichst großes und vielfältiges Repertoire an Stücken zu verfügen: »Oft komme
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ich und: ›Sing mir diesen Corrido!‹ Das Gute ist, dass ich so viele kann, […] denn ich sage immer: ›Dafür muss man viele, viele Lieder kennen.‹ Klar, manchmal treffe ich Leute und ich kenne [die Stücke] nicht. Ich enttäusche sie. Aber viele, viele kenne ich.« (Balbuena, Efraín 28.7.2010) Neben seinen Interpretationen bekannter Stücke war an Efraín Balbuenas Repertoire bemerkenswert, dass er auch selbst komponierte. Insgesamt verfügte er über 14 selbstkomponierte Stücke, bei denen es sich um corridos und canciones rancheras handelte. Sämtliche seiner corridos waren interessanterweise verstorbenen Musikern gewidmet, während die canciones rancheras unerfüllte Liebe behandelten. Einzige Ausnahme bildete ein Stück, das von Migranten aus der Mixteca Poblana, die in den USA ihr Glück suchen, erzählte. Der Umfang seines Repertoires aus insgesamt 200 Stücken war beachtlich für die kurze Zeit, die sich Efraín Balbuena als Musiker betätigte. Efraín Balbuenas Netzwerk aus bekannten Busfahrern Efraín Balbuena trat vor allen Dingen in den Bussen der líneas ERCO und SUR des servicio económico auf und noch im Jahr 2010 kannten die meisten Fahrer beider líneas ihn aus seiner Zeit als Mechaniker: »Fast alle Busfahrer kennen mich, weil es noch dieselben sind, mit denen ich in der Werkstatt der Busgesellschaft zusammengearbeitet habe.« (Balbuena, Efraín 28.7.2010) Während andere Musiker viel Zeit aufbringen mussten, um Kontakte zu Busfahrern zu knüpfen, verfügte Efraín Balbuena bereits vor seiner Zeit als Musiker über ein enges Netzwerk aus Bekannten und Freunden hinter den Steuern der Überlandbusse. Dank dieses Netzwerkes, so erklärte er, nähmen ihn die Fahrer, die er um Zustieg bat, fast ausnahmslos mit: »Sie alle kennen mich. […] Sie halten an und ›Steig ein!‹ […] Fast alle nehmen mich mit.« (Balbuena, Efraín 28.7.2010) Zwischen 2010 und 2013 wurden jedoch immer mehr Busfahrer, mit denen er bei SUR einst zusammenarbeitete, durch jüngere Kollegen ersetzt und für Efraín Balbuena wurde es schwieriger. Im Gegensatz zur sorglosen Sicht, die er 2010 in Interviews über sein Verhältnis zu Busfahrern an den Tag legte, deutete er 2013 bereits Befürchtungen einer ungewissen Zukunft an: »Viele kannten mich noch als Kollegen […] und noch immer gibt es zwei, drei und sie lassen mich singen […]. Aber die Neuen…« (Balbuena, Efraín 19.3.2013) Daher sah sich der Musiker gezwungen, neue Kontakte aufzubauen, was ihm offensichtlich schwer fiel.12 So sehr er viele seiner ehemaligen Kollegen in den Bussen von SUR vermisste, erwies es sich jedoch nicht immer von Vorteil, dass die Busfahrer mit Efraín Balbuenas Biographie vertraut waren. Nicht alle alten Bekannten fanden seine neue Berufung unterstützenswert: »Es gibt da draußen einen Fahrer, der mich eines Tages singen ließ – der ließ mich nie zusteigen, niemals. Aber dieses eine Mal stand ich drüben in Nuevos [Horizontes] und er hielt an: ›Steig ein! Steig ein! – ›Ay!‹ sagte ich, ›Verdammt! Der Typ? Der erlaubt’s doch nie! Warum jetzt? Gut.‹ – ›Spiel!‹ Ich gehe rein. Es gab viele Pasagiere, fast voll. Ich stelle mich hin und spiele. […] Fast schon in Acatlán frage ich ihn nach seiner Meinung und gehe zu ihm nach vorne. ›Weißt du, warum ich dich mitgenommen habe?‹ – ›Nein,‹ sage ich, ›weiß ich nicht.‹ – ›Weil du,‹ sagt er, ›bei SUR gearbeitet hast. Ich habe dich gesehen, wie du Getriebe ausgebaut hast, Differentiale 12 Zu Efraín Balbuenas Bemühungen, das Vertrauen der Busfahrer zu gewinnen, vgl. Kapitel 6.2.
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eingestellt hast. Du bist geil dadrin! Wie tief bist du jetzt gesunken? Musik!? […] In Wirklichkeit bist du ein fauler Sack!‹ sagt er, ›Ein fauler Sack, der nur will, dass die Leute in ansehen,‹ sagt er, ›und leichtes Geld machen.‹« (Balbuena, Efraín 28.7.2010)
2013 machte Efraín Balbuena nicht nur der Generationenwechsel bei seinem alten Arbeitgeber SUR zu schaffen, sondern auch ein Wandel in seinem Verhältnis zu den Fahrern anderer líneas. Den Auslöser dieses Problems sah er im Neid der Fahrer, auf deren Freundschaft er zwei Jahre zuvor noch große Stücke hielt. Die Fahrer des servicio económico hätten, so Efraín Balbuena, Wind bekommen, dass er mehr verdiene als sie selbst (Gespräch mit Efraín Balbuena 19.3.2013). So kam es immer häufiger vor, dass zwei oder drei Busse in Folge an ihm vorbeifuhren, was aufgrund der geringen Busfrequenzen in der Mixteca Poblana empfindlich lange Wartezeiten von mehreren Stunden zur Folge hatte. Während er die Missgunst von Busfahrern des servicio económico auf mangelnde Solidarität und Sozialneid zurückführte, sah er Probleme mit Fahrern des servicio de primera genau umgekehrt darin begründet, dass diese sich als einem höheren sozialen Status angehörig und ihm somit überlegen fühlten: »Ich glaube sie fühlen sich mächtiger, als hätten sie mehr… ich weiß nicht! Ich sage: ›Sie glauben, sie hätten eine hohe Kategorie und ich eine niedrige.‹ […] Gut, in zwei, drei [ORO-Bussen] lassen sie mich zusteigen, aber der, der gerade vorbeifuhr [OCC], war erste Klasse. Der nicht. Da frage ich nicht mal.« (Balbuena, Efraín 28.7.2010) Efraín Balbuena spielte neben den Bussen auch Gigs auf privaten Feiern für 300 Pesos pro Stunde. Seine Auftritte in Bussen halfen ihm, an Gigs dieser Art zu gelangen. Passagier/innen traten an ihn heran, um ihn zu buchen: »Oft buchen sie mich für Partys. Sie kommen und fragen: ›Wie viel nimmst du pro Stunde?‹ Ich sage ihnen: ›300 pro Stunde.‹ Sie sagen: ›Gut, dann komm spielen, ich habe eine kleine Feier.‹ Auf großen Feiern geht nicht, aber bei kleinen Feiern und Kindergeburtstagen.« (Balbuena, Efraín 28.7.2010) Bis 2012 stellten Efraín Balbuena die Anfragen der Passagier/innen jedoch vor Probleme, weil er telefonisch nicht erreichbar war und sich mögliche Auftraggeber/innen zu seinem Haus begeben mussten, um Einzelheiten mit ihm zu klären: »Ein Problem, dass ich im Moment habe – vielleicht strenge ich mich auch nicht genug an – ist, dass ich ein Telefon brauche oder ein Mobiltelefon. Siehst du: In den Bussen fragen mich viele: ›Wo? Wo? Wo kann ich dich erreichen? Was kann ich tun, wenn ich einen Auftritt will? Du bist gut!‹ oder ›Es hört sich gut an.‹ Wenn sie mich buchen wollen, sage ich: ›Schaut, ich wohne da und da. Ich gebe euch meine Adresse.‹« (Balbuena Reyes 11.12.2010)
Efraín Balbuenas Zukunftspläne Während die übrigen Musiker, die ich für diese Arbeit interviewte, sich Gedanken über ihre Altersvorsorge und ein Leben nach der Musik in Überlandbussen machten, vermittelte Efraín Balbuena den Eindruck, dass es sich bei der Musik bereits um einen Bestandteil seines Ruhestands handelte. Er hatte während seines elfjährigen Aufenthaltes in den USA ausreichend Geld gespart, um gemeinsam mit seiner Frau das Haus fertig zu bauen und sich die Grundausstattung für das geplante Restaurant zu zulegen. Seine Kinder hatten das Elternhaus mittlerweile verlassen, und so reichte das Geld aus den Auftritten in den Bussen Efraín Balbuena und seiner Frau, um ihren Lebensstandard zu verwalten. Neben den Einnahmen trieben ihn ebenso Freude an der Arbeit und die Aufmerksamkeit der Passagier/innen an. Dennoch plante er, nicht mehr allzu lange
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in den Bussen zu spielen. Es war sein Traum, das Restaurant zu eröffnen und dort für seine Gäste zu spielen. Obwohl radikale Einschnitte Efraín Balbuenas Leben in scheinbar grundverschiedene Phasen teilten, standen all diese Phasen in enger Verbindung zueinander. So hing in seinem Übungsraum, einer kleinen Kammer, in der er seine Instrumente, Lehrbücher und Übungsvideos aufbewahrte, sein Mechaniker-Diplom eingerahmt als einziges Bild an der Wand. Hinter dem Tresen, an dem er in Zukunft die Gäste seines Restaurants bewirten wollte, hing das Foto eines fahrenden Dina-Busses. Und schließlich war auch die »música en vivo« bereits auf der Wand seines Hauses angekündigt.
4.2 STRECKENNETZ 2: LA ZONA NORTE DE GUERRERO Abbildung 4: Rutas und Einstiegsorte im Streckennetz »Zona Norte«.
Abbildung: Kirschlager
Das zweite Streckennetz erstreckte sich rund um den Verkehrsknotenpunkt Iguala im Norden des Bundesstaates Guerrero. Es basierte auf den Bewegungen von fünf Mitgliedern der Familie Hernández aus dem Dorf Palmillas nördlich von Buenavista de Cuéllar und dem Musiker Plutarco León aus Metlapa südwestlich von Iguala. Die rutas, auf denen sich diese Musiker bewegten, fuhren entlang der MEX-95, die von Puente de Ixtla einen Bogen nach Nordwesten über Taxco zog und von dort 1.000 Höhenmeter nach Iguala abfiel, und entlang der neueren direkten Schnellstraße, die südlich von Puente de Ixtla über Buenavista de Cúellar nach Iguala führte. In Iguala trafen diese beiden Straßen auf die MEX-51, auf der rutas Iguala Richtung Westen an Ciudad Altamirano und die Tierra Caliente anbanden, und die GRO-1, über die eine hohe Frequenz an Bussen zwischen Iguala und Huitzuco im Osten pendelte. Sämtliche rutas
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dieses Streckennetzes trafen im Terminal der grupo Estrella Blanca13 in Iguala aufeinander. Durch seine Lage im Zentrum der Stadt in unmittelbarer Nachbarschaft zum Markt ließ sich das Terminal für Busse nur mühsam über enge Zufahrtsstraßen erreichen oder verlassen: »Die Ausfahrt des Busterminals führt auf die Calle Ignacio M. Altamirano. Dort halten Händler und Musiker vorbeifahrende Fahrzeuge an, um den Busfahrern die Einfahrt in den zähfließenden Verkehr zu ermöglichen und sich selbst für den Einstieg in die Busse zu empfehlen. Nachdem sie die Ausfahrt verlassen haben, schieben sich die Busse wie Ozeanriesen auf einem schmalen Fluss die Straße entlang. Die ausladenden, bunten Sonnenschirme über den ambulanten Tacoständen am Straßenrand greifen in die Seiten der Busse und drehen sich wie farbige Zahnräder mit. Die Fahrbahn ist nicht nur ausgesprochen schmal, es ist vor allen Dingen die enorme Zahl an Nutzern, die sie zu einer Geduldsprobe für die Fahrer macht. Verbrauchte Bluebirdbusse, die die kürzeren Strecken nach Taxco und Hitzuco befahren, stehen in einer langen Schlange mit weißen und silbernen Volvo- und Mercedes-Bussen der ersten Klassen der Schwestergesellschaften Costa Line, Futura und Estrella Blanca, die Iguala mit der Hauptstadt und der Küste verbinden. Zwischen ihnen machen Taxis und Minibusse durch steten Gebrauch ihrer Hupen auf sich aufmerksam. Durch die engen Lücken zwischen Fahrzeugen überqueren Diableros[14] mit voll bepackten Sackkarren die Straße, und Kunden des Marktes laufen mit gefüllten Plastiktüten auf beiden Seiten der Fahrbahn. So fließt der Verkehr auf der Ignacio M. Altamirano nur in Schrittgeschwindigkeit, bis er nach einigen hundert Metern auf den befreiend wirkenden zweispurigen Boulevard ›Periférico Sur‹ stadtauswärts trifft, die Busfahrer hochschalten und die Busse Fahrt aufnehmen.« (Tagebucheintrag vom 8.11.2011 in Iguala)
Während die Straßen rund um das Terminal für die Busfahrer eine Geduldsprüfung darstellten, ergab sich aus der hohen Busdichte, dem zähfließenden Verkehr und der unmittelbaren Nachbarschaft zum Markt eine günstige Situation für Musiker und Händler/innen. Jeden Morgen bildete sich vor der Ausfahrt des Busterminals eine Gruppe aus Obstverkäufer/innen, pomaderos, Clowns und Musikern. Ein Angestellter der Busgesellschaft Estrella Roja de Cuautla stöhnte, wie sich diese informellen Subunternehmer/innen in den Fahrzeugen seines Arbeitgebers die Klinke in die Hand gaben: »Erst steigt die Frau mit ihren verdammten Jícamas zu, dann der mit der Eiscreme, danach der arme Teufel, der Cremes und Tropfen verkauft, und am Ende der verdammte Clown, der Witze über seine Schwiegermutter reißt.« (Gespräch mit »Antonio« 29.3.2013) Auch die Musiker stiegen in der Regel bereits unmittelbar hinter der Ausfahrt des Terminals zu, warteten aber ab, bis die übrigen Händler/innen und Performer/innen durch den Gang des Busses gezogen waren, um dann – meist bereits auf dem Periférico Sur – ihre eigene Performance zu beginnen. Neben dem Terminal befand sich auch am »Monumento a los Héroes de la Independencia«, wo Busse Richtung Hauptstadt und nach Huitzuco ebenfalls Passagier/innen aufnahmen, ein weiterer be-
13 Die línea Estrella de Oro verfügte über ein eigenes Terminal, das am Rande des Zentrums der Stadt lag. Jedoch stieg keiner der Musiker, aus deren Bewegungen sich dieses Streckennetz zusammensetzte, in Fahrzeuge dieser línea, was sich hauptsächlich durch die striktere Politik von Estrella de Oro erklärte. 14 Lastenträger, die nach der Bezeichnung »diablo« für eine Sackkarre benannt wurden.
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liebter Einstiegsort der Musiker und Händler/innen. Neben Iguala verfügten auch Puente de Ixtla, Taxco, Buenavista, Huitzuco und Teloloapan über Terminals. Kleinere Siedlungen besaßen Bushaltestellen direkt an der Straße, wo Unterstände die wartenden Fahrgäste vor Sonne und Regen schützten. Von Iguala aus entfernten sich sternförmig die vier Straßen, entlang derer die Musiker in Bussen performten, unter ihnen eine der ehemals wichtigsten Bundesstraßen Mexikos: die MEX-95. Ihre Fertigstellung 1927 hatte Acapulco an den Rest des Landes angeschlossen und beschleunigte die wirtschaftliche – vor allen Dingen die touristische – Entwicklung der Hafenstadt (vgl. Escudero 1998: 57). Die MEX-95 hatte entsprechend viel Durchgangsverkehr in die »Zona Norte« gebracht und das Geschäft mit den Reisenden belebt. Auch zur Zeit meiner Feldforschung befanden sich auffällig viele Restaurants, comedores, Verkaufsstände von Kunsthandwerk und KFZ-Werkstätten am Straßenrand. Seit den 1950er Jahren existierte allerdings eine direktere nur 55 Kilometer lange Schnellstraße von Puente de Ixtla durch das municipio von Buenavista de Cuéllar, von wo die Straße weniger harsch als die MEX-95 in Kurven 700 Höhenmeter hinunter bis Iguala führte. Im Gegensatz zur MEX-95 war die Schnellstraße mautpflichtig und stieß kurz vor Iguala auf eine Mautstelle. Am Rand der Schnellstraße befanden sich weniger Restaurants, Läden und andere Geschäfte mit dem Verkehr, der hier nicht durch topes verlangsamt wurde. Auf beiden Straßen verebbte der Fernverkehr zwischen Hauptstadt und Küste, als 1993 die »Autopista del Sol«, die MEX-95D, zwischen Cuernavaca und Acapulco fertiggestellt wurde. Die MEX-95D verlief zwar weitgehend parallel zur MEX-95, allerdings schnitt sie gerade Taxco und Iguala über eine östlichere Route ab. Der größte Teil des Verkehrs zwischen dem Landesinnern und der Küste ebenso wie sämtliche direkte Busverbindungen zwischen der Hauptstadt und den Städten am Pazifik liefen zur Zeit meiner Feldforschung über die MEX-95D. Südlich von Iguala traten die Musiker auf rutas entlang der MEX-51 und entlang der GRO-1 auf. Die MEX-51 führte von Iguala in die Tierra Caliente bis Ciudad Altamirano. Auch sie stieg Richtung Tierra Caliente stark an und überwand einen Höhenunterschied von über 800 Metern gegenüber Iguala. Entlang der MEX-51 dominierten schroffe Berghänge den Straßenrand und es gab nur wenige Siedlungen und deutlich weniger Läden, Restaurants und comedores als an der MEX-95. Dafür zierte eine auffällig hohe Anzahl an Kreuzen und Marienschreinen die Fahrbahn und ließ vermuten, dass es auf der kurvigen Straße häufig zu schweren Unfällen kam. Innerhalb der Ortschaften fanden sich in der Regel topes, die den Verkehr bremsten. Die zweite Straße im Süden Igualas war die GRO-1. Sie führte Richtung Osten bis zur MEX-95D vorbei an Huitzuco. Wie bei Landstraßen üblich handelte es sich um eine recht schmale Fahrbahn, über die eine verhältnismäßig hohe Zahl an topes gezogen war. Anders als die Bundesstraßen rund um Iguala zeichnete die GRO-1 jedoch aus, dass sie nahezu eben und gerade verlief. Über die Schnellstraße zwischen Puente de Ixtla und Iguala verkehrte der servicio económico der línea Transportes Estrella Roja de Cuautla (TER), dessen ruta von Cuautla in Morelos über Jojutla bis nach Iguala führte. Innerhalb der »Zona Norte« fuhr die línea die Terminals in Puente de Ixtla, Buenavista und Iguala an. Die líneas Futura und Costa Line verbanden Iguala mit Chilpancingo und Acapulco im Süden und mit Cuernavaca und Mexiko-Stadt im Norden mit direkten servicios de primera, die den
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Musikern allerdings nur äußerst selten Zustieg gewährten. Richtung Ciudad Altamirano und in die anderen Städte der Tierra Caliente im Westen fuhren sowohl Busse des servicio de primera als auch des servicio económico der línea Estrella Blanca. Das Terminal von Estrella Blanca verließen außerdem auch die deutlich älteren und verbrauchten Busse nach Taxco und nach Huitzuco in dichter Folge von etwa einer halben Stunde. Als touristisches Zentrum der Region verbanden Taxco zahlreiche direkte rutas mit den wichtigsten Städten des Zentrums. Die Busse verließen Taxco allerdings über die mautpflichtige Schnellstraße. Über die alte MEX-95 fuhr jedoch weiterhin ein servicio económico der línea Autotransportes Águila nach Toluca im Estado de México. Die beiden nördlichen Terminals in Puente de Ixtla und Buenavista waren durch den servicio de primera der Gesellschaft Pullman de Morelos an Cuernavaca in Morelos und Mexiko-Stadt angebunden. Die Musiker, deren Bewegungen dieses Streckennetz definierten, spielten in sämtlichen der oben genannten líneas. Die wichtigste unter ihnen – besonders für die Musiker aus Palmillas an der Schnellstraße zwischen Puente de Ixtla und Iguala – war TER, die über ausgesprochen viele den Musikern freundlich gesonnene Fahrer verfügte. Wie in den meisten líneas des servicio económico waren viele der Fahrer bei TER relativ jung und erst kurze Zeit in ihrem Beruf tätig. Unter den Busfahrern war die ruta Cuautla-Iguala äußerst beliebt, weil sie mit über vier Stunden Reisezeit sehr lang war und durch dünnbesiedeltes Gebiet führte. Entsprechend mussten die Fahrer verhältnismäßig selten halten oder an topes herunterschalten. Vor allen Dingen gab es weniger Kontrollmöglichkeiten für die línea, und Fahrer mussten an nur wenigen Orten entlang der ruta mit Inspekteur/innen rechnen. Die Zona Norte und die Tierra Caliente des Bundesstaates Guerrero waren strukturschwache Regionen, aus denen viele Menschen auf der Suche nach Arbeit in die USA, aber auch in die Hauptstadt und in den Nachbarstaat Morelos migrierten. In den Bussen, die Iguala von Norden erreichten beziehungsweise Richtung Norden verließen, reisten viele Passagier/innen geringer Einkommensschichten, die ihre Familien in Guerrero besuchten oder zurück zu ihrem Arbeitsort fuhren. Besonders an quincenas, Wochenenden nach der Lohnauszahlung, füllten sich daher die Busse. Allerdings bestimmten auch die lokalen Markttage die Passagierbewegungen in den Bussen rund um Iguala. So fand donnerstags ein großer tianguís an der Ausfahrt Richtung Taxco statt und brachte viele Bewohner/innen aus Taxco und den zwischen Taxco und Iguala liegenden Dörfern in die Busse Richtung Iguala. Immer montags war ein überregionaler tianguís in Temixco südlich von Cuernavaca, weshalb sich viele Menschen aus der Region um Iguala auf den Weg Richtung Norden machten. Neben meinen Interviewpartnern, die ich in diesem Streckennetz begleitete, gab es zahlreiche weitere músicos ambulantes rund um Iguala. So sang zwischen Terminal und »Monumento« ein etwa zwölf Jahre alter Junge acapella corridos, und mehrere Musiker stiegen in die Busse Richtung Huitzuco. Allerdings verbrachten auch Musiker vom nahe gelegenen Markt ihre Pausen häufig vor dem Terminal, so dass eine genaue Zahl schwer zu ermitteln war. Eine größere Anzahl von Musikern, die ich ebenfalls nicht begleitete, sammelte sich am Terminal von Puente de Ixtla und an den benachbarten Haltestellen von Amacuzac und Zacapalco. Sie spielten allerdings zwischen Zacapalco und Puente de Ixtla oder von Puente de Ixtla Richtung Cuautla und Cuernavaca in Morelos. Busfahrer erklärten auch, dass es entlang der MEX-51 viele Musiker gäbe, denen ich jedoch nie begegnete.
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4.2.1 Los Cancioneros de Palmillas: Salvador und Hexiquio Hernández »In einer lang gezogenen Kurve der Schnellstraße zwischen Puente de Ixtla und Iguala an der Einfahrt zum kleinen Ort Palmillas nahe Buenavista de Cuéllar steht ein Perrote-Baum, in dessen Rinde der Aufprall eines PKWs ein Loch in der Form eines gotischen Fensters hinterlassen hat. Lokale Künstler haben in das Fenster ein Abbild der Heiligen Jungfrau von Guadalupe gemalt und davor ein kleines Blumenbeet mit Weihnachtssternen angelegt. Wenn Salvador Hernández mittags Palmillas verlässt, bekreuzigt er sich vor dieser Jungfrau, bevor er in einen Bus Richtung Iguala oder Richtung Puente de Ixtla steigt, um darin zu spielen.« (Tagebucheintrag vom 3.12.2011 in Palmillas)
Abbildung 5: Salvador Hernández an der Ortseinfahrt von Palmillas.
Foto: Kirschlager
Salvador Hernández Muñoz und sein Bruder Hexiquio spielten seit den frühen 1990er Jahren in den Bussen rund um den Verkehrsknotenpunkt Iguala im Norden des Bundesstaates Guerrero. Bei den Busfahrern, die sich durch die Zona Norte Guerreros bewegten, war der Ort Palmillas wegen der Hernández-Familie für seine Musiker bekannt (Busfahrer im Gespräch in TER zwischen Iguala und Cuautla am 15.8.2010). Da die Busfahrer seinen eigentlichen Namen nicht kannten, besaß Salvador Hernández bei ihnen den Spitznamen »Vicente Fernández«. Und tatsächlich wies er Ähnlichkeiten mit dem berühmten Sänger auf. Salvador Hernández war Jahrgang 1960, hatte trotz seiner grauen Haare markante schwarze Augenbrauen, und seine langen Koteletten verbanden sich mit seinem Schnurrbart. Salvador Hernández wirkte stets ernst und nachdenklich. Er überlegte lange, bevor er auf Fragen antwortete. Während er in jüngeren Jahren gerne feierte und viel trank, war er nun trockener Alkoholiker. Er war
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von seiner Ehefrau getrennt und lebte bei seiner neuen Freundin in einem Haus, dessen Besitzer sich auf unbestimmte Zeit in den USA befand.15 Von den Kindern aus seiner ersten Ehe unterstützte er seine jüngste Tochter, die im nahen Taxco eine Ausbildung zur Krankenschwester machte, finanziell. Der jüngere der beiden Brüder, Hexiquio Hernández, besaß bei seiner Familie und den Nachbarn in Palmillas den Spitznamen »El Flaco«, »der Dünne«, welcher seiner runden Figur überhaupt nicht entsprechen mochte. Im Gegensatz zu seinem Bruder machte Hexiquio Hernández für gewöhnlich einen sehr ausgelassenen Eindruck. Auf dem Weg durch Palmillas hinauf zur Schnellstraße pfiff er kurze Signale in die Hauseingänge oder rief Namen und aus den Häusern entgegnete es Pfiffe oder ein langes »Flacoooo«. Hexiquio Hernández sprach schnell mit starkem Dialekt und häufig handelte es sich beim Gesagten um relajo. Er war verheiratet und hatte zwei erwachsene Söhne bei der Armee und eine Tochter in der Schule. Im Laufe der Feldforschung überwarf er sich allerdings mit seiner Frau, lebte wieder bei seiner Mutter und zahlte seiner Familie Unterhalt. Die beiden Brüder wurden in Palmillas in eine Familie mit 14 Kindern geboren. Sowohl Salvador als auch Hexiquio Hernández waren sehr stolz auf ihre einfache Herkunft und gaben sich gerne bodenständig und bescheiden. Bereits als Kinder sangen sie mit ihren Geschwistern und imitierten die singenden charros, die sie aus Filmen kannten. (Hernández, Salvador 28.3.2013) Jedoch begannen die Brüder erst spät, sich ernsthaft mit Musik zu beschäftigen. Salvador Hernández war schon 19 Jahre alt, als er sich selbst beibrachte, Gitarre zu spielen: »Als ich anfing, mir Gitarre beizubringen, war ich 19 Jahre alt. Ich fing ’79 an. […] Ich hab’s mir selbst beigebracht, mit drei Freunden […] nur zum Spaß. Mir gefiel die Gitarre. Irgendwann Schritt für Schritt hatte ich den Dreh raus. Ich übte und übte. Niemals hörte ich auf. Seit ich anfing, immer nur: spielen, spielen, spielen. Bis heute. Das bisschen, was ich kann, beherrsche ich wie ein Profi.« (Hernández, Salvador 4.12.2011)
Auch der jüngere Hexiquio Hernández erklärte, dass er Musik nach Gehör lernte und er und sein Bruder Salvador noch immer keine Noten lesen konnten: »Wir haben das nie gelernt. Wir spielen nach Gehör. Wir können keine Noten lesen. Im Orchester lesen alle Noten. Wir nicht, wir lernen nur, was wir uns irgendwo abschauen. Ja. Wir kennen die Töne, alle Töne. Aber nur vom Abschauen. Das ist es, was wir können. Wenn sie uns einen Zettel geben, mit musikalischen Noten, dann haben wir keine Ahnung.« (Hernández, Hexiquio 25.11.2010) 15 Der kleine Ort Palmillas verfügte über eine auffällig große Anzahl recht stattlicher Häuser und solcher, die es nach ihrer Fertigstellung einmal werden sollten. Sie standen zwischen kleineren und offensichtlich älteren Häusern, die häufig aus Lehmziegeln gebaut waren. Die neuen, großen Häuser wurden mit Geld, das Dorfbewohner/innen in den USA verdient hatten, gebaut. Viele der Besitzer/innen hatten ihre Häuser, die sie aus der Ferne in Auftrag gegeben hatten, niemals selbst gesehen. Damit ihre zukünftigen Residenzen nicht verwahrlosten, ließen die Migrant/innen daheimgebliebene Familienmitglieder oder Bekannte in diesen Häusern wohnen. So entstand der Eindruck, dass sich die eine Hälfte des Dorfes in den USA befand und die andere Hälfte deren Häuser und Grundstücke verwaltete.
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So spielten die beiden auch zunächst nur zum eigenen Vergnügen, wenn sie sich mit Freunden zum Feiern und Trinken trafen, ohne dabei Geld zu verdienen: »Früher spielte ich nur bei Partys. […] Angenommen, bei Vollmond, wenn ich zum Saufen unterwegs war. Ich hatte mein Bier dabei, meinen Schnaps, was auch immer, eine Flasche und sang mit anderen Freunden, die dazukamen.« (Hernández, Salvador 4.12.2011) Salvador Hernández Weg in die Überlandbusse Salvador Hernández arbeitete zunächst als Maurer. Allerdings blieb er, wie auch die anderen Mitglieder seiner Familie, arm und konnte sich viele Dinge, die andere junge Männer seines Dorfes besaßen, nicht leisten. Bereits Mitte 20 und Familienvater beschloss er schließlich, in die Hauptstadt zu gehen und sich dort Arbeit zu suchen: »Ich wollte vorankommen. Wollte mir einen Hut kaufen, Hosen. Viele hatten Schuhe, ich hatte nur Sandalen. ›Ich will nach Mexiko-Stadt, um mir Schuhe zu kaufen. […] Ich muss voran kommen!‹« (Hernández, Salvador 28.3.2013) Er kam kurz nach dem schweren Erdbeben 1985 nach Mexiko-Stadt, wo plötzlich Maurer beim Wiederaufbau gebraucht wurden. Während er nun besser verdiente, gab er in der Stadt jedoch auch mehr Geld aus. Er ging oft aus und begann zu trinken. In Interviews bedauerte er, dass er am Wochenende nach Palmillas zurückkehrte, aber in die cantina ging anstatt zu seiner Familie: »Ich griff zum Glas. Ich griff zum Glas aber… [Pause] Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht war, nicht? Denn heute trinke ich nicht mehr und ich weiß dank dieser Erfahrung warum.« (Hernández, Salvador 28.3.2013) Da sein Gehalt als Maurer nicht mehr ausreichte, begann er nach seiner Arbeit und am Wochenende in taquerías, cantinas und in den Trolleybussen auf der »Eje Central«16 der Hauptstadt gegen coperacha zu spielen: »Ich fing an in Bussen zu singen, zuerst in den Trolleybussen in Mexiko-Stadt. […] Dort sang ich zum ersten Mal. Wir arbeiteten als Maurer in Mexiko-Stadt und wir sangen in den Taquerías von Coyoacán.« (Hernández, Salvador 4.12.2011) Viele Menschen in seinem Umfeld sahen eine Verbindung zwischen der Musik und seiner Alkoholsucht und versuchten ihn zu überzeugen, die Gitarre an den Nagel zu hängen, um sein Leben wieder in gerade Bahnen zu lenken: »Sie sagten sofort: ›Vergiss die Gitarre! Lass die Gitarre, denn sie reißt dich ins Verderben!‹ Heute, wo ich nicht mehr trinke, seh ich, dass das nicht stimmt. Es ist nicht, wie die Leute sagen.« (Hernández, Salvador 28.3.2013) Zur Zeit meiner Feldforschung, nachdem er in sein Heimatdorf Palmillas zurückgekehrt war und bereits vor Jahren den Alkohol aufgegeben hatte, machte er weiter Musik und legte großen Wert darauf, dass Musik und Alkoholsucht einander nicht bedingten: »Du kannst dich auch ohne Gitarre ins Verderben stürzen. Du lässt dich gehen, weil du es willst! Sagt dir etwa eine Gitarre, dass du saufen musst?!« (Hernández, Salvador 28.3.2013) In Palmillas stieg er in die Überlandbusse und spielte dort gegen coperacha. Gerade wegen seiner Vergangenheit vertrat Salvador Hernández nun sehr strikte Ansichten, was sein Auftreten in Überlandbussen und seine Verantwortung gegenüber den Fahrgästen, die ihn unterstützten, betraf. Er war der Ansicht, dass ehrliche Arbeit sich darüber definierte, wie er sein verdientes Geld später investierte: »Das Geld verdienst du dir nur ehrenhaft, wenn du es auch ehrenhaft ausgibst. […] Wenn du es für Drogen verprasst oder, um dich zu 16 Der elektrische »trolebús« verband das Busterminal im Süden mit dem Busterminal im Norden und fuhr dabei über Mexiko-Stadt zentrale Verkehrsader »Eje Central«.
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besaufen, für ein schlechtes Leben, dann ist das nicht ehrenhaft.« (Hernández, Salvador 28.3.2013) Jedoch blieb Musik nur eine von mehreren Einkommensquellen, mit denen Salvador Hernández seinen Lebensunterhalt bestritt.17 Während er immernoch gelegentlich mauerte, besaß er auch ein kleines Stück Land, auf dem er Mais, Kürbis und Zuckerrohr anpflanzte, diverse Obstbäume bewirtschaftete und auch zwei Pferde hielt. Außerhalb der Maisernte war Salvador Hernández vormittags damit beschäftigt Bewässerungsgräben auszuheben und die bestehenden zu reinigen, die Bäume zu pflegen und die Pferde zu versorgen. Nachmittags spielte er in den Bussen. Er sah sich daher in gleichem Maße als Musiker und als Bauer und wollte beide Berufe so lange wie möglich nebeneinander betreiben: »Ich habe als Maurer gearbeitet und jetzt pflanze ich auf dem Feld. Damit werde ich niemals aufhören. Aber auch mit der Gitarre werde ich niemals aufhören. Erst wenn ich sterbe oder wenn ich so alt, so klapprig bin, dass ich nicht mehr spielen kann, weil meine Finger sich versteifen, oder was weiß ich! Nur so würde ich mit der Gitarre aufhören.« (Hernández, Salvador 4.12.2011)
Daher war Salvador Hernández Arbeitstag zweigeteilt und erst mittags, nachdem seine Aufgaben auf dem Feld erledigt waren, begab er sich an die Schnellstraße, um die zweite Hälfte des Tages in den Bussen zu verbringen: »Salvador steigt vor mir in den Bus. ›Der gehört zu mir,‹ erklärt er dem Busfahrer meine Anwesenheit: ›Wir machen Aufnahmen.‹ Der Busfahrer winkt mich durch. Der Bus wirkt durch seine dunklen Sitzbezüge und die Vorhänge düster. Doch auch im spärlichen Licht lässt sich leicht erkennen, dass es sich um ein heruntergekommenes Fahrzeug handelt. Durch einige Löcher in den Stufen des Einstiegs blitzt der Asphalt, der unter uns hinweg zieht. Bevor ich zur Mitte des Busses weitergehe, sagt mir Salvador noch: ›Nimm in diesem nicht auf! Der ist ziemlich laut.‹ Ich warte in einem Sitz, während sich Salvador mit dem Fahrer unterhält. Der Bus ist nur zu einem Drittel besetzt und, als Salvador ebenfalls zur Mitte des Ganges kommt und sich gegen eine Rückenlehne lehnt, befindet er sich im Rücken fast aller Passagiere. Er beginnt ohne Ansage sein erstes Stück ›Caminos de Michoacán‹: ›Cariñito dónde te hallas/ con quién te andarás paseando/ presiento que no me engañas/ por eso te ando buscando/ vengo de tierras lejanas/ nomás por ti preguntando...‹ (›Mein Schatz, wo bist du?/ Mit wem bist du unterwegs?/ Ich spüre, dass du mich betrügst,/ deshalb suche ich dich./ Ich komme von weit her,/ immer nur nach dir fragend…‹) Der Fahrer hat sein Radio nicht ausgestellt und unter Salvadors Gesang liegt ein ferner Cumbia-Rhythmus TS ... ts-ts-TS ... ts-ts-TS. Mittlerweile befinden wir uns auf der langen Steigung zwischen Iguala und Buenavista und die Motorengeräusche werden lauter und der Druckluftbehälter ächzt. Salvador schwankt in den Kurven leicht nach vorne, um dann wieder gegen die Rückenlehne zu fallen. Die Passagiere wirken schläfrig und ihre Köpfe rollen auf den Kopfstützen von rechts nach links und wieder zurück. Niemand scheint dem Musiker besondere Aufmerksamkeit zu schenken, und niemand dreht sich zu ihm um. Salvador klimpert ein wenig auf seiner Gitarre, bevor er die Requinto-Einleitung des zweiten Stückes beginnt: ›Tengo una novia muy bonita/ aquí dentro del pecho/ el gusto no me cabe/ voy a decirles como es ella/ porque 17 Salvador Hernández reiste auch kurz in die USA, um dort zu arbeiten. Während die meisten seiner Brüder über Jahre blieben, fühlte er sich dort so unwohl, dass er es nur neun Monate dort aushielt, bevor er nach Palmillas zurückkehrte.
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estoy muy seguro/ que muchos no lo saben...‹ (›Ich habe eine hübsche Freundin/ mein Gefallen an ihr/ ist zu groß für meine Brust./ Ich sage euch, wie sie ist/ denn ich bin mir sicher,/ dass viele es nicht wissen…‹) und nach dem Stück steigt Salvador ohne Pause in das nächste ein, im Gegensatz zu den beiden ersten 2/4-Stücken ein langsamer Vals: ›Entre copa y copa se acaba mi vida/ llorando borracho tu perdido amor/ que negros recuerdos me traen tus mentiras/ como cuesta lágrimas una traición...‹ (›Zwischen Glas und Glas endet mein Leben,/ und ich beweine deine verlorene Liebe./ Wie schwarz die Erinnerung an deine Lügen./ Wie viele Tränen kostet der Betrug…‹) Besonders bei diesem getragenen Stück macht sich bemerkbar, dass sich Salvador am Ende seines Arbeitstages befindet. Es fällt ihm schwer, die langen Töne gegen den Motorenlärm zu halten. Mit dem letzten Stück wird es wieder fröhlicher: ›Paloma que andas haciendo tan solitita/ si vienes buscando amores aquí estoy yo/ paloma, piquito de oro, chiquititita/ que ganas de darte un beso con mucho amor...‹ (›Taube, was machst du so allein?/ Wenn du Liebe suchst, findest du mich hier./ Taube, du goldener Schnabel, Kleines/ welche Lust, dir einen Kuss voll Liebe zu geben…‹) Unmittelbar nach dem Abschlag des Stückes beginnt Salvador seinen kurzen coperacha-Text, den er sehr routiniert und wenig emotional vorträgt: ›So, Leute, Freunde, Freundinnen! Wenn Sie eine kleine Münze teilen wollen…‹ Obwohl die Passagiere bis eben gelangweilt und desinteressiert wirkten, erhält Salvador nun auf dem Gang von vielen ein Lächeln, ein freundliches Nicken und von den meisten Münzen. Als Salvador zum Fahrer zurückkehrt, um sich für den Rest der Fahrt mit ihm zu unterhalten, hat er etwas mehr als eine Viertelstunde gespielt.« (Tagebucheintrag vom 2.12.2011 in TER zwischen Iguala und Palmillas)
Hexiquio Hernández Weg in die Überlandbusse Da er nahe Palmillas keine Arbeit fand, ging Hexiquio Hernández 1982 als 19-Jähriger noch vor seinem älteren Bruder Salvador nach Mexiko-Stadt. Dort arbeitete er als Laborassistent einer Kosmetikfirma. Obwohl er relativ gut verdiente und ein angenehmes Verhältnis zu seinen Vorgesetzten hatte, verließ Hexiquio Hernández Mexiko-Stadt nach nur vier Jahren, aus persönlichen Gründen, die er in Interviews als jugendlichen Leichtsinn bezeichnete (Hernández, Hexiquio 29.3.2013). Er kehrte nach Buenavista zurück, wo er heiratete, aber keine Arbeit fand und kein Haus für sich und seine junge Familie besaß. Schließlich ging er wie viele junge Männer der Region in die Vereinigten Staaten. Er verbrachte zunächst einige Monate in Los Angeles und zog dann nach Atlanta, Georgia weiter. Insgesamt lebte und arbeitete er zwei Jahre in den USA. Zwar pflegte Hexiquio Hernández im »Norden«, wie er im Interview bedauerte, einen verschwenderischen Lebensstil, der verhinderte, dass er Geld sparen konnte, jedoch schickte er ausreichend Geld nach Palmillas, um ein Haus zu bauen: »Ich habe mich mit Drogen zugeknallt, heftig, für 10.000 Peso, nachdem ich drei Monate in Atlanta war. Ich hatte gleich angefangen zu arbeiten. Aber ich habe alles bezahlt. Bevor ich Mexiko verließ hatte ich kein Haus. Ich hatte keinen Ort zum leben. Ich hatte eine Parzelle mit Draht umspannt, aber kein Haus. Ich lebte in einem Haus, das meine Mutter mir geliehen hatte. […] Als ich zurückkam, kehrte ich in mein eigenes Haus zurück.« (Hernández, Hexiquio 25.11.2010)
Zurück in Palmillas fand Hexiquio Hernández Arbeit in einer Fabrik in Buenavista, verdiente aber nicht genug, um sich und seine Familie zu ernähren. Zu dieser Zeit spielte Salvador Hernández bereits in den Bussen. Hexiquio Hernández lernte, Gitarre spielen, und schloss sich am Wochenende seinem Bruder an:
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»Ich wurde Musiker. Singen gefiel mir schon in der Schule. Ich sang gerne und nahm an Schulveranstaltungen teil. Ich sang und es machte mir Spaß. Aber Gitarre konnte ich nicht spielen. Ich fing erst mit der Gitarre an, als ich meinen Bruder sah. Der hat zuerst angefangen – Chava [Salvador]. Ich sang gerne und hatte keine Arbeit. Mein Bruder sagte mir: ›Keule, du kannst singen,‹ sagte er, ›ich bringe dir Gitarre bei und wir singen zusammen.‹ Deshalb wurde ich Musiker. […] ›Ich mache halt, was mein Bruder sagt.‹« (Hernández, Hexiquio 29.3.2013)
Abbildung 6: Hexiquio Hernández an der MEX-95 in El Naranjo.
Foto: Kirschlager
Hexiquio Hernández spielte lange Zeit nur in Begleitung seines Bruders in den Überlandbussen. Als er allerdings begann, auch alleine zu spielen, und seine Einkünfte nicht mehr mit seinem Bruder teilen musste, stellte er fest, dass er in den Bussen deutlich besser verdienen konnte, als bei seiner Arbeit in der Fabrik. Er gab seine feste Anstellung auf und spielte nur noch in den Bussen. Nachdem er und seine Frau sich 2012 trennten, verbrachte Hexiquio Hernández die Nächte wieder im Haus seiner Mutter, die er pflegte. Grund für die Trennung sei, laut Hexiquio Hernández, dass sich seine Frau niemals mit der Arbeit als Musiker abfinden konnte (Hernández, Hexiquio 29.3.2013). Doch sah er keine andere Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt in Palmillas oder Umgebung zu bestreiten. Während Salvador nur halbtags nach seiner Arbeit auf dem Feld in die Busse stieg, spielte Hexiquio Hernández von morgens bis abends. »Wir steigen in einen Bus Richtung Taxco. Hexiquio grüßt den Fahrer kurz, geht durch den Gang und lässt sich in einen Sitz fallen. Hinter uns steigt ein Clown ein. Er wird offensichtlich zuerst auftreten. Der Clown hat seinen Sohn mitgebracht, der ebenfalls bunt angezogen und geschminkt ist. Während der Bus sich am Markt vorbei auf die Hauptstraße schiebt, erzählt der größere der
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beiden Clowns die üblichen Schwiegermutter-Witze, schnell, monoton und ohne Kunstpausen. Der kleine Clown sitzt dabei auf seinem Arm. […] Auch als der Clown bereits fertig ist, bleibt Hexiquio zunächst sitzen. Er beginnt erst zu spielen, nachdem wir an einem Tianguís an der Stadtausfahrt gehalten haben, und eine beachtliche Gruppe Passagiere zugestiegen ist. […] Sämtliche Fenster des alten US-Schulbusses sind geöffnet, während wir mit beeindruckend hoher Geschwindigkeit über die Landstraße zwischen Iguala und Taxco fahren. Vor den Fenstern flattern die Vorhänge, und die Haare des Mädchens vor mir wehen über die Kopfstütze. In jeder Kurve und bei jeder Unebenheit auf der Straße knarzen die Ablagen über den Sitzen und die graue Innenverkleidung aus Plastik. Der Wind und die klapprige Ausstattung des Busses sind so laut, dass der Motor im mittleren Teil des Busses beinahe nicht mehr zu hören ist. Umso beeindruckender ist, dass sich die Stimme Hexiquios gegen diesen Lärm durchsetzt. Nasal und gepresst singt er sein erstes Stück. Einen überraschend langsamen Vals, dessen Strophen er durch kurze Requinto-Zwischenspiele voneinander trennt: ›Por todas las sorpresas que me has hecho/ a cambio del dolor que me quedó/ por las horas imensas del recuerdo/ te voy a dedicar esta canción…‹ (›Für all die Überraschungen, die Du mir beschertest/ im Tausch für den Schmerz, der mir blieb/ und all die vielen Stunden der Erinnerung/ widme ich Dir dieses Lied…‹) Die kurvige Straße zwingt Hexiquio zu einem sehr breiten Stand. Gleichzeitig stemmt er seinen Hintern gegen eine Rückenlehne auf der linken Seite des Busses. Er benutzt seinen massigen Oberkörper, um das Gleichgewicht zu halten. In scharfen Rechtskurven biegt er seinen Rücken weit über die Lehne Richtung Fenster, bis sein Blick beinahe an die Decke des Busses gerichtet ist. Auch auf den geraden Abschnitten dreht er seinen Körper nach links und nach rechts, so dass er mal in den vorderen Teil und mal in den hinteren Teil des Busses blickt. Hexiquio verzichtet auf Ansagen und geht nach dem ersten Stück gleich zum zweiten über, ›Los calzones de la dama‹: ›Estamos en la cama/ la dama y su servidor/ cuando tocó la puerta/ y una voz dijo: «Mi amor,/ ¡ábreme la puerta, mi alma!/ Soy tu marido y señor...‹ (›Wir sind im Bett/ die Dame und ihr Diener,/ als es an die Tür klopft/ und eine Stimme ruft: ›Meine Liebe,/ öffne die Tür, Liebste!/ Ich bin’s Dein Ehemann und Herr…‹) Das Publikum scheint das Stück allerdings bereits zu kennen oder nicht sonderlich witzig zu finden. Auf jeden Fall reagieren die Fahrgäste kaum auf die Pointen der Geschichte. Diesem Stück folgt das sehr traurige ›El señor de las canas‹ über einen verstorbenen Vater. Das vierte Stück besingt die Folgen der Wirtschaftskrise, über die sich im Moment ganz Mexiko beklagt: ›Las tortillas, los refrescos/ el azucar y el jabón/ siguen subiendo los precios/ los hijos de Calderón…‹ (›Die Tortillas und Softdrinks,/ der Zucker und die Seife/ steigen alle im Preis/ dank der Leute Calderóns…‹) Zuletzt widmet sich Hexiquio wieder enttäuschter Liebe: ›No me digas que ahora te extraña/ que yo haya cambiado contigo./ Tu misma me abriste las alas/ fue tu modo, razón y motivo/ no te olvides que tu me empujabas/ a volar donde no era mi nido…‹ (›Sag jetzt nicht, dass es Dich wundert,/ dass ich mich verändert habe./ Du selbst öffnetest meine Flügel./ Es war Dein Tun und Dein Plan./ Vergiss nicht, dass Du mich drängtest,/ über fremden Nestern zu fliegen…‹) Nach dem Stück ist die Gitarre noch nicht ausgeklungen, als Hexiquio in seinen Text zur coperacha übergeht: ›Danke! Passagiere, Leute! Einen guten Tag! Wer möchte, ein freiwilliger Beitrag. Vielen Dank im Voraus! Haben Sie einen guten Tag!‹ Danach geht er den Gang zuerst bis zum hinteren Ende und dann einmal in seiner ganzen Länge bis nach vorne. Dabei sammelt er von den meisten Fahrgästen Spenden ein. Bevor wir in Puente Campuzano aussteigen, bedankt sich Hexiquio beim Fahrer.« (Tagebucheintrag vom 25.11.2010 zwischen Iguala und Puente Campuzano)
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Die Strecken und Performances von Salvador und Hexiquio Hernández Die línea, in der Salvador und Hexiquio Hernández und ihre Neffen am häufigsten spielten, waren die Busse der línea TER. Wenn die Musiker nicht zufällig Glück hatten und direkt an der Ortsausfahrt von Palmillas gerade ein Bus dieser línea anhielt, um Passagier/innen aufzunehmen, fuhren sie zunächst mit einem Kollektiv-Taxi ins benachbarte Buenavista, das in der Regel den Ausgangspunkt für ihre Fahrten in den Bussen bildete. Die TER-Busse der ruta Cuautla-Iguala passierten dort stündlich in beiden Richtungen und hielten einige Minuten am örtlichen Terminal. »Doña Mine«, eine Schwester von Salvador und Hexiquio Hernández, betrieb in Buenavista einen Tacostand an einem tope direkt am Fuße der steilen Auffahrt zum Terminal. Der Stand diente den Brüdern und ihren Neffen als Basis. Sobald die Busse Richtung Cuautla oder Richtung Iguala in das Terminal einfuhren, begab sich einer der músicos ambulantes auf die andere Straßenseite, um den Bus bei der Ausfahrt abzufangen. Der tope brachte die ohnehin langsam fahrenden Busse an dieser Stelle beinahe zum Stillstand. So spielten die Musiker als erste Strecke zwischen Buenavista und Iguala oder in entgegengesetzter Richtung zwischen Buenavista und Puente de Ixtla. Beide Strecken waren mit etwa 45 Minuten sehr lang im Verhältnis zu den etwa 15 Minuten, die Salvador und Hexiquio Hernández während ihrer Performance spielten. Salvador Hernández blieb an den meisten Tagen auch auf den Strecken Iguala-Buenavista und Buenavista-Puente de Ixtla in beiden Richtungen. Seine Wartezeiten zwischen den Abfahrten der Busse von TER in Iguala nutzte er in den wesentlich älteren Bussen, die mit hoher Frequenz zwischen Iguala und Taxco und Iguala und Huitzuco verkehrten. Anders als Hexiquio Hernández und die drei Neffen verließ er dabei allerdings nicht die Stadtgrenzen Igualas. Der dichte Verkehr von der Busstation entlang dem Markt bis zum »Monumento a los Héroes de la Independencia« bot Salvador Hernández ein ausreichend weites Zeitfenster, um zehn Minuten zu spielen, bevor er am Denkmal ausstieg, wo er auf den nächsten Bus Richtung Cuautla wartete. Seltener machte er Abstecher auf die MEX-51, wo er in den Bussen zwischen Iguala und Teloloapan spielte. Hexiquio Hernández verließ Palmillas an sieben Tagen in der Woche zwischen 8 und 10 Uhr morgens und kehrte meistens abends gegen 18 Uhr zurück. Er spielte in zehn oder mehr Bussen täglich und verdiente dabei zwischen 20 und 50 Pesos pro Fahrzeug. Diese Schwankungen erklärten sich unter anderem daraus, dass Hexiquio Hernández zwischen mehreren verschiedenen Strecken und Bustypen variierte. Er pendelte nicht wie sein älterer Bruder den ganzen Tag auf der Schnellstraße zwischen Iguala und Puente de Ixtla, sondern spielte auch auf der GRO-1 zwischen Iguala und Huitzuco, entlang des Bogens der alten MEX-95 von Iguala über Taxco bis nach Puente de Ixtla und auch auf der MEX-51 zwischen Iguala und Teloloapan. Regelmäßig verließ er das Streckennetz und fuhr beispielsweise über Puente de Ixtla nach Norden bis Cuernavaca oder folgte der ruta der línea TER Richtung Cuautla bis Jojutla oder darüber hinaus. Er stieg auch in die älteren Bluebird-Busse, in denen Salvador Hernández nie das Stadtgebiet Igualas verließ, und fuhr in ihnen über mehrere Strecken bis nach Huitzuco oder Taxco und auch zwischen Taxco und Puente de Ixtla. Der hohe Lärmpegel im Innern dieser alten Busse machte Hexiquio wenig aus, und er war stolz auf seine widerstandsfähigen Stimmbänder:
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»Ich habe mich daran gewöhnt. […] Wenn die Busse Lärm machen, singe ich stärker, damit man es hört. Das schadet mir nicht, zumindest bis jetzt nicht. Ich habe viele Musikerkollegen, die sehen, wie ich kaltes Wasser mit Eis trinke, und sie sagen: ›Sag nicht, dass dir das nicht schadet!‹ Bis jetzt hat das meinem Hals nicht geschadet.« (Hernández, Hexiquio Hernández 25.11.2010)
Als Hexiquio Hernández begann, traten Salvador und er gemeinsam in den Bussen als dueto de guitarras auf. Mittlerweile spielte aber jeder für sich allein. Beide erklärten, dass die Passagier/innen unabhängig von der Anzahl der Musiker spendeten. Somit verdienten sie im dueto nur die Hälfte, dessen, was sie allein einnahmen. Für Hexiquio Hernández war allerdings auch die Unabhängigkeit ein wichtiger Faktor, wenn er alleine spielte. Während im dueto sein älterer Bruder das Sagen hatte, konnte er alleine seinen Arbeitstag selbst organisieren und war nicht an die Strecken entlang der Schnellstraße gebunden, die Salvador Hernández nur ungern verließ: »Für mich läuft es allein besser. Vor allen Dingen: ich gehe, wann ich will. Will ich Richtung Cuernavaca fahren, will ich nach Mexiko-Stadt fahren… […] Wenn ich mit meinem Bruder unterwegs bin, geht das nicht: ›Wir dürfen nur hier spielen!‹« (Hernández, Hexiquio 25.11.2010) Wenn die beiden Brüder jedoch zufällig aufeinandertrafen, spielten sie gemeinsam. Das galt auch für ihre drei Neffen, denen Salvador und Hexiquio Hernández unterwegs öfter begegneten: »In Puente de Campuzano steigen wir wieder aus und warten auf den nächsten Bus. Hexiquio blickt wartend in Richtung Taxco und rupft an einem alten Plakat an der Säule des Unterstandes, als zwei Jungs über die Straße getrottet kommen. Einer von beiden hat seine langen Haare in einem Pferdeschwanz und trägt eine Gitarre unterm Arm. Der andere trägt Cowboystiefel, einen schwarzen Cowboyhut und ein schwarzes Hemd und hat ein altes Akkordeon umgeschnallt. Wären dort nicht ihre verbrauchten Instrumente, sähen sie aus wie junge Country-Stars. Sie heißen Octavio und Martín, sind 25 und 22 Jahre alt und die Neffen von Hexiquio. Hexiquio ist sichtlich stolz, mir die beiden vorzustellen. Martín übernimmt die Säule an der Hexiquio zuvor gestanden hatte und beginnt gedankenverloren, sich ebenfalls an den Postern zu schaffen zu machen. Hexiquio schlägt vor, im nächsten Bus in Richtung Iguala gemeinsam zu spielen. Die beiden stimmen zu, wirken aber nicht sonderlich enthusiastisch. Vermutlich haben sie keine Wahl. Der Bus ist zum Bersten voll und ich stehe ganz vorne, während die anderen sich über den hinteren Teil verteilen. Als sie beginnen zu spielen, wird deutlich, dass die beiden Jungs offensichtlich ein anderes, poppigeres Repertoire als Hexiquio haben, der Mühe hat mitzukommen und auf die Zurufe von Octavio am Akkordeon angewiesen ist. So spielen die drei beispielsweise ›Tatuajes‹ von Joan Sebastián. Der Bus ist voller Schüler aus einer Preparatoria und Martín und Octavio kommen gut an. Vor allen Dingen eine Gruppe Mädchen auf den letzten zwei Bänken applaudiert wild und singt laut mit. In Iguala steigen alle aus und Martín und Octavio nehmen den nächsten Bus zurück Richtung Taxco.« (Tagebucheintrag vom 25.11.2010 zwischen Puente Campuzano und Iguala)
Meist spielten die Mitglieder der Hernández-Familie gemeinsam in Bussen Richtung Iguala, wo sie sich auf die verschiedenen Richtungen verteilten, damit sie sich im Laufe des Tages nicht in die Quere kamen. Trotz ihrer Vorbehalte sahen sowohl Salvador als auch Hexiquio Hernández auch Stärken in Performances, die sie zu zweit oder sogar zu dritt bestritten. Der vollere und lautere Klang und die professionellere Erscheinung verhalfen ihnen zu contratos, wie Salvador Hernández erklärte:
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»Man verdient weniger, aber es hat auch Vorteile. Zu dritt gibt es die Möglichkeit, dass dich jemand bucht. Es ist möglich, dass eine Person dir sagt: ›Hey! Wie viel nehmt ihr? Ich möchte einen Auftritt für diesen oder jenen Tag.‹ Sie wissen dann, dass wir eine ganze Norteño-Band haben. Dafür gibt es mehr Auftrittsmöglichkeiten, als für einen alleine.« (Hernández, Salvador 28.3.2013)18
Anders als Efraín Balbuena in der Mixteca Poblana spielten Salvador und Hexiquio Hernández nicht in Restaurants und cantinas. Dabei besaßen gerade Restaurants in Iguala Bühnen, auf denen vor allen Dingen donnerstags 19 und an den Wochenenden fest engagierte Musiker spielten. Im Zentrum Igualas hatte sich jedoch eine eigene Szene aus Musikern etabliert, die den Beiden wenige Auftrittsmöglichkeiten ließe: »Hier in der Stadt gibt es schon Musiker, die durch die Restaurants und Pozolerías ziehen. […] Die sind täglich hier. Deshalb versuche ich es nichtmal. Außerdem sind die zu zweit oder zu dritt und ich allein. Deshalb sage ich: ›Alleine gehe ich da gar nicht hin!‹« (Hernández, Hexiquio 25.11.2010) Das bedeutete jedoch nicht, dass Salvador und Hexiquio Hernández ausschließlich an Bord der Überlandbusse auftraten. Gemeinsam bildeten sie das dueto »Águila y Sol«. Salvador Hernández spielte den requinto-Part und sang die erste Stimme, Hexiquio spielte die Rhythmusgitarre, guitarra, und sang die zweite Stimme. Dabei handelte es sich laut Salvador Hernández um die angenehmste Art, mit Musik Geld zu verdienen (Hernández, Salvador 4.12.2011). Ihre Auftritte an Bord der Überlandbusse halfen den Brüdern nicht nur, überhaupt an contratos zu gelangen. Durch die weitgestreute geographische Herkunft der Passagier/innen, gelangten Salvador und Hexiquio Hernández auch immer wieder an Auftritte in von ihrem Dorf Palmillas weit entfernten Orten.20 Neben dem dueto spielten Salvador und Hexiquio Hernández gelegentlich im conjunto norteño21 ihrer Neffen und in anderen losen Zusammensetzungen mit Musikern aus Buenavista und Iguala. Das Repertoire von Salvador und Hexiquio Hernández Als dueto »Águila y Sol« hatten die beiden Brüder mit Hilfe eines lokalen Elektrotechnikers eine CD aufgenommen und produziert. Allerdings war Salvador Hernández von der Klangqualität der Aufnahmen nicht sonderlich begeistert, und es war ihm unangenehm, den Tonträger während seiner Performances in Bussen zum Verkauf anzubieten:
18 Hexiquio Hernández brachte das gleiche Argument (Hernández, Hexiquio 25.11.2010). 19 Donnerstags war im ganzen Bundesstaat Guerrero »Jueves Pozolero«, und viele Familien aßen auswärts in »pozolerías«, die die typische Maissuppe pozole anboten. 20 Zum Zusammenhang zwischen Performances in Überlandbussen und contratos vgl. Kapitel 6.3. 21 »Conjunto norteño« bezeichnet das typische Ensemble der música norteña, das sich zunächst aus bajo sexto, einer zwölfsaitigen und sechs-chörigen Gitarre mit verlängerter Mensur, und Akkordeon zusammensetzte. Die Mitglieder der Hernández-Familie spielten allerdings in der moderneren Besetzung, in der neben bajo sexto und Akkordeon noch E-Bass und Schlagzeug vertreten waren, sie entsprachen somit der Besetzung berühmter norteño-Bands wie »Los Tigres del Norte« oder »Los Tucanes de Tijuana«.
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»Ich habe [die CD] nicht mit in Busse genommen. Ich nehme sie mit zu Feiern. […] Denn meine CD ist ein bisschen kratzig geworden. Wenn ich die Leute nicht kenne, könnten sie wütend werden. […] Ich verkaufe sie nur Leuten, die mir vertrauen. Denen kann ich sagen: ›Die CD ist etwas verzerrt.‹ […] Deshalb nehme ich sie nicht in Busse mit. Dann bräuchte ich noch eine Tasche. Ich schleppe nicht gerne eine Tasche mit.« (Hernández, Salvador 4.12.2011)
Unter den 16 Stücken befinden sich bis auf zwei Ausnahmen ausschließlich Eigenkompositionen von Salvador Hernández auf der CD. Während Hexiquio Hernández keine eigenen Stücke schrieb, begann Salvador recht bald, nachdem er Gitarre spielen konnte, zu komponieren. Seine Stücke hatten Erfolg beim Publikum: »Ich komponierte mein erstes Lied und sagte mir: ›Oh, das Lied ist mir gelungen.‹ Meine Freunde hörten es: ›Oh, dein Lied ist dir gelungen.‹ Dann begann eine Zeit, in der ich viel komponierte. […] Die Lieder komponieren sich aus enttäuschter Liebe, aus Freude, aus irgendeinem Gefühl.« (Hernández, Salvador 4.12.2011) 2013 verfügte Salvador Hernández über ein Repertoire von 45 eigenen Stücken, darunter hauptsächlich canciones rancheras und corridos, obwohl er in jüngerer Zeit größeres Interesse an sones zeigte.22 Neben den Motiven enttäuschter Liebe fanden sich in diesem Repertoire einige corridos über verstorbene Freunde und Nachbarn der Hernández-Familie, Stücke über die Arbeit als Musiker und über die Schönheit der Region. Salvador Hernández komponierte auch corridos de encargo, für Auftraggeber/innen, die an ihn herantraten: »Nehmen wir an, du sagst meinem Bruder: ›Komponiere mir einen Corrido!‹ – ›Wovon möchtest du, dass er handelt?‹ Dann sagst du wovon, sagst dein Geburtsdatum, und er komponiert das dann.« (Hernández, Hexiquio 25.11.2010) Unter den corridos, die er von sich aus komponierte, hatte Salvador Hernández die engste Beziehung zum »Corrido de Luis Díaz Figueroa«. Der Protagonist dieses corridos war ebenfalls Musiker und ein enger Freund, der nach einem Gig an der Pazifikküste tödlich mit dem Auto verunglückte: […]
[…]
La letra está hecha para recordar
Dieser Text ist zum Gedenken
A Luis Díaz Figueroa.
an Luis Díaz Figeroa geschrieben.
Tuvo un accidente allá en Michoacán, Er hatte einen Unfall in Michoacán, Maldita sea la hora.
verdammt sei die Stunde, [als es geschah].
[...]
[…] Titel: Corrido de Luís Díaz Figueroa Interpreten: Dueto Águila y Sol Komponist: Salvador Hernández Transkription einer Aufnahme vom 10.11.2011
Allerdings spielten die beiden Brüder vor allen Dingen zwei andere Kompositionen von Salvador Hernández an Bord der Busse. Bei dem ersten Stück handelte es sich um
22 Dahinter stand sein Interesse, sein Repertoire entsprechend der Erwartungen seines Publikums zu ergänzen (vgl. Kapitel 5.4).
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den »Corrido del municipio«, in dem die einzelnen Dörfer besungen wurden, die gemeinsam mit Buenavista de Cuéllar das gleichnamige municipio bilden.23 Das zweite Stück, das besonders Hexiquio gern als letztes seiner Performance spielte, weil es gut in die Bitte nach coperacha überleitete, war der »Corrido del cancionero«. Im Text wird über die harte Realität des Musikers reflektiert, der seinen Lebensunterhalt in cantinas und Bussen bestreitet: ¡Qué trabajosa es la vida para el pobre cancionero! Andar de aquí pa’ allá como errante misionero en bares y restaurantes y autobuses de pasajero.
Wie mühsam ist das Leben für den armen Musiker! Von hier nach dort laufen, wie ein verirrter Missionar in Bars und Restaurants und Überlandbussen.
Cuando se pone a cantar ahí en una cantina, canta dos o tres canciones, luego pide la propina. Muchos no le dan dinero, solo le ofrecen tequila.
Wenn er zu singen beginnt in einer Kneipe, dann singt er zwei oder drei Lieder und bittet um ein Trinkgeld. Viele geben ihm kein Geld, sondern bieten ihm nur Tequila an.
Y al llegar a un restauran no nos quieren dar permiso. Dicen que tienen rocola bonita y de compactdisco, que a cada quince minutos toca sin echarle un cinco.
Kommen wir an ein Restaurant, lassen sie uns nicht hinein. Sie sagen, sie hätten eine Jukebox. Die sei schön und spiele CDs. Sie spiele alle 15 Minuten, ohne dass man sie bezahle.
Y al subirse a un autobús se siente rete bonito, de ver que todo el pasaje traen abierto su oiditos y al pasar por la colecta muchos se hacen dormiditos.
Wenn wir in einen Bus steigen, fühlt es sich wunderschön an, wenn wir die Passagiere sehen, die uns zuhören. Doch wenn wir die Spende einsammeln, stellen sich viele schlafend.
Muchos vienen preparados con cuentos para leer. Otros traen sus caseteras oyendo música ingles. Otros ni nos hacen caso ni nos arriendan a ver.
Viele reisen vorbereitet. Sie bringen etwas zu Lesen mit. Andere haben ihre Kassettenspieler und hören Musik auf Englisch. Andere beachten uns gar nicht und drehen sich nicht einmal um.
23 Zu einer näheren Betrachtung des »Corrido del municipio« vgl. Kapitel 7.4.
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Ya me despido de todos con gusto y con alegria. Si hoy no trae pa’ propina ¡Ay!, me la da otro día. ¡Felicidades a todos! ¡Dios nos conserve la vida!
Jetzt verabschiede ich mich von allen mit Gefallen und Freude. Wenn Sie heute nichts für die Spende haben, ay, dann an einem anderen Tag. Alles Gute für alle! Beschütze Gott unser Leben! Titel: Corrido del Cancionero Interpreten: Dueto Águila y Sol Komponist: Salvador Hernández Transkription einer Aufnahme vom 10.11.2011
Neben eigenen Kompositionen setzte sich das Repertoire der Hernández-Brüder aus populären Stücken zusammen, die dem Publikum bereits bekannt waren. Hexiquio Hernández spielte fast ausschließlich canciones rancheras und corridos. Dabei zeigte er eine Vorliebe für langsamere rancheras valseadas im 3/4 Takt. In ihren Inhalten entsprachen diese Stücke hauptsächlich den für canciones rancheras typischen Themen: untreue Frauen und hartes aber ehrliches Leben. Als Kontrapunkt setzte er häufig heitere Stücke mit komischen Inhalten und abschließenden Pointen, wie den corrido »Los calzones de la dama« der »Los Cadetes de Linares« oder »El doble engaño«. Unter den corridos in seinem Repertoire befanden sich vor allen Dingen solche über Revolverhelden, die der Musiker auch privat am liebsten hörte (Hernández, Hexiquio 25.11.2010). Salvador Hernández war bezüglich der Genres in seinem Repertoire deutlich breiter aufgestellt. Er beherrschte neben corridos und canciones rancheras auch boleros, chilenas und sones calentanos, auf die er je nach Zusammensetzung der Passagier/innen und Strecke zurückgriff.24 Während Salvador Hernández angab, etwa 350 Stücke zu beherrschen, schätzte Hexiquio Hernández sein Repertoire auf 500 Stücke. »Por gusto« und »por necesidad«: Der unterschiedliche Zugang der beiden Brüder Salvador Hernández spielte nicht aus reiner Notwendigkeit in den Bussen. Er mochte seine Arbeit, spielte bereits auf dem Weg von seinem Haus zur Schnellstraße auf seiner Gitarre und sprach leidenschaftlich über positive Reaktionen seines Publikums. Er sah seine Passion im Gegensatz zu seinem Bruder Hexiquio, dessen Verhältnis zur Musik vielmehr ein professionelles sei und mit dessen Arbeitstag ende. Während Salvador Hernández außerhalb seiner Arbeitszeit übte, CDs kaufte, Texte transkribierte und auf diese Weise sein Repertoire stetig erweiterte, zeigte Hexiquio weniger Ehrgeiz: »Musik muss einem Spass machen. Denn wenn du einfach so… Ich weiß nicht, aber ich habe das Gefühl, dass ich Musik mehr liebe als mein Bruder. Mir gefällt sie mehr, denn ich laufe nur mit Gitarre rum. […] Ich habe sie immer umhängen, und soliere, während ich laufe. Ich laufe spielend und singend. Und er nicht. Wenn er vom Singen zurückkommt, legt er die Gitarre weg.« (Hernández, Salvador 4.12.2011)
24 Zu Salvador Hernández Wahl des Genres vgl. Kapitel 5.5.
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Diese Wahrnehmung berücksichtigte allerdings nicht, dass Hexiquio Hernández jeden Tag einige Stunden länger in den Bussen spielte als Salvador. Er selbst wehrte sich vehement gegen die Behauptung, dass Musik für ihn nichts als reiner Broterwerb sei: »Ich mag’s. Meine Familie glaubt das nicht, was. Meine Familie glaubt mir nicht, dass es mir Spass macht, dass ich nur spiele, weil ich muss. Aber es macht mir Spass. Wenn ich es nicht mögen würde, würde ich mir eine andere Arbeit suchen, eine andere Art zu leben. Ich würde etwas verkaufen, als Händler oder so.« (Hernández, Hexiquio 29.3.2013) Er bestritt umgekehrt allerdings nicht, dass er nicht aus reinem Vergnügen in die Busse stieg: »Davon lebe ich. Das ist meine Arbeit. Ich muss arbeiten. Auf diese Weise verdiene ich meinen Lebensunterhalt.« (Hernández, Hexiquio 25.11.2010) Tatsächlich sahen beide Brüder, wenn sie direkt danach gefragt wurden, keine Alternativen, sich den Lebensunterhalt zu verdienen, als weiterhin an Bord der Busse zu spielen. Auch wenn sie auf privaten Feiern leichter mehr Geld verdienten, so waren diese Auftritte zu selten, um beiden Brüdern ein Auskommen zu sichern. Zudem kam ein Großteil ihrer Auftritte ohnehin durch Kontakte, die sie in Bussen knüpften, zustande. Daher waren sich Hexiquio und Salvador Hernández sicher, dass sie noch lange in Überlandbussen auftreten werden: »Davon lebe ich. Wenn es keine Auftritte gibt und ich nicht für Feiern gebucht werde, dann gehe ich in dieWagen, in die Überlandbusse.« (Hernández, Salvador 4.12.2011)
4.3 STRECKENNETZ 3: COSTA GRANDE Y COSTA CHICA Die Musiker, deren Bewegungen das dritte Streckennetz definierten, waren Julio und Jesús García aus dem kleinen Dorf Brasilia nahe Bajos de Ejido, Tomás Ramírez, der in Acapulco lebte, und – ebenfalls aus Acapulco – das dueto »Los Pajaritos del Sur«. Das Streckennetz »Costa Grande y Costa Chica« erstreckte sich auf rutas entlang einer einzigen Straße, der MEX-200. Seine Musiker bewegten sich von Acapulco etwa 145 km nach Osten bis nach Marquelia an der Costa Chica und etwa 105 km von Acapulco nach Westen bis Tecpan de Galeana an der Costa Grande. In einem Exkurs innerhalb dieses Kapitels werde ich mich außerdem mit den urbanen Bussen Acapulcos beschäftigen. Zwar waren die Musiker in Acapulcos urbanos unabhängig von den Überlandbussen auf der MEX-200 organisiert und ihre Arbeitsweise sehr verschieden, allerdings hatten fast alle Musiker, die ich in diesem Streckennetz begleitete, in den urbanos der Pazifikmetropole ihre Karrieren begonnen und einige sahen sich durch die Politik der líneas an der Küste in den urbanen Nahverkehr zurückgedrängt. Trotz seiner linearen Struktur entlang den rutas auf der MEX-200 ließ sich das Streckennetz in zwei Teile unterteilen. Der eine befand sich auf rutas entlang der Costa Grande und der andere auf rutas entlang der Costa Chica. Beide Küsten wurden durch die Großstadt Acapulco voneinander getrennt, und es gab keine direkten Busverbindungen. Stattdessen waren Passagier/innen zwischen beiden Küsten gezwungen, in Acapulco umzusteigen. Transiträume an Costa Grande und Costa Chica differierten auch in ihrer Erschließungsgeschichte, ihren geographischen Gegebenheiten und der Zusammensetzung ihrer Bevölkerung. Für die Musiker dieses Streckennetzes handelte es sich aber vor allen Dingen um zwei Regionen, deren Bevölkerungen sich in ihren
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Hörgewohnheiten unterschieden und die sie daher mit verschiedenen Genres verbanden.25 Die Costa Grande Die Busse auf rutas entlang der Costa Grande verließen Acapulco nach Westen in Richtung Pie de la Cuesta. Die MEX-200 verlief direkt oberhalb der Klippen an der steilen Küste und zeichnete die felsigen Buchten nach. Die engen Kurven besaßen einen schlechten Ruf und trugen Namen wie »Los Derrumbes«, »der Bergrutsch«, oder »La Curva del Diablo«, »die Kurve des Teufels«, allerdings war der Verkehr auf diesem Abschnitt meist stockend und kaum schnell genug, als dass Fahrzeuge von der Fahrbahn getragen werden konnten. In der Regenzeit kam es häufig zu Erdrutschen, die die rechte Spur und manchmal die gesamte Straße verschütteten. Abhilfe gegen die ewigen Staus und Vollsperrungen sollte eine Begradigung bringen. Zur Zeit meiner Feldforschung wurden einige der schmalen Buchten bereits von Betonbrücken überspannt, über die bald der Verkehr rollen sollte. Hinter der letzten Klippe gab die Straße ein letztes Mal einen atemberaubenden Ausblick auf den Pazifik frei und fiel dann in Pie de la Cuesta bis auf Höhe des Meeresspiegels ab. Dort nahm der Verkehr Fahrt auf. Nun bestimmten Kokos- und Mangoplantagen den Ausblick aus den Busfenstern, und im Norden waren die ersten Hügel der Sierra Madre del Sur zu erkennen. Die Straße verlief auf einem flachen Damm und rechts und links der Fahrbahn bildeten sich in der Regenzeit Tümpel und kleine Seen. Diese Eindrücke bestimmten das Bild der gesamten Costa Grande bis Lázaro Cárdenas im Nachbarstaat Michoacán. Abbildung 7: Rutas und Einstiegsorte an der Costa Grande.
Abbildung: Kirschlager
Auf dem Abschnitt der Costa Grande zwischen Acapulco und Tecpan de Galeana verkehrten außergewöhnlich viele verschiedene líneas und servicios. Zihuatanejo, die größte Stadt der Costa Grande an der Grenze zu Michoacán, war durch die servicios de primera der líneas Estrella de Oro und Futura beziehungsweise Costa Line über die 25 Zur Platzierung regionaler Genres vgl. Kapitel 5.5.
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MEX-200 mit Acapulco und auch mit Mexiko-Stadt verbunden. Jedoch wie in anderen Streckennetzen erhielten auch die Musiker an der Küste Guerreros nur äußerst selten Zutritt zu diesen Bussen. Die wichtigsten Auftrittsräume für die Musiker an der Costa Grande bot der servicio económico der zur grupo Estrella Blanca gehörenden línea Autobuses Mares del Sur (AMS), die tagsüber jeweils stündlich Acapulco mit Lázaro Cárdenas und mit Atoyac de Álvarez verbanden. Ebenso befuhr die línea Los Galgos der grupo ADO in stündlicher Frequenz eine ruta zwischen Acapulco und Lázaro Cárdenas im servicio económico. Eine Besonderheit an der Costa Grande war die Kooperative Autotransportes Guerrerenses de la Costa (AGC), die seit Januar 1991 halbstündlich eine ruta zwischen Acapulco und San Luis La Loma in jede Richtung bediente. Jeder Wagen bei AGC unterstand direkt seinem Besitzer, der den Bus auch häufig selbst fuhr. Die Busse der Kooperative unterlagen einem gemeinsamen Tarifsystem und einem Fahrplan, dessen Einhaltung von checadores entlang ihrer ruta kontrolliert wurde. Die Fahrzeuge waren in schlechterem Zustand als die Busse von AMS und Los Galgos, die häufig bereits mit Klimaanlagen ausgestattet waren. Stattdessen handelte es sich bei den Bussen der Kooperative oft um ausgemusterte urbanos. Die Tarife der líneas AMS und Los Galgos waren etwa zehn Prozent teurer als die der Kooperative AGC, was gemeinsam mit dem verhältnismäßig guten Zustand ihrer Fahrzeuge einige meiner Interviewpartner/innen an der Costa Grande dazu veranlasste, diese beiden líneas dem servicio de primera zuzurechnen. Zusätzlich eröffnete 2011 die línea Olas del Pacífico eine weitere ruta entlang der Costa Grande, die sie mit micros26 befuhr. Neben diesen größeren Bussen, gab es unzählige combis, die in hoher Frequenz zwischen den größeren Orten an der Costa Grande verkehrten und auf kürzeren Strecken das wichtigste Verkehrsmittel darstellten. Die Vielfalt der líneas und rutas und die hohe Busdichte entlang der Costa Grande waren Entwicklungen mit gravierenden Folgen für die Musiker. Zwar verkürzten sich ihre Wartezeiten, aber die Passagier/innen, die zuvor in einem einzigen Bus reisten, verteilten sich nun auf drei oder vier Busse. Während Busse früher meist voll besetzt fuhren (García, Julio 24.9.2010), beförderten viele Busse zur Zeit meiner Feldforschung außerhalb der Stoßzeiten unter zehn Passagier/innen. Sämtliche rutas entlang der Costa Grande nahmen ihren Anfang in Acapulco und passierten Pie de la Cuesta, wo zwei topes den ersten Einstiegspunkt für Musiker an der Costa Grande bildeten. Der nächste Einstiegspunkt, den vor allen Dingen Julio und Jesús García regelmäßig nutzten, befand sich eine halbe Stunde Fahrzeit weiter auf der Durchfahrt des kleinen Ortes Bajos del Ejido an einem retén der mexikanischen Armee. Busse hielten dort meist mehrere Minuten und den Musikern blieb viel Zeit, die Busfahrer um Einstieg zu bitten. Allerdings nutzten auch Inspekteur/innen der líneas das retén, um Ticketkontrollen durchzuführen. Zentraler Ort an der Costa Grande für Busmusiker war Coyuca de Benítez 35 km westlich von Acapulco. Der Verkehr, der sich auf der offenen Strecke seit Pie de la Cuesta entzerrt hatte, wurde in Coyuca erneut zähflüssig und schob sich über die Hauptstraße am Markt vorbei Richtung Tecpan. Coyuca verfügte außerdem über die erste offizielle Busstation seit Acapulco. Um den Augen der Angestellten der línea zu entgehen, stiegen die Busmusiker einige hundert 26 »Micros« waren deutlich kleinere Busse als Überlandbusse, verfügten jedoch im Gegensatz zu den noch kleineren combis über einen Gang zwischen den Sitzen und waren hoch genug, dass Passagier/innen beziehungsweise Musiker darin stehen konnte.
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Meter weiter östlich in die Busse, wo Verkehrspolizisten den Verkehr regelmäßig stoppten, um Passant/innen vom gegenüberliegenden Markt die Straße überqueren zu lassen. Besonders Julio und Jesús García pendelten an den meisten Tagen zwischen diesem Einstiegsort am Markt von Coyuca und dem retén der Armee bei Bajos del Ejido. Die nächsten zwei Einstiegspunkte an der Costa Grande befanden sich in den kleinen Ortschaften El Papayo und Zacualpan, wo Busse Passagier/innen an überdachten Bushaltestellen einsammelten und zudem eine recht hohe Dichte an topes den músicos ambulantes Chancen bot, in Busse zu steigen. Auf der Strecke El Papayo-Coyuca verbrachte Tomás Ramírez den größten Teil seiner Arbeitstage. Zwischen Zacualpan und dem nächsten Einstiegspunkt in San Jerónimo befand sich der Abzweig nach Atoyac de Álvarez, der wichtigsten Stadt der dahinterliegenden Sierra. Hier verließen die AMS-Busse mit dem Ziel Atoyac die MEX-200, weshalb auf dem verbleibenden Abschnitt zwischen San Jerónimo und Tecpan nur noch halb so viele Busse dieser línea fuhren. Entsprechend waren die Busse westlich des Abzweigs deutlich besser mit Passagier/innen ausgelastet und um einiges ergiebiger als Fahrzeuge vom Abzweig Richtung Acapulco. Während sowohl Julio und Jesús García als auch Tomás Ramírez meistens in Coyuca blieben, nutzten »Los Pajaritos del Sur« die volleren Busse, spielten morgens bis Tecpan, um dann zwischen Tecpan und San Jerónimo zu pendeln. Die Passagier/innen entlang der Costa Grande setzten sich vor allen Dingen aus Pendler/innen zusammen, die entweder täglich oder zumindest an Wochenenden in ihre Wohnorte beziehungsweise die Wohnorte ihrer Familie zurückkehrten. In sämtlichen líneas fand sich eine große Anzahl von Angestellten aus dem Tourismussektor, die in Acapulcos Hotels und Restaurants arbeiteten. Hinzu kamen Student/innen der Universitäten in Acapulco und Chilpancingo, die am Wochenende zu ihren Familien an die Costa Grande zurückkehrten. Da nicht jede Ortschaft an der MEX-200 über eine eigene weiterführende Schule verfügte, füllten sich die Busse früh morgens und am Nachmittag häufig mit Schüler/innen, die allerdings nicht sonderlich lange in den Bussen verweilten. Die Busse der Kooperative AGC wurden zudem von überdurchschnittlich vielen campesinos und Händler/innen des Marktes von Acapulco frequentiert. Die Costa Chica An der Costa Chica lag die MEX-200 um einiges weiter im Landesinnern, da die unmittelbare Küste von Lagunen und Mündungsdeltas geprägt war. Die zahlreichen Flüsse, die an der Costa Chica in den Pazifik mündeten, waren auch der Grund dafür, dass die Costa Chica erst sehr spät an das nationale Straßennetz angeschlossen worden war. Mit dem Bau der Bundesstraße von Acapulco nach Osten entlang der Costa Chica wurde erst in den 1960er Jahren begonnen. Dabei entstanden zunächst einspurige Brücken über die Flüsse, und die neue Straße war nur während der Trockenzeit passierbar. In den 1990er Jahren wurde die MEX-200 auf der gesamten Länge zweispurig ausgebaut (vgl. Quiroz Malca 2008: 22). Auch zur Zeit meiner Feldforschung war der Abschnitt Schauplatz zahlreicher Baustellen, deren Ziel es war, die Fahrbahn zu erweitern, zu begradigen und zu beschleunigen (vgl. Secretaría de Comunicaciones y Transportes, http://www.sct.gob.mx/carreteras/direccion-general-de-carreteras/programa-de-trabajo/guerrero/ 5.11.2013).
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Abbildung 8: Rutas und Einstiegsorte an der Costa Chica.
Abbildung: Kirschlager
Einige Autor/innen verbinden gerade mit dem späten Anschluss an das nationale Verkehrsnetz die lange Isolation, besondere Entwicklung und den Erhalt kultureller, teilweise auch physischer Besonderheiten ihrer Bewohner/innen: »Die verhältnismäßig starke Abgeschiedenheit dieser Gebiete, die bis zum Bau der Küstenstraße entlang eines großen Teils der Pazifikküste vor weniger als einem Jahrhundert unpassierbar waren, bedingte, dass die afrikanischstämmige Bevölkerung eine Nische fand und ihre phänotypischen und kulturellen Merkmale deutlicher bewahren konnte als in anderen Regionen.« (Correa Duró 2005: 432)27
Die Busmusiker kamen in Interviews immer wieder auf die gravierenden musikalischen Unterschiede zwischen beiden Costas zu sprechen und verbanden mit der Costa Chica vor allen Dingen corridos und chilenas. Obwohl corridos fast überall in Mexiko komponiert und gespielt wurden, war die Costa Chica besonders reich an Komponisten und corridos, die die Auseinandersetzungen lokaler valientes28 untereinander und mit der Staatsmacht erzählten (vgl. McDowell 2000). Viele corridos der Costa Chica unterschieden sich auch harmonisch von corridos aus anderen Regionen Mexikos. Während corridos im Rest Mexikos in der Regel in Dur-Tonarten gespielt wurden, fanden sich an der Costa Chica viele corridos in Moll (ebd.: 29). Auch chilenas standen in der Regel in Moll und besaßen wie die corridos der Costa Chica eine Fülle an lokalen 27 Vgl. auch Aguirre Beltrán 1958; Aguirre Beltrán 1972 und Velázquez Gutiérrez und Correa Duró 2005. 28 Der »valiente« ist die typische Heldenfigur in corridos. Der Begriff lässt sich nur schwer ins Deutsche übersetzen. Es handelt sich um einen gefürchteten Unruhestifter, den gleichzeitig Eigenschaften, wie Mut und Ehrbarkeit auszeichnen. In corridos der Costa Chica handelt es sich um Revolverhelden, die meistens in Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht oder Feinden und fast immer in Hinterhalten ihren Tod finden. Zu valientes in den corridos der Costa Chica vgl. auch McDowell 2005.
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Referenzen, die allerdings anders als im corrido nicht aus Geschichten hervorgingen, die in ihnen erzählt wurden. Vielmehr waren viele chilenas unmittelbar Orten an der Costa Chica gewidmet. Zur Zeit meiner Feldforschung verkehrten entlang der MEX-200 an der Costa Chica Reisebusse der líneas Futura, Altamar, Costeños und Estrella Blanca, die allesamt Teil der grupo Estrella Blanca waren. Dabei fuhren servicio económico und servicio de primera im stündlichen Wechsel. Die Endstationen ihrer rutas waren im Westen Acapulco und im Osten entweder Pinotepa Nacional, Puerto Escondido oder Salinas Cruz im Nachbarstaat Oaxaca oder Ometepec und Cuajinicuilapa in Guerrero. Genauso wie an der Costa Grande verfügten mittlerweile fast alle Busse an der Costa Chica über Klimaanlagen. Während an der Costa Grande die Vielzahl verschiedener líneas dazu führte, dass sich der Strom der Passagier/innen zerfaserte und auf viele Busse verteilte, hatten an der Costa Chica Busse überhaupt als Verkehrsmittel heftige Konkurrenz bekommen. Kollektiv-Taxis, meist vom Typ Nissan Tsuru, transportierten Passagier/innen günstiger und schneller entlang der Küste. Andererseits fuhren die Taxis nur zwischen einzelnen Orten, so dass Fahrgäste auf längeren Reisen mehrmals umsteigen mussten. Sie transportierten bis zu sechs Fahrgäste, obwohl sie nur für vier ausgelegt waren, und waren für den verantwortungslosen Fahrstil ihrer Fahrer berüchtigt und an zahlreichen verheerenden Unfällen beteiligt.29 Dennoch erklärten die Taxis, warum sich in den Bussen auf rutas entlang der Costa Chica, hauptsächlich Passagier/innen auf verhältnismäßig langen Reisen befanden. Die Busse auf rutas entlang der Costa Chica verließen Acapulco über Las Cruces, wo die MEX-200 unter der MEX-95D, die Acapulco über Chilpancingo und Cuernavaca mit Mexiko-Stadt verband, hindurchführte. Die lebhafte Kreuzung war Verteilerpunkt für umgebaute Pick-Ups, die Fahrgäste in die um Acapulco liegenden armen Vororte brachten. Im Schatten der riesigen Brücke, über die der Verkehr Richtung Hauptstadt rollte, befanden sich zahlreiche Taxistände und unzählige kleine Hütten, in denen gegrillte Hähnchen verkauft wurden. Tourist/innen konnten hier ihre letzte Chance wahrnehmen, in einer der vielen Buden Souvenirs zu erstehen. In Las Cruces fuhren die Busse in ein weiteres kleines Terminal ein, bevor sie Acapulco Richtung Osten verließen. Las Cruces war auch der Einstiegsort von músicos ambulantes aus Acapulco, die entlang der Costa Chica spielten. Bis San Marcos fuhren urbane Busse und combis, so dass Passagier/innen aus Acapulco Überlandbusse erst für Ziele jenseits von San Marcos nutzten. Auch für die Musiker begannen dort die ertragreicheren Strecken, da die Strecke Las Cruces-San Marcos mit beinahe 60 km und über einer Stunde Fahrzeit sehr lang war, sich aber aufgrund der wenigen Haltestellen nicht weiter untergliedern ließ. In San Marcos waren die Busfahrer gezwungen, zu halten und den Bus zu verlassen, da hier ein checador ihre Durchfahrtszeit dokumentierte. Músicos ambulantes nutzten diese Gelegenheit, um die Fahrer anzusprechen und um Einstieg zu bitten. Wald beschreibt den Einstieg in San Marcos Ende der 1990er Jahre als eine Art Wartezimmer für Menschen, die sich in den Überlandbussen ihren Lebensunterhalt verdienten (Wald 2002: 244). Etwas mehr als
29 So wird auch in Gabriel Villanuevas corrido »Fracaso Carretero« ein Kollektiv-Taxi-Fahrer als Verantwortlicher für den schweren Unfall beschuldigt (vgl. Kapitel 7.3).
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zehn Jahre später befanden sich jedoch bedeutend weniger Musiker an der MEX-200 in San Marcos, da auch dort die Kontrollen in den Bussen verstärkt worden waren. 30 Während den Blick aus dem Busfenster zwischen Las Cruces und San Marcos noch die Ausläufer der Großstadt und zahlreiche Feriensiedlungen prägten, begann hinter San Marcos der ländliche Teil der Costa Chica. Anders als an der Costa Grande waren an der Costa Chica nur vereinzelt Plantagen zu sehen. Stattdessen säumten Maisfelder und Viehweiden den Straßenrand. Die Häuser der Siedlungen, die der Bus passierte, waren kleiner als von Acapulco Richtung Westen und häufig aus Holz anstatt dem üblichen Baustoffen Beton und Block. Viele der Zufahrtsstraßen waren nicht asphaltiert. Die MEX-200 verlief eben, und der Bus durchquerte entlang der Costa Chica nur wenige Ortschaften. Daher bremsten kaum topes seine Reise. Entlang der Costa Chica deckten sich Einstiegsorte der Musiker mit den Busstationen der grupo Estrella Blanca. Sie fuhren von San Marcos bis Cruz Grande, wo die MEX-198 auf die MEX-200 traf und die wichtigste Kreuzung an der Costa Chica bildete. Von dort ging es weiter nach Copala und schließlich bis Marquelia beinahe 150 km und etwa drei Reisestunden östlich von Acapulco. Acapulco Abbildung 9: Rutas und Einstiegsorte in Acapulco.
Abbildung: Kirschlager
Früher traten Musiker in Bussen auf sämtlichen wichtigen Verkehrsachsen der Pazifikmetropole auf. Besonders die camiones31 entlang der Strandpromenade Costera Miguel Alemán waren beliebt, da diese häufig von Tourist/innen genutzt wurden. Zur
30 Zu den Kontrollen durch Inspekteur/innen vgl. Kapitel 6.2. 31 Die Musiker im Streckennetz »Costa Grande y Costa Chica« bezeichneten – anders als die Musiker in den übrigen Streckennetzen – nur Busse des urbanen Nahverkehrs als »camiones«, von denen sie Überlandbusse mit dem Begriff »autobuses« unterschieden (vgl. Kapitel 6.3).
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Zeit meiner Feldforschung verfügten allerdings viele camiones über potente Soundsysteme, die alle akustischen Quellen im Innern der Fahrzeuge übertönten und die Livemusiker verdrängt hatten: »Orte der Stille sind in Acapulco […] rar gesät, und die Stadtbusse, die über die Avenida Costera den Strand entlang rasen, gehören bestimmt nicht dazu. Jeder Bus auf dieser Linie scheint individuell gestaltet. Mein erster Bus ist innen komplett in gelb und orange gehalten und auf der Rückwand prangt ein riesiges König-der-Löwen-Graffiti. Im Eingangsbereich baumeln unzählige Stofftiere von der Decke, und über die obere Hälfte der Windschutzscheibe ist ein Spiegel geklebt, der den Innenraum des Busses reflektiert. Aus dicken Boxen donnern die Bässe von Four-on-the-Floor-Techno, so dass sie in der Brust vibrieren, während ich weder die Geräusche von Motor noch vom vorbeirauschenden Verkehr vernehmen kann. Der Fahrer und sein Ayudante […] sind höchstens 25 Jahre alt und offenbar sehr um ihre Erscheinung bemüht. Ihr Bus erscheint als fahrende Bühne der Selbstdarstellung, die über die hell in der Sonne glitzernde Costera rast. Besonders der Ayudante fällt auf. Er trägt eine Baseballkappe über seine langen blondierten Locken und eine Sonnenbrille, die sein halbes Gesicht verdeckt. Er pfeift auf den Fingern, wenn sie andere Busse überholen und wirbt lautstark um potentielle Passagiere am Straßenrand. Sie wechseln in atemberaubendem Tempo die Spuren. Einem hupenden Taxifahrer schneiden sie die Spur ab und zwingen ihn zum Anhalten, um ihn aus der offenen Bustür zu beschimpfen. […] Auf T-Shirt des Ayudante steht: ›Gute Jungs kommen in den Himmel – Böse Jungs kommen… in den Hafen von Acapulco‹« (Tagebucheintrag vom 21.9.2010 in Acapulco)
Ihr lautstarkes Ambiente und die hektische Fahrweise machten die camiones entlang der Costera Miguel Alemán ungeeignet für Busmusiker, auch wenn die zahlreichen meist mexikanischen Tourist/innen an Bord ein ideales Publikum waren. Umgekehrt zu den Erfahrungen, die Musiker in mit Inspekteur/innen den Überlandbussen sammelten, bildeten daher gerade die am straffsten organisierten Busse in Acapulcos Verkehrsnetz, die gelben Busse der línea Maxirutas, eine Ausnahme und geeignete Auftrittsräume für Busmusiker. Diese Busse verbanden das Zentrum Acapulcos mit den Außenbezirken Ciudad Renacimiento, El Vacacional, Colonia Zapata, Séctor 6 und Arroyo Seco und fuhren dabei durch den beinahe drei Kilometer langen »Maxitúnel Interurbano Acapulco«, der der línea ihren Namen verlieh. Bei den Passagier/innen, dieser stets voll besetzten Busse handelte es sich um Arbeiter/innen und Angestellte, die im Stadtzentrum, häufig in der Tourismusbranche, arbeiteten und auf der anderen Seite des Tunnels lebten. Den Busfahrern der línea Maxirutas war es verboten, ihre Busse mit Musikanlagen zu versehen, und jedes Fahrzeug war mit Lichtschranken an der vorderen und der hinteren Tür ausgestattet, so dass jeder Fahrer am Ende seines Arbeitstages genau kontrolliert werden konnte, ob er ordnungsgemäß kassiert hatte. Die Lichtschranken zwangen die Busmusiker, sich auf dem Rücken über die Stufen zum Einstieg unter den Reflektoren hindurch zu schieben. Der wichtigste Einstieg der Musiker in die Busse der línea Maxirutas befand sich an der Avenida Cuauhtémoc auf Höhe einer Eisenwarenhandlung in der colonia »Las Anclas«. Die Musiker stiegen dort in einen Bus, durchquerten den Tunnel und wechselten auf der anderen Seite in einen Bus umgekehrter Richtung zurück zur Eisenwarenhandlung. Seit 2012 waren sie gezwungen, eine längere Strecke durch den Tunnel zurück nach Acapulco zu spielen, da die Busse stadteinwärts über die neu errichtete
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»Puente Bicentenario« über »Las Anclas« hinweg fuhren.32 So spielten die Musiker in zwei Bussen stadtauswärts aber nur in einem stadteinwärts. 4.3.1 Von der Costa Grande bis Tijuana: Julio und Jesús García Julio García – ein recht kleiner Mann mit lockigen schwarzen Haaren – war zur Zeit meiner Feldforschung Mitte 30, doch schien er um einige Jahre jünger. Bei den Verkäuferinnen in Coyuca, wo er mit seinem Sohn in die Busse stieg, war Julio García wegen seines jugendlichen Äußeren unter dem Spitznamen »El Niño«, »das Kind«, bekannt. Selbst an der Costa Grande, wo Väter im Teenager-Alter keine Seltenheit waren, wirkte Julio García auf sein Umfeld als extrem junger Vater: »Sie sagen, ich sei zu jung um einen erwachsenen Sohn zu haben. Deshalb nennen sie mich ›El Niño‹.« (García, Julio 7.10.2011) Dabei war der 2011 17-jährige Jesús nicht einmal Julio Garcías ältester Sohn: »Du kennst nicht mal den anderen. Der ist noch größer als dieser hier.« (García, Julio 7.10.2011) Jesús war auch noch einen ganzen Kopf größer als sein Vater, was zusätzlich dazu beitrug, dass die beiden eher wie Brüder wirkten. Jesús García hatte die schwarzen Locken seines Vaters geerbt, und in seinem linken Ohr funkelte ein Ohrring mit einem Glasdiamanten, wie er sich bei den Jugendlichen entlang der Küste großer Beliebtheit erfreute. Zu Hause trug er genauso wie sein Vater und die übrigen Männer ihres Dorfes Brasilia nichts weiter als Badeshorts und Flip-Flops zu freiem Oberkörper. In anderer Kleidung war das feuchtheiße Klima nur schwer zu ertragen. Bevor sich Jesús García jedoch zu seiner Arbeit in die Busse begab, unternahm er jeden Morgen eine aufwendige Stylingprozedur, bei der er mit Hilfe einer beachtlichen Menge Gel seine Haare in eine komplizierte Tolle frisierte. In den Bussen trug er ausschließlich lange Hosen, langärmlige T-Shirts und geschlossene Schuhe. Noch krasser fiel der Unterschied zwischen Arbeits- und Freizeitkleidung bei Julio García aus, der seine Badeshorts gegen frisch gebügelte Wrangler-Jeans, ein derbes Westernhemd, Cowboystiefel und einen Hut eintauschte. Anders als seine zwei Brüder hatte Jesús García die Schule schon mit 14 Jahren verlassen und sie auch zuvor nur unregelmäßig besucht. Stattdessen begann er früh, Gitarre zu spielen und seinen Vater in die Busse zu begleiten. Auf sein Einkommen aus den Bussen war er stärker angewiesen, seitdem er 2010 selbst Vater eines Sohnes wurde und 2013 sein zweites Kind bekam.
32 Die neue Brücke war Teil einer gravierenden Umgestaltung von Acapulcos Infrastruktur, im Zuge derer auch ein einheitliches Stadtbussystem mit dem Namen »Acabús« eingeführt werden sollte (vgl. Ramírez 2012). Das System, das mit mehrjähriger Verspätung schließlich 2016 eingeführt wurde, war dem »Metrobús« von Mexiko-Stadt mit festen Haltestellen und einer eigenen Busspur nachempfunden. Zur Zeit meiner Feldforschung befürchteten viele der Musiker, dass der »Acabús« Musiker und Händler/innen aus dem urbanen Nahverkehr Acapulcos verdrängen werde: »Das wird die Arbeit vieler einfrieren, weil es keine Busse mehr geben wird. Die werden das alles abschaffen. Vielen Arbeitern wie mir, die wir in Stadtbusse steigen um die Leute und die Passagiere zu unterhalten, wird wahrscheinlich die Arbeit genommen.« (Villanueva, Lorenzo 4.4.2013)
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Abbildung 10: Julio und Jesús García auf der Veranda ihres Hauses.
Foto: Kirschlager
Noch kürzer als Jesús Kindheit war die seines Vaters. Julio García wurde 1974 geboren und wuchs in der colonia Emiliano Zapata einem ärmlichen Vorort Acapulcos auf. Seine Mutter hatte ihn zu Pflegeeltern gegeben: »Mich haben sie weggegeben. Meine Mutter lebte das leichte Leben. Sie lebt das leichte Leben. Sie lebt noch. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt – meinen echten Vater. Ich kannte nur meinen Ziehvater.« (García, Julio 7.10.2011) Mit Kindern aus seiner Nachbarschaft verbrachte er viel Zeit an den Stränden Acapulcos, die zu dieser Zeit noch von Strömen ausländischer Tourist/innen besucht wurden. Am Hafen warfen Tourist/innen Münzen ins Becken, nach denen Julio García zu ihrer Belustigung tauchte. Am Strand unterhielt er die Urlauber gegen Geld mit kleinen Performances, zog Grimassen oder ließ seine Bauchmuskulatur Wellen schlagen. Er bettelte auch mit seinen Freunden in den Restaurants entlang der Strandpromenade: »Wir blieben bis abends und streunten mit anderen Kumpels durch die Nacht. […] Wir quatschen die Leute an […]: ›Hey! Schenken Sie mir einen Taco?‹ Und sie schenkten mir Tacos, die Touristen, halt. ›Setz dich! Bestell was du willst!‹ Oder sie machten einen Taco und schenkten ihn mir, und ich zog zufrieden ab. Es gab ein Restaurant, das ›El Paradise‹ hieß, drüben an der Costera. Dort ließen uns die Kellner in die Küche. In der Küche kamen die Teller, die sie an den Tischen einsammelten an. Ganze Pommes, geil, oder Shrimps, ganz oder nur ein oder zweimal abgebissen. […] Manchmal brachte ich meine Alte mit. Wenn sie mich holen kam, sagte ich: ›Warte hier auf mich! Ich komme sofort!‹ Dann ging ich wieder rein und krallte mir Sachen, die ich ihr zum Essen bringen konnte.« (García, Julio 7.10.2011)
Neben seinen Unternehmungen am Strand begann Julio García, in den Bussen Musik zu machen. Dabei spielte er zunächst in den Stadtbussen zwischen der Colonia Zapata
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und dem Zentrum Acapulcos und entlang dem Küstenboulevard Costera Miguel Alemán. Er sang und strich dazu mit einem Stab über die geriffelte Oberfläche einer Plastikflasche und erzeugte so einen ähnlichen Klang, wie den eines güiros: »Von kleinauf fing ich auf einer [leeren] Flasche Clarasol im Zentrum zu spielen. Ich lebte in der Zapata. […] Dann kaufte meine Patin ein Güiro. So lief ich zufrieden mit dem Güiro rum. Ich spielte entlang der gesamten Costera.« (García, Julio 7.10.2011) Als Julio García acht Jahre alt war, wurde sein Pflegevater ermordet, und der Junge war gezwungen, zum Unterhalt seiner Familie beizutragen. Er brach die Grundschule nach der fünften Klasse ab und spielte Vollzeit in Stadtbussen und auch in Überlandbussen an Costa Chica und Costa Grande, in denen sich mehr Geld verdienen ließ: »Ich habe nur bis zur fünften Klasse der Grundschule gemacht, weiter hat’s nicht gereicht. Danach musste ich meine Schwester und meine Mutter versorgen. Weil wir Waisen waren. […] Von da an spielte ich in Überlandbussen. In den Überlandbussen konnte man viel Geld verdienen. Du stiegst ein und musstest nur die eine und die andere Hand ausstrecken und fülltest deine Taschen. Alles super!« (García, Julio 5.4.2013)
Zu dieser Zeit weitete er auch seine musikalischen Fähigkeiten aus. Neben dem güiro brachte er sich bei, Mundharmonika zu spielen. Mit seinen Fähigkeiten begannen seine Einnahmen zu steigen: »Danach lernte ich Harmonika, so ein Mistding aus Eisen [er pfeift durch die eingerollten Lippen]. Also spielte ich Harmonika und Güiro. Damit verdiente ich mehr. Sie gaben mir mehr Geld.« (García, Julio 7.10.2011) Mit 14 Jahren zog Julio García mit seiner Familie von Acapulco nach Brasilia. Dort brachte ihm ein älterer Nachbar einige Akkorde auf der Gitarre bei, und Julio García unterrichtete sich auf Grundlage dieses Wissens selbst: »Ich traf einen Herrn, der Gitarre spielte und lief ihm hinterher, bis ich lernte, Gitarre zu spielen – wenn auch nur ein bisschen. Der konnte nicht viel. Aber er konnte [singt 3/4-Takt] um chacha um chacha um ... [spricht] Nichts als Corrido, nur einfache Lieder halt. Aber ich lernte mehr und mehr. Das wurde mein Leben. Nur von Musik habe ich gelebt, nichts als Musik.« (García, Julio 7.10.2011)
»Nordwärts«: Julio Garcías Reisen in die USA Mit 17 Jahren heiratete Julio García. Mit seiner Frau bekam er drei Söhne. Mittlerweile spielte er mit einem befreundeten Musiker als dueto in den Bussen zwischen Acapulco und dem retén in Bajos del Ejido und zwischen dem retén und Coyuca: »Mit einem Freund fuhr ich singend die ganze Küste entlang. […] Mit ihm spielte ich im Dueto in den Bussen zwischen Coyuca, Acapulco und dem Retén. Damals machte man ordentlich Kohle. Die Leute gaben dir Geld und man ließ dich in den Bussen singen. Alles war leichter.« (García, Julio 7.10.2011) Trotzdem wuchsen Julio Garcías Geldsorgen, als sich seine Familie vergrößerte. Kurz nachdem sein dritter Sohn geboren wurde, verließ der junge Vater 1996 Brasilia mit seinem dueto-Partner, um in Bussen und Zügen bis nach Tijuana zu spielen und mehr Geld für seine Familie zu verdienen. Dabei spielten die beiden Freunde wie bei ihrer täglichen Routine vor ihrer Haustür pro Bus eine Performance, um dann auszusteigen und auf den nächsten Bus zu warten, bis sie in Jalisco auf die Eisenbahn umstiegen:
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»Von hier fuhr ich nach San Jerónimo, von San Jerónimo nach Tecpan, von Tecpan nach San Luis. Immer mit Zwischenstopps. Die erste Nacht […] schliefen wir in Lázaro [Cárdenas, Michoacán]. […] Die zweite Nacht in Tequila, Jalisco. […] Dort nahmen wir den Zug […]. Mit dem Zug fuhren wir bis Mazatlán. Und auch im Zug mit Zwischenstopps. Wir sangen in einem Waggon, dann gingen wir weiter in den nächsten, bis wir durch den ganzen Zug gespielt hatten und ausstiegen.« (García, Julio 7.10.2011)
Julio und sein Freund reisten allerdings nicht allein mit der Absicht, mit ihrer Musik in Bussen und Zügen Geld zu verdienen. Die Musik war vielmehr Mittel zum Zweck, um nach Tijuana und von dort auf die andere Seite der Grenze in die USA zu gelangen: »Wir wollten rüber, in den Norden. Wir fuhren singend, weil wir kein Geld für Tickets hatten. So kamen wir in Tijuana mit ein wenig Geld an und auf halber Strecke konnte ich schon Geld zusammenkratzen und meiner Alten schicken, für meine Kinder. Denn ich hatte sie mit nichts zurückgelassen. Ich hatte 600 oder 500 Pesos. Die schickte ich meiner Alten. Und als ich in Tijuana ankam, noch einmal. In Tijuana spielten wir in den Calafias[33]. Wir versuchten rüberzukommen, aber schafften es nicht. […] Sie erwischten uns.« (García, Julio 7.10.2011)
Nach ihrem gescheiterten Versuch, die Grenze zu überqueren, trafen Julio García und sein Freund auf die »Cumbieros del Sur«, ein Ensemble von der Costa Chica. Die Musiker schlossen sich zusammen und überquerten mit einem coyote die Grenze bei Tecate, Baja Califonia del Norte. Ihre Instrumente ließen sie in Tijuana zurück: »Drei Tage und drei Nächte liefen wir, ohne zu essen, […] bis uns ein anderer Coyote abholte.« (García, Julio 7.10.2011) Während sein Freund kurz nach dem Grenzübertritt von den Behörden erwischt wurde, spielte Julio García einige Zeit mit den »Los Cumbieros del Sur« in San Diego. Danach zog er weiter nach Norden und arbeitete bei der Weinernte in Fresno. Jedoch mangelte es ihm an landwirtschaftlicher Erfahrung. Er pflückte langsam und hatte Mühe, sich von seinem schmalen Gehalt zu ernähren. Zudem verprasste er im jugendlichen Leichtsinn das wenige Geld, das ihm blieb: »Ich war jung und dachte nicht an meine Zukunft. Das ganze Geld versoff ich oder verprasste es in Automaten.« (García, Julio 7.10.2011) So kehrte Julio García mit beinahe leeren Händen nach Brasilia zu seiner Familie zurück, um wieder in den Bussen entlang der MEX-200 zu spielen. Als ihn jedoch ein Schwager kurze Zeit später einlud, gemeinsam mit ihm nach Tijuana zu reisen, versuchte er sein Glück erneut. Diesmal sparte er Geld für ein Flugticket. Obwohl sich die Reise selbst angenehmer gestaltete, sah er sich in Tijuana angekommen nach einem gescheiterten Grenzübertritt wieder mit massiven Problemen konfrontiert: »Dort wartete schon der Coyote: ›Los geht’s!‹ Ich war gerade erst angekommen! ›Los geht’s, Dicker!‹ […] Ich ließ meine Tasche und meine Gitarre unter einem Haus. […] Ich wickelte meine Gitarre in nichts als ein Handtuch, und versteckte sie dort. Sie schnappten uns, als wir schon fast drinnen [in den USA] waren. […] Am nächsten Tag hatten wir nichts zu essen, und ich sagte dem anderen: ›Komm mit! Wir holen meine Gitarre!‹ Ich ging zum Versteck und fand meine Gitarre. Ich holte sie raus und zockte in ein paar Wagen, in Calafias – so heißen dort die Minibusse. Ich verdiente genug für ein Brathähnchen. ›Super, Landsmann!‹ sagte [der Begleiter]: ›So 33 Bezeichnung der kleinen Stadtbusse in Tijuana.
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schnell bringst du Essen!‹ Ich sagte: ›Mit meiner Gitarre geht’s schnell.‹ Er sagt: ›Bald versuchen wir es wieder rüber.‹ Wir brauchten vier Versuche, bis wir es über die Grenze schafften. […] Einen Tag später ging ich einkaufen und der Grenzschutz erwischte mich. Dann schmissen sie mich wieder raus.« (García, Julio 7.10.2011)
Erst mit seinem dritten Grenzübertritt hatte er mehr Erfolg. Er arbeitete drei Jahre als Lagerarbeiter bei einer Firma für Schiffsbedarf im Hafen von Los Angeles. Die Anstellung war sein längstes dauerhaftes Arbeitsverhältnis außerhalb der Musik. Julio und Jesús Garcías Repertoire und Performances Nach seiner Rückkehr lebte Julio García wieder bei seiner Familie in Brasilia. Er bildete Teil eines norteño-Ensembles, das in Coyuca und Umgebung spielte, aber seinen wichtigsten Hörer/innenkreis in den kleinen Dörfern der Sierra im Hinterland der Costa Grande hatte. Ebenso spielte er als dueto »Papijo« gemeinsam mit seinem Sohn Jesús auf privaten Feiern. Mit Jesús und seinem jüngsten Sohn Salvador war er auch in einer cumbia-Showband angestellt. An auftrittsfreien Tagen stieg er mit wechselnden Partnern und immer öfter auch alleine in die Busse zwischen Coyuca und dem retén bei Bajos de Ejido: »Ich spiele in den Bussen, wenn es in den Kneipen nichts zu holen gibt. [...] Dann versuche ich mein Glück in den Bussen, auch wenn es nur fürs Essen reicht.« (García, Julio 24.9.2010) Gelegentlich verdiente Julio García Geld mit eigenen Kompositionen. Die ihm allerdings nach kurzer Zeit wieder entfielen: »Beim ersten Take der Aufnahme beginnt Jesús bereits zu spielen, als Julio stutzt: ›Mann, jetzt kann ich mich nichtmal mehr erinnern,‹ sagt er lachend: ›Ich komponiere sie und vergesse sie gleich wieder.‹ Jesús muss ihm auf die Sprünge helfen. Er singt die ersten zwei Zeilen: ›Dice: Voy a cantar un corrido/ pido permiso primero...‹ (›Für den Corrido, den ich singen werde,/ frage ich erst um Erlaubnis…‹) Danach spielt Julio den ganzen Song ohne Aussetzer bis zum Ende durch.« (Tagebucheintrag vom 24.10.2010 in Brasilia)
Dass Julio García wenig Interesse daran hatte, seine Stücke zu erinnern, lag daran, dass es sich um corridos por encargo handelte. Mit einem corrido por encargo verdiente Julio García zwischen 2.000 und 3.000 Pesos. Sobald er diese corridos bei seinen Auftraggeber/innen abgeliefert hatte, verloren sie für ihn ihre Bedeutung. Ihre Texte waren zu persönlich und ihre Protagonist/innen zu unbekannt, um sie zu vermarkten, und auch für die Passagier/innen in den Bussen seien sie uninteressant (García, Julio 24.9.2010).34 Julio García komponierte auch ohne konkreten Auftrag. Dabei handelte es sich ebenfalls um corridos und cumbias. In den Bussen spielte er jedoch nur Stücke, die bereits in den Versionen anderer Interpreten Bekanntheit erlangt hatten: »Wir spielen bekannte Musik, die die Leute kennen. Manche Typen singen ihre eigenen Corridos, aber wir machen das nicht. […] Wir spielen für Geld, damit es den Leuten gefällt und sie was rausrücken.« (García, Julio 24.9.2010) Dabei galt es, laut Julio García, darauf zu achten, ein möglichst breites Feld an Genres abzudecken, um den Geschmack mög-
34 Zum Spannungsfeld zwischen der Mobilität der Überlandbusse und den extrem lokalen corridos vgl. Kapitel 7.3.
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lichst vieler Fahrgäste anzusprechen. Er beherrschte über 350 Stücke, darunter corridos, rancheras, cumbias und spanischsprachige Popstücke. Sein Sohn beherrschte mit 100 Stücken zwar deutlich weniger, aber auch Jesús Garcías Repertoire wuchs stetig. In den Bussen, auf privaten Feiern und auch in den Straßen Coyucas hatte er offene Ohren für aktuelle Stücke, die er sich in einem Internet Café als Mp3 auf sein Mobiltelefon spielen ließ, um sich zu Hause die Akkorde und Texte der Stücke herauszuhören: »Die Leute fragen nach neuen Corridos. Sie fragen danach, ich habe sie drauf. Ich suche den Corrido im Internet, lade ihn herunter, lerne ihn. So schaffe ich mir neue Corridos drauf. Ich lade neue Corridos herunter und aktualisiere mich.« (García, Jesús 5.4.2013) Wie viele junge Männer an der Costa Grande hörte Jesús García selbst hauptsächlich banda35. Er trat 2010 auch kurze Zeit als zweite Stimme einer banda auf, fühlte sich aber dem Anspruch nicht gewachsen. Dennoch bestand ein großer Teil seines Repertoires aus Adaptionen von Stücken, die von bandas bekannt gemacht wurden. So war beispielsweise das Stück, das er 2010 am häufigsten bei seinen Performances spielte »En Preparación« von Gerardo Ortiz und der »Banda MS«. In den Bussen spielte er ebenso wie sein Vater ein flexibles Programm, dass er auf das Publikum eines jeden Busses individuell abstimmte: »In Coyuca steigt Jesús zu. Diesmal eröffnet er nicht mit einem Corrido, sondern mit ›Nieves de Enero‹: ›Se ha llegado el momento, chatita del alma/ de hablar sin mentiras…‹ (›Es ist die Zeit gekommen, Mädchen meiner Seele,/ ohne Lüge zu sprechen…‹) Auch wenn Jesús Stimme nicht ganz so verschlossen und gepresst wirkt, wie die Stimme Chalino Sánchez im Original, so kann auch Jesús nicht verbergen, dass seine Stimme heute schon arg gelitten hat. Schließlich ist es bereits später Nachmittag. Die meisten der übrigen Fahrgäste haben ihre Lehnen bis zum Anschlag nach Hinten geklappt, dösen und schaukeln synchron mit den Bewegungen des Busses. Darüber spielt Jesús sein zweites Stück ›Urge‹: ›Con mi dolor/ causando penas voy vagando por ahí…‹ (›Mit meinem Schmerz/ verursache ich Schmerz, wo ich treibe…‹). In der zweiten Strophe beginnt für ein paar Takte verzerrte Musik aus einem Handy zu dröhnen. Als letztes Lied spielt Jesús – ganz offensichtlich als Referenz an das Publikum, das sich überwiegend aus bereits älteren Fahrgästen zusammensetzt – ›Ese señor de las canas‹ bevor er auffällig routiniert um die Coperacha bittet: ›Hallo und guten Tag. Der Beitrag ist freiwillig. Was auch immer Sie geben möchten. Im Voraus wünsche ich eine gute Reise und eine gute Heimkehr. Vielen Dank für ihre freundliche Aufmerksamkeit. Auf dass Gott Sie alle segne, wo auch immer Sie sind, auf dass es Ihnen gut gehe!‹ Obwohl die meisten der Passagiere während seines Auftritts nicht den Anschein machten, dass sie zuhörten, und bereits am Abzweig nach Atoyac ein Musiker durch den Bus gezogen ist, erhält Jesús von einem Großteil der Passagiere Münzen auf seinem Weg durch den Gang. Nach seiner Runde geht er geradewegs zum Fahrer, den er offensichtlich gut kennt: ›Lange nicht gesehen. Wo fährst du jetzt?‹ – ›Ah, in Lázaro…‹ Die beiden unterhalten sich einige Minuten, bis Jesús, wie immer, am Retén aussteigt.« (Tagebucheintrag vom 8.10.2011 in AMS zwischen Coyuca und Acapulco)
Obwohl Julio und Jesús García getrennt voneinander auftraten, bespielten sie dieselbe Strecke zwischen dem retén in Bajos del Ejido bis ins Zentrum von Coyuca in beiden 35 Als »banda« bezeichneten die Musiker an der Costa Grande die großen Blech- und Holzblasensemble aus Sinaloa (vgl. Simonett 2001), die sich auch in Guerrero großer Beliebtheit erfreuten.
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Richtungen. Sie hatten sich ein umfangreiches Geflecht an Beziehungen zu den Busfahrern, besonders denen der líneas AMS und AGC, aufgebaut. Gelegentlich spielten die beiden sogar in den servicios de primera der líneas Futura, Costa Line oder Estrella de Oro. Jesús García erzählte, dass einige Fahrer dieser Busse das Unterhaltungsprogramm für die Dauer seiner Performance unterbrächen: »Sie stellen auf Pause oder regeln die Lautstärke runter. Wenn du mit Singen fertig bist, regeln sie wieder hoch, weil sie Filme zeigen.« (García, Jesús 24.9.2010) Die Krise und die Zukunftspläne von Julio und Jesús García Jedoch hatte sich die Situation in den Monaten vor meiner Feldforschung verkompliziert und verschiedene Faktoren erschwerten Julio und Jesús García nun ihre Arbeit in den Bussen. Das größte Problem stellten die verschärften Kontrollen auf den líneas AMS und Los Galgos dar.36 Zugleich beklagte sich Julio García über die vielen neuen líneas und rutas entlang der Costa Grande, die dazu führten, dass sich die Passagier/innen auf verschiedene Busse verteilten und Musiker pro Performance weniger verdienten. Diese Faktoren wurden zusätzlich von der schweren Wirtschaftskrise des Jahres 2009 und dem starken Anstieg der Gewalt durch den Drogenkrieg überschattet. So zwangen die Umstände Julio und Jesús García, ihre Strecke zwischen Bajos del Ejido und Coyuca gelegentlich zu verlassen. Jesús García begann für kurze Zeit auf die urbanos Acapulcos auszuweichen, wo es ihm allerdings wenig besser erging als auf der MEX-200.37 Außerdem versuchten Vater und Sohn am Strand von Pie de la Cuesta zwischen Brasilia und Acapulco Fuß zu fassen, doch etablierte Musiker verwehrten den beiden mit harschen Drohungen den Zutritt zum beliebten Touristenstrand: »Erst letztens waren wir am Strand von Pie de la Cuesta, und ein Mann drohte, uns zu töten, wenn wir dort arbeiteten.« (García, Julio 24.9.2010) So reisten die beiden – wie auch andere Musiker aus der Gegend um Coyuca – regelmäßig 230 km nordwestlich entlang der MEX-200 nach Zihuatanejo und spielten dort in micros, die das Zentrum Zihuatanejos mit den Hotelburgen im jungen Badeort Ixtapa verbanden. Dabei half ihnen vor allen Dingen die hohe Frequenz der micros, die ihnen Zustieg gewährten: »Dort malochen [Musiker] nur in Micros. Da arbeiten sie schnell. Hier wartest du auf einen Bus und sie sagen dir ›Nein‹ oder sie haben Inspekteure an Bord und der Nächste? Nee, das dauert ewig!« (García, Julio 24.9.2010) Zudem lebte Julio Garcías Schwiegermutter in Zihuatanejo, so dass sie dort umsonst übernachten konnten. Die beiden blieben jeweils für ein oder zwei Wochen am Stück, um von dort ihren Familien Geld nach Brasilia zu bringen. Zwischen diesen Aufenthalten spielten sie jedoch weiterhin in den Überlandbussen zwischen Bajos de Ejido und Coyuca. Obwohl er in seinem Leben kaum auf andere Weise Geld verdient hatte, plante Julio García nicht, für immer Musik in den Überlandbussen zu machen. Er war sich sicher, dass er seine Arbeit als Musiker nicht bis ins hohe Alter betreiben können werde. Stattdessen hatte er vor, ein letztes Mal in die USA zu gehen. Von dieser Reise erhoffte er sich, genug Geld zu verdienen, um ein Geschäft aufzuziehen und sich von der Musik unabhängig zu machen: 36 Zu den Kontrollen durch Inspekteur/innen und ihren Auswirkungen auf die músicos ambulantes vgl. Kapitel 6.2. 37 Zu den Nachteilen für Musiker an Bord der urbanos im Gegensatz zu Überlandbussen vgl. Kapitel 6.3.
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»Ich möchte wieder weg. Mal sehen, ob wir uns nochmal aufraffen können. Hier gibt es nichts zu holen, Alter! Ich war drüben […] und was ich mitgebracht habe, habe ich verprasst. […] Das ist mir einmal passiert und ich glaube nicht, dass mir das wieder passiert. Man wird älter. […] Und wenn es nur für ein kleines Geschäft reicht. […] Wenn meine Stimme am Ende ist, möchte ich sagen können: ›Ich ziehe jetzt dieses Geschäft auf und spiele nicht mehr.‹« (García, Julio 7.10.2011)
Bereits 2010 äußerte Julio García den Plan, seinen Sohn Jesús mit auf diese letzte Reise in die USA zu nehmen. Er plante, dort Musik zu machen, und hoffte mit einem dueto de guitarras mehr Auftrittsmöglichkeiten zu erhalten: »Ich habe Freunde dort, die sagen, ich soll gehen. Ich würde ihn [Jesús] gerne mitnehmen. Aber ich habe das erstmal verschoben, weil wir Probleme hatten. […] Erstmal muss ich ein wenig zur Ruhe kommen und dann fahren wir, das ist besser. […] Wenn ich mit ihm dort drüben spiele, können wir es schaffen. Dort gibt es Gigs und die Musik ist gut bezahlt. Nicht so wie hier. Hier spielen wir und sie fragen: ›Wie viel für ein Lied?‹ – ›Für 30 Pesos‹ – ›Nein, was bildest du dir ein? 30! Für 20, wenn du willst!‹ Und dort sagst du: ›Für so viel.‹ – ›Alles klar, Junge!‹ Es gibt halt mehr Geld.« (García, Julio 24.9.2010)
Als der Plan gegen Ende des Jahres 2011 konkreter wurde, schloss er zwar Jesús und auch seinen ältesten Sohn César ein, jedoch hatten die drei nicht mehr die Absicht, in den USA Musik zu machen. Jemand hatte ihnen Arbeit bei der Erdbeerernte und in einer Großbäckerei in North Carolina versprochen. Als Julio und Jesús García 2012 tatsächlich an die Grenze reisten, wurden sie von dem coyote, den sie bereits bezahlt hatten, in Tijuana sitzengelassen und sahen sich ohne Geld gezwungen, erneut singend die Pazifikküste bis Brasilia in Bussen zurückzureisen. 4.3.2 El Rock ’n’ Rolero: Tomás Ramírez Tomás Ramírez war 1981 seiner Frau aus Mexiko-Stadt nach Acapulco gefolgt. Acapulco, das zu dieser Zeit noch zu den beliebtesten Zielen des nationalen und internationalen Tourismus in Mexiko zählte, bot dem blinden Musiker viele Beschäftigungsmöglichkeiten, und er trat mit verschiedenen Bands in Clubs auf. Bald störte er sich jedoch an den geringen Gagen, die den Bands gezahlt wurden. Schließlich beschloss er, auf eigene Faust zu spielen, und stieg in die Überlandbusse. Zur Zeit meiner Feldforschung war er Anfang 50 und trat seit über zehn Jahren in den Bussen entlang der MEX-200 zwischen Acapulco und dem kleinen Ort El Papayo auf. »Der AGC, ein alter Volvo-Bus, schiebt sich über Hauptstraße von Pie de la Cuesta, als Tomás zusteigt. Er trägt ein blau-weißes Acapulco-Shirt und helle Hosen. Seine Augen verdeckt die Kopie einer Ray-Ban-Sonnenbrille. Der Bus fährt mit offener Tür und die Vorhänge vor den geöffneten Fenstern flattern dumpf gegen die Holme, als der Bus beschleunigt. Der Motor rattert und der Druckluftbehälter zischt. Die Plastikverkleidung im Innern klappert und schiebt sich an ihren Nähten quietschend übereinander. Die AGC-Busse gehören zu den lautesten Überlandbussen, in denen ich in Mexiko gefahren bin und dennoch ist Tomás Begrüßung an den Fahrer im ganzen Bus deutlich zu verstehen: ›¡Órale! ¿Qué pasó, camarada?‹ (›Na, was geht Camarada?‹)
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Die Antwort des Fahrers geht im Lärm unter. Tomás schlingt seinen linken Arm um die Gitarre und benutzt den rechten Arm, um sich langsam von vorne bis zum Ende des Ganges zu tasten. Währenddessen reflektiert er laut über die beginnende Weihnachtszeit und scherzt, dass seine Gedanken nun den Truthähnen gelten: ›Was können die Truthähne dafür?‹ Am Ende des Ganges angekommen spielt Tomás einen Corrido, nicht von ›Los Tigres del Norte‹[38] oder Chalino Sánchez[39], sondern ›Los Alambrados‹ von ›Los Bukis‹[40]. Tomás trägt seine Gitarre hoch oben auf seiner Brust, drückt sein linkes Ohr fest an den Korpus und richtet die Gläser der Fake-Ray-Ban in Richtung Decke, während er singt. Nach dem Stück überbrückt Tomás die wenigen Schritte bis zur Mitte des Ganges mit einer Zusammenfassung des eben gespielten Corridos, um dann einen Corrido der ›Los Tigres del Norte‹ nachzulegen: ›El avión de la muerte‹. ›Nun erinnern wir uns an etwas der Tigres del Norte, eine ihrer Geschichten. Die meisten ihrer Geschichten sind wahr, eh!‹ Tomás singt die ersten Zeilen ›En Chihuahua lo agarrarón/ sin tener una razón/ y después lo torturaron/ sin tenerle compasión…‹ (›Sie fassten ihn in Chihuahua/ ohne Grund./ Danach folterten sie ihn/ ohne Gnade...‹) Ein sichtlich gutgelaunter Mann im Sitz direkt hinter ihm begrüßt das Stück mit einem Grito und bringt seine Sitznachbarn zum Lachen. Während sich Tomás zu seiner letzten Position im ersten Drittel des Ganges begibt, wettert er gegen die Regierung: ›Dieses Stück widme ich den Politikern, die zu nichts taugen‹. Er spielt ›Por eso estamos como estamos‹ von ›Los Apson‹. Nach dem Stück zieht er bis in den hinteren Teil des Busses durch den Gang, und Passagiere klopfen ihm auf die Schulter und drücken ihre Coperacha in seine offene Hand. Als Tomás sich wieder vorne an die Tür stellt, um den Rest der Fahrt bis Coyuca mit dem Fahrer und dem Ayudante zu plaudern, steht er nur wenige Zentimeter vor der Kante der letzten Stufe. Ich sehe zwischen seinen Beinen durch die offene Tür auf den vorbeirauschenden Asphalt und wundere mich, wie genau Tomás diesen Bus zu kennen scheint. Schließlich ist er blind.« (Tagebucheintrag vom 17.11.2011 zwischen Pie de la Cuesta und Coyuca)
Tomás Ramírez Repertoire und Performances Trotz der vielen Jahre an der Küste Guerreros ist Tomás Ramírez unter Busfahrern, Verkäufer/innen und Musikern für seinen starken chilango-Akzent aus der Hauptstadt bekannt. In Cuautla, Morelos, über 300 km von Acapulco entfernt, zeigte sich »Mario«, ein Fahrer der línea TER, sehr überrascht, dass ich Tomás Ramírez kannte und imitierte daraufhin dessen typische Begrüßung: »›Hallo! Was geht, Camarada?... Sag bloß du kennst den?!‹ lacht ›Mario‹. ›Mario‹ war vor Estrella Roja de Cuautla zunächst für AGC und später für Los Galgos die Costa Grande entlanggefahren und hat Tomás 38 »Los Tigres del Norte« sind die bekanntesten Vertreter der música norteña, die eng mit corridos verbunden wird. 39 Ein legendärer corrido-Komponist und Sänger aus Sinaloa, der mit expliziter Gewaltdarstellung in seinen Texten, den corrido Anfang der 1990er Jahre maßgeblich beeinflusste. Nicht zuletzt durch die bis heute ungeklärten Umstände seiner Ermordung wurde er zum real thing des corridos und machte das Genre vor allen Dingen unter jungen Mexikanern in den USA populär (vgl. Quinones 2001). 40 »Los Bukis« – in den 1970er Jahren von den Cousins Marco Antonio Solís und Joel Solís in Michoacán gegründet – wurden mit romantischen Popstücken und nicht durch corridos bekannt. Trotz ihrer ländlichen Herkunft und großem Erfolg in der mexikanischen Provinz entsprachen »Los Bukis« in ihrem Auftreten mit langen Haaren und Sportjacketts nicht dem rustikalen Image, das für gewöhnlich mit corridos in Verbindung gebracht wurde.
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in guter Erinnerung behalten.« (Tagebucheintrag zwischen Jojutla und Cuautla vom 14.12.2011) Der Musiker hatte allerdings mehr als nur seinen Akzent aus MexikoStadt mit an die Küste gebracht. »Ich war schon immer Rock’n’Roller« sagte Tomás Ramírez über sich selbst (Ramírez, Tomás 15.8.2010). Er war ein großer Fan des rock mexicano oder auch rock urbano. Sein Repertoire, auf das er in den Bussen zurückgriff, beinhaltete entsprechend viele Stücke dieses Genres. Darunter befand sich auch eine bemerkenswerte Anzahl spanischer Übersetzungen englischsprachiger Popmusik, wie beispielsweise »Jailhouse Rock« oder »My Way«. Mit diesem urbanen Repertoire kam er bei den Busfahrern, die wie »Mario« häufig aus Morelos oder aus MexikoStadt stammten, gut an.41 »El Rock«, wie er selbst ihn nannte, war für Tomás Ramírez mehr als nur ein Musikgenre. Vielmehr betrachtete er den rock mexicano als eine Bewegung gegen das Establishment, mit dem er vor allen Dingen die mexikanische Regierung identifizierte: »Ich habe grundsätzlich nichts für die Entscheidungen der Regierung über, Camarada. Ich war schon immer dagegen. Ich bin kein Aktivist oder so, aber ich mag die Regierungsentscheidungen nicht. Ich bin nicht einverstanden.« (Ramírez, Tomás 8.10.2011) Daher waren die Monologe seiner Performances, wie folgendes Beispiel aus einem Bus der línea AGC, voll Trotz und Seitenhieben gegen die ungeliebte Regierung: »Und jetzt ein Thema, […] das ich all den Politikern dieses Landes widme, die zu nichts taugen. Ihr habt diese Melodie wahrscheinlich schon gehört. Das sollten sie mal im Kongress spielen, was? Wenn sie auf ihren Sitzungen sind – ›Sondersitzungen‹ – Was die für Wörter benutzen, was?! Nur um dort die Dummen zu spielen und im Kongress zu schlafen, was? Sie bringen ihren tragbaren DVD-Player mit und gucken Filme, anstatt das Land zu lenken! Sie haben das Steuergesetz verabschiedet und keiner von ihnen hat es gelesen! Keiner! Die klatschen nur dumm. Und verabschieden. Sie lesen nicht, analysieren nicht. Gut, widmen wir das hier den ganzen Politikeridioten dieses Landes.« (Tomás Ramírez während einer Performance in AGC zwischen Pie de la Cuesta am 17.11.2011)
Auch sonst gab sich Tomás Ramírez für sein Alter auffallend rebellisch und idealistisch. Nach Auftritten antwortete er auf die Frage, wie viel er an coperacha eingesammelt habe, stets: »Ich zähle nie.« (z.B. Gespräch mit Tomás Ramírez am 8.10.2011 und am 17.11.2011) Demonstrativ spielte er jegliches ökonomisches Interesse hinter seiner Arbeit herunter. Nichtsdestotrotz ging Tomás Ramírez auch Kompromisse ein und hatte neben rock mexicano andere Genres in seinem Repertoire. In den Bussen konnte er auf eine stattliche Anzahl an corridos zurückgreifen. Bei den meisten dieser corridos handelte es sich um Hits, die »Los Tigres del Norte«, »Los Tucanes de Tijuana« oder andere nationale Größen bekannt gemacht hatten. Gelegentlich spielte er auch lokale corridos, die Begebenheiten von der Costa Grande oder zumindest aus dem Bundesstaat Guerrero berichteten. Ebenso beherrschte er zahlreiche boleros. Obwohl er weder corridos noch boleros gerne spielte, überwog letztendlich doch sein kommerzielles Interesse gegenüber der Rebellion, die er mit der Performance von Stücken des rock mexicano verband: »Ich spiele [corridos und boleros], weil sie den Leu-
41 Zur Herkunft der Busfahrer vgl. Kapitel 6.2.
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ten gefallen. […] Wenn du spielst, was dir gefällt, verdienst du nichts. Du musst spielen, was die Leute mögen.« (Ramírez; Tomás 8.10.2011) Eigene Stücke komponierte Tomás Ramírez nicht. »La familia«: Tomás Ramírez und die Händler/innen in Coyuca Abbildung 11: Tomás Ramírez (Mitte), »Erika« (ganz links), »Silvestre« (ganz rechts) und eine weitere Händlerin an der MEX-200 in El Papayo.
Foto: Kirschlager
Tomás Ramírez fühlte sich als Teil der Gruppe aus Händler/innen und Musikern, die in den Bussen in und rund um Coyuca ihren Lebensunterhalt bestritten. Ebenso wie viele der Busfahrer flirtete auch er mit den Händlerinnen und pflegte mit ihnen eine Gesprächsroutine, die sich hauptsächlich aus Doppeldeutigkeiten und sexuellen Anspielungen zusammensetzte. Er fand starke Worte, um das Verhältnis der Musiker und Händler/innen in Coyuca zu beschreiben: »Wir sehen das als Familie. Wir sind schon lange Zeit hier.« (Ramírez, Tomás 8.10.2011) Für Tomás Ramírez war dieser Zusammenhalt wegen seiner Sehbehinderung von zentraler Bedeutung. An den Ein- und Ausstiegsorten seiner Strecke erleichterten andere »camaradas«, wie er sie nannte, seine Arbeit, führten ihn über die vielbefahrene MEX-200 und begleiteten ihn zum Einstieg in die Busse. Tomás Ramírez gab an, dass er sein Einkommen aus den Bussen nicht mit seinen Helfern teilen musste. Sie halfen ihm als Freundschaftsdienst, »por ser camarada« (Gespräch mit Tomás Ramírez im Gespräch am 8.10.2010). Er war dankbar für diese Hilfe, obwohl er auch ohne sie klarkäme: »Zum Glück ist manchmal jemand dort, aber wenn niemand da ist: ich alleine. Ich gehe alleine rüber.« (Ramírez, Tomás 15.8.2010) Mittlerweile hatte er so viele Jahre auf der MEX-200 zwischen Acapulco und El Papayo verbracht, dass er jede Kurve kannte und genau wusste, wo er aussteigen musste. Andere Musiker, wie beispielsweise Jesús García beobachteten Tomás
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Ramírez‹ Orientierungssinn mit Bewunderung: »Der arbeitet ganz alleine. Er ist immer alleine unterwegs. Der hat alles genau berechnet. Er sieht nix, weil er blind ist. Aber er geht alleine über die Straße.« (García, Jesús 24.9.2010) Tomás Ramírez Behinderung hatte dennoch Einfluss auf seine Arbeit. Alle anderen Musiker stiegen östlich des Marktes am anderen Ende Coyucas und so weit wie möglich von der offiziellen Station in die Busse, um zu vermeiden, dass Mitarbeiter/innen der línea sie beobachteten. Tomás Ramírez wartete hingegen mit seiner Gitarre in den Armen direkt vor der Busstation und ruhte sich gelegentlich im kühlen Warteraum auf den Bänken aus. Die ayudantes42 der línea AGC sprangen sogar bisweilen aus den Bussen, um ihn zum Einstieg zu führen. Tomás Ramírez trat hauptsächlich auf der etwa 20 km langen Strecke von Coyuca bis El Papayo auf, um von dort mit dem nächsten Bus Richtung Coyuca zurückzukehren. Bei normalen Verkehrsverhältnissen benötigte der Bus 20 bis 25 Minuten für diese Strecke und Tomás Ramírez spielte meist drei Stücke und ungefähr eine Viertelstunde. Die übrigen fünf bis zehn Minuten verbrachte er beim Fahrer. Zwischen den einzelnen Stücken seiner Performances ließ er sich viel Zeit und sprach einzelne Fahrgäste, die sich akustisch bemerkbar machten, direkt an. Vor allen Dingen aber führte er Monologe, in denen er sich mal mit aktuellen und tagespolitischen Themen auseinandersetzte, mal praktische Informationen für die Fahrgäste bereithielt oder die Geschichte des letzten beziehungsweise des folgenden Stückes referierte. Neben jüngsten nationalen und internationalen Fußballergebnissen, die er mit detailgetreuen Beschreibungen der spektakulärsten Torszenen anreicherte, lag sein Schwerpunkt auf Finanz- und Wirtschaftsnachrichten: »Als im Interview zwischen uns beiden eine lange Pause entsteht, überrascht mich Tomás mit einem abrupten Themenwechsel: ›Hey! Da haben die aus Griechenland euch aber was aufgebrummt.‹ Als ich verdutzt frage, was er damit meint, beginnt er, über Griechenlands Schulden und die Finanzkrise der europäischen Währungsunion zu sprechen. Er vertritt die Meinung, dass die Deutschen nicht gezwungen werden sollten, griechische Schulden zu begleichen: ›Die Deutschen sagen: ›Warum wir? Warum sollten wir die Schulden anderer bezahlen?‹ Damit meinen sie die Griechen.‹‹ Mich verblüfft Tomás Wissen vor allen Dingen vor dem Hintergrund, dass ich bereits mehr als einem seiner Kollegen erklären musste, dass ›Alemania‹ kein Bundesstaat der USA sei.« (Tagebucheintrag in Coyuca vom 15.8.2010)
Tomás Ramírez befand sich zwischen vier und fünf Stunden pro Tag von mittags bis zum frühen Abend auf der Strecke und spielte währenddessen in sechs oder acht Bussen. Morgens und abends trat er zwischen Coyuca und seinem Wohnort Acapulco auf. Anstatt als Passagier nach Coyuca zu reisen, spielte er also bereits auf dem Weg in ein oder zwei Bussen. Anders als die übrigen Musiker, mit denen ich während meiner Feldforschung Interviews führte, lebte Tomás Ramírez allein von den coperachas, die er an Bord der Busse erhielt. Er spielte weder auf privaten Feiern noch zog er durch Bars und Restaurants in Acapulco oder Coyuca. Auch Ruhestand kam für Tomás Ramírez nicht in Frage, vorerst wollte er weiter in den Bussen spielen: »Das ist halt die einzige Möglichkeit.« (Ramírez, Tomás 15.8.2010) 42 Die Busse der Kooperative AGC verfügten gelegentlich über »ayudantes«, die den Busfahrern halfen, die Passagier/innen zu kassieren oder Gepäck zu verstauen.
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4.3.3 Los Pajaritos del Sur: Gabriel und Lorenzo Villanueva Abbildung 12: Gabriel Villanueva.
Foto: Kirschlager »Sobald ich das Aufnahmegerät einschalte, beugt sich Gabriel Villanueva nach vorne und sein Blick geht wie der eines Blinden starr über die obere Kante des Mikrophons hinweg. Vom ersten Satz an sind seine Antworten beeindruckend kohärent und flüssig. Er stockt nicht und die üblichen Füllwörter wie ›pues‹ oder ›este‹ tauchen in Gabriel Villanuevas Ausführungen nur selten auf. Stattdessen spricht er, sobald die rote Lampe des Rekorders leuchtet, plötzlich langsamer, lauter und deutlicher als in unseren informellen Gesprächen und bedient sich rhetorischer Fragen, mit denen er seinen Aussagen Nachdruck verleiht. Wenn das Telefon klingelt oder Mitglieder seiner Familie unser Interview unterbrechen, erinnert mich Gabriel daran, das Aufnahmegerät auszustellen, um kein Aufnahmematerial zu verschwenden.« (Tagebucheintrag vom 3.10.2011 in Ciudad Renacimiento, Acapulco)
Gabriel Villanuevas professionelles Verhalten während unserer Interviews und sein Umgang mit dem Aufnahmegerät zeugten von seiner umfangreichen Studioerfahrung als Musiker. Sein Verhalten verriet allerdings auch, dass er wissenschaftliche und journalistische Aufmerksamkeit bereits gewohnt war. Er besaß eine breite Schublade voller Andenken in der Schrankwand seines Wohnzimmers. Immer wieder zog er stolz ganzseitige Zeitungsartikel lokaler Zeitungen und auch die zwei Bücher, in denen in verschiedenem Umfang über ihn berichtet wird (Wald 2002 und de la Garza 200843), aus dieser Schublade hervor. Gabriel Villanueva gehörte zu den bekanntesten corrido-Komponisten der Küste Guerreros, und mit seinen beiden Söhnen Rodimiro
43 Das Buch Pero me gusta lo bueno von María Luisa de la Garza zeigt Gabriel Villanueva auf dem Cover, beinhaltet jedoch ansonsten keine Informationen über ihn (vgl. Kirschlager 2015a).
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Hernández (requinto und zweite Stimme) und Lorenzo Villanueva (requinto, Bass und zweite Stimme) nahm er als »Los Pajaritos del Sur« bis 2013 30 Langspielplatten, Kassetten und CDs auf. Neben dieser umfangreichen Diskographie wurden »Los Pajaritos del Sur« regelmäßig für Auftritte in ganz Guerrero aber besonders entlang der Costa Chica gebucht. Wie kein anderer Musiker hatte Gabriel Villanueva mit seinen Auftritten in Überlandbussen ökonomischen Erfolg gehabt und es zu lokaler Berühmtheit gebracht. Trotz seiner vielen Engagements und seiner respektablen CD-Verkäufe trat Gabriel Villanueva weiterhin in Bussen auf. Er sah in ihnen nicht nur das Sprungbrett seiner Karriere, sondern einen notwendigen Motor zum Erhalt seines Erfolges. Gabriel Villanuevas Kindheit als Waise und sein erster corrido Gabriel Villanueva Nuyola wurde 1955 an der Costa Chica im Bundesstaat Guerrero als Sohn eines Tischlers geboren. Als junges Kind musste er mit ansehen, wie ein Bruder und ein Onkel seiner Mutter seinen Vater im Schlaf überraschten und ermordeten: »Sie haben ihn getötet. Sie schossen 17 Kugeln in ihn, während er schlief. Ich war fünf und kannte die Mörder meines Vaters. Das fühlt sich schlimm an, nicht? Du kennst die Mörder, aber bist zu klein. Auf wenn du deinen Vater rächen willst, kannst du es nicht, weil du zu klein bist. Fünf Jahre! Was kann schon ein fünfjähriges Kind ausrichten? Nichts!« (Villanueva, Gabriel 21.11.2011)
Als kurze Zeit später auch seine Mutter nach schwerer Krankheit in einem Überlandbus auf dem Weg ins Krankenhaus in Acapulco starb, nahm ihre Familie den Waisen auf, und der Junge zog an die Küste des Nachbarstaates Oaxaca. In Interviews und Gesprächen machte Gabriel Villanueva die unglückliche Tatsache, dass er fortan in der Familie der Mörder seines Vaters aufwuchs, für die schlechte Behandlung, die er dort erfuhr, verantwortlich (Villanueva, Gabriel 21.11.2011). Er erinnerte sich, dass er weniger Essen bekam als die übrigen Kinder der Familie und zunächst auf dem Feld und später als Fischer in der Lagune arbeitete. Er besuchte keine Schule und erklärte, weder lesen noch schreiben zu können (Villanueva, Gabriel 16.10.2010). Während seiner monotonen Arbeit sang Gabriel Villanueva corridos und chilenas. Die Musik war ihm mehr als nur ein Zeitvertreib, sie half ihm, sein hartes Leben zu ertragen: »Ich liebte die Musik, denn meine Trauer war so groß, dass ich sang, damit sie mich nicht weinen sahen. Ich sang und sang, weil mir sonst die Tränen kamen.« (Villanueva, Gabriel 21.11.2011) So handelte es sich lediglich um den nächsten Schritt, als er begann, die traumatischen Erlebnisse seiner Kindheit und die Erinnerung an seine Eltern in seiner Musik zu verarbeiten. Er erzählte, dass er bereits im Alter von neun Jahren seinen ersten corrido über den Tod seines Vaters komponiert habe: »Das erste Lied, was ich komponierte, war das über meinen Vater und wie sie ihn ermordeten, wo sie es taten, wann sie es taten und wie sie ihn töteten mit ganzen 17 Schüssen, schlafend in seinem Bett. Diese ganze Geschichte erzählt der Corrido. Er heißt ›El Corrido de Julio Villanueva‹.« (Villanueva, Gabriel 21.11.2011) Gabriel Villanueva erinnerte sich, dass es den Leuten gefiel, wie er sang, und sie ihm rieten, professioneller Musiker zu werden. Aber Mexiko-Stadt, der Sitz der Produktionsfirmen, schien für den jungen Fischer an der abgeschiedenen Costa Chica unerreichbar: »Die Leute, die mich in der Lagune hörten, […] vermissten mich sogar. Sie sagen: ›Hey! Du singst gut. Warum gehst du
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nicht nach Mexiko-Stadt und nimmst eine Platte auf?‹ […] Ich sagte: ›Ich bin arm, wie soll ich eine Platte aufnehmen?! Ich schlafe auf dem Boden. Eine Aufnahme kostet viel Geld.‹« (Villanueva, Gabriel 16.10.2010) Gabriel Villanueva steigt in die Busse Mit 17 Jahren schwängerte Gabriel Villanueva ein erst 11-jähriges Mädchen und sein Sohn Lorenzo wurde geboren. Bereits kurz nach der Geburt trennte er sich von der jungen Mutter und ging mit dem Baby von der Costa Chica nach Acapulco. In der Hafenmetropole lernte er seine zweite Frau kennen, die zwei Söhne mit in die Beziehung brachte. Gemeinsam bekamen sie drei weitere Kinder. Obwohl Gabriel Villanueva auch in der Großstadt Musik machte und sich beibrachte, Gitarre zu spielen, lebte er weiterhin vom Fischfang und allerhand Gelegenheitsarbeiten, bis er sich 1984 aus akutem Geldmangel dazu entschloss, in einen Bus zu steigen, um darin aufzutreten: »Das erste Mal, das ich in einem Bus spielte, war vor 27 Jahren. […] Ich ging, weil ich keine Arbeit hatte und es gab nichts zu Essen. Das war der Grund, warum ich in einem Bus spielte. Tatsächlich schämte ich mich so sehr […], dass ich meiner Familie nicht erzählte, dass ich in einem Bus, einem Stadtbus, spielte. Ich schämte mich. Ich fuhr bis ins Zentrum. […] In Acapulco nahm ich einen Bus Richtung Base [der Marinehafen ganz im Osten der Bucht]. Ich fuhr ein ganzes Stück vom Mercado de Parasal bis zur Estrella de Oro [das Terminal der gleichnamigen línea] ohne ein Lied zu singen. Du wirst mir nicht glauben, mein Freund, aber ich hatte alle Lieder vergessen, wegen der Scham. Ich erinnerte mich an ein Stück, das ›El asesino‹ hieß[44]. Die einzige Tonart, die ich konnte, war C-Dur, viel zu hoch für dieses Lied. Vielleicht aus Mitleid, was weiß ich, standen die Leute auf, als ich zu spielen begann, und gaben mir Münzen. Am Ende sammelte ich in einem Bus 90 Pesos. 90 Pesos waren damals viel Geld. Ich nahm einen anderen Bus und sang dasselbe Lied. Am Ende spielte ich in drei Bussen und machte 287 Pesos. Einen Haufen Geld! Davon konnte meine Familie eine Woche essen. Als ich nach Hause kam, schüttete ich die Münzen auf einen Tisch meine damals kleinen Kinder kamen angerannt und zählten die Münzen. Meine Frau fragte: ›Und? Was hast du jetzt gemacht? Wo hast du das Geld her?‹ – ›Ach, das haben sie mir da drüben gegeben.‹ Ich schämte mich, ihr zu sagen: ›Ich habe in den Stadtbussen gespielt.‹ Später fand sie raus, das ich in die Busse gegangen war.« (Villanueva, Gabriel 10.10.2011)
Beflügelt vom unmittelbaren finanziellen Erfolg seines ersten Arbeitstages überwand Gabriel Villanueva seine Scham und kehrte auch am folgenden Tag wieder in die Busse Acapulcos zurück. Bald beschloss er, seine Performance zu professionalisieren, tat sich mit einem befreundeten Akkordeonisten zusammen und stieg von den Stadtbussen in die Überlandbusse um: »Ich ging auch am nächsten Tag in die Stadtbusse. Am Ende spielte ich dort eine Woche. Dann sagte ich zu einem Freund […] – der spielte Akkordeon: ›Hey! Warum machen wir kein Dueto?‹ Er sagt: ›Schon geschehen! Wir müssen proben.‹ Wir fingen an zu üben. Ich sage: ›Jetzt gehen wir in die Überlandbusse, nicht mehr in die Stadtbusse.‹ Warum? Weil in den Überlandbussen Leute von überall her reisen und mehr Geld geben. So kam es. Wir fuhren Richtung Coyuca […]. Wir probten drei Stücke. […] Sie ließen uns einsteigen und wir sangen in den Überlandbussen. 44 Dabei handelt es sich um das bekannte Stück »El asesino« der »Los Cadetes de Linares«.
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Danach bat ich um einen Beitrag und die Leute gaben uns Geld.« (Villanueva, Gabriel 10.10.2011)
Musik in Bussen war für Gabriel nicht nur eine ergiebige Einnahmequelle, sie machte ihn auch mobil. Sein vorheriger Beruf als Fischer band ihn nicht nur durch die Arbeit an seinen Wohnort und die Lagune, sondern er brachte auch nicht die finanziellen Mittel, die es ihm erlaubt hätten zu reisen. Nun reiste er mehrfach nach Mexiko-Stadt und versuchte dort, Produzenten zu überzeugen, ihn aufzunehmen. Als Busmusiker kosteten ihn die Reisen kein Geld, sondern er nahm während der Reise sogar die coperacha der Passagier/innen ein und finanzierte so seinen Aufenthalt in der Hauptstadt. Jedoch fehlten Gabriel Villanueva trotz seiner neu erworbenen Mobilität weiterhin die Mittel, um seine Produktion vorzufinanzieren: »Wir probten und probten das Material, […] das ich aufnehmen wollte. Ich fuhr nach MexikoStadt zu Herrn José Flores, dem Besitzer der Marke Discos de la Garza. Damals sagte er mir: ›Nein, dir fehlt noch was.‹ Ich fuhr aus Mexiko-Stadt zurück, um zu üben. Ich nahm eine neue Kassette auf und fuhr wieder nach Mexiko-Stadt. Ich fuhr jede Woche nach Mexiko-Stadt und immer sagte der Chef der Firma: ›Dir fehlt was!‹ Er sagte nur nicht, was mir fehlte: Mir fehlte Geld! [lacht]« (Villanueva, Gabriel 10.10.2011)
Gabriel Villanuevas erste Aufnahme und seine besondere Verkaufsstrategie Kurze Zeit später ergab sich jedoch für Gabriel Villanueva eine Chance, die finanziellen Hürden, die ihn von seiner ersten Studioaufnahme trennten, zu überwinden. In Acapulcos Vorort Ciudad Renacimiento nahmen er und seine Frau in der Hoffnung auf ein eigenes Grundstück an einer Landbesetzung teil. Es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit den Ordnungskräften, aber die Landbesetzer/innen gewannen den Streit letzten Endes und konnten auf ihren Parzellen bleiben. Noch im Zuge der Besetzung schrieb Gabriel Villanueva einen corrido über die Landnahme und ihre Protagonist/innen. Dieser corrido mit dem Titel »El corrido de los pobres« gefiel den übrigen Landbesetzer/innen so gut, dass sie eine Sammlung unternahmen: »Als ich Raúl Bello Arrdondo, dem Anführer von dort sagte, dass ich ›El corrido de los pobres‹ komponiert hatte, hörte er ihn sich an und sagte: ›Hör mal Gabriel! Warum nimmst du den nicht auf?‹ – ›Wie? Ich habe kein Geld. Wenn ihr mich unterstützt und Geld sammelt, nehme ich den Corrido auf.‹ Und tatsächlich, alle Leute leisteten einen Beitrag. 460 Leute sammelten und steuerten Geld bei. […] So nahm ich meine erste Platte auf. Diese Platte hieß [feierlich]: ›Dueto de Guitarras de Gabriel Villanueva y su compadre La Careta‹.« (Villanueva Nuyola, Gabriel 16.10.2010)
Wie der Titel der Platte bereits verriet, spielte Gabriel Villanueva sie nicht mit dem Akkordeonisten ein, der ihn in den Überlandbussen begleitete, sondern als dueto de guitarras mit einem requinto-Spieler. Die beiden Musiker spielten die Stücke in einem kleinen Studio in Acapulco ein und brachten die fertigen Aufnahmen zur Produktionsfirma in Mexiko-Stadt, wo sich der Produzent von Gabriel Villanuevas selbstbewusster
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Bestellung von 2.000 Tonträgern45 überrascht zeigte. Gabriel Villanueva verfolgte jedoch den Plan, die Platten und Kassetten nicht allein über den üblichen Weg in den Plattenläden zu vermarkten, sondern wollte sie stattdessen bei seinen Auftritten in den Überlandbussen zum Verkauf anbieten: »Ich brachte das Master mit […]: ›Ich will, dass Sie mir 2.000 Platten machen!‹ Er sagt: ›Da gehört was zu, 2.000 Platten zu verkaufen. Wo willst du die verkaufen?‹ – ›Das werde ich schon sehen. Ich verkaufe sie in den Überlandbussen.‹ – ›Aber 2.000 Platten sind eine Menge. Das wird nicht klappen.‹ – ›Machen Sie mir 2.000 Platten! Ich weiß, dass ich sie verkaufen werde!‹ Und er machte mir 2.000 Platten in zwei Wochen. […] Dann stiegen wir in die Busse. […] Ich begann zu verkaufen. Ich bezahlte damals 90 Centavos pro Platte. Ich verkaufte sie für 6 Peso.« (Villanueva, Gabriel 10.10.2011)
Gabriel Villanuevas ungewöhnliche Vermarktungsstrategie erwies sich als außerordentlich erfolgreich, so dass die Arbeit, die ihn zu Beginn beschämte, ihn nun mit Stolz erfüllte. Den Erfolg belegte sein hoher Umsatz an Tonträgern, der die Produktionsfirma letztendlich überzeugte, für die nächste Platte selbst die Produktionskosten zu übernehmen: »In zwei Monaten verkaufte ich die 2.000 Kassetten. In den Überlandbussen! Da begann mir meine Arbeit zu gefallen: in den Überlandbussen spielen. Die Leute applaudierten, wir gefielen ihnen. Nach zwei Monaten rief ich wieder bei José Flores an, damit er mir 3.000 Kassetten machte. Er sagte: ›Gut. Und die 2.000, die ich dir geschickt habe?‹ Ich sage: ›Die habe ich schon verkauft.‹ – ›Die hast du schon verkauft!?‹ Ich sage: ›Ja.‹ Er sagt: ›Gut, überweis mir das Geld!‹ Ich überweise. Nach zwei Wochen kommen 3.000 Kassetten. In drei Monaten verkaufe ich 3.000 Kassetten und rufe ihn an: ›Ich will 4.000.‹ – ›Haste die anderen schon…?!‹ – ›Ja. Und ich will eine neue Platte bei Ihnen aufnehmen.‹ – ›Diesmal bezahle ich dich!‹« (Villanueva Nuyola, Gabriel 16.10.2010)
Gabriel Villanueva erweiterte sein dueto de guitarras um einen Sänger und änderte den Namen in »Los Pajaritos de Guerrero«. Mit Ausnahme dreier Stücke sang Gabriel Villanueva von nun an nicht mehr selbst, sondern überließ die erste Stimme dem neuen Sänger und die zweite Stimme dem requinto-Spieler. Gabriel Villanueva, der jetzt nicht mehr im Namen seines duetos vertreten war und musikalisch in den Hintergrund trat, war auch nicht mehr auf dem Cover der Platte zu sehen. Stattdessen waren dort die beiden anderen Mitglieder des duetos abgebildet. Obwohl die meisten Kompositionen des Albums aus seiner Feder stammten und er weiterhin die Gitarre spielte, war von Gabriel Villanueva lediglich auf der Rückseite der LP-Version des Albums ein schwarz-weiß Foto zu finden. Gabriel Villanueva verstand sich nun in erster Linie als Komponist und als Unternehmer. Mit den Musikern und auch mit der Produktionsfirma machte er Fünf-Jahres-Verträge und kaufte umgehend 5.000 Kassetten und 1.000 LPs, die er in kurzer Zeit umsetzte (Villanueva, Gabriel 16.10.2010). Wieder 45 In einigen Interviews sprach Gabriel Villanueva von LPs, in anderen von Kassetten oder auch von einer Kombination aus beidem. Zusätzlich mag seine Wortwahl beeinflussen, dass er zur Zeit meiner Feldforschung seit über zehn Jahren ausschließlich CDs produzierte, die er ebenfalls, wie auch LPs, mit dem Begriff »disco« bezeichnete.
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verkaufte er einen Großteil der Tonträger in den Überlandbussen entlang der MEX-200 an der Costa Chica und der Costa Grande. Auch in den Bussen übernahm Gabriel Villanueva die neue Besetzung. Während Sänger und requinto-Spieler die coperacha erhielten, behielt er selbst den Erlös aus den Verkäufen der Tonträger. Er übernahm auch die Kosten für Unterkunft und Verpflegung der anderen beiden Musiker, da die Reisen länger wurden und sie nicht mehr jede Nacht nach Acapulco zurückkehrten: »Sie spielten mit mir in den Überlandbussen. […] Der Beitrag, den wir in den Bussen einsammelten, war für sie. Ich behielt den Erlös aus dem Verkauf. […] Ich lud sie zum Essen ein, wenn wir auf den Dörfern Hunger bekamen. Wir fuhren nach San Marcos, Las Vigas, Cruz Grande, Copala, Marquelia und Cuaji [Cuajinicuilapa]. Manchmal übernachteten wir dort. Ich schleppte immer etwa 200 Kassetten und 50 LPs mit. Wir kehrten nicht zurück, bevor wir sie verkauft hatten. Wenn wir sie nicht an einem Tag verkauften, blieben wir dort bei Freunden oder ich bezahlte ein Hotel. So waren wir unterwegs. Sobald wir fertig waren, kamen wir zurück. Wieder meine Tasche füllen und am nächsten Morgen: ›Los geht’s!‹ So war mein Leben.« (Villanueva, Gabriel 10.10.2011)
Das dueto verkaufte auch deshalb noch schneller, weil Gabriel Villanueva begann, die Reisen in den Bussen dazu zu nutzen, Kassetten und LPs in den Städten und Dörfern, die sie passierten, an Plattenläden zu verkaufen: »Ich begann den Vertrieb in Acapulco, San Marcos, Cruz Grande, Costa Grande. Ich vertrieb die Platte in Geschäften.« (Villanueva, Gabriel 16.10.2010) »Los Pajaritos del Sur«: Gabriel Villanueva formt ein dueto mit seinen Söhnen Der große Erfolg der »Los Pajaritos de Guerrero« führte bald zu Spannungen in der Gruppe: »Als die Jungs sich selbst in den Plattenläden sahen, vergaßen sie mich. Sie sagten: ›Die Plattenfirma vertreibt uns. Wir sind die Guten!‹ Denn sie sangen. Ich sang nur drei Lieder.« (Villanueva, Gabriel 16.10.2010) Die beiden anderen Musiker warfen Gabriel Villanueva vor, dass er unverhältnismäßig viel Geld für sich behalte, obwohl er selbst als Musiker kaum in Erscheinung trete (Villanueva, Gabriel 16.10.2010). Die Spannungen gipfelten letztendlich in der Spaltung der »Los Pajaritos de Guerrero« und für Gabriel Villanueva entstand ein erheblicher finanzieller Schaden, weil er auf 600 Kassetten und 2.000 LPs sitzen blieb. Diese Tonträger waren für ihn ohne die anderen beiden Musiker quasi unverkäuflich, da die potentielle Kundschaft in den Bussen Gabriel Villanuevas Performance nicht mehr mit der Aufnahme in Verbindung bringen konnte: »Ich konnte nur mit ihnen zusammen verkaufen, weil sie auf dem Cover waren.« (Villanueva, Gabriel 16.10.2010) Während die beiden anderen als »Los Pajaritos de Guerrero« weiterhin bei der Produktionsfirma aufnahmen, war es Gabriel Villanueva auf Grund seines Vertrages nicht möglich, die Firma zu verlassen. Er umging das Verbot und nahm unter dem Namen »Los dos Pequeños del Sur« mit seinen Söhnen Rodimiro Hernández und Lorenzo Villanueva bei einer anderen Firma auf. Das Cover des Albums zeigte lediglich seine beiden Söhne. Schließlich änderte Gabriel Villanueva den Namen des duetos in »Los Pajaritos del Sur«. Unter diesem Namen stieg er wieder die Überlandbusse auf der MEX-200. Zunächst spielte sein Sohn Rodimiro Hernández requinto und sang die zweite Stimme. Er war es auch, der Gabriel Villanueva in die Busse begleitete. Der jüngere Lorenzo Villanueva spielte im
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Studio den Bass. 1996 ging Rodimiro Hernández in die USA und ließ sich in Atlanta, Georgia nieder. Dort bildete er ein dueto, das den Namen »Los Pajaritos de Guerrero« wiederaufnahm. »Los Pajaritos de Guerrero« spielten vor allen Dingen für andere Migrant/innen von der Küste Guerreros und verdienten gut damit. Ihr Repertoire bestand aus Kompositionen seines Vaters, und Rodimiro Hernández kopierte dessen Gesangsstil, so dass »Los Pajaritos de Guerrero« eine Art Franchise auf der anderen Seite der Grenze bildeten.46 Zu Hause in Acapulco und in den Überlandbussen entlang der Costa Chica und Costa Grande übernahm nun Gabriel Villanuevas jüngerer Sohn Lorenzo den requinto-Part und die zweite Stimme und stieg fortan mit seinem Vater in die Überlandbusse. Zur Zeit meiner Feldforschung bildeten Gabriel und Lorenzo Villanueva »Los Pajaritos del Sur«. Abbildung 13: „Los Pajaritos del Sur“ in einem Bus der Kooperative AGC bei Coyuca de Benítez.
Foto: Kirschlager
Lorenzo Villanueva Lorenzo Villanueva wurde 1975 geboren. Mit acht Jahren begann er, Bass zu spielen. Obwohl sein Vater und sein älterer Bruder Musiker waren, lernte er sein Instrument außerhalb der Familie. Auf Feiern mit Live-Bands, die zu dieser Zeit oft in der colonia Ciudad Renacimiento stattfanden, schaute er sich bei professionellen Musikern ab, soviel er konnte: »Ich war 8 Jahre alt, als ich anfing zu spielen. Ich war in der dritten oder vierten Klasse der Grundschule. Aber ich sang nicht. Ich erinnere mich, dass ich, als ich anfing zu spielen, abends
46 Eine ausführlichere Auseinandersetzung dieser transnationalen Beziehungen der »Los Pajaritos del Sur« in Kirschlager 2015a.
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auf Straßenpartys ging. Damals spielten […] Gruppen auf diesen Partys. Ich ging und beobachtete die Musiker. […] Da mein Vater immer Gitarren und Instrumente in seinem Haus hatte, kam ich um 1 oder 2 Uhr nach Hause und um 5 oder 6 Uhr morgens stand ich auf und übte, was ich gesehen hatte, nicht? So wurde ich in diesem Alter Musiker. Ich begann Gitarre zu spielen, aber ich sang nicht. Als erstes spielte ich Bass. Mir gefiel der Bass damals. Und ich spielte die Bassläufe auf der Gitarre. Ich schaute, wie sie es taten, nicht? So machte ich mich mit dem Instrument vertraut, aber mir fehlte noch viel, nicht?« (Villanueva, Lorenzo 5.10.2011)
Der junge Lorenzo Villanueva stieg gemeinsam mit seinem älteren Bruder in das dueto ein, als sich sein Vater mit seinen ehemaligen Partnern überwarf. Mit elf Jahren nahm er mit seinem Vater und seinem Bruder seine erste CD auf (Villanueva, Lorenzo 5.10.2011). Als Rodimiro Hernández in die USA ging, übernahm Lorenzo Villanueva den requinto-Part bei den »Los Pajaritos del Sur« und stieg auch mit seinem Vater in die Überlandbusse. Das zusätzliche Einkommen kam ihm gelegen, da er gerade seine Frau geheiratet hatte: »Dann ergab sich die Möglichkeit, dass mein Bruder in die Vereinigten Staaten ging. Deshalb fing ich aus Notwendigkeit an, Requinto zu spielen. Damals hatte ich gerade meine Frau geraubt.[47] […] Deshalb begann ich Requinto zu spielen. Es war halt nötig, dass ich es mir draufschaffte. Ich lernte Schritt für Schritt. Ganz allein – ich wurde nie unterrichtet – begann ich zu spielen und zu singen, nicht? Damals suchte ich mir die Requintofiguren raus, […] lernte die Tonleitern auswendig und fing an zu arbeiten. Das erste Mal nahmen wir ›El ciclón Boris‹ auf, ein Jahr vor ›Paulina‹, über den Zyklon Boris. Der Corrido hieß ›Desastre en La Sinaí‹.« (Villanueva, Lorenzo 5.10.2011)
Zur Zeit meiner Feldforschung lebte Lorenzo Villanueva mit seiner Frau und drei Kindern auf der anderen Seite des Flusses La Sabana in der colonia La Frontera in einem sehr einfachen, kleinen Haus, dass ihm sein Vater gebaut hatte. Während seine Frau als Änderungsschneiderin arbeitete, hatte Lorenzo Villanueva sein ganzes Leben mit nichts anderem als Musik sein Geld verdient. Er arbeitete sieben Tage pro Woche und meistens in Bussen. Die Strecken der »Pajaritos del Sur« »Los Pajaritos del Sur« spielten sowohl entlang der Costa Chica, der Heimatregion Gabriel Villanuevas, als auch entlang der Costa Grande, obwohl ihre Reisen und Auftritte in Überlandbussen auf rutas entlang beider Küsten in den Jahren vor meiner Feldforschung seltener wurden. In Richtung der Costa Chica stiegen sie nahe ihrer Wohnhäuser an der Kreuzung Las Cruces in die Busse Richtung Puerto Escondido, Salinas Cruz, Pinotepa Nacional und Ometepec. Zunächst entwickelten sie eine Routine aufeinanderfolgender Strecken, die sie bis nach Marquelia führte. Die Ein- und Ausstiegsorte der »Los Pajaritos del Sur« lagen dabei so, dass mit Ausnahme der ersten Strecke zwischen Acapulco und San Marcos den beiden Musikern immer etwa eine halbe Stunde für ihre Performance blieb. 47 Lorenzo Villanueva und seine Frau heirateten zwar im beidseitigen Einverständnis, aber gegen den Willen ihrer Eltern, weshalb Lorenzo Villanueva, in diesem Zusammenhang von »robar mi esposa« sprach.
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Obwohl »Los Pajaritos del Sur« nicht nur wegen Gabriel Villanuevas Herkunft, sondern auch wegen ihres Repertoires eher an der Costa Chica beheimatet waren, spielten sie zur Zeit meiner Feldforschung jedoch häufiger zwischen Acapulco und Tecpan entlang der Costa Grande: »Denn an der Costa Grande gibt es mehr Passagiere als an der Costa Chica.« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013) Ein zweiter Grund lag im verstärkten Einsatz von Inspekteur/innen bei den líneas der grupo Estrella Blanca, die die rutas entlang der Costa Chica befuhren. An der Costa Grande spielten sie von Acapulco über Pie de la Cuesta, das retén bei Bajos del Ejido, Coyuca, El Papayo, Zacualpan und San Jerónimo bis nach Tecpan. Aber auch dort machten den »Los Pajaritos del Sur« genauso wie den übrigen Busmusikern die häufigen Kontrollen in den Bussen zu schaffen. 2010 begann die grupo Estrella Blanca, ebenfalls in die Busse der zu ihr gehörigen línea AMS neue Inspekteur/innen zu schicken. Ein Jahr später erklärte Gabriel Villanueva daher frustriert: »In letzter Zeit wird’s immer schwieriger. Warum? Weil die Inspekteure wechseln. Es gibt neue Regeln. Sie lassen einen nicht mehr einsteigen und singen.« (Villanueva, Gabriel 10.10.2011) Auf der Suche nach ertragreicheren Strecken mit laxeren Kontrollen folgten »Los Pajaritos del Sur« schließlich dem Rat eines befreundeten Busfahrers und reisten gelegentlich für jeweils ein oder zwei Wochen nach Iguala ins Streckennetz »Zona Norte«. Dort spielten sie auf rutas durch die Tierra Caliente entlang der MEX-51 zwischen dem Terminal Igualas und dem kleinen Ort Ahuehuepan: »Wir fahren in die Tierra Caliente, nach Iguala und von dort in ein Dorf, das Ahuehuepan heißt. Dabei spielen wir drei Lieder, wir verkaufen die Platte und kommen in Ahuehuepan an. Dort gibt es ein Hotel, wo wir schlafen, weil es dann meistens schon spät ist. Wir bezahlen der Dame dort eine Woche Unterkunft und arbeiten zwischen Iguala und Ahuehuepan. Nur auf dieser Strecke, denn dort sind die Passagiere.« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013)
Lorenzo Villanueva in Acapulcos camiones »Los Pajaritos del Sur« arbeiteten dennoch weiterhin auf ihren Strecken entlang der Costa Chica und der Costa Grande und versuchten, trotz der strikteren Kontrollen Zustieg zu den Bussen zu erlangen, wobei sie an der Costa Grande häufig in die Busse der Kooperative AGC auswichen. Dank ihrer gestiegenen Bekanntheit und ihrer Tonträgerverkäufe musste zumindest Gabriel Villanueva nicht mehr jeden Tag in die Busse steigen. Lorenzo Villanueva hingegen spielte weiterhin sieben Tage die Woche und, wenn er nicht mit seinem Vater in die Überlandbusse stieg oder einem contrato nachkam, stieg er in die camiones in Acapulco. Zunächst begann er auf verschiedenen Strecken in der Stadt zu spielen, bis er letztendlich in den Bussen der línea Maxirutas zwischen dem Zentrum und den Vororten im Norden der Stadt landete. Er bestieg die Busse in Ciudad Renacimiento und fuhr auf der Avenida Cuauhtémoc bis zum Parque Papagayo im Stadtzentrum Acapulcos, wo er in einen Bus in entgegengesetzter Richtung wechselte. Ein Großteil seiner Strecke lag deshalb im »Maxitúnel Interurbano Acapulco«. Die Busse durchfuhren den Tunnel mit offenen Türen und Fenstern und der Motorenlärm wurde von den Tunnelwänden zurück ins Innere des Busses geworfen. Hinzu kam, dass ewige Baustellen und die Abgase des starken Verkehrs Staub produzierten, der schwer in der Tunnelröhre hing und durch die Öffnungen in den Bus wirbelte. Als Folge seiner Arbeit in den Bussen der línea Maxirutas litt Lorenzo Villanueva an chronischer Heiserkeit.
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In den camiones hatte Lorenzo Villanueva mit starker Konkurrenz zu kämpfen. Die etablierten Musiker begegneten ihm häufig mit Neid und Missgunst, da ihn sein Status als lokale Berühmtheit und seine herausragenden musikalischen Fähigkeiten zu einem Liebling der Busfahrer machten. Zudem hatte er aus der Arbeit mit seinem Vater in den Überlandbussen gelernt, seine Beziehungen zu Busfahrern zu verbessern und auszuweiten.48 Ungeachtet seiner Position in der Reihenfolge der wartenden Musiker verlangten Busfahrer, dass »El Pajarito«, wie sie ihn nannten, in ihrem Bus auftreten solle. Lorenzo Villanueva musste folglich entscheiden, ob er den Busfahrern ihren Wunsch verweigerte, womit er riskierte, nie wieder mitgenommen zu werden, oder ob er der Einladung des Fahrers folgte und somit die anderen Musiker verprellte (Gespräch mit Lorenzo Villanueva am 10.10.2011). Zusätzlich erschwerten Lorenzo Villanuevas Arbeit an Bord der camiones die höhere Unfall- und Überfallgefahr und das niedrigere soziale Ansehen, das Musikern in den Stadtbussen entgegengebracht wurde.49 Obwohl er sich diesen zahlreichen Gefahren und Unannehmlichkeiten aussetzte und zusätzlich noch ausgesprochen schlecht verdiente, sah er in den camiones die einzige Möglichkeit, sich und seine Familie zu ernähren: »Manchmal ist es genug und manchmal nicht. Aber man muss malochen! Wenn du Arbeit suchst, dann bezahlen sie im Moment überall nur Mindestlohn. Das sind 60 Peso für 8 oder sogar 10 Stunden Arbeit. Dafür musst du dich krumm machen. Und der Lohn reicht nicht. Es reicht einfach nicht. Daher frage ich nach Münzen und mache die ehrbare aber gefährliche Arbeit in den Stadtbussen, für den Beitrag. Damit kommen wir mehr oder weniger durch. So bestreite ich mein Leben, nicht?« (Villanueva, Lorenzo 5.10.2011)
Das Repertoire der »Los Pajaritos del Sur« Das Herzstück des Repertoires der »Los Pajaritos del Sur« bildeten Gabriel Villanuevas corridos. 2013 konnte er auf über 300 Eigenkompositionen zurückblicken, die meisten davon corridos, in denen er Ereignisse aus Acapulco, von der Costa Chica und der Costa Grande verarbeitete. An Gabriel Villanuevas corridos war auffällig, dass sie vor allen Dingen Katastrophen und Unfälle verarbeiteten. Zu den erfolgreichsten seiner Kompositionen gehörten zwei corridos über Zyklone, die Acapulco und die gesamte Küste Guerreros heimgesucht hatten. Der corrido »Desastre en La Sinaí« handelt von den verheerenden Folgen des Zyklons »Boris« im Jahr 1996. Er besitzt die für Gabriel Villanueva typische moderne Form von je sechs Versen pro Strophe bei einem AAB-Strophenschema, bei dem die dritte und sechste Strophe auf der Subdominante gespielt werden. Im Gegensatz zu klassischen corridos werden diese Strophen also harmonisch hervorgehoben. 50 Der Text erinnert an die schweren Überschwemmungen, die der Zyklon in einigen der colonias Acapulcos verursachte:
48 Zu Lorenzo Villanuevas Strategien im Umgang mit den Fahrern der camiones vgl Kapitel 6.2. 49 Zum sozialen Abstieg, den Lorenzo Villanueva mit den camiones verband, vgl. Kapitel 6.3. 50 Zum Aufbau klassischer corridos vgl. Kirschlager 2015b.
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Voy a cantar un corrido de un caso que yo lo ví ahí en la Simón Bolívar también en La Sinaí y en El Vacacional muchos murieron ahí.
Ich werde einen Corrido singen von einem Fall, den ich sah, drüben in der Simón Bolívar und auch in der Sinaí und in El Vacacional starben viele.
Un viernes, cinco de julio del año noventa y seis y a las doce de la noche nadie lo podía creer los arrastró la corriente sin poderse defender.
An einem Freitag dem 5. Juli im Jahr 96 um zwölf Uhr nachts, keiner konnte es glauben, riss sie die Flut mit, ohne ihnen eine Chance zu lassen.
Fueron cuarenta los muertos nadamás los que sacaron otros se encuentran perdidos y otros talvez sepultados en las arenas del río en donde no los hallaron. [...]
Es gab 40 Tote, die gefunden wurden. Andere blieben vermisst oder vielleicht begraben im Sand des Flusses, wo sie niemals gefunden wurden. […] Titel: Desastre en La Sinaí Interpreten: Los Pajaritos del Sur Komponist: Gabriel Villanueva Album: Sus 15 mejores Éxitos Jahr: 2009
Wenige Monate später komponierte Gabriel Villanueva einen corrido über den Zyklon »Paulina«, der im September 1997 vernichtend über Acapulco hinwegfegte. Nicht nur wurde Gabriel Villanuevas eigenes Haus überschwemmt und ein Großteil seines Besitzes vernichtet, beinahe wäre auch seine Familie gestorben, die sich mit Not auf das dünne Asbestdach ihres Hauses retten konnte, während sich Gabriel Villanueva für Aufnahmen in Mexiko-Stadt befand und hilflos die Nachrichten im Fernsehen verfolgte. Gabriel Villanueva schrieb den corrido unmittelbar nach dem Sturm und nahm ihn wenige Tage später auf. Obwohl die Produktionsfirma zunächst mit der Veröffentlichung zögerte, wurde »El Ciclón Paulina« zu einem seiner größten Erfolge (Villanueva, Gabriel 16.10.2010). Gabriel Villanueva komponierte neben seinen corridos über Unfälle und Naturkatastrophen allerdings auch corridos über valientes und ihre blutigen Konflikte untereinander und mit der Staatsmacht. Damit stand er in der Tradition der Costa Chica, an der unzählige dieser corridos existierten und einen wichtigen Beitrag zur Verarbeitung von Gewalt in den Gemeinden leisteten (vgl. McDowell 2000). Entsprechend handeln seine corridos gewalttätiger Auseinandersetzungen auch hauptsächlich von Schießereien und Morden, die sich in Acapulco oder an der Costa Chica ereigneten, obwohl
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einige auch von Ereignissen an der Costa Grande berichten. Die so genannten narcocorridos über die Ereignisse des Drogenkrieges vermied er allerdings bewusst.51 Nicht nur inhaltlich waren Gabriel Villanuevas corridos an der Costa Chica verhaftet. Während zwar die Mehrzahl seiner corridos, genauso wie im Rest Mexikos üblich, in Dur stehen, komponierte er vor allen Dingen corridos mit einem starken inhaltlichen Bezug zur Costa Chica in Moll.52 Auf diese Weise stellte er eine eindeutige harmonische Referenz an diese Region her, wo corridos häufig in Moll gesungen wurden (vgl. ebd.: 29). Außerdem komponierte Gabriel Villanueva corridos por encargo, Auftragsarbeiten von Kund/innen, die ihrem eigenen Leben oder dem von Freund/innen oder Verwandten ein musikalisches Denkmal setzen lassen wollten. Für Gabriel Villanueva waren diese Kompositionsarbeiten neben seinen Auftritten in Bussen, CD-Verkauf und contratos zu einem wichtigen Standbein geworden, und er berechnete pro corrido, den er komponierte und aufnahm, 4.000 Pesos. Der Preis, den Gabriel Villanueva für seine Arbeit verlangte, stieß bei seinen Auftraggeber/innen häufig auf Unverständnis. Gabriel Villanueva beklagte sich, dass viele Kund/innen der Auffassung seien, sie lieferten den »Los Pajaritos del Sur« Gratismaterial für ihre corridos und schuldeten ihnen daher nichts: »Ich sage ihnen: ›Ich komponiere Euch diesen Corrido. Aber das wird so viel kosten.‹ – ›Hey! Aber wenn es ein Hit wird?‹ – ›Du weißt nicht, ob es ein Hit wird, denn deine Familie kennt nur ihr. Ich mache euch berühmt! Man wird sich immer an euch erinnern und dafür bezahlt ihr mich.« (Villanueva, Gabriel 16.10.2010) Seine Kund/innen verbanden mit ihrem Auftrag die Hoffnung, die besungenen Personen und ihr Schicksal erlangten ebenfalls Bekanntheit und würden erinnert, daher war seine eigene Bekanntheit für Gabriel Villanuevas corridos por encargo die wichtigste Ressource (vgl. Kirschlager 2015a). Neben Gabriel Villanuevas Eigenkompositionen gehörten zum Repertoire der »Los Pajaritos del Sur« zahlreiche Stücke anderer Künstler/innen, die auch von Beginn an auf den Tonträgern des duetos vertreten waren und die die beiden sowohl auf privaten Feiern als auch bei ihren Auftritten in den Überlandbussen spielten. Obwohl »Los Pajaritos del Sur« gelegentlich corridos aus anderen Regionen Mexikos auswählten, spielten sie auch bei fremden Kompositionen bevorzugt corridos mit starkem Bezug auf die beiden Küsten des Bundesstaates Guerrero. So durften corridos wie »El Chante Luna« nicht fehlen: »Das ist hier in Guerrero fast die Hymne.« (Villanueva, Gabriel 19.12.2010) Außerdem beherrschten »Los Pajaritos del Sur« neben corridos auch chilenas, die ebenfalls typisch für die Costa Chica waren, canciones rancheras und eine ganze Reihe boleros, obwohl sich Gabriel Villanueva in Bezug auf dieses Genre wählerisch zeigte: »Ich sage den Leuten: ›Ich bin Ranchero, Corridero und spiele ein paar Boleros.‹ Ich kann nicht viele Boleros, aber dafür ganz besondere. Ich mag nicht alle Boleros. Es gibt Boleros, die mir gefallen und die ich gut spielen kann, weil sie meinem Stil entsprechen. Ich spiele nichts, was nicht in meinen Stil passt.« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013) 51 Zu den Gefahren, die mit der Interpretation von narcocorridos verbunden waren, vgl. Kapitel 5.4. 52 Z.B. »El corrido de los Noyola« (Komponist: Gabriel Villanueva Noyola; Interpreten: Los Pajaritos del Sur; Album: ¡Rompiendo Ma…!; Jahr: 2010.
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Boleros spielten »Los Pajaritos del Sur« hauptsächlich an der Costa Grande und nahmen sie auch für das dortige Publikum mit auf ihre Tonträger. So kam jeder der beiden »Los Pajaritos del Sur« für sich allein auf ein Repertoire von über 800 Stücken, von denen sie einen Großteil auch als dueto beherrschten. Damit verfügten sie mit Abstand über das größte Repertoire unter den Musikern, die ich im Rahmen meiner Feldforschung interviewte. Wie die übrigen Musiker orientierten sich »Los Pajaritos del Sur« an der Zusammensetzung ihres Publikums in den Überlandbussen, wenn sie die Stücke für jeden einzelnen Auftritt auswählten. Das wichtigste Kriterium bei der Auswahl aus ihrem enormen Repertoire war jedoch die Aktualität der Stücke. Ziel ihrer Auftritte war nicht allein die coperacha, sondern in erster Linie die Vermarktung ihrer Aufnahmen, so dass sie hauptsächlich Stücke des aktuellen Albums spielten. Dabei stellten sie ihre CDs so zusammen, dass sämtliche Genres, die Gabriel Villanueva verschiedenen Strecken zuordnete, darauf enthalten waren: »Es gibt halt viele Geschmäcker und auf einer Platte muss alles vertreten sein.« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013) In den Bussen: Die Performances der »Los Pajaritos del Sur« »Los Pajaritos del Sur« verließen ihre Häuser morgens in identischen Hemden – häufig aus Seide –, die den Namen des duetos und Bilder von Kampfhähnen aufgestickt hatten. Dazu trugen sie Anzughosen und identische Westernhüte oder Baseballkappen. Nach einigen Worten mit den Fahrern stellten sich Gabriel und Lorenzo Villanueva im Gang der Busse mit den Gesichtern zueinander, so dass einer der beiden nach vorne und der andere nach hinten sang. Die Reihenfolge der drei bis vier Stücke, die sie für jeden Bus wählten, folgte einer durchdachten Ordnung und das dueto spielte als letztes Stück in der Regel einen corrido valseado. Dieser corrido bot Gabriel Villanueva die Möglichkeit den grito anzubringen, der zu seinem Markenzeichen geworden war.53 Nach dem letzten Stück teilten sich »Los Pajaritos del Sur« auf. Lorenzo Villanueva ging nach vorne, um sich mit dem Fahrer zu unterhalten und den Kontakt zu pflegen, und Gabriel Villanueva zog durch den Gang und bat die Fahrgäste um coperacha. Dann zog er die neue CD aus seiner Tasche, hielt sie hoch, so dass sie für alle Fahrgäste gut sichtbar war und begann seinen Verkaufsmonolog, eines seiner großen Talente, wie er hervorhob. Sein virtuoser Stil sei ein Relikt aus seiner Zeit als Fischverkäufer: »Die Leute fragen: ›Hey! Wo holst du all die Worte her, um die Leute zu überzeugen?‹ Es ist die Not selbst, die dich so reden lässt. Wenn du nicht redest, wie willst du dann die Leute überzeugen? Man muss immer reden, man muss motivieren, die Leute begeistern. Jeder Händler, wie auch ich. Ich bin als Fischer aufgewachsen […] und ich habe gelernt, Fisch zu verkaufen. […] Das ist das Gleiche wie Platten. […] ›Treten sie näher! Der Fisch lebt noch! Dadrüben ist er tiefgefroren! Hier ist er lebendig! Hier ist er frisch!‹« (Villanueva, Gabriel 16.10.2010)
Seine Monologe in den Bussen erinnerten aber auch an jene der pomaderos, denn Gabriel Villanueva lehnte diesen Teil seiner Performance bewusst an die Preisungen der
53 Der falsettierte Ausruf »Oi-Oi-Jajajajá«, den Gabriel Villanueva bei corridos über das requinto-Zwischenspiel auf der Mitte des Stückes einwarf, diente dazu, im letzten Stück kurz vor der Bitte um coperacha schlafende Fahrgäste zu wecken (vgl. Kapitel 7.2).
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Medizinverkäufer an und spielte als Stilmittel mit Anekdoten wundersamer Heilungen aus den Lobpreisungen medizinischer Produkte: »Ich hole die Platte raus und sage: ›Ich habe diese Platte dabei, die allerneuste, die ich gerade aufgenommen habe. Darauf sind die Lieder, die wir gespielt haben, und noch mehr. Wenn sie Ihnen gefallen, kaufen Sie sie und unterstützen Sie uns. Sie werden es nicht bereuen.‹ Dann fange ich an: ›Sogar Ihre Nachbarn zu Hause, werden Sie danach fragen. Aber verleihen Sie sie nicht! Sie werden sie nicht wiederbekommen. Die ist supergut! Warum? Sie ist supergut. Erst vor ein paar Tagen erzählte mir ein Mädchen von hier, aus Oaxaca, […] dass sie eine Platte gekauft hat, sie zu Hause auflegte, und seine Oma begann zu tanzen! Sie tanzte zu den Liedern der Pajaritos del Sur‹ Die Leute lachen und das Charisma meiner Worte gefällt den Leuten: ›Gib mir eine, gib mir noch eine!‹ So ist das. So rede ich, und [die CDs] verkaufen sich.« (Villanueva Nuyola, Gabriel 16.10.2010)
Lorenzo Villanuevas Auftritte in Acapulcos camiones unterschieden sich stark von der Routine, die die »Los Pajaritos del Sur« in den Überlandbussen pflegten. Die Strecke war viel kürzer und so auch Lorenzo Villanuevas Performance. Zwar spielte er wie mit seinem Vater drei – wenn auch in der Regel kürzere – Stücke, doch sparte er Zeit am Ende seiner Performance, da er anstatt eines ausführlichen Verkaufsmonologes lediglich eine kurze Bitte um coperacha vortrug. Die Umstände in den camiones, die ihn dazu zwangen, sich auf dem Rücken über die Stufen des Einstiegs zu schieben, verlangten nach derberer Kleidung. Neben seinem requinto trug er allein eine schmale Gürteltasche schräg über die Brust, in der er seine Einnahmen aufbewahrte. »In Las Anclas steigen wir in den Bus nach El Rena [Ciudad Renacimiento]. Lorenzo scheint es nicht zu stören, dass gerade ein Musiker mit Gitarre den Bus über den hinteren Ausstieg verlässt, während wir uns vorne hinter die einsteigenden Fahrgäste stellen. Lorenzo geht mit dem Rücken zum Einstieg in die Hocke, legt sich rücklings auf die blechbeschlagenen Stufen und schiebt mit den Beinen seinen Oberkörper unter der Lichtschranke hindurch hinauf zum Fahrer. Ich steige aufrecht in den Bus und noch bevor ich beim Fahrer ankomme, hat Lorenzo bereits für mich bezahlt. Während der Bus zischend anfährt, begibt er sich in die Mitte des Ganges und spielt den Corrido ›El incendio en Renacimiento‹[54]. Als zweites Stück spielt Lorenzo ›Señora, Señora‹, das er zurzeit in jedem Bus spielt. Während des Refrains bemerke ich, dass offensichtlich Passagiere mitsingen. Obwohl sie dies laut zu tun scheinen, denn ich kann sie nun deutlich hören, brauche ich eine Zeit, um sie im Lärm aus Motorengeräuschen und Fahrtwind im Bus zu orten. Auf der letzten Bank, neben der hinteren Tür sitzen drei junge Frauen in Krankenschwesteruniformen, die nicht nur singen, sondern auch im Rhythmus des Stückes klatschen und schunkeln. Lorenzo scheint das zu gefallen, und es ist ihm anzumerken, dass er sich noch mehr Mühe als normalerweise gibt. Seine Halsmuskeln sind angespannt und er wird ziemlich rot. Währenddessen werden auch die Fahrtgeräusche lauter, als wir durch die langgezogene Kurve in den Maxitúnel fahren. Auf der Hälfte des Tunnels beendet Lorenzo ›Señora, señora‹. Die drei Krankenschwestern rufen ›Zugabe! Zugabe!‹ und klatschen rhythmisch in die Hände. Nach den ersten Zeilen Me llamas para decirme que te marchas…[55] (Du rufst mich an/ und sagst, dass Du ihn 54 Nicht der corrido »La Quemazón de Renacimiento« seines Vaters, sondern ein corrido von Bertín y Lalo dem bekanntesten dueto der Küste Guerreros. 55 »Me llamas« des Spaniers José Luis Perales.
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verlässt…) brechen die drei Frauen in Jubel aus und beginnen erneut lauthals mitzusingen. Als er mit dem Text durch ist, spielt Lorenzo etwas leiser weiter die Akkorde, während er darüber um die Coperacha bittet: ›Einen schönen guten Tag meine Damen und Herren! Entschuldigen Sie die Störung, die ich Ihnen verursache, wenn ich Ihre Reise unterbreche, Ihre Pause, Ihre Lektüre, Ihre Unterhaltung! Lorenzo sammelt die Münzen ein, der Bus verlässt den Tunnel und passiert die Caseta. Vor dem Coppel[56] in Ciudad Renacimiento steigen die drei Krankenschwestern gemeinsam mit den meisten anderen Fahrgästen aus.« (Tagebucheintrag vom 10.10.2011 zwischen Acapulco Centro und Ciudad Renacimiento)
Zukunftspläne Wie alle Busmusiker an der Küste Guerreros litten auch »Los Pajaritos del Sur« unter dem verstärkten Einsatz von Inspekteur/innen auf vielen líneas und rutas. Doch nicht nur die Inspekteur/innen machten dem dueto zu schaffen. Auch ihr Netzwerk aus befreundeten Busfahrern begann zur Zeit meiner Feldforschung langsam zu schrumpfen, da viele der älteren Fahrer, mit denen Gabriel Villanueva seit Jahren befreundet war, mittlerweile in Ruhestand getreten oder bereits verstorben waren. »Los Pajaritos del Sur« fiel es schwer, zu neuen Fahrern Kontakt aufzunehmen, da diese häufiger ausgewechselt wurden und nicht wie früher ständig auf derselben ruta arbeiteten: »Die meisten Busfahrer, die früher hier im Süden an der Costa Chica gearbeitet haben, kannten uns. Jetzt sind diese Fahrer verschwunden. Manche sind schon gestorben, aber ihre Söhne arbeiten nun als Busfahrer, die kennen uns dann. Aber es ist jetzt viel schwieriger. […] Viele der befreundeten [Busfahrer] fahren jetzt in Mexiko-Stadt. Dort gibt es eine neue [Metrobus]Linie, die Fahrer aus anderen Gegenden anlockt. Die Fahrer, die in Acapulco geblieben sind, fahren jetzt andere Orte an, deshalb kennen uns die neuen Fahrer nicht und lassen uns nicht an Bord spielen.« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013)
Gelangten sie dennoch an Bord der Busse, so verkauften sich ihre CDs sehr viel schleppender als noch einige Jahre zuvor. Die Schuld an dieser Entwicklung gab Gabriel Villanueva den piratas, die Kopien seiner Musik billiger als er selbst anboten: »Früher – wir sprechen von vor 20 Jahren – gab es in jedem Überlandbus 1.500, 1.600 Peso. Ich verkaufte sämtliche Kassetten. In sechs, sieben, acht Bussen verkaufte ich 50, 60 Platten. Heute wollen die Leute wegen der Piraten kein Geld mehr für CDs ausgeben: ›Gib sie mir für 30, 40 Peso!‹« (Villanueva, Gabriel 16.10.2010)57 Während Lorenzo Villanueva auf die Einnahmen aus den Bussen angewiesen war und in die camiones umstieg, nahm sich Gabriel Villanueva besonders vor Auftritten immer öfter frei, um seine Stimme zu schonen: »Das ist gut, damit sich mein Hals erholen kann, […] denn wenn du täglich in die Überlandbusse gehst, reizt du deinen Hals. Du wirst krank. Deshalb versuche ich jetzt, mich auszuruhen und meinen Hals zu schonen, bevor wir auf Veranstaltungen auftreten. Dort verdiene ich ohnehin ein Wochengehalt für meine Familie. So fühle ich mich gut. Ich ruhe mehr aus und arbeite mich nicht mehr kaputt.« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013) 56 Ein Kaufhaus für Haushaltsgeräte. 57 An dieser Aussage ist zu beachten, dass Währungsreformen den direkten Vergleich beider Summen unmöglich machten.
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Er dachte auch bereits an seine Altersvorsorge. Doch während andere Musiker, die ich interviewte, sich bemühten, auf andere Berufe umzusatteln, hatte Gabriel Villanueva besser verdient und Geld gespart, das er nun in Grundstücke und Immobilien anlegte, die er später verkaufen wollte: »Grundstücke billig kaufen und teuer verkaufen, ist ein gutes Geschäft. Das kann man sagen. Geld verleihen bring nur Probleme. Aber wenn du ein Grundstück kaufst, dann steigt der Wert mit der Zeit. Ein Grundstück, das ich vor vielen Jahren für 10.000 kaufte, kostet nun 80.000.« (Villanueva, Gabriel 10.10.2011)
Auch Lorenzo Villanueva wusste sehr genau, dass seine Stimmbänder der Belastung an Bord der camiones nicht ewig standhalten würden und hatte sich daher bereits Gedanken über andere Auftrittsorte gemacht. 2013 dachte er darüber nach, sich gemeinsam mit seinem Vater um ein festes Engagement in einem Restaurant im Zentrum der colonia Ciudad Renacimiento zu bemühen: »Wir haben Ideen und Projekte, die uns nach vorne bringen werden. Wir werden den Bereich wechseln – was weiß ich! –, andere Dinge machen, die uns musikalisch Vorteile bringen. Zum Beispiel haben wir festgestellt, dass hier im Zentrum [von Ciudad Renacimiento] Pozolerías und Restaurants eröffnen, die Gruppen einstellen. Ich habe schon mit meinem Vater geredet, dass wir in diesen neuen Läden auftreten sollten, damit die Leute uns hören und schätzen. Vielleicht lässt sich dort ein Pate finden, der uns hört und sagt: ›Die spielen gut.‹« (Villanueva, Lorenzo 4.4.2013)
4.4 STRECKENNETZ 4: EL PARADERO 30-30 Im Gegensatz zu Musiker/innen in Restaurants oder an Stränden kamen Musiker in Überlandbussen nur sehr selten mit ausländischen Tourist/innen in Kontakt. Ihre Strecken lagen abseits der typischen Routen der Tourist/innen, die häufiger auf den mautpflichtigen Autobahnen als auf Bundesstraßen reisten. Sei es aufgrund der Zeitersparnis, des Komforts, der Sicherheit oder den leichter zu erschließenden Abfahrts- und ruta-Plänen, Tourist/innen bewegten sich eher in Bussen des servicio de primera durch das Land. Wenn ich in Gesprächen mit Tourist/innen, die ich während meiner Feldforschung traf, den Gegenstand meiner Arbeit erklärte, dann waren die meisten von ihnen noch keinem Busmusiker begegnet. Die einzige Ausnahme bildeten Tourist/innen, die von Mexiko-Stadt aus die Pyramiden von Teotihuacán besucht hatten. Mehrfach erwähnten Gesprächspartner/innen die ruta der línea Teotihuacanos nordöstlich der Hauptstadt und erinnerten sich an die Auftritte von Musikern, die in ihre Busse stiegen.
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Abbildung 14: Rutas und Einstiegsorte im Streckennetz »Paradero 30-30«.
Abbildung: Kirschlager
Das Streckennetz »Paradero 30-30«, dass ich nach seiner ehemals zentralen Haltestelle benannte, basierte auf den Bewegungen der Musiker José David Jaímez, Rubén Jaímez, Endir de León, »Eduardo« und Marco Antonio Calderón. Die rutas, entlang derer die Strecken dieser Musiker lagen, verließen Mexiko-Stadt in der Regel über die »Central de Autobuses del Norte«, führten vorbei an der besagten Haltestelle »30-30« und fächerten sich nördlich der Haltestelle auf. Während ein Teil der Musiker in Bussen zwischen der Haltestelle »30-30« und den Pyramiden spielte, trat ein größerer Teil entlang rutas auf, die nach San Juan Teotihuacán und San Sebastián Teotihuacán führten oder die Satellitenstadt Tecámac passierten. Die Tatsache, dass ein Großteil der rutas dieses Streckennetzes nicht über Bundesstraßen, sondern über eine mautpflichtige, mehrspurige Autobahn verlief, brachte mit sich, dass selbst Busse des servicio ecónomico auf diesem Abschnitt nur an offiziellen Haltestellen Passagier/innen aufnahmen und außer an Mautstellen auch sonst ihre Fahrt nicht unterbrachen. Die hohe Dichte an Musikern ebenso wie die Präsenz ausländischer Tourist/innen an Bord einiger Busse zu ganz bestimmten Tageszeiten, bedingte besondere Organisationsformen der Musiker untereinander, schuf Konflikte und letztendlich verhärtete Fronten zwischen zwei Gruppen. Diese beiden Gruppen definierten sich sowohl zeitlich – darüber, wann sie angefangen hatten, dort zu spielen – als auch räumlich – darüber, wo sie in die Busse stiegen. 2011 wurde die Haltestelle »30-30« jedoch verlegt und Musiker sowie Händler/innen aus der neuen Haltestelle wenige hundert Meter weiter verbannt. Die Verlegung veränderte das Streckennetz, auf dem sich die Busmusiker bewegten und ließ viele von ihnen ganz daraus verschwinden. Im riesigen Terminal »Central de Autobuses del Norte« verdeutlichte bereits der Einstieg in die Busse der línea Teotihuacanos das Gewicht des Sicherheitsaspektes auf den rutas, die Mexiko-Stadt über die MEX-132D beziehungsweise die MEX-85D verließen.58 Das Sicherheitspersonal durchsuchte eigenhändig Gepäckstücke und tastete Passagier/innen nach Waffen ab, bevor sich letztere in die Busse begaben. Besonders 58 Zu den Überfällen im Streckennetz »Paradero 30-30« vgl. Kapitel 5.4.
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vormittags verließ eine große Zahl ausländischer Passagier/innen mit den Pyramiden als Fahrtziel das Terminal. Die meisten mexikanischen Fahrgäste stiegen 20 Minuten später an der nächsten Haltestelle »Metro El Potrero« an der gleichnamigen Station der Metrolinie 3 zu. Die mexikanischen Fahrgäste hatten in der Regel Reiseziele jenseits der Pyramiden. An der Haltestelle »Metro El Potrero« warteten sie auf einer langen Bank unter einem Unterstand in der Reihenfolge ihrer Ankunft, in der auch die Plätze in den Bussen vergeben wurden. Am Ende der Bank warteten meist ein oder zwei Musiker, die, nachdem alle Fahrgäste den Bus bestiegen hatten, den Busfahrer um Erlaubnis baten, auftreten zu dürfen. Der nächste zentrale Ort des Streckennetzes befand sich einige Kilometer weiter nördlich entlang der Avenida Insurgentes Norte an der Haltestelle »Indios Verdes« an der Grenze des Distrito Federal zum Estado de México. Hier endete sowohl die Linie 3 der Metro als auch der Metrobús. 160.000 Menschen durchliefen werktags allein die Metrostation und machten sie zum größten Umsteigebahnhof im gesamten Metrosystem Mexiko-Stadts und zu einem der größten weltweit (vgl. Domínguez Prieto 2010: 83). Passagier/innen aus den riesigen Einzugsgebieten im Nordosten der Stadt wechselten täglich zwischen Metro und Metrobús und hunderten verschiedener rutas von combis und Überlandbussen, die die Haltestelle von einer enormen Anzahl an Busbahnsteigen verließen. Dazwischen tummelten sich hunderte Händler/innen, von denen einige ihre Ware mobil anboten und andere über fest installierte Stände verfügten. Bei den meisten dieser Stände handelte es sich um piratas, die kopierte CDs und DVDs verkauften. Der Lärm aus den Boxen ihrer Stände vermischte sich mit den verzerrten Ansagen der gritones59, die hier häufig Megaphone benutzten, um die Fahrtziele der rutas bekannt zu geben. Gerade weil sie so unübersichtlich war, hatte die Haltestelle »Metro Indios Verdes« auch den Ruf eines kriminellen Brennpunktes (vgl. ebd.: 83). Dort hielten jene rutas der línea Teotihuacanos, die nicht an der Touristenattraktion Halt machten und ein Großteil der übrigen líneas, die Mexiko-Stadt auf rutas Richtung Nordosten verließen. In die Busse dieser rutas stieg der größte Teil der músicos ambulantes, die in den Überlandbussen dieses Streckennetzes auftraten. Nachdem die Busse den Distrito Federal verlassen hatten, fuhren sie auf die Autobahn. Die MEX-85D – beziehungsweise die MEX-132D, denn beide Straßen trennten sich erst später voneinander – war sechsspurig, manchmal sogar achtspurig und in der Regel voll ausgelastet. Besonders freitagnachmittags bildeten sich dort lange Staus vor der ersten Mautstelle. Auf den Felsen und Mauern rechts und links der Fahrbahn warben handgemalte Schriftzüge für Konzerte von Bands und andere Veranstaltungen im Norden Mexiko-Stadts und der angrenzenden Region. Auf der anderen Seite der Mauern befanden sich zahlreiche große Industriebetriebe und hinter ihnen erstreckte sich Ecatepec als dichter grauer Teppich aus ungestrichenen, eckigen Betongebäuden, der sich auf den Hügeln zu sanften Wellen auftürmte. Hinter der Ausfahrt nach San Cristóbal Ecatepec lag die bis 2011 zentrale Haltestelle für Musiker dieses Streckennetzes. Die Haltestelle trug genauso wie das angrenzende Viertel in Ecatepec den Namen »30-30«. Sie war über die Autobahnauffahrt zu 59 »Gritones« waren mal von der línea beauftragte und öfter selbstständig agierende Männer, die an großen Haltestellen die Stationen einfahrender Busse ausriefen und für ihre Dienste ein Trinkgeld der Fahrer erwarteten. Um den Busfahrern einen Gefallen zu tun, übernahmen Händler/innen und Musiker oft diese Aufgabe, ohne dafür Geld zu verlangen.
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Fuß zu erreichen und über eine Fußgängerbrücke mit der entgegengesetzten Fahrbahnseite verbunden. Die Haltestelle bestand aus einer Ausbuchtung, die es den Busfahrern erlaubte, ihre Wagen zum Halten zu bringen, ohne den fließenden Verkehr zu stören. Am Zugang zur Haltebucht befand sich in einem Quader aus Beton ein Laden, der Snacks, Getränke und Zigaretten verkaufte, und ein kleiner Unterstand mit Bänken, der aber in seiner geringen Länge nicht annähernd ausreichte, um den ankommenden Bussen genügend Platz zu bieten. Entsprechend hielten die meisten Busse weiter hinten in der Haltebucht und oft auch in zweiter Reihe. Auf der fahrbahnabgewandten Seite befand sich ein breiter Bürgersteig aus Betonplatten vor einer etwa vier Meter hohen Betonmauer. Sowohl die boleteros der líneas als auch die zahlreichen Händler/innen hatten Metall- und Holzstangen in die Ritzen des Betons gerammt und zwischen diesen und der Mauer farbige Plastikplanen befestigt, um sich selbst und ihre Waren vor der starken Sonneneinstrahlung zu schützen. Die Passagier/innen stiegen über die gespannten Seile und Stangen der Händler/innen und begaben sich etwa auf die Höhe der Bucht, wo sie sich den Halt ihres Busses erhofften. Dort warteten sie stehend, denn Sitzgelegenheiten gab es keine. An der Haltestelle arbeiteten eine ganze Reihe boleteros und checadores der einzelnen líneas und ein oder zwei Sicherheitsleute, die Passagier/innen vor dem Einstieg, besonders in Busse der línea Teotihuacanos, auf Waffen durchsuchten. Händler/innen und Musiker riefen an den Türen der Busse die Fahrtziele der einzelnen rutas aus, bevor sie selbst einstiegen, um ihre Waren zu verkaufen beziehungsweise aufzutreten. Das Ende der Haltestelle kam plötzlich und überraschte sowohl Händler/innen und Musiker als auch Passagier/innen und mich. Als ich nach mehrmonatiger Abwesenheit im Herbst 2011 zur Haltestelle »30-30« zurückkehrte, war nicht viel von ihr übriggeblieben: »Als ich die Autobahnabfahrt hochgehe, sehe ich bereits, dass die alte Fußgängerbrücke über die Autobahn abgerissen wurde. Allerdings liegen die Bestandteile der Stahlkonstruktion zwischen den massiven Betonpfeilern, die noch immer dort stehen. Ein Stück weiter gibt es eine provisorische Brücke. […] Der eigentliche Schock kommt, als ich um die Ecke biege. Ein drei Meter hoher Maschendrahtzaun versperrt mir den Weg und was ich dahinter sehe, macht es mir schwer, zu glauben, dass ich mich am richtigen Ort befinde. Betonbegrenzungen, die einmal den Fußgängerweg von der Fahrbahn trennten, stehen schief und wild verteilt auf den Betonplatten vor der Mauer, die plötzlich so schmal erscheinen, dass ich mir nicht mehr vorstellen kann, wie das Leben, das hier letztes Jahr stattfand, auf diesen Streifen gepasst haben soll. Ich spreche eine Frau an, die mit ihrer Tochter die provisorische Brücke herunterkommt. Sie dreht sich um, blickt auf die leere Bucht und scheint fast überrascht, dass dort keine Haltestelle mehr ist. Sie weiß nichts über den Verbleib der Ambulantes. Ich steige selbst auf die Brücke und der Anblick der Haltestelle suggeriert, dass hier seit Jahren kein Mensch war. Zwischen den Platten wachsen die Kräuter bereits meterhoch und überall liegt Schutt. Während ich das hier an einem verlassenen Tortastand schreibe, kommen mehrere Leute vorbei und suchen ebenfalls nach der Haltestelle. […] Ein Mann sagt, sie sei eine Brücke weiter Richtung Pachuca umgezogen: Puente Morelos.« (Tagebucheintrag vom 1.11.2011 in San Cristóbal Ecatepec)
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Abbildung 15: Die Haltestelle »30-30« an der MEX-85D.
Foto: Kirschlager
Im Oktober60 2011 war die Haltestelle »30-30« unter die nächste Brücke verlegt worden und trug seitdem den Namen ebendieser Brücke »Puente Morelos«. Die neue Haltestelle 600 Meter weiter stadtauswärts machte einen ganz anderen Eindruck als die alte Haltestelle »30-30«. Neben Passagier/innen befanden sich nur noch Sicherheitspersonal, checadores und boleteros an der Haltestelle, die ganz offensichtlich sehr genau für das aktuelle Aufkommen an Bussen ausgelegt war. Sie war durch einen Zaun von der Autobahn getrennt und die Fahrgäste stiegen über »puertas« in die Busse. Jede »puerta« wurde von einem Sicherheitsmann oder einer Sicherheitsfrau bewacht. Anders als Busterminals wurde die Haltestelle »Puente Morelos« nicht von einer oder mehreren líneas betrieben, sondern von der Secretaría de Caminos y Puentes Federales (CAPUFE). Die Aufnäher auf den Schultern der Sicherheitskräfte wiesen sie als staatliche Angestellte aus, und ein Vertreter der CAPUFE, den Musiker und die anwesenden checadores »El Ramos« nannten, inspizierte die Abläufe an der Haltestelle regelmäßig (Gespräch mit dem checador »Jesús« an der Haltestelle »Puente Morelos« am 1.11.2011 und Jaímez, Rubén und de León, Endir 3.11.2011). Soweit die dort arbeitenden Angestellten der líneas und die Musiker informiert waren, stand hinter der Verlegung der Haltestelle zum einen die Absicht, geordnete und dem Busaufkommen angemessene Verhältnisse zu schaffen, und zum anderen der Versuch, die schlechte Sicherheitslage in den Griff zu bekommen (Gespräch mit dem checador »Jesús« an der Haltestelle »Puente Morelos« am 1.11.2011 und Jaímez, Rubén und de León, Endir 3.11.2011).
60 Andere Musiker erinnerten sich, die Verlegung habe bereits im März 2011 stattgefunden (Jaímez López, José David 8.3.2013) und (Calderón Ramírez, Marco Antonio 8.3.2013).
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Für die Musiker und die Händler/innen, die täglich die alte Haltestelle »30-30« genutzt hatten, brachte die Verlegung schwerwiegende Folgen mit sich. Während die Musiker an der neuen Haltestelle zunächst so weitermachten wie bisher, wiesen die Verantwortlichen der CAPUFE die Sicherheitskräfte an, keine Händler/innen mehr in den Bereich der Haltestelle »Puente Morelos« zu lassen. Es kam zu Protesten und einige der Händler/innen versuchten, mit rechtlichen Schritten gegen die Verdrängung durch die CAPUFE vorzugehen. Im Zuge dieser Auseinandersetzung fiel auch das Argument, dass zwar die Händler/innen vertrieben würden, Musiker aber bleiben dürften. Als Folge der Argumentation, so zumindest die Musiker, sei überhaupt erst die Aufmerksamkeit auf sie gefallen und ihnen plötzlich, genauso wie auch den Händler/innen, der Zutritt zur Haltestelle verwehrt worden: »Das Problem mit dem Beamten vom Verkehrsamt hatten erstmal die Händler. Dann sagten die Händler: ›Warum lässt du uns nicht, aber die Musiker schon?‹ Plötzlich sahen die Polizisten auch uns und vertrieben uns.« (Jaímez, José David 8.3.2013) Den Musikern wurde erklärt, sie störten den geordneten Verkehr der Haltestelle. Die CAPUFE warf ihnen vor, sie verursachten »desorden vial«, »Verkehrschaos« (Jaímez, Rubén und de León, Endir 3.11.2011). Nach der anfänglich sehr strikt durchgesetzten Verbannung der Musiker schöpften einige Zeit nach der Umlegung manche bereits wieder neue Hoffnung: »Aber ich sage dir, sie sehen uns jeden Tag, Tag für Tag dort vorbeifahren, und langsam aber sicher sagen sie uns nichts mehr. Schließlich hängen wir ja nicht an der Haltestelle rum.« (Jaímez, José David 8.3.2013) Zwar war vor allen Dingen das Sicherheitspersonal damit beauftragt, die Musiker von den Bussen fern zu halten, jedoch zeigten sich die so genannten »polis« in der Regel nachsichtig, wenn kein Vertreter der CAPUFE anwesend war: »Die Polizisten sagen: ›Da ist der vom CAPUFE. Du kannst jetzt nicht einsteigen! Geh besser weg!‹ Dann muss ich gehen.« (Jaímez, Rubén und de León, Endir 3.11.2011) Daher beschränkten sich ab 2011 viele Musiker auf Strecken zwischen der Hauptstadt und der neuen Haltestelle »Puente Morelos«, wo das Sicherheitspersonal eine Weiterfahrt Richtung Norden verhinderte. Die Haltestelle »30-30« beziehungsweise nun die neue Haltestelle »Puente Morelos« war der letzte Stopp auf einem Bündel der wichtigsten Hauptverkehrsadern, auf denen der Verkehr die Hauptstadt Richtung Norden verließ. Kurz hinter der Haltestelle »30-30« führte die MEX-85D nach Pachuca, während die MEX-132D nach Osten abzweigte und zu den Pyramiden führte. Nach Westen zweigte der Circuito Exterior Mexiquense ab, der den Fernverkehr Richtung Nord-Nord-West nach Querétaro lenkte. Aus der »Central de Autobuses del Norte« fuhren sehr viele rutas verschiedener líneas über dieses Bündel wichtiger Verkehrswege vorbei an den Haltestellen »Metro El Potrero«, »Indios Verdes« und »30-30« beziehungsweise »Puente Morelos«. Sie verbanden den Norden Mexiko-Stadts mit den benachbarten Bundesstaaten Estado de México, Hidalgo und Tlaxcala und einige fuhren bis an den östlichen Teil der Grenze zu den USA. Letztere rutas wurden in der Regel von Bussen des servicio de primera bedient. Überraschenderweise hielten diese Busse vor der Umlegung ebenfalls an der Haltestelle »30-30« und gewährten Händler/innen und, wenn auch selten, Musikern Zustieg. Über diese Verkehrsader fuhren auch sehr viele sehr kurze rutas, die den wachsenden Siedlungsring mit dem Zentrum der Hauptstadt verbanden. An der Haltestelle »Metro El Potrero« hielten hingegen ausschließlich Busse der línea Teotihuacanos. Vier verschiedene rutas, die jeweils stündlich fuhren, verließen
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in 15-Minuten-Abständen die »Central de Autobuses del Norte« und hielten 20 Minuten später in »Metro El Potrero«, um weitere Fahrgäste aufzunehmen. Allen vier rutas war gemeinsam, dass sie am Eingang zu den Pyramiden von Teotihuacán, die der línea ihren Namen gaben, stoppten. Für dieselbe línea fuhren viertelstündlich Busse eine deutlich kürzere ruta von Mexiko-Stadt in den nahe gelegenen Ort San Juan Teotihuacán, ohne dabei den Abstecher zum archäologischen Park zu machen. Diese Busse befanden sich in der Regel in schlechterem Zustand als die Fahrzeuge auf den vier anderen rutas. Sie wurden von den Musikern entsprechend ihrem Fahrtziel »San Juanes« genannt. Unter den Passagier/innen in den Bussen, die am Eingang des archäologischen Parks der Pyramiden von Teotihuacan hielten, befanden sich häufig ausländische Tourist/innen aus den USA, Kanada, Australien, Südkorea, Japan und Westeuropa. Sie gaben meist eine größere coperacha als mexikanische Reisende, was sie unter den Busmusikern zu einem beliebten Publikum machte (vgl. Jaímez, Rubén und de León, Endir 3.11.2011). Entsprechend den Öffnungszeiten des archäologischen Parks reisten die Tourist/innen von morgens 8 Uhr bis 12 Uhr in Richtung der Pyramiden und von 15 Uhr bis 19 Uhr in entgegen gesetzter Richtung zurück nach Mexiko-Stadt. Besonders zwischen 17 und 19 Uhr, wenn der archäologische Park schloss, füllten sich die Busse der línea Teotihuacanos in Richtung Mexiko-Stadt, so dass viele Fahrgäste die Reise dicht gedrängt und stehend im Gang zurücklegen mussten. Die mexikanischen Passagier/innen setzen sich hauptsächlich aus Pendler/innen zusammen, die aus kleineren Städten in Hidalgo und dem Estado de México in die Hauptstadt fuhren, um dort zu arbeiten oder zu studieren. Sie reisten regelmäßig, viele wöchentlich und einige sogar täglich in Überlandbussen. Auch wenn diese Busse nicht die Dynamiken des öffentlichen Nahverkehrs in Mexiko-Stadt besaßen, wirkte die Stimmung in den Überlandbussen rund um die Haltestelle »30-30« weniger entspannt als in den Bussen anderer Streckennetze. Viele Passagier/innen lasen oder arbeiteten an Unterlagen und auch die Bereitschaft, Interviewfragen ausführlich zu beantworten, war bei den Fahrgästen dieses Streckennetzes deutlich niedriger als in anderen. Von den vier Streckennetzen beherbergte das rund um die Haltestelle »30-30« – zumindest bis diese 2011 umgelegt wurde – die meisten Musiker. Ihre genaue Zahl ließ sich unmöglich ermitteln, da ein Großteil nicht täglich an der Haltestelle erschien. So spielten dort unregelmäßig viele Studenten der Musikhochschulen der Hauptstadt, um sich ihr Studium zu finanzieren. »Als ich mit Rubén und Endir in den Wartesaal des Terminals von San Juan Teotihuacán trete, wartet dort bereits José mit Pan-Flöte und Gitarre auf den nächsten Bus Richtung Mexiko-Stadt. Ansonsten ist der Wartesaal leer. Als Don Mario [der checador in San Juan] in den Raum kommt, ruft er laut ›Bei uns gibt es mehr Musiker als Passagiere!‹« (Tagebucheintrag vom 3.11.2011 in San Juan Teotihuacán)
Allerdings ließen sich gerade regelmäßige Anwesenheit der Musiker und die Zeit, die sie bereits im Streckennetz arbeiteten, einzelnen Einstiegsorten zuordnen. An der Haltestelle »Metro El Potrero« trafen sich täglich acht Musiker, die zu den ersten Musikern gehörten, die in diesem Streckennetz in Überlandbussen spielten. Die übrigen Musiker, die später hinzukamen oder unregelmäßig und selten spielten, stiegen an der Haltestelle »Metro Indios Verdes« in die Busse stadtauswärts. Der Grund für diese räumliche Aufteilung war, dass die etablierten Musiker, als die Zahl der músicos ambulantes
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im Streckennetz zunahm, ihr gutes Verhältnis zu den Busfahrern und anderen Angestellten der línea Teotihuacanos nutzten und die mit internationalen Tourist/innen gefüllten Busse für Neuankömmlinge sperrten.61 Das Streckennetz nordöstlich der Megametropole Mexiko-Stadt stellte extreme physische Ansprüche an die Busmusiker. Der Verkehr auf Höhe der Haltestellen »30-30« und »Puente Morelos« schob sich sechsspurig und oft nur im Schritttempo an den wartenden Musikern vorbei. Die Busse, von denen hunderte jeden Tag an der Haltestelle »30-30« und später in »Puente Morelos« hielten, verweilten häufig mehrere Minuten in der Haltebucht ohne ihre Motoren abzustellen. Dieser Abschnitt der Autobahn wurde zur Zeit meiner Feldforschung aufwendig umgestaltet und war daher von großflächigen Langzeitbaustellen geprägt, die ebenfalls Staub in die Luft wirbelten. Hinzu kam der Ausstoß der zahlreichen benachbarten Fabriken und Industrieanlagen. Die Musiker waren dieser enormen Luftverschmutzung und dem hohen Lärmpegel nicht nur während ihrer Performances in den Bussen, die häufig mit offenen Fenster fuhren, ausgesetzt, sondern auch wenn sie am Straßenrand warteten und am Einstieg der Busse die Fahrtziele ausriefen. Viele der Musiker hatten ihre Stimme bereits nachhaltig geschädigt und waren dauerhaft heiser. 4.4.1 »La Treinta«: »Eduardo«62 »Ein Gritón ruft laut: ›¡Otumba! ¡Ciudad Sahagún! ¡Calpulalpan!‹ als der Teotihuacanos-Bus einfährt. Don Lalo [›Eduardo‹] sieht Rubén und Endir hinterher und wirkt plötzlich etwas zerknirscht. Der Bus wird an den Pyramiden halten und hat wahrscheinlich ausländische Fahrgäste an Bord. ›Da sitzen Ausländer drin,‹ erklärt er, ›das ist der Calpulalpan. Deshalb steigen die anderen da jetzt ein.‹ Ein älterer Musiker geht ebenfalls zum Einstieg des Busses, der mittlerweile in der Haltebucht zum Stehen gekommen ist: ›Der Dicke arbeit auch nur in diesen Bussen,‹ knurrt Don Lalo, ›El Barnie. Der ist auch von drüben, von El Potrero. Dort sind sie sechs oder sieben.‹ Jemand wiederholt die Stationen des Busses: ›¡Otumba! ¡Ciudad Sahagún! ¡Calpulalpan!‹ ›Sie nehmen sich diese Busse.‹ Jedoch fügt er verschwörerisch hinzu: ›Aber wir krallen uns diese Busse, wenn keiner von ihnen da ist. Dann steigen wir ein.‹« (Tagebucheintrag vom 7.10.2010 in 30-30 San Cristóbal, Ecatepec, Estado de México)
2010 war »Eduardo«, der mir als »Don Lalo« vorgestellt wurde, 56 Jahre alt. Seine Eltern waren aus der Provinz in die Hauptstadt gekommen, wo »Eduardo« geboren wurde und aufwuchs. Er heiratete spät mit 35 Jahren, verließ das Stadtzentrum und zog mit seiner Frau nach Ecatepec. Nun hatte er drei Kinder im Schulalter. »Eduardos« Kleidung war weniger derbe als die der meisten anderen Musiker an der Haltestelle »30-30« und er hatte überhaupt ein sehr gepflegtes Äußeres. Allerdings trug auch er,
61 Zu der Vergabe der so genannten »turnos« an der Haltestelle »Metro El Potrero« vgl. Kapitel 5.3. 62 Neben »Eduardo« führte ich weitere Interviews und Gespräche mit nicht etablierten Musikern an der Haltestelle »30-30«, die auf den gleichen Strecken wie »Eduardo« performten. Zu diesen gehörten »Manuel« und »Alan«, die wie »Eduardo« Rock- und Pop-Klassiker der 1960er Jahre interpretierten, den huapango-Musikern »José Luis« und »Ismael« und »José«, der hauptsächlich música andina spielte.
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wie die meisten Männer an der »30-30«, eine Baseballkappe, um sich gegen die Sonne zu schützen. Bei den anderen Musikern hatte »Eduardo« den Spitznamen »El Duranguense«. Dabei handelte es sich um keine Referenz an den Bundesstaat oder seine vermeintliche Herkunft. »Eduardo« konnte ein Bein nicht bewegen. Er humpelte recht auffällig und erinnerte die Erfinder seines Spitznamens an die typische Tanzbewegung des banda-Stils »Duranguense« (Gespräch mit Endir de León am 3.11.2011). »Eduardo« schien es wichtig, dass er vor seinem Einstieg als Busmusiker in vollkommen anderen Berufen, »trabajos importantes«, »wichtigen Jobs«, wie er betonte, gearbeitet hatte und dort auf Grund seines Alters entlassen worden war (»Eduardo« 7.10.2010). Auf diese Weise verlor er eine Stelle als Personalchef im Werk eines großen Getränkeherstellers und einen Posten als Bankangestellter. Er beklagte sich, seine Nachbarn in Ecatepec wüssten nicht, dass er einmal diese Posten innehatte, und sie interessiere es auch nicht, weil sie ihn längst als »cantante de camiones«, »Sänger in Bussen« abgeschrieben hätten. »Eduardo« legte auch Wert auf seine musikalische Ausbildung, die ihn sogar als Musiklehrer qualifiziere. Bereits als Kind und als Jugendlicher lernte »Eduardo« in seiner Familie, Gitarre zu spielen und Noten zu lesen, aber erst seine Arbeitslosigkeit brachte ihn zu dem Entschluss, mit diesen Fähigkeiten sein Geld zu verdienen: »Ich habe in der Familie Musik gelernt. Sie begannen mich zu unterrichten, als ich 13 Jahre alt war. Ich kann Noten lesen. Ich gebe im Moment sogar Unterricht. Das alles nutze ich als Mittel, um Essen auf den Tisch zu kriegen. […] Deshalb singe ich in Bussen. In meinem Fall lohnt es sich. Ich kriege meine Kosten rein. Neben mir gibt es vier Personen in meiner Familie. Und ich habe alle [Kinder] in die Schule geschickt. Es geht uns ganz gut.« (»Eduardo« 7.10.2010)
»30-30« als Sammelbecken für verdrängte Musiker Die meisten Musiker, die wie »Eduardo« in den letzten Jahren an die Haltestelle »30-30« kamen, hatten bereits zuvor Musik in öffentlichen Verkehrsmitteln gemacht. Einige spielten zunächst an anderen Ausfahrtsstraßen aus der Hauptstadt – zum Beispiel im Osten an der »Salida a Puebla« oder im Westen Richtung Toluca – und litten dort unter der geringen Zahl an Bussen, die ihnen Zustieg gewährten. Andere hatten ihr Glück zunächst in der Metro versucht und waren an den Strukturen dort etablierter Musiker/innen und Händler/innen gescheitert. »Eduardo« hatte viele Jahre in peseros und Stadtbussen im Zentrum Mexiko-Stadts gespielt, bis der Metrobús eingeführt wurde: »Wir haben alle zuerst in Mexiko-Stadt gespielt, aber die Pläne der Regierung hatten zur Folge, dass wir umzogen. […] Ich war auf der Avenida Insurgentes unterwegs und verdiente dort ordentlich. Dort kam ich jeden Tag auf 500 Peso. Dann führten sie den Metrobús ein […] und die Firmenpolitik lautet: Kein Verkäufer, kein Sänger, nichts dergleichen, das die Passagiere stören könnte – das sind ihre Worte. Ein paar sind zur Avenida Xola gegangen – da gibt es jetzt auch Metrobús. Wer weiß, wo die als nächstes hingehen. In unserem Job gibt es viel Egoismus, denn eigentlich sollten wir uns gegenseitig helfen, aber […] wenn ich die Leute von der Insurgentes alle mitbringen würde, wären wir hier noch 20 Musiker mehr. Hier [an der Haltestelle »30-30«] gibt es Leute, die spielen seit vielen Jahren hier. Die alle kämpfen um ihr Stück vom Kuchen.« (»Eduardo« 7.10.2010)
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Wie »Eduardo« in diesem Zitat bemerkte, fanden die Musiker, die nahe der Haltestelle »30-30« neue Räume für ihre Auftritte suchten, keinesfalls unbewirtschaftetes Neuland vor. Auch dort gab es etablierte Musiker, die ihrerseits Interesse daran hatten, den Strom neuer Musiker von ihren Strecken fernzuhalten. Bereits seit Mitte der 1990er Jahre war der Zustieg zu den Bussen der línea Teotihuacanos, die ausländische Tourist/innen beförderten, ein Privileg einer relativ kleinen Gruppe, die die erste Haltestelle dieser Busse nach ihrer Ausfahrt aus der »Central de Autobuses del Norte« kontrollierte. 2010 spielte »Eduardo« von der weiter nördlich liegenden Haltestelle »Metro Indios Verdes« bis zur Haltestelle »30-30« und von der Haltestelle stadtauswärts auf zwei rutas der línea Teotihuacanos, die nicht an den Pyramiden Halt machten. Gelegentlich nutzte er die Abwesenheit von Mitgliedern der anderen Gruppe und stieg in die Busse der línea Teotihuacanos mit Halt an den Pyramiden: »Manchmal geht ihnen ein Bus mit Touristen durchs Netz. Dann steigen wir hier ein und es läuft gut für uns.« (»Eduardo« 7.10.2010) Er machte sich wenige Hoffnungen, jemals an der Haltestelle »Metro El Potrero« Fuß zu fassen, und beklagte die Blockadestrategie der etablierten Musiker. Seine einzige Möglichkeit sei es, sich mit einem etablierten Musiker als dueto zusammenzuschließen. Jedoch lohne es nicht, in die Busse der línea Teotihuacanos zu steigen, um hinterher sein Geld mit einem dueto-Partner zu teilen: »Es rechnet sich nicht.« (»Eduardo« 7.10.2010) Wie »Eduardo« schätzten auch die übrigen Musiker an der Haltestelle »30-30« ihre Chancen, turnos an der Haltestelle »Metro El Potrero« zu erhalten, als äußerst gering ein. »Eduardos« Repertoire, Arbeitszeit und Einkommen Die Trennung der Musiker des Streckennetzes rund um die alte Haltestelle »30-30« manifestierte sich allerdings nicht nur in den Bussen, zu denen sie Zugang hatten, sondern auch im Repertoire, auf das sie zurückgriffen. »Eduardo« spielte, wie viele Musiker an der Haltestelle »30-30«, vor allen Dingen Rock- und Pop-Stücke der 1960er Jahre, die in Mexiko Erfolg hatten. Dabei sang er gelegentlich auf Spanisch, jedoch bestand der Großteil seines Repertoires aus Stücken mit englischen Texten. »Eduardo« empfand sich selbst als Pionier des Rock’n’Roll in Mexiko-Stadts öffentlichem Nahverkehr: »Als ich nach Mexiko-Stadt kam, spielte das niemand, das was ich spiele. Niemand!« (»Eduardo« 7.10.2010) Er hatte sich bewusst spezialisiert. Wie alle Musiker, die über keinen turno an der Haltestelle »Metro El Potrero« verfügten, sah er sich häufig mit dem Problem konfrontiert, dass er an der Haltestelle »30-30« in stadtauswärts fahrende Busse stieg, die gerade erst von einem anderen Musiker verlassen wurden. Dank seines spezifischen Repertoires, so »Eduardo«, müsse es sich dabei jedoch keinesfalls um einen Nachteil handeln. Sein Erfolg an Bord des Busses sei vielmehr davon abhängig, welches Genre sein Vorgänger bedient habe und ob er dem Publikum etwas Neues bieten könne: »Du merkst, dass es dir Möglichkeiten eröffnet. Wenn gerade jemand aussteigt, der gespielt hat, und ich steige ein, um Rock zu spielen, habe ich eine Chance. Wenn er Boleros gespielt hat und ich spiele Rock, habe ich eine Chance. Wenn ich auch Boleros spielen würde: Was hätte ich für eine Chance?« (»Eduardo« 7.10.2010) Anders als die übrigen Busmusiker, die im Interview erklärten, ein breit gefächertes Repertoire aus verschiedenen Genres ermögliche es, jedem Publikum eine geeignete Performance zu bieten, vertrat »Eduardo« die Auffassung, dass es notwendig sei, sich zu spezialisieren. Er sah jene Musiker im Vorteil, die Nischen fanden und diese bedienten, um den Passagier/innen Neues zu bieten: »Ich spiele
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Twist, andere spielen Sampoñas – das sind so Flöten. […] Die haben auch gute Chancen. […] Es gibt die, die alles spielen, und die haben am meisten zu kämpfen. Aber das sind meistens die jüngsten.« (»Eduardo« 7.10.2010) Besondere Anlässe führten allerdings dazu, dass »Eduardo« sein Stammrepertoire um Stücke anderer Genres erweiterte: »Jetzt zum 200-jährigen Jubiläum der Unabhängigkeit spielte ich mein Zeug. Am Ende [der Performance] sah ich mehrere Ausländer: ›Denen spiele ich etwas traditionelles aus Mexiko, was von unserem Vaterland erzählt: Qué bonita es mi tierra!‹« (»Eduardo« 7.10.2010) »Eduardo« begann seine Arbeit morgens um acht an der Haltestelle »30-30«. Er fuhr mit den Bussen der línea Teotihuacanos nach San Juan, um auf dem Rückweg in den mit Pendler/innen vollbesetzten Bussen Richtung Hauptstadt aufzutreten: »Morgens in den mexikanischen Bussen – deshalb komme ich schon um 8 Uhr – denn in den ersten zwei Bussen Richtung Stadt kann man leicht 50 Peso pro Bus machen. Später in den Bussen mit Ausländern gibt es schon mal einen 50-Peso-Schein oder eine 10-Peso-Münze, die ich auch gerne nehme.« (»Eduardo« 7.10.2010) Ab Mittag versuchte er, in einige Busse mit Tourist/innen auf dem Rückweg vom archäologischen Park zu gelangen. In der Regel spielte er bis 2 Uhr mittags und niemals länger als bis halb vier, da er nachmittags eine kleine private Musikschule betrieb. Beide Beschäftigungen schränkten seine Freizeit empfindlich ein: »Im Moment arbeite ich bis 2 oder 3 Uhr und um 4 Uhr öffne ich meinen kleinen Laden, wo ich Musikunterricht gebe. Da schließe ich um 9 Uhr abends. Dann gehe ich schlafen. Am nächsten Tag um 7 Uhr heißt es aufstehen, damit ich um 8 Uhr wieder hier stehen kann.« (»Eduardo« 7.10.2010) Täglich spielte er meistens in zehn Bussen und nahm dabei an guten Tagen 400 Peso und an schlechten Tagen weniger als 200 Peso ein. Als die Haltestelle von »30-30« nach »Puente Morelos« verlegt wurde, war »Eduardo« stärker von der Verbannung betroffen als die etablierten Musiker mit Einstieg an der Haltestelle »Metro El Potrero«. Während es weiterhin möglich war, stadteinwärts in Busse zu steigen, war es den Musikern verboten sich an der Haltestelle in nördlicher Richtung aufzuhalten, um auf Busse zu warten. »Eduardo« hatte somit keinen Zutritt mehr zu den Bussen der línea Teotihuacanos nach San Juan. Wie die meisten Musiker, die über keinen turno an der Haltestelle »Metro El Potrero« verfügten, verschwand auch »Eduardo« 2011 aus dem Streckennetz. 4.4.2 Die Pioniere der Teotihuacanos: José David Jaímez und Marco Antonio »El Barnie« Calderón José David Jaímez López war, als ich ihn 2013 traf, 44 Jahre alt und hatte sich für die Beerdigung seines Vaters gerade seine langen Haare, ein Relikt aus seiner roquero-Jugend, abschneiden lassen. Er trug einen getrimmten Vollbart und war zurückhaltend und höflich. Seinen Kopf bedeckte, wie die Köpfe fast aller Musiker im Streckennetz »Paradero 30-30«, immer eine Baseballkappe gegen die Sonne. Seine schwarze Steppweste verriet, dass er bereits früh morgens spielte, wenn es an der Autobahn nördlich der Hauptstadt noch empfindlich kühl war. Jeden Morgen kam er aus dem municipio Tecámac im Estado de México, wo er mit seiner Frau und ihren sieben Kindern in einem einfachen Zwei-Zimmer-Haus wohnte.
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Marco Antonio Calderón trug Bundfaltenhosen, Polohemden und häufig eine Zigarette hinter seinem Ohr. Sein fülliger Oberkörper und die in den bulligen Hosen kurz scheinenden Beine hatten ihm unter den anderen Musikern den Spitznamen »El Barnie« eingebracht, da er sie an den bekannten lila Dinosaurier aus dem Kinderfernsehen erinnerte (Gespräch mit »Eduardo« am 7.10.2010). Marco Antonio Calderón war 2013 41 Jahre alt, aber spielte bereits seit über 30 Jahren in Überlandbussen und im öffentlichen Nahverkehr. Sowohl José David Jaímez als auch Marco Antonio Calderón wurden nicht in Mexiko-Stadt geboren. José David Jaímez zog als Kind mit seinen Eltern aus Cuetzalan in der Sierra von Puebla in die Hauptstadt und Marco Antonio Calderón kam mit seinen Eltern aus Jalisco. Arbeitslosigkeit und die Hoffnung auf ein besseres Leben trieben ihre Familien vom Land in die Stadt. Beide Musiker hatten ebenfalls gemeinsam, dass keiner ihrer Eltern als Musiker arbeitete und sie außerhalb der Familie musikalisch ausgebildet wurden. Was jedoch nicht bedeutete, dass ihre Eltern und deren Herkunft keinen Einfluss auf ihre musikalischen Vorlieben gehabt hätten. José David Jaímez, der als Teenager von einem Freund lernte, Gitarre zu spielen, erinnerte sich, dass ihn sein Vater prägte: »Mein Vater sang gerne. […] Ich erinnere mich, dass er sich eine Gitarre kaufte. Aber ich kann mich nicht erinnern, ihn einmal spielen gesehen zu haben. Aber von ihm habe ich meine Liebe zum Huapango.« (Jaímez, José David 8.3.2013) Marco Antonio Calderón wurde früh von seinem Vater in einer estudiantina63 untergebracht, mit der er auf den jährlichen fiestas patronales des Dorfes in Jalisco, das die Familie zuvor Richtung Mexiko-Stadt verlassen hatte, spielen musste: »Ich war sieben oder acht Jahre alt. Das war ’79 oder ’80, dass ich Gitarre lernte, um auf den Fiestas in unserem Dorf aufzutreten.« (Calderón, Marco Antonio 8.3.2013) Marco Antonio spielte allerdings nicht nur auf der fiesta im Dorf in Jalisco, sondern begann bereits als Kind, in den Bussen der Hauptstadt aufzutreten. Obwohl Geld der wichtigste Anreiz war, diesen Schritt zu wagen, handelte es sich für ihn vielmehr um ein außerordentliches Taschengeld als um finanzielle Notwendigkeit. Er schlich sich aus dem Haus seiner Eltern, um in den urbanos entlang der »Ruta 100« zu spielen, und verheimlichte seine neue Beschäftigung so lange wie möglich: »So um ’82 oder ’81 büchste ich heimlich aus. […] Mein Vater brachte mich immer mit der Ruta 100 in Mexiko-Stadt zur Estudiantina. […] Im Bus gab es Leute, die einstiegen und sangen. Ich sah, dass sie Geld bekamen. Ich sagte mir: ›Mensch, Geld will ich auch!‹ Ich war ein kleiner Junge, vielleicht 10 Jahre alt. […] Also haute ich mit meiner Gitarre ab. Am ersten Tag haute ich ab und kam mit Geld zurück. Ich ging mit meinen Brüdern zum Markt. Ich kaufte ihnen Plastiksoldaten, Chips, Bonbons und Limo. Als meine Mutter, die damals arbeitete, nach Hause kam, sah sie die ganzen Chipstüten, und fragte: ›Wer hat euch die denn geschenkt?‹ Die anderen sagten: ›Mein Bruder!‹ Am nächsten Morgen nach dem Aufstehen fragte mich meine Mutter: ›Hey!‹ – ›Es war so, dass ich nach der Schule im Einkaufszentrum Geld gefunden habe.‹ Das sagte ich zu meiner Mutter, damit sie nicht mit uns schimpfte. Aber am nächsten Tag fand ich wieder Geld, um am folgenden Tag… Dann zog die Geschichte nicht mehr! [lacht]« (Calderón, Marco Antonio 8.3.2013) 63 Ensemble meist junger Musiker mit Saiteninstrumenten. Charakteristischer als das oft sehr gemischte Repertoire der estudiantinas waren ihre Kostüme bestehend auf samtenden Kniebundhosen, Scherpen und Umhängen.
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Bis Ende der achtziger Jahre spielte Marco Antonio Calderón auf der Avenida Central in den urbanos der »Ruta 100« zwischen dem Estado de México und dem Distrito Federal, bevor er am nördlichen Stadtrand in die Überlandbusse stieg. Abbildung 16: José David Jaímez in Bus der línea Teotihuacanos.
Foto: Kirschlager
José David Jaímez fing deutlich später an, in Bussen zu spielen, als ihn eine finanzielle Notlage dazu zwang. 1986 schwängerte er direkt nach seinem Abschluss der secundaria seine Freundin und begann in einer Fabrik zu arbeiten. Jedoch reichte sein schmales Gehalt nicht, um die junge Familie zu ernähren, weshalb der Junge nebenbei in Bussen spielte. Da er dort ungleich mehr verdiente, dauerte es nicht lange, bis er seine Arbeit in der Fabrik aufgab, um sich ausschließlich der Musik in Bussen zu widmen. (Jaímez, José David 8.3.2013) Dennoch musste der damals 18-jährige José David Jaímez einige Hindernisse überwinden und teils schmerzhafte Kompromisse eingehen. So setzte sich sein gesamtes Repertoire aus Rockstücken zusammen. Vielmehr als nur ein musikalisches Genre war der rock urbano für ihn ein Lifestyle, nach dem er lebte und sich kleidete, bis er sich von einem Freund belehren ließ, er könne in den Bussen mehr Erfolg haben, wenn er sein rebellisches Auftreten ablege: »Ich fing mit Rock Urbano an. Ich hatte auch eine Rockermentalität: In diesem Alter war ich Bandenmitgleid, ich war böse… […] Dann sagte mir ein Freund: ›Sieh mal! Bedauerlicherweise behandeln die Leute dich so, wie sie dich wahrnehmen. Warum singst du nicht dieses oder jenes Lied? Ich fing an Balladen zu singen und sah, dass das tatsächlich viel besser funktionierte.« (Jaímez, José David 8.3.2013)
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Während er sein Verhalten, seine Erscheinung und seine Performance an die Ansprüche in den Bussen anpasste, spielte er auf verschiedenen Strecken in der Stadt und um die Stadt herum. Er verließ auch gelegentlich den Distrito Federal, um längere Touren zu unternehmen, und gelangte bis ins 500 km entfernte Guadalajara: »Die ersten drei Jahre zog ich wild umher. Einmal fuhr ich singend bis nach Guadalajara. […] Damals gab es noch nicht so viele Probleme mit Inspekteuren und diesen Dingen. Die Leute waren noch nicht so misstrauisch.« (Jaímez, José David 8.3.2013) Die Musiker um José David Jaímez erschließen die Busse der línea Teotihuacanos Auf seinen Reisen war José David Jaímez immer auf der Suche nach den finanziell effizientesten Strecken. So gelangte er in den Norden von Mexiko-Stadt, wo er auf Marco Antonio Calderón traf. Gemeinsam mit einigen anderen Musikern entdeckten sie die Busse der línea Teotihuacanos, die zu dieser Zeit nahezu exklusiv Touristengruppen zu den Pyramiden von Teotihuacán im Estado de México beförderten: »Du merkst schnell, wo es ein bisschen besser läuft. Zum Beispiel, als wir hier ankamen. Wir fingen am Supermarkt von Indios Verdes an.[64] So um ’90 oder ’89 rum. Damals saßen da nur Touristengruppen drin. Jeden Tag von Montag bis Sonntag nichts als Touristen in diesen Bussen.« (Jaímez, José David 8.3.2013)
Zu Beginn verweigerten jedoch die Fahrer den Musikern den Zutritt zu ihren Bussen. Die Busfahrer kannten sie nicht und einige von ihnen argumentierten, dass die ausländischen Passagier/innen mit der Musik der Busmusiker nichts anfangen könnten: »Es geht um das Vertrauen der Busfahrer. […] Die kennen alle Straßenkünstler [Arbeiter der Straße] genau, Alter! Und plötzlich tauchst du auf! Was geht, Alter! Wir waren Kids! Wir waren Kids und die sagten uns: ›Was wollen Sänger hier im Bus, wenn niemand ein Wort, das sie singen, versteht?‹« (Jaímez, José David 8.3.2013)
Die Aussicht auf die coperacha der ausländischen Tourist/innen war allerdings so viel versprechend, dass die Musiker hartnäckig blieben und schließlich für ihre Ausdauer belohnt wurden. Sie kamen in Kontakt mit einem der Busfahrer, der sie zunächst für private Zwecke buchte: »Erst später machten wir uns einen Fahrer zum Freund, den sie ›El Satánico‹ nennen, […] einen von diesen Frauenhelden. ›Steigt ein!‹ Aber dann fuhren wir und brachten einem Mädchen ein Ständchen. Egal ob in Texcoco, in San Martín de las Pirámides, in San Juan, in Calpulalpan, in Cuautepéc… der Typ hatte überall Freundinnen!« (Jaímez, José David 8.3.2013) »El Satánico« fuhr die jungen Musiker durch das gesamte Netz der línea Teotihuacanos, um sich mit ihnen vor den Häusern seiner Liebhaberinnen zu präsentieren. Dabei begegneten sie anderen Busfahrern, deren Vertrauen mit jedem Mal, dass sie die Musiker mit ihrem Kollegen sahen,
64 Damals hielten diese Busse nicht, wie zur Zeit meiner Feldforschung, an der Haltestelle »Metro El Potrero«, sondern zwei Metrostationen weiter entlang der Avenida Insurgentes Norte in Indios Verdes an der Grenze des Distrito Federal zum Estado de México.
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wuchs: »Wie die anderen Busfahrer sahen, dass wir überall mit ihm hinfuhren, begannen sie uns zu vertrauen, […] Plötzlich sahen uns die Fahrer und ließen uns zusteigen.« (Jaímez, José David 8.3.2013) Ihre Bekanntschaft mit den Busfahrern öffnete ihnen die Türen zur Mehrzahl der Busse der línea Teotihuacanos. Die anfänglichen Bedenken der Busfahrer, den Tourist/innen könnte die Musik nicht gefallen, stellten sich als haltlos heraus, und die Musiker konnten ihre Einnahmen im Verhältnis zu anderen Strecken vervielfachen. In den ersten Jahren ließ sich so viel Geld in diesen Bussen verdienen, dass José David Jaímez nicht allein, sondern mit einer Gruppe aus fünf Musikern in den Bussen auftrat: »Gut, damals rechnete man in Tausendern. Du stiegst mit 100.000, 150.000, mit 200.000 Peso aus einem Bus.[65] [...] Wir stiegen zu fünft ein. [lacht] Fünf Musiker in einem Überlandbus! [...] Und für alle war es genug!« (Jaímez, José David 8.3.2013) Marco Antonio Calderón erinnerte sich, dass die Musiker zu dieser Zeit neben großen Summen mexikanischer Peso auch allerhand ausländische Währungen sammelten: »Es gab eine Zeit, […] als du täglich 20, 25 Dollar nach Hause brachtest, plus die Einnahmen in mexikanischer Währung.« (Calderón, Marco Antonio 8.3.2013) Mitte der 1990er Jahre begann sich die Situation der Musiker an der Haltestelle »Metro Indios Verdes« zu verschlechtern. Nach der plötzlichen Abwertung des Peso in Folge der Wirtschaftskrise im Dezember 1994, tauchten immer mehr Musiker an der Haltestelle auf. Die Konkurrenz wurde größer und die Wartezeiten zwischen Auftritten länger (Jaímez, José David 8.3.2013) Die alteingesessenen Musiker um José David Jaímez und Marco Antonio Calderón sahen sich gezwungen, turnos zu organisieren und die Anzahl neuer Musiker auf ihren Strecken zu begrenzen. Neue Musiker durften seitdem die ersten zwei Jahre an der Haltestelle nur in den Bussen der línea Teotihuacanos nach San Juan spielen, die im Gegensatz zu den Langstreckenbussen der línea nicht an den Pyramiden Halt machten und entsprechend keine Tourist/innen beförderten: »Das war eine Regel, die wir für die Neuankömmlinge einführten: Zwei Jahre im ›San Juan‹, dann bekamen sie einen ›Turno‹ im ›Apan‹, der die Touristen beförderte.« (Jaímez, José David 8.3.2013) Diese Regelung setzten die Musiker mit turno, dank ihrer Organisation untereinander und ihres guten Verhältnisses zu den Busfahrern durch. Strecken und Arbeitszeiten Der Fluss ausländischer Tourist/innen war jedoch nicht nur auf bestimmte Busse der línea Teotihuacanos beschränkt, sondern auch auf ein Zeitfenster, das sich nach den Öffnungszeiten der archäologischen Stätte richtete. Daher spielten José David Jaímez und Marco Antonio Calderón ab 8 Uhr morgens und, je nachdem wie der Tag finanziell für sie lief, bis 14 Uhr oder 15 Uhr. Auf den Strom der zurückreisenden Tourist/innen verzichteten sie in der Regel, denn auf dem Hinweg gäben diese sich generöser, als am späten Nachmittag, wenn sie müde zurück nach Mexiko-Stadt fuhren: »Der Tourist 65 José David Jaímez Aussage bezog sich auf den Wert des Pesos vor der Währungsreform 1992, als der alte Mexikanische Peso (MXP) im Verhältnis 1.000:1 gegen den neuen Mexikanischen Peso (MXN) eingetauscht wurde. Die Zahlen die José David Jaímez nennt, lassen sich jedoch nicht problemlos in diesem Verhältnis auf den heutigen Peso umrechnen, da dieser zwei Jahre nach der Umstellung in der so genannten »Tequila-Krise« 1994 innerhalb weniger Tage über die Hälfte seines Wertes verlor.
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kommt frisch und entspannt und […] so geben sie dir Zehner und manche geben dir noch immer Dollar.« (Jaimes López, José David 8.3.2013) Bis die Haltestelle »30-30« unter die Puente Morelos verlegt wurde, spielten José David Jaímez und Marco Antonio Calderón in jeweils zwei Bussen in jeder Richtung und fuhren von der Haltestelle »30-30« weiter Richtung San Juan Teotihuacán, wo sie an einer Mautstelle die Fahrbahnseite wechselten und wieder über die Haltestelle »30-30« zurück nach Mexiko-Stadt fuhren. Diese Routine mussten die Musiker aufgeben, da die línea den Busfahrern untersagte, zwischen der neuen Haltestelle »Puente Morelos« und dem Terminal in San Juan Teotihuacán zu stoppen.66 2013 spielten die beiden Musiker, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ausschließlich auf der Strecke zwischen der Haltestelle »Metro El Potrero« und der neuen Haltestelle »Puente Morelos«, wo sie die Autobahn überquerten und in umgekehrter Richtung stadteinwärts fuhren. Zurück an der Haltestelle »Metro El Potrero« gelangten sie durch den Tunnel der Metrostation wieder an ihren Ausgangspunkt an der Avenida Insurgentes Richtung Norden. In Richtung der Pyramiden spielten sie in den Überlandbussen der línea Teotihuacanos. Doch in entgegen gesetzter Richtung hielten diese Busse aufgrund der gestiegenen Sicherheitsvorkehrungen nicht mehr an der Haltestelle »Puente Morelos«. Daher spielten José David Jaímez und Marco Antonio Calderón auf der Rückfahrt in den häufig etwas kleineren Bussen, die aus dem Estado de México oder Hidalgo in die Hauptstadt fuhren und hauptsächlich Berufspendler/innen und Bewohner/innen aus dem Umland transportierten. Die einfache Runde von der Haltestelle »Metro El Potrero« bis zur Haltestelle »Puente Morelos« und zurück dauerte mit Umsteige- und Wartezeiten etwa eine Stunde. So spielen die beiden in jeweils zehn oder zwölf Bussen täglich. »Es ist 10 Uhr morgens als David mit mir an der U-Bahn-Station El Portrero in den Teotihuacanos Bus Richtung Apan, Hidalgo steigt. Vorne rechts sitzen zwei Koreanerinnen und auf dem Weg in den hinteren Teil des Busses komme ich an einigen weiteren Touristen und Touristinnen vorbei, bis ich mich auf einen leeren Sitz schräg vor zwei junge US-Amerikaner setze. Der Rest der Passagiere setzt sich aus Mexikanern und Mexikanerinnen zusammen und der Bus ist gut besetzt. Während David einige Minuten beim Fahrer verweilt, unterhält einer der beiden US-amerikanischen Touristen seinen Begleiter mit Anekdoten vergangener Reisen nach Argentinien und Chile. Als David sich in der Mitte des Ganges gegen die Rückenlehne eines Sitzes stemmt und ohne weitere Einleitung den Bolero ›Quizas, quizas, quizas‹ anstimmt, unterbricht der Tourist seine Erzählung, singt den Refrain leise mit und wippt mit dem Fuß. Vielleicht freut er sich, dass er seinem Begleiter unter Beweis stellen kann, wie bewandert er in der lokalen Musik ist. Der Bus fährt auf die Autobahn und David beginnt ›La Malagüeña‹ zu spielen. Er spielt das Stück sehr getragen und langsam und hält die hohen Falsettpassagen gegen den Fahrwind aus den offenen Fenstern. Währenddessen dösen die meisten der mexikanischen Passagiere vor sich hin. Einige spielen auf ihren Mobiltelefonen oder blicken aus dem Fenster auf das graue Betonmeer von Ecatepec. Auch der junge Tourist ist wieder zu seinen Reiseabenteuern zurückgekehrt. David spielt das schnelle, kurze ›¿Quién será?‹ und einen Bolero, bevor er zu seinem Text für die Coperacha übergeht: ›Wie geht’s, Freunde? Habt alle einen schönen Tag! Ich hoffe, die Lieder haben euch gefallen. Ich erbitte eine finanzielle Unterstützung, um meine Kosten zu 66 Grund für diese neue Politik war den Musikern zufolge die bedrohlich gestiegene Zahl an bewaffneten Überfällen auf diesem Abschnitt vgl. Kapitel 5.4.
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decken. Falls ihr mir mit etwas helfen könnt, sei es euch gedankt. Vielen Dank für eure nette Aufmerksamkeit!‹ Danach geht er den Gang zunächst nach hinten und dann wieder zurück zum Fahrer, dabei schwenkt er seine offene Hand von der rechten Seite des Ganges zur linken und fragt an jeder Sitzbank: ›Möchten Sie etwas beitragen?‹ Etwa an jeder zweiten Sitzbank lassen Passagiere Münzen in seine Hand fallen. Bei den beiden jungen Touristen gibt es zehn Peso. Wieder vorne beim Fahrer angekommen, winkt er mir bereits zu, da der Bus in Puente Morelos angekommen ist.« (Tagebucheintrag vom 8.3.2013 in Teotihuacanos zwischen Metro El Potrero und Puente Morelos)
Musik außerhalb von Bussen und Repertoire Abends spielten beide Musiker, wenn es möglich war, contratos auf privaten Feiern. Marco Antonio Calderón arbeitete entweder als Bassist in einer größeren Combo oder sang als Alleinunterhalter zum Playback. José David Jaímez formte gemeinsam mit seinem Sohn Rubén und einem compadre ein Trio, das hauptsächlich boleros interpretierte. Dieses Trio spielte auch mehrere Monate in einem Ausflugsrestaurant nahe den Pyramiden, in dem ausländische Reisegruppen verkehrten. José David Jaímez vermisste dieses Engagement sehr, denn es handelte sich nicht nur um den ertragreichsten Job, den er jemals hatte, auch wurde den drei Musikern mehr Anerkennung zuteil, als sie es aus den Überlandbussen gewohnt waren: »Ich vermisse das Restaurant sehr, denn dort hieß vom Anfang unseres Auftritts bis zum Abgang: Foto, Foto und Foto und Foto und Foto und Foto und Foto. Die Leute kamen und gaben. Einmal steckten sie Rubén einen 100-Dollar-Schein zu!« (Jaímez, José David 8.3.2013) Während des Engagements im Ausflugsrestaurant lernte José David Jaímez auch wertvolle Lektionen über sein internationales Publikum in den Bussen der línea Teotihuacanos. Anders als die Busmusiker in anderen Streckennetzen, die in der Regel sämtliche Ostasiat/innen als »chinos/as« und alle Europäer/innen als »gringos/as« bezeichneten, wusste José David Jaímez nicht nur zu unterscheiden, ob er gerade vor Japanerinnen oder Koreanerinnen, Deutschen oder Holländern spielte, sondern zog aus seinen Beobachtungen auch Schlüsse auf ihre musikalischen Vorlieben und ihr Spendenverhalten: »Deine Landsleute [Deutsche] sind zum Beispiel – keine Ahnung – ein bisschen konservativ. Wenn beispielsweise Mexicas[67] im Restaurant auftraten und zu trommeln begannen… Vergiss es! Die wurden richtig sauer. Sie hielten sich die Ohren zu, sie sagten den Kellnern, dass er ihnen sagen solle, sie sollen leiser spielen. […] Die Südamerikaner stehen hingegen auf Action. Und, ich sag’s dir, die Japaner sind am ausgelassensten!« (Jaímez, José David 8.3.2013)
Besonders japanische Tourist/innen hätten, laut José David Jaímez, bereits ein vorgefertigtes Bild mexikanischer Musik, dass sie auf ihrer Reise bestätigt wissen wollten. Mit Chines/innen hatte José David Jaímez die Erfahrung gemacht, dass sie grundsätzlich keine coperacha gaben, weshalb er für chinesische Reisegruppen im Restaurant nur Stücke zu einem vorher ausgehandelten Preis spielte: »Wir verkauften
67 Als »mexicas« bezeichneten die Musiker im Streckennetz »Paradero 30-30« Performer/innen, die mit aufwendigem Federschmuck und anderen prehispanisch konnotierten Accessoires bekleidet zum Rhythmus einer dem huehuetl nachempfundenen Röhrentrommel Tänze aufführten.
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die Lieder und sangen sie. Sie machten ein Foto mit uns und tschüss! Aber normalerweise guckten sie dich nur an, als ob sie sagen wollten: ›Und was jetzt?! ‹« (Jaímez, José David 8.3.2013) In den Überlandbussen trafen José David Jaímez und die anderen Musiker jedoch selten auf ganze Reisegruppen, sondern meist auf Individualreisende aus Japan, Korea, Westeuropa, Australien, den USA und Kanada. Nach über zwanzig Jahren hatten José David Jaímez und Marco Antonio Calderón entsprechend ihrer Erfahrungen eine Routine entwickelt. Mittlerweile setzte sich das Repertoire beider Musiker aus jeweils 350 Stücken zusammen, auf die sie bei ihren Auftritten aus dem Stand zurückgreifen konnten. Bei der Mehrzahl der Stücke in José David Jaímez Repertoire handelte es sich um boleros, jedoch beherrschte er auch viele huapangos und canciones rancheras. In Marco Antonio Calderóns Repertoire dominierten Stücke spanisch-sprachiger Popmusik, wie beispielsweise von José José oder von Juan Gabriel. Für gewöhnlich folgten beide Musiker in den Bussen von der Haltestelle »Metro El Potrero« Richtung Pyramiden einem festen Programm aus drei oder vier Stücken, die sie jeden Morgen neu zusammenstellten. Dieses Programm bestand mit Blick auf die Tourist/innen aus Stücken, die die beiden als »música tradicional« oder »música mexicana« bezeichneten. So gehörte mit »Cielito Lindo« auch der wohl bekannteste Standard mexikanischer Musik im Ausland zu den Favoriten in Marco Antonio Calderóns Repertoire, ein Stück, das mir in keinem anderen Streckennetz begegnete. Allerdings spielte Marco Antonio Calderón auch Popstücke, die nicht notwendigerweise von mexikanischen Interpreten bekannt gemacht wurden. Wichtig für den Erfolg beim touristischen Publikum sei dabei jedoch, dass sie auf Spanisch gesungen würden: »Ich spiele ihnen ›Cielito Lindo‹, das funktioniert immer an Bord. Ich spiele ihnen auch ›Guadalajara‹. Dann spiele ich bekannte Stücke, zum Beispiel von Stevie Wonder – aber alles auf Spanisch.« (Calderón, Marco Antonio 8.3.2013) Im Gegensatz zum festen Programm Richtung Pyramiden spielten die beiden auf dem Rückweg in den Bussen aus dem Estado de México und Hidalgo Richtung Mexiko-Stadt eine spontane Zusammenstellung an Stücken. Ihr Publikum in den Bussen Richtung Mexiko-Stadt setzte sich in erster Linie aus Berufspendler/innen auf ihrem Weg zur Arbeit zusammen. Vor diesem Publikum griffen sie vor allen Dingen auf ihre persönlichen Vorlieben zurück. Marco Antonio Calderón sang mexikanische Popstücke der 1970er Jahre. Obwohl sowohl José David Jaímez als auch Marco Antonio Calderón zur Zeit meiner Feldforschung erst Mitte beziehungsweise Anfang 40 waren, bemerkten sie bereits die gesundheitlichen Konsequenzen ihrer Arbeit und fühlten, wie ihnen die körperlichen Strapazen weitaus schlimmer zusetzen als noch 20 Jahre zuvor. Neben den hohen physischen Belastungen, denen die Musiker während ihrer Arbeit ausgesetzt waren, gaben sie zu, sich selbst und besonders ihre Stimmen nicht besonders pfleglich behandelt zu haben. Während José David Jaímez Zigaretten mittlerweile aufgegeben hatte, rauchte Marco Antonio Calderón weiterhin zwischen zehn und 15 Zigaretten pro Tag. Beide tranken eisgekühlte Getränke und keiner der beiden sang sich ein oder hatte sich bisher um eine schonende Gesangstechnik bemüht. Da sie an sieben Tagen in der Woche an der Autobahn standen und, wenn möglich, mehrmals pro Woche abends contratos erfüllten, hatten ihre Stimmbänder wenig Zeit, sich zu erholen. So war sich Marco Antonio Calderón nach 30 Jahren als Musiker in Bussen im Klaren darüber, dass seine Stimme ihm nicht ewig erhalten bleiben würde. Auch José David Jaímez
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zeigte sich pessimistisch, was seine Zukunft in den Überlandbussen betraf (Jaímez, José David 8.3.2013). Nach ihrem Arbeitstag in den Bussen wendeten sich deshalb beide Musiker ihren Zweitjobs zu. José David Jaímez vertrieb seit einigen Jahren Heilprodukte auf Bienenhonigbasis, wobei er allerdings konventionelle Vertriebswege nutzte und nicht als pomadero in die Busse stieg. Marco Antonio Calderón begann 2008, neben der Musik in Überlandbussen mit Siebdruck Geld zu verdienen. Mit Einbruch der Dunkelheit betrieb er außerdem gemeinsam mit seiner Frau einen Stand mit selbst frittierten Kartoffelchips in seinem Viertel. Es bedeutete einen beachtlichen Aufwand, nachmittags ein weiteres Standbein aufzubauen, während sie den kompletten Vormittag an der Autobahn und in Bussen verbrachten und häufig abends Auftritte spielten. Beide Musiker verstanden diese zusätzliche Belastung jedoch als notwendiges Übel für einen fließenden Übergang in ein neues Berufsleben nach der Musik in Überlandbussen. 4.4.3 Rubén Jaímez und Endir de León Sowohl Rubén Jaímez als auch Endir de León trugen ein für Jugendliche und junge Männer in Mexiko-Stadt typisches Outfit aus engen T-Shirts und etwas weiter geschnittenen Hosen. Viel Gel hielt ihre Haare in Form. Endir de León komplettierte seinen urbanen Style mit modischen Turnschuhen. Rubén Jaímez hingegen trug schwarze Slipper und mit seiner sonstigen Erscheinung brach seine große Gürtelschnalle als typisches Accessoire ländlich konnotierter ranchero-Mode. Rubén Jaímez war der Sohn von José David Jaímez, der Anfang der neunziger Jahre gemeinsam mit anderen Musikern die Busse der línea Teotihuacanos für Busmusiker erschlossen hatte. So war Rubén Jaímez 2010 gerade 20 Jahre alt, aber spielte bereits seit sieben Jahren an Bord der Busse rund um die Haltestelle »30-30«: »Mein Vater brachte mir bei zu spielen. Ich war also elf Jahre alt, als ich bereits Geld zum Unterhalt meiner Familie beisteuerte. […] Als ich 14 war brachte er mich hier her.« (Jaímez, Rubén und de León, Endir 7.10.2010) Rubén Jaímez verfügte über einen turno an der Haltestelle »Metro El Potrero« und stieg täglich in die Busse der línea Teotihuacanos mit Halt an den Pyramiden. Als José David Jaímez Sohn befeuerte Rubén Jaímez Zutritt zu den lukrativeren Bussen die Ansicht einiger Musiker, der vermeintliche Redeführer an der Metrostation »El Potrero« handle willkürlich und bevorzuge seinen Sohn. Rubén Jaímez hingegen erklärte, dass sein Vater ihn den gleichen Regeln wie alle anderen unterworfen habe und auch er zunächst zwei Jahre in den weniger ergiebigen Bussen der línea auftreten musste: »Und das, obwohl er mein Vater war! […] Er sagte: ›Spiel im ›San Juan‹, spiel im ›San Juan‹!‹« (Jaímez, Rubén und de León, Endir 3.11.2011) Nichtsdestotrotz verfügte Rubén Jaímez durch seinen Vater über ein dichtes Netzwerk an befreundeten Fahrern, die meisten unter ihnen bei der línea Teotihuacanos. Zusätzlich zu seiner Arbeit als Busmusiker formte er zusammen mit seinem Vater und dessen compadre ein Trio, mit dem sie in Restaurants, auf Hochzeiten, quinceañeras und privaten Feiern auftraten. Sein dueto-Partner Endir de León war ein Jahr älter als Rubén Jaímez, spielte aber erst seit 2009 in Bussen. Sein Vater war Guatemalteke und lebte und arbeitete in den USA und seine Mutter in Chiapas. Er und seine jüngere Schwester lebten in Tecámac von dem Geld, das er in den Bussen verdiente, und Geld, das sein Vater schickte (Jaímez, Rubén und de León, Endir 7.10.2010). Bevor Endir de León in die Busse
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stieg, schloss er die preperatoria ab und arbeitete einige Zeit in einer Textilfabrik, bis er gekündigt wurde und keine neue Arbeit fand. Da er Gitarre spielen und singen konnte, fasste er den Entschluss, in Bussen Musik zu machen. Zu diesem Zweck begab er sich an die nahgelegene Haltestelle »30-30« und spielte zunächst vier Monate alleine zwischen der Haltestelle und San Juan. Auch 2010 nach einem Jahr als Busmusiker an der Haltestelle »30-30« ließen ihn die etablierten Musiker noch immer nicht in die Busse mit Halt an den Pyramiden steigen: »Nur manchmal, wenn gar kein anderer Musiker da ist und einer von denen nach Apan, die Touristen dabei haben, kommt, dann steige ich ein. Aber auch nur, wenn sonst niemand da ist. Wenn sie da sind, muss ich in die nach San Juan steigen.« (Jaímez, Rubén und de León, Endir 3.11.2011) Abbildung 17: Rubén Jaímez (links) und Endir de León (rechts) an der Haltestelle „Puente Morelos“.
Foto: Kirschlager
Die beiden jungen Musiker hatten ein sehr harmonisches Auftreten. In Gesprächen und Interviews beendete einer der beiden häufig die Sätze des anderen und die Aussagen, die sie über den jeweils anderen trafen, ernten fast immer dessen Zustimmung. Beide zogen sich gegenseitig mit relajo auf und schienen auch gerne über sich selbst zu lachen. In ihrem dueto spielte Rubén Jaímez den requinto-Part und Endir de León spielte die Rhythmusgitarre. Mit erster und zweiter Stimme wechseln sich beide ab. Allerdings hatten sich Rubén Jaímez und Endir de León nicht am Straßenrand, sondern auf
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dem Fußballplatz kennengelernt. Als sie sich an der Haltestelle »30-30« wiedertrafen und erst dort feststellten, dass sie beide als Musiker in Bussen arbeiteten, kamen sie ins Gespräch und entschlossen sich ein dueto zu formen. Zu diesem Zeitpunkt spielte Endir de León, der als Mitglied einer protestantischen Religionsgemeinschaft Musik hauptsächlich in der Kirche erlernt hatte, ausschließlich religiöse Pop- und Rock-Stücke. Rubén Jaímez: »Der spielte nur christliche Musik.« Endir de León: »Ich spielte christliche Musik. Lobgesänge und sowas. Erst dann fing ich an, andere Stile zu spielen.« (Jaímez, Rubén und de León, Endir 7.10.2010)
Im Gegensatz zu Rubén Jaímez komponierte Endir de León auch eigene Stücke, die er allerdings aus Scham nicht an Bord der Busse spielte. Rubén Jaímez wurde nicht nur von seinem Vater unterrichtet, sondern bekam auch Unterricht im requinto-Spiel von dessen compadre, dem dritten Musiker ihres Trios. Sein Repertoire setzte sich aus boleros und huapangos68 zusammen, Musik, die er auch selbst gerne hörte. Ihre sehr verschiedenen Repertoires sahen die beiden jungen Musiker allerdings nicht als ein Hindernis bei ihrem Plan, ein dueto zu formen. Vielmehr betrachteten sie das dueto als eine Kooperation, in der beide vom Repertoire des jeweils anderen profitieren konnten. Endir de León erklärte: »Du musst wissen, dass wir uns zusammengetan haben, weil er meine Stücke und ich seine lernen will. Damit wir mehr Repertoire haben.« (Jaímez, Rubén und de León, Endir 7.10.2010) Als dueto beherrschten die beiden etwa einhundert Stücke, darunter hauptsächlich rancheras und boleros. Zumindest für Endir de León brachte die Zusammenarbeit aber noch weitere Vorteile mit sich. Zum einen hatte Rubén Jaímez hervorragende Kontakte zu den Busfahrern der línea Teotihuacanos und zum anderen verfügte Rubén Jaímez über einen turno an der Haltestelle »Metro El Potrero«. So konnte Endir de León nun als Teil des duetos in die Teotihuacanos-Busse mit Halt an den Pyramiden steigen. Endir de León: »Wir kommen nach Metro El Potrero und ich habe keinen Turno. Er schon, weil er schon Jahre dort ist.« Rubén Jaímez: »Ich bin seit sieben Jahren da.« […] Endir de León: »Ich bin von hier [30-30] bis San Juan aufgetreten und von San Juan wieder zurück. Ich kam nie bis Potrero.« Rubén Jaímez: »Und jetzt, wo wir uns kennen, fahren wir nach San Juan und nach Potrero. […] Wir kommen gerade aus dem Zentrum, von Potrero, hier her. Wir singen drei Lieder auf diesem Abschnitt und steigen hier aus und von hier fahren wir nach San Juan de las Pirámides und singen maximal vier. So machen wir das.« (Jaímez, Rubén und de León, Endir 7.10.2010)
Während Endir de León mit dem Zustieg an der Haltestelle »Metro El Potrero« von der Zusammenarbeit profitierte und auch Rubén Jaímez Repertoire an Bord der Busse 68 Obwohl viele der músicos ambulantes den Begriff »huapango« als Synonym zu »son« verwendeten, bezieht sich der Begriff in dieser Arbeit ausschließlich auf den »son huasteco« aus der Huasteca in den fünf Bundesstaaten Puebla, San Luis Potosí, Hidalgo, Veracruz und Tamaulipas.
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nützlicher war, als die christliche Pop- und Rockmusik in Endir de Leóns Repertoire, lag für Rubén Jaímez der Anreiz, darin, dass das dueto seinen Arbeitsalltag interessanter gestaltete. Auf die Frage, ob ihm seine Arbeit gefalle, antwortete er: »Wenn ich mit ihm [Endir de León] zusammen bin, schon. Wenn ich alleine auftrete, langweile ich mich. Dann will ich nichtmal singen.« (Jaímez, Rubén und de León, Endir 7.10.2010) Mit Ausnahme der »Los Pajaritos del Sur«, gaben Rubén Jaímez und Endir de León als einzige Musiker, die ich während meiner Feldforschung interviewte, an, als Mitglieder eines duetos keinen finanziellen Nachteil gegenüber zwei einzelnen Musikern zu haben. So beendeten sie ihren Arbeitstag mit 200 bis 300 Peso pro Person und verdienten zusammen folglich deutlich mehr als beispielsweise »Eduardo« allein. Ihr hohes Einkommen hing vor allen Dingen mit ihren Auftritten an Bord der mit internationalen Tourist/innen besetzten Busse mit Halt am archäologischen Park zusammen. Während Musiker aus den übrigen Bussen im Streckennetz »Paradero 30-30« gelegentlich unter 20 Pesos mitnahmen und nur selten 50 Pesos erhielten, verdienten Musiker mit turno in den mit internationalen Tourist/innen besetzten Bussen zwischen 35 und 50 Pesos und gelegentlich bis zu 100 Pesos pro Performance (Jaímez, José David 8.3.2013; Jaímez, Rubén und de León, Endir 7.10.2010; Calderón Ramírez, Marco Antonio 8.3.2013). Wie für alle anderen Musiker brachte die Verlegung der Haltestelle »30-30« auch für Rubén Jaímez und Endir de León Probleme mit sich. Das dueto gehörte allerdings zu den wenigen Musikern, die sich nicht von der neuen Situation abschrecken ließen. Sobald sie sahen, dass sich der Offizielle der Secretaría de Caminos y Puentes Federales nicht an der Haltestelle aufhielt, nutzten sie ihre guten Beziehungen zu den Sicherheitsleuten, die sie in der Regel passieren ließen. Wann immer der Offizielle anwesend war, stiegen sie aus dem ankommenden Bus aus, schoben sich zwischen Bus und Zaun entlang und konnten so in den nächsten Bus steigen, ohne das Sicherheitspersonal überhaupt passieren zu müssen. Rubén Jaímez und Endir de León waren auch stets darum bemüht ihr Netzwerk aus befreundeten Busfahrern auszubauen und zu pflegen. Dabei verwenden sie die Taktiken, mit denen sich Rubén Jaímez’ Vater José David über zwanzig Jahre zuvor Zutritt zu den Bussen der línea Teotihuacanos verschafft hatte. Auch die beiden jungen Musiker suchten den Kontakt zu den Busfahrern und spielen auf deren privaten Feiern (Jaímez, Rubén und de León, Endir 3.11.2011). Das Netzwerk aus befreundeten Fahrern, das Rubén Jaímez zum Teil von seinem Vater übernommen hatte, weiteten die beiden auf diese Weise beständig aus. Während es Musikern in anderen Streckennetzen darum ging, dass Busfahrer sie überhaupt mitnahmen, bezweckten Rubén Jaímez und Endir de León über Beziehungen zu den Busfahrern die wartende Konkurrenz an der Haltestelle »30-30« zu überspringen. 2012 verließ Endir de León den Estado de México und damit auch seine Arbeit als Busmusiker rund um die ehemalige Haltestelle »30-30« und ging nach Jalisco, wo bereits sein Bruder lebte. Dieser arbeitete beim Militär und Endir de León machte sich Hoffnungen, ebenfalls an eine Stelle als ziviler Angestellter bei der Armee zu erhalten. Nach nur drei Monaten konnte er allerdings absehen, dass dieser Plan nicht aufging. Er begab sich zurück nach Ecatepec und begann wieder in den Bussen zu spielen. So spielten die beiden jungen Musiker 2014 wieder zusammen in den Bussen der línea Teotihuacanos für mexikanische und internationale Passagier/innen.
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Transiträume
»Zwischen-Räume« und ihr Einfluss auf Passagier/innen und músicos ambulantes
Seit der Erfindung der Eisenbahn wird sowohl in wissenschaftlichen Arbeiten als auch in Romanen und Zeitungen über Räume, die moderne Verkehrsmittel zwischen ihrem Start und ihrem Ziel überwinden, geschrieben, dass sie im Verschwinden begriffen seien. Die bekannteste unter diesen Arbeiten ist sicher Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in der Karl Marx von der »Vernichtung des Raumes durch die Zeit« spricht (vgl. Marx 1953: 423). Unter ähnlichen Interpretationen, denen sich Schivelbusch in seinem Buch Geschichte der Eisenbahnreise ausführlich widmet, findet sich die Auffassung, die Mechanisierung der Triebkräfte und die schweren Eingriffe, wie Aushebungen und Aufschüttungen beim Bau von Eisenbahntrassen und später Straßen und Autobahnen, entfremde die Reisenden vom durchreisten Raum (vgl. Schivelbusch 2007: 27). Des Weiteren verlören Start- und Zielorte durch die Vernichtung der »Zwischen-Räume«, wie Schivelbusch Transiträume nennt, an Individualität, die bis dahin in ihrer Isolation begründet lag (vgl. ebd.: 39). Auch der Ethnologe Marc Augé geht in seinem vielbeachteten Buch Nicht-Orte davon aus, dass Transiträume, wenn auch nicht notwendigerweise vernichtet, so doch von isolierten Räumen gestiegener Mobilität abgekoppelt werden. Er befasst sich jedoch nicht mit den Folgen für die durchreisten Räume, sondern bezeichnet stattdessen Räume der »Übermoderne«, wie Flughäfen oder Autobahnen, aufgrund ihrer vermeintlichen Abkopplung als »Nicht-Orte«, die »sich weder als relational noch als historisch bezeichnen« lassen (Augé 2010: 83).1 Doreen Massey stellt in ihrem Aufsatz »A Global Sense of Place« am Beispiel des Flugverkehrs über dem Pazifik fest, dass die gestiegene Mobilität der Globalisierung eben nicht für alle Menschen gelte. Stattdessen isoliere die »time-space compression« Menschen in den durchreisten beziehungsweise »überreisten« Räumen und produziere extrem ungleiche Verhältnisse zu Mobilität: »[S]ome people are more in charge of [mobility] than others; some initiate flows and movement, others don’t; some are more on the receiving-end of it than others; some are effectively imprisoned by it.« (Massey 1991: 25-26)
1
Marc Augé wurde allerdings nicht zuletzt aufgrund seiner Methode der autoethnographischen Reflexion häufig vorgeworfen, die Differenz, Neuheit und Entfremdung in der Erfahrung dieser »Nicht-Orte« zu generalisieren und zu überschätzen (Merriman 2007: 10).
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Wie dieses Kapitel zeigen wird, waren Transiträume für Passagier/innen, Busfahrer und erst recht Musiker in mexikanischen Überlandbussen jedoch keinesfalls »vernichtet«. Passagier/innen nahmen sich in Transiträumen wahr, obwohl sie gerade im Bus saßen. Sie unternahmen Sicherheitsvorkehrungen, wenn sie Räume passierten, in denen sie ein hohes Überfallrisiko platzierten. Busmusiker, die selbst meistens in Räumen, die sich als Schivelbuschs »Zwischen-Räume« bezeichnen ließen, lebten, nutzten Elemente der Transiträume, wie Bodenwellen und Kontrollpunkte der Armee um an Bord der Busse zu gelangen, wo sie dann Genres durchreister Räume in der Wahl ihrer Stücke berücksichtigten. Zugleich bildeten Musiker unter dem Druck wachsender Konkurrenz Zusammenschlüsse, strukturierten Transiträume hierarchisch und blockierten bestimmte Räume für Neuankömmlinge. Transiträume wurden auf der einen Seite durch das Spacing und die Synthese geographischer Eigenarten, durch die sich die betrachteten Busse bewegten, konstituiert: Berge, Ebenen, Küsten oder Flüsse und die Vegetation. Auf der anderen Seite flossen von Menschen platzierte Güter in die Konstitution der Transiträume ein. Städte und Siedlungen bildeten Abfahrt, Ziel und Stationen der rutas von Überlandbussen. Straßen gaben vor, wie sich die Busse durch Transiträume zu bewegen hatten, mit welcher Steigung sie Berge überwinden mussten und wo Brücken sie über Flüsse führten. Während Bundesstraßen sich eher den geographischen Eigenheiten anpassten, sich über Berge und durch Täler schlängelten, durchquerten Autobahnen Transiträume gleich einer Eisenbahntrasse über Viadukte und durch Tunnel idealerweise in geraden Linien (vgl. Schivelbusch 2007: 26).2 Der Straßenbelag und sein Zustand spiegelten sich im Innern des Busses durch Fahrtgeräusche und Bewegungen. Topes, Bodenwellen zur Geschwindigkeitsbegrenzung, bremsten die Fahrt der Busse und schaukelten ihre Insass/innen. Es gab urbane und rurale Transiträume. Die Tatsache, ob Busse auf rutas ausschließlich durch urbane Räume fuhren oder ihre rutas auf Bundes- und Landstraßen durch rurale Räume führten, bestimmte den Bustyp, der diese ruta bediente. Bustypen, die urbanen Räumen zugeordnet wurden, aber durch rurale Räume fuhren, riefen Verwunderung unter ihren Passagier/innen hervor. Am Terminal in Buenavista beschwerte sich beispielsweise ein Passagier bei der Stationsleiterin »Blanca« über die neuen Busse, die die kleine Stadt in der Zona Norte des Bundesstaates Guerrero mit Puente de Ixtla und Cuernavaca im Nachbarstaat Morelos verbanden: »Ich überhöre ein Gespräch mit einem Fahrgast, der sich über die neuen MiBusse aufregt: ›Die heißen MiBus [MeinBus], aber das ist mir Schnuppe! Ihre Kofferräume sind Keksdosen – wie bei Stadtbussen.‹ Er lässt einen Hund, den er in einem zu großen verschnürten Pappkarton mitnehmen wollte, bei Blanca. Blanca sagt: ›Tun Sie mir bitte den Gefallen und beschweren Sie sich in Cuernavaca [dem Sitz der grupo Pullman de Morelos]. Je mehr Beschwerden es gibt… Wir hatten schon eine Besprechung und alle – wir und die Fahrer – haben erklärt, dass sie uns diese [Busse] nicht schicken sollen.‹« (Tagebucheintrag vom 4.12.2011 in Buenavista de Cuéllar) 2
Tatsächlich stellten Straßen und Autobahnen in Mexiko dank stetig wachsender technischer Möglichkeiten nur die zwei Extreme einer Achse dar, die durchaus Zwischenformen besaß. So wurden im Laufe meiner Feldforschung zahlreiche Bundesstraßen, wie beispielsweise die MEX-190 zwischen Acatlán de Osorio und Oaxaca oder die MEX-200 zwischen Acapulco und Pie de la Cuesta mit Hilfe von Brücken, Aufschüttungen, Einschnitten und Planierungen begradigt und verbreitert.
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Zu Transiträumen gehörten auch die politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse. Besonders in den Bundesstaaten Guerrero und Oaxaca wurden soziale Spannungen buchstäblich auf die Straße getragen, wenn protestierende Student/innen und Lehrer/innen Autobahnen und Bundesstraßen besetzten. Im Kampf sowohl gegen GuerillaOrganisationen im Hinterland und Straßenräuber aber vor allen Dingen als Maßnahme in der guerra al narco errichteten Militär sowie die föderale und bundesstaatliche Polizei mobile und oft auch fixe Kontrollpunkte, retenes, an denen Busse und ihre Fahrgäste auf Waffen und Drogen durchsucht wurden. Diese Straßensperren unterbrachen nicht nur die Reise der Passagier/innen. Der Anblick bewaffneter Soldaten an retenes konstituierte Transiträume der Angst, die sowohl die Sicherheitspolitik der líneas prägten, als auch Passagier/innen in den Bussen besondere Vorkehrungen treffen ließen. Bei dieser Konstitution von Räumen der Angst wirkte nicht allein die physische Präsenz bewaffneter Männer, sondern auch Anekdoten von Überfällen und Unfällen. Genauso wie die Beispiele der Zyklone, der Guerilla-Vergangenheit und der guerra al narco an der Costa Grande in der Performance des Busmusikers Tomás Ramírez verdeutlichen diese Anekdoten, dass nicht nur materielle Elemente, sondern auch Erzählungen in Transiträumen platziert wurden.3 Häufig waren Narrationen eng mit materiellen Eigenarten durchreister Räume verknüpft. So führten zwei ältere Männer in einem Bus zwischen Acapulco und Pie de la Cuesta, wo sich die MEX-200 in scharfen Kehren entlang der Klippen über dem Pazifik schlängelte, eine Diskussion darüber, welche der vielen Kurven den Namen »La Curva del Diablo«, »Die Kurve des Teufels« trug. Dabei argumentierten sie abwechselnd mit dem besonders spitzen Winkel der einen Kurve oder der Anekdote eines schweren Unfalls in einer anderen Kurve (Tagebucheintrag vom 16.11.2011 zwischen Acapulco und Brasilia). Aus dem Überlandbus auf der Straße betrachtet hing die Tiefe durchreister Räume von Wahrnehmung, Wissen und Erfahrung der/s Betrachter/in ab. So reichten Transiträume soweit der Blick der betrachtenden Person durch das Busfenster über den Straßenrand hinausreichte, wenn ihr die durchreisten Räume unbekannt waren, oder bis weit über den Horizont rechts und links der Straße, wenn Passagier/innen wussten, wohin die unzähligen Abfahrten, kleinen Straßen und Schotterpisten, die von den Hauptstraßen abzweigten, führten. Auf diese Weise verdeutlichten Transiträume die Abhängigkeit der Raumkonstitution von individuellen Syntheseleistungen. Daraus ließ sich auch schlussfolgern, dass die Bewegung durch Transiträume Wissen und Erfahrungen der Betrachter/innen erweiterte und sich die von Passagier/innen während der Fahrt konstituierten Räume entsprechend der gewonnenen Eindrücke stetig veränderten. Dieses Kapitel ist der Wechselwirkung zwischen Transiträumen, den músicos ambulantes und ihren Performances gewidmet. Welche Rolle spielten die Räume, durch die sich Busse und ihre Insass/innen bewegten, für die Musiker? Welche räumlichen Eigenschaften förderten ihre Performances und welche Eigenschaften behinderten sie? Wie wurden Musiker Teil der Konstitution von Transiträumen durch Busfahrer und Passagier/innen, wenn sie zwischen Haltestellen in Busse stiegen, die dafür nicht einmal anhielten? Welche Transiträume konstituierten die Musiker in ihren Performances, wenn sie Passagier/innen mit regionalen musikalischen Genres und lokalen Erzählungen konfrontierten? Trugen músicos ambulantes am Ende dazu bei, dass Transiträume 3
Zur Platzierung von Narrationen vgl. auch Kapitel 2.1. und Kapitel 7.3.
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durch Überlandbusse nicht geschrumpft oder gar vernichtet wurden, sondern Bestandteil der Reise wurden, in dem sie durch ihre Performances Busse und Passagier/innen zu diesen Räumen in Verbindung setzten?
5.1 TAKTSTRICHE AUF DEM ASPHALT: DIE RÄUMLICHE ORDNUNG DER STRECKENNETZE Die meisten meiner Interviewpartner auf stiegen nicht an dem ihrem Wohnort nächsten Punkt der Bundesstraße in die Busse. Oft bezahlten sie sogar andere Verkehrsmittel und bewegten sich parallel der rutas zu Einstiegsorten. So reisten Salvador und Hexiquio Hernández, obwohl die Busse der línea TER ihr Dorf Palmillas passierten, jeden Morgen in einem Kollektivtaxi bis nach Buenavista de Cuéllar und Efraín Balbuena, der die MEX-190 buchstäblich vor seiner Haustür hatte, ließ sich von einer combi im einige Kilometer entfernten Nuevos Horizontes absetzen. Die Wahl ihrer Ein- und Ausstiegsorte überließen die Musiker folglich keinesfalls dem Zufall. Vielmehr bestiegen und verließen sie den Bus an immer den gleichen Orten. An vielen dieser Orte hatten sich Musiker bereits ihre eigene Infrastruktur geschaffen. Hexiquio Hernández wusste, in welchem der Häuser in Cerro Gordo er für wenige Centavos Wasser bekommen konnte, und der blinde Musiker Tomás Ramírez konnte sich meistens darauf verlassen, dass ihm jemand in El Papayo über die Straße half und ihm Gesellschaft leistete, bis er den nächsten Bus in Richtung Coyuca bestieg. Vor allen Dingen aber suchten die Musiker soziale Güter, die die Fahrt der Busse bremsten oder sogar unterbrachen. Diese sozialen Güter verwandelten die Orte, an denen sie sich befanden, in Schnittstellen zwischen Transiträumen und Busräumen. Durch die Wahl ihrer Ein- und Ausstiegsorte verbanden die Musiker diese zu Strecken, die als kleinste Bausteine Streckennetze gliederten und an Bord der bewegten Busse zeitlich als Länge der Performances wahrgenommen wurden. Als Schnittstelle zwischen Transiträumen und Busräumen flossen auch Faktoren der Busräume, wie beispielsweise Passagierbewegungen, in die Wahl der Strecken ein und verdeutlichten, dass die Platzierung der Ein- und Ausstiegsorte auch eine zeitliche Dimension besaß. In Bezug auf die zentralen Fragen meiner Arbeit, nach jenen Räumen, die die Musiker in ihrer Tätigkeit beeinflussten, und solchen, die sie selbst hervorbrachten, ergaben sich spezifische Fragen, nach den Ein- und Ausstiegsorten der Musiker. Welches waren die sozialen Güter, an denen sich Busmusiker bei der Wahl ihrer Ein- und Ausstiegsorte orientierten? Welche Faktoren an Bord der Busse bestimmten die Wahl ihrer Strecken? Welche Eigenschaften besaßen die Strecken, die sich aus ihrer Wahl ergaben, und wie verbanden die Musiker wiederum ihre einzelnen Strecken? Und: Unternahmen die Musiker eventuell sogar Anstrengungen, materielle Güter entlang der rutas zu platzieren, um die Fahrt der Busse zu bremsen oder die Aufmerksamkeit der Fahrer auf sich zu lenken? In diesem Unterkapitel werden entsprechend die Faktoren, die die Musiker bei der Wahl ihrer Ein- und Ausstiegsorte, welche sie schließlich durch ihre Bewegungen zu Strecken synthetisierten, erörtert. Besonderes Augenmerk gilt dabei den topes, Bodenwellen, die den Verkehr bremsten und in sämtlichen Streckennetzen Musikern halfen, in die Busse zu gelangen. Der letzte Abschnitt zeigt, wie Efraín Balbuenas Auswahl
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von topes letztendlich das Streckennetz, durch das er sich bewegte, räumlich organisierte. Streckenwahl Noch bevor Musiker an Bord der Busse Passagier/innen durch ihre musikalische Performance zu einer coperacha bewegen konnten und sogar bevor sich ihnen die Möglichkeit bot, Busfahrer zu überzeugen, sie in ihre Busse zu lassen, mussten Busmusiker entscheiden, an welchen Orten sie zustiegen und wo sie den Bus wieder verließen. Die Strecken, die sie durch die Wahl ihrer Ein- und Ausstiegsorte konstituierten, waren ein zentraler Faktor, der umfangreiches Wissen erforderte und schließlich über ihren Erfolg entschied. Andrés Contreras erläuterte, die Bedeutung der Strecken und dass die Musiker bei ihrer Wahl keinesfalls Willkür walten lassen durften: »Man lernt, wo man einsteigen muss, wo man aussteigen muss, um den nächsten zu erwischen. Ideal ist es, wenn du in einen Bus steigst, singst, in einem Terminal, einem Tope aussteigst, einen anderen erwischt und singst und an einem anderen Tope, wo Busse halten, wieder aussteigst. Dort nimmst du einen Bus in umgekehrter Richtung. So läuft’s. Zwei in eine Richtung, zwei in die andere, zwei in die eine, zwei in die andere, so soll es sein. Wenn man sich allerdings nicht auskennt, steigt man oft irgendwo aus, wo stundenlang kein Bus kommt. Dann muss man woanders hinlaufen, wo die Busse woanders hinfahren und dann geht es schnell, dass man weit weg von seinem Wohnort ist. […] Aber nach ein paar Jahren wissen die, die das immer machen, Bescheid, wo sie ihre Busse erwischen, ohne zu warten.« (Contreras, Andrés 6.8.2010)
Um von ihrer Arbeit leben zu können, mussten die Musiker also über exzellente Kenntnisse der Räume, durch die sie sich bewegten, sowie der Bewegungen und Frequenzen der Busse verfügen. So erklärte es sich, dass sämtliche Musiker, die im Rahmen meiner Feldforschung interviewte, über einen festen Wohnsitz verfügten und regelmäßig auf Strecken in dessen Nähe arbeiteten.4 Die Auswahl der Musiker war eingeschränkt, denn nicht alle rutas und Straßentypen erlaubten ihren Zustieg in Busse. Dass die Musiker der Haltestelle 30-30 auf rutas entlang einer Autobahn spielten, war ausgesprochen ungewöhnlich. Nicht nur ließen sich Autobahnen, die oft von Lärmschutzmauern umgeben waren und über steile Dämme verliefen, zu Fuß nur schwer erreichen, auch boten sie Bussen keine Gelegenheit anzuhalten, um die Musiker aufzunehmen. Entsprechend verliefen die meisten Strecken über Bundes- und Landstraßen. Genauso wie die Art der Straße war auch der servicio entscheidend dafür, ob eine Strecke auf einer bestimmten ruta Erfolg haben konnte. Nur sehr selten wurde Musikern in Bussen des servicio de primera oder höher Zustieg gewährt.5 Auf die Frage, ob er gelegentlich im servicio de primera der línea Pullman de Morelos spiele, winkte Salvador Hernández ab: »Weil es Luxusbusse sind,
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Während sich einige wenige Musiker an Bord von Überlandbussen durch ganz Mexiko bewegten, betonte die Mehrzahl meiner Gesprächspartner, dass sie in der Regel abends nach Hause zurückkehrten und in Notfällen innerhalb kurzer Zeit bei ihrer Familie sein konnten (z.B. Jaímez, José David 8.3.2013). Zu den verschiedenen »servicio« genannten Serviceklassen vgl. Kapitel 6.1.
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gibt es Fahrer, die sagen: ›In meinen Wagen kommen mir keine Musikanten. Nein!‹ Und sie lassen einen nicht rein.« (Hernández, Salvador 4.12.2011) Wussten die Musiker einmal, auf welchen rutas sie überhaupt Zustieg erhielten, war das entscheidende Kriterium ihrer Wahl, die Menge und Art der Passagier/innen, auf die sie an Bord der Busse zu treffen hofften. Zu diesem Zweck kombinierten die Musiker Informationen über die Reisemotivationen der Passagier/innen mit ihrer Kenntnis lokaler Ereignisse. Dazu gehörte das Wissen um lokale und überregionale Markttage, das die Musiker zu raum-zeitlichen Plänen zusammenfügten, um ihre Strecken entsprechend zu organisieren. So erklärte Efraín Balbuena: »Ich habe mir von Anfang an alles zurechtgelegt. Denn ich wusste, wann die guten Busse nach Mariscala fuhren. […] Sowas muss man wissen. Die guten Tage in diesen Bussen sind Donnerstage und Sonntage. […] Dann reisen viele Leute in ihnen nach Acatlán, denn es ist Markttag in Acatlán. An anderen Tagen nicht. […] Es hängt viel von [Markttagen] ab. Zum Beispiel morgen in Piaztla, donnerstags in Acatlán, freitags fahre ich nach Tehuitzingo. […] Samstags ist Markttag in Atlixco.« (Balbuena, Efraín 19.3.2013)
Auch Hexiquio Hernández, der in seinen Bewegungen im Vergleich zu seinem Bruder auf den ersten Blick beliebiger wirkte, richtete sich tatsächlich nach den Markttagen entlang der rutas, auf denen er spielte: »Montags fahre ich nach Temixco. Dort ist ein riesiger Wochenmarkt und dorthin singe ich montags in den Bussen. Sonntags in Xoxocotla, dort ist auch ein großer Wochenmarkt. Samstags komme ich manchmal hierhin [nach Iguala], manchmal nach Huitzuco oder ich streife hier in Igualas [Bussen] durchs Zentrum.« (Hernández, Hexiquio 25.11.2010) Andere Musiker achteten bei der Wahl ihrer Strecken auf die Busfrequenz. Anders jedoch als Andrés Contreras bevorzugten sie Strecken mit niedrigen Frequenzen, da sich dort die Passagierströme in wenigen Bussen bündelten. »Los Pajaritos del Sur« spielten an der Costa Grande bewusst auf einer Strecke zwischen San Jerónimo und Tecpan, nachdem sich die Vielzahl der rutas am Abzweig nach Atoyac auffächerte: »Es gibt auf diesem Abschnitt mehr Passagiere. Deshalb verbringen wir den Tag zwischen Tecpan und San Jerónimo, von San Jerónimo nach Tecpan, da arbeiten wir.« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013) Neben den Passagierströmen war der zweite wichtige Parameter die Reisedauer der Strecke. Aus der Länge der Strecke und der Geschwindigkeit des Busses ergab sich die Zeit, die den Musikern an Bord der Busse für ihre Performances blieb. Je nach Routine benötigten sie zwischen 10 und 45 Minuten um ihre Stücke zu spielen, die coperacha einzusammeln und sich mit den Busfahrern zu unterhalten. 6 Die Ein- und Ausstiegspunkte der »Los Pajaritos del Sur« waren dabei so gewählt, dass mit Ausnahme der ersten zwischen Acapulco und San Marcos den beiden Musikern immer etwa eine halbe Stunde für ihre Performance blieb: »Wir spielen vier Lieder oder fünf, wenn das Publikum verlangt: ›Spielt noch einen!‹ Aber eigentlich spielen wir drei oder vier Lieder pro Abschnitt. Dann kommen wir an unser Ziel, wo wir aussteigen, ich sammle den Beitrag ein und verkaufe unsere CDs.« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013)7 Wie zentral der zeitliche Aspekt bei der Wahl der Strecken war, zeigte sich als das Terminal in Las Vigas geschlossen wurde und die gleichmäßigen Abstände ihrer Kette 6 7
Zu der zentralen Bedeutung der Kontaktpflege zu Busfahrern vgl. Kapitel 6.2. Vgl. Abb. 9 »Straßen, rutas und Einstiegsorte an der Costa Chica«
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von Strecken sich verschoben. Um weiterhin in möglichst vielen Bussen pro Tag aufzutreten, fuhr das dueto nun über Las Vigas hinweg bis nach Cruz Grande, pendelte den Rest des Tages zwischen Cruz Grande und Copala und nahm gegen Abend einen direkten Bus zurück nach Acapulco: »In San Marcos steigen wir ein und fahren bis Las Vigas, dort in Las Vigas gab es ein anderes Terminal. Jetzt gibt es kein Terminal mehr in Las Vigas. Jetzt muss man bis nach Cruz Grande fahren. Jetzt muss man mehr Lieder spielen, jetzt spielt man nicht mehr drei oder vier Lieder. Jetzt muss man fünf, sechs Lieder spielen. Aber die Leute geben gleich. Sie geben dir fünf Peso oder zehn Peso. Sie geben dir nicht mehr, weil du sechs oder sieben Lieder spielst. […] Daher ist der Abschnitt für uns Zeitverschwendung, weil wir in einem anstatt in zwei Überlandbussen spielen. Deshalb fahren wir von hier nach San Marcos, von San Marcos bis Cruz Grande und wir arbeiten dann zwischen Cruz Grande und Copala.« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013)
Umgekehrt konnten Orte entlang der rutas auch Strecken von Musikern unterbrechen, weil etwa ein großer Teil der Passagier/innen den Bus verließ, wie beispielsweise an der Kreuzung Las Palomas im Streckennetz »Mixteca Poblana«, wo Passagier/innen zwischen den Bussen verschiedener rutas wechselten. Oder Busfahrer weigerten sich Musiker über einen bestimmten Ort auf der ruta hinweg zu befördern, dies galt besonders für bekannte Kontrollpunkte der líneas: »In Puente de Ixtla steigt ein Musiker direkt am Terminal zu. Der Fahrer erklärt ihm, dass er seinetwegen spiele könne, aber vor Zacapalco wieder aussteigen solle, weil dort kontrolliert werde.« (Tagebucheintrag vom 27.3.2013 zwischen Cuautla und Iguala) Selbst, wenn Musiker über gute Beziehungen zu den Fahrern der entsprechenden líneas verfügten, waren auch befreundete Busfahrer nicht überall bereit, ihre Fahrt zu unterbrechen, um Musiker an Bord zu nehmen. Ein- und Ausstiege der Musiker befanden sich folglich immer an Orten mit sehr bestimmten Eigenschaften, die den Zustieg in Busse begünstigten. »Los Pajaritos del Sur« wählten die Terminals entlang der Costa Chica, denn dort hielten die Busse ohnehin: »In San Marcos müssen die Busse der zweiten Klasse halten, den dort werden sie kontrolliert. Dort checken sie ihre Unterlagen und das ist der Moment, wenn wir den Fahrer ansprechen, ob er uns spielen lässt.« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013) Auch die Musiker in den Streckennetzen »Paradero 30-30« und »Zona Norte« nutzten oft offizielle Haltestellen, um in die Busse zu gelangen. Doch nicht in allen Streckennetzen lagen offizielle Haltestellen so günstig, dass Strecken zwischen Musikern die benötigte Zeit an Bord der Busse ermöglicht hätten oder die dünne Besiedlung der Transiträume bedingte, wie in der »Mixteca Poblana«, dass es nahezu keine offiziellen Haltestellen gab. Die Musiker waren somit gezwungen, andere Orte, an denen bestimmte soziale Güter der Transiträume die Fahrt der Busse unterbrachen oder bremsten, als Endpunkte ihrer Strecken miteinander zu verknüpfen. Zu diesen sozialen Gütern gehörten vor allen Dingen topes.
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»De tope a tope«: Bodenwellen als Geißel der Fahrer und Segen der músicos ambulantes Topes waren eines der markantesten Merkmale, die Mexikos mautfreie, öffentliche Straßen von den kostenpflichtigen, privaten Autobahnen unterschieden. In Ermangelung anderer disziplinierender Maßnahmen, wurden Bodenwellen aus Beton oder Asphalt über die Straße gezogen, um Fahrer/innen von Geschwindigkeitsübertretungen abzuhalten und den Verkehr zu bremsen. Allerdings führten die topes, die sich mal sanft und mal schroff und steil über den Straßenbelag legten, immer nur zu einer punktuellen Entschleunigung. Zwischen ihnen rollte der Verkehr je nach Gutdünken der Verkehrsteilnehmer/innen und Leistungsstärke ihrer Fahrzeuge. Deshalb befanden sich topes in der Regel genau dort, wo der Verkehr gebremst werden musste: zum Beispiel in den Durchfahrten geschlossener Ortschaften, vor Kreuzungen und vor Schulen. Während Ortskundige mit topes vertraut waren, bestraften sie die Fremden und Unaufmerksamen. Schwarze Bremsspuren vor den topes, Kratzer und Rillen auf ihren Rücken und Ölflecken hinter ihnen zeugten von diesen unangenehmen Begegnungen. Fahrer/innen empfanden topes häufig als Geißel der Bundesstraßen. In diesem Sinn schreibt Ricardo Raphael in seinem Reisebericht El otro México über die MEX-1 durch den Bundesstaat Baja California Norte: »Es ist unmöglich Geschwindigkeit aufzunehmen, […] denn die Transpeninsular zwingt den Fahrer ständig, hier und dort über einen Tope zu holpern – kurze Bodenwellen, von denen keine der anderen gleicht –, dessen einziger Zweck es ist, den Verkehr zu lähmen.« (Raphael 2011: 86) Auch unter den Busfahrern waren topes äußerst unbeliebt. Obwohl sie mit den Straßen entlang ihrer rutas vertraut waren, zwangen topes sie immer wieder, zu bremsen und zu schalten. Gerade letzteres war harte Arbeit. Daher bevorzugten beispielsweise Busfahrer der línea TER die lange und einsame ruta zwischen Cuautla und Iguala, da sie auf den zwei anderen rutas der línea dichtbesiedelte Ballungsräume und »un montón de topes«, »einen Haufen Topes« passierten (Gespräch mit »Mario« in TER zwischen Buenavista de Cuéllar und Cuautla am 14.12.2011). Raphaels Wut hingegen leitet sich nicht aus dem zweifelhaften Nutzen der topes für die Verkehrssicherheit ab. Vielmehr regt ihn ihre Aneignung und Zweckentfremdung durch Anwohner/innen auf, die er in vielen Fällen verdächtigt, topes eigenmächtig über die Straßen zu ziehen: »Sie sind das böswillige Werk eines Anwohners, der gar nicht mehr an der Straße wohnt, oder einer Familie, die sich entschlossen hat, Getränke an ausländische Passanten zu verkaufen. […] In jedem Fall dient ein Tope, der Besitz einiger weniger, dazu, die Freiheit vieler zu beschneiden.« (Raphael 2011: 86) Tatsächlich nutzten in allen Streckennetzen Händler/innen topes, um ihre Waren zu verkaufen. Dabei blieb allerdings meistens unklar, ob die Händler/innen die topes tatsächlich, wie Raphael unterstellt, eigenmächtig über die Straße gezogen hatten oder sich vielmehr topes aneigneten, die zuvor durch lokale oder staatliche Institutionen platziert worden waren. Manche Händler/innen stellten sich in der Straßenmitte auf die Rücken der topes und verkauften ihre Waren in die Fenster vorbeifahrender Autos. Andere hatten kurz hinter den topes Stände am Straßenrand aufgebaut und hofften offensichtlich darauf, dass Fahrer/innen ihre ohnehin durch den tope gebremsten Wagen vor ihren Ständen ganz zum Stillstand brachten. An den topes nahe der Haltestelle
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»30-30« wurde tepache8 verkauft, und an den topes der MEX-95 nahe Acapulco boten Händler/innen Kokosnüsse und Souvenirs für Tourist/innen auf ihrem Heimweg nach Mexiko-Stadt an. An topes vor den Brücken über die zahlreichen Flüsse der Costa Chica verkauften Händler/innen Kieselsteine verschiedener Größen, die sie aus dem Flussbett an den Rand der MEX-200 schleppten. Während Raphael also seine persönliche Freiheit als Verkehrsteilnehmer durch topes angegriffen sah, waren topes für sehr viele Menschen Grundlage ihres Lebensunterhaltes. Zu diesen Menschen gehörten auch die músicos ambulantes. Für sie bildeten besonders zwischen Siedlungen, Terminals und großen Kreuzungen topes die Endpunkte vieler ihrer Strecken. Lorenzo Villanueva erklärte: »Wenn es einen Tope gibt, höre ich dort auf zu singen. Wenn dort Passagiere aussteigen, folge ich ihnen. Dann ist es ein wichtiger Ein- und Ausstiegspunkt. Dort warte ich auf den nächsten [Bus], der dort zwangsläufig halten muss, wegen des Topes.« (Villanueva Lorenzo 4.4.2013) Auch Hexiquio Hernández Strecken in der »Zona Norte« wurden durch topes organisiert. Während die mautpflichtige Schnellstraße, über die die rutas der línea TER zwischen Puente de Ixtla und Iguala führten, nahezu frei von topes war, nutzte Hexiquio Hernández zwischen Iguala und Taxco topes, um in die Busse zu gelangen: »In El Naranjo gibt es viele Topes und die sind sehr hoch. Dort fahren die Busse langsam. Sie halten quasi an, ich bitte sie mit meiner Gitarre, ob sie mir die Tür öffnen wollen und steige ein, während sie langsam rollen. Ohne die Topes führen sie rasend schnell vorbei und hielten nicht.« (Hernández, Hexiquio 29.3.2013) Julio García ergänzte, dass topes oft erst die Aufmerksamkeit der Busfahrer auf die neben ihnen wartenden Musiker lenkten. Die Busfahrer mussten dank der topes nicht einmal mehr anhalten, um Zustieg zu gewähren, sondern öffneten einfach die Tür. Musiker rannten neben dem langsam fahrenden Bus und sprangen kurz vor oder kurz hinter dem tope auf: »Dort gibt es halt die Möglichkeit, dass ein Fahrer dich sieht. Du so: ›Super!‹ Du gibst ein Zeichen, denn sie bremsen wegen des Topes. Danach muss man ein bisschen locker rennen und auf den Bus springen.« (García, Julio 5.4.2013) Aber topes halfen den Musikern nicht nur beim Ein- und Ausstieg aus den Bussen. Sie verlangsamten auch die Fahrt der Busse und verschafften den Musikern Zeit zwischen möglichen Checkpunkten der Inspekteur/innen oder anderen Hindernissen. So freute sich Gabriel Villanueva über die stetig steigende Zahl an topes auf dem Abschnitt der Costa Grande zwischen Pie de la Cuesta und Bajos del Ejido. Zuvor hatte sich dieser Abschnitt nicht als Strecke für die langen Performances der »Los Pajaritos del Sur« geeignet. Sie spielten deshalb bis nach Coyuca, wurden aber durch die auf zwei Drittel des Weges liegende Militärkontrolle am retén bei Bajos de Ejido unterbrochen. Durch neue topes konnten »Los Pajaritos del Sur«, diese erste ihrer Strecken entlang der Costa Grande ohne Zeitverlust und Unterbrechung nutzen: »Uns helfen sie, denn wir können drei Stücke spielen, ohne weit zu fahren. Zum Beispiel können wir zwischen Pie de la Cuesta und Bajos del Ejido locker drei Lieder spielen, weil die Topes den Bus aufhalten. Wenn es keine Topes gäbe, könntest du nichtmal zwei Lieder spielen, bevor du ans Retén kommst und nach Coyuca umsteigst. Aber dank der Topes fahren sie langsam.« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013)
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Ein aus Ananasschalen fermentiertes Getränk.
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Die Musiker begrüßten die verminderte Geschwindigkeit als Effekt der topes, auch weil sie Fahrt- und Windgeräusche im Innern der Busse minimierte: »Wenn sie an den Topes stoppen, kannst du ein bisschen besser spielen. […] Sie fahren nicht so schnell, nicht? Deshalb kann man besser hören. Genau.« (Villanueva, Lorenzo 4.4.2013) Topes brachten allerdings nicht nur Vorteile für die Musiker. Sie störten während ihrer Performances, wenn ortsfremde oder unkonzentrierte Busfahrer abrupt bremsten und Musiker aus ihrer Balance brachten: »Manchmal, wenn sie auf die Bremse hauen, brauche ich mehr Kraft, um stehen zu bleiben.« (Villanueva, Lorenzo 4.4.2013) Zusätzlich waren topes beliebte Ein- und Ausstiegspunkte für Inspekteur/innen, die sie ebenfalls nutzten, um in die Busse zu gelangen, ohne deren Reise zu verzögern. Julio García erklärte: »Die steigen an den Topes ein und aus. Sie brauchen nur einen Baum und da stehen sie dann. Dort schnappen sie sich den nächsten Bus.« (García, Julio 5.4.2013) Auf diese Weise verwandelten sich topes zu ungewollten Einschnitten auf den Strecken, wenn Busfahrer Musiker nicht über für Inspekteur/innen berüchtigte topes befördern wollten. In jedem Fall waren topes räumliche Zäsuren, die von Busmusikern durch Ein- und Ausstieg zu Räumen verbunden wurden. An Bord der fahrenden Busse übertrugen die Musiker die räumlichen Abstände zwischen den topes durch ihre Performances in zeitliche Abschnitte. Die Betonwellen über den Asphalt der Bundesstraßen verwandelten sich in Taktstriche ihrer Performances, die mit ihnen begannen und endeten. Nicht ohne Grund erklärte Jesús García auf die Frage, wie sein Vater bis Tijuana gereist sei: »de tope a tope.«, »von Tope zu Tope«. (Jesús García im Gespräch am 15.8.2010) Efraín Balbuena und die topes der Mixteca Poblana Topes bildeten vor allen Dingen in dünnbesiedelten Transiträumen, wo institutionalisierte Haltestellen rar waren, die wichtigsten Markierungen, mit deren Hilfe Musiker ihre Arbeit räumlich und zeitlich organisierten. Die Bewegungen des Musikers Efraín Balbuena durch das Streckennetz »Mixteca Poblana« bildeten dafür ein hervorragendes Beispiel. Auf dem 82 km langen Abschnitt der MEX-190 zwischen Izúcar de Matamoros und Acatlán de Osorio befanden sich nur drei offizielle Haltestellen der líneas ERCO und SUR. Die líneas des servicio de primera hielten entweder nur in Tehuitzingo oder passierten den Abschnitt ganz ohne Halt. Auch auf der MEX-93 und der PUE-361 befanden sich keine weiteren Haltestellen. Im Gegensatz zu den knappen offiziellen Haltestellen befand sich sowohl auf der MEX-190 als auch auf der MEX-93 eine große Anzahl von topes, die besonders in Siedlungen und vor Brücken den Verkehr bremsten. Zwar waren auf den 47 km der MEX-190 zwischen Izúcar de Matamoros und Tehuitzingo lediglich in Izúcar de Matamoros Vorort San Juan Raboso, an der Brücke Puente Marqués und in der kleinen Siedlung Jaulillas topes über die Straße gezogen, die Zahl der topes nahm aber stark zu, sobald sich die Bundesstraße durch die Berge der Mixteca Poblana schlängelte. Zwischen Tehuitzingo und der Kreuzung von Las Palomas gab es insgesamt 14 topes. An mehreren dieser topes, zum Beispiel in den Siedlungen Santa Cruz Boqueroncito und in Tehuixtla ließ sich an Ständen am Straßenrand beobachten, dass Händler/innen die Bodenwellen nutzten. Von der Kreuzung Las Palomas bis ins Zentrum Acatlán de Osorio, einem Abschnitt, der doppelt so lang war, wie jener zwischen Tehuitzingo und Las Palomas, befanden sich ebenfalls
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14 topes. Drei dieser topes lagen in den unübersichtlichen Kurven der Ortschaft Nuevos Horizontes. Gerade, weil Efraín Balbuena unmittelbar am Straßenrand der MEX-190 lebte und die Überlandbusse vor seiner Veranda in der Colonia 3 de Mayo vorbeifuhren, fiel sofort auf, dass keiner seiner Ein- und Ausstiegspunkte auf der Höhe seines Wohnhauses lag. Stattdessen bezahlte Efraín Balbuena jeden Morgen eine combi, die ihn knapp 2 km Richtung Tehuitzingo bis zum nächsten tope in Nuevos Horizontes mitnahm. Vor seinem Haus war der Verkehr zu schnell, als dass Busse für nicht zahlende Passagier/innen anhielten. In Nuevos Horizontes aber bremsten die topes die Fahrt der Busse so, dass Efraín Balbuena zusteigen konnte, ohne eine Verzögerung zu verursachen. Der Musiker scherzte: »Dort steige ich ein. Es gibt einen Tope und sie sind gezwungen zu bremsen, weil sie nicht über den Tope springen wollen. Ich hebe meine Gitarre, damit sie mich einsteigen lassen. Manche bremsen mit offener Tür. Die sollten sie lieber schließen, wenn sie mich nicht drinnen haben wollen. Denn ich springe zur Tür rein. [lacht]« (Balbuena, Efraín 28.7.2010) Neben Nuevos Horizontes befanden sich entlang der MEX-190 in Jaulillas und in Puente El Marqués Efraín Balbuenas Einstiegspunkte ebenfalls an topes. Aber auch an offiziellen Haltestellen in Izúcar de Matamoros und Tehuitzingo nutzte Efraín Balbuena zum Einstieg nicht etwa die Haltebuchten, wo er von Angestellten der líneas beobachtet werden konnte, sondern topes, die die Busse passierten, sobald sie außer Sichtweite der Terminals waren. Abbildung 18: Topes entlang der MEX-190, MEX-93 und PUE-361 im Streckennetz »Mixteca Poblana«.
Abbildung: Kirschlager
Folglich organisierten die topes Efraín Balbuenas Routine räumlich, denn durch sie war es ihm überhaupt erst möglich, in die Busse zu gelangen: »Es sind die Topes. Dort bremst der Bus und dort: ›Dann steig halt ein!‹ Deshalb habe ich mein… – wie soll ich sagen? – Mein ›von wo bis wo‹.« (Balbuena, Efraín 28.7.2010) Aus der Fülle an topes, die die Straßen seines Streckennetzes überquerten, hatte er seine Ein- und Ausstiegspunkte ganz bewusst gewählt. Die Abstände zwischen diesen topes und sei-
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nen zwei weiteren Ein- und Ausstiegspunkten an den wichtigen Kreuzungen Las Palomas und Amatitlán waren so angeordnet, dass sich für seine Performances an Bord der fahrenden Busse etwa gleiche Zeitabschnitte, die der Dauer seiner verhältnismäßig kurzen Performances entsprachen, ergaben: »Denn zwischen diesen Punkten, zum Beispiel zwischen El Pitayo [Jaulillas] und Puente Marqués kann ich drei oder zwei Stücke spielen, genau richtig. […] Zwischen Puente Marqués und Tehuitzingo sind es auch noch mal drei Lieder.« (Balbuena, Efraín Balbuena 19.3.2013) Die Absicht hinter Efraín Balbuenas räumlicher Ordnung durch die Wahl der topes wurde dadurch bestätigt, dass er sich über die Lage anderer zentraler räumlicher Zäsuren, wie die der Kreuzung Las Palomas im Verhältnis zur Haltestelle in Tehuitzingo, beklagte. Die Strecke zwischen Las Palomas und Tehuitzingo sei zu lang, so dass der Aufwand von Kraft und Zeit im Verhältnis zur coperacha viel höher als auf seinen übrigen Strecken sei: »In den Bussen zwischen Palomas und Tehuitzingo ist die Strecke zu lang. Ich muss mindestens fünf, sechs Stücke spielen und wenn ich ankomme bin ich müde. Wenn ich dann meine Runde mache und sie geben auch noch wenig, bei all der Anstrengung!? Wofür!? Für nix!« (Balbuena, Efraín 19.3.2013) Die gerade auf dieser Strecke besonders hohe Dichte von 14 topes stellte folglich eher einen Nachteil für Efraín Balbuena dar, weil sie die Fahrt des Busses zusätzlich verlängerten. An keinem dieser topes bot sich die Möglichkeit, die Strecke zu unterteilen, denn dafür war sie wiederum zu kurz. Tehuitzingo, wo der Bus mehrere Minuten hielt und Verkäufer/innen in den Bus drängten, und Las Palomas, wo ein Großteil der Passagier/innen aus- beziehungsweise umstieg, waren jeweils einschneidende Punkte auf der ruta, über die Efraín Balbuena nicht hinwegspielen konnte. Efraín Balbuena fand sich jedoch nicht immer mit den vermeintlichen Vorgaben der Transiträume durch die bereits existierenden topes ab. Seine allmorgendliche Fahrt mit der combi zu den topes in Nuevos Horizontes bedeutete den Verlust von Zeit und Geld. Zudem vermisste Efraín Balbuena einen tope vor seiner Haustür, weil ihm dieser auch nach der Eröffnung seines Restaurants hilfreich wäre und Kund/innen anzöge. 9 So versuchte er, die übrigen Bewohner/innen seiner Siedlung davon zu überzeugen, einen Antrag auf einen tope zu stellen: »Mir würde das helfen. Aber ich brauche mehr Zeit, oder ich muss einen Antrag stellen, damit sie hier einen Tope bauen. […] Denn wahrscheinlichh tun die vom Verkehrsamt uns den Gefallen nicht. […] Aber ich will wenigstens fragen, ob das möglich wäre. […] Uns fehlt ein Tope, wegen der Schule, für die, die da vorne leben und später auch für mein Restaurant.« (Balbuena, Efraín Balbuena 19.3.2013)
Doch vorerst fuhr er weiterhin jeden Morgen mit einer combi bis Nuevos Horizontes, um dort auf die großen Überlandbusse zu warten. Die topes auf den Straßen durch die Mixteca Poblana ermöglichten es Efraín Balbuena also, die institutionalisierte Ordnung der rutas aus offiziellen Haltestellen zu seinen Gunsten zu untergliedern. Seine Wahl ganz bestimmter topes als Ein- und Ausstiegspunkte unterteilte die rutas entlang des über 80 km langen Abschnitts der MEX-190 und kreierte Strecken, die bis auf eine Ausnahme in ihrer Reisedauer Efraín Balbuenas bevorzugter Performancelänge entsprachen. Während der Musiker zur Zeit 9
Zu Efraín Balbuenas Plänen, an der MEX-190 ein Restaurant zu eröffnen, vgl. Kapitel 4.1.
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meiner Feldforschung lediglich von anderen verlegte topes zu Strecken synthetisierte, bemühte er sich bereits, seine Nachbarn von der Notwendigkeit eines topes vor ihrer Haustür zu überzeugen, um mit ihnen gemeinsam einen entsprechenden Antrag bei der zuständigen Behörde zu stellen. Damit verfolgte er die Absicht, selbst materielle Güter zu schaffen, mit deren Hilfe sich sein Streckennetz optimieren ließ.
5.2 TURNOS UND TERRITORIEN: DIE ORGANISATION DER MUSIKER Efraín Balbuena, »El Soiltario del Sur« musste nicht teilen: »Es gibt hier niemanden. Ich bin der Einzige. […] Deshalb habe ich viel Raum.« (Balbuena, Efraín 28.7.2010) Zwischen den ersten Anhöhen der Mixteca Poblana bis weit hinein in die benachbarten Bundesstaaten Oaxaca und Guerrero konnte sich Efraín Balbuena frei bewegen und seinen Tag beginnen und beenden, wann immer es ihm beliebte. Der einsame músico ambulante besaß Freiheit und Unabhängigkeit, ein zentrales Motiv im romantischen Bild von Musik in öffentlichen Räumen, das sowohl Straßenkünstler/innen in New Yorks Parks als auch Musiker/innen in Mexiko-Stadts U-Bahn-System trieb (vgl. Harrison-Pepper 1990: 10 und Domínguez Prieto 2010: 227). Auch die übrigen músicos ambulantes bemühten dieses Ideal, wenn sie von ihrer Arbeit sprachen: »Wer so frei unterwegs ist, macht das, weil er keinen Chef haben will, niemanden der einen ausbeutet.« (Contreras, Andrés 6.8.2010) Sehr bald mussten die meisten unter ihnen jedoch feststellen, dass das romantische Bild freier, unabhängiger Arbeit nur wenig mit ihrem Alltag zu tun hatte. Ihre Freiheit stieß spätestens dort an ihre Grenzen, wo mehrere Musiker aufeinandertrafen, ihren Einstieg in Busse organisieren mussten und sich Wartezeiten ergaben. Mal teilten Musiker das Streckennetz auf, stiegen an verschiedenen Orten in die Busse oder teilten einander verschiedene líneas zu. Mal bildeten sie einfache Reihenfolgen, turnos, die sich nach der Ankunft der Musiker am Einstiegsort richteten. Wurde allerdings die Konkurrenz zu groß oder waren die Unterschiede in der Ergiebigkeit verschiedener Strecken oder líneas zu gravierend, ergaben sich Konflikte. Lokale Musiker nutzten ihre Ortskenntnisse, um fremde Konkurrenten auszustechen. Etablierte Musiker schlossen sich zusammen, um die eigenen Interessen gegenüber anderen durchzusetzen. Dabei spielte Territorialität eine wichtige Rolle. Músicos ambulantes blockierten Einstiegsorte oder mit Hilfe befreundeter Busfahrer ganze líneas und rutas, so dass andere Musiker sich alternative Strecken suchen mussten. Innerhalb der Streckennetze entstanden exklusive Räume, zu denen nur noch bestimmte músicos ambulantes Zugang hatten. Als Antwort entwickelten benachteiligte músicos ambulantes Strategien, um etablierte Ordnungen zu unterwandern. Sie schnitten Warteschlangen oder fingen Busse vor den Einstiegsorten anderer ab. Im Kampf um die lukrativsten Strecken und rutas bewahrheitete sich also Lefebvres Erkenntnis, dass sich in Raumonstitutionen stets Machtverhältnisse spiegeln (vgl. Lefebvre 1991: 98). Wann und wo kam es also zu Konflikten zwischen músicos ambulantes und auf welche Weise wurden sie gelöst? Wie teilten Musiker das Streckennetz räumlich auf, wenn dies notwendig war, und wie verteidigten sie einen lukrativen Einstiegsort oder
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eine ergiebige línea gegen andere Musiker? Welche Musiker hatten in diesen Konflikten die Oberhand und welche das Nachsehen? Dieses Unterkapitel ist der Organisation der Musiker untereinander und den Räumen, die sie hervorbrachte, gewidmet. Turnos: Räumliche und zeitliche Ordnungsprinzipien der Musiker Efraín Balbuena, der sich einsam zwischen den Hügeln der dünnbesiedelten Mixteca Poblana durch die Busse bewegte, war der einzige meiner Gesprächspartner, der seine Strecken nicht mit anderen Musikern teilen musste. In den anderen Streckennetzen mussten sich die Musiker untereinander arrangieren, um sich nicht in die Quere zu kommen. Wenn möglich organisierten sie sich dabei räumlich und jeder Musiker beziehungsweise jedes dueto spielte auf seiner eigenen Strecke. So erklärte Tomás Ramírez, dass er nicht in Konkurrenz zu Julio und Jesús García stehe, weil er zwischen Coyuca und El Papayo spiele, während Julio und Jesús García auf der anderen Seite Coyucas bis zum retén spielten: »Die Kerle kommen nur bis hier und fahren dann wieder Richtung Acapulco.« (Ramírez, Tomás 15.8.2010) Jedoch nicht immer ließen sich Strecken so einfach aufteilen, wie Tomás Ramírez es darstellte. Strecken waren unterschiedlich in ihrer Qualität, sie unterschieden sich in Länge, Menge und Art der Passagier/innen. Lagen sie wie an der Costa Grande hintereinander, liefen Musiker Gefahr, in Busse zu steigen, die ein anderer Musiker gerade erst verlassen hatte. Vor allen Dingen aber kam es zu Konflikten, wenn sich so viele Musiker in einem Streckennetz bewegten, dass sie sich nicht mehr räumlich verteilen konnten, ohne einander zu begegnen. »Turno« war der Begriff, um den sich die Erklärungen der Musiker drehten, sobald sie gefragt wurden, wie sie sich organisierten, wenn mehrere Musiker am selben Einstiegsort auf Busse warteten. Dabei bezeichnete »turno« den Platz eines Einzelnen in der Reihe wartender Musiker. In der einfachsten und am weitesten verbreiteten Organisationsform entsprachen die turnos der Reihenfolge, in der die Musiker am Einstiegspunkt erschienen waren. Besonders in Streckennetzen, in denen nur wenige Musiker arbeiteten, galt für gewöhnlich diese simple Regel. Gabriel Villanueva erläuterte, dass so verfahren wurde, wenn mehrere Musiker am retén in Bajos del Ejido an der Costa Grande aufeinandertrafen: »Wenn schon andere Musiker vor uns am Retén sind, müssen wir halt warten, bis diese Musiker unterwegs sind, denn man muss den Turno respektieren. Wer zuerst kommt, fährt zuerst.« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013) Vor allen Dingen morgens bildeten sich an den zentralen Einstiegspunkten, wie dem retén bei Bajos del Ejido auf der MEX-200 an der Costa Grande oder vor der Ausfahrt des Terminals von Iguala auf der Calle Altamirano Schlangen von Musikern, die ihren turno abwarteten. Es ergaben sich die einzigen Gelegenheiten, zu denen músicos ambulantes aufeinandertrafen. Üblicherweise warteten sie nicht still, bis sie an der Reihe waren, sondern tauschten Informationen aus, zeigten sich gegenseitig Stücke aus ihrem Repertoire oder spielten gemeinsam, um sich die Wartezeit zu verkürzen. Wald beschreibt in seinem Buch Narcocorridos eine solche Warteschlange an der Haltestelle von San Marcos an der Costa Chica: »[I]t was clearly a popular spot: a small crew consisting of a dueto, a solo guitarist, and an Azteca salesman (this one hawking aceite de vibora, snake oil), was already sitting on benches in front of a soft-drink stand. Los Pajaritos showed up shortly before noon, along with another medicine
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man, and everyone sat around playing songs and exchanging shoptalk. [...] As buses came in, singers and salesmen went off to work, leaving in the same order in which they had arrived.« (Wald 2002: 244)
Häufig lösten sich diese Schlangen im Laufe des Vormittages auf, wenn sich alle Musiker in Bewegung befanden. An der Haltestelle »Metro El Potrero« 2010 spielten die Musiker auf einer Reihe aus zwei Strecken, auf denen sie dann wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrten. Eine solche Runde dauerte etwa zwei Stunden, so dass im Idealfall bei der 15-minütigen Busfrequenz der Busse der línea Teotihuacanos acht Musiker stetig unterwegs waren, ohne dass sich Wartezeiten und damit Verdienstausfälle ergaben. Allerdings durchkreuzten Busfahrer, die den Zustieg verweigerten, diese Ordnung, so dass sich auch dort immer wieder Warteschlangen ergaben. Wartezeit bedeutete für die músicos ambulantes empfindliche Einkommensverluste. Daher gestalteten sich die Abfolgen der wartenden Musiker an Einstiegspunkten, die von sehr vielen Musikern frequentiert und von verschiedenen líneas angefahren wurden, komplexer und die Zahl der Konflikte stieg. Busmusiker bestimmten den turno nicht mehr entsprechend der Reihenfolge, in der sie am entsprechenden Tag an der Haltestelle erschienen waren, sondern danach, wer bereits die längste Zeit auf der entsprechenden Strecke arbeitete. Im komplexen Gefüge des Streckennetzes »Paradero 30-30« und konkret an der Haltestelle »Metro El Potrero« bedeutete der Begriff »turno« nicht die Chancengleichheit aller Busmusiker, die Gabriel Villanueva ihm zuordnete. Nicht jeder dort besaß einen turno in der »rol« genannten Warteschleife. An der Haltestelle »Metro El Potrero« bezeichnete der Begriff »turno« das exklusive Recht einiger Weniger, die hier zusteigen durften. In diesem Sinne erklärte Endir de León, dass er dort – im Gegensatz zu Rubén Jaímez – nicht das Recht besaß, zuzusteigen: »Wenn wir in Potrero sind, dann habe ich keinen Turno, aber er schon. Denn er ist schon seit Jahren dort.« (Jaímez, Rubén und de León, Endir 7.10.2010) Turnos, die nicht mehr auf der Reihenfolge der Ankunft beruhten, bedurften allerdings einer Hierarchie, die sie durchsetzte. »Sindicatos«, »líderes« und »la mafia«: Zusammenschlüsse unter Busmusikern Im Laufe meiner Feldforschung wuchs Gabriel Villanuevas Frust über die stetig zunehmenden Kontrollen durch die líneas entlang der Costa Chica und der Costa Grande, so dass er 2013 zu dem Schluss kam, dass nur ein Zusammenschluss der betroffenen Busmusiker Abhilfe schaffen konnte. Von einer solchen Vereinigung erhoffte er sich Druck auf die líneas und eine offizielle Legitimierung der Busmusiker: »Wenn sich nur einer bald kümmern und das Problem angehen würde und jedem Musiker einen Ausweis oder eine Genehmigung ausstellen würde. […] Ich glaube, das ist notwendig, dass sie uns eine Erlaubnis geben, damit uns alle Busfahrer spielen und Geld aus den Bussen holen lassen, für unsere Familien. Denn es gibt keine Arbeit. Wir leben von der Musik.« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013)
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Zusammenschlüsse von Busmusikern, die Gabriel Villanueva forderte, fanden inoffiziell längst statt. Jedoch verfolgten sie nicht das Ziel, bei den líneas die Rechte von músicos ambulantes zu stärken. Stattdessen vereinigten sich Busmusiker und bildeten Strukturen, mit denen sie vor allen Dingen andere, fremde Busmusiker kontrollierten und abwehrten. Wenn músicos ambulantes das erste Mal in Busse stiegen, um darin Geld zu verdienen, so hatten sie nicht allein mit Lampenfieber und Scham zu kämpfen.10 Bereits in den ersten Tagen an Bord der Busse der línea Maxirutas entlang der Avenida Cuauhtémoc machten andere Musiker Lorenzo Villanueva klar, dass er ihre Regeln zu befolgen habe: »Damit es mit den Kollegen keine Probleme gibt. […] Kollegen, die die gleiche Arbeit machen, werden sonst sauer: ›Hey! Mach’ das nicht!‹ Man muss sich halt an ihre Normen anpassen.« (Villanueva, Lorenzo 4.4.2013) Mit dem kühlen Empfang, den ihm die anderen Musiker am Straßenrand bereiteten, verfolgten sie bewusst eine Strategie der Abschreckung. Wie an der Avenida Cuauhtémoc organisierten sich in Streckennetzen, die sich viele Musiker teilten, Alteingesessene, um zu verhindern, dass ihre Einstiegspunkte von Neuankömmlingen überlaufen wurden: »Es gibt Kollegen, die sich zusammenschließen, wenn neue kommen. Ich habe das nie gemacht, denn ich will nicht so einer sein. Wir haben alle ein Recht auf Arbeit. Es ist, wie man sagt: ›Die Sonne geht für alle auf und unter.‹ Oder?« (Villanueva, Lorenzo 4.4.2013) Andrés Contreras, der bereits in vielen Teilen Mexikos in Bussen gespielt hatte, wusste von Zusammenschlüssen in den nördlichen Bundesstaaten Baja California und Sonora zu berichten: »Im Norden […] gab es viele Gauner, die eine Art Gewerkschaft gebildet hatten. Wenn du in den Bussen singen wolltest, dann musstest du ihren Anführer bezahlen. Damit war schon alles verdorben, nicht wahr? […] Eigentlich sollte man in dieser Arbeit frei sein und sich nicht wie Konkurrenz behandeln. Der, der die Organisation führte, arbeitete quasi gar nicht. Wenn er 100 oder 200 [Musiker] unter sich hatte, die ihm jeweils 10 oder 20 Peso ablieferten, dann machte er täglich 2.000 Peso, ohne zu arbeiten. […] Sowas ist ungerecht.« (Contreras, Andrés 6.8.2010)
Wie die Mehrzahl der Passagier/innen und Busfahrer waren Lorenzo Villanueva und Andrés Contreras der Ansicht, dass es sich bei den Überlandbussen um Räume handelte, die gerade Bedürftigen eine Möglichkeit boten, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten11, und es deshalb verantwortungslos sei, diesen Raum – von welcher Seite auch immer – zu regulieren. Auch im Streckennetz »Paradero 30-30« gab es viele Busmusiker, die gerade deshalb in Busse stiegen, weil sie zuvor schlechte Erfahrungen mit der Organisation von Musikern und Händler/innen im Metro-Netz der Hauptstadt gemacht hatten. Einer unter ihnen war der junge Musiker »Alan«, der sein Glück zunächst in der Metro versucht hatte und umgehend feststellen musste, dass es für neue Musiker schwer war, Zutritt zu den Waggons zu erhalten, da die Metro-Linien von, wie er sie nannte, »mafias« kontrolliert würden: »Die Metro ist das schlimmste. Die Metro ist eine Mafia! In der Metro muss du täglich 100 Peso zahlen, […] damit sie dich spielen lassen. […] Du kommst um 7 Uhr morgens. Dort haben sie 10 Zur Scham der músicos ambulantes vgl. Kapitel 6.3. 11 Passagier/innen schlossen sogar aus der Tatsache, dass Musiker in Bussen auftraten auf eine finanzielle Notlage (vgl. Kapitel 6.3).
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feste Ankunftszeiten, feste Mittagspause und festen Feierabend. Wenn du dich nicht daran hältst, verscheuchen sie dich. Dort arbeitst du nicht auf eigene Rechnung, stattdessen mietest du dich in der Vereinigung der ambulanten Händler des Metrosystems ein, als ob du dich auf einen Arbeitsplatz bewerben würdest. […] Sie geben dir deine Linie. […] Sie sagen: ›Weißt du was? Heute spielst du von Indios Verdes bis Universidad. Morgen spielst du – was weiß ich – von Carrera bis Barranca del Muerto.‹ Alle, die dort unterwegs sind, werden eingewiesen. […] Einmal habe ich einfach in der Metro gespielt. Da hat mich gleich ein ganzer Haufen rausgeschubst. Warum? Weil ich von niemandem die Erlaubnis hatte. Ich sagte mir: ›Gut, warum soll ich um Erlaubnis fragen, wenn es nur ein Transportmittel ist?‹[…] Nein! Es ist gefährlich in der Metro zu arbeiten.« (»Alan« 7.10.2010)12
Das Streckennetz »Paradero 30-30«, wo Überlandbusse die Enge Mexiko-Stadts über die Ausfallstraßen Richtung Norden verließen, wurde zu einem Sammelbecken für Musiker auf der Suche nach weniger straff kontrollierten Räumen. Doch gerade dort trafen sie auf eine räumlich-soziale Hierarchie, die ihnen strikte Grenzen aufzeigte. Die Musiker standen nicht nur der zweiten großen Interessengruppe der Händler/innen gegenüber, sondern waren auch untereinander tief gespalten. Die Ursache, so waren sich alle interviewten Musiker des Streckennetzes einig, lag in der hohen Zahl der aktiven músicos ambulantes und den vielen neuen aus der Hauptstadt, die stetig nachrückten. Der Neuankömmling »Alan« erklärte: »Hier merkst du wie viele wir sind. Wir sind eine Menge! Wir sind zu viele, Alter! Wenn wir 50 sind, sind das noch wenige. [Blickt sich an der Haltestelle um] Da vorne sind drei, dort nochmal zwei. Vielleicht sind noch mehr auf der anderen Seite. Hier sieht man zwei sitzen. […] Denn in Mexiko-Stadt und dem Umland, vor allen Dingen im Estado de México ist es sehr üblich, dass du Musiker in Bussen Gitarre spielen siehst.« (»Alan« 7.10.2010)
Uneinigkeit bestand unter den Busmusikern darüber, wie diese Situation gelöst wurde. Denn es war eine kleine exklusive Gruppe, die den Einstieg in die mit Tourist/innen besetzten Busse in Richtung der Pyramiden von Teotihuacan kontrollierte. In der Gruppe befanden sich vor allem Musiker, die Anfang der 1990er Jahre die Busse der línea Teotihuacanos für músicos ambulantes erschlossen hatten.13 Für José David Jaímez, Mitglied dieser Gruppe etablierter Musiker und Vater von sieben Kindern, bestand kein anderer Ausweg aus der Situation, die die Existenz seiner Familie bedrohte: »Sollten die anderen Kollegen dazukommen, dann musst du hier länger als eine Stunde
12 Andrés Contreras, der früher häufiger versucht hatte, in der Metro Mexiko-Stadts Fuß zu fassen, machte ähnliche Erfahrungen wie »Alan«: »Ich habe auch schon in der Metro gespielt. Dort machen sie dir viel Ärger. […] Sie lassen niemanden rein. Man muss in der ›Mafia‹ sein, wie sie es nennen, einer Organisation, wo Funktionäre bezahlt werden, damit sie dich rein lassen.« (Contreras, Andrés 6.8.2010) Obwohl Domínguez Prieto in ihrem Buch Trovadores Posmodernos über die Musiker in der Metro bedauerlicherweise die organisatorischen Strukturen ausspart, bestätigen Zitate ihrer Interviewpartner/innen die Kommentare der Busmusiker, auch wenn sie ein differenzierteres Bild zeichnen und Unterschiede zwischen den einzelnen Linien machen (vgl. »Efraín« in Domínguez Prieto 2010: 234). 13 Vgl. Kapitel 4.4.2.
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warten! Du musst dich hinten anstellen. [...] Das bedeutet, dass du hier deine Zeit verlierst.« (Jaímez, José David 8.3.2013) So entwickelten José David Jaímez und jene Busmusiker, mit denen er gemeinsam an der damaligen Haltestelle »Metro Indios Verdes« begonnen hatte, die exklusive Warteschlange, die sie als »rol« bezeichneten. Sie sorgten dafür, dass immer ausreichend Vertreter ihrer Gruppe an der Haltestelle saßen und den Zustieg von Neuankömmlingen verhinderten. Sein Sohn Rubén Jaímez und Endir de León erzählten: Rubén Jaímez: »Die Fahrer […] ließen zusteigen. Bis eines Tages 27 Musiker dort rumstanden. […] Dann haben sie mit der Rol angefangen.« Endir de León: »Dann sind sie langsam wieder gegangen.« Rubén Jaímez: »Sie begannen zu gehen, zu gehen, zu gehen. Jetzt sind wir nur noch zu neunt, wenn man dort zählt.« (Jaímez, Rubén und de León, Endir 3.11.2011)
Aber auch wenn der Zusammenschluss die neuen Musiker zunächst abschreckte, so konnte er langfristig nicht verhindern, dass immer mehr Musiker aus der ganzen Metropolregion Mexiko-Stadts in das Streckennetz strömten. Daher bildeten sich letztendlich zwei Lager: das in seiner Besetzung sehr konstante Lager der organisierten Musiker, die den Einstieg in die von Tourist/innen genutzten Busse der línea Teotihuacanos Richtung Pyramiden kontrollierten, und das weitaus größere und von steter Fluktuation geprägte Lager der später gekommenen und nicht organisierten Musiker, die die übrigen Busse unter sich aufteilten. Als die Haltestelle der Busse der línea Teotihuacanos von der Metrostation »Indios Verdes« an die Metrostation »El Potrero« umzog, trennten sich die beiden Lager auch räumlich. Die etablierten Musiker spielten auf den Strecken zwischen der Haltestelle »Metro El Potrero« und der ehemaligen Haltestelle »30-30« und darüber hinaus bis zur »Puerta Uno« des archäologischen Parks oder bis San Juan. Nach Auflösung der Haltestelle »30-30« spielten sie hauptsächlich zwischen der Haltestelle »Metro El Potrero« und der Haltestelle »Puente Morelos«. Die anderen Musiker bewegten sich zwischen der Haltestelle »Metro Indios Verdes« und »30-30«, während sich ihre Strecken nördlich der Haltestelle »30-30« in den Bundesstaaten Estado de México und Hidalgo zerfaserten: »Wir teilen uns auf. Zum Beispiel fahren alle, die du dort drüben an der ›30-30‹ gesehen hast, nicht weiter als Indios Verdes. Dort wechseln sie auf die andere Seite und kehren wieder um. Jeder hält sich an seine Haltestelle, Alter!« (Jaímez, José David 8.3.2013) Fortan wurden die Musiker mit den Haltestellen, an denen sie zustiegen, identifiziert. Die Gruppe der etablierten Musiker wurde von den übrigen an der ehemaligen Haltestelle »30-30« als »los que trabajan de El Potrero pa’ acá«, »die von Potrero bis hier arbeiten« bezeichnet. Die etablierten Musiker verbanden die später gekommenen músicos ambulantes mit der Haltestelle »Metro Indios Verdes«, einem unübersichtlichen und gigantischen Verteilerpunkt des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs und berüchtigtem kriminellen Brennpunkt. Je nach Interviewpartner schwankten die Angaben über Mitgliederzahlen der exklusiven Gruppe an der Haltestelle »Metro El Potrero« zwischen acht und zehn Musikern. Jeder der Gruppe achtete darauf, dass kein Außenstehender in die Busse stieg. Ihr Zusammenschluss garantierte, dass Neulinge immer auf eine Überzahl an etablierten Musikern an der Haltestelle trafen und sich deren Willen fügen mussten: »Wir sind hier eine Gruppe von acht. […] Hier gilt: ›Niemand anders darf hier spielen!‹ […] Es
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war so: wenn sie kamen, dann standen wir schon in einer Reihe und warteten auf unseren Turno. Dann kam der ›San Juan‹ und um dort nicht rumzuhängen, blieb ihnen nichts übrig als im ›San Juan‹ zu fahren.« (Jaímez, José David 8.3.2013) Trotzdem beklagte José David Jaímez, dass sich nicht alle Neulinge einsichtig zeigten und es gelegentlich zu Reibereien kam: »Einmal hatte ich Probleme mit einem Typen hier. Jetzt kommt er fast nicht mehr, aber plötzlich taucht er doch mal auf und macht Ärger. […] Aber wir beachten ihn gar nicht mehr, wir machen weiter mit dem Turno und fertig.« (Jaímez, José David 8.3.2013) Den etablierten Musikern zu Folge konnten Andere durchaus Zutritt zu ihrer Gruppe erhalten, wenn sie mindestens zwei Jahre lang in jenen Bussen der línea Teotihuacanos spielten, die die Ortschaft San Juan anfuhren, nicht die Pyramiden passierten und daher auch keine Tourist/innen transportierten. Denn zwei Jahre, so der Mythos der Erschließung der línea für Busmusiker, brauchten die ersten Pioniere an der Strecke bis sie endlich das Vertrauen der Busfahrer gewonnen hatten. Rubén Jaímez erklärte: »[Mein Vater] bemühte sich zwei Jahre, ohne dass sie ihn mitnahmen. Er, Juan Carlos, ›El Pucho‹ und ›El Moco‹ – sie waren vier. […] Die vier bemühten sich zwei Jahre lang, ohne dass sie sie einsteigen ließen. Sie sagten ihnen nichts als nein, nein, nein. Jedesmal, wenn nun jemand mitmachen will, sagen sie ihm, dass er zwei Jahre lang nur im ›San Juan‹ spielen muss. Denn die Gringos fahren in den anderen.« (Jaímez, Rubén 3.11.2011)
Obwohl er der Sohn eines der Wortführer an der Haltestelle »Metro El Potrero« war, hatte selbst Rubén Jaímez zunächst zwei Jahre in den Bussen mit Ziel San Juan gespielt, bevor er in denen mit Tourist/innen auftreten durfte (Jaímez, Rubén 3.11.2011). Abbildung 19: Die unterschiedlichen Strecken der Musiker der Haltestellen »Metro El Potrero« und »Indios Verdes« im Streckennetz »Paradero 30-30«.
Abbildung: Kirschlager
Im Lager der Musiker, die über keinen turno an der Haltestelle »Metro El Potrero« verfügten, hatte sich diese Regel und ihr Bezug auf den Mythos der Erschließung der línea entweder nicht herumgesprochen, oder die Musiker glaubten nicht wirklich an
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die Möglichkeit, irgendwann in den exklusiven Kreis der Haltestelle »Metro El Potrero« einzutreten. »Eduardo« äußerte sich resigniert: »Tatsächlich werden wir niemals eine Möglichkeit haben. Es ist traurig, was ich dir sage: Solange die dort drüben leben, werden wir keine Chance haben. Aber das sind alles junge Typen, da werde ich wohl eher sterben.« ( »Eduardo« 7.10.2010) Die einzige Möglichkeit Zugang zu den Tourist/innen in den Bussen der línea Teotihuacanos zu erhalten, so »Eduardo«, sei sich mit einem etablierten Musiker zusammenzuschließen und dessen turno zu nutzen, wie es Endir de León mit dem etablierten Rubén Jaímez tat. Allerdings lohne es sich nicht, sein Einkommen für einen turno zu teilen: »Weil er sich gut mit Rubén versteht, spielen sie auch drüben. Ich hätte auch mit einem zusammenarbeiten können, aber dann hätten wir die Einnahmen teilen müssen. […] Das rechnet sich nicht.« (»Eduardo« 7.10.2010) Die Verzweiflung vieler Musiker, die vergeblich versuchten, in die Busse der línea Teotihucanos zu gelangen, war umso größer, da sie zuvor aus den urbanen Bussen der Hauptstadt vertrieben worden waren, wo viele rutas durch das neue »Metrobús«-System ersetzt worden waren. Sie sahen sich bei steigendender Zahl an Busmusikern mit immer weniger Auftrittsmöglichkeiten konfrontiert. Wütend stellten sie fest, dass die Gruppe um die etablierten Musiker sich nicht einfach nur den Zustieg an einer Haltestelle sicherte, sondern gerade die ertragreicheren Busse für sich allein beanspruchte. Obwohl sich die Mitglieder beider Lager untereinander grüßten und scheinbar freundschaftlichen Kontakt miteinander pflegten, äußerten Musiker ohne turno an der Haltestelle »Metro El Potrero« immer wieder ihre Unzufriedenheit mit der Situation. So erklärte »Eduardo«, dass er es zwar nicht nötig habe, in den Bussen mit ausländischen Passagier/innen zu spielen, er sich jedoch über die mangelnde Solidarität der etablierten Musiker ärgere. Letztendlich warf er den etablierten Musikern sogar die Anwendung physischer Gewalt vor: »Hier in Mexiko ist der schlimmste Feind eines Armen immer ein anderer Armer. […] Sie haben uns gesagt, dass uns die Reichen unten halten, aber das stimmt nicht. […] Die, die von Potrero bis hier arbeiten, wollen nicht, dass wir dort einsteigen, sonst würden sie aufhören zu verdienen. […] Sie sind Neider, das ist das richtige Wort, sie lassen uns nichts verdienen. Man sagt, – ich habe es nicht gesehen, aber man erzählt – dass sie Leute, die dort einsteigen wollten, sogar geschlagen haben. Deshalb sage ich dir, der schlimmste Feind des Armen, ist ein anderer Armer.« (»Eduardo« 7.10.2010)
Während »Eduardo« auch im Verhalten der etablierten Musiker untereinander nichts als Neid und Missgunst zu erkennen glaubte, sei unter den Musikern, die nicht über einen turno an der Haltestelle »Metro El Potrero« verfügten, deutlich der Zusammenhalt untereinander zu erkennen: »Tatsächlich verstehen wir uns auf unserer Seite besser als die auf der anderen Seite. […] Ich sehe, wie die hier ankommen: ›Ah, der wollte mich nicht in diesen Bus einsteigen lassen und…‹ Hier beklagen sie sich über die dadrüben. [Hier] sind alle willkommen.« (»Eduardo« 7.10.2010) Tatsächlich bildeten die Musiker ohne turno an der Haltestelle »Metro El Potrero« eine sehr heterogene Gruppe, deren Mitglieder sich sowohl in Hinblick auf ihr Repertoire als auch auf ihre Arbeitszeiten und ihre Strecken deutlich voneinander unterschieden. Während einige Musiker täglich an der Haltestelle »30-30« erschienen oder dort auch teilweise über Jahre arbeiteten, kamen die meisten nur gelegentlich, alternierten mit Strecken an den westlichen Ausfahrtsstraßen Mexiko-Stadts Richtung Toluca oder spielten eigentlich
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weiter nördlich, weg von der Stadt. Andere arbeiteten nicht täglich als Musiker. So gab es viele Studenten, die nur sporadisch in Bussen auftraten. Zudem waren die Musiker ohne turno an der Haltestelle »Metro El Potrero« anders als die Musiker mit turno nicht als Gruppe eng mit den Busfahrern einer bestimmten línea vernetzt. Vielmehr hatte jeder der Musiker persönliche Präferenzen bezüglich líneas und rutas und verfügte über sein eigenes Netzwerk aus befreundeten Busfahrern. Selbst wenn also »Eduardos« Behauptung, die Musiker ohne turno seien offener, nicht zuträfe, so fehlten ihnen ohnehin die Voraussetzungen, Neulingen den Zustieg zu verweigern. Vielleicht sah »Eduardo« gerade deshalb auch die Vorteile der exklusiven Politik, die etablierte Musiker gegenüber Neuankömmlingen durchsetzten: sie schrecke die neuen Musiker bereits stadteinwärts an der Haltestelle »Metro El Potrero« ab und verhindere, dass ihre Zahl an der Haltestelle »30-30« weiter steige. Genauso wie die etablierten Musiker, die sich Mitte der 1990er Jahre organisierten, um ihre Arbeit wider den Ansturm neuer Musiker rentabel zu halten, sah sich 15 Jahre später »Eduardo« von nachrückenden Musikern bedroht: »Ich habe immer gesagt: […] dank der Leute, die uns nicht einsteigen lassen, verdienen wir mehr Geld. Denn wenn uns alle hier spielen ließen, wären wir 30 und wir warteten um in die Busse zu steigen. Es ist gut, dass welche den Einstieg verbieten, sonst wird es lästig. Wenn sie ein, zwei oder drei Stunden warten, sagen sie: ›Nein, hier verdient man ja nichts! Ich mache besser etwas anderes!‹ Und sie hauen ab.« (»Eduardo« 7.10.2010)
Außerdem, so »Eduardo«, kontrolliere die kleine Gruppe der etablierten Musiker nicht allein, wer in welche línea oder welchen Bus stieg. Sie passten auch auf, dass sich die Musiker den Busfahrern gegenüber höflich verhielten und nicht ausfallend reagierten, wenn Busfahrer ihnen den Zustieg verweigerten. Er beobachtete: »Ich sehe, dass sie sich kümmern. Sie kümmern sich um die Gesellschaft und um die Línea. Damit die Gesellschaft uns nicht sagt: ›Weißt du was? Ich lasse dich nicht mehr rein!‹ Was kann sie bewegen, uns nicht mehr reinzulassen? Wenn einer die Passagiere oder die Fahrer beschimpft.« (»Eduardo« 7.10.2010) Als die Haltestelle »30-30« einige Kilometer weiter unter die »Puente Morelos« verlegt und mit zusätzlichem Sicherheitspersonal versehen wurde, traf die striktere Politik gegenüber músicos ambulantes die Musiker ohne turno deutlich härter als die organisierten Musiker an der Haltestelle »Metro El Potrero«. Während »Manuel« und »Eduardo« 2011 aus dem Streckennetz verschwunden waren, arbeiteten alle Musiker mit turno an der Haltestelle »Metro El Potrero« weiter in den Bussen der línea Teotihuacanos. Möglichkeiten turno-Systeme zu umgehen Hierarchische Strukturen, wie an der Haltestelle »Metro El Potrero«, die langen Schlangen an anderen Einstiegsorten, Wartezeiten und empfindliche Verdienstausfälle ließen einzelne Musiker immer wieder nach Möglichkeiten suchen, turno-Systeme zu umgehen. Die gängigste Methode, um die etablierte Ordnung an konkreten Einstiegsorten zu unterlaufen, war es, die Busse »flussaufwärts« abzufangen und die wartende Konkurrenz bereits an Bord eines Busses zu passieren. Diese Taktik verfolgte Lorenzo Villanueva, um den vielen Musikern in »Las Anclas«, dem wichtigsten Einstiegspunkt
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auf der dem Pazifik zugewandten Seite des Maxitúnel, zuvorzukommen. Der jüngere der »Los Pajaritos del Sur« stieg bereits einige hundert Meter vor »Las Anclas« in die camiones, so dass er den langen Wartezeiten entging: »Bei Las Anclas stelle ich mich beinahe nicht mehr hin. Manchmal fahre ich bis zum Parque Papagayo […], dort steige ich wieder ein, denn in Las Anclas steht eine ganze Meute von Kollegen. Dann fahre ich wieder direkt zurück und nehme später einen zweiten Bus. […] Wenn ich schon drin bin, macht es [den anderen Musikern] nichts aus. Oder es stört sie, aber sie sagen nichts, denn ich komme schon von dort hinten.« (Villanueva, Lorenzo 4.4.2013)
Während die übrigen Musiker an der Avenida Cuauhtémoc zumindest gegenüber Lorenzo Villanueva keinen Unmut über diese Taktik des vorgezogenen Einstiegs äußerten, zeigten sie sich in Bezug auf eine andere Taktik weniger tolerant. Als Lorenzo Villanueva begann, in den Bussen der línea Maxirutas in Acapulco zu spielen, bezahlte er, nicht zuletzt wegen mangelnder Kontakte zu Busfahrern, für jede Fahrt den normalen Tarif. Auf diese Weise hatte er es nicht nötig, das Vertrauen der Busfahrer zu gewinnen, und konnte wo und wann er wollte zusteigen. Sehr früh bemerkte er, dass er damit den Argwohn der anderen Musiker auf sich zog. Die übrigen Musiker bezahlten nämlich nicht, sondern baten der Reihe nach bei den Busfahrern um Erlaubnis, um dann den Zählmechanismus auszutricksen. Um Taktiken, wie sie Lorenzo Villanueva anwendete, zu unterbinden, setzten in vielen Streckennetzen alteingesessene Musiker durch, dass kein Musiker, wie ein regulärer Passagier bezahlte. Niemand sollte sich einen Vorteil verschaffen, während andere Musiker sich abseits der Terminals und Haltestellen vor den Blicken Offizieller der líneas verbargen, um ohne Ticket zusteigen zu können. Lorenzo Villanueva deutete an, dass er von einem etablierten Musiker eingewiesen wurde, wie er sich zu verhalten habe. Obwohl er die Unterhaltung als hilfreichen Ratschlag darstellte, schimmerte in seiner Schilderung der Ereignisse durch, dass sein Gegenüber ihn auch in die soziale Ordnung der übrigen Musiker einfügen wollte, damit er unter den gleichen Bedingungen, wie sie in den Bussen spielte: »Naja, man muss halt warten, nicht? Man muss Schlange stehen, wie in der Tortillería. Denn wer zuerst kommt, fährt zuerst, nicht? […] Aber da ich keine soziale Verbindung zu [den anderen Musikern] hatte – ich kannte sie nicht mal – […] hatte ich keine Ahnung. Deshalb kam ein Kollege, der heute nicht mehr spielt, und sagte mir – ich spielte schon seit etwa zwei Wochen und bezahlte jeden Bus, in den ich stieg – er sagte mir: ›Hey! Warum bezahlst du die Busse!?‹ sagte er ›Du machst eine Runde nach der anderen!‹ […] Denk mal nach!‹ Ich sage: ›Ich bezahle ja auch dafür.‹ Er sagt: ›Hör auf zu bezahlen! […] Denk nach! Wenn du in zehn Busse steigst, dann kosten dich diese 10 Busse 60 Peso, die du über den ganzen Tag bezahlst. Besser bittest du um Erlaubnis und dann duckst du dich unter dem Sensor durch, den sie jetzt haben.‹ Wenn ich um Erlaubnis frage, muss ich mich auch bücken und wie eine Schlange in den Bus kriechen. Damit der Sensor nicht anspringt, denn dann müssten sie für mich zahlen. […] Von da an bezahlte ich nicht mehr und fing an, in der Línea Maxitúnel zu arbeiten.« (Villanueva, Lorenzo 5.10.2011)
Seitdem schob sich Lorenzo Villanueva, wie die übrigen Musiker, ungezählt auf dem Bauch unter dem unsichtbaren Strahl der Lichtschranke hindurch über die drei Stufen des Einstiegs.
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Ein gewöhnliches Ticket zu lösen, war eine Abkürzung im Prozess, den Busmusiker an einer neuen Strecke durchliefen, bis sie Zustieg zu Bussen erhielten. Allerdings konnten auch sehr gute Beziehungen ein Ticket ersetzen und Busfahrer dazu bewegen, bestimmte Musiker gegenüber dem Rest der Warteschlange zu bevorzugen. An der ehemaligen Haltestelle »30-30« berichteten Rubén Jaímez, Endir de León und der Händler »Yiro«, dass Busfahrer häufig befreundete Musiker aus der Schlange heraus in ihre Busse baten: Yiro: »Das ist eine große Hilfe.« Endir de León: »Ah, ja.« Yiro: »Sobald es ein Band der Freundschaft zwischen ihnen gibt, bevorzugen sie sie. Zwischen all den Musikern, wählen sie dann sie aus, nicht? Euch! […] Denn es gefällt ihnen, wie sie singen, und es sind ihre Freunde.« Endir de León: »Es ist so, schau mal! Hier gibt es viele Musiker und alle sind hier – siehst du? – mit Turnos und wenn der Busfahrer dieses bestimmten Busses kommt, dann spricht er uns an, obwohl…« Rubén Jaímez: »Zum Beispiel der ist unser Freund [zeigt auf einen Bus der línea Teotihuacanos]. Er ist nett zu uns. Er kommt aus Tlapancingo.« Endir de León: »Ja, genau. Sagen wir, wenn alle Musiker sind da und es ist der Turno eines anderen. Dann sagt er ›nein‹ zu dem und lässt uns rufen… oft, weil er unser Kumpel ist.« (Jaímez, Rubén und de León, Endir 7.10.2010)
Dank seines sozialen Geschicks, seiner langen Erfahrung aus Überlandbussen, seiner herausragenden musikalischen Fähigkeiten und nicht zuletzt seiner Berühmtheit besaß auch Lorenzo Villanueva bereits nach kurzer Zeit bessere Verbindungen zu den Fahrern der camiones als die übrigen Musiker. Dennoch entschied er häufig zugunsten des turno-Systems, wenn Busfahrer ihn begünstigten, um die übrigen Musiker nicht zu verprellen: »[Die Fahrer] sehen, dass ich dort bin und sie halten: ›Alles klar! Los geht’s!‹ Manchmal bitten sie mich und ich will nicht mit, da gerade noch viele Kollegen vor mir sind. Sie halten und sprechen mich an und manchmal sage ich ihnen: ›Ich kann nicht!‹ oder ›Ich habe noch etwas zu erledigen!‹ oder ›Ich warte noch auf eine bestimmte Person!‹ Damit sie sich nicht schlecht fühlen. Das musste ich schon öfters machen, damit die mitfahren können, die vor mir in der Schlange stehen. […] Damit ich keine Probleme mit den Kollegen bekomme.« (Villanueva, Lorenzo 4.4.2013)
Lokale versus fremde Musiker In der Regel waren es lokale Musiker, die die Einstiegsorte kontrollierten und Neulinge waren oft nicht willkommen. Als Andrés Contreras noch in Bussen spielte, reiste er stets, trat somit ständig auf unbekannten Strecken auf und traf häufig auf Gruppen lokaler Musiker. Dabei machte er oft die Erfahrung, dass er als Neuling nicht willkommen war: »Gut, an manchen Orten gibt es viel Konkurrenz und die sehen es nicht gern, wenn jemand neues auftaucht.« (Contreras, Andrés 6.8.2010) Auch wenn lokale Musiker sich nicht organisierten, um Neuankömmlinge von ihren Einstiegsorten fernzuhalten, waren sie dank ihrer Beziehungen zu Busfahrern und besserer Kenntnisse der
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Passagierdichte auf den verschiedenen Strecken fremden Musikern überlegen. Hexiquio Hernández, der sich gelegentlich Richtung Norden bis Temixco nahe der Großstadt Cuernavaca bewegte, musste immer wieder feststellen, dass sich lokale Musiker dort nicht an die vermeintlichen Regeln hielten, die er voraussetzte: »Dort hält der Bus an und dann steigt ein Clown ein, ein Eisverkäufer, ein Händler, der Salben verkauft, und ein anderer Musiker. Und es gibt viele, die ihr Leben auf diese Art und Weise bestreiten, und es gibt viel Konkurrenz dort. […] Wenn ich an die Haltestelle komme und es ist schon ein Musiker da und es kommt ein Bus, dann lasse ich ihn vor, denn er war zuerst da, oder? Viele von uns halten sich daran, aber andere nicht, es sind Neider. Obwohl sie sehen, dass du schon dort bist, […] wenn sie kommen… Aber du kennst die Strecke nicht, nicht wahr? Und die sind aus der Gegend und kennen die Fahrer, kennen sich richtig aus. Ich bin gerade erst gekommen und die Fahrer kennen mich nicht. Wenn die sehen, dass die Fahrer mit ihrem Bus kommen, gehen sie ihnen entgegen und lassen dir keine Chance, um um Erlaubnis zu fragen. Sie schneiden dich ab und halten sich nicht an die Regeln.« (Hernández, Hexiquio 29.3.2013)
Daher bevorzugten es viele der Musiker, auf immer denselben Strecken zu spielen, wo sie sich nicht gegen andere etablierte Musiker behaupten mussten. Gelegentlich gab es allerdings Musiker, die auf fremden Strecken erfolgreicher waren, als ihre lokale Konkurrenz. So mussten die Musiker an der Ausfahrt des Terminals in Iguala oft zusehen, wie Busse den Hof Richtung Tierra Caliente verließen und sich »Los Pajaritos del Sur« aus Acapulco bereits an Bord befanden. Die Gründe für den großen Erfolg der »Los Pajaritos del Sur« auf der Strecke zwischen Iguala und Ahuehuepan, auf der sie im Gegensatz zu den vielen lokalen Musikern nur unregelmäßig spielten, hatte mehrere Ursachen. Zunächst traten »Los Pajaritos del Sur« um einiges professioneller auf als ihre Konkurrenz. Sie trugen einheitliche Hemden mit dem Logo des duetos und sie spielten nicht nur ein Set aus drei oder vier Stücken, um dann um coperacha zu bitten, sondern boten professionell aufgenommene Tonträger zum Verkauf. Dabei zeugte ihre Performance von ihren großen individuellen Fähigkeiten und der langen Erfahrung als dueto. Der zweite Grund lag darin, dass »Los Pajaritos del Sur« schlicht die lokale turno-Regelung missachteten und die Busse vor dem Einstieg der übrigen Musiker bestiegen, weil sie Tickets bezahlten. Wie Lorenzo Villanueva seine Konkurrenz auf der Avenida Cuauhtémoc in Acapulco schnitt, umgingen die ortsfremden »Los Pajaritos del Sur« auf ihrer Strecke zwischen Iguala und Ahuehuepan in der Tierra Caliente die starke Konkurrenz und stiegen bereits im Terminal der línea Estrella Blanca zu, wo nur Passagier/innen mit gültigen Tickets Zutritt zum Bussteig besaßen: »Dort gibt es zu viele Musiker. Aber da wir schon Beziehungen zu den Fahrern von Estrella Blanca haben, kaufen wir uns ein Ticket im Busterminal. […] Warum? Damit können wir ins Terminal und warten dort auf den nächsten abfahrenden Bus. Die anderen Musiker stehen draußen! Warum? Weil sie keine Tickets kaufen, aber wir schon. Warum? Weil wir wissen, dass wir mit dem Beitrag der Leute und mit dem Verkauf der CDs das Ticket wieder reinbekommen. Das kostet nicht viel. Es sind etwa 15 Peso von Iguala bis Ahuehuepan.« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013)
Zwar zeigten die lokalen Musiker in Iguala den »Los Pajaritos del Sur«, dass ihnen ihr Verhalten nicht passte, doch konnten sie wenig dagegen unternehmen, wenn sie nicht
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auch Tickets bezahlen wollten. Gabriel Villanueva überraschte nicht, dass sie sich keine Freunde unter den übrigen Busmusikern machten. Er war sich darüber im Klaren, dass er mit Verhaltensregeln brach, die auch er selbst für Busmusiker ansetzte und die er an der Küste einhielt. Zudem ging er davon aus, dass lokale Musiker ein Vorrecht gegenüber fremden hatten: »Klar werden die sauer. Warum? Weil sie draußen vorm Terminal stehen und auf den abfahrenden Bus warten und der nimmt sie nicht mit, weil wir schon an Bord sind. Deshalb hatten wir schon viel Ärger mit den Musikern, denn sie werden sauer. Und sie haben Recht, denn sie sind von dort und arbeiten dort und die Fahrer sagen: ›Nein! Ich kann dich nicht mitnehmen, weil ich schon die Pajaritos del Sur an Bord habe.‹ Daher ärgern sie sich halt.« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013)
Allerdings nahm Gabriel Villanueva den Zorn der übrigen Busmusiker in Iguala in Kauf, um den Aufenthalt fern Acapulcos so effizient wie möglich zu gestalten und die Kosten für Übernachtung und Verpflegung zu kompensieren. Da sie nur selten und immer nur für kurze Zeit in das Streckennetz »Zona Norte« kamen, war ihnen schnelles Geld wichtiger als langfristig gute Beziehungen zu den übrigen Musikern zu pflegen. Der dritte und vermutlich wichtigste Faktor, der es ihnen möglich machte, ihren Erfolg von der Küste auf die ruta zwischen Iguala und der Tierra Caliente zu übertragen, waren ihre guten Beziehungen zu den Busfahrern der línea Estrella Blanca. Estrella Blanca bediente, anders als beispielsweise die deutlich kleinere línea TER, ein überregional ausgedehntes Netz aus rutas, das sowohl die Küste Guerreros als auch die Zona Norte des Bundesstaates einschloss. Das Rotationssystem der línea entsandte dieselben Fahrer auf die rutas zwischen Iguala und der Tierra Caliente, die Gabriel und Lorenzo Villanueva bereits von ihrer Arbeit an der Küste kannten. Es war ein bekannter Busfahrer der línea Estrella Blanca, der dem dueto von der Küste von der ertragreichen Strecke in der Tierra Caliente berichtet hatte, und die Bekanntschaft mit vielen Busfahrern auf der ruta zwischen Iguala und Ahuehuepan garantierte, dass diese um die Professionalität und den Ruf der »Los Pajaritos del Sur« bereits wussten. Das romantische Bild von Freiheit und Unabhängigkeit entsprach also keineswegs dem Arbeitsalltag der músicos ambulantes. Fast in allen Streckennetzen waren die Musiker gezwungen sich mit einer mehr oder weniger großen Zahl an Konkurrenten auseinanderzusetzen. Manchmal mussten sie sich in Warteschlangen einreihen, manchmal teilten Musiker das Streckennetz räumlich untereinander auf. Große Konkurrenz brachte hierarchische Strukturen hervor, die meist von lokalen, etablierten Musikern aufgebaut wurden und sich – besonders deutlich im Streckennetz »Paradero 30-30« – in einer territorialen Ordnung abzeichneten. Lukrative líneas und ergiebige Haltestellen wurden zu exklusiven Räumen, zu denen eine kleine etablierte Gruppe Zutritt hatte, während eine unorganisierte Mehrheit außen vor blieb. Obwohl es begrenzte Möglichkeiten gab sich diesen Strukturen zu entziehen, waren es meistens fremde Musiker und Neulinge, die sich unterordnen mussten.
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5.3 RÄUME DER ANGST: ÜBERFÄLLE UND GEWALT IN BUSSEN UND IHRE FOLGEN Zur Zeit meiner Feldforschung waren Reisen in den Überlandbussen Südmexikos stets auch mit dem Risiko bewaffneter Raubüberfälle verbunden. Während das deutsche Auswärtige Amt und Reiseführer Tourist/innen aus diesem Grund von der Benutzung des servicio económico abrieten (Auswärtiges Amt 2014 und Noble 2004: 950), waren die meisten mexikanischen Passagier/innen und Busmusiker weiterhin auf diese Busse angewiesen und nicht in der Lage auf höhere servicios auszuweichen. Erfahrungen mit Überfällen waren die Regel. Zugleich lagen zumindest zwei der Streckennetze, in denen ich meine Feldforschung durchführte, in Zentren des Drogenkrieges. So holten im September 2014 die 43 verschleppten und vermutlich ermordeten Studenten die Stadt Iguala im Streckennetz »Zona Norte« auf die Landkarten internationaler Nachrichtensendungen und bildeten dabei doch nur die Spitze eines traurigen Eisbergs an Verschwundenen und Ermordeten.14 Besonders Polizei und Armee platzierten reténes und mobile Kontrollpunkte entlang der rutas von Überlandbussen, die dort im Gegensatz zu privaten Fahrzeugen nahezu immer kontrolliert wurden. Während Small in seinem Kapitel »Sharing with Strangers« das große gegenseitige Vertrauen unter den Besucher/innen von Konzertsälen klassischer Musik hervorhebt und feststellt, dass nur auf diese Weise das intime Erlebnis klassischer Musik möglich sei (vgl. Small 1998: 42), war an Bord der Überlandbusse das Gegenteil der Fall. Das Verhältnis ihrer Passagier/innen war von Misstrauen geprägt, dass sich in besonderen Maße gegen Busmusiker richtete. Zugleich waren Musiker, deren Strecken oft auffällige Gemeinsamkeiten mit Strecken, auf denen Räuber/innen agierten, aufwiesen, häufig selbst direkte oder indirekte Opfer von Überfällen, wenn ihre Instrumente und ihr Geld gestohlen wurden oder líneas und staatliche Institutionen gefährdete rutas und Haltestellen strichen. Dieses Unterkapitel ist den Fragen gewidmet: Warum ließen sich Busse als »Räume der Angst« bezeichnen und welche Streckennetze waren besonders von Überfällen und Gewalt betroffen? Welche Gefahren gingen von Überfällen und Gewalt an Bord der Busse und entlang der Bundesstraßen für die Busmusiker aus? Und: Wie beeinflussten Maßnahmen der líneas und anderer Institutionen rutas und andere Busräume und mit ihnen die Arbeit der Busmusiker? Deshalb wird zunächst anhand von Warnhinweisen, Zeitungsartikeln und Erfahrungsberichten die Konstitution der Busse des servicio económico und bestimmter Abschnitte der Mex-200 sowie der MEX-132D als »Räume der Angst« betrachtet, um
14 Tatsächlich kam ein Jahr nach Ende meiner Feldforschung der dringende Verdacht auf, dass das Verschwinden der 43 Studenten in engen Zusammenhang mit Überlandbussen stand, von denen sie gemeinsam mit anderen Studenten fünf im Terminal Igualas gekarpert hatten. So wurde vermutet, dass der fünfte dieser Busse, aus dem sämtliche Insassen verschleppt wurden, vom lokalen Kartell zum Schmuggel von Rohopium verwendet wurde. Bei diesem Bus handelte es sich um ein Fahrzeug der línea TER, die auch die wichtigste Auftrittsmöglichkeit für Musiker in der »Zona Norte« bot. Der Schmuggel von Drogen an Bord der Busse sei üblich, so teilte ein anonymer Fahrer der línea TER der Tageszeitung »La Jornada« mit (vgl. La Jornada 11.9.2015).
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dann das besondere Verhältnis zwischen Busmusikern und Räubern, in dem einige Ursachen der Verquickung beider Gruppen durch Dritte lagen, zu berücksichtigen. Kontrollen der Polizei und der Armee sowie Sicherheitsmaßnahmen der líneas unterbrachen die räumliche Ordnung der Streckennetze, um gleichzeitig neue Ein- und Ausstiegsmöglichkeiten zu schaffen. Des Weiteren geht es um das ambivalente Verhältnis der Musiker zur Gewalt des Drogenkrieges, da sie auf der einen Seite die Nachfrage des Publikums nach narcocorridos befriedigten und auf der anderen Seite wegen eben dieser corridos um ihr Leben fürchteten. Überfälle in Bussen an der Costa Grande und rund um die Haltestelle »30-30« »Sie stiegen in Coyuca ein und überfielen uns drüben bei Rancho El Santo. [...] Ich trug einen Hut und hatte etwa 450 Peso in meiner Brieftasche versteckt. [...] ›Lasst mal sehen! Rückt alle was raus! Das ist ein Überfall, ihr Hurensöhne! Okay! Lasst sehen! Du auch!‹ Ich sagte ihm: ›Warte mal.‹ Und dann haute er etwas Spitzes von hinten in meinen Sitz. Aber da war ein Blech drin und die Spitze stach nicht durch. Der andere mit der Pistole stürmte von vorne, vom Fahrer nach hinten. Und ich gebe ihm was und sage: ›Ich habe heute nicht mehr als 150 dabei.‹ – ›Dann borg die mir!‹ und er nahm sie mir weg. […] Sie liefen wieder nach vorne. Sie waren schon vorne am Ausstieg […] und kamen nochmal wieder und nahmen mir meinen Hut weg.« (García, Julio 7.10.2011)
Julio García, der von einem Überfall in einem Bus der línea AMS zwischen Coyuca und Acapulco berichtete, war mitnichten der einzige unter den Busmusikern, der Erfahrungen dieser Art durchlebt hatte. Fast alle meiner Interviewpartner waren bereits an Bord von Überlandbussen überfallen worden und sämtliche Busfahrer, mit denen ich sprach, hatten mindestens einen Überfall erlebt. Besonders die Busse des servicio económico hatten zur Zeit meiner Feldforschung einen schlechten Ruf, so dass sogar das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland sie in ihren Sicherheitshinweisen für Mexikoreisende mit einer Warnung berücksichtigte (Auswärtiges Amt 2014). Viele mexikanische Passagier/innen, die anders als Tourist/innen aus Deutschland auf Reisen im servicio económico angewiesen waren, unternahmen Sicherheitsvorkehrungen, um ihren persönlichen Schaden bei Raubüberfällen zu minimieren. Hexiquio Hernández erklärte, dass Arbeitsmigrant/innen, die in den Bussen ihren Lohn zu ihren Familien brachten, stets einen Teil ihres Geldes versteckten, wie auch er selbst es getan hatte, als er noch zwischen der Hauptstadt und seinem Dorf Palmillas pendelte: »Nehmen wir an, du kommst aus Mexiko-Stadt zurück und hast Geld für deine Familie dabei. […] Du kommst im Überlandbus hierher, aber du machst dir Sorgen: ›Was, wenn sie den Bus überfallen?‹ So erging es mir. Wenn ich Geld dabei habe […] verstecke ich es […] unter dem Sitz, zwischen den Sitzen. Wenn sie dann überfallen, nehmen sie mir nicht mein Geld weg.« (Hernández, Hexiquio 29.3.2013) Die Erfahrungen die Passagier/innen, Busfahrer und Busmusiker gesammelt hatten, führten dazu, dass sie in Bussen ein hohes Überfallrisiko verorteten und sich während ihres Aufenthaltes an Bord entsprechend vorsichtig verhielten. Die hohe Zahl der Überfälle verwandelte die Busse des servicio económico in Räume der Angst: »Mich hat es schon erwischt. Einmal. Unsereiner kann nichts anderes machen, als ihnen das
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zu geben, was man dabei hat. Ohne zu murren, denn sonst gibt es Ärger, ay! Das ist ein großes Risiko hier in diesen Bussen.« (Passagier 6 in Teotihuacanos zwischen Otumba und Autobuses del Norte, 40 Jahre, 29.11.2011) Auf die Frage, warum die Passagierzahlen in den Überlandbussen abnahmen, antwortete Lorenzo Villanueva: »Wegen der Angst, der Frucht [vor Überfällen].« (Villanueva, Lorenzo 5.10.2011) Die líneas waren daher bemüht, gegen das Gefühl wachsender Unsicherheit anzugehen. Ein Journalist der Lokalzeitung Novedades de Acapulco, beklagte sich: »Die Manager der Busunternehmen Estrella de Oro und Estrella Blanca […] erklären, dass sie zum Schutz ihres Images grundsätzlich nicht über Überfälle informieren, obwohl sie die Fahrten am frühen Morgen entlang der Tierra Caliente und der Costa Grande kürzen.« (Paredes Carrillo 2013) Zugleich ergriffen die líneas Maßnahmen, um Überfällen entgegen zu wirken oder zumindest das Sicherheitsgefühl der Reisenden zu stärken. An den Ausgängen großer Terminals zu den Bussteigen standen Metalldetektoren für das Gepäck, große Gepäckstücke durften nicht mehr mit an Bord genommen werden, die Personalien der Passagier/innen wurden vor dem Zustieg kontrolliert, und vor der Abfahrt filmten Sicherheitsleute die Gesichter aller Fahrgäste. Allerdings vermittelten diese Maßnahmen oft einen halbherzigen Eindruck. Selten hatte das stete Warnsignal der Geräte zur Konsequenz, dass Sicherheitsleute einen Blick in verdächtige Gepäckstücke warfen. Eine Ausnahme bildeten die Kontrollen der línea Teotihuacanos, deren Busse besonders häufig Überfällen zum Opfer fielen. Bewaffnetes Sicherheitspersonal durchsuchte an den drei Bussteigen der línea am Terminal »Autobuses del Norte« in Mexiko-Stadt nicht nur sämtliche Gepäckstücke der zusteigenden Passagier/innen gewissenhaft, sondern tastete auch jede/n Einzelne/n ab. Sobald die Busse allerdings vom Hof des Terminals fuhren, ließen sie sich nur schlecht kontrollieren. Während die Sicherheitsvorkehrungen in den direkten Bussen des servicio de primera einen gewissen Schutz garantieren mochten, wirkten sie in den Bussen des servicio económico, die unterwegs ohne vergleichbare Kontrollen Passagier/innen auflasen, hilflos.15 Tagsüber wurden die Busse von Räuber/innen überfallen, die als gewöhnliche Passagier/innen getarnt Waffen an Bord schmuggelten. Dort warteten sie einen geeigneten Abschnitt der ruta ab, um die Passagier/innen, den Fahrer und die Kasse des fahrenden Busses auszunehmen. Noch schwieriger war es, wirksame Maßnahmen gegen die zweite Strategie der Räuber/innen zu ergreifen. Auf einigen entlegenen Abschnitten von rutas kam es vor allen Dingen nachts häufiger zu Überfällen, bei denen mit Sturmgewehren ausgerüstete Gruppen die Fahrbahn mit Baumstämmen blockierten und die Busse samt ihrer Fahrgäste vor Ort plünderten. Die Bedrohung war folglich nicht allein an den Raum im Innern der Busse gekoppelt, sondern wurde mit Abschnitten zwischen konkreten Orten bestimmter rutas verbunden. Es handelte sich also genauso, wie bei den Abschnitten, die die Musiker mit ihren Performances zwischen Ein- und Ausstiegsort hervorbrachten, um Strecken. Zur Zeit meiner Feldforschung lagen zwei berüchtigte Strecken dieser Art in den Streckennetzen »Costa Grande y Costa Chica« und »Paradero 30-30«. Vor Reisen durch das letztere Streckennetz auf den rutas der línea Teotihuacanos entlang der MEX-132D zwischen der »Central de Autobuses del Norte« in MexikoStadt und den Pyramiden von Teotihuacán warnte das deutsche Auswärtige Amt: »In 15 Zu den Unterschieden zwischen den »servicio« genannten Kategorien von Überlandbussen vgl. Kapitel 6.1.
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den letzten Monaten wurden wiederholt Linienbusse auf der Strecke zwischen ›Terminal Norte‹ und der Pyramidenanlage Teotihuacan im Norden von Mexiko-Stadt überfallen. Es wird derzeit davon abgeraten, Teotihuacan mit Linienbussen zu besuchen.« (Auswärtiges Amt 2014) Auch die Musiker des Streckennetzes bestätigten, dass die Zahl der Überfälle vor allen Dingen auf dem Abschnitt bis zum ersten Terminal in San Juan Teotihuacán stark zugenommen hatte: »Seit zwei oder drei Jahren haben sie in San Juan ein Problem mit Überfällen. […] Sehr, sehr viele Überfälle. Täglich vier oder fünf Busse. Täglich!« (Jaímez, José David 8.3.2013) Musiker berichteten, dass bis zu der endgültigen Schließung der alten Haltestelle »30-30«, die etwa auf halber Strecke zwischen den Terminals in Mexiko-Stadt und San Juan Teotihuacán lag, in beunruhigend kurzen Abständen bewaffnete Räuber die gesamte Haltestelle plünderten. Sie stahlen Passagier/innen ihre Wertsachen und die Ticketkasse des boleteros. Noch dramatischer war die Sicherheitslage an der Costa Grande und der Costa Chica im Bundesstaat Guerrero, dessen Straßennetz 2013 als das überfallgefährdetste in ganz Mexiko galt (vgl. Paredes Carrillo 2013). Die MEX-200 war wiederum die gefährlichste Bundesstraße in Guerrero (vgl. Sánchez Granados 2012 und Paredes Carrillo 2013). Nachts warteten direkte Busse verschiedener líneas und rutas mit Ziel Zihuatanejo am retén bei Bajos de Ejido unter dem Schutz der dortigen Soldaten aufeinander, um als Konvoi über die MEX-200 zu fahren. Der Busfahrer »Mario« erklärte allerdings, dass selbst dieser Konvoi aus drei Bussen nicht verhindern konnte, dass sie überfallen wurden (Gespräch mit »Mario« in TER zwischen Buenavista de Cuéllar und Cuautla am 14.12.2011). Auch unter meinen Interviewpartnern war die Costa Grande westlich von Coyuca berüchtigt für Überfälle. Gabriel Villanueva erklärte, dass er deshalb ungern auf dieser Strecke spielte: »In die Richtung ist es ein bisschen gefährlich. Warum? Weil dort an der Costa Grande auf dem Abschnitt nahe El Papayo viele Leute Busse überfallen.« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013) Die vielen Überfälle zwischen Coyuca und El Papayo waren auch ein Grund für Julio und Jesús Garcías Streckenwahl: »Ich spiele nur vom Retén bis Coyuca und von Coyuca bis zum Retén. Dort fühle ich mich sicherer. In Coyuca ist immer ein Haufen Leute. Sie überfallen eher in die andere Richtung, bei El Papayo.« (Jesús García im Gespräch am 6.10.2011) Aber auch die rutas östlich von Acapulco entlang der Costa Chica Richtung Oaxaca galten als gefährlich. Der Reiseführer Lonely Planet unterstreicht in seinem diesbezüglichen Warnhinweis den Zusammenhang zwischen Überfallrisiko, servicio und Straßentyp: »The best ways to avoid highway robbery are to not travel at night and to travel on toll highways as much as possible. Deluxe and 1st-class buses use toll highways, where they exist; 2nd-class buses do not. Hwy 200 along the Pacific coast between Ixtapa and Puerto Escondido has a bad reputation for highway robberies.« (Noble 2004: 950) Rateros und Musiker »Sie haben mir schon zwei Requintos gestohlen. […] Ich erinnere mich – das werde ich nie vergessen – in einem Bus… […] [Das Requinto] kaufte ich am 10. November, weihte sie am 11. November abends ein, zum Tag der Heiligen Jungfrau. […] [Am 12. November] gegen halb acht oder neun Uhr morgens […] stiegen sie ein und überfielen uns. […] Morgens, früh stiegen sie in den Bus. Das war am 12. […] und sie nahmen mir, was ich bei mir trug. Ich hatte etwa
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300 Peso in der Tasche, […] mein Requinto und mein Mobiltelefon. […] Das ist mir schon zweimal passiert, und dieses Requinto werde ich niemals vergessen. Ich kaufte es am 10., weihte es am 11. ein und am 12. nahmen sie es mir wieder weg.« (Villanueva, Lorenzo 5.10.2011)
Lorenzo Villanueva schämte sich nicht in Interviews zu sagen, dass er morgens oft Angst hatte, wenn er das Haus verließ, um arbeiten zu gehen.16 Dass die rutas entlang der Küste Guerreros und rund um die ehemalige Haltestelle »30-30« sowohl bei Räubern als auch bei Musikern beliebt waren, war kein Zufall. Viele der Faktoren, die Performances an Bord von Überlandbussen ermöglichten, begünstigten auch Überfälle. Genauso wie für Musiker war es für Räuber/innen wichtig, dass die Fahrt des Busses für die Dauer des Überfalls nicht unterbrochen wurde und der Bus keinen Verdacht erweckte, weil er an Haltestellen oder Terminals durchfuhr. Auch Räuber/innen hatten ein Interesse daran, dass sich zum Moment des Überfalls möglichst viele Passagier/innen an Bord befanden. So boten die relativ langen, einsamen Abschnitte der MEX-200 Räuber/innen genügend Zeit für Überfälle. Die Busse auf der MEX-132D bewegten sich zwar durch äußerst dicht besiedelte Transiträume, allerdings befanden sich die Busse für einen langen Abschnitt ohne Halt im dichten Verkehr der Autobahn, so dass den Räubern genug Zeit blieb, alle Menschen an Bord des fahrenden Busses auszunehmen, ohne dabei Verdacht zu erwecken. Zugleich hatten die Räuber/innen es genauso wie die Musiker auf die internationalen Tourist/innen abgesehen, weshalb Busse der línea Teotihuacanos öfter als die übrigen líneas nahe der Haltestelle »30-30« überfallen wurden. Die Musiker verwendeten den Begriff »rateros«, wenn sie von Räubern sprachen. Im Streckennetz an der Haltestelle »30-30« hatten alle Musiker bereits Erfahrungen mit bewaffneten Überfällen an Bord von Bussen und an Haltestellen machen müssen: »José Luis erzählt, dass er einen ›Unfall‹ gehabt habe. ›Ein Bier darauf, dass ich noch lebe!‹ ruft er dramatisch. Ich habe Probleme, ihm zu folgen, weil er sehr undeutlich und leise spricht, während er den Vorgang erzählt. Ging es nun um einen Unfall oder einen Überfall? Unter dem Lärm der vorbeifahrenden Autos und den Schreien der Gritones mache ich nur einzelne Wörter aus: ›asalto‹ [›Überfall‹], ›rateros‹. José Luis Sohn Ismael sitzt neben seinem Vater auf Yiros Hocker hält seine Jarana in der einen und den Refresco […] in der anderen Hand und lächelt schüchtern. Plötzlich zieht José Luis sein schwarzes Hemd aus seinen braunen Wranglers bis über die Brust und legt seinen runden Bauch frei, an dessen Seite sich eine wulstige, rosafarbende Narbe befindet. Vielleicht holt mich der Anblick der beeindruckenden Narbe überhaupt erst ins Gespräch, das ich eben noch für zusammenhangslose Prahlerei gehalten habe, vielleicht spricht José Luis aber auch deutlicher, während er nun vermutlich zum zweiten Mal erklärt, dass die Täter ihn an der Seite der Autobahn überfielen, als er und sein Sohn einen Bus verließen. José Luis weigerte
16 Lorenzo Villanuevas Angst war mit seinem Umstieg von den Überlandbussen auf Acapulcos urbanos noch gestiegen (Villanueva, Lorenzo 5.10.2011). Besonders die Busse der línea Maxirutas waren zur Zeit meiner Feldforschung regelmäßig Schauplätze bewaffneter Überfälle, bei denen es sich sowohl um Raub als auch um gezielte Mordanschläge auf Fahrer in Verbindung mit Schutzgelderpressung handelte (vgl. La Jornada Guerrero 7.7.2012).
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sich sein Geld rauszurücken, die Räuber rammten ihm ein Messer in den Bauch und ließen ihn am Straßenrand zurück.« (Tagebucheintrag vom 7.10.2010 an der Haltestelle »30-30«)17
Die Tatsache, dass es die Täter offensichtlich gezielt auf »José Luis« und sein Geld abgesehen hatten, war allerdings ein ungewöhnlich unglücklicher Ausgang der Begegnung eines Musikers mit rateros. Denn sowohl bei Überfällen an Bord der Busse als auch bei den Plünderungen an der Haltestelle, wurden Musiker, genauso wie ambulante Händler/innen, oft verschont, während die Fahrgäste ihrer Wertgegenstände beraubt wurden. Marco Antonio Calderón erklärte: »Uns Musiker lassen sie meistens links liegen. Anders kommt es nur selten. […] Nur einmal […] nahmen sie mir bei einem Überfall meine Gitarre weg. Das war alles. Uns lassen sie meistens in Frieden, die Verkäufer auch.« (Calderón, Marco Antonio 8.3.2013) Auch andere Musiker an der Haltestelle »30-30« hatten die Erfahrung gemacht, bei Überfällen verschont zu werden. Endir de León erzählte ebenfalls, dass er bei einem Überfall von den Räubern ausgelassen wurde, während sie alle übrigen im Bus bestahlen. Er schien allerdings nicht sonderlich verwundert, dass Straßenräuber/innen músicos ambulantes verschonten, als handelte es sich um einen Kodex unter Menschen, die in Bussen ihren Lebensunterhalt bestritten: »Es ist schon über ein Jahr her, da hat es mich getroffen. Aber sie nehmen uns nichts weg. Den Musikern nehmen sie nichts weg.« (Jaímez, Rubén und de León, Endir 7.10.2010) Aber gerade die Schonung durch die rateros konnte für die Musiker schlimmere Folgen haben, als den Verlust ihrer Gitarre oder ihres Geldes. Eine Anekdote über den Musiker »Eduardo«, die Endir de León erzählte, demonstrierte in besonders drastischer Weise die Gefahr, in welche die Sonderbehandlung der rateros Musiker bringen konnte. Endir de León berichtete, dass die beiden Räuber, die den Bus überfielen, »Eduardo« nicht nur verschonten. Als sie sich im Gang an ihm vorbeischoben, warfen sie ihm sogar einige Münzen ins Schallloch seiner Gitarre, bevor sie den Bus fluchtartig verließen. Irritiert von dieser Geste vor den Augen sämtlicher Passagier/innen habe sich »Eduardo«, so Endir de León, in den Fahrerraum begeben. Anstatt seine Fahrt fortzusetzen, öffnete der mit »Eduardo« bekannte Fahrer die Tür erneut und riet ihm, den Bus so schnell wie möglich zu verlassen. »Wenn nicht, dann werden sie dich lynchen!« habe der Busfahrer den Musiker vor dem Zorn seiner Passagier/innen gewarnt (Gespräch mit Endir de León am 12.3.2014). Plötzlich wurde die vermeintliche Nähe zwischen Musikern und Räubern zu einer bedrohlichen Gefahr für die músicos ambulantes. Bereits lange vor dem Zwischenfall, der »Eduardo« aus dem Bus flüchten ließ, beklagten sich Endir de León sein dueto-Partner Rubén Jaímez, dass ihnen vorgeworfen werde, sie und die Händler/innen der Haltestelle »30-30« steckten hinter den Überfällen: Endir de León: »Es gab eine Zeit, als sie viel überfielen. Einmal ließen sie uns nicht einsteigen und sagten, wir wären die, die überfallen.« Rubén Jaímez: »Aha. Dass die Musiker die Überfälle machten, richtig? [...] Mein Vater sagt immer: Die Leute suchen nicht den, der es gemacht hat, sondern einen, der dafür bezahlt, richtig? 17 »José Luis« und sein Sohn »Ismael« gehörten zu den vielen Musikern, mit denen ich zu Beginn meiner Forschung Interviews führte, die ich aber letztendlich nicht begleitete (vgl. Kapitel 3.2).
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[...] Dann haben sie gesagt, dass die Verkäufer in ihren Sandwichkisten Waffen schmuggelten, die sie dann den Rateros geben.« (Jaímez, Rubén und de León, Endir 3.11.2011)
Nicht zuletzt um diesem Vorurteil entgegenzuwirken, waren die Musiker in ihrem äußeren Erscheinungsbild darum bemüht, möglichst unverdächtig zu wirken. Rubén Jaímez Bruder versuchte sein Glück ebenfalls als Musiker an Bord der Busse der línea Teotihuacanos, bis er einsehen musste, dass sein cholo-Outfit aus weiten Hosen und kurzgeschorenen Haaren Misstrauen bei Busfahrern und Passagier/innen weckte: Rubén Jaímez: »Es war nämlich so, dass ich mit einem meiner Brüder zusammenarbeitete. Aber ihm gefiel es hier nicht. […] Ihm gefiel nicht, wie wir uns anziehen. […]« Endir de León: »Er zieht sich wie ein Cholo an.« Rubén Jaímez: »Das macht einen schlechten Eindruck. Deshalb ließen uns die Busse nicht zusteigen, weil sie dachten, wir wollten sie ausrauben. Deshalb sagte er: ›Ich will mich nicht anders anziehen, ich will cholo aussehen.‹ Dann suchte er sich woanders Arbeit, wo sie ihn sich so anziehen ließen.« (Jaímez, Rubén und de León, Endir 7.10.2010)
Endir de León erzählte aber auch, dass die Musiker und rateros nicht nur die Busse und Strecken teilten, sondern dass viele der rateros ebenfalls in Nachbarschaft der Haltestelle »30-30« jenseits der Schallschutzmauer in Ecatepecs Viertel San Cristóbal lebten. Die rateros waren mit den Musikern daher häufig persönlich bekannt (Gespräch mit Endir de León am 12.3.2014). Doch nicht nur auf den Strecken entlang der Überfallschwerpunkte an der Pazifikküste und nördlich der Hauptstadt machten músicos ambulantes die Erfahrung, mit Räubern in Verbindung gebracht zu werden. Salvador Hernández in der »Zona Norte« komponierte das Stück »El músico y los rateros«, in dem er sich mit der vermeintlichen Nähe zwischen Musikern und Räuber/innen auseinandersetzte. Wie sein »Corrido del cancionero« oder der »Corrido del municipio«18 war auch dieses Stück speziell für die Performance an Bord der Überlandbusse geschrieben. Der lange refrainlose Text über den ¾ Takt des Stückes erzählt von der Begegnung eines Musikers mit drei Räubern: En el terminal de mi pueblo querido, después de bajarme del carro en que había cantado me puse a contar las poquitas monedas que los pasajeros de aquel carro me habían dado.
Im Terminal meines geliebten Dorfes nachdem ich aus dem Bus stieg, in dem ich gesungen hatte, zählte ich die wenigen Münzen, die Passagiere aus diesem Wagen mir gegeben hatten.
Y aunque no era mucho lo que me habían dado aquí en mis adentros contento y feliz yo estaba. Porque es mi delirio cantar a mi gente con buen sentimiento tocando con mi guitarra.
Auch wenn es nicht viel war, was sie mir gaben, war ich in meinem Innersten zufrieden und froh, denn es berauscht mich, für meine Leute zu singen, mit viel Gefühl und mit meiner Gitarre.
18 Zu diesen Beispielen vgl. Kapitel 4.2.1 und Kapitel 7.4.
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Dispuesto a seguirle y a darle a la chamba se me emparejaron tres tipos un poco extraños dijeron: »Mi amigo, somos tus colegas. Nosotros también trabajamos en los carros.«
Ich wollte weiterarbeiten, doch begegneten mir drei komische Typen. Sie sagten: »Mein Freund, wir sind deine Kollegen. Wir arbeiten auch in den Bussen.«
»¿Y ustedes qué tocan? No veo sus guitarras.« Pero en la cintura se les notaba una bola. Muy discretamente me dice uno de ellos: »Nosotros chambeamos nómas con estas pistolas.«
»Und was spielt ihr? Ich sehe keine Gitarren.« Aber ich sah an ihrer Hüfte eine Beule. Leise sagte einer zu mir: »Wir arbeiten mit nichts als unseren Pistolen.«
»Cuando nos subimos a un carro a chambear sacamos a un tiempo estas fieras pistolotas, para que dispierten los que van dormidos pegamos un tiro deciendo muy feas cosotas.«
»Wenn wir in den Bus steigen, um zu arbeiten, ziehen wir bald unsere wilden Pistolen und wecken die Schlafenden mit einem Schuss und vielen Schimpfwörtern.«
»Nosotros chambeamos sin ver condiciones a ricos y a pobres les quitamos su dinero y si algún valiente se quiere hacer heroe con estas pistolas lo llenamos de agujeros.«
»Wenn wir arbeiten, unterscheiden wir nicht. Wir nehmen Armen wie Reichen ihr Geld. Wenn einer den Held spielen will, durchlöchern wir ihn mit unseren Pistolen. «
»Ya cuando acabamos de juntar la lana, dinero, oro y plata de todos los pasajeros con tantita suerte que nos toque, amigo, hasta dolaritos nos llegan del extranjero.«
»Wenn wir das Geld eingesammelt haben, die Knete, das Gold und das Silber aller Passagiere, dann kommen wir mit etwas Glück sogar zu Dollars aus dem Ausland.«
»Tu con tu guitarra,« me dice uno de ellos, »Nada más te ignoran y migajas te van dando. Lo que tu te ganas en dos o tres años nosotros, colega, lo sacamos en tres carros.«
»Mit deiner Gitarre,« sagt einer zu mir, »ignorieren sie dich und geben dir Krümel. Was du in zwei oder drei Jahren verdienst, machen wir, Kollege, in drei Bussen.«
Al fin de todo esto que a mi me dijeron se fueron corriendo aquellos malvados pillos. Porque unas patrullas los venían seguiendo y al cabo de un rato ya eran hombres detenidos.
Nach diesen Worten rannten die fiesen Halunken davon, denn sie wurden von einigen Streifen verfolgt, und schon bald darauf wurden sie festgenommen.
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Por eso yo, amigos, con mi fiel guitarra, contento y alegre les voy a seguir cantando y con la propina que me vayan dando contento y feliz la voy a seguir pasando.
Deshalb, meine Freunde, mit meiner treuen Gitarre, singe ich zufrieden und fröhlich. Mit dem Trinkgeld, das Sie mir geben, lebe ich zufrieden und glücklich.
Titel: El músico y los rateros Interpret: Salvador Hernández Komponist: Salvador Hernández Transkription der Aufnahme vom 29.9.2015
Der Musiker, das lyrische Ich des Textes, verortet sich lokal in seinem Dorf, mit dem er sich verbunden fühlt, während die drei Räuber als »tipos extraños«, als unangenehme Fremdkörper beschrieben werden. Im Gegensatz zum bescheidenen lyrischen Ich, das von den freiwilligen Spenden der Passagier/innen lebt, sind die drei Männer getrieben von Gier und berauben Arme wie Reiche. Sie versuchen den Musiker zu überzeugen, seine brotlose und undankbare Arbeit gegen die ihre zu tauschen. Doch endet die Erzählung mit der Festnahme der »malvados pillos« und einem bescheidenen Musiker, der weiterhin glücklich von seiner Gitarre lebt. Der Text beschreibt Musiker und Räuber als Gegensätze, deren Auftreten unterschiedlicher kaum sein könnte. Die letzten beiden Strophen sind weniger als die bei corridos so typische direkte Moral zu verstehen. Schließlich richtet sich das Stück nicht an rateros, die ihren Lebensplan überdenken sollen. Vielmehr dienen sie dazu, einen Musiker zu zeigen, der sich bewusst von Gier und Verbrechen distanziert. Nichtsdestotrotz produziert der Text Nähe zwischen den Räubern und dem Musiker. Auch in »El músico y los rateros« fühlt sich der Musiker in keinem Moment von den bewaffneten Männern bedroht, die ihn ihrerseits als einen der Ihren betrachten und als »Kollege« bezeichnen. An Bord gelangt, stehen die Räuber vor schlafenden Passagier/innen in derselben Ausgangsposition, die Salvador Hernández in anderen Stücken als Geißel der músicos ambulantes zeichnet.19 Erst mit ihrem gewalttätigen Auftritt mit Pistolen und Schimpfwörtern verkehren sie sich in das Gegenteil des höflichen und zurückhaltenden Musikers. Während sich das lyrische Ich über den gesamten Text bescheiden und zufrieden gibt, obwohl die Passagier/innen ihm nur wenig geben, liegt in den Worten der Räuber Kritik am Verhalten der Passagier/innen, die den friedlichen Musiker ignorieren und mit »Krümeln« abspeisen. Ihre Beute an Gold, Silber und Devisen, mit der die Räuber prahlen, demonstriert nicht nur die Gier der Verbrecher. Der Text unterstellt den Passagier/innen zugleich einen sehr viel größeren Reichtum, als ihre vermeintlich geizigen Spenden an den Musiker vermuten ließen. Anstatt músicos ambulantes schlicht von Räubern zu distanzieren, zeichnet Salvador Hernández in »El músico y los rateros« das ambivalente Verhältnis zwischen Musikern und Räubern, das sich auch in den Aussagen der interviewten Passagier/innen
19 Zu schlafenden Passagier/innen vgl. Kapitel 7.2.
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wiederfindet.20 Auf der einen Seite distanziert er friedliche, bescheidene und zufriedene músicos ambulantes, die um ein freiwilliges Trinkgeld bitten, von gewalttätigen Räubern, die in ihrer Gier armen wie reichen Passagier/innen all ihr Geld und ihre Wertsachen nehmen, um schließlich festgenommen zu werden. Auf der anderen Seite erzählt der Text den Unterschied zwischen den Akteuren als eine Entscheidung des Musikers, der sich von der leuchtenden Versuchung der Räuber nicht verlocken lässt. In »El músico y los rateros« steht der Musiker an der Kante zum Absturz in die Kriminalität, auch wenn beziehungsweise gerade weil er sich ihr nicht hingibt. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Text zwar nicht als Moral an tatsächliche und potentielle Räuber/innen lesen, jedoch richtet er eine Nachricht an die Passagier/innen, die aufgerufen werden, Musiker mit Respekt zu behandeln, da gewalttätige Räuber die vermeintliche Alternative seien. »Corridos für schlechte Menschen«: Musik und Drogenkrieg an Costa Grande und Costa Chica Mató a muy temprana edad por eso vivió traumado. Luego superó su trauma y entró duro a los trancazos.
Er tötete seit frühster Jugend. Deshalb war er traumatisiert. Danach überwand er sein Trauma und stürzte sich in die Schlacht.
Ahora nadie lo detiene Dicen que se lleva ondeado. El señor se la navega con su cuerno por un lado.
Jetzt hält ihn niemand mehr auf. Sie sagen, er sei durchgeknallt. Der Herr fährt durch die Gegend mit einer AK-47 an seiner Seite. Titel: En Preparación Interpret: Jesús García Komponist: Gerado Ortíz Transkription der Aufnahme vom 15.8.2010
»En preparación« von Gerardo Ortiz war das Stück, das Jesús García 2010 und 2011 am häufigsten in den Bussen der Kooperative AGC spielte. Es schien dem jungen Musiker auch privat außerordentlich gut zu gefallen, denn er spielte auch in seiner Freizeit oft die eingängigen Riffs des corridos und sang die ersten Zeilen des Textes. Jesús García und sein Vater Julio erklärten, dass vor allen Dingen junge Männer an Bord der Busse nach »narcocorridos«, corridos über den Drogenhandel, verlangten. Julio García erklärte: »Dann gibt es solche, die welche über Schießereien hören wollen wie [singt]: Ich rauche einen Zug Crack/ und mein Wesen ändert sich… [spricht] das was im Moment abgeht, halt, Corridos für schlechte Menschen, für Menschen die Verbrechen begehen. Wir singen die, weil die Leute sie verlangen.« (García, Julio 7.10.2011) Manuel Torres Félix, der Protagonist des corridos »En preparación«, war als »M1« bekannt
20 Zur Verquickung von Musikern und Räubern in der Wahrnehmung der Passagier/innen vgl. Kapitel 6.3.
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und als Mitglied des Sinaloa-Kartells für seinen äußerst brutalen Umgang mit seinen Gegnern berüchtigt. Aber Julio und Jesús García sangen nicht nur über, sondern auch für die Mitglieder der Drogenkartelle, die Geld in die abgelegenen Gemeinden der Sierra im Hinterland der Costa Grande brachten. Die Musiker, die auf contratos an der Küste um jeden Peso verhandeln mussten, schätzten die Großzügigkeit an den Auftraggebern aus den Bergen. Allerdings berichtete Julio García auch von der oft bedrohlichen Atmosphäre, in der er und seine Mitmusiker in den kleinen Dörfern der Sierra auftraten: »Das ist gefährlich. Chichichi, holen sie ihre Kanonen, ihre Pistolen raus und schießen. Aber uns ist noch nie was passiert. Niemals ist uns etwas passiert.« (García, Julio 24.9.2010) Das Drogengeschäft und die mit ihm verbundene Gewalt waren jedoch keinesfalls alleiniges Phänomen isolierter Gemeinden in den Bergen. Die so genannte »Guerra al Narco«, der Krieg, den der damalige Präsident Felipe Calderón 2006 gegen die Drogenkartelle ausgerufen hatte und der das ganze Land in einer blutigen Welle von Militärkampagnen und Gewaltverbrechen versinken ließ, hatte gravierende Auswirkungen auf die Sicherheitslage auf mexikanischen Bundesstraßen und somit auch auf die Überlandbusse und die músicos ambulantes. Auch in diesem Zusammenhang war in besonderem Maße die MEX-200 entlang der Costa Chica und der Costa Grande betroffen. Das Machtvakuum, das der Tod des Kartellbosses Arturo Beltrán Leyva hervorbrachte, hatte die Küste Guerreros zum Schauplatz von Kämpfen um die Vorherrschaft konkurrierender Kartelle verwandelt (vgl. Díaz und Flores 2010: 7) und Acapulco mit 143 Morden pro 100.000 Einwohner/innen 2013 zur zweitgewalttätigsten Großstadt der Welt gemacht (Consejo Ciudadano para la Seguridad Pública y Justicia Penal 2013). Auf der MEX-200 rief ein fixes retén der Armee bei Bajos del Ejido Reisenden die brisante Sicherheitslage an der Costa Grande ins Gedächtnis21: »Das Retén besteht aus zwei Maschinengewehrnestern, einem an jeder Einfahrt. Dazwischen wird der Verkehr durch Pylonen geführt, so dass es den Soldaten möglich ist, verdächtige Fahrzeuge aus dem Verkehr auf den Standstreifen zu lenken. Seitlich der Fahrbahn liegen auf Ketten gezogene aufgeschnittene Autoreifen, die sich als mobile Topes über die Fahrbahn ziehen lassen. Rechts neben der Spur Richtung Acapulco befindet sich ein olivgrün gestrichenes Gebäude. Busse, zumindest jene von AGC und AMS, werden anscheinend immer aus dem Verkehr gezogen. Bei den Kontrollen steigen zwei Soldaten in den Bus. Einer der beiden trägt eine orangene Warnweste, geht durch den Gang nach hinten und überprüft unterwegs die Papiere von Fahrgästen, die ihm vermutlich verdächtig erscheinen. Unter den kontrollierten Fahrgästen befinden sich auffällig viele junge Männer. Außerdem wirft er Blicke in größere Gepäckstücke. Unter anderem kontrolliert er auch meinen Rucksack und dürfte sich über die zweieinhalb Kilo Piñata-Füllung wundern, die ich interviewten Passagier/innen als Dankeschön anbiete. Während der erste Soldat seine Arbeit im Gang verrichtet, baut sich der zweite Soldat mit einem schweren Maschinengewehr neben dem Busfahrer auf und beobachtet das Geschehen im hinteren Teil des Busses. Nicht 21 Tatsächlich war die prekäre Sicherheitslage an der Costa Grande und ihrem Hinterland keinesfalls ein Phänomen, dass erst 2006 mit der »Guerra al Narco« in Erscheinung getreten wäre. Bereits seit den 1960er Jahren als sich die Guerillagruppen um die Lehrer Lucio Cabañas und Genaro Vázquez Rojas gegen die Regierung erhoben und der darauffolgenden als »Guerra Sucia« bezeichneten Kampagne, besaß der Bundesstaat Guerrero eine erhöhte Militärpräsenz (Castellanos 2007: 104).
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auszudenken, was passierte, wenn er seine Riesenwaffe tatsächlich im Innern des Busses abfeuerte. Der orange markierte Soldat – vielleicht damit ihn sein Kamerad im Kugelhagel von den übrigen Passagier/innen unterscheiden kann – braucht etwa fünf Minuten für die Kontrolle des Busses, bevor beide aussteigen und der Bus wieder in den Verkehr gewinkt wird.« (Tagebucheintrag vom 17.11.2011 in ACG zwischen Tecpan und Acapulco)
Auch Iguala und besonders die MEX-51 Richtung Tierra Caliente auf der anderen Seite der Sierra, die sich im Hinterland der Costa Grande erhob, galten als Hot Spots des Drogenkrieges. Die Konsequenzen der angespannten Situation waren dort vor allen Dingen im Terminal, das regelmäßig von schwer bewaffneten Einsatzkommandos der lokalen Polizei zu Ausweiskontrollen aufgesucht wurde, zu spüren. Es waren aber keinesfalls nur die Maßnahmen seitens lokaler und staatlicher Sicherheitskräfte, die den Konflikt in Terminals und an Bord der Busse sichtbar machten. Die Bundesstraßen waren auch Schauplätze der Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Kartellen, bei denen Busse, wie auch der übrige Verkehr in Mitleidenschaft gezogen wurden. So berichtete der Busfahrer »Mario« über einen Hinterhalt, in den er mit seinem Bus an der Costa Grande geriet: »Auf der anderen Seite ist ›Mario‹ froh, dass er nicht mehr für Los Galgos zwischen Acapulco und Lárzaro Cárdenas fährt. Er erzählt, wie er eines Tages gegen Abend mit seinem Bus über ein Band mit Nägeln, das über die Straße gerollt war, fuhr und sämtliche Reifen durchlöchert wurden. Als er Männer mit automatischen Waffen auf die Fahrbahn springen sah, rechnete er fest damit, dass sie seinen Bus ausrauben wollten. Plötzlich überholte den stehenden Bus jedoch ein Pick-Up, der ebenfalls wenige Meter weiter mit geplatzten Reifen zum Stehen kam. Der Hinterhalt hatte gar nicht dem Bus gegolten. Die bewaffneten Männer machten sich über den Geländewagen und seine Insassen her und ließen, ›Mario‹, seine Passagiere in ihrem Bus zurück.« (Tagebucheintrag vom 14.12.2011 in TER zwischen Buenavista de Cuéllar und Cuautla)
Die Musiker, die viel Zeit wartend am Straßenrand verbrachten, wurden ebenso Zeugen der Aktivitäten bewaffneter Kommandos der Drogenkartelle: »Julio erzählt, dass er an einem tope bei San Luis la Loma auf einen Bus wartete, als ein Taxi und ein gelber Pick-Up – ›von diesen geilen‹ – am Straßenrand hielten. Die Männer im Innern der Wagen gaben ihm unmissverständliche Zeichen, dass er verschwinden solle. Er rannte in eine nahegelegene Tienda und legte sich darin auf den Boden. Er hörte Schüsse und blieb in seiner Deckung, bis er hörte, dass die beiden Wagen wegfuhren.« (Tagebucheintrag vom 7.10.2011 in Brasilia)
Die allgemeine Verrohung, die die Costa Grande im Zuge des Drogenkrieges erfahren hatte, führte dazu, dass Musiker Morddrohungen, wie jene des Mannes in Pie de la Cuesta, der Julio und Jesús García vom Strand vertrieben hatte22, ernst nehmen mussten. Während Julio und Jesús García die Nachfrage nach corridos über den narcotráfico befriedigten, hatte Gabriel Villanueva aufgehört, corridos über Morde, die im Zusammenhang mit dem Drogenkrieg standen, zu komponieren, weil er Angst um
22 Vgl. Kapitel 4.3.1.
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sein Leben hatte: »Klar im Moment passieren viele Geschichten in Guerrero! Unglaublich viele. Aber in letzter Zeit wäre es dumm, eine echte Geschichte daraus zu machen, eine, die die Wahrheit erzählt. Denn die Wahrheit ist, dass sie morden. So ist das hier in Guerrero in der letzten Zeit. Ich sage: ›Nee. Ich will leben, für meine Kinder, für meine Enkel.‹« (Villanueva, Gabriel 16.10.2010) Gabriel Villanuevas Angst war begründet. Wie in ganz Mexiko wurden Musiker in Guerrero immer häufiger Opfer von Mordanschlägen.23 Auch Gabriel Villanuevas Sohn Lorenzo wollte nicht mit narcocorridos in Verbindung gebracht werden, obwohl er sich bewusst war, dass er auf diese Weise den Anschluss an jugendliche Fahrgäste in den urbanos Acapulcos verlor: »In letzter Zeit hört man nur Corridos von Massakern. […] Nur über den Narco und all das, nicht? Das ist was anderes. Davor habe ich Angst, Corridos darüber zu singen. Aber den jungen Leuten gefallen die. Ich singe sie nicht gern. Manchmal verlangen sie danach: ›Hey! Sing diesen Corrido!‹ Nein. Denn manchmal habe ich Angst diese Corridos zu singen, nicht?« (Villanueva, Lorenzo 5.10.2011)
Auf der anderen Seite entschlossen sich Musiker gerade wegen der gestiegenen Gewalt in Bussen aufzutreten, weil Busse im Vergleich zu anderen Auftrittsräumen weniger in Mitleidenschaft gezogen wurden. Besonders cantinas in Acapulco und Iguala wurden von vielen Musikern gemieden. Mehrfach wurde während meiner Aufenthalte in Acapulco das gesamte neben meinem Hotel gelegene Viertel El Tamarindo, das zahlreiche cantinas und Bordelle beherbergte, von der Polizei abgeriegelt. Der músico ambulante Plutarco León aus dem Streckennetz »Zona Norte« erklärte, dass es auch in Iguala in cantinas häufig zu Schießereien kam. Aus dem diesem Grund gingen immer weniger Kunden in die cantinas, in denen sich daher weniger verdienen ließ: »Jetzt herrscht die Gewalt. Früher war alles ruhig. Alle gingen in Läden [Bars]. Man konnte trinken und alles. Und sie riefen uns rüber und wir sangen. Jetzt nicht mehr. In die Bars gehe ich fast nicht mehr. […] Die Leute haben Angst, dass plötzlich eine Schießerei losgeht. Es ist kritisch!« (León, Plutarco 8.11.2011)
23 Während meines Forschungsaufenthaltes in Acapulco 2010 wurden zwei Musiker der Gruppe »Acaboys« an der MEX-200 nahe der Ortschaft El Kilómetro 30 mit abgetrennten Köpfen gefunden (Robles Mújica 2010 und Rodríguez Alcaraz 2010). Seit 1992 mit Rosalino »Chalino« Sánchez einer der bekanntesten Komponisten und Interpreten von corridos in Culiacán im Bundesstaat Sinaloa ermordet wurde, wurde eine ganze Reihe von Musiker/innen in Mexiko Opfer von Mordanschlägen und Entführungen. Unter den bekanntesten Opfern waren Valentín Elizalde, Sergio Gómez, Sänger der Gruppe K-Paz de la Sierra und Norberto Quintanilla. Während keiner dieser Morde vollständig aufgeklärt wurde, wurde in mehreren Fällen vermutet, dass Musiker als Repräsentanten bestimmter Kartelle betrachtet und deshalb von konkurrierenden Organisationen ermordet wurden (vgl Pérez 2012). Die Organisation für Musikerrechte »Freemuse«, die nur einen Teil der in den letzten zwei Jahrzehnten ermordeten Musiker erfasst, bezeichnet Mexiko als »one of the most deadly places in the world for musicians.« (Brown 2009).
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Sicherheitsmaßnahmen und ihre Konsequenzen für die Musiker »Weil alle Sitze im Bus besetzt sind, ruft mich der Busfahrer zu sich zurück und bietet mir an, mich neben ihn auf die Stufe zum Gang zu setzen. Er sagt, ich habe Glück gehabt, dass er noch rechtzeitig gesehen habe, dass ich Ausländer sei, jeden anderen hätte er am Straßenrand stehen gelassen. Abseits der offiziellen Haltstellen nehme er nie Männer mit. Zu groß sei das Risiko, dass er sich Räuber in den Bus lade.« (Tagebucheintrag vom 12.12.2010 in SUR zwischen Acatlán de Osorio und Cuautla)
Raub und andere Gewaltverbrechen, die Busse und Straßen unsicher machten, hatten nicht nur Einfluss auf die Arbeit der Busmusiker, wenn sie gerade an Bord eines überfallenen Busses performten oder am Straßenrand Zeuge der Aktivitäten von Kommandos der Drogenkartelle wurden. Die große Zahl der Überfälle auf Überlandbusse veranlasste Fahrer, líneas und staatliche Institutionen dazu, Maßnahmen zu ergreifen, um Busse und rutas sicherer zu gestalten. Nicht zuletzt, weil Musiker und Räuber durch ähnliche Faktoren entlang der ruta begünstigt wurden, trafen diese Maßnahmen oft auch músicos ambulantes, wie das Beispiel der Verlegung der Haltestelle »30-30« unter die »Puente Morelos« zeigt. Der Aufbau der neuen Haltestelle und die vielen Sicherheitsleute zeugten von der großen Bedeutung, die Sicherheit bei der Planung und dem Betrieb der Haltestelle spielte: »Die neue Haltestelle ›Puente Morelos‹ liegt tatsächlich wenig mehr als einen Kilometer weiter [als die alte Haltestelle ›30-30‹] Richtung Pachuca unter der gleichnamigen Brücke, trotzdem könnte der Unterschied nicht größer sein. Die neue Haltestelle besteht aus einem vielleicht hundert Meter langen, aber weniger als zwei Meter breiten Gang, der auf beiden Seiten mit einem etwa drei Meter hohen Zaun aus Maschendraht eingefasst ist. Von oben ist der Gang mit Platten aus gewelltem Plastik abgedeckt. Auf der der Fahrbahn abgewandten Seite gibt es nur zwei Zugänge, in denen rechts und links des massiven Pfeilers Treppen von der darüberliegenden Avenida Morelos münden. Hingegen befinden sich auf der Fahrbahnseite vielleicht 15 ›Puertas‹, die jeweils mit einer Kette verschlossen sind und nur geöffnet werden, wenn ein Bus mit seiner Tür genau vor die ›Puerta‹ fährt. Diese Aufgabe übernehmen uniformierte Sicherheitsmänner mit Schusswaffen, von denen vor jeder der ›Puertas‹ einer steht. Zwischen den ›Puertas‹ gibt es auf die Fahrbahn ausgerichtet schlichte Edelstahlbänke. Genauso wie der Maschendraht besitzt das neue Blech der Bänke noch seinen silbrig-metallischen Glanz, über den sich noch nicht der Staub der Autobahn gelegt hat. […] Die vielen bewaffneten Sicherheitsleute lassen vermuten, dass Sicherheit bei der Umsiedlung eine wichtige Rolle gespielt hat. In 30-30 gab es einen einzigen Sicherheitsmann, der nur mit einem Schlagstock bewaffnet war und keine andere Möglichkeit hatte, als sich bei Überfällen auf den Boden zu werfen und zu hoffen, dass er nicht als Gefahr betrachtet wurde.« (Tagebucheintrag vom 1.1.2011 an der Haltestelle »Puente Morelos«, San Cristóbal, Ecatepec)
Der schmale Gang zwischen den Maschendrahtzäunen, die an die Installationen eines Gefängnisses erinnerten, ließ keinen Platz für die zahlreichen Stände der Händler/innen, die die ehemalige Haltestelle »30-30« prägten. Vom Tag der Inbetriebnahme war ambulanten Händler/innen der Zutritt zur Haltestelle »Puente Morelos« und damit auch zu den Bussen untersagt. Dieses Verbot führte zu starken Protesten der Händler/innen, die schließlich durch ihre unglückliche Argumentation auch Musiker in den
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Konflikt hineinzogen.24 Letzteren wurde der Zutritt zur Haltestelle kurze Zeit später ebenfalls verboten: »Aber in Puente Morelos sehe ich keinen einzigen Ambulante und auch keinen Musiker. Ich spreche einen Checador an. ›Gibt es keine Händler mehr?‹ – ›Nicht mehr! Sie lassen sie nicht mehr!‹ Er schüttelt seinen Zeigefinger. Er trägt eine Sonnenbrille und einen grauen Schnurrbart. ›Wo sind sie jetzt?‹ Er zuckt mit den Schultern. ›Und die Musiker?‹ – ›Die lassen sie auch nicht mehr. Er lässt sie nicht mehr!‹ Er zeigt auf den Sicherheitsmann, der mit dem Rücken gegen die Kette lehnt und seinen Kopf gefährlich Richtung Fahrbahn nach hinten streckt.« (Tagebucheintrag vom 1.1.2011 an der Haltestelle »Puente Morelos«, San Cristóbal, Ecatepec)
Laut José David Jaímez wurde es den Busfahrern der línea ebenfalls untersagt, zwischen der neuen Haltestelle »Puente Morelos« und San Juan Teotihuacán Passagier/innen aufzunehmen. Auch für Musiker hielten die Fahrer auf diesem Abschnitt nicht mehr, weshalb der nächste Ein- und Ausstiegspunkt der Musiker an der Mautstelle »Pirámides« wegfiel: »Die Präsidenten der Línea haben beschlossen, dass es nur noch eine einzige Haltestelle in San Juan geben soll und dass niemand mehr aufgelesen wird, der kein Passagier ist, Alter, also keine Musiker oder Händler.« (Jaímez, José David 8.3.2013) Zwar lockerte sich bereits wenige Monate nach der Verlegung der Haltestelle »30-30« die Umsetzung dieser strengen Regeln, jedoch hatten zu diesem Zeitpunkt bereits viele, insbesondere weniger etablierte Musiker das Streckennetz verlassen. Auf der anderen Seite brachten vor allen Dingen die Armee und Polizei im Krieg gegen die Drogenkartelle neue soziale Güter hervor, die Musiker zu Strecken synthetisierten. So hatte die Armee mit dem retén bei Bajos del Ejido einen der wichtigsten Ein- und Ausstiegspunkte für Musiker an der Costa Grande geschaffen. Während die Soldaten Busse, Passagier/innen und Gepäck nach Waffen durchsuchten, bot sich den Musikern genügend Gelegenheit, die Busfahrer anzusprechen und um Erlaubnis zu fragen. Der direkte Kontakt, den die Straßensperre auf diese Weise ermöglichte, war aus Sicht der Musiker sehr viel fruchtbarer als die flüchtigen Begegnungen an topes. Zugleich fühlten sich die Musiker nahe den bewaffneten Soldaten sicherer, während sie auf Busse warteten (Gespräch mit Jesús García am 6.10.2011). Zwischen San Juan Teotihuacán und der Haltestelle »30-30« hingegen unterbrach ein retén der Polizei die Strecke der Musiker. Weil dort lediglich Busse in Richtung Mexiko-Stadt kontrolliert wurden und Busse in entgegen gesetzter Richtung durchfuhren, war dieses retén als Ein- und Ausstiegspunkt ungeeignet. Musiker stiegen daher zwar in San Juan Teotihuacán in einen Bus Richtung Hauptstadt, warteten aber an Bord bis zum retén, wo alle Männer den Bus verlassen mussten und abgetastet wurden, und spielten erst, nachdem der letzte Passagier eingestiegen war und der Bus seine Fahrt fortsetzte. Einer der uniformierten Sicherheitsleute, die an diesem retén bei San Juan Teotihuacán Passagiere kontrollierten, war ein ehemaliger Musiker, der an der Haltestelle »30-30« in die Busse stieg, bevor die Haltestelle verlegt wurde (Gespräch mit Endir de León und Rubén Jaímez am 3.11.2011).
24 Vgl. Kapitel 4.4.
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5.4 CORRIDOS VON DRÜBEN: BUSMUSIKER UND DIE HÖRGEWOHNHEITEN DER TRANSITRÄUME Die Hafenmetropole Acapulco teilte die Küste des Bundesstaates Guerrero in Costa Chica und Costa Grande, doch die direkte Nachbarschaft und die Tatsache, dass Musiker rutas entlang beider Küsten zu einem gemeinsamen Streckennetz verbanden, täuschte. »Los Pajaritos del Sur« aus Acapulcos Vororten Ciudad Renacimiento und La Frontera und Julio und Jesús García aus dem kleinen Dorf Brasilia lebten weniger als eine Busstunde voneinander entfernt. Als ich Jesús García allerdings fragte, ob »Los Pajaritos del Sur« an der Costa Grande populär seien, antwortete der junge Musiker »fast gar nicht« und erklärte, dass das dueto von Gabriel und Lorenzo Villanueva aufgrund seines Repertoires klar der Costa Chica zuzuordnen sei: »denn sie spielen Chilenas und ausschließlich Corridos von drüben« (Gespräch mit Jesús García am 7.10.2011). Gabriel Villanueva, der bezüglich seiner Berühmtheit an der Costa Grande sicherlich vehement widersprochen hätte, gab Jesús García bei der musikalisch-räumlichen Gliederung beider Küsten Recht (Villanueva, Gabriel 4.4.2013). Obwohl Costa Chica und Costa Grande aneinandergrenzten, verstanden die Musiker sie als zwei sehr verschiedene musikalische Räume und ordneten sich gegenseitig entsprechend ihrer Repertoires diesen Räumen zu. Busmusiker platzierten also Genres und synthetisierten sie zu musikalischen Transiträumen. Aber wählten sie die Stücke ihrer Performances an Bord der Busse entsprechend der durchreisten Räume oder bemühten sie sich, in der Wahl des Genres der Herkunft der Passagier/innen gerecht zu werden? In Bezug auf das zentrale Interesse meiner Arbeit stellte sich zudem die Frage, ob die Musiker mit ihrer raumspezifischen Wahl bestimmter Genres nicht ihrerseits in den Augen oft ortsfremder Passagier/innen räumliche Platzierungen darstellten. Dieses Unterkapitel behandelt daher zunächst die ausgeprägte Platzierung bestimmter Genres in regionalen mexikanischen Kontexten und die Verortungen, die Busmusiker zu musikalischen Räumen verbanden, um diese schließlich während ihrer Performances an Bord der Busse zu reproduzieren. Anhand dreier Beispiele der Streckennetze »Costa Grande y Costa Chica«, »Zona Norte« und »Paradero 30-30« wird deutlich, wie die Musiker die Wahl ihrer Stücke in Abhängigkeit zu Transiträumen trafen, dabei aber mal ihre eigenen musikalischen Platzierungen bestimmter Genres und mal die Erwartungen der Passagier/innen bedienten. »Música Regional«: Platzierungen von Genres Die Busmusiker des Streckennetzes »Costa Grande y Costa Chica« waren mit ihrer lokalen Verknüpfung von Genres und Hörgewohnheiten nicht allein. Wie Daniel E. Sheehy in seinem Überblick über die Musikgeschichte und Genres Mexikos bemerkt, führte die isolierte Lage vieler Gemeinden und ganzer Regionen dazu, dass sich bis Ende des 19. Jahrhunderts regional sehr spezifische Musikformen entwickelten. Trotz des Ausbaus des Straßennetzes, einer mächtigen Medienindustrie und diversen Bemühungen der Regierung, nationale kulturelle Standards zu schaffen, blieben diese regionalen Differenzen im 20. Jahrhundert, wenn auch in abgeschwächter Form, bestehen:
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»Regional musical identity persists, though in part solely as a musical style and as an emblem of an idealized rural, regional heritage. Regional musical distinctions are based on repertoire, typical instrumentation, style of performance, related regional traits such as style of speech and vocabulary, traditional dress, local topics alluded to in song texts, and other factors.« (Sheehy 1998: 606)
Sheehy spricht daher von der »Música Regional«, unter die er verschiedene regionale sones25 fasst. Bereits ihre Bezeichnungen platzieren sones in verschiedenen Regionen, wie den son huasteco in der Huasteca zwischen den Bundesstaaten Hidalgo, Veracruz, Puebla und San Luis Potosí oder den son istmeño im Istmus von Tehuantepec im Bundesstaat Oaxaca. Aber nicht nur sones werden starke regionale und lokale Bindungen zugeschrieben. So entwickelten sich die bandas sinaloenses zu musikalischen Repräsentanten des nordwestlichen Bundesstaates Sinaloa (vgl. Simonett 2001: 208) und die typischen Ensembles der música norteña aus bajo sexto und Akkordeon zum Symbol der »border life experience« zwischen Mexiko und den USA (vgl. Ragland 2009: 55). Ebenso besaßen die Genres im Repertoire der Busmusiker räumliche Konnotationen. Chilenas, die sich besonders im Repertoire der »Los Pajaritos del Sur«, aber auch in dem von Julio und Jesús García befanden, waren eng mit der Costa Chica verknüpft.26 Die enge lokale Bindung der chilenas kam besonders in ihren Texten zum Ausdruck. Sie waren in der Regel konkreten Orten gewidmet (Villanueva, Gabriel 21.11.2011). So zelebrierten chilenas wie »Sanmarqueña« oder »Ometepec« die Reize dieser Orte meist anhand der Schönheit ihrer Bewohnerinnen und dem Mut und des Anstandes ihrer Bewohner.27 Im Streckennetz »Zona Norte« hatte Salvador Hernández Stücke in seinem Repertoire, die er ebenfalls mal als chilenas und mal als huapangos bezeichnete. Während es sich bei vielen dieser Stücke um chilenas von der Costa Chica handelte, fasste er unter diesen Begriffen auch sones calentanos oder sones guerrerenses, die eng mit der Tierra Caliente, durch die sich der Musiker auf den rutas entlang der MEX-51 bewegte, verbunden waren.28 25 Trotz regionaler Unterschiede sind den sones laut Sheehy hohe Tempi, 3/4 und 6/8 Takte, Dur-Tonarten, harmonisches Vokabular und die Unterteilung der Texte in kurze eigenständige coplas – im Gegensatz zu den langen narrativen corridos – gemeinsam (vgl. Sheehy 1998: 606-607). 26 Obwohl ihr Name auf ihre allerdings umstrittene südamerikanische Herkunft verwies (vgl. McDowell 2000: 121), zählt Sheehy chilenas aufgrund ihrer musikalischen Gemeinsamkeiten zu den regionalen mexikanischen sones (vgl. Sheehy 1998: 610). Auch chilenas lag die sesquialtera, die Kombination von 3/4 und 6/8 Rhythmen zugrunde. Jedoch erwähnt Sheehy nicht, dass die chilenas wie auch viele corridos der Costa Chica im Gegensatz zu anderen regionalen sones in Mexiko oft in Moll standen. 27 Bei den chilenas »Sanmarqueña« und »Ometepec« handelt es sich um Kompositionen des berühmtesten Komponisten dieses Genres Agustín Ramírez Altamirano, der mit »Caminos de Chilpancingo«, »Atoyac« und »Acapulqueña« auch anderen Orten Guerreros Kompositionen widmete. 28 Tatsächlich beschreibt auch Sheehy die Vielfalt der Bezeichnung der sones in der Tierra Caliente: »The tradition is found mainly in the area of the Balsas River basin of Guerrero. Most sones in this region are called by different names, reflecting differing characters.« (Sheehy 1998: 611)
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In beiden Streckennetzen in Guerrero dominierten allerdings corridos das Repertoire der Musiker. Die meist sehr weit gefasste Definition des Begriffes »corrido«, aber auch die große Popularität des Genres während der mexikanischen Revolution und die Verbreitung von corrido-Texten auf Flugblättern großer Verlagshäuser der Hauptstadt (vgl. Figueroa Torres 1995: 123 und Simmons 1957: 31) führten dazu, dass corridos in der Literatur oft als nationales oder sogar internationales Genre betrachtet werden (vgl. Mendoza 2003: VIII). Jedoch besaßen corridos auch sehr lokale räumliche Verknüpfungen, die aus dem enormen geographischen Verbreitungsgebiet herausstechen. Wald hebt den Bundesstaat Guerrero als eine solche lokale Verknüpfung hervor: »All in all, Guerrero is prime corrido country, so rich that at first I was baffled by the variety of choices.« (Wald 2002: 234)29 Auch für die Musiker, die ich interviewte, besaßen corridos einen sehr starken lokalen Bezug. Dazu trugen vor allen Dingen die Inhalte der corridos bei, deren »historias verídicas« in konkreten Räumen verortet wurden.30 Allerdings gab es auch musikalische Aspekte wie die Instrumentierung des Ensembles, zum Beispiel dueto de guitarras in Guerrero oder banda sinaloense in Sinaloa, oder harmonische Eigenschaften, wie die corridos in Moll an der Costa Chica (Villanueva, Lorenzo 4.4.2013), die corridos lokal platzierten. Während sones, chilenas und corridos eine starke lokale Bindung aufwiesen, befanden sich in den Repertoires aller Busmusiker, die ich im Rahmen meiner Feldforschung interviewte auch canciones románticas und canciones rancheras. Das Genre der canción romántica entstand in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts unter dem Einfluss kubanischer Musik auf der Yucatán-Halbinsel. Die canciones románticas gewannen aber durch Aufenthalte ihrer Komponisten, wie Augusto »Guty« Cárdenas Pinelo, in der Hauptstadt und ihre Präsenz in Radio und Film schnell nationale und internationale Verbreitung und wurden zu einem Stereotyp mexikanischer Musik (vgl. Sheehy 1998: 620). Zu diesen Liedern zählten beispielsweise die boleros románticos, die das Repertoire von José David Jaímez, Rubén Jaímez, Marco Antonio Calderón und Endir de León an Bord der mit internationalen Tourist/innen besetzten Busse der línea Teotihuacanos dominierten. Aber auch »Los Pajaritos del Sur« interpretierten an der Küste Guerreros boleros des berühmten »Trío Los Panchos«. Canciones rancheras waren eng mit mariachi-Ensembles und den singenden Schauspielern/innen, die in den mexikanischen Filmen ab den 1930er Jahren Rancher, Cowboys und andere ländliche Charaktere verkörperten, verbunden und gewannen auf diese Weise nationale und internationale Beliebtheit. Vor allen Dingen die älteren Musiker unter meinen Interviewpartnern gaben häufig an, dass sie durch diese Filme musikalisch sozialisiert worden seien. Salvador Hernández erinnerte sich: »Als ich Kind war, schauten wir Filme […] mit Pedro Infante, die alten Filme. Sie ritten auf Pferden und sie trugen Masken. Wir Kinder nahmen uns Pferde aus Stöckern und wir trugen eine Schleife [deutet Schleife um Hals an]. Wir imitierten die Schauspieler. Ich sang, wie sie sangen – naja – ich sang nicht so gut, aber ich sang gerne.« (Hernández, Salvador 28.3.2013)
29 Vgl. zur lokalen Bindung von corridos an der Costa Chica auch McDowell 2000: 72. 30 Zur Platzierung lokaler Ereignisse in corridos vgl. Kapitel 7.3.
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Wie Salvador Hernández verfügten alle Musiker über ein umfangreiches Repertoire an canciones rancheras und boleros rancheras, die durch Sänger mit mariachi-Begleitung wie Vicente Fernández und Pedro Infante oder durch norteño-Ensembles und Sänger wie »Los Tigres del Norte« oder Rosalino »Chalino« Sánchez nationale Berühmtheit erlangt hatten. Zwar waren diese canciones rancheras häufig Produkte der urbanen Musik- und Filmindustrie, jedoch verschafften ihre nostalgischen Bezüge auf das einfache Leben und die Glorifizierung der Landbevölkerung ihnen in der Provinz große Beliebtheit. Gabriel Villanueva erklärte die Vorliebe seines Publikums in den Bussen für música ranchera: »Die Leute, die im Bus reisen, sind Rancheros, aus der Provinz, Bauern. Der Bauer ist ranchero.« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013) Hingegen spielte er, wenn er Passagier/innen anhand ihrer Erscheinung und Kleidung nicht als ländlich einordnete, canciones románticas beziehungsweise boleros: »Aber wenn es feine Leute sind – das sieht man gleich an ihrer Kleidung – […] [spielen wir] Boleros.« (Villanueva, Gabriel 16.10.2010) Obwohl also canciones románticas und canciones rancheras keine eindeutige lokale Bindung wie chilenas, sones guerrerenses oder auch corridos hatten, besaßen sie sehr wohl räumliche Konnotationen in den Kategorien urban und ländlich. Besonders Musiker, die in Mexiko-Stadt aufgewachsen waren, wie jene an der ehemaligen Haltestelle »30-30« oder Tomás Ramírez, der mittlerweile an der Costa Grande spielte, besaßen in ihrem Repertoire viele Rock’n’Roll-Klassiker und Pop-Stücke der 1950er, 1960er und 1970er Jahre. Sie spielten Hits von Paul Anka, Roy Orbison, Elvis Presley und »The Beatles«, aber auch mexikanische Rock- und Pop-Stücke von »El Tri«, »Los Bukis«, »Ángeles Negros« und José José. Die Rock’n’Roll-Klassiker, die die músicos ambulantes häufig in spanisch-sprachigen Übersetzungen interpretierten, und die populären mexikanischen Stücke hatten ebenfalls starke räumliche Konnotationen, wie auch der Begriff des »rock urbano« zeigte, der diese Stücke, zum Beispiel bei Tomás Ramírez, häufig miteinschloss und im urbanen Umfeld MexikoStadts verortete. Der Zusammenhang zwischen Transiträumen und der Wahl des Genres Die feine musikalisch-räumliche Untergliederung hatte zur Folge, dass sich kaum einer der músicos ambulantes, die ich begleitete, ausschließlich innerhalb eines musikalischen Transitraumes bewegte. Die Musiker überquerten Grenzen zwischen musikalischen Transiträumen und sahen sich auf ihren Strecken mit sehr unterschiedlichen Hörgewohnheiten konfrontiert. Julio García erklärte über seine Strecken an Costa Grande und Costa Chica: »Dort [an der Costa Chica] hört man mehr Charanga[31], Cumbia und Corridos [...]. Corridos wie ›Chante Luna‹, ›Simón Blanco‹, ›La Gallinita‹, ›La Mula Bronca‹, das alles. Das sind […] Corridos aus der Gegend. […] [An der Costa Grande] nur der von ›Claudio Bahena‹, ›El Corrido del Puente‹ aus Puente
31 Mit »charanga« verwendet Julio García einen Begriff der eigentlich ein Ensemble und kein Genre bezeichnet. Aus dem Zusammenhang des Interviews ist allerdings anzunehmen, dass er über chilenas spricht.
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San Luis, die ist von hier, nicht?« (García, Julio 5.4.2013)32 Julio García passte deshalb die Wahl des Genres bei jeder seiner Performances an die durchreisten Räume an: »Man muss immer Lieder aus der Gegend spielen. […] Zum Beispiel wenn ich an der Costa Chica unterwegs bin. Dann singe ich nichts aus Michoacán. […] An der Costa Chica suche ich halt ein Liedchen von dort, etwas Bekanntes damit es den Leuten gefällt. Denn wenn ich ein unbekanntes Lied spiele: ›Was, Mann!? Was’n das für’n Lied?‹ […] Unsereiner muss immer Lieder aus der Region spielen.« (García, Julio 5.4.2013)
Auch »Los Pajaritos del Sur« stellten die Stücke ihrer Performances entsprechend der Costa, entlang derer sie sich bewegten, zusammen. An der Costa Grande spielten sie boleros rancheras, während sie an der Costa Chica hauptsächlich die dortige Vorliebe für corridos bedienten. Neben Costa Grande und Costa Chica spielte das dueto auch in der Tierra Caliente, wo sie eine ganz ähnliche Auswahl an Stücken wie an der Costa Chica interpretierten: »Drüben an der Costa Grande haben sie einen anderen Geschmack. Wir spielen da drüben entlang der Costa Grande Boleros. […] Entlang der Costa Chica sind die Leute corridero, Corridos und Rancheras. […] In der Tierra Caliente sind es auch Corridos und Rancheras, wie an der Costa Chica.« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013) Als Komponist vieler Stücke seines Repertoires verwendete Gabriel Villanueva bewusst auch Vokabular in seinen Texten, dass er mit der Küste Guerreros verband und dass woanders falsch verstanden werde, wie seine Komposition »Hija de la Siete Chingada«: »Das erste Wort ist ein Schimpfwort, aber die Leute hier aus der Gegend, aus Guerrero, sind an Schimpfwörte gewöhnt. […] An anderen Orten glauben sie, es ist ein Schimpfwort, aber hier ist es ein Wort wie jedes andere.« (Villanueva, Gabriel 16.10.2010)33 In den Bussen auf den rutas entlang der Costa Chica und der Costa Grande konnte Gabriel Villanueva verhältnismäßig sicher sein, dass die meisten Menschen in seinem Publikum seine Wortwahl verstanden. Entlang beider Küsten bewegten sich Pendler/innen entweder Richtung Acapulco oder sie verließen Acapulco und befanden sich auf dem Weg zu ihrem Wohnort beziehungsweise dem Wohnort ihrer Familien.34 So spielten »Los Pajaritos del Sur« und Julio und Jesús García sowohl an 32 Julio Garcías Unterscheidung zwischen corridos, von denen er einige an der Costa Grande und andere an der Costa Chica verortete, war zwar keine Untergliederung anhand verschiedener Genres, belegte jedoch Sheehys Aussage, dass sich die »Música Regional« durch sehr lokale Themen in ihren Texten auszeichne (Sheehy 1998: 606). Während »El Chante Luna«, »Simón Blanco«, »La Gallinita« und »La Mula Bronca« Revolverhelden, von der Costa Chica waren, hatten sich der Mord an Claudio Bahena und der Mord an der Brücke von San Luis la Loma an der Costa Grande zugetragen. Mehr zu den Bezügen von corridos und anderen Stücken auf Transiträume findet sich im Kapitel 7.3. 33 Gabriel Villanueva war mit seinen Behauptungen über den Umgang mit Kraftausdrücken an den Küsten und deren Hinterland nicht allein. Vor allen Dingen Männer erwähnten diese Besonderheit in der Wortwahl der Menschen ihrer Region oft mit Stolz oder erklärten mir die harmlose Bedeutung ihres Vokabulars entschuldigend, nachdem sie es mir gegenüber angewandt hatten (Gespräch mit Busfahrer »Luis« in San Luis la Loma am 15.8.2010). 34 Zur Zusammensetzung der Passagier/innen entlang der Costa Grande und Costa Chica vgl. Kapitel 4.3.
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der Costa Chica als auch an der Costa Grande in der Regel vor Menschen, deren Hörgewohnheiten sie in den Transiträumen verorteten. Während die Hafenmetropole Acapulco die zwei musikalischen Räume Costa Grande und Costa Chica klar voneinander trennte und die Musiker des Streckensystems stets entweder auf rutas entlang der einen oder der anderen Küste auftraten, durchquerte Salvador Hernández auf ein und derselben ruta Räume, denen er verschiedene Genres zuordnete. Die zwei Strecken, auf denen er in der Regel auftrat, lagen auf einem etwa 90 Minuten langen Abschnitt entlang der Schnellstraße zwischen Iguala im Bundesstaat Guerrero und Puente de Ixtla im Nachbarstaat Morelos. Seine Strecken trennte das Terminal der kleinen Stadt Buenavista de Cuéllar, die in Guerrero unmittelbar an der Grenze zu Morelos lag. Obwohl sich seine zwei Strecken auf ein und derselben ruta und sogar auf derselben Straße befanden, führten beide Strecken für Salvador Hernández durch sehr verschiedene musikalische Transiträume, denen er in seinen Performances Rechnung trug. Der Richtung Puente de Ixtla oder »pa’ Morelos« ordnete er urbane canciones románticas zu. Im Gegensatz dazu stand »pa’ Guerrero«, das er mit »canciones del pueblo« verband und in seinen Performances mit ländlich konnotierten canciones rancheras, corridos und mit lokalen sones, die er als »chilenas« und »huapangos« bezeichnete, bedachte: »Wenn ich Richtung Guerrero unterwegs bin, in Guerrero kommen Rancheras, Corridos aus Guerrero natürlich und Chilenas an. […] Sowas wie ›La iguana‹, ›El huizache‹. […] Diese Musik kommt an. Aber wenn ich nach Morelos fahre, kommt diese Musik nicht an, und ich muss was anderes suchen. Das kann ein Bolero sein, das kann ›La ajena‹ sein, andere Lieder halt.« (Hernández, Salvador 28.3.2013)
Dieses an Guerrero gebundene Repertoire baute Salvador Hernández stetig aus, indem er sich an den Ständen der piratas auf dem Markt Igualas über neue Trends informierte und sich mit den entsprechenden CDs versorgte: »Wir stehen unter dem Vordach eines Pirata-Standes. Vor uns auf dem Tisch liegen ordentlich aufgereiht CDs, und weitere sind mit Klebeband an den Seitenwänden befestigt. Es handelt sich hauptsächlich um Kompilationen, die meist ganze Diskographien eines Künstlers oder die einschlägigen Alben eines Genres im Mp3-Format enthalten. Die CDs befinden sich in aufwendig bedruckten Papphüllen, deren Artwork, bei dem es sich in der Regel um Frauen in Bikinis und/oder Handfeuerwaffen handelt, bemerkenswert wenig Bezug zum musikalischen Inhalt der Tonträger besitzt. Die Qualität der Verpackung erweckt den Eindruck, es handele sich um Originale. Salvador, der die beiden Verkäufer hinter dem Tisch gut zu kennen scheint, interessiert sich allerdings weniger für die ausgestellte Ware. Er hat weder ein Gerät, mit dem er Mp3-Formate abspielen könnte, noch genug Geld für die schickeren Kopien. Stattdessen reicht ihm einer der beiden Verkäufer ganze Pakete mit nackten, unbedruckten CDs in dünnen Klarsichthüllen über den Tisch. Als Cover der CDs dienen schlichte weiße Blätter mit Blockbuchstaben, die über den Inhalt informieren. Während Salvador ein Paket nach dem anderen durchblättert, informiert ihn der Verkäufer über die gefragtesten Hits. Salvador ist an Chilenas interessiert, um sein Repertoire zu erweitern.« (Tagebucheintrag vom 27.3.2013 in Iguala)
Zu Hause transkribierte Salvador Hernández die Texte der Stücke auf den gekauften CDs und übertrug sie in Hefte, die jeweils nach Inhalten oder auch Genres der Stücke
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organisiert waren. So war zum Beispiel ein Block einzig corridos und sones calentanos und chilenas aus Guerrero gewidmet und enthielt unter anderen die Stücke »Caminos de Chilpancingo«, »Por los Caminos del Sur« oder »Iguala Querida«. Gelegentlich verließ Salvador Hernández in Iguala angekommen seine beiden Strecken auf der ruta der línea TER und wechselte auf rutas über die MEX-51 durch die Tierra Caliente Richtung Ciudad Altamirano. Auch für die Strecken entlang dieser rutas hatte er sehr genaue Vorstellungen, welche Genres funktionierten und spielte hauptsächlich corridos lokaler Ereignisse: »Wenn ich Richtung Teleloapan unterwegs bin, singe ich Lieder von dort, aus Teleloapan. Ich kenne mehrere Lieder von dort, aus Teleloapan und der ganzen Ecke da, Teleloapan, Arcelia, San Miguel und – wie heißt das Dorf da nochmal – Apaztla, oder? Dort gefällt den Leuten der Corrido. […] Corridos von Revolverhelden.« (Hernández, Salvador 4.12.2011) Spielte Salvador Hernández jedoch in den Bussen von Buenavista Richtung Norden, so verzichtete er auf sones calentanos, chilenas und corridos zugunsten von Stücken und Genres, die er Morelos zuordnete. Obwohl sein Dorf Palmillas sehr nah an der Grenze zu Morelos lag, musste Salvador Hernández zugeben, dass er sich in der Musik, die wenige Kilometer weiter nördlich gespielt und gehört werde, kaum auskenne. Daher spielte er lediglich bekannte Stücke, die er aufgrund ihres Textes in Morelos platzierte: »Weil ich nicht dort lebe, kenne ich nichts von dort. Nur die Bekanntesten, wie ›La eterna primavera‹35.« (Hernández, Salvador 4.12.2011) Zusätzlich spielte Salvador Hernández auf seiner Strecke, die er Morelos zuordnete36, eben urban konnotierte canciones románticas. Bei den übrigen Stücken, die er auf dieser Strecke – aber auch südlich von Buenavista Richtung Iguala – spielte, handelte es sich um canciones rancheras, denen Interpreten wie Vicente Fernández oder »Los Tigres del Norte« zu nationaler Bekanntheit verholfen hatten. Salvador Hernández war keinesfalls allein mit seiner Untergliederung des Streckennetzes »Zona Norte«. Hexiquio Hernández fasste ganz ähnliche Räume zusammen. Dabei spielte er entlang der ruta Iguala-Cuautla viel weiter in den Bundesstaat Morelos hinein als sein älterer Bruder, bewegte sich zusätzlich entlang der MEX-95 von Puente de Ixtla über Taxco bis nach Iguala und spielte in den Bussen zwischen Iguala und Huitzuco genauso wie auf rutas durch die Tierra Caliente. Allerdings konnte Hexiquio Hernández auf ein weniger differenziertes Repertoire zurückgreifen und beherrschte im Gegensatz zu Salvador Hernández weder boleros noch sones calentanos oder chilenas. Trotzdem erklärte auch er, dass er in Morelos »canciones normales«, wie er sie nannte, die canciones rancheras der »Los Tigres del Norte« oder des aus dem nahen Taxco stammenden Sängers Joan Sebástian spiele. Auf keinen Fall spiele er dort corridos, die er vorrangig südlich der Grenze in Guerrero, sei es auf der Schnellstraße zwischen Puente de Ixtla und Iguala, auf der MEX-95 nahe Taxco oder auf der MEX-51 durch die Tierra Caliente, interpretiere (Hernández, Hexiquio 29.3.2013). In Guerrero, so Hexiquio Hernández, gefallen dem Publikum corridos,
35 Der Text dieses Stückes des Komponisten Narciso Silva nennt die wichtigsten Orte des Bundesstaates Morelos und zelebriert im Refrain die Schönheit seiner Hauptstadt Cuernavaca (vgl. Kapitel 7.5). 36 Tatsächlich lag der größte Teil dieser Strecke im Bundesstaat Guerrero und lediglich ihr Ende in Puente de Ixtla in Morelos.
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denn sie seien aus der Gegend: »Les gustan a la gente porque son de nuestro rumbo. Sí, les gusta, pues, conoce toda la gente.« (Hernández, Hexiquio 25.11.2010) Unabhängig von den beiden Hernández-Brüdern ordnete der músico ambulante Plutarco León, der sich ebenfalls durch das Streckennetz »Zona Norte« bewegte, Guerrero ebenfalls corridos und lokale sones zu. Allerdings verkehrte er dabei Salvador Hernández Unterscheidung zwischen der Tierra Caliente und dem Rest des Bundesstaates ins Gegenteil und platzierte die sones oder »huapangos«, wie auch er sie nannte, in der Tierra Caliente und corridos im übrigen Guerrero: »Es gibt Gegenden, wie zum Beispiel hier in Guerrero, wo sie beinahe ausschließlich Corridos hören. Die Leute singen nichts als Corridos! […] Gut, es gibt solche Orte und es gibt solche Leute. Es gibt auch andere Leute, die sagen: […] ›Singt mir nichts außer Chilenas und Huapangos!‹ Manchmal gefällt ihnen das. Hier in dieser Gegend, in der Tierra Caliente hören sie hauptsächlich Huapango.« (León, Plutarco 8.11.2011)
Bei der musikalisch-räumlichen Einteilung, die die Musiker im Streckennetz »Zona Norte« vornahmen, spielte auch der Gegensatz zwischen ländlich und urban eine wichtige Rolle. Bewegten sie sich durch das dicht besiedelte Morelos – beziehungsweise Transiträume, die sie Morelos zuordneten – spielten sie urbane canciones románticas und canciones rancheras, die zwar ländliche Idylle zelebrierten, die die Musiker aber keinesfalls so stark ländlich konnotierten, wie corridos oder sones. Letztere, so nahm Plutarco León an, seien die Musik der Provinz, während die música romántica ein Produkt des Nachtlebens der Großstadt sei: »In der Tierra Caliente […] mögen die Leute nur Huapangos, an diese Art Musik sind sie gewöhnt, nur Huapango. In Mexiko-Stadt hören sie das nicht. Weil es eine Stadt ist, gibt es viele Orte, wo die Menschen hinkommen, um sich zu vergnügen, zu essen und sich zu unterhalten, Nachtclubs und sowas. Dort kommt Música Romántica an.« (León, Plutarco 8.11.2011)
Bemerkenswert an der Untergliederung des Streckennetzes »Zona Norte« in verschiedene Räume war, dass sie seine musikalische Grenze zwischen Guerrero und Morelos zog, ohne dass das Publikum im Bus zwischen diesen Strecken gewechselt hätte. In Buenavista stiegen zwar Salvador Hernández, sein Bruder und seine Neffen zu, aber nur wenige Passagier/innen bestiegen oder verließen den Bus im kleinen Terminal. Auf den beiden Strecken nördlich und südlich von Buenavista de Cuéllar, zwischen denen Salvador Hernández durch die Wahl seiner Stücke so deutlich unterschied, traf er auf beinahe dieselben Passagier/innen. Dabei war es keinesfalls so, dass es Salvador Hernández nicht auffiel, dass sich die Abschnitte der ruta in ihrem Publikum kaum unterschieden. Er wusste sogar, dass es nahezu ausschließlich guerrerenses waren, vor denen er in den Bussen spielte37: »Drüben in Morelos leben viele Leute aus Guerrero. Es gibt vermutlich mehr Leute aus Guerrero als aus Morelos dort. Es gibt Dörfer in Morelos, da leben nur Leute aus Guerrero.« (Hernández, Salvador 4.12.2011) Während Salvador Hernández in anderen Aspekten sehr wohl die Zusammensetzung der Passagier/innen berücksichtigte, wenn er die Stücke seiner Performances 37 Zur Zusammensetzung der Passagier/innen auf der ruta Cuautla-Iguala der línea TER vgl. Kapitel 4.2.
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wählte38, so beeinflussten seine musikalischen Platzierungen in Transiträumen seine Performances direkt. Er wählte die Stücke seiner Performances nicht etwa aus, weil er annahm, dass die Mehrzahl der Passagier/innen an Bord aus Transiträumen, die sie während der Performance gemeinsam durchquerten, stammte. Vielmehr ging er davon aus, dass sein Publikum ungeachtet seiner eigenen Herkunft Musik der eben durchreisten Räume hören wollte. Während seiner Performances an Bord der Busse zeigte sich, dass er Recht damit hatte. So spielte er die chilena »Por los Caminos del Sur« des Komponisten José Agustín Ramírez Altamirano als Zugabe für einen Busfahrer aus der Hauptstadt, der uns von Buenavista nach Iguala mitnahm: »Vorne spielt Chava eine Zugabe für den Fahrer. Er beginnt zu singen: Por los caminos del sur/ vámonos para Guerrero/… (Auf den Straßen des Südens/ fahren wir nach Guerrero…) und der Fahrer sagt überraschend nostalgisch: ›Ah, das habe ich immer gesungen, als sie mich die ersten Male auf dieser Route einsetzten.‹« (Tagebucheintrag vom 9.11.2011 in TER zwischen Buenavista de Cuéllar und Iguala) Eine junge Studentin aus Cuernavaca, die häufiger zwischen der Hauptstadt Morelos und dem Norden Guerreros reiste, entgegnete auf die Frage, ob ihr die Performances von Busmusikern gefielen, dass sie die Musiker und ihre ländliche Musik als eine angenehme Abwechslung zu ihren eigenen Hörgewohnheiten empfand: »Ich mag die Música Regional vom Land.« (Passagierin 2 in TER zwischen Iguala und Puente de Ixtla, 22 Jahre, 3.12.2011) Dass dies nicht nur für Salvador Hernández und sein Streckennetz in der »Zona Norte« galt, zeigten ähnliche Aussagen von Passagier/innen in anderen Streckennetzen. So antwortete ein Ingenieur aus Mexiko-Stadt, der sich auf einer Dienstreise an der Costa Chica befand, auf dieselbe Frage nach seiner Meinung zu Performances der Busmusiker: »Ja, denn sie spielen die Musik aus der Gegend.« (Passagier 1 in Altamar zwischen Acapulco und Cruz Grande, 52 Jahre, 20.11.2011) Da viele – vor allen Dingen fremde – Reisende allerdings kaum Vorstellungen von der Musik der Räume, durch die sie sich bewegten, mitbrachten, waren die Performances von Busmusikern die wichtigsten musikalischen Platzierungen, mit deren Hilfe sie musikalische Transiträume konstituierten. Dies galt besonders für Busfahrer. Obwohl sie aufgrund ihrer Arbeit viele Räume regelmäßig, häufig mehrmals täglich durchreisten, hatten sie dennoch als einzigen musikalischen Kontakt zu diesen Räumen die Busmusiker: »Der Busfahrer ist bereits für viele verschiedene Líneas gefahren und kennt von seinen Fahrten nicht nur Morelos und den Norden Guerreros, sondern ganz Guerrero und auch Michoacán und erweist sich als Experte für Musiker in Bussen. Er zeigt zurück Richtung Iguala und erklärt mir: ›Da unten im Dorf Palmillas gibt es eine ganze Familie, die sich dem widmet.‹ Er meint die Familie Hernández und ist überrascht, als ich ihm sage, dass ich gerade von Salvador komme. Der Busfahrer weiß auch: ›Es gibt auch viele in der Tierra Caliente, Richtung Michoacán.‹ Dann erklärt er, dass allerdings nicht alle Musiker die gleiche Musik spielten. ›Hier sind sie sehr folkloristisch,‹ befindet er über die Hernández-Brüder und vermutlich auch die übrigen Musiker, die zwischen Puente de Ixtla und Zacapalco auftreten. ›Richtung Michoacán singen sie nichts als
38 Vor diesem Hintergrund war besonders interessant, dass Salvador Hernández Passagierinnen urbane Genres, insbesondere boleros, zuordnete und Passagieren die ländlich konnotierten corridos.
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Corridos aus der Gegend.‹« (Tagebuchbericht vom 4.12.2011 in TER zwischen Buenavista de Cuellár und Puente de Ixtla)
Nicht nur Busfahrer machten sich auf diese Weise ein Bild musikalischer Transiträume, auch Passagier/innen bemerkten, die verschiedenen Genres bei den Performances von Busmusikern und ordneten sie entsprechend zu. Ein Passagier, der sich zwischen Buenavista und Cuautla auf dem Heimweg nach Jojutla in Morelos befand, unterschied die Busmusiker in Guerrero von denen in Morelos: »Es ist sehr anders als das, was sie hier spielen. Sie spielen Chilenitos und all das.« (Passagier 3 in TER zwischen Buenavista de Cuéllar und Cuautla, 80 Jahre, 14.12.2011) Zusätzlich, so erklärte er, höre er in Bussen in der Tierra Caliente genauso wie an der Küste Guerreros viele corridos: »[Für Corridos] ist es Tierra Caliente und die Küste. Dort sind sie abgestumpft und gefährlich. […] Das ist eine Sache, die mir nicht gefällt.« (Passagier 3 in TER zwischen Buenavista de Cuéllar und Cuautla, 80 Jahre, 14.12.2011)39 Sowohl die Musiker an der Küste Guerreros als auch die Musiker in der »Zona Norte« konstituierten also innerhalb ihrer Streckennetze anhand musikalischer Platzierungen verschiedene Transiträume und richteten die Wahl des Genres bei ihren Performances danach. Jedoch gingen »Los Pajaritos del Sur« und Julio und Jesús García davon aus, dass ihr Publikum ebenfalls aus den durchreisten Räumen stammte und entsprechend genau die Hörgewohnheiten besaß, die sie dort platzierten. Hingegen war sich Salvador Hernández in der »Zona Norte« bewusst, dass sein Publikum nicht notwendigerweise aus den Räumen kam, durch die sie sich gemeinsam während der Performance bewegten. Er bezog sich also mit der Wahl seiner Genres direkt auf die durchreisten Räume und nahm dabei – offensichtlich zu Recht – an, dass sein Publikum dies erwartete. Umgekehrt zeigten die Reaktionen der Passagier/innen und Busfahrer, dass sie die Musiker, die sie nur auf einem kurzen Abschnitt ihrer Reise begleiteten, als musikalische Repräsentanten durchreister Transiträume betrachteten. Die etablierten Musiker im Streckennetz »Paradero 30-30« boten mit der Wahl der Genres bei ihren Performances in den mit internationalen Tourist/innen besetzten Bussen ein drittes Beispiel für den Bezug auf Transiträume und die Herkunft des Publikums. Denn an Bord der Busse der línea Teotihuacanos spielten sie gerade eben nicht Musik, die sie mit der vermeintlichen Herkunft ihres Publikums verbanden. So bemerkte »Eduardo«, dass er mit seinen Rock’n’Roll-Klassikern bei den Tourist/innen nicht ankäme: »Wenn ich einsteige und ›Pretty Woman‹ spiele, ist das das Gleiche, wie bei ihnen zu Hause.« (»Eduardo« 7.10.2010) Daher spielten Rubén Jaímez und Endir de León, auch José David Jaímez und Marco Antonio Calderón canciones románticas und canciones rancheras. Marco Antonio Calderón erklärte, dass die Tourist/innen auf der Suche nach »mexikanischer Musik« seien: »Die kommen, um mexikanische Musik zu hören. Die wollen Dinge von hier. Sie wollen hören, was man hier hört, wollen essen, was man hier isst.« (Calderón, Marco Antonio 8.3.2013) Dass es
39 Die Aussage des Passagiers zeigte auch, dass er corridos nicht nur räumlich platzierte, sondern – vermutlich aufgrund ihrer gewalttätigen Inhalte – mit Gefahr verband. Auf diese Weise wurden die corridos an Bord der Überlandbusse musikalische Bausteine der »Strecken der Angst« an der Küste Guerreros und in der Tierra Caliente, indem sie die grausigen Geschichten dieser zwei Zentren des Drogenkrieges in die Busse trugen (vgl. Kapitel 5.4).
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sich bei Marco Antonio Calderóns Annahme keinesfalls um eine Selbstverständlichkeit handelte, zeigte der anfängliche Widerstand der Busfahrer gegen die Auftritte der Musiker an Bord ihrer Busse. Sie vertraten die Ansicht, dass die spanischsprachige Musik der Busmusiker für ihre internationalen Passagier/innen vollkommen uninteressant sei: »Die dachten sich: […] ›Was wollt ihr denn singen, wenn die nichts verstehen?‹ […] Die Busfahrer […] sagten uns, dass die Touristen uns nicht verstehen, Alter!« (Jaímez, José David 8.3.2013) José David Jaímez wusste dank seiner Arbeit in den Restaurants nahe des archäologischen Parks um die Erwartungen des internationalen Publikums, das er ebenfalls an Bord der Busse traf: »Ich persönlich setze auf traditionelle Musik. Denn, wie gesagt, habe ich in Restaurants bei den Pyramiden gearbeitet und dabei viel gelernt.« (Jaímez, José David 8.3.2013) Der Begriff »tradicional«, den José David Jaímez im Bezug auf die musikalischen Vorlieben der Tourist/innen verwendete, war allerdings nicht als Synonym für »Música Regional« zu verstehen, vielmehr wechselte er den Begriff »tradicional« mit »estereotipo de la música mexicana«. Der Musiker, der ansonsten erklärte, dass er von seinem Vater und seinem Geburtsort Cuetzalan in der Sierra von Puebla seine Vorliebe für huapangos geerbt habe, spielte an Bord der Busse der línea Teotihuacanos Musik, die nicht er selbst, sondern sein Publikum in durchreisten Transiträumen verortete. Denn José David Jaímez und die übrigen boleristas in den Bussen der línea Teotihuacanos bedienten mit ihren canciones románticas und canciones rancheras bewusst jene Genres, die im Ausland als Stereotypen mexikanischer Musik galten (vgl. Sheehy, 1998: 620): »Zum Beispiel mögen Japaner sehr gerne die Lieder von ›Los Panchos‹, […] denn ›Los Panchos‹ sind in Japan sehr bekannt. […] Deshalb singst du für sie ›Alma, corazón de mi vida‹, ›Bésame mucho‹, die sie gesungen haben, ›La cucaracha‹… Also: was sie von Mexiko kennen, ist das Traditionelle, was sie aus dem Kino kennen.« (Jaímez, José David 8.3.2013)
Wie sehr ihre Wahl des Genres von den Erwartungen der Tourist/innen an Bord der Busse Richtung Pyramiden bestimmt war, wurde deutlich, wenn sie in den Bussen in umgekehrter Richtung eine ganz andere Auswahl trafen, die sie ihren persönlichen Vorlieben anpassten. Marco Antonio Calderón erklärte, dass er auf dem Weg zurück nach Mexiko-Stadt meistens spanisch sprachige Popmusik der 1970er Jahre spielte: »Von hier nach dort [von ›Metro El Potrero‹ nach ›30-30‹] spielt man normalerweise das, was die Touristen hören wollen – ich wiederhole noch mal – etwas Mexikanisches. Von dort nach hier spielt jeder, was ihm gerade einfällt. Von dort nach hier spiele ich José José […], Ángeles Negros, Gruppen der 70er aus Mexiko.« (Calderón, Marco Antonio 8.3.2013)
Im Gegensatz zu »Los Pajaritos del Sur« und Julio und Jesús García an der Küste Guerreros, aber auch zu den Musikern im Streckennetz »Zona Norte« achteten die Musiker im Streckennetz »Paradero 30-30« nicht auf die vermeintlichen Hörgewohnheiten, die sie selbst in Transiträumen platzierten, wenn sie in den Bussen der línea Teotihuacanos auftraten. Stattdessen waren sie bemüht, die musikalischen Erwartungen der internationalen Tourist/innen an die durchreisten Transiträume zu bedienen.
Erster Halt Aus »Zwischen-Räumen« in die Busse: Músicos ambulantes als Akteure der Transiträume
Eine der Fragen, die der Auftritt des unbekannten músico ambulante zwischen Oaxaca und Tuxtla Gutiérrez aufgeworfen hatte, war jene nach der Wahl seiner Einstiegsorte auf dem durch die getönten Busfenster indifferent scheinenden staubigen Seitenstreifen der MEX-190: »Stieg der Musiker tatsächlich ›irgendwo‹ am Straßenrand ein und aus, oder hatten diese Orte bestimmte Eigenschaften oder Bedeutungen?« Die Frage betraf die Transiträume, zu denen die Busse und die in ihnen Reisenden immer in einem flüchtigen Verhältnis standen. Dieses flüchtige Verhältnis hatte den »ZwischenRäumen«, wie Schivelbusch sie nennt, seit Erfindung der Eisenbahn den Ruf eingebracht, vernichtet beziehungsweise geschrumpft zu werden, während die neuen Verkehrswege und die Fahrzeuge auf ihnen nach Augé zu »Nicht-Orten« würden, in denen sich Menschen ohne Bezug zu den durchreisten Räumen bewegten. Viele der músicos ambulantes kamen selbst aus »Zwischen-Räumen«. Salvador und Hexiquio Hernández lebten nahe der MEX-95, einst eine der wichtigsten Verkehrsadern des Landes, die sich durch die Eröffnung der »Autopista del Sol« MEX-95D in einen trockenen Seitenarm des Verkehrs zwischen Acapulco und dem Zentrum des Landes verwandelt hatte. Am südlichen Ende der MEX-95D lebten Gabriel und Lorenzo Villanueva am Fuße der Brücke von Las Cruces, über die der Verkehr zwischen Acapulco und der Hauptstadt rauschte. Ihre Vororte waren vom Zentrum der Metropole und den Terminals der líneas durch die steile Bergkette rund um die Bucht getrennt. Efraín Balbuena hatte seinen Lebensmittelpunkt an die MEX-190 verlegt, um dort seine kleine KFZ-Werkstatt und einen Imbiss zu betreiben, als Anfang der 1990er Jahre das letzte Teilstück der Autobahn 135D zwischen Tehuacán und Oaxaca fertiggestellt wurde und auf der MEX-190 der Verkehr und mit ihm Efraín Balbuenas Kundschaft versiegte. Als músicos ambulantes begaben sich die Protagonisten meiner Arbeit an die Bundesstraßen und stiegen in Überlandbusse. Sie richteten sich nach den Passagierströmen an Bord der Busse, nach Bewegungen von Arbeitsmigrant/innen an Zahltagen oder nach lokalen Markttagen. Um Kontrollen der Transportgesellschaften zu entgehen, stiegen sie in der Regel zwischen den offiziellen Haltestellen zu. Da die Fahrer nicht aus freier Fahrt für sie hielten, nutzten sie Güter der Transiträume, die die Busse bremsten, wie Kreuzungen, retenes von Militär und Polizei und vor allen Dingen topes. Die Musiker verbanden diese Orte zu Strecken, die Bundestraßen und rutas unterglieder-
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ten. Efraín Balbuenas Einstiegsorte in der »Mixteca Poblana« illustrierten, wie Musiker topes und andere Güter so wählten, dass sich zwischen ihnen Strecken ergaben, die in ihrer Reisedauer der Länge ihrer Performances entsprachen. Mit seinem Versuch, vor seiner Haustür einen tope über die MEX-190 zu ziehen, zeigte Efraín Balbuena, dass sich Musiker nicht nur vorhandene materielle Güter als Einstiegsorte aneigneten, sondern sich bemühten, selbst Güter zu platzieren, um ihre Strecken in Lage und Länge zu optimieren. Nicht immer jedoch konnten sich die Musiker frei durch Transiträume bewegen und die für sie günstigsten Strecken bilden. In vielen Streckennetzen führte steigende Konkurrenz zu Zusammenschlüssen einiger weniger Musiker, die ihre Einstiegsorte gegen Neuankömmlinge zu verteidigen versuchten. Die Haltestellen, an denen sich músicos ambulantes einfanden, um an Bord der Busse zu gelangen, waren also keinesfalls vergleichbar, mit den Bahnsteigen der Metro, die Domínguez Prieto als »Hinterbühnen« im Sinne Goffmans und als Räume des Rückzugs und der Entspannung beschreibt (vgl. Domínguez Prieto 2010: 181-182). Zum einen waren Ein- und Ausstiegsorte bereits Performanceräume, in denen sich Musiker den Fahrern präsentierten. Dies belegt das Beispiel von Rubén Jaímez Bruder, der sich weigerte sein cholo-Outfit abzulegen und deshalb von Busfahrern am Einstiegsort stehen gelassen wurde. Zum anderen handelte es sich nicht um Räume, in denen sich gleichgesinnte »Ensemblemitglieder« wie auf Goffmans »Hinterbühnen« komplizenhaft auf ihre Auftritte vorbereiteten (vgl. Goffman 1969: 104). Der erbitterte Kampf an den Haltestellen widerlegte das romantische Bild von Musik in Überlandbussen als freie und unabhängige Arbeit und zeigte, dass bereits am Straßenrand Machtverhältnisse eine entscheidende Rolle bei der räumlichen Organisation der Musiker spielten. Gelangten músicos ambulantes an Bord der Busse, performten sie eine Auswahl an Genres, durch die sie bewusst Verbindungen zu durchreisten Räumen herstellten. Manche Musiker verorteten sich durch ihr Repertoire in bestimmten Transiträumen und wurden von anderen dort platziert, wie »Los Pajaritos del Sur« an der Costa Chica und Julio und Jesús García an der Costa Grande. Andere Musiker passten ihre Auswahl durchreisten Transiträumen an. So spielten Salvador und Hexiquio Hernández in Richtung Guerrero corridos und sones, während sie in Richtung Morelos canciones románticas interpretierten. Die Beispiele der Musiker zeigen allerdings, dass die Bezüge zwischen den Genres, die Musiker für ihre Performances wählten, und Transiträumen feine Unterschiede aufwiesen. So waren sich die Musiker an Costa Grande und Costa Chica sicher, vor Bewohner/innen der von ihnen durchreisten Räume aufzutreten und entsprechend deren Hörgewohnheiten zu bedienen, wenn sie Stücke aus Genres spielten, die sie in diesen Räumen verorteten. Die Musiker in der »Zona Norte« hingegen wussten, dass sich ihr Publikum an Bord der Busse der línea TER sowohl in Morelos als auch in Guerrero hauptsächlich aus Passagier/innen des ländlichen Guerreros zusammensetzten. Dennoch interpretierten sie in Bussen, die Buenavista nach Norden Richtung Morelos verließen, urban konnotierte canciones románticas, während sie nur in südlicher Richtung jene corridos und sones spielten, die sie in den gleichen Transiträumen, wie ihr Publikum verorteten. Ihre Wahl des Genres war eine unmittelbare Referenz an die durchreisten Räume. Im Streckennetz »Paradero 30-30« spielten die Musiker in den mit Tourist/innen besetzten Bussen Genres, die nicht sie selbst, sondern die internationalen Passagier/innen in Transiträumen verorteten. So dominierten Stereotypen mexikanischer Musik, wie »La Cucaracha«, »Cielito Lindo« und die boleros
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des »Trio Los Panchos« ihre Performances. Nichtsdestotrotz wurden in allen drei Streckennetzen die músicos ambulantes durch die Wahl ihrer Genres zu musikalischen Repräsentanten durchreister Räume, in denen ihr Publikum sie platzierte. Die Kommentare von Passagier/innen und Busfahrern zeigten, dass ihnen die Musiker durch die Wahl unterschiedlicher Genres vermittelten, sie bewegten sich durch verschiedene musikalische Räume. Wenn músicos ambulantes vom staubigen Straßenrand in die klimatisierten Busse stiegen, um an Bord lokale Genres zu performen, stellten sie Referenzen zwischen den mobilen Passagier/innen an Bord der Busse und den Transiträumen jenseits der Busfenster her. Es war ihre Absicht, von Passagier/innen als Akteure der Transiträume wahrgenommen zu werden, und sie stimmten die Wahl ihrer Stücke bewusst auf die Erwartungen ihres Publikums ab. Die Passagier/innen und Busfahrer bestätigten, dass sie an diese Bezüge als solche erkannten und Gefallen an ihnen fanden. Schließlich wurden die Musiker selbst als Repräsentanten durchreister Räume platziert. Obwohl die Referenzen je nach Publikum, das die Musiker ansprachen, mal präzise, wie das Vokabular lokaler corridos, und mal vage, wie musikalische Mexikoklischees für Tourist/innen, waren, schufen músicos ambulantes als Akteure der Transiträume ein Bewusstsein für jene »Zwischen-Räume«. Die Musiker waren nicht die einzigen Akteure der Transiträume, deren Handlungen sich an Bord der Busse auswirkten. Bedingungen, die Musik in Überlandbussen ermöglichten, begünstigten ebenfalls Überfälle. Besonders Busse des servicio económico hatten einen unsicheren Ruf. Hinzu kam, dass vor allen Dingen im Bundesstaat Guerrero die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Drogenkartellen, Militär und Polizei ein Klima der Gewalt und der Angst hervorbrachten. Die Handlungen von Räuber/innen und anderen Gewaltakteur/innen konstituierten Strecken der Angst in den Streckennetzen »Costa Grande y Costa Chica«, »Zona Norte« und »Paradero 30-30«, entlang derer líneas, Busfahrer, Passagier/innen und staatliche Institutionen Vorsichtsmaßnahmen ergriffen. Diese Maßnahmen trafen auch músicos ambulantes. Haltestellen wurden geschlossen oder verlegt, Kontrollen der Polizei unterbrachen Strecken, die nun nicht mehr der Länge der Performances entsprachen, und líneas verbaten ihren Fahrern, abseits offizieller Haltestellen Passagier/innen aufzunehmen. Nur selten brachten Sicherheitsmaßnahmen, wie das retén bei Bajos del Ejido, neue Güter hervor, die Musiker begünstigten und ihnen als Einstiegsorte dienten. Noch gravierender für die Musiker war jedoch, dass sie durch die Überschneidungen ihrer Strecken mit jenen Räumen der Angst, die sich durch die Synthese der Überfall-Brennpunkte ergaben, in Verdacht gerieten, mit Räuber/innen zusammenzuarbeiten. Die Räuber/innen selbst nährten diesen Verdacht, wenn sie músicos ambulantes bei ihren Überfällen verschonten. Die Gewalt in Transiträumen wirkte auf die Performances an Bord der Busse. Vor allen Dingen junge Männer unter den Passagier/innen verlangten nach narcocorridos, einem umstrittenen Subgenre, dessen corridos von Protagonisten des Drogenkrieges und ihren Taten erzählten. Weil diese Erzählungen wie corridos über lokale Ereignisse1 starke Referenzen an Konflikte, Orte und Personen der durchreisten Räume besaßen, liefen die Musiker bei der Interpretation von narcocorridos Gefahr, zwischen die Fronten gewalttätiger Auseinandersetzungen zu geraten. Die músicos ambulantes profitierten folglich nicht nur von ihrer Rolle als Akteure der 1
Zur Platzierung lokaler Ereignisse in corridos vgl. Kapitel 7.3.
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Transiträume, sondern hatten auch damit zu kämpfen, dass sie mit Gewalt und Kriminalität, die Passagier/innen, Busfahrer, líneas und staatliche Institutionen ebenfalls in diesen Räumen verorteten, in Verbindung gebracht wurden. Músicos ambulantes waren folglich ein beeindruckendes Beispiel für die Wechselwirkungen zwischen »Zwischen-Räumen« und den vermeintlichen mobilen »NichtOrten«, die sich durch sie bewegten. Nachdem sie Güter durchreister Räume nutzten, um an Bord der Überlandbusse zu gelangen, stellten sie bewusst räumliche Referenzen her und stellten eine Verbindung zwischen den mobilen Reisenden an Bord der Busse und den lokalen Transiträumen her. Schließlich wurden die Musiker selbst durch ihr Publikum jenseits der Busfenster platziert und zu einem jener Elemente, aus denen Passagier/innen Transiträume synthetisierten. Während sie ihre Rolle als Akteure der Transiträume auf der einen Seite bewusst förderten, litten sie zugleich unter ihrer Platzierung, wenn sie in die Nähe anderer lokaler Akteur/innen, wie Räuber/innen, gerückt wurden oder die Nachfrage ihres Publikums nach narcocorridos über die blutigen Ereignisse durchreister Räume, sie zwischen die Fronten lokaler Gewaltakteur/innen zu zwingen drohte.
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Busräume
Überlandbusse als Räume kollektiver Mobilität
John Urry bezeichnet das 20. Jahrhundert als »century of the car«, dominiert von individueller Mobilität, der »automobility« (Urry 2004: 26). In den ländlichen Gemeinden Südmexikos, wo ein Großteil der Bevölkerung kein eigenes Auto besaß, war Mobilität hingegen an Überlandbusse gekoppelt. Obwohl sich Busse über die gleichen Verkehrswege wie Autos bewegten, teilten sie viele Charakteristiken mit der Eisenbahn, die mit ihren festen Routen und Fahrplänen die unflexible Mobilität des 19. Jahrhunderts prägte. Auch Überlandbusse bewegten ihre Passagier/innen zu festen Zeiten über feste Routen und hielten, je nach servicio, nur an bestimmten Haltestellen. Ihre Passagier/innen mussten auf ihren individuellen Wegen Stopps und Umstiege in Kauf nehmen. Aus diesen Unterbrechungen ergeben sich, so Urry, im öffentlichen Transport, im Gegensatz zur Reise im privaten Auto, Löcher im Raum: »There are many gaps between the various mechanized means of public transport. These ›structural holes‹ in public space are sources of inconvenience, danger and uncertainty.« (Ebd.: 29) Diese »structural holes« führten aus Busräumen in Transiträume und wurden tatsächlich – beispielsweise in Bezug auf Überfälle – als Gefahrenquellen betrachtet.1 Je niedriger die Serviceklasse der Busse, desto häufiger und größer wurden diese Löcher. Musiker gelangten durch sie an Bord der Busse und wurden schließlich als Akteure der Transiträume selbst zu »structural holes«, die Busreisen von der »seamlessness of the car journey« (ebd.: 29) unterschieden. Im Unterschied zu Autos, deren Fahrer/innen sich laut Urry von Gemeinschaften in »anonymized flows of faceless ghostly machines« (ebd.: 30) verwandelten, reisten Passagier/innen und Fahrer an Bord der Überlandbusse gemeinsam. Überlandbusse waren Räume kollektiver Mobilität. Busse definierten sich nicht allein über ihre Bewegung durch Transiträume, sondern über Handlungen und Wechselbeziehungen der Menschen in ihrem Innern. Juliet Jain kommt in ihrem Aufsatz über Busreisen in Großbritannien zu dem Schluss: »Buses are made on the move through their passengers. Buses become buses through the coming together of bus company and passengers as co-producers of place performances.« (Jain 2009: 93) Die Menschen an Bord nahmen bei dieser Performance unterschiedliche Rollen ein. Die Busfahrer lenkten die Busse nicht nur durch Transiträume, sondern entschieden auch darüber, wer den Bus wo besteigen oder verlassen durfte. Sie arbeiteten in Bussen, während Passagier/innen sich mit ihrem Ticket das Recht erkauften, Platz zu
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Zu Räumen und Strecken der Angst vgl. Kapitel 5.3.
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nehmen und sich zu entspannen. Trotz ihrer klaren materiellen Grenzen aus Glas und Metall waren einzelne Überlandbusse keine abgeschlossenen, isolierten Räume. Als Fahrzeuge einer Flotte bildeten sie Teil eines Netzwerks aus Räumen, die den Regeln und der Kontrolle einer Transportgesellschaft untergeordnet waren. Es gab Akteur/innen, die sich außerhalb der Busse befanden, die dennoch großen Einfluss auf die zwischenmenschlichen Beziehungen und besonders Machtverhältnisse an Bord hatten. Inspekteur/innen wurden entlang der rutas in Busse geschickt, um Fahrer zu kontrollieren. Busse waren umkämpfte Räume. Die músicos ambulantes unterschieden sich von anderen Musikern, weil sie gerade Überlandbusse als Räume ihrer Performances wählten. Wie alle Menschen, die ihren Lebensunterhalt durch Handel oder Performances im Gang der Busse verdienten, waren sie von den Transportgesellschaften nicht vorgesehen und daher gezwungen, über Beziehungen zu Busfahrern ihren Zustieg auszuhandeln und zugleich Inspekteur/innen auszuweichen. Ihre informelle Rolle an Bord der Busse trug dazu bei, dass sie mit dem Stigma der Bedürftigkeit behaftet waren. In diesem Kapitel wird der Einfluss der Busräume auf die Performances der músicos ambulantes behandelt. Welche Eigenschaften hatten die Busse, in denen Musiker die Möglichkeit erhielten aufzutreten? Welche Strategien hatten Musiker entwickelt, um Inspekteur/innen aus dem Weg zu gehen und Busfahrer zu bewegen, sie an Bord zu lassen? Warum ließen Busfahrer sie gewähren und riskierten ihretwegen Konflikte mit ihrem Arbeitgeber? Waren die Musiker einmal an Bord, welche Rolle spielten sie in der »Performance der Busreise«? Betraf sie das räumliche Stigma der Busse? Wurden sie als Künstler oder als Bettler mit Musikinstrument wahrgenommen? Wie gingen sie selbst mit dem Stigma der Busräume um?
6.1 DIE VIELFALT DER BUSRÄUME Anders als Transiträume und Performanceräume erschienen Busse auf den ersten Blick als materiell klar umfasste Räume, in denen sich, von Blech und Glas umschlossen, Fahrer, Passagier/innen und eben gelegentlich auch músicos ambulantes bewegten. Jedoch täuschten diese klaren Grenzen. Einzelne Busse ließen sich sowohl untergliedern als auch zu größeren Räumen zusammenfassen. Beides hatte großen Einfluss auf die Arbeit der Busmusiker. Jeder Bus bildete Teil einer bestimmten Transportgesellschaft, einer línea. Líneas einten die Busse ihrer Flotte durch eine einheitliche Firmenpolitik, beispielsweise gegenüber dem Zustieg von Musikern und Händler/innen, und durch eine bestimmte Klientel an Passagier/innen, die sie beförderten. Líneas ließen sich wiederum bestimmten Serviceklassen, servicios, zurechnen, die nicht nur die Innenausstattung der Busse, ihren Komfort und ihren Preis bestimmten, sondern auch über ihre spezifische Routenführung, rutas, ein ganz bestimmtes Verhältnis der Busse zu Transiträumen vorgaben. Für die Musiker war von zentraler Bedeutung, über welchen Straßentyp die Busse fuhren oder wo und wie oft sie hielten. Líneas, servicios und rutas begünstigten oder erschwerten folglich entsprechend ihrer Eigenschaften den Zustieg von músicos ambulantes. Zugleich prägte je nach servicio eine bestimmte räumliche Ordnung das Innere der Überlandbusse und wies Fahrern, Passagier/innen und Musikern ihren Platz an Bord der Busse zu. Dieses Unterkapitel führt die verschiedenen Busräume ein, auf die die músicos ambulantes bei ihrer Arbeit trafen. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht entsprechend
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der ersten Forschungsfrage der Einfluss den diese Räume auf die Performances der músicos ambulantes hatten. In welche Busse konnten die Busmusiker zusteigen? Was für eine Rolle spielten dabei die verschiedenen Serviceklassen und rutas der Busse? Wer waren die Passagier/innen, auf die Musiker an Bord der Busse trafen? Woher kamen sie? Wohin und warum reisten sie? Und in welchem Verhältnis stand ihre Zusammensetzung zu líneas, rutas und servicios? Wie genau waren die Busse in ihrem Innern aufgeteilt, und welche Bedeutung hatte diese räumliche Ordnung für die Performances? Dennoch wirkten auch die Musiker konstituierend auf die verschiedenen Busräume. So klassifizierten Passagier/innen Busse des servicio económico anhand ihrer Beziehung zu Bettler/innen, Händler/innen und Musikern als »levantamendigos«, während die Performances vieler Musiker sich je nach servicio und línea unterschieden. Nach welchen Kategorien ordneten also músicos ambulantes einzelne Busse und deren Passagier/innen? Und wie reagierten músicos ambulantes auf die räumliche Ordnung an Bord der Busse? Das Unterkapitel beginnt zunächst mit den líneas, rutas und servicios und ihren Eigenschaften, die für die Arbeit der músicos ambulantes von Bedeutung waren. Dazu gehörte vor allen Dingen die Zusammensetzung der Passagier/innen der Busse. Am Beispiel der Performances des Musikers Tomás Ramírez verdeutlichte sich, wie der Musiker zwei verschiedenen líneas zunächst ein unterschiedliches Publikum zurechnete und danach die Stücke und Themen seiner Performances wählte. Die zweite Hälfte des Unterkapitels befasst sich hingegen mit der räumlichen Untergliederung einzelner Busse in Fahrer- und Fahrgasträume. Diese räumliche Ordnung zwang Busmusiker, wie das Beispiel von Salvador und Hexiquio Hernández zeigt, sich an Bord der Busse entsprechend zu platzieren. Líneas, servicios und rutas: Die räumlichen und sozialen Kategorien der Busse Der Begriff »línea« bezeichnete, sowohl unter Passagier/innen, Musikern und Händler/innen als auch unter Busfahrern und in der Selbstdarstellung der Transportgesellschaften, einzelne Buslinien. Sie waren gekennzeichnet durch einen eigenen Namen, ein eigenes Design und bestimmte rutas, die sie bedienten. In der Regel entsprachen sie einer Serviceklasse, einem servicio. Musiker beschrieben seltener ihr Verhältnis zu einem konkreten Bus mit eigenem Fahrer und spezifischen Passagier/innen, als das sie líneas bestimmte Eigenschaften zuordneten. Julio García erklärte, dass sich in den Bussen der línea AMS mehr verdienen ließ (García, Julio García 5.4.2013) und Efraín Balbuena sagte, dass ihm die línea SUR stets Zustieg gewährte (Balbuena, Efraín 28.7.2010). Sie synthetisierten die vielen einzelnen Fahrzeuge einer línea also zu einem Raum, den, von Ausnahmen abgesehen, ähnliche Eigenschaften charakterisierten.2
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Busmusiker verwendeten den Begriff »línea« oft, ohne dabei die komplexen Kooperationen, Gliederungen und Abhängigkeitsverhältnisse zu beachten. Líneas waren in ihrer Mehrzahl Teil größerer grupos, wie beispielsweise der grupo ADO, und ihr Fuhrpark setzte sich häufig aus den Wagen einzelner Gesellschafter/innen zusammen. Nur sehr selten fassten Musiker mehrere líneas unter dem Namen der übergeordneten grupo. So sprachen nur »Los Pajaritos
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Zwischen líneas gab es gravierende Unterschiede. Ihre Fahrzeuge unterschieden sich in Alter, Modell, Ausstattung, Fahrpreis und Routenführung. Sie wurden daher von Passagier/innen und Musikern, von den Transportgesellschaften und sogar nach Gesetz jeweils verschieden Kriterien folgend in Typen eingeteilt und definiert. Wichtigstes Merkmal einer línea war ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Serviceklasse, ihrem servicio. Diese Klassifizierung entschied in den meisten Fällen über das – wenn auch immer inoffizielle – Verhältnis einer línea zu músicos ambulantes. Die meisten Musiker, Händler/innen und Passagier/innen unterschieden in Busse erster und zweiter Klasse, »de primera clase« und »de segunda clase«. Dabei galten bestimmte Eigenschaften als klares Zeichen erster Klasse. Als ich 2009 meinen Hotelwirt in Acapulco fragte, ob es Busse zweiter Klasse entlang der Costa Chica gebe, antwortete er mir: »Die gibt es nicht mehr. Es gibt nur noch Überlandbusse mit Klimaanlage.« (Gespräch 10.12.2009 in Acapulco) Ebenso galten Passagier/innen Filme auf Bordbildschirmen als sicherer Indikator, dass sie sich in einem Bus erster Klasse befanden. Die Unterscheidung, die von Passagier/innen und Musikern getroffen wurde, war allerdings meist eine relative. Sie kategorisierten líneas im Verhältnis zu anderen líneas, die auf ähnlichen rutas verkehrten. So bewertete beispielsweise Julio García die línea AGC als »servicio ordinario«, um sie von der ebenfalls entlang der Costa Grande verkehrenden línea AMS abzugrenzen (García, Julio 5.4.2013). Salvador Hernández kategorisierte auf die Frage nach dem Unterschied zwischen servicios sogar die einzelnen Fahrzeuge der línea TER ihrem Alter entsprechend als entweder dem einen oder dem anderen servicio zugehörig: »Die erste Klasse, zum Beispiel diese Wagen, auf denen ›ecológico‹ steht, […] ›EcoTER‹. Diese Wagen sind die neuen, die gerade herausgekommen sind. Die Mercedes Benz von Mercedes sind die Alten, die sind die zweite Klasse. […] Die Alten stecken sie in die zweite Klasse und die neu rauskommen, die werden erste Klasse.« (Hernández, Salvador 28.3.2013) Aus offizieller Sicht handelte es sich sowohl bei den líneas TER, AMS und Los Galgos als auch bei der Kooperative AGC um líneas des servicio económico. Fast alle líneas, in denen Busmusiker auftraten, zählten zum servicio económico und sehr selten zum servicio de primera, den zwei untersten der insgesamt sechs Kategorien, sogenannten »servicios«, die das »Reglamento de Autotransporte Federal y Servicios Auxiliares« vom 22. November 1994 für den Personentransport festschrieb.3 Mit dem servicio einer línea waren bestimmte Ansprüche an den Typ ihre Fahrzeuge, deren Baujahr und Ausstattung und besonders an die Routenführung gekoppelt. Die Namen der zwei servicios, in denen Musiker auftraten, waren irreführend. Weder war der servicio de primera die höchste Klassifizierung, noch war der servicio
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del Sur« von »Estrella Blanca«, wenn sie sich auf die Busse der línea AMS an der Costa Grande, die línea Costeños an der Costa Chica oder die línea Estrella Blanca in der Tierra Caliente bezogen. Gabriel und Lorenzo Villanueva begegneten oft zwischen diesen líneas springenden Busfahrern und bemerkten Wechsel in der Politik der grupo Estrella Blanca, die sämtliche ihrer líneas betrafen. Entsprechend hatten »Los Pajaritos del Sur« großes Interesse daran, Zusammenhänge zwischen den líneas zu erfassen. Die beiden höchsten servicios »de lujo« und »ejecutivo«, sowie die Sonderbestimmungen für servicios zu Flug- und Seehäfen und kombinierten Fracht- und Personenverkehr, spielten im Zusammenhangen mit den von mir interviewten Musikern kaum eine Rolle, da sie niemals Musiker mitnahmen.
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económico deutlich preiswerter als der servicio de primera. Allerdings wurden die Fahrzeuge in den servicios nach unten durchgereicht, so dass die ältesten Wagen in der Regel im servicio económico zu finden waren. So hatte zur Zeit meiner Feldforschung bereits ein großer Teil der Busse des servicio económico Klimaanlagen, die eigentlich nur in den höheren Kategorien vorgeschrieben waren. Die Tatsache, dass diese Busse mit geschlossenen Fenstern fuhren, veränderte die akustischen Verhältnisse in ihrem Innern maßgeblich. Allerdings wurden die WCs vor dem Abstieg der Wagen in den servicio económico zugunsten weiterer Sitzplätze entfernt und Passagier/innen war es erlaubt, stehend im Gang zu reisen. Daher trafen die Musiker in Bussen der untersten Kategorie in der Regel auf mehr Fahrgäste als in den höheren servicios. Ein weiterer Unterschied war, dass im servicio económico DVD-Player und Bildschirme fehlten, die in allen übrigen servicios Passagier/innen für die gesamte Dauer der Reise mit Filmen unterhielten.4 In ihrer Bedeutung für die músicos ambulantes war der wichtigste Unterschied in der Klassifizierung der Überlandbusse die Art ihrer rutas. Der Begriff »rutas« entstammte sowohl den alltäglichen Konversationen mit Musikern und Busfahrern als auch dem offiziellen Jargon der Transportgesellschaften. »Ruta« bezeichnete je nach servicio entweder den Weg, den Busse zwischen Startort und Zielort zurücklegten, oder die Verbindung beider Orte. So entsprach eine ruta im servicio de primera einer direkten Anbindung zwischen Abfahrts- und Zielterminal (Reglamento de Autotransporte Federal y Servicios Auxiliares, Artículo 20), während rutas im servicio económico aus einer Kette von Haltestellen zwischen Start und Ziel bestanden (ebd. Artículo 21). So erklärte sich, dass bei Durchsagen an Terminals die Abfahrten des servicio de primera lediglich mit Ziel und Abfahrtszeit angekündigt wurden und als zusätzliche Information am Schalter oft nur die Dauer der Reise und Art der Straße in Erfahrung zu bringen waren. Im servicio económico trat hingegen die Bedeutung der Dauer der Reise hinter die des Weges der ruta entlang dessen Passagier/innen je nach Politik der línea an nahezu jedem beliebigen Punkt ein- und aussteigen konnten. Beide ruta-Konzepte spiegelten sich in der äußeren Erscheinung der Busse: während Busse der gehobenen servicios über digitale Anzeigen oberhalb der Windschutzscheibe verfügten, die Abfahrtszeit und Zielort nannten, wurden in Bussen des servicio económico Plastiktafeln mit den wichtigsten Orten entlang der ruta in die Windschutzscheibe gehängt oder die einzelnen Stationen mit weißer Farbe spiegelverkehrt von innen an die Scheibe geschrieben. Die rutas des servicio de primera verliefen, wenn möglich, über mautpflichtige autopistas, die mit direkter Streckenführung und wenigen Ausfahrten
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2010 waren einzelne Busse der línea TER noch mit Bildschirmen ausgestattet. Ein Jahr später wurden die Geräte aus den Fahrzeugen der Transportgesellschaft entfernt. Der Grund war dem Stationsvorsteher von TER in Iguala zufolge die Klassifizierung der Fahrzeuge als Busse des servicio económico: »In dem Bus, der mich und ›Antonio‹ von Iguala nach Buenavista bringt, befinden sich noch die hohlen Kästen aus Glasfaser, in den bis vor kurzem die Röhrenbildschirme hingen. ›Die Firma hat sie aus allen Einheiten ausgebaut,‹ erklärt Antonio. Ich will wissen warum. ›Sie haben alle Bildschirme aus den Bussen rausgebaut. Angeblich haben sie sie gezwungen, weil die Busse als zweite Klasse gemeldet sind.‹ Antonios ironischer Unterton soll mir vermutlich suggerieren, dass er diese Begründung für lächerlich hält.« (Tagebucheintrag 14.12.2011)
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dem direkten ruta-Konzept entsprachen und durch ihre gerade Bauweise und den verhältnismäßig guten Zustand ihrer Fahrbahndecke die höchste Reisegeschwindigkeit zuließen und den größeren Komfort boten. Der servicio económico verkehrte dagegen hauptsächlich auf Bundes- und Landstraßen, so dass die Busse durch Ortschaften gelenkt wurden, anstatt an ihnen vorbei. Busfahrer des servicio económico hielten entlang der ruta am Straßenrand, um Fahrgäste aufzunehmen.5 Abbildung 20: Händler an der MEX-200 bei San Jerónimo.
Foto: Kirschlager
Die spartanisch eingerichteten Busse des servicio económico begünstigten folglich die Arbeit der Busmusiker zum einen, weil ihre Performances in ihrem Inneren ein größeres Publikum fanden und nicht mit dem bordeigenen Entertainment auf Bildschirmen konkurrierten. Zum anderen ermöglichte das ruta-Konzept des servicio económico Auftritte von Busmusikern – wie auch den Zustieg von Händler/innen –, während rutas des servicio de primera den Zustieg erschwerten, da sie meist über unzugängliche private autopistas an den Wohnorten der Musiker vorbeiführten. Entsprechend wurden in Internetforen zur Qualität einzelner líneas Fahrzeuge des servicio económico gelegentlich abfällig als »levantamendigos« bezeichnet, da informelle lokale Akteur/innen oft an Bord dieser Busse der untersten Kategorie anzutreffen waren (vgl. »Carlos«: 2007). So prägten die an die Klassifizierung der Busse gebundenen Auflagen nicht nur deren Verhältnis zu informellen Akteur/innen. Der begünstigte Zustieg von Musikern und Händler/innen bildete umgekehrt eines der Elemente der räumlichen Synthese von
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Nicht zufällig ergab zwischen diesen beiden einander entgegengesetzten ruta-Konzepten eine Analogie zum Verhältnis zwischen Landstraße und Eisen- bzw. Autobahn (vgl. Kapitel 5.1. und Schivelbusch 2007: 26-27).
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Überlandbussen des servicio económico beziehungsweise der »segunda clase« durch ihre Passagier/innen. „El Pasaje“: Servicios und die Zusammensetzung ihrer Passagier/innen »Der zweite Bus bis San Juan Teotihuacán ist sehr voll. Neben Rubén und Endir, die sich mit ihren Gitarren in die Mitte des Gangs gestellt haben, müssen auch drei weitere Fahrgäste und ich selbst stehen. […] Ich sehe nach hinten und blicke über die Sitzlehnen in die Gesichter der Fahrgäste. Während ein Mädchen im Sitz neben Rubén und Endir den beiden aufmerksam zuzuhören scheint, lesen andere Metro oder Gráfico[6]. Hinten sitzt ein junger Typ mit Sonnenbrille und Kopfhörern. Die übrigen Fahrgäste schlafen – zumindest haben sie ihre Augen geschlossen – oder schauen aus dem Fenster. Ich hätte gerne ein Foto gemacht und es ›das Publikum‹ genannt, so typisch erscheint mir die Mischung.« (Tagebucheintrag vom 3.11.2011 zwischen Puente Morelos und San Juan Teotihuacan)
Anders als ich in diesem Tagebuchantrag zunächst annahm, gab es jedoch signifikante Unterschiede in der Zusammensetzung der Passagier/innen, die Einfluss auf die Performances der Musiker an Bord der Busse hatten. Passagier/innen variierten ihrer Anzahl, ihrem Alter und Gender, ihrer geographischen und sozialen Herkunft, ihrer räumlichen Verteilung im Bus und ihren Beziehungen untereinander, ihren Hörgewohnheiten und Spendeverhalten. Die Zusammensetzung der Passagier/innen wechselte je nach servicio, línea, ruta, Tag und Uhrzeit, und die Musiker hatten in der Regel bereits eine Ahnung, auf welche und wie viele Passagier/innen sie trafen, bevor sie einen Bus bestiegen. Die músicos ambulantes gingen davon aus, dass sich die Passagier/innen verschiedener servicios entsprechenden sozialen Bevölkerungsschichten zuordnen ließen. Die Passagier/innen der Busse des servicio económico schätzten sie als Menschen ihrer eigenen sozialen Bevölkerungsschicht ein. So erwartete Lorenzo Villanueva »einfache Leute, wie unsereins«, wenn er mit seinem Vater einen Bus des servicio económico bestieg (Villanueva Lorenzo 16.10.2010). Auch der Musiker und politische Aktivist Andrés Contreras ging davon aus, in den Überlandbussen des servicio económico hauptsächlich auf Passagier/innen unterer Einkommensschichten zu treffen, und betrachtete sie deshalb als hervorragend geeigneten Raum für seine sozialkritische Musik: »Die Überlandbusse sind ein sehr guter Ort und besonders die zweite Klasse, denn dort reisen Menschen aus dem Volk, die einfachen Leute, bei denen kommt meine Nachricht an, nicht? Auch wenn sie mich in der ersten Klasse singen ließen, dort käme ich nicht besonders an.« (Contreras, Andrés 6.8.2010) Während die Musiker die Passagier/innen des servicio económico einer bestimmten Einkommensschicht zuordneten, ließen bei meinen Beobachtungen an Bord der Busse Kleidung und äußerliche Erscheinung der Passagier/innen zusätzlich Rückschlüsse auf ihre ländliche Herkunft zu. So führten viele Männer Arbeitsgeräte, besonders Macheten, mit sich. In fast allen Überlandbussen des servicio económico gab es einen hohen Anteil an Cowboyhüten und huaraches, Kleidungsstücken, die sich bei
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»Metro« und »Gráfico« waren Zeitungen der Boulevardpresse.
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urbaner Bevölkerung und dort vor allen Dingen bei Männern hoher Einkommensschichten deutlich geringerer Beliebtheit erfreuten. Selbst unter den mexikanischen Passagieren der línea Teotihuacanos unmittelbar nördlich Mexiko-Stadts trug weit mehr als die Hälfte Kopfbedeckungen, die auf Arbeit im Freien hindeuteten. Frauen boten meist weniger klare Merkmale, anhand derer sie sich einer ländlichen oder einer urbanen Herkunft zuordnen ließen. Interviews ergaben allerdings, dass sich die Passagierinnen des servicio económico ebenfalls hauptsächlich aus Bewohnerinnen ländlicher Gebiete zusammensetzten, auch wenn viele von ihnen in Städten wie Acapulco oder Puebla auf Märkten oder als Angestellte in Hotels arbeiteten. Die Interviews ergaben auch, dass die Musiker Recht hatten, wenn sie den meisten Passagier/innen an Bord des servicio económico eine Herkunft aus ökonomisch schwächeren Bevölkerungsschichten attestierten. In allen Streckennetzen waren an Bord der untersten Buskategorie Passagier/innen, die als ihren Beruf campesino, Marktverkäufer/in oder Hausfrau angaben, in der Mehrheit. Während sich diese Berufsgruppen vor allen Dingen im Streckennetz »Costa Grande y Costa Chica« mit Hotelangestellten in den Badeorten Acapulco und Zihuatanejo vermischten, reisten in der »Zona Norte« viele Arbeiter und Handwerker, wie Maurer und Anstreicher an Bord des servicio económico. Die Busse im Streckennetz »Paradero 30-30« nahe der Hauptstadt beförderten neben einigen ausländischen Tourist/innen Arbeiter/innen und Angestellte wie junge Anwält/innen, Krankenpfleger/innen und Sekretärinnen. An Bord der Busse des servicio económico aller Streckennetze bewegten sich außerdem viele Renter/innen, Lehrer/innen ländlicher Schulen, Vertreter/innen und Student/innen und Schüler/innen. Trotz des geringen Einkommens, das die meisten dieser Passagier/innen hatten, führten sie häufig große Mengen an Bargeld mit sich. Sie nutzten die Überlandbusse, weil sie fern ihres Wohnortes arbeiteten und wöchentlich oder monatlich zwischen beiden Orten pendelten, und brachten auf diese Weise einen Teil ihres Gehaltes zu ihren Familien. Es lag nahe, die Behauptungen der Musiker und die Ergebnisse der Beobachtungen und Interviews mit Passagier/innen in verschiedenen servicios mit den Ticketpreisen und den ökonomischen Möglichkeiten der Reisenden zu erklären. Interviews zeigten jedoch, dass ökonomische Gründe bei der Wahl der línea nur eine untergeordnete Rolle spielten. So waren beispielsweise unter den líneas, die Acapulco entlang der Costa Grande Richtung Westen verließen, die Fahrzeuge der línea AMS um einiges gepflegter und ihre Ticketpreise lagen etwa zehn Prozent höher als jene der Kooperative AGC. Vielmehr als die Ticketpreise gaben aber feine Unterschiede der rutas den Ausschlag bei der Wahl der línea. So setzten sich die Passagier/innen der Busse der Kooperative AGC hauptsächlich aus Händler/innen des »Mercado del Campesino« in Acapulco zusammen. Sie nutzten die Busse der Kooperative, weil sich deren Terminal in der unmittelbaren Nachbarschaft dieses größten Marktes der Stadt befand, und nicht etwa, weil die Kooperative einige Pesos weniger für ihren Service verlangte. »Dieser hier bringt mich halt zum Markt,« erklärte beispielsweise ein Passagier, der in einem AGC-Bus Bananenblätter zwischen Tecpan und Acapulco tranportierte (Passagier 5 in AGC zwischen Tecpan und Acapulco, 30 Jahre, 17.11.2011). Vor allen Dingen ältere Fahrgäste, die häufig nach Acapulco reisten, um dort Medikamente zu kaufen und Ärzte aufzusuchen, waren hingegen öfter in den Bussen der línea AMS anzutreffen, die das Terminal »Centro« anfuhr und sie entsprechend im Zentrum der Stadt absetzte. Anders als in den Bussen der Kooperative AGC gaben in den Bussen der línea AMS
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Passagier/innen öfter an, dass sie sich bereits im zweiten Überlandbus ihrer Reise befanden, also schon einmal umgestiegen waren, oder gerade eine längere Reise begannen und planten umzusteigen. Menschen, die weitere Reisen beispielsweise nach Mexiko-Stadt oder Chilpancingo unternahmen, wählten eher die Busse der líneas AMS und Los Galgos mit Umsteigemöglichkeit an den großen Terminals in Acapulco. Die übrigen Passagier/innen an der Costa Grande, die nicht vom Standortvorteil der einzelnen Terminals in Acapulco profitierten, gaben häufig an, dass sie die Wahl zwischen den vier möglichen líneas7, dem Zufall überließen und den ersten Bus, der kam, bestiegen. Líneas des servicio de primera waren für Fahrgäste, deren Reisen in kleineren Siedlungen entlang der MEX-200 zwischen den größeren Städten begannen oder endeten, keine Option, da ihre Busse im Gegensatz zum servicio económico nicht zwischen Terminals hielten. Ein Mann auf der Reise von Acapulco nach Tecpan in einem Bus der Kooperative AGC erklärte: »Normalerweise reise ich in diesen [AGC], weil sie bessere Umsteigemöglichkeiten haben. Die Busse der ersten Klasse machen das schwieriger, die fahren nur Terminals an.« (Passagier 2 in AGC zwischen Acapulco und Tecpan, 7.11.2011) Im servicio de primera reisten Menschen aus den Zentren, die Start oder Ziel der ruta bildeten, und im servicio económico eben Menschen aus Orten zwischen Start und Ziel. So lag es vor allen Dingen an den rutas des servicio económico, dass sich in den Bussen dieser Kategorie Passagier/innen aus kleinen Dörfern versammelten, die Lorenzo Villanueva als »gente sencilla« oder Andrés Contreras als »gente humilde« klassifizierte.8 Obwohl die Zusammensetzung der Passagier/innen eng mit der ruta der Busse und ihren Haltestellen verknüpft war, bedeutete dies nicht, dass sich die Herkunftsorte der Passagier/innen gleichmäßig über die ruta verteilten. Dies galt in besonderem Maße für die Busse auf rutas im Streckennetz »Paradero 30-30«, die Orte in den Staaten Estado de México, Hidalgo und Tlaxcala mit der Hauptstadt verbanden. Sie transportierten hauptsächlich Passagier/innen aus der Provinz nach Mexiko-Stadt, wurden aber nur selten von Bewohner/innen Mexiko-Stadts genutzt. In den Bussen der línea TER zwischen Cuautla und Iguala befanden sich viele Handwerker und Arbeiter aus Guerrero, die in Morelos arbeiteten, mehr oder weniger regelmäßig in ihre Heimatgemeinden zurückkehrten und dabei nicht selten ihren Lohn der letzten zwei oder vier Wochen mit sich führten. Ebenso reisten in diesen Bussen viele campesino/as aus Guerrero zu Märkten in Morelos und Mexiko-Stadt, wo sie ihre Produkte verkauften. Es war also auffällig, dass in diesen Bussen, die zwei Bundesstaaten miteinander verbanden, überwiegend Menschen aus einem der beiden Staaten – nämlich aus Guerrero – anzutreffen waren.
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Neben AGC und AMS fuhren im servicio económico dort auch die líneas Los Galgos und Olas del Pacífico (vgl. Kapitel 4.3). Die langen Reisen zwischen Acapulco und Chilpancingo oder Acapulco und Mexiko-Stadt wurden ausschließlich im servicio de primera oder höher angeboten. So fanden sich an Bord der Busse des servicio de primera ebenfalls Passagier/innen unterer Einkommensschichten mit ländlichem Hintergrund. Jedoch unterschied sie von den Passagier/innen des servicio económico, dass sie sich seltener auf der entsprechenden ruta bewegten. An Bord der Busse des servicio de primera vermischten sie sich zudem oft mit bürgerlichen Fahrgästen aus urbanen Zentren.
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Auch die Zusammensetzung der Passagier/innen bezüglich ihres Genders hing, sowohl mit der ruta des Busses als auch mit Uhrzeit und Wochentag zusammen. Während sich beispielsweise in den Bussen der Kooperative AGC an der Costa Grande unter der Woche viele Frauen befanden, die auf Acapulcos »Mercado Central« arbeiteten oder dort Stände mit Meeresfrüchten, Käse oder Bananenblättern von der Costa Grande belieferten, reisten in den Bussen der línea TER zwischen Cuautla und Iguala vor allen Dingen am Wochenende viele Männer, die in Morelos arbeiteten, deren Familien aber in Guerrero lebten. Insgesamt stellten weder Frauen noch Männer eine deutliche Mehrheit an Bord der Überlandbusse. Den Reisenden in den Bussen des servicio económico war gemeinsam, dass niemand angab, aus Vergnügen zu reisen. Vielmehr standen die Reisen in enger Verbindung zu den Berufen der Fahrgäste, deren Mehrheit sich regelmäßig an Bord der Überlandbusse bewegte. Besonders an der Costa Grande, aber auch bei einigen Passagier/innen im Streckennetz »Paradero 30-30« handelte es sich um Zwischenhändler/innen, die ihre Waren zum nächsten Markt transportierten, um sie an die dortigen Händler/innen zu verkaufen. Ihr Aufenthalt im Bus war nicht der Weg zur Arbeit, sondern die Arbeit selbst. So verbrachten viele der Passagier/innen häufig mehrere Stunden täglich in Bussen, die auf derselben ruta verkehrten.9 Die Abhängigkeit zwischen Beruf und Reise vieler Passagier/innen erklärte auch, warum die Auslastung der Busse stark an Uhrzeiten beziehungsweise an Wochentage gebunden war. Während die von täglichen Pendler/innen dominierten Busse auf rutas in den Streckennetzen »Costa Grande und Costa Chica« und »Paradero 30-30« sich vor allen Dingen am Morgen und am späten Nachmittag füllten, pendelten die guerrerenses von ihren Arbeitsorten in Morelos meist an Wochenenden zu ihren Familien in Guerrero, weshalb die Busse je nach Richtung freitags beziehungsweise sonntags voller wurden. Tomás Ramírez und seine Performances in den líneas AMS und AGC Für Tomás Ramírez machte es einen großen Unterschied, ob er in einem Bus der línea AMS oder der Kooperative AGC spielte. Obwohl es sich bei beiden um líneas im servicio económico handelte, verband Tomás Ramírez sie mit zwei unterschiedlichen Bildungsschichten: »Auf den ersten Blick sind es dieselben Leute. Aber du weißt, dass es überall ein gehobenes und ein niedriges Niveau gibt. Im AGC kann es sowohl ein gehobenes als auch ein niedriges Niveau geben, aber in der Regel ist es niedrig. Im AMS herrscht normalerweise gehobenes Niveau.« (Ramírez, Tomás 8.10.2011) In der Wahl seiner Stücke und den Themen seiner Monologe bemühte sich Tomás Ramírez, den unterschiedlichen Horizonten des jeweiligen Publikums zu entsprechen. Während er
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Eine Ausnahme bildeten die ausländischen Tourist/innen, die in den Bussen der línea Teotihuacanos die Pyramiden von Teotihuacán besuchten. Nationale Tourist/innen hingegen, beispielsweise jene, die aus der Hauptstadt in die Seebäder Acapulco oder Zihuatanejo-Ixtapa reisten und dabei mehrere der betrachteten Streckennetze durchquerten, fuhren entweder in Bussen des servicio de primera, servicio ejecutivo oder servicio de lujo oder sie reisten in Charterbussen, die häufig als Teil eines ganzen Reisepakets inklusive Hotel in Reisebüros angeboten wurden.
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sich in den Bussen der Kooperative AGC zwar auch über die Regierung und besonders die hohen Diäten der Politiker aufregte, so überwogen jedoch Fußballergebnisse der mexikanischen Liga. In den Bussen der línea AMS hingegen sprach Tomás Ramírez auch internationale Ereignisse an. Zum Beispiel erinnerte er wenige Tage nach dem Tod des Apple-Gründers Steve Jobs Anfang Oktober 2011 die Fahrgäste: »Jetzt ist Steve Jobs gestorben. Er war von seiner Mutter verlassen worden und durchlebte mehrere schwierige Phasen. Jetzt hat seine Firma mehr Geld als die Vereinigten Staaten. Man sagt sie hätten bis zu 350 Milliarden Dollar: Steve Jobs.« (Tomás Ramírez bei Performance in AMS zwischen El Papayo und Coyuca) Im Interview erklärte Tomás Ramírez später, dass er diese Nachricht ausgewählt habe, weil sie aus dem direkten Lebensumfeld der AMS-Passagier/innen stamme: »[Steve Jobs] war der Erfinder der Zukunft, mein Freund! Dort gibt es, wie gesagt, ein anderes Niveau, die meisten haben von ihm gehört.« (Ramírez, Tomás 8.10.2011) Entsprechend des internationalen Charakters der Nachricht von Steve Jobs Tod, leitete er zur spanischen Version des Paul Anka Stücks »My Way«, »A mi manera« über: »Jetzt machen wir mit eine philosophischen Melodie weiter, etwas Sanftes. Das wurde in allen Sprachen aufgenommen: Chinesisch, Englisch, Französisch... Es geht los!« (Tomás Ramírez bei Performance in AMS zwischen El Papayo und Coyuca) Er spielte »A mi manera« und betonte auch danach den globalen Erfolg Stückes, um – ebenfalls mit einem Verweis auf den internationalen Charakter – zu »Mis amores« von Roberto Carlos überzugehen: »Es gibt nur wenige Melodien, die dieses Niveau erreichen, wo sie in allen Sprachen aufgenommen werden, wie diese von Paul Anka, ein Kanadier aus den 60ern. […] [Bewegt sich in die Mitte des Busses] Gut, dann spiele ich euch ein anderes Stück, aus einem anderen Musikgenre. […] Jetzt gibt es was Brasilianisches von Roberto Carlos.« (Tomás Ramírez bei Performance in AMS zwischen El Papayo und Coyuca)
In seiner dritten Ansage, vor dem letzten Stück im vorderen Teil des Busses, fasste er noch einmal die internationalen Referenzen seiner Performance zusammen, bevor er mit »Historia de un taxista« des Guatemalteken Ricardo Arjona eine weitere nachlegte: »Das waren Roberto Carlos und Paul Anka. Ein Kanadier und ein Brasilianer. […] [bewegt sich nach vorne] Na gut, es folgt ein Stück von Ricardo Arjona, einem Guatemalteken. […]. Der hat diese Geschichte. […] Los geht’s!« (Tomás Ramírez bei Performance in AMS zwischen El Papayo und Coyuca) Vor dem Hintergrund seiner Monologe überraschte seiner Auswahl aus Popstücken nicht. In den Bussen der Kooperative AGC, deren Passagier/innen nach Tomás Ramírez einen niedrigeren Bildungsstand besaßen, bevorzugte er música ranchera und »el género folclórico«, »das folklorische Genre« (Ramírez, Tomás 8.10.2011). So wählte er dort am gleichen Tag hauptsächlich corridos. Die Wahl dieses vermeintlich ländlichen Genres bedeutete jedoch nicht, dass er in diesen Fahrzeugen keine Stücke, die internationale Themen behandelten, auswählte. Die Texte der corridos, die er spielte, drehten sich in erster Linie um Migration in die USA (z.B. »Los Alambrados« der »Los Bukis«) und den internationalen Drogenhandel (z.B. »El Avión de la Muerte« der »Los Tigres del Norte). Auch diese Themen wählte Tomás Ramírez nicht zufällig und corridos boten ihm eine große Auswahl an passenden Stücken. Migration und Drogenhandel bildeten die dominanten Motive des Genres in den vergangenen Jahrzehnten,
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und beide Themen gehörten gerade im Bundesstaat Guerrero zum Alltag der Menschen niedriger Einkommensschichten. Obwohl sowohl die línea AMS als auch die Kooperative AGC den servicio económico bedienten und zwischen Tomás Ramírez Einstiegsorten in Coyuca und El Papayo über den gleichen Abschnitt der MEX-200 verkehrten, unterschieden sich also seine Performances an Bord der beiden líneas maßgeblich. Während er in der línea AMS Stücke internationaler Künstler auswählte, um einem gehobenen Anspruch zu entsprechen, spielte er in den Bussen der Kooperative AGC Genres mit lokalem Anstrich, die zwar in ihren Inhalten transnationale Geschichten vermittelten, sich aber, so der Musiker, an ein niedrigeres Bildungsniveau richteten. Tomás Ramírez reagierte folglich mit seinen Performances auf die unterschiedlichen Zusammensetzungen der Passagier/innen an Bord der líneas AMS und AGC, die wiederum in Details ihrer rutas beziehungsweise deren Terminals in Acapulco begründet lagen. Die Busse: Fahrerräume und Fahrgasträume und der Gang Zentrale Bedeutung kam dem Raum der einzelnen Fahrzeuge, in denen die Musiker auftraten, zu. Sie rollten entlang der rutas durch Transiträume, während in ihrem Inneren Passagier/innen auf nummerierten Plätzen saßen oder dicht gedrängt im Gang stehen mussten. Mehr als die übrigen räumlichen Ebenen erschienen Busse als Räume, die durch klare physische Grenzen – Wände, Fenster, Dach und Unterboden – definiert wurden. Allerdings war auch ein Überlandbus immer erst dann ein Bus, wenn darin von Fahrern und Passagier/innen bestimmte Handlungen vollzogen wurden (vgl. Jain 2009: 93). Besonders deutlich wurde diese zeitlich-performative Komponente der Busse, wenn ihre Fahrer sie nach Dienstschluss in ihren privaten Raum umwandelten, um darin zu übernachten.10 Dienten Busse jedoch im täglichen Betrieb ließen sie sich in zwei deutlich voneinander getrennte Räume gliedern: Fahrerräume und Fahrgasträume. Musiker und Händler/innen, die Busse betraten, mussten wissen, mit diesen Räumen umzugehen. Im Fahrgastraum befanden zwischen 24 und 44 Sitzplätze. Waren alle Sitze besetzt, so war ein Bus des servicio de primera ausgebucht, während zusätzliche Fahrgäste im servicio económico im Gang zwischen den Sitzen stehen mussten. Sowohl Busfahrer als auch Busmusiker sprachen in diesem Fall vom »cupo«. Während in vielen Fahrzeugen des servicio de primera eine Wand, manchmal mit eigener Tür, über die ganze Breite des Busses beide Räume voneinander trennte, befand sich im servicio económico zwischen dem Fußbereich der ersten Sitzreihe rechts und dem Ein- und Ausstieg in der Regel lediglich eine halbhohe Balustrade. Diese je nach servicio mehr oder weniger strikte Trennung zwischen Fahrerräumen und Fahrgasträumen manifestierte sich auch in der akustischen Platzierung einer »sonic threshold« (Sterne 1997: 32). In Bussen des servicio de primera wurden beide Räume von verschiedenen Audiokanälen beschallt. Im Fahrgastraum wurden Filme gezeigt und über jeder Sitzbank befanden sich Lautsprecher, aus denen der dazugehörige Ton schallte. Währenddessen hörten Fahrer im Fahrerraum meist Radio oder CDs, telefonierten mit ihren Mobiltelefonen oder unterhielten sich mit Inspektor/innen und mitfahrenden anderen
10 Zum Verhältnis der Busfahrer zu ihrem Fahrzeug vgl. Kapitel 6.2.
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Busfahrern. Im servicio económico liefen zwar keine Filme, jedoch waren auch dort Fahrerraum und Fahrgastraum akustisch voneinander getrennt, weil das Radio beziehungsweise der CD-Player des Fahrers lediglich den Fahrerraum beschallte. Die materiellen und akustischen Platzierungen, die sich an Bord der Busse zu Fahrerräumen und Fahrgasträumen synthetisieren ließen, besaßen symbolische Konnotationen, so dass die räumliche Ordnung des Busses Rollen und Machtverhältnisse ihrer Insass/innen spiegelte. Während es sich beim Fahrerraum um einen Arbeitsplatz handelte, an dem der Fahrer einer entlohnten Tätigkeit nachging, war der Fahrgastraum Kund/innen vorbehalten, die im Gegensatz zum Fahrer Komfort genießen sollten. Durch die enge Bindung der Fahrer an ihr Arbeitsfahrzeug wurde der Fahrerraum zu einem persönlichen Ort, den sie durch die Platzierung persönlicher Objekte und Dekorationen als solchen kennzeichneten. Auch wenn Fahrer nur selten Eigentümer des Fahrzeugs waren, signalisierte der individualisierte Fahrerraum, dass letztendlich Fahrer die Entscheidungen in Bussen trafen.11 Neben dem Fahrer im Einstieg standen Händler/innen, Inspekteur/innen, Musiker und andere Fahrer meist mit dem Rücken an die Wand hinter ihnen gelehnt. Auf der Treppe stand, wer den Fahrer kannte oder kennen lernen wollte und sich mit ihm unterhielt. Auch ich verbrachte, wenn ich nicht gerade Interviews im Gang führte oder Auftritte von Musikern dokumentierte, einen Großteil der Busfahrten im Rahmen meiner Feldforschung auf den Treppen neben dem Einstieg: »Ich weiß nicht genau, wo ich meine Füße auf den schmalen Stufen unterbringen soll. Es bleibt mir nichts Anderes übrig als sie auf zwei verschiedene Treppenstufen zu stellen. Es ist sehr unbequem, über einen längeren Zeitraum so zu stehen. Ich drücke meinen Rücken gegen die Wand hinter mir, um auf der kurvigen Straße die Balance zu halten. Dabei rutsche ich auf den schweren Gummimatten, die die Stufen bedecken, immer wieder nach vorne. Die Matten sind nur grob zugeschnitten und bilden Stolperfallen beim Ein- und Ausstieg. Ich versuche, die Matten unauffällig mit meinen Füßen wieder in Position zu schieben. Ich bin sehr darauf bedacht, lässig zu wirken, schließlich stehe ich in der Insider-Loge des Bussystems. Nichts verstellt mir den Blick durch die riesige Frontscheibe auf die Straße, den Verkehr auf ihr und das gigantische Panorama der Sierra zwischen Morelos und Guerrero. Jedes Mal, wenn Passagiere aussteigen wollen, springe ich vor ihnen aus dem Bus, nehme gelegentlich eine Tasche oder einen Karton an und wünsche ihnen einen guten Tag, bevor ich zurück in den anfahrenden Bus springe und sich die Tür hinter mir schließt. Ich komme mir sehr professionell vor. ›Luca‹ [dem Busfahrer] ist es wahrscheinlich egal, wie professionell ich mich gebe. Er freut sich offensichtlich, dass er mit jemanden reden kann. Er fragt mich am Ende seiner Ausführungen oft, ob ich seiner Meinung bin: ›Ja oder Nein?‹ Dabei streckt er seine offene Handfläche zu mir, um mir das Wort zu erteilen und blickt mich erwartungsvoll an, während er die linke Hand am Lenkrad hält. Angespannt sage ich ihm, was er hören will, damit er seinen Blick wieder auf die Fahrbahn richtet. Schließlich hätte ich bei einem Unfall den unglücklichsten Platz im ganzen Bus. Es würde mich direkt durch die riesige Frontscheibe in eben das gigantische Panorama der Sierra hauen. (Tagebucheintrag von einer Fahrt zwischen Cuautla, Morelos und Iguala, Guerrero am 12.12.2010)
11 In sehr seltenen Fällen fuhren Gesellschafter einzelner líneas ihre eigenen Fahrzeuge (vgl. Kapitel 6.2).
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Wie dieses Zitat zeigt, unterschieden sich Fahrerräume und Fahrgasträume auch in der Perspektive, die sie ihren Insass/innen auf Transiträume gewährten. Während die große Windschutzscheibe des Fahrerraums einen frontalen Blick auf die Straße und ihre Umgebung zuließ, boten sich den Passagier/innen im Fahrgastraum lediglich die seitlichen Fenster. Der stete Blick der Passagier/innen auf den scheinbar vorbeihuschenden Straßenrand prägte jenen unfokussierten Blick in die Ferne, den Schivelbusch als »panoramatischen Blick« bezeichnet und als »Ende des Vordergrundes« für einen Bruch zwischen Reisenden und Transiträumen verantwortlich macht (vgl. Schivelbusch 2007: 61) Eine besondere Bedeutung kam dem Gang zu, der vom Fahrerraum aus zwischen den Sitzbänken nach hinten führte. Während Passagier/innen des servicio de primera von Warnhinweisen aufgefordert wurden, möglichst nicht im Gang zu verweilen. Wurde der Gang im servicio económico zum Aufenthaltsort für Passagier/innen, die keinen freien Sitzplatz mehr fanden und folglich stehen mussten. Der Fahrgastraum wurde in diesem Fall auf den Gang ausgeweitet. Der Gang war jedoch zugleich ein Arbeitsraum und zwar immer dann, wenn Verkäufer/innen oder Musiker den Bus betraten. Verkäufer/innen bewegten sich im Gang, boten ihre Produkte an und stellten sie, im Falle einiger Tacoverkäuferinnen, sogar dort her. Häufig verteilten sie Kostproben ihrer Produkte, beispielsweise Erdnüsse oder Kekse, oder legten den Passagier/innen eingepackte Samples auf dem Schoß, damit diese sich – »sin compromiso« – mit der Ware vertraut machen konnten. Später sammelten sie diese Samples von all jenen, die sich nicht zum Kauf durchringen konnten, wieder ein und kassierten den Rest. Besonders bei Produkten, deren Gebrauchswert sich den Fahrgästen nicht ohne weiteres erschloss, wie beispielsweise Medikamenten, installierten sich Verkäufer/innen im Gang und führten lange Monologe über die möglichen Anwendungsbereiche ihrer Ware. Sie verweilten dabei häufig bis zu dreißig Minuten im Gang. Der Gang bildete somit einen transitional space im Sinne Sternes12 zwischen Fahrerraum und Fahrgastraum, zwischen Arbeitsraum und Konsument/innenraum. Salvador und Hexiquio Hernández und die räumliche Ordnung an Bord der Überlandbusse Seit die beiden Brüder Salvador und Hexiquio Hernández nicht gemeinsam als dueto an Bord der Busse auftraten, spielte oft einer der beiden von Buenavista bis Puente de Ixtla und der andere in entgegen gesetzter Richtung von Buenavista bis Iguala. Beide Strecken dauerten in etwa 45 Minuten. Dabei spielten sowohl Salvador als auch Hexiquio Hernández vier oder fünf Stücke, für die sie in der Regel etwas mehr als 15 Minuten benötigten.
12 Der Begriff »Transitional Space« wie ihn Sterne verwendet, ist nicht identisch mit dem in dieser Arbeit verwendeten Begriff »Transiträume« (vgl. Kapitel 5). Während »Transiträume« Räume, durch die sich Akteur/innen bewegen, bezeichnen, und das Verhältnis der Akteur/innen zum Raum per Definition ein flüchtiges ist, beschreibt der Begriff »Transitional Space« nach Sterne die Schnittmenge zweier Räume (vgl. Sterne 1997: 32).
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Da er folglich nur ein Drittel seines Aufenthaltes an Bord der Busse damit verbrachte, im Gang Musik zu spielen, verweilte Salvador Hernández nach seinem Einstieg eine beachtliche Zeit im Fahrerraum, wo er sich mit dem Fahrer unterhielt und unter anderem versuchte dessen musikalische Vorlieben in Erfahrung zu bringen. Erst dann begab er sich in die Mitte des Ganges und begann zu spielen: »Wenn sie mich spielen lassen, gehe ich sofort nach vorne […] und frage: ›Hey! Wünschst du dir ein Lied? Sag mir, welches Lied dir gefällt oder welche Sorte Musik du magst! Mal sehen, ob ich davon eins kenne.‹« (Hernández, Salvador 28.3.2013) Auch wenn Salvador Hernández versuchte, ihre musikalischen Vorlieben in seinen Performances zu berücksichtigen, so hatten die Fahrer doch, was sich als »schlechtester Platz im Publikum« beschreiben ließ. Sie saßen am weitesten entfernt mit dem Rücken zum Musiker. Deshalb spielte Salvador Hernández, nachdem er die coperacha eingesammelt hatte, häufig und besonders bei neuen oder unbekannten Fahrern ein extra Stück, für das er sich auf die Stufen neben dem Fahrersitz stellte. Selbst wenn er nicht spielte, verbrachte er dort die verbleibenden Minuten bis zu seinem Ausstieg und unterhielt sich mit dem Fahrer. Dagegen unterhielt sich Hexiquio Hernández nach seinem Einstieg nur mit befreundeten Busfahrern. Öfter begab er sich direkt in den Gang und begann zu spielen. Nachdem er sein letztes Stück gespielt und die coperacha eingesammelt hatte, suchte er sich einen freien Sitz im Fahrgastraum, setzte sich und döste für die verbleibenden Minuten bis zu seinem Ausstiegspunkt vor sich hin. Hexiquio Hernández Verhalten machte Salvador wütend. Nicht nur weil sein Bruder die Hoffnungen der Fahrer auf Unterhaltung enttäuschte.13 Auch wenn sie zu zweit waren und sich Salvador Hernández mit dem Fahrer unterhielt, holte er seinen Bruder nach vorne. Im Interview betonte er, wie wichtig es war, sich gegen Ende der Performance in den Fahrerraum zu begeben: »Das ist wichtig. Denn es gibt Jungs, Musiker, die hören auf zu singen und gehen nach hinten. So wie Flaco [Hexiquio Hernández]! Flaco ist so einer! Wenn ich mit ihm zusammen singe und nach vorne gehe, muss ich ihm immer extra sagen, dass er mitkommt, damit er nicht hinten sitzen bleibt. Das ist wichtig!« (Hernández, Salvador 4.12.2011) Wenn Salvador Hernández seine Performances im Fahrerraum begann und beendete, im Gang spielte und sich nie auf die Sitze des Fahrgastraumes begab, platzierte er sich während seiner Performances entsprechend der symbolischen Unterteilung im Fahrerraum, dem Raum der Arbeit. Hexiquio Hernández hingegen missachtete in den Augen seines Bruders die räumliche Ordnung des Busses, wenn er wie ein zahlender Passagier im Fahrgastraum, dem Raum der Entspannung, schlief, anstatt sich wie arbeitende Reisende auf die Treppe im Fahrerraum zu stellen. Mit diesem Verhalten, so Salvador Hernández, verprelle Hexiquio die Busfahrer, die ihn das nächste Mal nur ungerne wieder mitnähmen. So sei es keine Überraschung, dass Busfahrer, die nicht zögerten, Salvador Hernández in ihren Bussen spielen zu lassen, Hexiquio als faul einschätzten, obwohl er täglich Vollzeit und wesentlich länger als sein älterer Bruder arbeitete. Salvador Hernández reproduzierte also während seiner Performances die symbolische Gliederung des Innenraumes der Busse in Fahrerraum und Fahrgastraum. Wie er
13 Zu den Erwartungen der Busfahrer vgl. Kapitel 6.2.
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begaben sich auch die übrigen Musiker grundsätzlich auf die Treppe neben dem Fahrer, sobald sie die coperacha eingesammelt hatten. Selbst Hexiquio Hernández vertrat in Interviews die Ansicht, dass von ihm erwartet wurde, dass er sich gegen Ende seiner Performance in den Fahrerraum begab, obwohl er sich während seiner Performances gegenteilig verhielt: »Wenn ich aufhöre zu singen und mich dann setze, sehen [die Busfahrer] das nicht gerne.« (Hernández, Hexiquio 29.3.2013)
6.2 »CHOFERES« UND »CHIVAS«: VON BUSFAHRERN UND INSPEKTEUR/INNEN »Ich besteige den Bus 202. Am Rückspiegel baumeln Rosenkränze, an der Scheibe klebt ein Bild der Virgen de Guadalupe und oberhalb der Windschutzscheibe schräg über dem Kopf des Fahrers steht in Großbuchstaben gut sichtbar für alle im Bus: ›Gott liebt Dich… Aber ich bin sein Liebling‹« (Tagebucheintrag vom 15.8.2010 in AGC zwischen Atoyac de Álvarez und San Luis la Loma)
Der Weg in den Fahrgastraum mexikanischer Überlandbusse führte durch die Tür über die Stufen immer am Busfahrer vorbei. Bereits im Abfahrtsterminal begrüßten Busfahrer ihre Passagier/innen in der Regel persönlich und kontrollierten die Tickets der Einsteigenden. Unterwegs auf der ruta waren die Männer in weißen Hemden, dunklen Bundfaltenhosen, Krawatten und Pullundern die einzigen Repräsentanten der línea an Bord. Sie lenkten den Bus nicht nur, sie entschieden auch, wo er hielt und wer ihn betreten durfte. Unter allen Akteur/innen, die die Arbeit der Musiker an Bord der Überlandbusse beeinflussten, kam den Busfahrern eine herausragende Rolle zu. Musiker gelangten nur mit dem Einverständnis der Busfahrer in die Fahrgasträume und benötigten ihre Erlaubnis, um dort zu spielen. Das große Gewicht auf der Beziehung zwischen Busfahrern und Musikern unterschied Überlandbusse als Räume der Performance von Fußgängerzonen und Metrowaggons in Großstädten. Zwar waren auch Musiker auf der Straße oder in der Metro gezwungen ihre Auftrittsorte Polizei oder privaten Sicherheitsdiensten auszuhandeln, jedoch kam keiner dieser Autoritäten dabei eine derart zentrale Bedeutung zu, wie den Fahrern in Bezug auf die músicos ambulantes.14 Die Aushandlungsprozesse mit Busfahrern entschieden bereits über Erfolg oder Misserfolg der Musiker, bevor letztere ihren ersten Akkord spielen und ihre erste Note singen konnten. Um diese Prozesse zu verstehen, war es notwendig sich auch mit den Busfahrern, ihrer Arbeit und ihrer Rolle an Bord der Busse auseinanderzusetzen. Unter welchen Bedingungen arbeiteten Fahrer in mexikanischen Überlandbussen? Welche Auswirkungen hatten ihre Arbeitsbedingungen auf das Verhältnis zu ihren Arbeitgebern und ihr Selbstverständnis? Mit dem Wissen um die Schlüsselposition der Fahrer an Bord der Busse rückten Fragen nach ihrer Motivation in den Fokus. Worin lag der Anreiz der Busfahrer, wenn sie Musiker im Fahrgastraum ihrer Busse auftreten ließen?
14 Tatsächlich zielen beispielsweise bei der Arbeit der Musiker in der Metro Mexiko-Stadts viele ihrer Strategien darauf ab, während der Arbeit von den Autoritäten unerkannt zu bleiben und Kontakt auf diese Weise ganz zu vermeiden (vgl. Domínguez Prieto 2010). Busmusikern bot sich diese Möglichkeit nicht.
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Handelten sie aus selbstloser Nächstenliebe? Gefiel ihnen die Musik? Oder versprachen sie sich materielle Zuwendungen, beispielsweise einen Teil der coperacha? Diese Fragen gewannen besonders vor dem Hintergrund des hohen persönlichen Risikos der Busfahrer an Relevanz. Denn das Verhältnis der líneas zu ihren Fahrern war von Misstrauen geprägt. So wurden Fahrer unterwegs diversen Kontrollen unterworfen und hatten bei Regelverstößen mit schweren Sanktionen zu rechnen. Weshalb also riskierten Busfahrer Geldstrafen und oft sogar ihre Kündigung für Männer mit Gitarren, die sie entlang ihrer rutas am Straßenrand auflasen? Dieses Unterkapitel beginnt mit den Arbeitsbedingungen der Busfahrer und dem engen Verhältnis zu ihrem Bus, in dem sie häufig nicht als Angestellte der línea, sondern vielmehr als Hausherren auftraten. Darauf folgen die Maßnahmen der líneas, die mit verschärften Kontrollen Korruption unter den Fahrern zu bekämpfen gedachten und damit direkt und indirekt auch die músicos ambulantes aus ihren Bussen verdrängten. Die Busse verwandelten sich in umkämpfte Räume, deren Schlüssel für die Musiker in ihrem Verhältnis zu den Busfahrern lag. Um den Aufbau und die Pflege dieser Beziehungen geht es im letzten Teil dieses Unterkapitels. »La vida del chofer«: Die anstrengende und einsame Arbeit der Busfahrer »›Lassen sie euch keine Pausen?‹ frage ich. ›Pausen? Das ist meine Pause!‹ ›Luca‹15 wendet seinen Blick von der Straße ab und zeigt mir seinen Mittelfinger. ›Das ist meine Pause!‹ Er zeigt den Finger noch einmal, um sicher zu gehen, dass ich auch verstehe. ›Luca‹ erzählt, dass er häufig bis zu 16 Stunden am Tag arbeitet. Eigentlich hat er einen Tag pro Woche frei, jedoch leben seine Frau und seine beiden Kinder in Ciudad Neza[16]. Damit es sich lohnt, sie zu besuchen, nimmt er seine vier freien Tage pro Monat am Stück. Die Zeit zwischen den Besuchen bei seiner Familie verbringt er beinahe ausschließlich im Bus. Tagsüber sitzt er hinterm Steuer und nachts schläft er auf einem der Sitze in der ersten Reihe. 17« (Tagebucheintrag vom 12.12.2010 in TER zwischen Cuautla und Iguala)
2010 war »Luca« 31 Jahre alt und hatte bereits bei den líneas AU und dem servicio de primera ADO als Busfahrer gearbeitet. Nun fuhr er für den servicio económico der línea TER. Er erklärte, dass er mit seinem Wechsel zu TER eine Verbesserung seiner Karrierechancen beabsichtigt habe. Die stressigen Arbeitszeiten und die schlechte Bezahlung bei TER ließen allerdings vermuten, dass sich sein Wechsel nicht ganz so freiwillig vollzogen hatte, wie »Luca« es im Gespräch darstellte. Die líneas im servicio económico besaßen unter Busfahrern einen besonders schlechten Ruf als Arbeitgeber. »Mario«, ein anderer Fahrer bei TER, beklagte sich ebenso wie »Luca«, dass er keine Pausen habe und meist unmittelbar nach seiner Ankunft am Zielterminal wieder auf die nächste Fahrt geschickt werde (Gespräch mit »Mario« in TER zwischen Buenavista und Cuautla am 14.12.2011). Aber auch »Martín«, der für die línea AMS die
15 Die Namen sämtlicher Busfahrer sind geändert. 16 Ciudad Nezahualcóyotl: Satellitenstadt im Estado de México nordöstlich von Mexiko-Stadt. 17 Obwohl sich an allen Endhaltestellen der línea TER Schlafsäle für das Personal befanden, bevorzugten es die meisten Fahrer, in ihren Bussen zu übernachten.
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5-stündige ruta zwischen Acapulco und Zihuatanejo befuhr, erklärte, dass er, wenn er die erste Fahrt um 3 Uhr morgens bekam, die ruta am selben Tag meistens zwei Mal hin und zurückfahren musste. Folglich fuhr er an diesen Tagen etwa 20 Stunden (Gespräch mit »Martín« in AMS zwischen Acapulco und Tecpan am 18.11.2011). Fahrern auf anderen líneas des servicio económico ging es also nicht notwendigerweise besser, als ihren Kollegen bei der línea TER. Sie arbeiteten über Wochen am Stück deutlich mehr als zehn Stunden täglich. So beklagte sich auch »Daniel« bei SUR: »¡No te dejan dormir!« (Gespräch mit »Daniel« in SUR zwischen Acatlán und Cuautla am 11.12.2010) »›Luca‹ beschwert sich die ganze Zeit, wie müde er sei, und mit seinen roten Augen macht er hinter dem Steuer des Busses einen beunruhigenden Eindruck. Es ist erst Mittag, er hat bereits einmal die Strecke México Sur-Cuautla hinter sich und ist sich sicher, nicht vor 20 Uhr Feierabend zu bekommen. Während der vier Stunden Fahrt von Cuautla nach Iguala trinkt er mehrere Dosen Red Bull. Als ihm in Puente de Ixtla ein Händler als Dank eine Dose Coca Cola anbietet, erklärt er: ›Ich hätte lieber etwas von dem anderen ›coca‹.‹ Der Händler erwidert daraufhin: ›Ich zieh mir auch gerne hin und wieder ein Gramm rein… Wenn man fährt, fliegt man! Nächstes Mal bringe ich dir was mit!‹« (Tagebucheintrag vom 12.12.2010 zwischen Cuautla und Iguala)
Während die rutas der höheren servicios meist über Autobahnen verliefen, schlängelten sich die rutas des servicio económico durch die Kurven und über die Steigungen von Bundes- und Landstraßen. Sie führten durch geschlossene Ortschaften und waren mit topes gespickt. Zusätzlich nahmen viele der líneas Passagier/innen an der Straße auf. »Mario« beklagte sich daher, dass er seinen rechten Arm kaum vom langen Schaltknüppel nehmen konnte (Gespräch mit »Mario« in TER zwischen Iguala und Cuautla, 14.12.2011). »Antonio« hatte als Ticketverkäufer am Schalter von TER im Terminal Igualas viele Busfahrer kommen und gehen sehen. Er fasste die Arbeitsbedingungen seiner Kollegen an Bord der Überlandbusse düster zusammen: »So ist das Leben als Fahrer… deshalb sind die so schnell kaputt.« (Gespräch mit »Antonio« in Iguala 27.11.2010) Die langen Arbeitstage und die knapp berechnete Freizeit gestalteten die Arbeit der Busfahrer nicht nur physisch enorm anstrengend, die Arbeit war auch ausgesprochen einsam. Fast alle Fahrer, mit denen ich sprach, kamen aus dem Umland Mexiko-Stadts oder dem Bundesstaat Morelos. Fern ihrer Wohnorte verbrachten sie den Großteil des Tages allein hinter dem Steuer und in den kurzen Pausen trafen sie nur die örtlichen boletero/as, checadores/as und eventuell andere Fahrer. Hingegen sahen sie ihre Familien nur einmal im Monat. »Martín« bedauerte: »Unsereins entfremdet sich schnell von seiner Familie.« (Gespräch mit »Martín« in AMS zwischen Acapulco und Tecpan am 18.11.2011) Andere Fahrer wie der 29-jährige »Alberto« sahen ihren Beruf sogar vollkommen unvereinbar mit einer Familie und waren deshalb nicht verheiratet: »›Kümmere ich mich um meine Familie oder um meine Arbeit?‹ ›Alberto‹ sieht mich fragend an. Als ich mit den Schultern zucke, sagt er: ›Dann doch besser die Arbeit, oder?‹« (Tagebucheintrag vom 4.12.2011 zwischen Iguala und Puente de Ixtla) Im Vergleich zu den Fahrern des servicio económico erschienen die Arbeitszeiten ihrer Kollegen des servicio de primera und höherer Serviceklassen entspannter. Auch die Bezahlung fiel im servicio económico deutlich geringer aus. »Mario« erklärte, dass
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er als Fahrer des servicio de primera bei Estrella de Oro 4.000 Peso pro Woche verdient hatte und bei TER im servicio económico nur 1.500 Peso pro Woche bekam (Gespräch mit »Mario« in TER zwischen Buenavista und Cuautla am 14.12.2011).18 Arbeitgeber setzten Einsteiger in der Regel zunächst im servicio económico ein. So erklärte »Mario«: »Die von Estrella de Oro stecken dich erstmal mindestens sieben Monate in die Galgos [ein servicio económico].« (Gespräch mit »Mario« in TER zwischen Iguala und Cuautla, 14.12.2011) Deshalb handelte es sich im servicio económico meist um jüngere Fahrer als in den höheren Serviceklassen. »Luca«, »Mario«, »Alberto« und »Daniel« waren 2010 alle unter 35 Jahren alt. Ebenfalls konnten Ordnungsverstöße dazu führen, dass Fahrer in den servicio económico abstiegen beziehungsweise nach ihrer Kündigung nur noch dort eine Anstellung fanden. So berichtete beispielsweise »Daniel«, Fahrer bei SUR einer línea der grupo ADO, dass er im Falle einer Kündigung wegen Ordnungswidrigkeiten eine einjährige Sperre erhielte und danach bei der grupo ADO allein in der línea des servicio económico AU eine zweite Chance bekäme (Gespräch mit »Daniel« in SUR zwischen Acatlán de Osorio und Cuautla am 11.12.2010). Die Zeit hinter dem Steuer des servicio económico war folglich entweder eine harte Initiation oder schlicht eine Strafe. Die schlechte Bezahlung für ihre langen und unregelmäßigen Arbeitszeiten sorgte neben der Einsamkeit, die der Beruf mit sich brachte, für Unmut unter den Busfahrern des servicio económico.19 Die músicos ambulantes trafen also an Bord der Busse in der Regel auf junge Busfahrer oder Fahrer, die bei ihren Arbeitgebern in Ungnade gefallen waren. Die Unzufriedenheit dieser Fahrer dominierte sämtliche Gespräche, die ich mit ihnen führte. Schließlich mündete sie im Mangel an Loyalität gegenüber ihren Arbeitgebern und in jenen Regelverstößen, die es den músicos ambulantes erlaubten, an Bord der Überlandbusse aufzutreten. »Esa es mi planta«: Busfahrer als Herren über den Bus Busfahrer unterschieden sich in »choferes de planta«, »feste Fahrer« und »choferes postureros«, »Postboten-Fahrer«. Während es sich bei Letzteren um Springer handelte, die im Krankheitsfall Kollegen vertraten, waren die meisten Busfahrer an ihr Fahrzeug gebunden, fuhren jeden Tag denselben Wagen und bezeichneten sich als »de planta«. Mehrere choferes de planta erklärten in Gesprächen, dass ihr Dienst aussetze, wenn sich ihr Wagen zur Reparatur in der Werkstatt befinde (z.B. Gespräch mit »Luca« in TER zwischen Iguala und Buenavista am 26.11.2010 und Gespräch mit »Alberto« in
18 Jedoch schwankten die Gehälter der Busfahrer nicht nur zwischen den servicios, sondern auch zwischen den verschiedenen líneas und beinhalteten nicht selten eine Provision, die sich aus der Anzahl der Fahrgäste und der gefahrenen Kilometern berechnete. 19 Dieses Ergebnis meiner Forschung bestätigte auch eine arbeitsmedizinische Untersuchung aus dem Jahr 2012, in der die Fahrer mexikanischer Überlandbusse ihrer Arbeit ein verheerendes Zeugnis ausstellten. In sieben Kategorien die unter anderem Einkommen und allgemeine Zufriedenheit beinhalteten, fielen sechs Kategorien unterdurchschnittlich aus. Am auffälligsten war dabei die Unzufriedenheit über die geringe Freizeit (94,44%) (Bonilla Barragán; Chávez; Adalberto; de Haro und Silva 2012: 14).
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TER zwischen Iguala und Puente de Ixtla am 4.12.2011).20 Unterwegs erledigten sie kleinere Reparaturen selbst und, obwohl an vielen Terminals Reinigungspersonal angestellt war, säuberten die Fahrer ihre Busse ebenfalls oft selbst. Gemeinsam mit der Zeit, die Busfahrer im Innern der Busse verbrachten, erklärte sich somit die enge Beziehung, die viele Busfahrer zu ihrem mobilen Arbeitsgerät pflegten. Besonders Fahrer des servicio económico verliehen den ansonsten im coporate design der línea gehaltenen Innenräumen ihrer Busse oft eine individuelle Note. Sie dekorierten den Fahrerraum und fügten Ausstattung hinzu, die ihnen den Aufenthalt angenehmer gestaltete. In Bussen des servicio económico befanden sich nicht selten große Heiligenbilder, Blumenvasen oder Kruzifixe unter dem Rückspiegel, an dem seinerseits Rosenkränze oder auch Stofftiere befestigt waren. An der Trennwand hinter dem Fahrersitz hingen Wechseljackets und Hosen und manchmal lagen eine Reisetasche und ein zum Trocknen ausgebreitetes Handtuch auf den Sitzen der ersten Reihe auf der rechten Seite. Auf der dem Einstieg abgewandten Seite des Fahrersitzes steckten oft Illustrierte, nicht selten Pornomagazine und Piraten-CDs. Viele Fahrer hatten über ihren Sitzen kleine Ventilatoren installiert. Die Dekoration der Busfahrer, die Platzierung ihrer persönlichen Gegenstände, verwandelte ihren Arbeitsplatz in ihr zweites zu Hause, ihren privaten Raum.21 So präsentierten sich viele der Fahrer auch in ihrem Verhalten mir gegenüber mehr als großzügige Gastgeber denn als Angestellte, die Vorgaben ihres Arbeitgebers zu erfüllen hatten. Sie boten mir Snacks an, luden mich auf Getränke ein und weigerten sich, mein Fahrgeld anzunehmen: »Als ich ihm das Geld für das Ticket geben will, ruft ›Luca‹ empört: ›Wie könnte ich von einem Freund Geld annehmen?!‹« (Tagebucheintrag vom 12.12.2010 zwischen Cuautla und Iguala) Die räumliche Ordnung mexikanischer Überlandbusse, in der der Fahrer über den Stufen an der einzigen Tür saß, unterstützte das Selbstverständnis der Busfahrer als Hausherren. Die Treppe am Einstieg bedeutete, dass zusteigende Passagier/innen immer zum Fahrer aufschauen mussten und dessen erhöhte Position Macht vermittelte. 22 Nur Fahrer waren in der Lage, die Tür zu öffnen, und entschieden folglich darüber, wer den Bus betreten und wer ihn wo verlassen durfte. Zugleich wurde der Bus und alle darin befindlichen Güter und Personen zumindest außerhalb der Terminals zum Raum der alleinigen Verantwortung der Fahrer. Ihre Arbeitgeber machten sie für Unfälle und verlorenes Gepäck verantwortlich, und nach Überfällen neigten viele Passagier/innen dazu, den Busfahrern Fahrlässigkeit zu unterstellen, weil sie die Räuber an 20 Allerdings widersprachen sich die Fahrer in ihren Erklärungen, ob diese Auszeit Gehaltsausfall bedeutete oder nicht. 21 Sehr ähnlich beschreibt Simon Callow, wie Schauspieler ihre Garderobe dekorieren und somit personalisieren: »You lay out your make-up in front of the mirror, you hang your towel up and pin a couple of cards to the wall. In these little ways, it begins to be your dressing room. By the end of the run, you’ll need a pantechnicon van to haul away the accumulated interior decorations.« (Callow 1985: 183) Gay McAuley spricht in diesem Zusammenhang von der »quality of a home from home« (McAuley 2000: 67). 22 Besonders drastisch war dieses Verhältnis in den urbanos der línea Maxirutas im Stadtverkehr Acapulcos, wo sich die Busmusiker Rücklinks unter einer Lichtschranke hindurch über die Stufen in den Bus schoben und schließlich zu Füßen der Fahrer liegend im Innern des Busses ankamen (vgl. Kapitel 6.3).
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Bord gelassen hätten (Gespräch mit Endir de León am 11.3.2014). »Iván« sagte: »Die ganze Verantwortung liegt bei uns.« (Gespräch mit »Iván« am 9.11.2011 in TER zwischen Iguala und Buenavista) So erweckten sämtliche Busfahrer in Gesprächen wie auch in ihrem Verhalten den Eindruck, dass sie den Bus nicht als Eigentum der línea betrachteten, sondern als ihr persönliches. Der Musiker Endir de León bemerkte: »Manchmal glauben die Busfahrer, sie seien die Besitzer. Aber das sind sie nicht, sie sind nichts als Arbeiter.« (de León, Endir 12.3.2014) Ihr Selbstverständnis als Herren über ihren Bus bot gemeinsam mit den schlechten Arbeitsbedingungen eine Erklärung dafür, dass sich die meisten der Fahrer in Gesprächen als gegenüber der »empresa«, wie sie ihre línea in der Regel nannten, äußerst trotzig präsentierten und viele Vorgaben ihres Arbeitgebers absichtlich ignorierten. Der Busfahrer »Iván« stellte Trotz als eine Charaktereigenschaft seines gesamten Berufsstandes heraus: »Wir sind Rebellen.« (Gespräch mit »Iván« in TER zwischen Iguala und Buenavista am 9.11.2011). Von wenigen Ausnahmen abgesehen zeichneten sich die Busfahrer durch bemerkenswerte Solidarität untereinander aus. Niemals passierten sich zwei Busse, ohne dass ihre Fahrer einander grüßten. Fahrer derselben líneas und auch derselben grupos gaben Zeichen, aus denen entgegenkommende Fahrer lesen konnten, wo auf der ruta Inspekteur/innen auf sie warteten (Gespräch mit »Luca« in TER zwischen Cuautla und Iguala am 12.12.2010). Viele, vor allen Dingen jüngere Fahrer zeichneten trotz ihrer Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen oft ein romantisches Bild ihrer Arbeit, in dem Freiheit und Unabhängigkeit dominierten. »Alberto«, der seit seinem 14. Lebensjahr LKWs und Busse gefahren hatte, erklärte: »Ich liebe die Landstraße!« (Gespräch mit »Alberto« in TER zwischen Iguala und Puente de Ixtla am 4.12.2011) Wie viele seiner Kollegen sagte er, dass sein Arbeitgeber TER zwar miserable Arbeitsbedingungen und schlechte Bezahlung biete, ihnen auf der anderen Seite jedoch Freiheiten ließe, die ihnen die strikter organisierten Dienstpläne in höheren servicios verwehrten. Aus diesem Grund bevorzugte »Alberto«, wie alle seine Kollegen, die ich in den Bussen der línea TER sprach, die längste ruta der línea zwischen Cuautla und Iguala, die durch dünn besiedelte Transiträume führte.23 Zu den Freiheiten, die sie gerade auf dieser ruta genossen, gehörte auch, dass sie dort die Möglichkeit hatten, etwas dazu zu verdienen: »Als wir ›Iváns‹ Bus in Buenavista de Cuéllar verlassen und uns wieder am Tacostand seiner Schwester befinden, platzt es aus Hexiquio heraus. Im Bus hat er kommentarlos ›Iváns‹ Klagen über seine schlechte Bezahlung und seine langen Arbeitszeiten zugehört, jetzt beginnt er zu lästern: ›Er sagt, dass er weniger als wir verdient. Er sagt, er verdient 150 Peso am Tag. […] Aber der steckte sich die ganze Zeit Kohle ein. Er sagt, dass er 17 Stunden täglich arbeitet. Der steckt halt Kohle ein. Sonst würde der doch nicht soviel arbeiten. Der holt da Scheine raus!‹« (Tagebucheintrag vom 9.11.2011 in Buenavista de Cuéllar)
»Las Chivas«: Der Kampf der línea um Kontrolle über ihre Busse Wie »Iván« beklagten sich auch die übrigen Fahrer über ihr mageres Einkommen: »Ich arbeite 112 Stunden pro Woche und sie bezahlen mir 1.300 [Peso]. Ist das gerecht?
23 Zu den Eigenarten des Streckennetzes »Zona Norte« vgl. Kapitel 4.2.
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Die Gesellschaften beuten uns aus!« (Gespräch mit »Luca« in TER zwischen Iguala und Buenavista am 26.11.2010) Daher, so erklärte »Luca«, sehe er sich gezwungen, auf andere Weise Geld zu beschaffen: »Ich lebe davon, dass ich keine Tickets rausgebe. Ich will das nicht machen. Ich will zufrieden und ohne Angst arbeiten. Aber es geht nicht anders… ich muss kämpfen.« (Gespräch mit »Luca« in TER zwischen Iguala und Buenavista am 26.11.2010) Dieser Trick der Busfahrer war auf vielen líneas des servicio económico verbreitet und führte zur Zeit meiner Feldforschung zu Konsequenzen, die auch die Musiker betrafen. Da die Busfahrer des servicio económico nicht nur an Terminals Passagier/innen aufnahmen, konnte die línea nur über den Ticketverkauf an Bord feststellen, wie viele Fahrgäste ein Bus zwischen Abfahrt und Ankunft am Zielterminal tatsächlich transportiert hatte. Die einfachste Möglichkeit der Busfahrer, Fahrgeld ihrer Passagier/innen zu unterschlagen, bestand folglich darin, erst gar kein Ticket auszustellen. Die meisten der Busfahrer sprachen offen darüber, dass sie auf diese Art ihr knappes Gehalt aufbesserten. »Mario« gab zu, dass er so seine besser bezahlte Anstellung bei Estrella de Oro verloren hatte: »Weil ich ein Gauner bin!« (Gespräch mit »Mario« in TER zwischen Buenavista und Cuautla am 14.12.2011) In einigen líneas wurden daher Lichtschranken direkt hinter der Tür installiert, die die Passagier/innen beim Einstieg zählen sollten. Dieses Kontrollsystem wurde vor allen Dingen in urbanos verwendet. Einige líneas installierten aber auch in Überlandbussen Lichtschranken, wie beispielsweise 2012 die línea ORO, die die Mixteca Poblana mit Puebla und mit Cuautla verband. Auch in den Bussen der línea Teotihuacanos und auf anderen líneas, die die ehemalige Haltestelle »30-30« passierten, befanden sich häufig Lichtschranken. Allerdings waren dort gerade die Busfahrer in der Lage, sie auszuschalten, was sie laut dem Musiker »Alan« in der Regel auch taten: »Hier haben die eigentlich Lichtschranken. Aber die Fahrer selbst schalten die ab, weil sie ihnen schaden.« (»Alan« 7.10.2010) Auf den langen rutas der Überlandbusse schienen daher menschliche Inspekteur/innen den automatischen Zählsystemen überlegen. Im Auftrag der líneas stiegen sie an Haltestellen oder auch am Straßenrand 24 entlang der rutas zu und zählten die Passagier/innen. 2010 berichteten Musiker an der Costa Grande, dass die beiden líneas Los Galgos und AMS erst kurz zuvor ihre Kontrollen intensiviert hatten: »Sie haben gerade damit angefangen. […] Wo man hinsieht gibt es Inspekteure. […] Sie fahren bis Zihua [Zihuatanejo], bis Lázaro [Cárdenas]. Sie beginnen um 6 Uhr morgens und gehen erst um 9 Uhr abends.« (García, Julio 24.9.2010) Zur Situation an der Costa Chica erklärten »Los Pajaritos del Sur« in Acapulco, dass die dortigen líneas bereits früher angefangen hätten, verstärkt in ihren Bussen zu kontrollieren (Villanueva, Lorenzo 16.10.2010). Für Busfahrer, die mit Passagier/innen ohne Tickets erwischt wurden, bedeutete dies häufig Suspendierungen oder sogar die Kündigung: »›Luca‹ stürmt wütend an mir vorbei und winkt mich zu sich in den Bus: ›Sie haben mich gefeuert!‹ schimpft er. Er sei, wie er erzählt, auf der Fahrt von Mexico-Stadt nach Cuautla von einem Kontrolleur mit drei Fahrgästen ohne Ticket erwischt worden. ›Luca‹ verflucht nun die Frau hier in der Station in Cuautla, die den Bericht des Kontrolleurs an die Firmenleitung weitergeben will. Er hat ihr, wie zuvor auch dem Kontrolleur, versucht zu erklären, dass die drei 24 Dabei handelte es sich häufig um Einstiege, die auch Busmusiker nutzten, wie zum Beispiel topes (vgl. Kapitel 5.2).
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Passagier/innen ihre Tickets schlichtweg bei ihm liegengelassen hätten. Nun holt er drei lose Tickets hinter der Windschutzscheibe seines Busses hervor und bearbeitet ihre Abrisskanten so, dass sie seine Version des Vorfalls stützen. Obwohl ich offensichtlich Augenzeuge seiner Manipulation des Beweismaterials bin, bleibt er auch mir gegenüber bei seiner Erklärung, dass es sich um die Schuld der Fahrgäste gehandelt habe. Allerdings bringt er unmittelbar nach der Geschichte eine moralische Rechtfertigung für sein Verhalten. Er zeigt mir seine Verdienstabrechnung der letzten Woche, in der er sieben Tage arbeitete, aber nur 680 Peso verdiente.« (Tagebucheintrag vom 12.12.2010 in Cuautla)
Entsprechend waren die Inspekteur/innen bei den Busfahrern sehr unbeliebt. Julio García beschrieb die Reaktion der Fahrer, wenn sie Inspekteur/innen am Fahrbahnrand entdeckten: »Die werden richtig wütend: ›Oh, da sind die Penner schon wieder! Verdammt!‹ Die lassen sie halt kein Geld machen.« (García, Julio 24.9.2010) Sowohl Busfahrer als auch Händler/innen und Musiker bezeichneten die Inspekteur/innen abfällig als »chivas«, abgeleitet von dem umgangssprachlichen »chivarse«, »petzen«. Julio García erklärte allerdings, dass nicht die Zahl der Inspekteur/innen zugenommen habe, sondern sich das Verhältnis zwischen Fahrern und Inspekteur/innen verändert habe. Früher seien die Inspekteur/innen, die damals Tag für Tag dieselbe ruta und dieselben Fahrer kontrollierten, von den Busfahrern beteiligt worden: »Es gab schon immer welche, aber früher haben sie weggeschaut. […] Früher: alle Passagiere ohne Ticket. Wenn ein Inspekteur einstieg: ›Wie geht’s, Alter?‹ – ›Gib mir 50 Kröten! Komm schon!‹ Und dann hielten sie den Mund. […] Das war die Korruption. […] Das war besser, denn jeder Bus nahm uns mit.« (García, Julio 24.9.2010) Seit 2009 wurden viele der alten Inspekteur/innen versetzt oder gefeuert, wie die Händlerin »Erika«, die ihre Waren seit 1996 bei Coyuca in den Bussen anbot, berichtete (»Erika« 8.10.2011). Die neue Generation, so erklärte wiederum Julio García, war plötzlich nicht mehr an der Zusammenarbeit mit den Fahrern interessiert: »Diese Inspekteure wollen kein Schmiergeld. […] Die schützen die Firma.« (García, Julio 7.10.2011) Im Streckennetz »Costa Grande y Costa Chica« wurden die neuen Inspekteur/innen nicht mehr, wie zuvor, auf immer derselben ruta, sondern in Rotation auf verschiedenen rutas eingesetzt. So waren sie nicht mehr in das soziale Netzwerk aus Busfahrern, Musikern und Händler/innen, eingebunden, das es ihren Vorgängern erlaubte, an den Praktiken der Busfahrer mitzuverdienen. »Luis«, 2010 Busfahrer bei der Kooperative AGC und zuvor 20 Jahre Fahrer für Estrella Blanca, erzählte, dass, während Busfahrer und Inspekteur/innen früher »amigos« gewesen seien, nun »un otro sistema«, »ein anderes System« herrsche (Gespräch mit »Luis« in AGC zwischen San Luis La Loma und Coyuca am 15.8.2010). Gemeinsam mit der internationalen Wirtschaftskrise 2009 hatten die verschärften Kontrollen viele Kündigungen von Busfahrern zur Folge. Andere gingen laut Jesús García freiwillig, weil sich die Arbeit ohne die zusätzlichen inoffiziellen Einnahmen nicht mehr lohne: »Die werden gefeuert und viele kündigen, weil sie es nicht mehr aushalten, den Druck der Inspekteure. Die machen das nur, wenn sie das Ticketgeld einstecken können.« (García, Julio 24.9.2010)
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»Sie lassen einen nicht arbeiten«: Bedeutung der Inspekteur/innen für die Musiker Genauso wie ambulanten Händler/innen war Musiker/innen der Zustieg in Busse seitens der Leitung der línea untersagt. So antwortete der Stationsleiter von TER in Cuautla, auf die Frage nach Händler/innen und Musikern an Bord der Busse seiner línea knapp: »Die Firma erlaubt keine Ambulantes!« (Gespräch mit Stationsleiter der línea TER in Cuautla am 20.3.2013) Als Argument brachten die Vertreter/innen der líneas oft an, dass die Busmusiker ein hohes Sicherheitsrisiko darstellten (z.B. Gespräch mit Angestellten der línea Estrella de Oro in Tecpan am 14.8.2010). Selbst der gerente der Kooperative AGC erklärte, dass Händler/innen und Musiker an Bord der Busse nur dann erlaubt seien, wenn sie wie alle übrigen Passagier/innen bezahlten. Er bemerkte jedoch gleich, dass die Fahrer trotzdem beinahe alle Musiker mitnahmen (Gespräch mit Stationsleiter der Kooperative AGC in Acapulco am 6.4.2013). Die Aufgabe der Inspekteur/innen war es, diese Regeln durchzusetzen, weshalb die Busmusiker ihr Möglichstes unternahmen, Inspekteur/innen zu entgehen. Dabei bekamen Musiker, die bei Kontrollen ohne Ticket oder sogar während Performances erwischt wurden, keine unmittelbaren Konsequenzen zu spüren. Nicht den Musikern, sondern den Busfahrern wurde die Ordnungswidrigkeit angelastet und sie wurden entsprechend mit Sanktionen belegt. So bemerkte Efraín Balbuena: »Die Inspekteure […] sehen, dass ich spiele, sagen mir aber nichts. […] Man sagt, dass die Inspekteure später die Fahrer melden. Die wollen halt nicht, dass Verkäufer und Musiker einsteigen.« (Balbuena, Efraín 19.3.2013) Die verstärkten Kontrollen und die drohenden Sanktionen führten dazu, dass immer mehr Busfahrer, die die Musiker zuvor in ihren Bussen spielen ließen, sich nun bei ihnen entschuldigten, dass dies nicht mehr möglich sei. Gabriel Villanueva erzählte: »Das hat uns wirklich hart getroffen, denn sie nehmen uns jetzt nicht mehr mit. Auch wenn sie wollen, haben sie Angst, gefeuert zu werden. […] Die fühlen sich selbst schlecht dabei: ›Es tut uns leid, weil ihr unsere Freunde seid, aber wir wollen unsere Arbeit nicht verlieren.‹ […] Mich macht das traurig, weil wir nicht mehr wie früher verdienen.« (Villanueva, Gabriel 16.10.2010) Besonders an der Costa Grande hatte sich das Netz aus Inspekteur/innen massiv verdichtet: »Aus Richtung Acapulco warten Inspekteure in La Cima. Von La Cima bis La Cuesta, dort steigen andere ein, dann weiter von Pie de la Cuesta bis Bajos de Ejido, dort steigen wieder welche ein. Die lassen einen nirgendwo arbeiten. Darunter leiden die Leute. Für uns ist es unmöglich mit Musik Geld zu verdienen. Die Verkäufer, die Medizin verkaufen, lassen sie auch nicht einsteigen. […] Auf diesem Abschnitt sehen wir die Dinge im Moment nicht so, wie sie sein sollten.« (Villanueva, Gabriel 17.10.2010)
Vor allen Dingen die Musiker auf der MEX-200 an Costa Grande und Costa Chica sahen neben der Weltwirtschaftskrise von 2009 in den Inspekteur/innen den Hauptgrund für den rapiden Rückgang ihres Einkommens: »Wenn man jetzt arbeiten geht, verdient man 100 Peso, mit Glück 200. So kommt man nicht zurecht. Zum einen gibt es viele Inspekteure und zum anderen sitzt den Leuten das Geld wegen der Krise nicht mehr so locker.« (García, Julio 7.10.2011)
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Aber nicht alle Inspekteur/innen waren so kompromisslos, wie sie von Busfahrern, Musikern und Händler/innen dargestellt wurden. Tatsächlich gab es Inspekteur/innen, die Händler/innen und Musiker an Bord der Busse, die sie kontrollierten, bewusst übersahen. Der Fahrer »Alberto« sagte über die Haltung der Inspekteur/innen seines Arbeitgebers TER bezüglich Musikern an Bord der Busse: »Die sind den Inspekteuren schnuppe.« (Gespräch mit »Alberto« in TER zwischen Iguala und Puente de Ixtla am 4.12.2011) Eine Fahrt, bei der ich gemeinsam mit dem Musiker Hexiquio Hernández in einem Bus der línea TER auf einen Inspekteur traf, bestätigte seine Aussagen: »Wir steigen in den Bus und ich bezahle, ich will mich setzen, aber ein Mann, der sich als Inspekteur herausstellt, weist mich darauf hin, dass ich ein Ticket bräuchte. Ich gehe zurück zum Busfahrer, der mir bereits mein Ticket entgegenstreckt. Der Busfahrer muss sich auch für Hexiquio rechtfertigen: ›Der spielt‹ Dann ist es anscheinend in Ordnung, dass er ihn nicht abkassiert.« (Tagebucheintrag in TER zwischen Palmillas und Iguala vom 26.11.2010)
Allerdings berichtete Hexiquio Hernández stolz, dass er und sein Bruder ausgesprochen gute Beziehungen zu den Inspekteur/innen der línea pflegten: »Weil wir für die Chefs [der Inspekteure], die in Cuautla sitzen, einmal gespielt haben und sie unsere Camaradas sind. […] Die persönlich sagen den Inspekteuren: ›Lasst sie arbeiten! Diese Herren von hier verdienen so ihren Lebensunterhalt. Lasst sie arbeiten und sagt ihnen nichts!‹ […] Wir haben billiger für sie gespielt, nicht wahr?« (Hernández, Hexiquio 29.3.2013) Gelegentlich schien aber schlicht Mitgefühl einzelne Inspekteur/innen dazu zu bewegen, Auftritte von Musikern und informellen Handel in den Bussen ihrer línea zu tolerieren: »Ich frage am Schalter [der línea Estrella Blanca in Marquelia], ob es hier Musiker in den Bussen gebe, um herauszufinden, wie die Mitarbeiter darüber denken und ob sie eventuell Gründe für Verbote herausrücken. Dabei zeigt sich einer der beiden hinter dem Schalter recht skeptisch und beginnt sofort Gegenfragen zu stellen. Er ist Inspekteur oder ›Supervisor‹, wie er sich nennt[.] [Vor der Tür] erklärt mir der Inspekteur jedoch plötzlich, dass er Anweisungen von der Firma habe, keine Händler oder Musiker in die Busse zu lassen, und fügt auf die ärmlichen Häuser gegenüber weisend hinzu: ›Aber ich sehe die Leute hier. Was soll ich machen?‹ Kurz darauf steigt er gemeinsam mit drei Tortaverkäuferinnen in den Bus.« (Tagebucheintrag vom 16.10.2010 in Marquelia)
Nichts desto trotz stürzten die Kontrollen durch Inspekteur/innen die Musiker entlang der Costa Grande und Costa Chica in eine tiefe Krise, während sie für Musiker in den Streckennetzen »Mixteca Poblana«, »Zona Norte« und »Paradero 30-30« weniger Bedeutung hatten oder allenfalls als aufkommende Bedrohung angesehen wurden. »Camaradas« und »Calabazas«: Das Verhältnis zwischen Musikern und Busfahrern Obwohl die Leitungen sämtlicher líneas den Zustieg von Musiker/innen und ambulanten Händler/innen in die Fahrzeuge ihrer Flotte klar untersagten und Inspekteur/innen und Kontrollgeräte die Macht der Fahrer über ihren Bus einschränkten, fanden sich
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selbst auf den streng kontrollierten rutas entlang der Costa Grande und der Costa Chica weiterhin Busfahrer, die Musikern Zustieg gewährten. Keiner der Musiker hatte Zweifel daran, dass die Fahrer weiterhin die Schlüsselfiguren an Bord der Busse waren. Das Verhältnis der Musiker zu den Busfahrern auf den rutas, entlang derer ihre Strecken lagen, entschied über Erfolg oder Misserfolg ihrer Arbeit. Salvador Hernández erklärte: »Es ist einfach. Immer wenn ein Fahrer unser Freund ist, wenn er uns kennt, dann kann er den tollsten Wagen der Firma fahren. Wenn er unser Freund ist, lässt er uns einsteigen. […] Die Fahrer sind das Allerwichtigste für uns.« (Hernández, Salvador 28.3.2013) Ebenso versicherte Gabriel Villanueva: »Wenn der Fahrer einem nicht vertraut, wenn er kein Freund ist, dann lässt er einen nicht mitfahren und spielen. Aber wenn der Fahrer ein Freund ist, dann gibt er dir die Möglichkeit, und wir steigen ein und spielen.« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013) Deshalb mussten die Musiker, noch bevor ihre musikalischen Fähigkeiten zum Tragen kamen, soziales Geschick an den Tag legen, um die Sympathien und das Vertrauen der Busfahrer zu gewinnen. So umschrieb Gabriel Villanueva seinen Umgang mit den Busfahrern mit einer romantischen Eroberung: »Wir erobern uns die Fahrer von Estrella de Oro, wie man sonst eine Geliebte umwirbt.« (Villanueva, Gabriel 16.10.2010) Ein großes Netzwerk aus bekannten und befreundeten Busfahrern garantierte den Musikern nicht nur Zustieg in deren Busse und somit Zugang zu ihren Passagier/innen als Publikum. Sie profitierten häufig auch vom weiten Horizont befreundeter Busfahrer. Die Fahrer, die zwischen verschiedenen rutas wechselten und nicht selten bereits bei mehreren líneas gearbeitet hatten, kannten wie niemand anders rutas und deren Passagier/innen und empfahlen den Musikern neue Strecken. So folgten »Los Pajaritos del Sur« dem Tipp eines befreundeten Busfahrers, der ihnen riet entlang der MEX-51 aufzutreten: »Wir wurden darauf aufmerksam, weil uns ein Fahrer von Estrella Blanca sagte: ›Schaut, ich fahre drüben nach Altamirano. Dort gibt es eine Strecke, auf der ihr spielen könnt. Dort gibt es Geld und viele Passagiere. Sie liegt zwischen Iguala und Ahuehuepan.‹ Also fuhren wir mit diesem Fahrer. Er erklärte uns alles und empfahl uns ein Hotel, wo wir unterkamen. Das gefiel uns. Mir gefiel es sehr.« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013)
Umkehrt bedeutete ein schlechtes Verhältnis zu Fahrern empfindliche Verdienstausfälle oder schlechte Bedingungen für ihre Performances. Selbst wenn Busfahrer Musiker mitnahmen, konnte die Beziehung zwischen beiden darüber entscheiden, ob Fahrer beispielsweise während der Performance ihr Radio ausschalteten, damit Musiker ungestört auftreten konnten. So ruinierte ein Fahrer zwischen Jojutla und Zacatepec in Morelos den Auftritt eines Musikers mit einem Video, dass er auf der Hälfte der Performance startete: »Während ›Ángel‹ seinen zweiten Bolero spielt, beginnt plötzlich eine Geschichtsdokumentation über die ›Heroes de nuestra Independencia y Revolución‹ auf den zwei alten Bildschirmen des Busses zu flimmern. Die pathosgeschwängerte Stimme des Sprechers, die aus den Lautsprechern über jedem einzelnen Sitz dröhnt, übertönt ›Ángels‹ Gesang und seine Gitarre. Den Musiker scheint zu irritieren, dass der Busfahrer genau jetzt, während seines Auftritts, das Video starten muss, und versucht vergeblich, gegen die Ausführungen über Leben und Tod Emiliano Zapatas anzusingen. […] Nach drei Boleros und etwa zehn Minuten beendet ›Ángel‹ seine Performance,
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sammelt die wenige Coperacha, die ihm angeboten wird, ein und verlässt in Zacatepec sichtlich verärgert den Bus.« (Tagebucheintrag vom 25.9.2010 in TER zwischen Iguala und Cuautla)
Busmusiker wussten meistens bereits anhand der Nummer des Busses, ob es sich überhaupt lohnte, den Fahrer anzusprechen. Endir de León erklärte, dass einige Fahrer schlicht nicht zu überzeugen seien: »Hier gibt es etwa fünf Fahrer, die grundsätzlich niemanden zusteigen lassen. Wenn wir die kommen sehen, dann stehen wir nichtmal auf. Wir bleiben sitzen, weil wir wissen, dass die ›Nein‹ sagen.« (de León, Endir 12.3.2014) Genauso kannte Hexiquio Hernández die meisten Busfahrer in seinem Streckennetz bereits: »Während wir warten, fährt der Bus mit der Nummer 101 an uns vorbei. Hexiquio gibt erst gar kein Zeichen. Er sagt, dass ihn der Fahrer nie mitnehme. Daran habe ich nie gedacht, wenn ich bisher Musiker an der Straßenseite sah und sie keine Anstalten machten, in den Bus zu steigen. Ich habe aus meinen Beobachtungen immer geschlossen, dass Busfahrer Musiker nicht mitnahmen, weil diese nicht darum baten. Offensichtlich verhält es sich häufig genau umgekehrt. Hexiquio kennt fast alle Fahrer auf den Strecken, die er bespielt, und weiß genau, wo er Chancen hat und wo nicht. Er meint, auf dieser Strecke [ruta Iguala – Taxco] gebe es drei Fahrer, die ihn nicht spielen ließen.« (Tagebucheintrag vom 25.11.2010 zwischen Cerro Gordo und Iguala)
Für Busfahrer, die ihnen den Zustieg verweigerten, benutzten viele der Musiker das Schimpfwort »calabaza«, »Kürbis«.25 Busfahrer jedoch, die ihnen Zustieg gewährten und den Ton von Radio oder Video für die Dauer ihrer Performance abschalteten, bezeichneten Musiker als »camaradas«: »Die deine Camaradas sind stellen [den Film] auf Pause oder drehen den Ton runter. Wenn du fertig bist, machen sie wieder lauter.« (García, Jesús 24.9.2010) Nur selten gab es Busfahrer, die einen Musiker mal mitnahmen und mal stehen ließen.26 Trotzdem konnte ein und derselbe Busfahrer für die einen Musiker camarada und für andere calabaza sein und viele Fahrer nahmen nur bestimmte Musiker mit.27 »Ich bin kein Egoist«: Zutritt der Musiker als soziale Verpflichtung Das Schimpfwort »calabaza«, mit dem viele Musiker Busfahrer belegten, zeugte von ihrem geringen Verständnis für die ablehnende Haltung der Fahrer. Manchmal, wenn sie von Busfahrern am Straßenrand stehen gelassen wurden, ließen Busmusiker durchblicken, dass sie es sogar für die soziale Pflicht der Busfahrer hielten, ihnen die Möglichkeit zum Auftritt zu bieten. In diesem Zusammenhang fiel, beispielsweise bei Efraín Balbuena, oft das Wort »egoista«: »Einige sind einfach gemein. Sie lassen mich
25 Die Bezeichnung »calabaza« wurde hauptsächlich von den Musikern im Streckennetz an Costa Chica und Costa Grande verwendet, wurde aber von allen anderen Musikern verstanden. 26 Wenn sie so handelten, lag dies meistens daran, dass sie Informationen über den Zustieg von Inspekteur/innen besaßen. 27 Die Sympathien einzelner Busfahrer nutzten vor allen Dingen Musiker rund um die ehemalige Haltestelle »30-30«, um sich gegen ihre starke Konkurrenz durchzusetzen (vgl. Kapitel 5.3).
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nicht rein. […] Es gibt viele Egoisten und Neider.« (Balbuena, Efraín 28.7.2010) Busfahrer, die sie zusteigen und auftreten ließen, wurden hingegen von vielen Musikern als die Regel betrachtet. So stellte Tomás Ramírez über die Busfahrer auf den rutas entlang der Costa Grande fest: »Die Mehrheit sind Camaradas.« (Ramírez, Tomás 15.8.2010) Auch Hexiquio Hernández urteilte über die Busfahrer: »Das sind halt Freunde. Sie sind Camaradas, die uns arbeiten lassen. Sie sehen, dass wir nichts Böses tun, sondern uns ehrlich den Lebensunterhalt verdienen, und sie geben uns Erlaubnis.« (Hernández, Hexiquio 25.11.2010) Tatsächlich erklärten die Fahrer, mit denen ich während meiner Feldforschung sprach, ausnahmslos, dass sie jeden Musiker28 in ihren Bus ließen. So sagte »Daniel« über sich und seine Kollegen: »Ich nehme Jeden mit. Wir alle nehmen Jeden mit.« (Gespräch mit »Daniel« in SUR zwischen Acatlán de Osorio und Cuautla am 11.12.2010) Die Busfahrer begründeten in meist knappen Worten ihr Handeln damit, dass jeder das Recht habe, seine Arbeit auszuüben, und sie diesem Recht nicht im Wege stehen wollten. »Luca« stellte schlicht fest: »Ich lese alle auf. Wir alle haben das Recht, Geld zu verdienen.« (Gespräch mit »Luca« in TER zwischen Iguala und Buenavista am 26.11.2010) Aus den Aussagen mancher Busfahrer ließ sich sogar ein Gefühl sozialer Nähe zu Musikern und Händler/innen herauslesen, als gäben sie Menschen, die an Bord ihrer Busse inoffiziell ihren Lebensunterhalt verdienten, deshalb die Möglichkeit dazu, weil sie sich als Teil derselben Gruppe betrachteten. So erklärte »Iván«: »Ich lasse sie immer rein. Ich bin kein Egoist zu meinen Leuten.« (Gespräch mit »Iván« in TER zwischen Iguala und Buenavista am 9.11.2011) So hatten manche der Fahrer gelegentlich bis zu fünf Händler/innen und Musiker gleichzeitig in ihrem Wagen. Das soziale Verantwortungsbewusstsein der Fahrer ließ sie vor dem Hintergrund der Risiken, die sie eingingen, beeindruckend selbstlos erscheinen. Jedoch, auch wenn alle Busfahrer mir gegenüber angaben, niemals Musiker am Straßenrand stehen zu lassen, traf ihre Aussage nicht immer zu. So nahmen einige nur manche Musiker immer mit und hielten nicht für andere. Oft entschieden sie auch entsprechend der Informationen, die sie über Inspekteur/innen auf ihrer ruta hatten, ob sie Musiker und Händler/innen zusteigen ließen oder nicht. Fast alle Musiker berichteten von frustrierenden Erfahrungen, die sie durchlebten, wenn mehrere Busse in Folge vorüberfuhren, ohne für sie zu halten. Doch, während einige Musiker Groll gegen abweisende Busfahrer hegten, zeichneten Musiker mit längerer Erfahrung oft ein differenzierteres Bild. José David Jaímez stellte in seinen unzähligen Gesprächen mit Busfahrern an Bord ihrer Busse fest, dass sich keinesfalls alle Fahrer gegenüber músicos ambulantes und Händler/innen verpflichtet fühlten. Anders als Efraín Balbuena, der abweisende Fahrer als »Egoisten« bezeichnete, zeigte José David Jaímez Verständnis für die Position der Busfahrer: »Einmal sagte mir ein Fahrer: ›Schau! Ich werde dir was erklären,‹ sagte er. ›Wir haben euch gegenüber keine Verpflichtung. Das ist eins,‹ sagte er, ›Außerdem seid ihr Passagiere ohne Ticket. Stell dir die Verantwortung vor, die wir für euch übernehmen, welche Probleme wir uns 28 Bis auf eine Ausnahme gilt dies auch für Händler/innen. Nur »Teodoro« gab an, niemals Händler/innen in seinen Bus zu lassen, da Fahrgäste stets die Verpackungen ihrer Waren zurückließen (Gespräch mit »Teodoro« in TER zwischen Iguala und Puente de Ixtla am 3.12.2011)
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mit euch an den Hals laden. Also versetze dich in unsere Lage. Wir sitzen den ganzen Tag hinterm Steuer, sind gestresst und es gibt Momente, in denen wir gar nichts hören wollen. Dann macht dir sogar das Radio schlechte Laune.‹ […] Es ist wahr, dass sie im Durchschnitt 16 Stunden im Bus sitzen. Runde um Runde, Runde um Runde, Runde um Runde. Bei dem Verkehr hier. Stell dir mal vor, wie sie danach drauf sind!« (Jaímez, José David 8.3.2013)
Vom ersten Kontakt zu dauerhaften, reziproken Beziehungen »Das Schwierigste ist geschafft, wenn sie dich einmal zusteigen lassen. Dann steige ich ein: ›Welche Lieder magst du? Magst du Balladen, Norteñas, Corridos oder Canciones Rancheras? Einen Bolero?‹ […] Ich versuche, ihnen etwas Schönes zu singen, ein schönes Stück, damit sie zuhören. Am Ende unterhalte ich mich mit dem Fahrer. Ich versuche halt seine Freundschaft zu gewinnen.« (Hernández, Salvador 4.12.2011)
Vor allen Dingen neue Busmusiker standen mit ihrem Instrument in der Hand am Straßenrand zunächst vor Problemen: sie mussten die Fahrer der vorbeifahrenden Busse auf sich aufmerksam machen, sie dazu bringen, zu halten und ihnen die Chance zu geben, an Bord aufzutreten. Besonders vor dem Hintergrund der verschärften Kontrollen, erforderte es persönlichen Kontakt, damit die Fahrer wussten, für wen sie ihre Arbeit riskierten. Für Efraín Balbuena, der erst spät in seinem Leben den Entschluss fasste, von Musik in Überlandbussen zu leben, bot sich zu Anfang der große Vorteil, dass er viele der Busfahrer auf den rutas durch die Mixteca Poblana bereits durch seine Arbeit als Mechaniker bei der línea SUR kannte. Obwohl diese Bekanntschaften in seltenen Fällen auch zu Problemen führten29, konnte er in viele Busse zusteigen, ohne deren Fahrer erst mühsam auf sich aufmerksam zu machen (Balbuena, Efraín 28.7.2010). Das entgegengesetzte Extrem zu Efraín Balbuena bildete Julio García. Während andere Musiker, die immer auf denselben Strecken auftraten, ein Netzwerk aus bekannten Busfahrern aufbauen konnten, war Julio García, wenn er die Costa Grande Richtung US-Grenze verließ, gezwungen, für jede Performance unbekannte Fahrer auf sich aufmerksam zu machen: »Es ist schwieriger, aber am Ende so wie immer: Es gibt welche, die machen mit und solche die… wenn ich einem Fahrer ansehe, dass er Calabaza ist, […] gehe ich hin und quatsche ihn an, bevor er in den Bus steigt. Danach sage ich ihm: ›Sag an, Chef! Wir spielen ein Lied, wir müssen da und da hin, aber wir haben kein Geld.‹ […] Manchmal nehmen sie uns mit, aber manchmal werden sie patzig [äfft sie nach]: ›Nein, nein, nein!‹ Und sie geben mir keine Chance.« (García, Julio 7.10.2011)
Julio García suchte folglich den persönlichen Kontakt. Diese Methode setzte allerdings voraus, dass der Bus anhielt und der Fahrer bestenfalls den Bus verließ. Aus dem gleichen Grund wählten »Los Pajaritos del Sur« Terminals als Einstiegspunkte entlang der Costa Chica (Villanueva, Gabriel 4.4.2013). Terminals bargen jedoch die Gefahr, dass Inspekteur/innen dort warteten und den Zustieg unmöglich machten. So suchten Musiker Einstiegsorte, die kurz hinter den Terminals und offiziellen Haltestellen lagen
29 Zum Unverständnis, mit dem einige seiner ehemaligen Kollegen Efraín Balbuenas Berufswechsel vom Mechaniker zum Busmusiker begegneten, vgl. Kapitel 4.1.1.
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und die Fahrt der Busse durch Hindernisse bremsten.30 Diese Einstiegsorte boten den Musikern wiederum nicht die Möglichkeit, Busfahrer direkt anzusprechen. Im Angesicht dieses Dilemmas sahen einige Musiker, wie der eingangs zitierte Salvador Hernández, das größte Problem im ersten Schritt, die Aufmerksamkeit der Fahrer das erste Mal auf sich zu lenken, um Zustieg zu ihrem Bus zu erhalten. Doch auf dieses Hindernis folgte lange, harte Arbeit. Nur junge, unerfahrene Musiker erklärten selbstbewusst, sie seien in der Lage, den Busfahrer bei der ersten Performance derart zu beeindrucken, dass er sie in Zukunft immer wieder auflese: »Wenn ich einmal drin bin, lassen sie mich nicht wieder raus. Sie stehen drauf, wie ich spiele.« (García, Jesús 24.9.2010) Die erfahrenen Busmusiker wussten, dass ein gutes Verhältnis zu Fahrern nicht allein von einer erfolgreichen ersten Begegnung abhing, sondern dauerhafter Pflege und sozialem Fingerspitzengefühl bedurfte. So besaß die Geschichte der Erschließung der línea Teotihuacanos durch die Gruppe um José David Jaímez eben keinen plötzlichen Wendepunkt in Form einer einzigen Performance. Vielmehr handelte es sich um zwei Jahre harte Überzeugungsarbeit, im Zuge derer die Musiker für den Busfahrer »El Satánico« vor den Häusern verschiedener Geliebter entlang seiner rutas auftraten und serenatas spielten.31 Schließlich bauten die übrigen Busfahrer der línea Vertrauen zu den jungen Musikern auf, weil sie sie stets in Begleitung ihres Kollegen sahen und nicht weil ihnen auf Anhieb ihre Musik gefiel. Die meisten Musiker verstanden Beziehungen zu Busfahrern, die ihnen Zutritt zu ihren Bussen gewährten, als langen Prozess. Sie entwickelten daher Strategien, mit deren Hilfe sie sich das Vertrauen der Fahrer erarbeiteten und sich langfristig Zutritt zu Überlandbussen verschafften. Das bedeutete, dass die Motivationen der Busfahrer an Bedeutung gewannen. Was bewegte die Fahrer, trotz erheblicher Risiken Musiker in ihre Busse steigen zu lassen? Der Musikgeschmack der Fahrer und die Qualität der Musiker Eine naheliegende Erklärung dafür, dass die Busfahrer músicos ambulantes erlaubten, in ihren Fahrzeugen aufzutreten, war, dass ihnen deren Musik gefiel. Besonders die Tatsache, dass manche Fahrer immer nur für bestimmte Musiker hielten, ließ sich mit den persönlichen musikalischen Vorlieben der Fahrer erklären. Endir de León hatte eben diese Erfahrung gemacht. Er schätzte viele der Fahrer auf den rutas im Streckennetz »Paradero 30-30« so ein, dass sie anhand des Genres und der Fähigkeiten der Musiker entschieden, wen sie in ihren Bus steigen ließen: »Manchmal lassen uns Fahrer nicht zusteigen, weil sie einfach nicht mögen, was wir singen. […] Rubén und ich singen Boleros und es gibt Fahrer, die keine Boleros mögen. Sie stehen auf Cumbia oder Salsa und hassen Boleros. Es hängt also nicht davon ab, ob man gut oder schlecht singt. Sie mögen einfach den Musikstil nicht, den wir spielen. […] Es gibt Fahrer die mich alleine mitnehmen, mich aber stehenlassen, wenn ich mit Rubén unterwegs bin. Andere Fahrer nehmen mich nur mit Rubén mit und lassen mich alleine stehen.« (de León, Endir 12.3.2014)
30 Zu den Gegebenheiten der Transiträume an Ein- und Ausstiegsorten vgl. Kapitel 5.2. 31 Vgl. Kapitel 4.4.2.
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Endir de Leóns Beobachtung, dass manche Fahrer ihn nur ohne beziehungsweise nur mit seinem Partner Rubén Jaímez mitnahmen, deutete er als klaren Hinweis auf musikalische Präferenzen der Fahrer, da er sich alleine aus einem vollkommen verschiedenen Repertoire als im dueto bediente. Auch die anderen Musiker waren, wenn sie auf neue Fahrer trafen, bemüht, deren musikalischen Vorlieben in Erfahrung zu bringen, um ihre Performance entsprechend anzupassen. Salvador Hernández sagte: »Sobald sie mir Erlaubnis geben, gehe ich zu ihnen nach vorne. […] Ich frage sie: ›Hey! Wünschst du dir ein Lied? Sag mir, welches Lied du magst!‹ oder ›Welche Sorte Musik gefällt dir? Lass mal sehen, ob ich eins kenne.‹ Dann singe ich ihnen ein Lied und wenn es ihnen gefällt, ist das gut.« (Hernández, Salvador 28.3.2013) Auf diese Weise nahmen Fahrer aktiv Einfluss auf das Programm, das Musiker in ihren Bussen spielten, und Musiker erweiterten sogar ihr Repertoire entsprechend. So hatte Salvador Hernández mehrere Stücke auf Wunsch bestimmter Fahrer erlernt: »Dieses [singt] Te dedico esta canción/ con el amor que te tengo... [spricht] [...] Über dieses Lied hat mir ein Fahrer gesagt: ›Wenn du in meinen Wagen steigst, sing mir ›Vicky‹! Sing mir das von ›Vicky‹!‹ […]Auch das Lied ›Bonita‹ habe ich für einen Camarada gelernt, der hier allerdings nicht mehr fährt. Den nannten wir ›El Vaquero‹ […] und das Stück lernte ich für ihn. Er sagte: ›Wenn du dieses Lied nicht in so und soviel Tagen lernst, lasse ich dich nicht mehr mitfahren!‹ Und ich habe es gelernt.« (Hernández, Salvador 28.3.2013)
Die Musiker mussten auch berücksichtigen, dass sie Fahrern häufiger begegneten als den meisten Fahrgästen und Gefahr liefen zu langweilen. Salvador Hernández beklagte sich über das repetitive Programm seines Bruders Hexiquio. Ein Busfahrer hatte ihm verraten, dass er Hexiquio Hernández am Straßenrand stehen ließe, weil er das Stück »Las Calzones de la Dama« nicht mehr hören könne (Gespräch mit Salvador Hernández am 9.11.2011). Die urbane Herkunft der Fahrer und die Tatsache, dass viele líneas hauptsächlich junge Fahrer im servicio económico einsetzten, bedeutete in vielen Fällen, dass die Fahrer ganz andere Musik hörten, als die oft älteren Musiker in ihrem eher ländlich konnotierten Repertoire besaßen. So lernte »Mario« aus Iztapalapa in Mexiko-Stadt während seiner Zeit bei der línea Los Galgos an der Costa Grande »Los Pajaritos del Sur« kennen, konnte ihrer Musik jedoch wenig abgewinnen. In seinem Radio spielte er ausschließlich englischsprachige Rockmusik. Entsprechend gut gefielen ihm daher nur die Performances von Tomás Ramírez, der in den Bussen der líneas Los Galgos und AMS hauptsächlich Rock’n’Roll und rock urbano interpretierte: »Der Typ kann geil singen! Respekt!« (Gespräch mit »Mario« in TER zwischen Buenavista de Cuéllar und Cuautla am 14.12.2011) Nichts desto trotz gab »Mario« an, dass er auch »Los Pajaritos del Sur« immer in seinen Bus gelassen habe, sobald er sie am Straßenrand erblickte. Daher mochte der Musikgeschmack der Busfahrer in vielen Fällen einzelne Musiker gegenüber anderen begünstigen, er entschied jedoch zumindest in diesem Fall nicht grundsätzlich darüber, ob »Mario« Musiker stehen oder zusteigen ließ. Revanche, Geschenke und Dienstleistungen Arrangements wie Busfahrer, die Inspekteur/innen bestachen, um über fehlenden Tickets hinwegzusehen, legten bei inoffiziellen Aktivitäten an Bord der Überlandbusse
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die Vermutung nahe, dass stets Geld zwischen den beteiligten Akteur/innen floss. Obwohl jedoch Busfahrer jeden Musiker, der ohne Ticket ihrem Bus zustieg und darin auftrat, die Regeln ihrer líneas brechen ließen, handelten sie offensichtlich, ohne Geld dafür zu erhalten. Ohne Ausnahme verneinten alle Musiker die Frage, ob sie ihre Einnahmen mit Fahrern teilten oder dafür bezahlten, dass diese sie in ihre Busse ließen. So entgegnete Julio García: »Nein! Nein, wer dich mitfahren lässt, lässt dich mitfahren. Der verlangt nicht einen Cent. […] Wenn man noch was abdrücken muss, lohnt es sich gar nicht mehr. Es ist so schon Mist!« (García, Julio 7.10.2011) Teilweise reagierten sie sogar entrüstet auf die Annahme, sie gäben Fahrern Geld, als betrachteten sie solches Verhalten als verwerflich. Meine Beobachtungen bestätigten die Aussagen der Musiker. Während die Busfahrer niemals Anstrengungen unternahmen, Zahlungen an checadores/as zu verschleiern32, so konnte ich bei keiner Performance beobachten, dass Musiker Fahrer bezahlten. Stattdessen ergriffen Musiker meist jede Möglichkeit, sich am oder im Bus nützlich zu machen. Sie halfen, das Gepäck der Passagier/innen zu verstauen. Sie lotsten Busse in enge Haltebuchten und brüllten die Stationen entlang der ruta des jeweiligen Busses. Der Musiker »Alan« aus dem Streckennetz »Paradero 30-30« erklärte, dass es zu seiner Routine gehörte, die wichtigsten Haltestellen der ruta auszurufen, noch bevor er den Fahrer um Erlaubnis fragte: »Du stellst dich neben den Bus und schreist die Cacharco-Rufe[33]: ›Steigt ein! Steigt ein! Potrero! Metro Indios Verdes! 18 de Marzo! Mautstelle! 30-30! Potrero!‹ Du musst schreien, bevor du singen darfst. […] Du musst die Leute rufen, damit sie einsteigen.« (»Alan« 7.10.2010) Im Innern des Busses riefen sie zusteigenden Passagier/innen zu, wo sich im Bus noch freie Plätze befanden, oder wechselten den Fahrern Scheine in Münzen. Efraín Balbuena begann die Routine, mit der er gegen Ende seiner Performance um coperacha bat, stets mit einem Lob an die línea, in deren Bus er gerade auftrat: »In einem ERCO – ein Beispiel – sage ich den Leuten: ›Denken sie dran, mit ERCO zu reisen! Keiner ist sicherer! Keiner ist zuverlässiger!‹ Ich mache Werbung für die Gesellschaft, nicht wahr? Damit der Fahrer sich gut fühlt.« (Balbuena, Efraín 11.12.2010) Unvorhersehbare Situationen, wie Umleitungen, Unfälle oder technische Defekte boten den ortskundigen Musikern Gelegenheiten, sich bei den Busfahrern zu revanchieren. Gerade weil die Busfahrer in der Regel fremd waren, nutzten lokale Musiker wie Hexiquio Hernández ihre Kontakte und Ortskenntnisse um zu helfen: »Kurz hinter der Ausfahrt des Terminals in Buenavista de Cuéllar gibt es ein Problem mit dem Schließmechanismus der Bustür. Hexiquio springt aus dem Bus, der mitten auf der Hauptstraße stehen bleibt, geht einige Meter weiter in eine Fahrradwerkstatt und kehrt mit einem Typ und Werkzeug zurück. Während der Typ und der Busfahrer die Tür reparieren, beruhigt Hexiquio die wartenden Autofahrer, deren Weg durch den defekten Bus versperrt wird.« (Tagebucheintrag vom 25.11.2010 in TER zwischen Buenavista und Iguala)
32 Checadore/as kontrollierten die Abfahrtszeiten der Busse einer línea, um zu verhindern, dass Busfahrer sich absichtlich Zeit ließen, um folgenden Bussen Passagier/innen abzujagen. Busfahrer bezahlten checadores/as, damit sie die offiziellen Abfahrtszeiten anstatt der tatsächlichen notierten. 33 Im Streckennetz »Paradero 30-30« wurden ayudantes als »cacharcos« bezeichnet.
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Fahrer schickten, wenn sie selbst nicht aussteigen konnten, Musiker aus dem Bus, um Dinge in Läden am Straßenrand zu kaufen. Salvador Hernández erklärte nach einer Performance: »Der Fahrer hat mich Zigarettenholen geschickt. […] Er glaubt, ich tue ihm einen Gefallen, dabei tut er mir den Gefallen, weil er mir erlaubt in seinem Bus zu singen.« (Hernández, Salvador 28.3.2013) Trotz der harschen Reaktionen der Musiker im Bezug auf monetären Austausch mit den Busfahrern, schienen sowohl moralische Bedenken als auch ökonomische Überlegungen andere materielle Zuwendungen nicht zu betreffen. Unter den Musikern war es weit verbreitet, sich mit kleinen Geschenken bei den Busfahrern zu revanchieren. In der Regel handelte es sich dabei um Snacks wie tortas, Tacos oder Erdnüsse, um Getränke oder um Zigaretten. So gab Julio García den Busfahrern zwar niemals Geld, lud sie aber öfters auf Getränke ein: »Von Zeit zu Zeit musst du sie auf eine Limo einladen.« (García, Julio 5.4.2013) Nahm ein Busfahrer Geschenke an, lasen die Musiker dies als gutes Zeichen, dass er sie auch bei der nächsten Begegnung in seinem Bus spielen lassen werde. Lehnte ein Fahrer die Geschenke jedoch ab, fassten die Musiker dies als schlechtes Omen auf. Als seine alten Bekannten unter den Busfahrern nach und nach aus dem Dienst schieden, stand Efraín Balbuena hilflos vor der Aufgabe, neue Kontakte zu gewinnen. Sein Scheitern glaubte er, in der Reaktion der Fahrer auf seine Geschenke zu erkennen: »Ich habe alles versucht […], aber ich konnte sie nicht für mich gewinnen. Ich bewundere die Pomaderos, die Salben verkaufen. […] Ich sage mir: ›Wie gewinnen die bloß ihr Vertrauen?‹ Man sieht, dass sie gern gesehen sind. […] Was ich gemacht habe – aber nicht mal so habe ich sie überzeugt – war, dass wir in Palomas oder in Tehui [Tehuitzingo] ankamen und ich ging in den Laden und kaufte ihnen eine Coca Cola. Dann kam ich zurück: ›Schau, eine Cola für dich!‹ – ›Nein, nein, wo denkst du hin?‹ Ich sage ihm: ›Guck, jetzt habe ich sie einmal…‹ – ›Nein,‹ sagt der dann. Gut, zwingen kann ich ihn auch nicht… […] Ich tat das nur, um sie für mich zu gewinnen, nicht? Aber auf diese Weise nicht.« (Balbuena, Efraín 19.3.2013)
In der Tat hatten Händler/innen und die pomaderos, die Efraín Balbuena um ihren Erfolg bei den Busfahrern beneidete, gegenüber den Musikern in Bezug auf Geschenke Vorteile. Sie schenkten den Busfahrern dieselben Waren, die sie den Passagier/innen zum Verkauf anboten. So gaben etwa Getränkeverkäuferinnen dem Fahrer Dosen aus ihrer Kühlbox, oder Snackverkäufer Tüten mit Erdnüssen. Auch pomaderos schenkten Fahrern gelegentlich Dosen mit Cremes oder Fläschchen mit Augentropfen. Die Auftritte der Musiker nach dem coperacha-Prinzip bedeuteten allerdings immer, dass die Busfahrer ohnehin zum Teil ihres Publikums wurden. Eine Ausnahme bildete in diesem Zusammenhang, wenn Busfahrer gegenüber Busmusikern konkrete Musikwünsche äußerten und die Musiker diese Wünsche im Rahmen ihrer Performance berücksichtigten. Die Musiker spielten dann folglich nicht mehr nach dem coperacha-Prinzip, sondern sie erfüllten pedidos, die sie für gewöhnlich einzeln berechneten, aber nun den Busfahrern schenken konnten. Jesús García erzählte, dass er öfter von Fahrern gebeten werde, in ihrem Namen konkrete Stücke attraktiven Passagierinnen zu widmen: »Weil sie scharf auf Frauen sind, sagen sie manchmal: ›Komm, sing eins für die Perle, hier für das Mädchen!‹ Und dann singe ich halt […] für die Mädchen, die einsteigen.« (García, Jesús 24.9.2010) Eine bemerkenswerte Ausnahme bezüglich Geschenken bildeten »Los Pajaritos del Sur«, weil sie – anders als die übrigen Musiker – zunächst Kassetten und LPs und
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später CDs an Bord der Busse verkauften. Wenn sie ihre CDs unbekannten Busfahrern schenkten, dann war dieses Geschenk nicht nur eine freundschaftliche Geste, um sich für die Hilfe zu bedanken. Häufig verschenkten »Los Pajaritos del Sur« ihre CDs an Haltestellen und Terminals an Busfahrer, bevor sie diese überhaupt in ihren Bus ließen. Ihre kommerziell produzierte Aufnahme hatte damit zum Zweck, dass die Fahrer zu Hause oder unterwegs die CD hörten und sich von der musikalischen Qualität des duetos überzeugen konnten: »Ich schenke ihnen eine CD. […] So gewinnt man ihr Vertrauen. Denn dann sagen sie: ›Das sind keine schlechten Musiker! Die sind gut! Und auch noch nett: Sie haben mir eine CD geschenkt.‹« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013) »Los Pajaritos del Sur« verschenkten ihre Tonträger nicht nur an unbekannte Busfahrer, sondern auch an Fahrer, die sie über lange Zeit in ihre Busse steigen ließen. Um den Wert ihres Geschenkes für die Fahrer noch zu steigern, arbeitete Gabriel Villanueva auf seinen aktuellen Aufnahmen Grüße an konkrete Busfahrer in einzelne Stücke ein: »Ich schicke den Fahrern Grüße, wenn sie gut zu uns waren und uns jedesmal mitnehmen. Ich erkenne das an und sage: ›Das ist es wert, einen Gruß zu schicken.‹ Ich sage ihnen: ›Wisst ihr was? Auf der nächsten CD schicke ich euch einen Gruß. Schreib mir deinen Namen auf!‹ Und sie schreiben ihn auf. Es ist schwer, alles für einen Gruß an einen Freund im Kopf zu behalten.« (Villanueva Noyola, Gabriel 10.10.2011)
Meistens finden sich diese Widmungen in der Mitte der corridos des duetos. An dieser Stelle folgt der dritten Strophe des für Gabriel Villanuevas corridos typischen AABAAB-Schemas ein requinto-Solo, über das Gabriel Villanueva zuerst seinen grito schmettert und dann seine Grüße und die Namen der Adressaten spricht. Wie beispielsweise im corrido »El Mano Negra«: ¡Oy, oy, oy – jajajajá! Y esto va en especial para Pedro Jiménez, el chofer de los autobuses Estrella Blanca y Apolinan López Hernández allá en El Rena.
Oy, oy, oy – Hahahaha! Das geht ganz besonderes raus an Pedro Jiménez, den Busfahrer von Estrella Blanca und Apolinan López Hernández, drüben in El Rena. Titel: El Mano Negra Interpret: Los Pajaritos del Sur Komponist: unbekannt Album: Los Internacionales Pajaritos del Sur y su Pesadilla Tropical Jahr: 2010
Die Widmungen auf ihren CDs, bei denen Gabriel Villanueva nicht vergaß, neben dem Namen und dem Wohnort des Fahrers auch seine línea zu nennen, wirkten nicht allein auf die genannten Busfahrer. Gabriel Villanueva erklärte, dass die Widmungen zugleich Referenzen seien. Unbekannte Fahrer bauten dank dieser Zeugnisse ihres guten Verhältnisses zu Kollegen schnell Vertrauen zu den »Los Pajaritos del Sur« auf:
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»Es gibt Fahrer, die uns nicht kennen. […] Ich nehme bewusst aber bescheiden eine CD und schenke sie dem Fahrer des Überlandbusses. Das mache ich, damit sie mich hören. Sie legen sie in ihre Anlage im Bus und hören die Grüße, die ich an viele Fahrer von Estrella Blanca schicke. Warum? Damit sie mich mitnehmen, wenn ich morgen an der Straße stehe, und mich nicht stehenlassen. Warum? Weil die Freundschaft schon zu wachsen beginnt.« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013)
Die CDs, die »Los Pajaritos del Sur« an die Busfahrer verteilten, funktionierten also zugleich als Geschenk, als Sample ihrer musikalischen Fähigkeiten und als Referenzen guter Zusammenarbeit in der Vergangenheit. Letztere Absicht verfolgten »Los Pajaritos del Sur« nicht nur mit neuen Fahrern, die auf diese Weise von der guten Beziehung des duetos zu älteren Kollegen erfuhren, sondern auch zwischen den beiden dominanten líneas an den beiden Küsten Guerreros. So verschenkten sie an Fahrer der Konkurrenz Estrella de Oro CDs mit Grüßen an Fahrer der línea Estrella Blanca: »Ich schenke sogar den Fahrern [von Estrella de Oro] CDs, damit sie erfahren, wer wir sind und warum wir unsere Musik vertreiben. Die Person, der wir die CD schenken, hört sie dann und hört die Grüße, die wir an die Fahrer von Estrella Blanca schicken. Jetzt fangen sie schon an und sagen zu uns: ›Hey! Wann schickt ihr uns mal Grüße?‹« (Villanueva, Gabriel 17.10.2010)
Doch nicht nur »Los Pajaritos del Sur« mit ihren regelmäßigen CD-Publikationen flochten persönliche Grüße in ihre Musik ein. Auch in Live-Performances an Bord der Busse fanden Busfahrer entweder als Berufsstand, als Fahrer einer bestimmten línea oder auch persönlich mit Namen Erwähnung. So begann der unbekannte Musiker im Bus der línea FYPSA zwischen Oaxaca und Tuxtla Gutiérrez sein letztes Stück mit folgender Referenz an den Busfahrer: Ya hemos durado, noble él que va manejando. Pasa que numero uno, siempre nos han ayudado. Usted con su monedita, a guitarra hemos cambiado.
Wir kennen uns schon lange, edler Fahrer. Er ist der Beste und hat uns immer geholfen. Mit Ihrer Münze haben wir zur Gitarre gewechselt. Titel, Interpret und Komponist: unbekannt Transkription einer Aufnahme vom 25.2.2008
Salvador Hernández widmete den Fahrern bei Performances in den Bussen der línea Transportes Estrella Roja de Cuautla (TER) häufig das Stück »Camioncito Flecha Roja«. Dabei wandelte er den Text des Originals von Raful Kayem Sánchez leicht ab, ersetzte das Wort »Flecha« durch »Estrella« und schnitt es so auf die Fahrer der línea zu, die ihm Zustieg gewährten: ¡Camioncito Estrella Roja, no te lleves a mi amor! ¡Pues, mira como me dejas hecho pedazos el corazón!
Kleiner Bus von Estrella Roja, nimm mir nicht meine Liebste! Sieh wie Du mich zurücklässt, mit meinem Herzen in Scherben.
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Ya sonó la campanada echó a andar ya su motor. Revisaron bien sus frenos también tu acelerador.
Die Glocke hat schon geläutet. Der Motor wurde angeworfen. Sie haben die Bremsen geprüft und auch das Gaspedal.
¡No se te olvide, amorcito, que me dejas en la estación! ¡Regresa pronto a mis brazos a calmar este dolor!
Vergiss nicht, meine Liebste, mich lässt Du am Busbahnhof zurück! Kehr bald zurück in meine Arme und beruhig diesen Schmerz!
¡Camioncito Estrella Roja no te vayas por el sol! ¡Vete con toda la orrilla de ese río murmurador!
Kleiner Bus von Estrella Roja, fahr nicht in der Sonne! Fahr immer entlang des Ufers dieses plätschernden Flusses! Titel: Camioncito Flecha Roja Interpret: Salvador Hernández Komponist: Raful Kayem Sánchez Transkription einer Aufnahme vom 24.11.2011
Tatsächlich erzählte »Iván«, Fahrer bei TER, ungefragt, dass Salvador Hernández in seinem Bus jedes Mal seine Version von »Camioncito Flecha Roja« spiele: »›Iván‹ weist nach hinten auf Hexiquio und sagt: ›Sein Bruder singt uns immer das Lied von den Fahrern von Flecha Roja. Das handelt von uns, den Fahrern.‹ Sein Ton macht deutlich, dass er Salvadors Referenz zu schätzen weiß.« (Tagebucheintrag vom 9.11.2011 zwischen Iguala und Buenavista de Cuéllar) Mit Hilfe der Widmungen und Referenzen in den Texten personalisierten Musiker die Stücke, die für alle Menschen im Bus hörbar waren und verwandelten sie somit in ein Geschenk an die Busfahrer. 34 Die Musiker boten den Fahrern auch außerhalb der Busse Gefälligkeiten an. Nahezu alle Musiker hatten bereits auf Hochzeiten, Geburtstagen und zu anderen Anlässen für Busfahrer gespielt. José David Jaímez begann auf diese Art und Weise, das Vertrauen des Busfahrers »El Satánico« zu gewinnen und auch sein Sohn Rubén und dessen dueto-Partner Endir de León spielten auf privaten Feiern (Jaímez, Rubén und de León, Endir 3.11.2011). Dabei kamen die Musiker den Busfahrern häufig mit dem Preis entgegen oder spielten sogar gratis. Julio García berichtete: »Wenn er dich fragt: ›Hey, Alter! Ich habe einen Geburtstag. Helf mir aus! Komm und spiel für meine Freundin, für diese Familie, etcetera!‹ – ›Klar, Alter! Warum nicht!‹ – ›Wie viel nimmst du?‹ – ›Nein, das geht schon klar. Gib mir einfach, was du möchtest, Mann!‹ So steckt man sich einen Fahrer in die Tasche. Auch wenn es Inspekteure gibt, wenn du sein Freund wirst, dann wird er einen Weg finden, dir zu helfen.« (García, Julio 5.4.2013)
34 Viele Musiker unterstrichen die Widmung an die Busfahrer räumlich und begaben sich für eine persönliche Zugabe in die Fahrerräume der Busse (vgl. Kapitel 7.1).
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Gabriel Villanueva erzählte von Busfahrern, die für »Los Pajaritos del Sur« die Regeln der línea brachen und sich auch von Kontrollen nicht abschrecken ließen, weil die Gabriel Villanueva und sein Sohn regelmäßig auf ihren privaten Feiern auftraten: »Da ist ein Kumpel der heißt Juan Carlos. Der ist Busfahrer. Dieser Freund hält immer und nimmt uns mit, egal wo er uns sieht, egal ob er einen Inspekteur im Wagen hat. Warum? Weil wir so eine schöne Freundschaft mit diesem Kerl haben. Wenn seine Kinder Geburtstag haben, spielen wir für sie, wenn seine Frau Geburtstag hat, spielen wir für sie, wenn sein Onkel Geburtstag hat, spielen wir für ihn. So ist das. Das hat uns eine große Freundschaft eingebracht. Warum? Weil auch wir ihn auf diese Weise unterstützen.« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013)
Lorenzo Villanueva lernte bereits als Jugendlicher von seinem Vater, die Busfahrer mit Geschenken für sich zu gewinnen. Während er und sein Vater als »Los Pajaritos del Sur« 1.000 Peso pro Stunde kassierten, spielte Lorenzo Villanueva auf den privaten Feiern der Busfahrer für Getränke oder ganz ohne Vergütung: »Manchmal haben sie einen Geburtstag oder eine andere Feier und sie rufen mich an: ›Hey! Komm!‹ Manchmal geben sie mir Trinkgeld, manchmal geben sie mir nichts. […] Aber ich bin dankbar, für den Gefallen, den sie mir machen, dass sie mir nicht ›Nein‹ sagen, wenn ich einsteige um zu singen.« (Villanueva, Lorenzo 5.10.2011) Viele der Busfahrer, in deren urbanos Lorenzo Villanueva auftrat, lebten zudem in seiner Nachbarschaft, so dass er sie auch häufiger in ihrer Freizeit traf. Auch diese Gelegenheiten nutzte er, um sein Verhältnis zu ihnen zu verbessern. So entdeckte er am Rand des Fußballplatzes eine Gruppe Busfahrer der línea Maxirutas: »Am Spielfeldrand neben der Tribüne stehen einige Typen, die mir Lorenzo als Busfahrer vorstellt – alle Maxirutas. Einer der Männer hatte mir zuvor etwas Angst gemacht. Er wirkt aggressiv, hat mehrere weniger professionell gestochene Tätowierungen und trägt ein eng anliegendes Unterhemd zu Bundfaltenhosen und weißen Lackschuhen. Die anderen der Gruppe stehen um ihn herum. Einige Meter weiter sitzt ein anderer Mann, den Lorenzo als Busfahrer ausweist, allein in einem Campingstuhl. Er ist fett, raucht einen Joint und trinkt Bier aus einer Caguama. Nachdem Lorenzo mich vorgestellt hat, schickt er mich zurück zur Tribüne und entschuldigt sich. Ich kann sie allerdings weiterhin gut sehen und vor allen Dingen hören. Lorenzo spielt zunächst ein oder zwei Stücke für die Gruppe, die laut mitsingt, und dann noch ein Stück für den Busfahrer im Klappstuhl, der dabei herrschaftlich an Lorenzo vorbei auf das Spielfeld blickt. Lorenzo betreibt Public Relations.« (Tagebucheintrag vom 9.10.2011 in Ciudad Renacimiento)
Während Lorenzo Villanueva die Busfahrer, mit denen er täglich in Acapulcos camiones zu tun hatte, in seiner eigenen Nachbarschaft traf, ergab sich für viele der Musiker in Überlandbussen das Problem, dass ein Großteil der Busfahrer und deren Familien nicht in der Nähe ihrer Strecken beziehungsweise ihres eigenen Wohnortes lebten. Selbst wenn sie also den Fahrern anboten, umsonst auf ihren privaten Feiern aufzutreten, so war es für sie aufwendig, kostspielig und häufig ganz unmöglich zu diesen contratos zu gelangen.
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»Hacer amistad«: Langfristige Bindungen gegen die Einsamkeit der Fahrer Obwohl er genau wie die übrigen Musiker jede Gelegenheit nutzte, um sich bei Busfahrern beliebt zu machen, war sich Gabriel Villanueva sicher, dass die Busfahrer weder einzig aus selbstloser Nächstenliebe noch allein aus Interesse an Geschenken und Gegenleistungen Zustieg in ihre Busse gewährten. Er ging davon aus, dass vor allen Dingen die Monotonie und der Stress der Arbeit als Busfahrer die Musiker zu einer willkommenen Abwechslung machten: »Sie haben nicht wirklich was davon. Manchmal sind sie müde, schläfrig. Sie sind schläfrig, weil sie sich nicht ausruhen können. Dann spielen wir und vertreiben ihre Müdigkeit. Sie freuen sich, wenn sie sehen, dass ihre Passagiere sogar schreien und klatschen. Dann sind sie zufrieden, nicht?« (Villanueva, Gabriel 16.10.2010) Dabei verkehrte Gabriel Villanueva das Argument, mit dem Inspekteur/innen Musiker als Sicherheitsrisiko aus Bussen verbannten, ins Gegenteil und erklärte, seine Auftritte machten die Busse sicherer: »Ich finde es falsch, wie die Firmen handeln, wenn sie die Inspekteure auf Personen ansetzen, die niemandem schaden. Im Gegenteil: viele Fahrer fahren schläfrig. […] Es sind schon Unfälle passiert, weil Fahrer müde gearbeitet haben. Das sieht die Firma nicht, aber da irren sie sich!« (Villanueva, Gabriel 16.10.2010) Seine Auftritte an Bord der Busse, so Gabriel Villanueva, belebten müde Fahrer, die danach frischer und konzentrierter ihrer Arbeit nachgehen könnten: »In dieser Angelegenheit würde ich gerne die Chefs dieser Firma erreichen, um sie zur Vernunft zu bringen, nicht wahr? Dass die Person ihr tägliches Brot verdient, den Fahrern Gutes tut und die Passagiere sich wohlfühlen lässt. Der Fahrer wird wieder wach von der Müdigkeit, mit der er arbeitet, denn das ist anstrengend: die heiße Sonne, die langen Reisen – da schläft er ein. Mir sagen viele Fahrer: ›Hör mal, Bruder! Dein Grito[35] hat mich wachgerüttelt. Du hast meine Müdigkeit verscheucht.‹ Und sie fühlen sich gut.« (Villanueva, Gabriel 17.10.2010)
Aus dem gleichen Grund begannen und beendeten die Busmusiker ihre Performances nicht im Gang, sondern im Fahrerraum an der Seite des Busfahrers, mit dem sie sich unterhielten. Gabriel Villanuevas Sohn Lorenzo erklärte, dass nicht nur seine Musik, sondern besonders die anschließende Unterhaltung den gestressten Fahrern Entspannung verschaffe: »Wir machen halt Faxen über dies und jenes. […] Ich lasse sie was erzählen, nicht? Denn oft ist ihre Arbeit langweilig, Runde für Runde, bremsen, oft dichter Verkehr, Hitze, oft fahren sie müde, fahren sie schläfrig, was weiß ich. Manchmal sind sie schlecht drauf wegen des Verkehrs. Dann unterhalten wir uns über etwas anderes und das erhöht ihre Moral, und die schlechten Gedanken lösen sich auf, nicht? Ich glaube schon, dass ihnen das auch gefällt.« (Villanueva, Lorenzo 4.4.2013)
Hexiquio Hernández, der sich allerdings selbst nicht immer an diese Maxime hielt, erklärte, dass die Busfahrer von den Musikern auch erwarteten, dass sie sich zum Ende ihrer Performance wieder vorne im Fahrerraum einfanden, um sich mit ihnen zu unterhalten: 35 Zu Gabriel Villanuevas grito vgl. Kapitel 7.2.
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»Du musst dich mit ihnen unterhalten. Es hat schon Fahrer gegeben, die uns gesagt haben: ›Wie gut, dass ich dich getroffen habe. Ich bin so schlapp und müde,‹ sagen sie. Von der Gitarre wachen sie auf und werden fit […] Du singst und dann gehst du rüber und unterhälst dich mit ihnen, dass mögen sie.« (Hernández, Hexiquio 29.3.2013)
So bildeten die Unterhaltungen mit den Fahrern einen festen Bestandteil der Performances von Busmusikern. Während die Musiker sich neuen Bekanntschaften mit Smalltalk annäherten, betrachteten sie das Verhältnis zu Fahrern als enger, sobald relajo, der mit schlüpfrigen Inhalten gespickte Humor ins Spiel kam und sich Musiker und Fahrer die meist sexuell ausgerichteten albures, Wortspiele und Doppeldeutigkeiten entgegneten. Häufig drehten sich die Gespräche dabei um Frauen unter den Fahrgästen oder am Fahrbahnrand.36 Wenn músicos ambulantes es geschafft hatten, ein gutes Verhältnis zu Busfahrern aufzubauen, dann waren es oft nicht mehr sie, die die Busfahrer um Zustieg baten, sondern die Busfahrer hielten und baten umgekehrt die Musiker, sie zu begleiten und gelegentlich sogar über ihre Strecken hinaus an Bord der Busse zu bleiben. Lorenzo Villanueva berichtete, dass er häufig bis an die Endstationen in Bussen blieb, wenn die Fahrer es verlangten: »Denen gefällt es auch. Sie haben Spaß, oder? […] Manchmal muss ich bis zum Terminal bei ihnen bleiben oder bis zum Sanbourns: ›Komm, los, los!‹ Das macht denen Spaß! Sonst wären sie nicht so freundlich.« (Villanueva, Lorenzo 5.10.2011) Auch Endir de León erzählte, dass er häufig bis zur Endstation in Bussen blieb, um sich weiter mit Fahrern zu unterhalten. Dabei verbesserte er nicht nur das Verhältnis zum Busfahrer, der ihn mitnahm. Der Fahrer öffnete ihm auch die Tür zum Betriebshof der »Central de Autobuses del Norte«, wo Endir de León wiederum Kollegen des Fahrers vorgestellt wurde und neue Kontakte knüpfen konnte: »Die Busfahrer sind wie unsere Gang. Wenn sie uns sehen, auch wenn wir nicht singen, nehmen sie uns mit: ›Komm, los geht’s!‹ […] Sie sagen uns: ›Wie geht’s? Willst du von hier [Metro El Potrero] bis zur 30-30 singen? Komm mit bis Otumba!‹ Bis dahinten. Nur zum Spaß, um zu quatschen. […] Früher ist mir das oft passiert, dass sie mich mit in die Central del Norte mitnahmen. Ich stieg an der 30-30 ein und sie sagten: ›Wir fahren bis zur Central! Von dort kommst du wieder hier hin.‹ Ich fuhr mit und lernte viele Fahrer kennen, wenn mich einer zur Central mitnahm. Dort waren alle Fahrer, nicht? Da hängen sie in einem Bus zum quatschen ab, und dort redete ich mit ihnen. Und wenn man schon einmal mit ihnen geredet hat und sie sehen einen dann hier: ›Hey, was gibt’s! Komm, steig ein!‹ So macht man aus Smalltalk eine Freundschaft.« (de León, Endir 12.3.2014)
Also waren nicht nur die Musiker an einem guten Verhältnis zu den Busfahrern interessiert. Die Busfahrer versuchten offensichtlich ebenfalls Beziehungen zu Menschen aufzubauen, die sie entlang ihrer rutas täglich sahen. Sei es, um ihre monotone Arbeit
36 Der Inhalt des relajos markierte die Fahrerräume in mexikanischen Überlandbussen als männlich dominierte Räume und mehrere meiner Interviewpartner erklärten die Abwesenheit von Musikerinnen an Bord der Überlandbusse mit dem Machismo der Busfahrer, der Frauen den Zugang in die Busse erschwere (vgl. Kapitel 3.1).
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abwechslungsreicher zu gestalten oder um die berufsbedingte Einsamkeit zu überwinden. Die Haltestelle »30-30« beherbergte dafür einen beeindruckenden Beweis. Seit einigen Jahren trafen auf einem Sportplatz nahe der Haltestelle in unregelmäßigen Abständen zwei Fußballmannschaften aufeinander. Die eine Mannschaft bestand aus Händlern und Musikern der Haltestelle und die andere aus Busfahrern der línea Teotihuacanos. Sowohl Endir de León als auch Rubén Jaímez nahmen an den Spielen teil. Ein checador, der an der ehemaligen Haltestelle Abfahrtszeiten notierte und zugleich sämtliche Händler/innen und Musiker, die tagtäglich neben ihm an der autopista saßen, kannte, hatte die Idee zu dem Spiel und organisierte es seitdem (de León, Endir 12.3.2014). Das Spiel bot den Händlern und Musikern, die daran teilnahmen, eine hervorragende Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen: »Während des Spiels lernten wir die Fahrer besser kennen. Denn nach dem Spiel gab es in der Regel ein Essen. Wir machten Essen, manche tranken. […] Wir lernten uns besser kennen und danach nahmen sie uns öfter mit.« (de León, Endir 12.3.2014) Gerade weil es ein unparteiischer Dritter in der Person des checadors ohne offensichtliche Hintergedanken organisiert hatte, unterschied sich das Fußballspiel von anderen Annährungsstrategien. Es diente nicht dem persönlichen Vorteil einzelner Musiker, sondern brachte zwei Gruppen, Busfahrer und músicos ambulantes beziehungsweise Händler/innen, einander näher. Die Veranstaltung war ein so großer Erfolg, dass beide Gruppen sich bis 2014, also bis lange nach der Verlegung der Haltestelle an die »Puente Morelos«, insgesamt viermal trafen und die Musiker und Händler der »30-30« auch gegen eine Mannschaft der Fahrer der línea Cometa de Oro spielten und auch hier ihre Beziehungen verbessern konnten (de León, Endir 12.3.2014). Oft entwickelten sich folglich aus dem Interesse der Busfahrer an Unterhaltung und den diversen Bemühungen der Busmusiker, die Sympathien der Fahrer zu erlangen, reziproke Freundschaften, in denen Musiker nicht mehr die Notwendigkeit verspürten, ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis durch Geschenke und Dienstleistungen auszugleichen. Gabriel Villanueva schloss im Laufe seiner Karriere in den Überlandbussen mehrere solcher Freundschaften mit Busfahrern, die ihn sogar als Paten bei der Hochzeit seines Sohnes unterstützten und zu seinen compadres wurden (Villanueva, Gabriel 10.10.2011). Auch wenn Gabriel Villanueva diese Busfahrer weiterhin auf Getränke einlud und mit CDs und Widmungen bedachte, so bestand er darauf, dass diese Aufmerksamkeiten nicht dazu dienten, die Fahrer zu korrumpieren, sondern dass es sich vielmehr um Ausdrücke ihrer bereits bestehenden Freundschaft handelte: »Was machen wir, wenn wir das Glück auf unserer Seite haben und ordentlich Kohle mit dem Beitrag der Leute einnehmen? Was machen wir? Im nächsten Ort sagen wir freundlich zum Fahrer: ›Wenn Sie eine Limo möchten, laden wir Sie ein.‹ Wenn sie wollen. Wenn sie nicht wollen, sagen sie: ›Nein.‹ Wenn sie ›Ja‹ sagen kaufen wir ihnen eine. Das ist aus Freundschaft, für das Vertrauen zwischen uns und den Busfahrern. Das machen wir nicht, um sie zu kaufen, damit sie sich verpflichtet fühlen, uns mitzunehmen. Nein. Wir machen das nicht mit dieser Absicht. Wir machen das, weil wir Vertrauen zu ihnen haben, wunderschönes Vertrauen, weshalb sich auch die Fahrer wohlfühlen.« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013)
Die Busfahrer des servicio económico, in dem die músicos ambulantes in der Regel auftraten, hatten einen harten und schlecht bezahlten Beruf, der sie über Wochen von ihrer Familie und ihrem Wohnort trennte. Ihr Beschäftigungsverhältnis hatte nicht nur
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zur Folge, dass sie wenig Loyalität gegenüber ihren Arbeitgebern verspürten und außerhalb der Terminals als Herren über ihre Fahrzeuge verstanden. Ihre Arbeit war zudem monoton und einsam. Obwohl es sicherlich half, wenn Musiker den Musikgeschmack der Busfahrer trafen oder sie mit Geschenken bedachten, so entwickelten sich doch in vielen Fällen reziproke Beziehungen. Busfahrer lasen Musiker und Händler/innen am Straßenrand auf, da sie nach Unterhaltung und Gesellschaft suchten. Erst die junge Bedrohung durch Inspektor/innen der líneas verkomplizierte das Verhältnis zwischen Busfahrern und den von ihnen geduldeten blinden Passagier/innen. Besonders im Streckensystem »Costa Chica und Costa Grande« vertrieben Inspekteur/innen einen großen Teil der músicos ambulantes, während sie in den übrigen Streckensystemen lediglich als düstere Zukunftsaussicht betrachtet wurden.
6.3 BEITRAG ODER ALMOSEN?: DAS SOZIALE ANSEHEN VON MUSIK IN ÜBERLANDBUSSEN »Viele Leute schauen dich abfällig an, […] als ob sie sagten: ›Kann der nicht anders arbeiten? Gibt es etwa nicht genug Arbeit?‹ Oder sie machen sich lustig. […] Auch wenn sie nichts sagen. […] Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich fertig gespielt habe: ›Ich bitte um Entschuldigung, dass ich ihre Reise unterbrochen habe, ihre Lektüre, ihre Unterhaltung, nicht? Ich bin halt weder ein großer Sänger noch ein großer Musiker, nicht? Ich versuche nur, mir auf ehrenwerte Weise meinen Lebensunterhalt zu verdienen.‹« (Villanueva, Lorenzo 4.4.2013)
»Solamente trato de ganarme la vida honradamente«, »Ich versuche nur, mir auf ehrenwerte Weise meinen Lebensunterhalt zu verdienen.« – dieser Schlüsselsatz in Lorenzo Villanuevas Zitat zog sich, in leichten Variationen, wie ein Leitmotiv durch die Performances aller Musiker, die ich in Überlandbussen begleitete. Meist tauchte er in abschließenden Monologen auf, die mal über die Akkorde des letzten Stückes gerufen und mal als monotone Routine mit gesenktem Blick auf dem Weg durch den Gang gemurmelt wurden. Während dieser Satz und konkreter das Adverb »honradamente«, »ehrenwert« die Monologe der Musiker an Bord der Busse dominierte, betonten Musiker in Interviews immer wieder bestimmt und ungefragt »¡Eso es mi trabajo!«, »Das ist meine Arbeit!«. Beide Sätze bestärkten die Annahme, dass die Musiker das Gefühl hatten, sich gegen eine andere Wahrnehmung wehren zu müssen. Möglicherweise handelte es sich dabei um die Fremdauffassung, dass sie für ihr Geld nicht arbeiteten, sondern es erbettelten, bis hin zu Vorwürfen und Maßnahmen, die sie sogar mit Räubern und anderen Kriminellen in Verbindung brachten. Die mantra-artige Wiederholung ihrer Verteidigung erweckte gelegentlich aber auch den Verdacht, dass sie den Musikern dazu diente, sich selbst zu überzeugen. Es schien als ob sich die músicos ambulantes wie Lorenzo Villanueva, der seine musikalischen Fähigkeiten herunterspielte, selbst nicht ganz sicher seien, ob sie ihre Betätigung an Bord der Busse als Arbeit, als Kunst oder als Bettelei bezeichnen sollten. Dabei spielten dieselben Musiker auf privaten Feiern, wo sie bis zu 1.000 Peso pro Stunde verlangten und weder in ihren Ansagen erklärten, dass sie gerade einer ehrbaren Arbeit nachgingen, noch den Eindruck machten, sie schämten sich für ihren Broterwerb. Dieser bemerkenswerte Unterschied zwischen den Performances der Musiker ließ vermuten, sie befürchteten,
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sie würden an Bord der Busse nicht anhand musikalischer Fähigkeiten, sondern anhand des Raumes, in dem sie auftraten, beurteilt. Diese Vermutung lag nah, weil auch in anderen Arbeiten über urbane Straßenmusiker und Musiker im öffentlichen Nahverkehr festgestellt wird, das Können dieser Musiker bliebe oft unerkannt (vgl. Tanenbaum 1995: X; Weingarten 2010 und Weinstein 2011: XIV). Vor diesem Hintergrund war es interessant, auch die Passagier/innen in Überlandbussen zu beobachten und zu befragen, ob sich die vermeintlichen Vermutungen der Musiker bestätigten. Hatten sie das Gefühl, dass ihnen etwas, das ihr Geld verdiente, geboten wurde oder empfanden sie die Musiker als akustische, optische, physische, vielleicht auch soziale Belästigung, der sie sich nicht entziehen konnten? Gaben sie den Musikern eine coperacha, als Beitrag zu einer musikalischen Performance oder spendeten sie eine caridad aus Barmherzigkeit gegenüber vermeintlich Bedürftigen? Dieses Unterkapitel beginnt daher mit der Sicht der Passagier/innen auf die músicos ambulantes und ihre Arbeit. Die Musiker hatten jedoch nicht allein mit der vermeintlichen Geringschätzung durch ihr Publikum zu kämpfen. Das Unterkapitel zeigt, wie sie selbst ihre Arbeit, in die sie in der Regel durch ökonomische Krisen gezwungen wurden, als erniedrigende Übergangslösung erfuhren. In den meisten Fällen gelangten sie erst durch einen Prozess der Professionalisierung zum Selbstverständnis, einer »ehrlichen Arbeit« nachzugehen. Der letzte Abschnitt dieses Unterkapitels beschreibt den Umstieg Lorenzo Villanuevas von den Überlandbussen entlang der Küste in die urbanen Busse im hektischen Stadtverkehr der Hafenmetropole Acapulco. Dieser Wechsel zeigt nicht nur, dass unterschiedliche Bustypen sehr verschieden Einfluss auf Performances in ihrem Innern nahmen. Er verdeutlicht auch, wie die räumlichen Umstände der urbanen Busse Lorenzo Villanueva jener Attribute beraubten, an die er seine professionelle Würde knüpfte. Weshalb er den Umstieg als sozialen Abstieg empfand. »Jeder hat eine Arbeit«: Die Sicht der Passagier/innen Auch in der Fachliteratur pendeln Musiker/innen im öffentlichen Raum oft zwischen Arbeit, Kunst und Bettelei. So schreibt Wald über seine eigenen Erfahrungen als Straßenmusiker in Europa: »In Europe, this [busking] has become a rather degraded art: most of the players are either youngsters who will only be busking for a year or two, or hardened wastrels and layabouts who have given up on any hopes of making an honest living.« (Wald 2002: 232) Domínguez Prieto schließt in ihrer Arbeit über Musiker/innen in Mexiko-Stadts Metro explizit jene aus, die sie als »músicos de supervivencia«, »Überlebensmusiker« bezeichnet und wie folgt definiert: »jene, die diese Tätigkeit allein wählen, um auf diese Weise zu überleben« (Domínguez Prieto 2010: 172). In diese Gruppe fallen Musiker/innen, die sie als »músicos invidentes«, »blinde Musiker« und »músicos indígenas«, »indigene Musiker« bezeichnet (ebd.: 173-174). Die physischen Eigenschaften oder die ethnische Zugehörigkeit lassen Domínguez Prieto annehmen, dass Behinderungen beziehungsweise gesellschaftliche Ausgrenzung diesen Menschen keine andere Wahl ließen, als sich als Musiker/innen in der Metro zu betätigen. Sie unterstellt auch, dass die musikalischen Fähigkeiten der »músicos de supervivencia« häufig ungenügend seien und dennoch von Fahrgästen belohnt würden (ebd.: 173). In ihrer Darstellung als Empfänger/innen von Geld ohne
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würdige musikalische Gegenleistung werden die »músicos de supervivencia« von Musiker/innen zu Bettler/innen mit Musikinstrumenten. Wald, der die musikalischen Fähigkeiten der blinden Musiker/innen in der U-Bahn Mexiko-Stadts ähnlich wie Domínguez Prieto bewertet, kommt direkt zu dieser Aussage: »[M]ost of the musicians I heard on the Mexico City subway were blind beggars, strumming a single monotonous chord or puffing on a harmonica as an excuse to ask for alms[.]« (Wald 2002: 232) Allerdings erwähnt Wald die vermeintlichen Bettler/innen der Metro MexikoStadts, ebenso wie die Straßenmusiker/innen Europas, überhaupt erst, um im Kontrast zu ihnen die Musiker/innen in südmexikanischen Überlandbussen hervorzuheben. Denn deren Professionalismus manifestiere sich im Vergleich zu den blinden Musiker/innen der Metro in ihren größeren musikalischen Fähigkeiten. So verwendet Wald auch den Begriff »work«, um die Tätigkeit der Busmusiker zu bezeichnen: »In southern Mexico, there is far more professionalism. […] [T]he southern bus musicians include many of the finest rural performers. This is the most profitable, and often the only available, venue for their work, and many of them will spend their lives traveling from small town to small town[.]« (Ebd.: 232) Unter den Passagier/innen, die ich interviewte, teilten nur wenige Walds Meinung, dass sie in den Bussen, in denen sie sich durch Guerrero, Puebla, Morelos und den Estado de México bewegten, auf »many of the finest rural performers« träfen. Die meisten Passagier/innen kamen zu dem Urteil, dass viele Musiker an Bord der Überlandbusse über ungenügende musikalische Fähigkeiten verfügten oder gar nicht als Musiker zu bezeichnen seien: »Einige können es einfach nicht. Sie tun nur so [spielt Luftgitarre]. Aber nee! [lacht]« (Passagier 6 in Teotihuacanos zwischen Otumba und Autobuses del Norte, 40 Jahre, 29.11.2011) Wie dieser Reisende antworteten die meisten der befragten Passagier/innen in allen vier Streckennetzen, dass gute Musiker in Überlandbussen selten seien. Dennoch gab die Mehrheit, wie auch der oben zitierte Fahrgast, an, unabhängig von der musikalischen Qualität der Performance immer eine coperacha zu geben. Bis auf drei Ausnahmen empfand niemand unter den 59 Befragten die Busmusiker als eine Belästigung. »Alle haben das Recht, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Deshalb gibt man etwas, denn sie haben Familie und davon leben sie.« (Passagier 3 in TER zwischen Puente de Ixtla und Iguala, 55 Jahre, 4.12.2011) Dieser Passagier in einem Bus der línea TER erklärte, dass er Musiker in Bussen toleriere, weil er ihnen nicht ihren Lebensunterhalt verwehren wolle. Ein anderer Passagier antwortete auf die Frage, ob er Musikern am Ende der Performance eine coperacha gab, nicht nur für sich, sondern stellvertretend für alle Passagier/innen: »Ich glaube, alle geben diesen armen Menschen von Herzen gern. Davon leben sie.« (Passagier 2 in AGC zwischen Acapulco und Tecpan, 17.11.2011) Wie diese beiden Männer betrachtete die Mehrheit der Befragten die Musiker als Bedürftige und daher ihre Toleranz gegenüber den Musikern und die coperacha gegen Ende der Performance als soziale Verpflichtung. Entsprechend verwendeten Passagier/innen bis auf zwei Ausnahmen, die von »cooperación«, »Beitrag« beziehungsweise von »cooperar«, »beitragen« sprachen, in Interviews die Begriffe »propina«, »Trinkgeld«, »ayuda«, »Hilfe« oder »apoyo«, »Unterstüzung«, wenn sie das Geld bezeichneten, dass sie den Musikern gegen Ende der Performance gaben. Sie benutzten somit Begriffe, die der coperacha einen karitativen Anstrich verliehen. Einige der Befragten gaben zudem an, dass sie an Busmusikern schätzten, dass sie nicht in die Kriminalität abfielen. Eine Passagierin auf einer der überfallgeplagten
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rutas der línea Teotihuacanos sagte: »Es ist besser, sie arbeiten, als dass sie stehlen, oder?« (Passagierin 4 in Teotihuacanos zwischen Otumba und Autobuses del Norte, 52 Jahre, 29.11.2011) Wie letztere Passagierin, die Tätigkeit der Busmusiker als »trabajar«, »arbeiten« bezeichnete, zog die überwiegende Mehrzahl der Befragten aus der Bedürftigkeit, die sie Busmusikern unterstellten, keinesfalls den Schluss, dass die Musiker Bettler seien. Für die meisten Passagier/innen bestand kein Zweifel, dass die músicos ambulantes in den Bussen einer Arbeit nachgingen. Ein 54-jähriger Vertreter von Enzyklopädien in einem Bus der Kooperative AGC erklärte: »Wir alle müssen kämpfen. Wir gehen arbeiten. Jeder auf seine Weise. Ich halt anders. Aber alle suchen wir ein Einkommen, das wir nach Hause bringen können.« (Passagier 7 in AGC zwischen Acapulco und Tecpan, 54 Jahre, 17.11.2011) Genauso antwortete ein Rentner in einem Bus línea AMS: »Jeder hat eine Arbeit.« (Passagier 2 in AMS zwischen Acapulco und Tecpan, 74 Jahre, 18.11.2011) Wie diese beiden Passagiere an der Costa Grande antworteten viele auf die Frage, ob sie sich an den Performances der Musiker an Bord der Busse störten, dass die Arbeit eines/r Jeden zu respektieren sei. Andere sprachen von »ganarse la vida«, »den Lebensunterhalt verdienen« und gelegentlich fiel auch unter Passagier/innen in diesem Zusammenhang der Begriff »honradamente«, »ehrenwert«. So begründete ein Ehepaar, warum es Jesús García am Ende seiner Performance Geld gegeben hatte: »Weil der Junge auf ehrenwerte Weise seinen Lebensunterhalt bestreitet.« (Passagiere 5 in AMS zwischen Acapulco und Tecpan, Ehepaar 53 und 52 Jahre, 18.11.2011) Interessanterweise verknüpften nur zwei der befragten Passagier/innen die mangelhaften musikalischen Fähigkeiten, die sie den Musikern unterstellten, mit dem Anspruch der Arbeit als Busmusiker, so dass sie zu dem Schluss kamen, es handle sich um eine denkbar einfache Arbeit, die kaum Qualifikationen erfordere: »Wenn man in diesem Sinne über die Musiker spricht, ist es einfach: du verlässt oder kündigst deine Arbeit oder sie entlassen dich oder deine Firma geht pleite, […] dann ist es einfach, deine Gitarre zu nehmen und düdüdüdü [imitiert Musiker], nun gut, sich etwas zu verdienen.« (Passagier 6 in Teotihuacanos zwischen Otumba und Autobuses del Norte, 40 Jahre, 29.11.2011) Auch bedeutete die niedrige Meinung, die Passagier/innen bezüglich der musikalischen Fähigkeiten der Musiker ausdrückten, eben nicht, dass sie die Performance der Musiker als wertlos für sich und andere Passagier/innen betrachteten. Was sie in erster Linie daran schätzten, waren nicht die technischen Qualitäten der Musiker, sondern die Unterhaltung, die ihre Fahrtzeit verkürzte und von den Sorgen ihres Alltags ablenkte. Der bereits zitierte Vertreter im Bus der Kooperative AGC erklärte: »Nicht alle singen großartig, aber sie tun es mit der guten Absicht, die Leute abzulenken, damit sie Spaß haben. […] Sie verdienen ihr tägliches Brot. Und die Arbeit eines jeden ist schön. Sie machen auch ihre Arbeit und sie baut den Stress der Menschen ab. Der Gesang lenkt einen ab.« (Passagier 7 in AGC zwischen Acapulco und Tecpan, 54 Jahre, 17.11.2011)
Ein anderer Fahrgast erklärte, dass auch für ihn der Reiz der Performances von Busmusikern in der Ablenkung der Passagier/innen liege und deren Stimmung hebe: »Mir gefällt es, weil sie die Leute unterhalten, nicht wahr? Auch wenn es nur Musik ist. Sie bringen ein bisschen Freude zu denen, die traurig sind. Dann müssen sie eine Zeit nicht
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nachdenken. Ja, während sie spielen, ist es gut.« (Passagier 7 in AMS zwischen Acapulco und Tecpan, 27 Jahre, 18.11.2011) Eine dritte Passagierin gab an, dass ihr die Auftritte von Busmusikern zumindest halfen einzuschlafen: »Mir gefällt es. Mich lullt es in den Schlaf. [lacht]« (Passagierin 5 in AGC zwischen Acapulco und Tecpan, 30 Jahre, 17.11.2011) »Als wäre man ein Straßenkind«: Die Erfahrungen der Musiker Auch wenn Passagier/innen sich in Interviews tolerant gegenüber músicos ambulantes äußerten und erklärten, dass sie die Tätigkeit der Musiker sehr wohl als Arbeit betrachteten, so empfanden Musiker dennoch Geringschätzung als dominante Reaktion ihres Publikums. Entweder äußerten sich Passagier/innen in Interviews toleranter als gegenüber den Musikern, die Musiker missinterpretierten die Reaktionen ihres Publikums oder den Musikern reichte die schlichte Duldung durch die Passagier/innen nicht aus, um sich als Künstler verstanden zu wissen. Die Busse würden, so Gabriel Villanueva, in der Wahrnehmung der Passagier/innen zu Räumen erfolgloser, musikalischer Dilettanten, und er selbst werde gefragt, was er als »guter« Musiker darin verloren habe: »Die Leute sagen: ›Ihr spielt schön. Ihr solltet nicht in den Überlandbussen spielen. Warum spielt ihr in den Bussen?‹« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013) Auch Gabriel Villanuevas Sohn Lorenzo sprach von den Reaktionen, wenn Passagier/innen bemerkten, dass sie gerade »Los Pajaritos del Sur« hörten: »Viele Leute kennen uns, aber nicht persönlich, und wenn sie uns in den Überlandbussen sehen, sind sie sehr überrascht, nicht?« (Villanueva, Lorenzo 16.10.2010) Dank ihrer großen Popularität erkannten Fahrgäste »Los Pajaritos del Sur« folglich auch an Bord der Busse als professionelle Musiker, obwohl sie offensichtlich Schwierigkeiten hatten diese Wahrnehmung mit dem Raum der Performance in Einklang zu bringen. Weniger berühmte Musiker hatten hingegen häufig das Gefühl, die musikalische Qualität ihrer Performance werde von den Passagier/innen überhaupt nicht registriert. Übrig bliebe ihre Wahrnehmung als bedürftige Bettler, so Salvador Hernández: »Sie sehen die Arbeit, als wäre man ein Straßenkind.« (Hernández, Salvador 28.3.2013) Musiker beklagten sich, dass sich dieses Bild der Busmusiker als Bedürftige auch auf andere Lebensbereiche übertrage, sie in ihrer Nachbarschaft und ihrem Umfeld stigmatisiere und sie zu sozialen Außenseitern mache. Zum Beispiel ärgerte sich »Eduardo« über seine Nachbar/innen in Ecatepec. Er echauffierte sich, weil er nur als músico ambulante und nicht mit Rücksicht auf seine vergangene berufliche Karriere als leitender Bankangestellter oder als Personalchef in einer Fabrik beurteilt wurde. Die Vorverurteilung von Busmusikern an sich, schien er hingegen als gegeben hinzunehmen: »Die Leute dort, wo ich wohne, […] sehen mich mit meiner Gitarre und für sie bin ich der Bussänger. Aber sie wissen nichts über mich und behandeln mich trotzdem so!« (»Eduardo« 7.10.2010) Aus ihrem Eindruck, dass Passagier/innen sie als Bettler betrachteten und kaum musikalisches Niveau erwarteten, leiteten die Musiker ab, dass ihre Performances an Bord der Busse eben nicht als Arbeit angesehen wurden. Sie reagierten äußerst empfindlich auf entsprechende Äußerungen, die sie offensichtlich häufiger vernahmen, als meine Interviews mit Passagier/innen vermuten ließen. Julio García erklärte, dass er als Busmusiker zwar selten auf offene Ablehnung stoße, aber durchaus mitbekam, wie Fahrgäste ihre abfälligen Kommentare hinter vorgehaltener Hand austauschten. Viele
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hielten ihn für faul und unterschätzten seine Leistung: »Viele Leute denken das. Denn ich habe gehört – obwohl sie mir zum Glück noch nichts direkt gesagt haben – aber ich habe überhört, wie sie sagen: ›Der stellt sich doof.‹ – ›Wenn der eine richtige Arbeit hätte…‹ – ›Der singt nur und vertrödelt die Zeit.‹« (García, Julio 5.4.2013) Obwohl Hexiquio Hernández von vielen positiven Reaktionen auf seine Performances berichtete, nahm auch er ganz andere Einstellungen gegenüber seiner Arbeit an Bord der Busse wahr, als sie meine Interviewpartner/innen unter den Passagier/innen vermittelten: »Es gibt viele Leute, die – so habe ich gehört – diese Arbeit für Arbeit von Faulpelzen halten. Wir nennen es Arbeit von Faulen, von solchen, die nicht arbeiten wollen. Und viele Leute sagen: ›Arbeit für Faulpelze!‹ sagen sie ›Die ziehen nur singend durch die Busse!‹ sagen sie. ›Anstatt zu arbeiten!‹« (Hernández, Hexiquio 29.3.2013) Sehr ähnliche Erfahrungen machte Efraín Balbuena, und wie bei Julio García und Hexiquio Hernández ließen Reaktionen aus Efraín Balbuenas Publikum darauf schließen, dass Passagier/innen ihm nicht zugestanden, seinen Lebensunterhalt auf diese Art zu verdienen, weil er in der Lage sei, eine andere, in ihren Augen »echte« Arbeit auszuführen: »Ich weiß, dass viele Leute glauben, es sei einfach. Viele sagen: ›Ah, das ist nur, weil er nicht arbeiten will. Aber der kann noch arbeiten! Der soll arbeiten gehen!‹ […] Ich habe schon welche getroffen, die mir gesagt haben: ›Nein, du bist stark und arbeitest nicht.‹« (Balbuena, Efraín 28.7.2010) Die geringe Wertschätzung begründeten Efraín Balbuenas Kritiker/innen also mit den beruflichen Alternativen, die der vermeintlich gesunde und kräftige Mann zu Gunsten der Musik in Bussen nicht wahrnahm. Dieser Kritik lag folglich die Auffassung zugrunde, Musik an Bord von Überlandbussen habe keine freie Entscheidung zu sein, sondern ergebe sich einzig aus Mangel an Alternativen, die in diesem Fall aus der körperlichen Verfassung des Musikers abgeleitet wurden. Bei genauerer Betrachtung bildeten Kommentare dieser Art die Kehrseite der Meinung, dass Musiker mit ihren Auftritten an Bord der Busse dem Abfall in die Kriminalität trotzten. Salvador Hernández sagte, häufig erhielte er als Lob, dass er sich seinen Lebensunterhalt ehrlich verdiene: »Bei dieser Arbeit gibt es oft Leute, die dir sagen: ›Wie gut, dass du singst und keine schlechten Dinge tust.‹ […] Sie sind dir dankbar, nicht wahr?« (Hernández, Salvador 4.12.2011)37 Busse als vermeintliche Räume für musikalische Anfänger und Dilettanten Während also Passagier/innen in Interviews, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Ansicht vertraten, dass es sich bei Musik in Bussen, um Arbeit handelte, hatten viele Musiker den Eindruck, häufig anders wahrgenommen und auf ihre Bedürftigkeit reduziert zu werden. In Interviews suchten die Musiker in ersten und lauten Reaktionen die Ursachen für diese Wahrnehmung bei den Passagier/innen. Julio García sah hinter Zwischenrufen nichts als den Versuch, sich auf Kosten der Busmusiker vor den anderen Fahrgästen zu profilieren: »Sie wollen einen immer nur demütigen.« (García, Julio 5.4.2013) Efraín Balbuena erklärte sich die herablassenden Reaktionen und vor allen
37 Obwohl Salvador Hernández diese Kommentare selbst als Lob auffasste, hatte die vermeintliche Nähe der Busmusiker zu Räubern jedoch gelegentlich gravierende Folgen für Musiker, wenn angenommen wurde, sie seien an Überfällen beteiligt (vgl. Kapitel 5.4).
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Dingen die ablehnende Haltung vieler Busfahrer mit Neid: »Keine Ahnung, aber hier in Mexiko ist es schlimm. Es gibt viel Neid. […] Bah! Ich höre nicht auf sie. Ich mache mein Ding und Schluss.« (Balbuena, Efraín 19.3.2013) Obwohl die músicos ambulantes, wie Efraín Balbuena, nicht müde wurden, sich über die Geringschätzung durch Passagier/innen und ihr soziales Umfeld zu beklagen, erweckten sie den Eindruck, dass auch sie selbst gelegentlich bezweifelten, dass sie eine ehrbare Arbeit ausführten. »Eduardo« beklagte sich schließlich, dass seine Nachbarn ihn auf seine Tätigkeit als Busmusiker reduzierten, ohne seine professionelle Vergangenheit zu berücksichtigen. Er empfand diese Wahrnehmung als soziale Erniedrigung. Anders als Wald sahen auch die Musiker selbst die südmexikanischen Überlandbusse als einen Raum, der Anfänger/innen mit geringen musikalischen Fähigkeiten und geringem Repertoire die Chance bot, mit Musik Geld zu verdienen. Während Musiker für contratos oder Auftritte in cantinas, wo sie meistens für pedidos bezahlt wurden, ein umfangreiches Repertoire benötigten, reichten an Bord der Busse zunächst drei oder vier Stücke, die sie in jeder Performance wiederholen konnten. So erklärte Julio García, dass Busse deswegen häufig der Berufseinstieg für Musiker waren: »Sonst geht das nirgendwo. [Ein Anfänger] kann nicht in einer Bar oder auf einer Feier arbeiten, weil er nicht ausreichend Repertoire hat. Er ist Anfänger, und in den Bussen fängt man halt an. […] Dort reicht es, wenn du zwei oder drei Stücke kannst. Nach zwei Liedchen bittest du um die Coperacha, und so lernst du dazu.« (García, Julio 5.4.2013) Viele der Musiker erinnerten sich, dass sie selbst mit minimalen musikalischen Fähigkeiten oder sehr bescheidener Ausrüstung begonnen hatten, in den Bussen aufzutreten, und sich erst im Laufe der Jahre musikalisch weiterentwickelten. So sang beispielsweise Julio García bereits als Kind in den Bussen und begleitete sich dabei auf einer Plastikflasche als güiro. Erst als junger Mann lernte er Gitarre spielen. Gabriel Villanuevas lebhafte Erinnerung an seinen ersten Auftritt schloss die Anekdote ein, dass er mit C-Dur nur einen Akkord auf der Gitarre beherrschte und das einzige Stück, an das er sich erinnern konnte, eigentlich deutlich tiefer hätte gespielt werden müssen: »Ich erinnere mich, dass mir das Lied ›El asesino‹ einfiel. Ich konnte aber nur C-Dur als einzige Tonart, aber für dieses Lied waren diese Töne zu hoch. Als ich begann zu spielen, standen die Leute auf und gaben mir ihre Münzen – vielleicht aus Mitleid, was weiß ich.« (Villanueva, Gabriel 10.10.2011) Während von Musikern in Bars und Restaurants erwartet wurde, dass sie auf konkrete Musikwünsche des Publikums eingingen, brauchten Musiker in Bussen – zumindest eine Zeit lang – nicht mehr als drei Stücke, die sie in jedem Bus wiederholen konnten. So waren die Musiker selbst der Ansicht, dass musikalische Professionalität zumindest für den Einstieg nicht notwendigerweise zu den Qualitäten eines Musikers in Überlandbussen gehörte, daher viele Anfänger ihr Glück in den Bussen versuchten und die Wahrnehmung der Busmusiker prägten. Musik in Bussen als eine Arbeit der Krise Um halb acht an der Haltestelle »30-30«, wenn die Musiker am Einstieg der Busse deren nächste Stationen in die abgasgeschwängerte, empfindlich kalte Morgenluft brüllten, in der feuchten Mittagshitze Acapulcos, wenn sich Lorenzo auf dem Rücken über schmutzige Treppenstufen unter der Lichtschranke hindurch ins Innere der Busse
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schob oder in Los Horizontes, wo gerade der dritte Bus an Efraín Balbuena vorbeigefahren war und Frustration und Langeweile die Zeit bis zum nächsten zäh dahinziehen ließen, fiel es schwer anzunehmen, dass irgendjemand diese Arbeit aus freien Stücken wählen konnte. Jene, die sich vorher als Musiker in Studios, Clubs und bei gebuchten Auftritten ihren Lebensunterhalt verdient hatten, ruinierten sich an der Straße und in den Bussen notwendigerweise ihre Stimme. Solche, die zuvor anderen Arbeiten nachgegangen waren, verzichteten auf geregelte Arbeitszeiten und festes Gehalt. Musik in Bussen erschien als Schicksal Alternativloser, und es trug zum geringen Selbstwertgefühl der Musiker trug bei, dass sie tatsächlich die Entscheidung, an Bord der Busse aufzutreten, in der Regel zunächst aus Krisensituationen heraus gefällt hatten. Während Julio García, Marco Antonio Calderón und alle Busmusiker der zweiten Generation – also Lorenzo Villanueva, Rubén Jaímez und Jesús García – bereits als Kinder in Bussen spielten und, von kurzen Gelegenheitsjobs abgesehen, in keinem anderen Beruf gearbeitet hatten, verdienten sich die übrigen Musiker, die ich interviewte, ihren Lebensunterhalt zunächst in anderen Bereichen. Ihre Entscheidung, als Busmusiker aufzutreten, ergab sich aus plötzlicher Arbeitslosigkeit oder akuter Geldnot. Endir de León erzählte, dass ihn der Verlust seiner Arbeit in einer Fabrik zwang, in Bussen Musik zu machen: »Ich arbeitete in einer Strumpffabrik, aber […] ich verlor die Arbeit dort. Ich suchte Arbeit, aber fand nichts. [lacht] So ging ich einen Tag in die Busse. Ich konnte ein bisschen spielen und schließlich traute ich mich. So fing ich an zu arbeiten.« (Jaímez, Rubén und de León, Endir 7.10.2010) Auch Gabriel Villanueva bewegten Arbeitslosigkeit und Geldmangel, als er das erste Mal in einen Bus auf der Avenida Cuauhtémoc in Acapulco stieg (Villanueva, Gabriel 10.10.2011). »Eduardo« hatte zwei gutbezahlte Anstellungen bei großen Unternehmen verloren, bevor er zu dem Schluss kam, dass sein fortgeschrittenes Alter die Arbeitssuche unmöglich gestaltete, resignierte und schließlich über die urbanen Busse Mexiko-Stadts an die Haltestelle »30-30« gelangte (»Eduardo« 7.10.2010). Andere Musiker hatten zwar Arbeit, als sie den Schritt in die Busse machten, aber verdienten zu wenig, als dass sie sich und ihre Familien hätten ernähren können. Sie stiegen zusätzlich zu ihrem day job in die Überlandbusse. José David Jaímez arbeitete nach seinem Schulabschluss in einer Fabrik, um sich und seine schwangere Frau zu versorgen, und musste feststellen, dass sein Gehalt nicht ausreichte und er in den Bussen deutlich besser verdiente: »Das Gehalt der Fabriken reichte nicht aus, deshalb widmete ich mich dem hier, in Bussen singen. Denn irgendwie holte ich an einem Tag aus den Bussen, was ich damals sonst in einer Woche verdiente.« (Jaímez, José David 8.3.2013) Eine ganz ähnliche Erfahrung machte Hexiquio Hernández, der in einer Fabrik in Buenavista de Cuéllar zu wenig verdiente, um mit seiner jungen Familie über die Runden zu kommen: »Denn dort bezahlten sie schlecht. […] Zu Beginn, als ich anfing, sang ich nur an Wochenenden. Samstags und sonntags ging ich zum Singen in die Busse und verdiente mir etwas dazu. Sie bezahlten mir wenig in der Fabrik und mit dem Bisschen, das ich am Wochenende verdiente, reicht es. […] Als ich merkte, dass ich mit der Musik mehr verdiente als in der Fabrik, hörte ich vollständig auf, in der Fabrik zu arbeiten. Ich widmete mich ganz der Musik.« (Hernández, Hexiquio 29.3.2013)
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In den meisten Fällen war es folglich wirtschaftliche Notwendigkeit, die die Musiker anfangs dazu bewegte, in den Bussen aufzutreten. Entsprechend beobachteten die alteingesessenen Busmusiker, dass die Zahl der Neueinsteiger am Straßenrand in Folge schwerer Wirtschaftskrisen stark anstieg. José David Jaímez, der 1989 begann, in den Bussen der línea Teotihuacanos zwischen Mexiko-Stadt und den Pyramiden von Teotihuacán zu spielen, erinnerte sich, dass die Anzahl der Musiker an den Haltestellen rapide wuchs, nachdem 1994 der mexikanische Peso dramatisch an Wert verloren hatte: »Mit der Krise 1995 hier in Mexiko[38] fing alles an. Es gab halt jede Menge Arbeitslosigkeit und die Musiker kamen aus allen Ecken. Das war ab 1994, 1995.« (Jaímez, José David 8.3.2013) Auch die Wirtschaftskrise 2008/2009 führte dazu, dass eine Welle neuer Musiker ihr Glück in den Überlandbussen suchte. Laut Julio García sprach sich in Zeiten der Krise schnell herum, welche Strecken sich für Musik in Bussen am besten eigneten und es wurde plötzlich eng am retén bei Bajos de Ejido, das er als Einstiegort nutzte (García, Julio 5.4.2013). Die akute Notsituation, in der sich Musiker befanden, wenn sie begannen in Überlandbussen zu spielen, erklärte, dass sie vor allen Dingen an den unmittelbaren Einnahmen durch die coperacha interessiert waren. Musik in Überlandbussen war für viele Musiker also eine Arbeit der Krise, die Musikern, so Julio García, das Nötigste zum Überleben sicherte: »Mit der kleinen Arbeit und der Erlaubnis einiger Busfahrer, holst du genug für Tortillas und Eier raus.« (García, Julio 5.4.2013) Die Musiker begannen, in die Busse zu steigen, wenn sie eine andere Beschäftigung verloren hatten, keine Aussicht auf eine neue hatten oder ihr bisheriges Arbeitsverhältnis ihnen zu wenig Geld einbrachte, um davon zu leben. Viele machten diese Arbeit nur solange, bis sich andere Auswege aus ihrer Krise ergaben. Die Busmusiker verknüpften daher ihre Arbeit zunächst auch selbst mit ihrer eigenen ökonomischen Notlage und ein geringes professionelles Selbstwertgefühl war die Folge. »La vergüenza«: Die Scham der músicos ambulantes Bedürftigkeit und Mangel an Alternativen, die Passagier/innen músicos ambulantes zuschrieben, trafen also auf viele von ihnen zumindest anfangs zu. Entsprechend überwogen vor allen Dingen zu Beginn ihrer Karrieren Schamgefühle. Salvador Hernández erinnerte sich, welche Überwindung es ihn zu Beginn kostete, nach der coperacha zu fragen. Erst später kam er zu der Erkenntnis, dass er einer Arbeit nachging: »Es war mir peinlich. Es fiel mehr schwer, anzufangen zu singen, als ich das erste Mal in einen Bus stieg, vergaß ich das Lied. […] Mir flatterten die Nerven, weil mich alle Leute ansahen, und dann musste ich nach dem Beitrag fragen. […] Naja, am Anfang schämst du dich, aber dann sagst du dir: ›Gut. Warum soll ich mich schämen, wenn es doch meine Arbeit ist?‹« (Hernández, Salvador Hernández 4.12.2011)
Selbst Gabriel Villanueva, der für gewöhnlich ein ausgesprochen selbstsicheres Auftreten pflegte, berichtete, dass er sich bereits vor seinem ersten Auftritt in einem Bus dermaßen schämte, dass er nicht einmal seiner Familie davon erzählte:
38 Sehr wahrscheinlich bezieht er sich auf die schwere Wirtschaftskrise 1994.
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»Ich schäme mich nicht mehr. Aber damals schämte ich mich sehr. Ich sagte nicht einmal meiner Familie, dass ich in den Bussen, den Stadtbussen spielte, nicht? Ich schämte mich. Ich fuhr bis ins Zentrum zum Marinehafen in Acapulco. […] Als ich nach Hause kam, schüttete ich die Münzen auf den Tisch, […] und meine Frau sagte zu mir: ›Und? Was hast du jetzt gemacht? Woher hast du das Geld?‹ – ›Na, das haben sie mir dadrüben gegeben.‹ Ich schämte mich zu sagen: ›Ich habe in den Bussen gespielt.‹« (Villanueva, Gabriel 10.10.2011)39
Wie Gabriel Villanueva, der versuchte seine Tätigkeit vor Familie und Bekannten zu verstecken, begannen auch die meisten anderen Musiker in möglichst weiter Entfernung ihres Wohnortes, in Bussen aufzutreten, um Begegnungen mit Verwandten und Bekannten zu vermeiden. Hexiquio Hernández wählte bewusst die seinem Wohnort Palmillas abgewandte Seite des Bundesstraßendreiecks Puente de Ixtla-Iguala-Taxco für seine erste Solo-Performance (Hernández, Hexiquio 29.3.2013). Salvador Hernández begann in der Anonymität Mexiko-Stadts, im trolebús zu spielen, und auch Efraín Balbuena reiste extra nach Mexiko-Stadt, um sicher zu sein, dass sich unter seinen ersten Zuhörer/innen keine Bekannten befanden. In Mexiko-Stadt kostete es ihn ein halbes Jahr, Scham und Lampenfieber endgültig zu überwinden, bevor er in Bussen durch die Mixteca spielte: »Langsam besiegte ich die Nervosität und die Scham. Nach einem Jahr war ich weder nervös noch schämte ich mich, nichts mehr.« (Balbuena, Efraín 19.3.2013) Einzig Musiker, die bereits sehr jung in Bussen auftraten, schienen nicht mit Schamgefühlen zu kämpfen.40 Weder Marco Antonio Calderón noch José David Jaímez berichteten bei den Schilderungen ihrer ersten Performances von Schamgefühlen. Auch Rubén Jaímez und Jesús García, die über ihre Väter in die Arbeit hineingewachsen waren, schämten sich nie, in Bussen zu spielen. Julio García, der bereits als Kind in Acapulcos camiones gespielt hatte, machte deutlich, dass er sich Schamgefühle schlicht nicht leisten könne: »Wenn ich mich von Scham abhalten lasse, dann verdiene ich nix! […] Scham können wir uns nicht leisten.« (García, Julio 5.4.2013) »Un trabajo honrado«: Strategien zur Überwindung der Scham Ihre ersten Auftritte und den Beginn ihrer Karrieren in Überlandbussen schilderten die meisten Musiker folglich als einen Prozess, in dem sie ihre eigene Scham überwanden, Selbstbewusstsein aufbauten und letztendlich wie Salvador Hernández zu dem Schluss kamen: »Warum soll ich mich schämen, wenn es doch meine Arbeit ist?« (Hernández, Salvador 4.12.2011) Meine Interviewpartner betrachteten ihre Auftritte an Bord der Überlandbusse nicht mehr als eine vorrübergehende Krise, sondern als ihre Arbeit. Ungeachtet, ob ein großer Teil der Passagier/innen, wie meine Interviews nahelegten,
39 Aus Gabriel Villanuevas Erzählung ließ sich auch herauslesen, dass ebenfalls die Art der Busse in seinen Augen Einfluss auf das Ansehen der Musiker, die in ihnen spielten, hatte. Er betonte, dass es sich bei dem ersten Bus um einen urbano handelte (vgl. Kapitel 6.3). 40 Die einzige Ausnahme bildete Lorenzo Villanueva, der allerdings erst Scham empfand, als er von den Überlandbussen entlang der Costa Chica und der Costa Grande in Acapulcos urbane camiones umstieg (vgl. Kapitel 6.3).
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gar nicht überzeugt werden musste oder Passagier/innen tatsächlich in ihrer Mehrzahl der Ansicht waren, Busmusiker seien faul und bettelten, wurde die Darstellung ihrer Tätigkeit als »trabajo honrado« zum wichtigsten Argument, mit dem sich Musiker verteidigten, wenn sie sich angegriffen fühlten. Doch galt es nicht nur, ihr Publikum zu überzeugen, sondern auch sich selbst. Die Scham der músicos ambulantes baute sich nicht von selbst mit der Zeit ab, sondern durch aktive Strategien der Professionalisierung, die den Musikern das Selbstwertgefühl verliehen, einem »trabajo honrado« nachzugehen. Dabei beriefen sich die meisten Musiker zunächst auf das Können, das ihre Arbeit erforderte, und den notwendigen Aufwand, dieses Können zu erlangen. Obwohl viele von ihnen, wenn sie über den Beginn ihrer Karrieren an Bord der Busse sprachen, offen zugaben, dass sie damals über ein sehr schmales Repertoire und bescheidene musikalische Fähigkeiten verfügten, so war doch allen gemeinsam, dass sie ihre Fähigkeiten stetig ausgebaut hatten und zur Zeit meiner Feldforschung ein stattliches Repertoire beherrschten, welches es ihnen erlaubte, auch contratos zu spielen und in cantinas den pedidos ihrer Kund/innen zu entsprechen.41 Zusätzlich zu ihren Repertoires arbeiteten vor allem die jüngeren und die unerfahrenen Musiker am Ausbau ihrer musikalischen Fähigkeiten. Während meiner Feldforschungsaufenthalte brachte sich Jesús García bei, Akkordeon zu spielen, und Efraín Balbuena besaß Lehrbücher und Videos, mit denen er viel Zeit verbrachte, um sein Gitarrenspiel zu verbessern. Ihre enormen Repertoires und ihre musikalischen Fähigkeiten gaben den Busmusikern die Selbstsicherheit, zu erklären, dass sie sich ihre coperachas verdienten. Jesús García drückte Passagier/innen, die sich über den Anspruch seiner Arbeit lustig machten, seine Gitarre in die Hand und forderte sie auf, besser als er zu spielen (García, Julio 5.4.2013).42 Genauso legte Efraín Balbuena großen Wert darauf, dass Musik in Bussen nicht »einfach«, sondern – zumindest für ihn – mit einem großen Aufwand verbunden sei, der die Musik letztendlich zu Arbeit mache. Deshalb erklärte er, dass
41 Selbst Efraín Balbuena, der auf eine relativ kurze Zeit als Musiker zurückblickte, hatte nach eigenen Angaben mehr als 200 Stücke in seinem Repertoire (Balbuena Reyes, Efraín 19.3.2013), während erfahrenere Musiker über ein Repertoire von etwa 350 Stücken verfügten (Hernández, Salvador 28.3.2013; Hernández, Hexiquio 29.3.2013; Jaímez López, José David 8.3.2013; Calderón Ramírez, Marco Antonio 8.3.2013 und García, Interview mit Julio García 5.4.2013). Die Spitze bildeten Gabriel und Lorenzo Villanueva, die angaben, jeweils 800 Stücke aus dem Stand spielen zu können (Villanueva Noyola, Gabriel 4.4.2013 und Villanueva, Lorenzo 4.4.2013). Der Begriff »Stücke« beziehungsweise der Begriff »canciones«, den die Musiker verwendeten, war in diesem Zusammenhang allerdings irreführend. Denn bei der Zahl, die Musiker als Umfang ihres Repertoires angaben, handelte es sich keinesfalls immer um Musikstücke, die sich harmonisch, melodisch, rhythmisch und textlich von anderen Stücken unterschieden. Während Musiker bekannte Stücke in der Regel kopierten und dabei nicht nur auf die Melodie des Gesangs und die Akkordfolge achteten, sondern auch Intros und Zwischenspiele gegebenenfalls auf die Gitarre übertrugen und mitspielten, handelte es sich besonders im Falle lokaler corridos vor allen Dingen um Texte, die Musiker auswendig beherrschten und über eine deutlich kleinere Zahl musikalischer Schablonen interpretierten. 42 Zu den Reaktionen der Busmusiker auf Zwischenrufe vgl. Kapitel 7.1).
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er Passagier/innen, die ihn aufforderten eine vermeintlich echte Arbeit zu suchen, antwortete: »›Das hier ist auch Arbeit! Es ist Arbeit, die keinesfalls so einfach ist, dass das jeder könnte.‹ […] Ich weiß nicht, warum sie denken, es sei einfach. Es ist nicht einfach, sondern sehr schwer – zumindest für mich.« (Balbuena, Efraín 28.7.2010) Auch Marco Antonio Calderón und José David Jaímez stellten ihre musikalische Fähigkeit heraus, die Entlohnung verdiene: Marco Antonio Calderón: »Ich komme, damit du mir etwas für meine Arbeit gibst.« José David Jaímez: »Für meine Arbeit, mein Talent, Alter!« Marco Antonio Calderón: »So ist es. Musik ist eine Kunst.« (Jaímez, José David Jaímez López und Calderón Ramírez, Marco Antonio 8.3.2013)
Zusätzlich argumentierten Musiker mit der Ernsthaftigkeit und dem Verantwortungsbewusstsein, die ihre Tätigkeit an Bord der Busse zu einem »trabajo honrado« machten. Lorenzo Villanueva sagte: »Manche Passagiere glauben, es sei irgendeine Sache, nicht? Nichtsdestotrotz sehen wir Musiker das nicht als irgendeine Sache, wir sehen es als unsere Arbeit.« (Villanueva, Lorenzo 4.4.2013) José David Jaímez entgegnete Zwischenrufenden, die den Ernst und die Professionalität seiner Arbeit offen anzweifelten, dass sie sich sein Haus und seine Familie ansehen sollten, um zu verstehen, wie viel Verantwortung auf ihm laste. Folglich sei Musik in Bussen für ihn eine ernste Arbeit und kein einfaches Vergnügen: »›Kommen Sie mit! Ich lade Sie zu mir nach Hause ein, damit Sie sehen, wie ich lebe, wie viele Menschen von mir abhängen, damit Sie nicht diesen Eindruck von mir haben.‹« (Jaímez, José David 8.3.2013) Genauso bezog sich Salvador Hernández nicht auf die Auftritte selbst, wenn er davon sprach, was seine Arbeit »ehrlich« mache, sondern auf den verantwortungsvollen Umgang mit dem Geld, dass er dabei verdiente: »Ich habe es lieber, wenn mir andere sagen: ›Für Sie, mein Herr! Sie machen eine ehrbare Arbeit.‹ Als dass, ich selbst sage: ›Ich mache eine ehrbare Arbeit.‹ Ich ziehe vor, wenn es über mich gesagt wird, als dass ich es selbst sage. Aber ich weiß, dass ich dieses Geld für einen sinnvollen Nutzen einsetze. Das ist es.« (Hernández, Salvador 28.3.2013) Mit dem Begriff »honrado« nahmen Musiker zudem immer wieder Bezug auf Räuber und Kriminelle. Sie selbst empfanden Kommentare, in denen sie dafür gelobt wurden, dass sie Musik machten, anstatt Busse zu überfallen, als willkommene Wertschätzung. Die scheinbare Nähe zwischen Musik und Verbrechen war ein häufiges Motiv in den Bitten um coperacha an Bord von Überlandbussen, auch wenn meine Interviewpartner sich diesbezüglich zurückhielten: »Ich kenne eine Person, einen Musiker, der findet sich witzig. Er sagt immer: ›Glauben Sie nicht, dass ich mit einer Pistole komme und Ihnen die Centavos stehle. Ach nein! Lieber bitte ich Sie ehrlich darum!‹« (García, Julio 5.4.2013) Auch der unbekannte Musiker auf der MEX-190 zwischen Oaxaca und Tuxtla Gutiérrez stellte in seiner Bitte nach coperacha, die er kunstvoll als Text des letzten Stückes seiner Performance verpackte, die Großzügigkeit des Fahrers, der ihm Zustieg gewährt, und der Fahrgäste, die im Münzen geben, als letzte Bastion zwischen seinem Leben als Busmusiker und einem Leben als Räuber dar:
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Ya hemos durado, noble él que va manejando. Pasa que numero uno, siempre nos han ayudado. Usted con su monedita, a guitarra hemos cambiado.
Wir kennen uns schon lange, edler Fahrer. Er ist der Beste und hat uns immer geholfen. Mit Ihrer Münze haben wir zur Gitarre gewechselt
Si yo fuera un asaltante, ninguna se dormiría. Les quitaba la cartera y a todos le robaría. Mejor que dan una moneda, escuchan la melodía.
Wäre ich ein Räuber schliefe hier niemand. Ich stöhle ihre Brieftaschen und raubte alle aus. Es ist besser, Sie geben mir eine Münze und lauschen der Melodie. Titel, Interpret und Komponist: unbekannt Transkription einer Aufnahme vom 25.2.2008
Einige der Musiker positionierten sich also selbst in der Nähe von Räubern, um sich dann von ihnen abzugrenzen. Diese Grenze zog der Begriff »honrado«. José David Jaímez antwortete auf die Frage, was er meine, wenn er erklärte er verrichte ein »trabajo honrado«: »dass du nicht stielst« (Jaímez, José David 8.3.2013) Genauso erklärte Marco Antonio Ramírez auf die gleiche Frage: »Ich komme nicht, um dich zu überfallen, ich komme nicht, um dich auszurauben. Ich komme, damit du mir etwas für meine Arbeit gibst.« (Ramírez Calderón, Marco Antonio 8.3.2013) Die Busmusiker wiederholten nicht nur in Monologen und Bitten um coperacha immer wieder ihren Anspruch, dass es sich bei ihrer Tätigkeit um »ehrbare Arbeit« handele, sie brachten ihn auch durch ihre Kleidung und ihr Auftreten zum Ausdruck. Obwohl die Passagier/innen häufig ihre coperacha an ihre Erwartung knüpften, dass es sich bei Busmusikern um bedürftige Menschen handeln müsse, arbeiteten sämtliche Musiker, die ich begleitete und interviewte, ihrer Wahrnehmung als Bedürftige äußerlich bewusst entgegen. Kleidung spielte für sie eine wichtige Rolle und sie legten Wert auf einen gepflegten Auftritt: »Als Julio, der über das gesamte Interview – wie vermutlich immer in seinem Haus und dessen Nachbarschaft nur eine Bermuda-Short und Flip-Flops zu nacktem Oberkörper trug – aus der Dusche kommt, steigt er in eine dicke Jeans, lässt sich auf einen der Plastikstühle fallen, zieht sich lederne Cowboystiefel über Füße und Hose und ruft seiner Frau zu: ›Bügel mir ein Hemd!‹ Wenige Minuten später bringt ihm seine Frau ein frisch gebügeltes weiß-rotes Westernhemd aus derbem Stoff. In der feuchten Hitze Brasilias treibt mir in diesem Moment allein der Anblick des warm gebügelten, steifen Hemdes den Schweiß aus den Poren.« (Tagebucheintrag vom 24.9.2010 in Brasilia, Bajos del Ejido)
Wie fast alle übrigen Musiker, die ich während meiner Forschung traf, spielte auch Julio García niemals ohne Kopfbedeckung. Sein norteño-Outfit rundete ein weißer Westernhut ab. Ein befreundeter Musiker, so Julio García, wollte ihn hingegen überzeugen, dass seine saubere Kleidung geschäftsschädigend wirke, da sie der Spendebereitschaft der Passagier/innen schade:
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»Ich hatte einen Compadre, der mir sagte: ›Nein, Compadre gehen Sie abgerissen! […] Das werden die Leute sehen und mehr geben. Sie werden sehen, dass Sie es nötig haben!‹ Aber ich nicht. Ich denke anders. Ich denke, wie sie dich sehen, behandeln sie dich auch. Also, wenn du gut angezogen gehst: ›Hey, was für’n Kerl der Typ!‹ Man interessiert sich für deine Arbeit. [Und bei meinem Compadre]: ›Oh, sieh dir den Jungen an! Komm, dem geben wir einen Peso.‹ Es gibt halt auch Leute, die so denken.« (García, Julio 5.4.2013)43
Unter den Musikern, die ich interviewte, versuchte niemand, durch sein Auftreten Mitleid zu erwirken. Salvador Hernández war nicht nur Träger kunstvoll rasierter Koteletten, sondern auch stolzer Besitzer einer ganzen Hutsammlung und legte großen Wert auf seine Erscheinung. Nachdem er den ganzen Morgen in staubiger Arbeitskleidung und huaraches auf seinem Maisfeld arbeitete, stieg er in Hosen mit Bügelfalte in die Busse, trug dazu Hemd, Hut und – gelegentlich sogar weiße – Cowboystiefel. Sein gepflegtes Äußeres war für ihn eine Selbstverständlichkeit: »Stell dir vor ich würde ungeduscht und in zwei oder drei Tage getragener Kleidung losziehen. Nein! Dann sind die Leute nicht zufrieden, sondern schauen weg. Es ist sehr wichtig, dass man nur sauber losgeht.« (Hernández, Salvador 4.12.2011) Auch Efraín Balbuena tauschte seine huaraches gegen Stiefel, bevor er ebenfalls mit Hemd und Hut in die Busse stieg. Einen Schritt weiter gingen »Los Pajaritos del Sur«, die bei Auftritten in Überlandbussen schwarze Hosen und identische Seidenhemden mit aufgesticktem Logo der Band trugen. Mit ihrer einheitlichen Kleidung stellte sich das dueto ihrem Publikum in den Bussen bewusst als professionelles Ensemble vor.44 Gabriel Villanueva beschrieb, wie sich er und sein Sohn bereits am Vorabend Gedanken über ihr Outfit für den folgenden Tag machten: »Dann einigen wir uns, um wie viel Uhr wir uns im Haus treffen, welche Kleidung wir tragen und auf welcher Strecke wir arbeiten.« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013) Im Streckennetz »Paradero 30-30« pflegten die Musiker ein urbaneres Äußeres. Statt Hüten trugen sie Baseballkappen und Halbschuhe anstatt Cowboystiefeln. Jedoch legten auch dort sämtliche meiner Interviewpartner Wert auf saubere Kleidung. Im Dilemma zwischen der Erwartung der Passagier/innen, dass músicos ambulantes in Überlandbussen bedürftig seien, und ihrem eigenen Schamgefühl, entschieden sich meine Interviewpartner, folglich dazu, schon äußerlich als professionelle Musiker aufzutreten. Sie erwehrten sich mit ihrer Entscheidung gegen die erniedrigende Wahrnehmung, die im engen Zusammenhang mit den Räumen stand, in denen sie auftraten. Der wichtigste Schritt der Professionalisierung war allerdings, dass meine Interviewpartner, die Arbeit in die sie ursprünglich durch eine ökonomische Notlage gedrängt wurden, nicht mehr als eine Übergangslösung betrachteten, sondern als ihren Beruf. Zwar blieben ihre Strategien darauf ausgerichtet, eine möglichst hohe coper-
43 Dass es sich bei abgerissener Kleidung um eine unter Straßenmusiker/innen weit verbreitete Strategie handelt, belegt auch die Autobiografie der beiden New Yorker Metro-Musiker Heth und Jed Weinstein: »Today, I know buskers who try to look disheveled, using the tactic to grab the ›pity drop.‹« (Weinstein 2011: XII-XIII) 44 In vielen Genres mexikanischer Musik, zum Beispiel in der música norteña, in der banda sinaloense und letzten Endes auch bei mariachis war es üblich, dass sämtliche Ensemblemitglieder bei Auftritten uniform gekleidet waren.
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acha aus jedem Bus zu holen, jedoch motivierten mit steigender Erfahrung und größeren musikalischen Fähigkeiten zunehmend längerfristige ökonomische Absichten die Busmusiker, sich jeden Tag aufs Neue an die Straße zu stellen. Sie wussten um die Werbewirksamkeit ihrer Auftritte und nutzten sie, um an Auftritte zu gelangen und Tonträger zu vertreiben. Sobald ihr Repertoire groß genug für abendfüllende Gigs war, nutzten die Musiker ihre Auftritte an Bord der Busse, um Kontakte zu potentiellen Kund/innen zu knüpfen und an contratos, Auftritte auf privaten Feiern mit fest vereinbartem Stundenlohn, zu gelangen. So erzählte beispielsweise Julio García: »Dort sind wir schon an viele Auftritte gelangt. Manchmal gibt es Leute, denen gefällt, wie man spielt oder singt: ›Hey! Hast du eine Telefonnummer?‹ – ›Ja, klar!‹ und schon wandern die Kärtchen […] und kommt man an Kunden.« (García, Julio 5.4.2013) Im Vergleich zu Auftritten in Überlandbussen brachten contratos deutlich mehr Geld. Die Musiker verlangten auf contratos feste Stundensätze und hatten somit Planungssicherheit, die ihnen die stark schwankenden Einnahmen aus den Bussen nicht bieten konnten. Salvador Hernández erklärte: »Man verdient mehr. Du berechnest pro Stunde. […] Wenn wir in einem Haus spielen, nehmen wir 350 pro Stunde. […] Wenn wir zwei oder drei Stunden spielen…! Wenn du dort bist, geben sie dir Getränke, sie geben dir Essen, wenn du trinkst geben sie dir Alkohol.« (Hernández, Salvador 4.12.2011) Contratos gaben den Musikern die Möglichkeit, auf den Preis ihrer Arbeit Einfluss zu nehmen. Während die Einkünfte aus coperachas nicht notwendigerweise dem Bekanntheitsgrad der Musiker, ihren musikalischen Fähigkeiten oder ihrer umfangreichen Diskographie Rechnung trugen, so wurden in ihrem Stundenlohn bei contratos gravierende Unterschiede sichtbar. Efraín Balbuena nahm für sich alleine 300 Peso pro Stunde bei einem Minimum von zwei Stunden (Balbuena, Efraín 11.12.2010). Gabriel und Lorenzo Villanueva hingegen verlangten als dueto »Los Pajaritos del Sur« deutlich mehr: »Bei einem Auftritt nehmen wir als Dueto 1.000 Peso pro Stunde. Eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden, da kommt was zusammen. Aha. In einem Überlandbus verdienst du nicht 2.000 oder 3.000 Peso. Daher ist ein Contrato eine sichere Einnahme und dauert nicht lange. Das ist besser!« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013) Contratos waren nicht nur ökonomisch effizienter und boten größere Planungssicherheit als die Musik in Bussen gegen coperacha, die Auftritte auf Feiern waren auch physisch entspannter. Julio García empfand contratos zwar als musikalisch anspruchsvoller, jedoch erlaubten sie ihm, sich allein auf die Musik zu konzentrieren, und er müsste sich nicht, wie im Bus, hauptsächlich um andere Dinge kümmern: »In den Überlandbusse wird man nur hin- und hergeschüttelt. Auf der Bühne ist das anders. Es ist ein anderes System, denn dort oben spielst du über eine Anlage und halt oben! Da musst du nicht mehr ausbalancieren und von hier nach da springen. Das ist halt ein Contrato. […] Das ist viel einfacher. Denn dort hilft dir die Anlage und du spielst mit mehr Bock. Der Überlandbus bewegt sich in den Kurven und manchmal bremst er und du fliegst nach vorne. Du musst dich anspannen. Aha. Das ist anstrengend.« (García, Julio 5.4.2013)
Viele der Musiker empfanden contratos auch deshalb als musikalisch erfüllender, da sich ihr Publikum – zumindest ihre Auftraggeber/innen – bewusst entschied, ihre Musik zu hören. Die Musiker hatten mehr Zeit, sich zu entfalten, wie Lorenzo Villanueva bemerkte: »Die Leute, die uns spielen sehen und unsere Musik hören wollen, bitten
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uns um Lieder, aus unserem Repertoire, das die meisten Leute auf der Feier kennen, denn die Mehrheit hat unsere Platten. Dort kannst du dich besser entfalten, in Bezug auf die Dauer und auf die Musik.« (Villanueva, Lorenzo 4.4.2013) Die Auftritte in Bussen dienten den Musikern folglich nicht mehr allein, um die coperacha abzugreifen. Sie waren notwendige Kundenakquise auf dem Weg zu contratos. In diesem Zusammenhang war nicht allein wichtig, dass Musiker durch Auftritte in Bussen die Anzahl ihrer contratos steigern konnten. Die Busse mit ihren Passagier/innen verschiedener Herkunft halfen den Musikern, neue Räume für sich zu erschließen. Julio García betonte diesen Vorzug der Busse: »Damit dich Leute aus anderen Orten von weither kennenlernen.« (García, Julio 5.4.2013) Auch das »Dueto Águila y Sol« der Brüder Salvador und Hexiquio Hernández bekam durch die Auftritte der beiden in Bussen Kontakt zu Kund/innen aus weit entfernten Orten, sowohl aus der Hauptstadt als auch aus kleinen entlegenen Gemeinden, wie beispielsweise Yextla in der Sierra Guerreros: »Wir sind schon nach Teloloapan gegangen, wir sind drüben nach Cuautla, nach Mexiko-Stadt und nach Taxco gegangen. […] Wir sind drüben in die Sierra gegangen, in die Sierra bei Tlacotepec, in ein Dorf namens Yextla. Da waren wir schon zwei, drei Mal. Das ist sehr weit. Den Kunden haben wir in einem Überlandbus getroffen. Ihm gefiel es, wie wir sangen, und er nahm uns zum Geburtstag seiner Mutter mit und lud uns ein Jahr später wieder ein. Wir haben schon drei Mal für den Typ gespielt.« (Hernández, Hexiquio 29.3.2013)
Hexiquio Hernández Bruder Salvador erläuterte noch deutlicher die Vorzüge von Auftritten in Überlandbussen und erklärte, dass die Busse es den beiden Musikern ermöglichten, aus dem lokalen Kreis ihrer Heimatgemeinde Palmillas, wo sich ihr Publikum aus den immer gleichen Bewohner/innen zusammensetzte, auszubrechen. Die contratos, die sich aus Auftritten an Bord der Busse ergaben, boten den beiden die Möglichkeit, sich an immer neuen Orten einem fremden Publikum zu präsentieren, brachten neue Kontakte mit sich, die ihrerseits wieder zu neuen contratos führten, und entwickelten sich auf diese Weise zu Selbstläufern: »Zwischen Jojutla und Iguala gibt es viele Dörfer und es sehen dich ebenso Leute aus Iguala, wie aus Jojutla, Zacatepec oder Huitzuco. Es reisen dort Leute von überall her. Da kann der Überlandbus helfen. Zum Beispiel auf einer Feier hier in Palmillas sind nur Leute aus Palmillas. […] Aber wenn du zum Beispiel in Puente [de Ixtla] spielst, weil du im Bus gebucht wurdest, dann hören dich wieder andere Leute, die sich für deine Musik interessieren und die buchen dich dort. Es können also zwei oder drei Contratos aus einem Auftritt in einem Überlandbus entstehen.« (Hernández, Salvador 28.3.2013)
Die Musiker stiegen also nicht nur in die Busse, weil sie ihnen ein verhältnismäßig großes mit ihnen unbekanntes Publikum boten. Jeder Fahrgast war ein/e potentielle/r Auftraggeber/in für contratos, und die Bewegung der Überlandbusse entlang ihrer rutas bedingte die vielfältige regionale Zusammensetzung ihrer Passagier/innen, die es den Musikern ermöglichte, ihre Bekanntheit räumlich auszudehnen. Nachdem Gabriel Villanueva zu Beginn genauso wie die übrigen Musiker für die coperacha in die Busse gestiegen war, war sie zur Zeit meiner Feldforschung lediglich ein willkommener Nebenverdienst, von dem er und sein Sohn Lorenzo hauptsächlich
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unterwegs ihr Essen und gegebenenfalls Hotelzimmer bezahlten. Sein eigentliches Interesse galt der Vermarktung der Tonträger der »Los Pajaritos del Sur«. Gabriel Villanueva, der sich von konventionellen Medien zur Verbreitung von Musik, wie Radio und Fernsehen, auf Grund seiner geringen finanziellen Mittel ausgeschlossen sah, hatte die Busse als Werbeplattform für seine Kassetten, LPs und CDs entdeckt. Auch für ihn lag der klare Vorteil der Überlandbusse in der diversen geographischen Herkunft der Passagier/innen: »Wir gehen in die Überlandbusse, denn dort reisen viele Menschen aus unterschiedlichen Teilen der mexikanischen Republik. Unsere Absicht ist es, als Pajaritos del Sur bekannter zu werden, dass sie unsere CDs kaufen, auf denen unsere Adresse und unsere Telefonnummer für Buchungen stehen. […] Warum? Weil arme Menschen keine andere Werbemöglichkeit in Fernsehen oder Radio bekommen. Unsereins hat kein Geld, um Werbung zu bezahlen. Deshalb muss man andere Wege suchen, um seine CD zu bewerben.« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013)
Durch seine Kontaktdaten auf dem Cover hatte Gabriel Villanueva seine Tonträger geschickt zu Visitenkarten umfunktioniert. Sie ermöglichten es ihm, neben den Einnahmen aus den Verkäufen drei längerfristige Motive zu verfolgen. Erstens trugen Passagier/innen die CDs an ihr Reiseziel oder zurück in ihre Wohnorte, spielten die Musik Familie und Bekannten vor, die dann direkt bei Gabriel Villanueva weitere CDs bestellen konnten. Zweitens dehnten »Los Pajaritos del Sur« im Vergleich zu den übrigen Musikern den geographischen Radius, aus dem ihnen contratos zugetragen wurden, durch ihre akustischen Visitenkarten zusätzlich aus, da nicht mehr nur die unmittelbar bei der Performance anwesenden Passagier/innen, sondern auch spätere Hörer/innen sie buchen konnten. Drittens bewarb Gabriel Villanueva sich selbst als Komponist von corridos de encargo. Obwohl Gabriel Villanueva zur Zeit meiner Feldforschung bereits seltener in Überlandbusse stieg, nahm er diese Tätigkeit besonders nach Veröffentlichungen seiner CDs immer wieder auf. Er bezeichnete die Strategie, die er mit seinen Auftritten an Bord der Überlandbusse verfolgte als »extender el mercado«: »Wenn diese CD rauskommt, werde ich wieder Richtung Oaxaca fahren und auf der Strecke entlang der Costa Chica spielen. Warum? Weil der Corrido von dort ist[45]. Wenn ich für die Leute dort singe, werden sie die CD kaufen, und die CD werden sie mit zu ihren Nachbarn nehmen, und so erobert sie den Markt, nach Pinotepa, weil ich sie dort in den Plattenläden vertreibe, und bald werden sie Raubkopien ziehen, das machen sie immer sofort. Dann wird der Markt noch größer, dann nimmst du Geld mit Auftritten ein, an die du dort kommst, weil sie wollen, dass der Komponist persönlich den ›Corrido de la mojarra escamada‹ spielt.« (Villanueva, Gabriel 10.10.2011)
Nachdem sie die anfängliche Scham hinter sich gelassen hatten und ihre Tätigkeit an Bord der Busse nicht mehr als kurzfristige Krise, sondern als ehrliche Arbeit betrachteten, gaben meine Interviewpartner an, dass sie Freude an dieser Arbeit hatten. Auch 45 »La Mojarra Escamada« war ein aktueller corrido, in den Gabriel Villanueva große Hoffnungen setzte und der von einer bewaffneten Handlung im Küstendorf Cerro Hermoso an der Costa Chica im Nachbarstaat Oaxaca berichtete (vgl. Kapitel 7.3).
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wenn es sich bei der Musik in Bussen um harte und oft gefährliche Arbeit handelte, fanden sie im Gang zwischen den engen Sitzreihen künstlerische Bestätigung in den Reaktionen ihrer Zuhörer/innen. Die Auftritte an Bord der Busse verschafften ihnen Aufmerksamkeit und Ruhm. Efraín Balbuena schwärmte in Interviews mit leuchtenden Augen von den positiven Reaktionen, die ihm sein Publikum entgegenbrachte: »Es gibt viele Personen, die es zu schätzen wissen. […] Wenn ich in die Busse steige […], spiele ich und die Passagiere aplaudieren mir. […] Mit welchem Eifer – wie soll ich das erklären? – sie mir Münzen geben. Sie geben mir 20 Peso oder 10 Peso. Ich kann sofort sehen, dass man sehen kann, dass ich etwas tue, was nicht jeder kann. Dann bekomme ich – wie soll ich sagen? – mehr Lust und gebe mir noch mehr Mühe.« (Balbuena, Efraín 19.3.2013)
Anders als die übrigen Musiker verfügte Efraín Balbuena bis 2013 über kein Telefon, weshalb es für ihn schwierig war, in den Bussen Kontakte für contratos zu knüpfen oder gar an weiter entfernte Auftrittsmöglichkeiten zu gelangen, da Interessent/innen zu seinem Wohnhaus kommen mussten, um ihn zu buchen. Doch auch ohne finanziellen Nutzen genoss er seine Bekanntheit, die er sich in den Bussen erspielt und – wie er betonte – räumlich ausgedehnt hatte: »Wenn ich nur ein Mobiltelefon hätte. Denn oft gehe ich in die Busse und sie fragen mich: ›Wo, wo, wo nur kann ich dich erreichen?‹ oder ›Was kann ich machen, wenn ich dich für einen Auftritt will? Du machst das gut.‹ oder ›Das hört sich gut an.‹ […] Mich kennen sehr viele Leute, viele kennen mich. Ich fahre überall hin und das schon seit einiger Zeit. Alle! Sie grüßen mich, sie sagen mir ›Schau, wie er singt!‹ […] Man sieht, dass sie es zu schätzen wissen und mich mögen. Das ist gut für mich. So ist das. Hoffentlich kann ich das noch lange machen.« (Balbuena, Efraín 11.12.2010)
Efraín Balbuena vermittelte den Eindruck, als wäre die Musik in den Bussen noch mehr als wirtschaftliche Notwendigkeit eine Form der Selbstverwirklichung. Keines seiner Ziele, die er nannte, beinhaltete die Verbesserung seiner ökonomischen Verhältnisse, stattdessen hatte er die Absicht, sich musikalisch weiterzuentwickeln: »In Zukunft will ich mir einen Lehrer suchen, einen Lehrer, der mir Keyboard und Gitarre und all das beibringt. […] Obwohl ich fortgeschrittenen Alters bin, möchte ich ein guter Musiker werden.« (Balbuena, Efraín 28.7.2010) Auch die beiden jungen Musiker Rubén Jaímez und Endir de León erzählten voller Enthusiasmus von Publikumsreaktionen, Begegnungen mit Passagier/innen und Abenteuern, die sie an Bord der Busse erlebt hatten, und ließen keinen Zweifel daran, dass sie Spaß an ihrer Arbeit hatten: Rubén Jaímez: »Es passiert alles mögliche. Es gibt Leute, denen es nicht gefällt, dass wir einsteigen…« Endir de León: »… oder Leute, die laut mitsingen.« Rubén Jaímez: »Es gibt alles!« Endir de León: »Alles!« Rubén Jaímez: »Das ist super.« (Jaímez, Rubén und de León, Endir 7.10.2010)
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Selbst Gabriel Villanueva, der sich ansonsten durch seine Professionalität und Effizienz auszeichnete, legte Wert darauf, dass es ihm keinesfalls allein ums Geld ging, wenn er an Bord der Überlandbusse auftrat. Die positiven Reaktionen des Publikums und die räumlich weit gefächerten Kontakte, die er durch seine Performances an Bord der Busse erhielt, bedeuteten für ihn eine Form der Anerkennung: »Tatsächlich fühle ich mich gut dabei. Die Leute wissen mich zu schätzen und mögen mich. Für mich ist das ein Gewinn, wenn die Leute dich lieben. Du fühlst dich gut, auch wenn du kein Geld hast, weil ich überall, wo ich hingehe, Freunde habe. Wo auch immer ich bin, in jedem Dorf, in dem ich jemals ankam, die Leute haben mich immer gut behandelt.« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013)
Autobuses versus camiones: Lorenzo Villanueva und sein sozialer Abstieg in die Stadtbusse »Ich erinnere mich, dass sich Leute über mich lustigmachten, als ich angefangen habe, in den Stadtbussen zu singen: ›Was hast du dir gedacht? Du bist ein Pajarito del Sur, du bis eine große Person! Wie kann es sein, dass du in den Stadtbussen singst?‹« (Villanueva, Lorenzo 4.4.2013)
Als sich sein Vater immer mehr aus den Überlandbussen zurückzog und Inspekteur/innen die Arbeit der »Los Pajaritos del Sur« auf den rutas entlang der Costa Grande und der Costa Chica immer schwieriger gestalteten, sah sich Lorenzo Villanueva gezwungen, in die Busse in Acapulcos Stadtverkehr umzusteigen. Dieser Wechsel zwischen autobuses und camiones46 war nicht nur ein Wechsel zwischen zwei Transiträumen. Vielmehr musste sich Lorenzo Villanueva mit anderen Musikern auseinandersetzen, die in diesen Bussen spielten, neue Beziehungen zu Busfahrern aufbauen und sein Repertoire für ein anderes Publikum erweitern. Besonders bemerkenswert an diesem Wechsel war Lorenzo Villanuevas Scham, die den erfahrenen Busmusiker ergriff, als er begann in den camiones zu spielen, obwohl er seit beinahe 20 Jahren in Überlandbussen spielte. Sein Beispiel zeigt, wie schnell die Musiker an Selbstwertgefühl einbüßten, wenn ihre Professionalisierungsstrategien an den räumlichen Umständen scheiterten und sie von Neuem allein auf die coperacha und den Raum der Busse zurückgeworfen wurden: »Gut, an diesem Tag fasste ich Mut und ging los. Aber ich stieg dort drüben ein, wo sie mich nicht kannten. Ich dachte, dort könnte mich niemand treffen. […] So begann ich also, in den Stadtbussen zu arbeiten und nach Pesos für meine Arbeit zu fragen. Am Anfang – da bin ich ehrlich – erinnere ich mich, dass ich in den ersten Bus einstieg, spielte, aber nicht nach dem Beitrag fragte. Nachdem ich gespielt hatte, stieg ich aus der Hintertür aus. Ich erinnere mich, dass am folgenden Tag wieder arbeitete und einen Nachbarn, von dort, wo ich lebe, traf. Und als ich ihn sah… Ich sang nicht, Bruder! […] Als ich ihn sah, stieg ich zur Hintertür aus – wegen der Scham. Ich schämte mich, weil er sagen könnte: ›Wie kann es sein, dass so-und-so in den
46 Die Musiker im Streckennetz »Costa Grande und Costa Chica« bezeichneten – anders als die Musiker in den übrigen Streckennetzen – nur Busse des urbanen Nahverkehrs als »camiones«, von denen sie Überlandbusse mit dem Begriff »autobuses« unterschieden.
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Stadtbussen spielt?‹ Ich sang nicht, ich schämte mich. […] Ich bekam einen Knoten im Hals und konnte nicht singen – wegen der Scham. Ich stieg aus und da stand ich. Ich stand dort fast eine Stunde, bis sich der Knoten in meinem Hals löste.« (Villanueva, Lorenzo 5.10.2011)
Während »Los Pajaritos del Sur« gerne über ihre Berühmtheit sprachen und in Interviews stets hervorhoben, wie oft sie an Bord der Überlandbusse wiedererkannt wurden, wählte Lorenzo Villanueva für seinen ersten Auftritt in einem camión bewusst eine ruta, auf der er keine bekannten Menschen erwartete. In den camiones schämte er sich plötzlich, Passagier/innen um die coperacha zu bitten, obwohl er dies unzählige Male an Bord ebenso vieler Überlandbusse getan hatte. Die Scham, von der er in Interviews berichtete, und seine Bemühungen, seine neuen Auftrittsorte vor Nachbarn und Bekannten zu verheimlichen, zeigten, dass Lorenzo Villanueva seinen Umstieg von Überlandbussen in Stadtbusse als sozialen Abstieg empfand.47 Die camiones, in denen Lorenzo Villanueva zunächst in der Nähe des Flughafens, später auf dem Strandboulevard Avenida Costera Miguel Alemán und schließlich ab meinem zweiten Feldaufenthalt 2011 in den Bussen der línea Maxirutas zwischen dem Zentrum der Stadt und ihren Vororten auf der anderen Seite des langen Maxitúnels spielte, unterschieden sich bereits rein äußerlich von Überlandbussen. Sie waren kleiner, hatten den Motor vorne und verfügten über zwei Türen, einen Einstieg vorne neben dem Fahrer und einen Ausstieg im hinteren Drittel des Busses. Die Zuordnung der jeweiligen Tür als Ein- beziehungsweise Ausstieg war in den Bussen der línea Maxirutas besonders wichtig, weil die Passagier/innen mit Hilfe von Lichtschranken an beiden Türen gezählt wurden. Trotz ihrer geringeren Größe transportierten die Stadtbusse aber nicht notwendigerweise weniger Passagier/innen, die in den camiones deutlich komprimierter saßen. Die Abstände zwischen den Sitzreihen waren schmaler und bei den Sitzen selbst handelte es sich nicht um die gepolsterten Sitze der Überlandbusse, deren Lehnen bis über die Köpfe der Passagier/innen reichten und sich verstellen ließen, sondern um starre Plastiksitze, deren Lehnen unter den Schulterblättern der Passagier/innen endeten. Auch sonst zeugten die camiones in ihrer schlichten Funktionalität von der kurzen Verweildauer ihrer Passagier/innen in ihrem Innern und standen damit im Gegensatz zu den auf Komfort und lange Reisen ausgerichteten Überlandbussen. An den Decken der camiones befanden sich Stangen mit Haltegriffen, da sich die Stadtbusse häufig über den cupo hinaus füllten und viele Passagier/innen stehend im Gang reisten. Aufgrund der kurzen Reisen der Passagier/innen an Bord der camiones gab es viel Bewegung auf den Gängen der Fahrzeuge und die camiones sahen schnell verbraucht aus. Besonders in der Regenzeit sammelte sich der grau-schwarze Dreck der Straßen auf dem Boden der Busse. Die Motoren, auf die häufig eine Klappe
47 Auch Lorenzo Villanuevas Vater Gabriel machte einen deutlichen Unterschied zwischen Performances in camiones und Performances in autobuses. In der Schilderung seines ersten Auftritts an Bord eines Busses unterstrich er mehrfach die Tatsache, dass es sich eben nicht um einen Überlandbus, sondern einen camión, einen urbano handelte und er sich darin so schämte, dass er Text, Melodie und Begleitung seiner Stücke vergaß und seiner Familie nichts von seinen Auftritten erzählte: »Meiner Familie sagte ich nicht, dass ich in einem Bus, einem Stadtbus gespielt hatte. Ich schämte mich. […] Ich schämte mich zu sagen: ›Ich habe in den Stadtbussen gespielt.‹« (Villanueva, Gabriel 10.10.2011)
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neben dem Fahrer den Zugriff aus dem Innern des Busses erlaubte, waren in den Fahrgasträumen laut zu hören, insbesondere, weil die Busfahrer im Stadtverkehr außerordentlich hochtourig fuhren. Außerdem verfügten die urbanen Busse über keine Klimaanlagen und fuhren daher mit offenen Fenstern. Abbildung 21: Lorenzo Villanueva
Foto: Kirschlager
Diese Eigenschaften der camiones hatten großen Einfluss auf die Performances von Busmusikern, die bereits damit begannen, dass Lorenzo Villanueva dazu gezwungen war, sich auf dem Rücken liegend unter der Lichtschranke hindurch über die Stufen des Einstiegs zu schieben, bis er auf diese Weise seinen gesamten Körper zu Füßen des Busfahrers ins Innere des Busses gebracht hatte. Besonders während der Regenzeit hinterließen die schmutzigen Metallstufen dunkle Flecken auf den Hemden Lorenzo Villanuevas, der es gewohnt war, die Professionalität der »Los Pajaritos del Sur« an Bord der Überlandbusse durch einheitliche Seidenhemden mit dem aufgestickten Schriftzug des duetos Nachdruck zu verleihen. Die niedrigen, schmalen Rückenlehnen der camiones boten den Musikern während ihrer Performances nicht den Halt, den sie in den Lehnen der Sitze in Überlandbussen fanden, und es war ungleich schwerer, die ohnehin nervöse Fahrweise der camiones-Fahrer im dichten Verkehr der Großstadt auszubalancieren. Für Lorenzo Villanuevas Vater und dueto-Partner Gabriel war dieses Risiko ein entscheidendes Argument gegen Performances an Bord der camiones, wenn ihn sein Sohn überreden wollte, auf dem Rückweg von ihren Touren entlang der Costa Grande zwischen dem Zentrum Acapulcos und ihrem Vorort Ciudad Renacimiento zu spielen: »In einem Stadtbus ist es anders als in einem Überlandbus. Der Überlandbus hat höhere Sitze. Du hast Halt, wenn er bremst. Im Stadtbus nicht. Der Stadtbus hat niedrige Sitze, da kannst du dich nicht abstützen. […] Immer wenn ich mit meinem Sohn von der Costa Grande zurückkam, sagte mein Sohn: ›Komm, wir gehen in die Stadtbusse! Komm! Wenn auch nur für zwei Lieder!‹
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Wir spielten zwei, drei Lieder und er fragte nach der Coperacha, weil ich mich alt fühlte und mich in einen Sitz setzte. Ich nahm sein Requinto und meine Gitarre und er fragte nach der Coperacha, ohne Gitarre. Warum? Weil die Stadtbusse so wild fahren. Daher ohne Requinto, ohne Gitarre. Er hielt sich an den Sitzen fest und fragte nach der Coperacha. Und ja: die Leute gaben uns was! Aber ich fühlte mich unsicher. Wenn der Bus bremst – stell ich mir vor – und man ist schon alt und schlägt dort hin…« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013)
Nicht nur die Herausforderung an die Balance, sondern besonders der Lärm machte camiones im Vergleich zu Überlandbussen zu undankbaren Räumen musikalischer Performances. Lorenzo Villanueva war gezwungen, gegen die lauten Motorengeräusche und den Wind, der durch die stets offenen Fenster in den Fahrgastraum drückte, anzusingen. Hinzu kam der Krach des Verkehrs, der Stadt und vor allen Dingen, der ungeheure Lärm im Maxitúnel, dessen Wände die Motorengeräusche des Busses und der übrigen Fahrzeuge durch die offenen Fenster in den Fahrgastraum warfen. Lorenzo Villanueva erklärte: »Sobald es in den Tunnel geht, muss man die Stimme heben, weil die Luft dort dicker ist. Am Anfang ist mir das nicht leicht gefallen, es fiel mir schwer zu atmen. Vielleicht, weil die Luft dort eingeschlossen ist, wer weiß?« (Villanueva, Lorenzo 4.4.2013) Im Vergleich zu den Überlandbussen litt die musikalische Performance unter dem Lärm an Bord der camiones: »Wenn wir in die Überlandbusse steigen, selbst in die der zweiten Klasse, dann haben die alle Klimaanlagen und geschlossene Fenster. Dann hört man die Musik besser. Das Timbre der Stimme hört man besser, die Instrumente hört man besser […]. Ja, es gibt Unterschiede, es hört sich besser an und die Leute hören besser zu. Weil alles abgeschlossen ist, nicht?« (Villanueva, Lorenzo 4.4.2013)48
Obwohl die vielen Passagier/innen eine höhere coperacha versprachen und Lorenzo Villanueva gerade ihretwegen seine Strecke durch den Tunnel gewählt hatte, brachten die vollen camiones auch Probleme mit sich. Anders als in Überlandbussen, wo stehende Passagier/innen eine Ausnahme waren, bildete der Gang in den camiones einen festen Bestandteil des Fahrgastraumes und Lorenzo Villanueva konkurrierte mit zahlenden Passagier/innen um den knappen Raum. Die hohe Fluktuation der Passagier/innen sorgte zusätzlich für viel Bewegung im Gang, so dass Lorenzo Villanueva in camiones während seiner Performances häufiger Stücke unterbrechen musste, um Fahrgäste passieren zu lassen. Mit der Fluktuation der Passagier/innen hing auch zusammen, dass Lorenzo Villanuevas Auftritte an Bord der camiones deutlich kürzer waren 48 Auch Jesús García, der nur selten in Acapulcos camiones spielte, beklagte den hohen Geräuschpegel an Bord der Stadtbusse, der eine größere physische Anstrengung für ihn als Musiker bedeute und den Hörgenuss der Passagier/innen schmälere: »Weil es in den Stadtbussen so laut ist. Weil sie eine Klimaanlage haben, singst du in den Überlandbussen weicher, du singst schöner. Denn sonst singst du manchmal so, als würde deine Stimme untergehen. Wenn du leise singst, dann hört es sich schöner, besser an. […] Wenn es ein alter Wagen ist, dann macht der Motor Lärm und die Karosserie macht Geräusche. […] Außerdem rasen die Stadtbusse, die fahren wilder, überschlagen sich fast, nicht? Deshalb maloche ich nicht gerne dort. Nur manchmal, wenn ich keine andere Möglichkeit sehe, arbeite ich in Stadtbussen.« (García, Jesús 24.9.2010)
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als die Performances der »Los Pajaritos del Sur« an Bord der Überlandbusse. Ihm blieb weder die Zeit, am Anfang und am Ende der Performance lange Gespräche mit dem Fahrer zu führen, noch konnte er die umfangreichen Monologe, die sein Vater in den Überlandbussen hielt, in die camiones übertragen. Seine Performances änderten sich vor allen Dingen durch die Tatsache, dass er keine CDs verkaufen konnte, denn auch dazu blieb ihm an Bord der camiones keine Zeit. Zudem waren die Stücke auf den Tonträgern nicht auf das urbane Publikum in den camiones abgestimmt.49 Für Lorenzo Villanueva handelte es sich dabei um einen gravierenden Unterschied. Zwar baten »Los Pajaritos del Sur« an Bord der Überlandbusse ebenfalls um eine coperacha, aber ihre Haupteinnahmequelle waren die verkauften CDs. Durch die neue zentrale Rolle der coperacha veränderte sich Lorenzo Villanuevas Schamgefühl schlagartig: »Natürlich hatte ich schon mit meinem Vater gearbeitet und so. Wir arbeiteten in Überlandbussen, aber dort arbeitet man nach einem anderen System, nicht? Da hat man seine CDs dabei, macht Werbung und fragt nach dem Beitrag, nicht? Und von dem Beitrag, den sie dir geben, da isst du. Nach Hause bringst du das Geld aus den verkauften CDs und vom Rest kaufst du neue CDs.« (Villanueva, Lorenzo 5.10.2011)
Doch Lorenzo Villanueva musste nicht nur auf den Erlös aus dem Verkauf der CDs an Bord der camiones verzichten, in den Stadtbussen fiel auch die coperacha der einzelnen Passagier/innen deutlich geringer aus. Der der jüngere der »Los Pajaritos del Sur« musste sehr viel mehr Performances pro Tag in camiones spielen, um die Hälfte dessen, was er an Bord der Überlandbusse mit seinem Vater gemeinsam einspielte, einzunehmen. Er erklärte, dass er in camiones selten mehr als einen Peso pro Passagier/in bekam (Villanueva, Lorenzo 5.10.2011).50 Zwar waren Lorenzo Villanuevas Performances an Bord der camiones deutlich kürzer als in den Überlandbussen, jedoch bestritt er, dass es einen Zusammenhang zwischen der Länge der Performance und der coperacha gebe: »Es ist egal, ob du drei oder zehn Lieder singst. Wer dir was geben will, gibt was. Es ist egal, wie wieviele du singst. Schön wär’s!« (Villanueva, Lorenzo 13.12.2011) Vielmehr ließ sich die geringe coperacha mit dem Verhältnis der Passagier/innen zu den camiones und der Häufigkeit, mit der sie diese nutzten in Verbindung bringen. Auch Musiker, deren Strecken auf rutas von Überlandbussen mit einem hohen Anteil an Pendler/innen lagen, erklärten, dass häufig reisende Passagier/innen in der Regel weniger coperacha gaben und den Musikern auch sonst geringere Wertschätzung entgegenbrachten. Die Passagier/innen der camiones stellten vor diesem
49 Das änderte sich ein wenig mit der CD Siguen arrazando con más éxitos, die »Los Pajaritos del Sur« 2012 auf dem Label Arce Imports herausbrachten und die mit »Señora, señora« immerhin ein Stück enthielt, dass Lorenzo Villanueva durch seine Erfahrungen in den camiones in sein Repertoire aufgenommen hatte. 50 Julio García, der seine Karriere als Kind in Acapulcos camiones begonnen hatte, bestätigte diese Beobachtung: »In den Überlandbussen verdienst du besser. In den Stadtbussen gibt es selten mehr als Pesostücke… Ein-Peso-Münzen, selten mal Zwei-Peso-Münzen. In den Überlandbussen geben sie dir zwei, fünf oder zehn Peso oder manchmal sogar 20.« (García, Julio 7.10.2011)
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Hintergrund ein Extrem dar, da sie in den Bussen, die das Zentrum mit den Vororten Acapulcos verbanden, in den meisten Fällen mindestens zweimal täglich reisten. Die niedrigen coperachas der Passagier/innen in camiones bedingten gemeinsam mit der räumlichen Konkurrenz an Bord der Busse und Gabriel Villanuevas Angst vor Stürzen, dass Lorenzo Villanueva alleine und nicht im dueto mit seinem Vater auftreten konnte. Das Einkommen aus den camiones reichte nur für ihn allein: »Warum ich alleine arbeite? Weil man so wenig verdient. Ich muss sehen, dass es meine Arbeit ist. Die ist schlicht, aber ich muss nach Münzen fragen und für zwei…? Wenn du 50 Peso verdienst, musst du sie teilen 25 und 25! Nein! […] Ich muss zusehen, denn ich habe meine Frau, ich habe drei Kinder und ich selbst. Wir sind zu Hause fünf, und daran muss ich denken. Deshalb versuche ich für gewöhnlich, in den Stadtbussen allein zu arbeiten. Obwohl ich als Musiker finde, – wie soll ich sagen? – dass es sich zu zweit viel besser anhört, nicht?« (Villanueva, Lorenzo 4.4.2013)
Die niedrige coperacha an Bord der camiones zwang Lorenzo Villanueva folglich künstlerische Kompromisse einzugehen. Die Musik, die er und sein Vater als »Los Pajaritos del Sur« interpretierten, war für dueto arrangiert, und Lorenzo Villanueva spielte dabei requinto und sang die zweite Stimme, während sein Vater die erste Stimme sang und Rhythmusgitarre spielte. Wenn Lorenzo Villanueva an Bord der camiones die Akkorde der Begleitung auf dem requinto schlug und dazu alleine sang, empfand er die Performance als unvollständig und minderwertig und nahm an, dass viele der Passagier/innen dies ähnlich sahen. Als Räume seiner Performances besaßen die camiones folglich eine Reihe von Eigenschaften, die Performanceelemente, mit denen Lorenzo Villanueva seine Tätigkeit an Bord der Überlandbusse als die Arbeit eines professionellen Musikers gegenüber der Rolle eines Bettlers mit Instrument vor sich selbst verteidigte, im Wege standen. An Bord der Überlandbusse trat er gemeinsam mit seinem Vater als »Los Pajaritos del Sur« in der üblichen Besetzung eines duetos mit zwei Stimmen, Rhythmusgitarre und requinto auf, einer Besetzung, mit der »Los Pajaritos del Sur« auf contratos 1.000 Peso pro Stunde verlangen konnten. Viele der Passagier/innen kannten das dueto, das regionale Berühmtheit genoss und somit bereits Referenzen mit in die Performances an Bord der Überlandbusse brachte. Ihren professionellen Anspruch unterstrichen die beiden Musiker mit ihrer gepflegten, uniformen Kleidung. Während ihnen die coperacha der Passagier/innen in den Überlandbussen hauptsächlich dazu diente, unterwegs anfallende Kosten, wie Verpflegung und Unterkunft zu decken, bestand der größte Teil ihres Einkommens aus dem Erlös der verkauften Tonträger, die Gabriel Villanueva in virtuosen Monologen anpries. Dabei hatten die Performances der »Los Pajaritos del Sur« eine Länge von bis zu einer Stunde. An Bord der heißen und ungemütlichen camiones in Acapulcos Stadtverkehr war es Lorenzo Villanueva aufgrund der geringen coperacha, der räumlichen Konkurrenz gegenüber zahlenden Fahrgästen und dem physischen Anspruch, dem sich sein Vater nicht mehr gewachsen sah, verwehrt als »Los Pajaritos del Sur« aufzutreten. Er interpretierte alleine und einstimmig Stücke, die in seinen Augen nach der Besetzung eines duetos verlangten. Obwohl ihn die übrigen Musiker an der Haltestelle »Las Anclas« »El Pajarito« nannten, wies ihn während seiner Performances an Bord der camiones nichts als Mitglied des bekannten duetos aus. Die bestickten Seidenhemden der »Los Pajaritos del Sur« trug er an Bord der
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camiones nicht. Der ohnehin erniedrigende Einstieg auf dem Rücken unter der Lichtschranke hindurch zwang Lorenzo Villanueva zu widerstandsfähiger Kleidung, die über den Verlauf seines Arbeitstages Flecken bekam. Doch nicht nur die Tatsache, dass er in den Stadtbussen alleine auftreten musste, beeinflusste seine musikalische Performance, sondern auch der Lärm, der ihn zwang lauter zu singen und zu spielen, obwohl dabei Feinheiten in Timbre und Dynamik verloren gingen. Anstatt des Verkaufs der CDs war Lorenzo Villanueva allein auf die coperacha angewiesen, um die er die Fahrgäste bat. Dabei entlohnten die Passagier/innen der camiones, die meist zweimal pro Tag auf den rutas der línea Maxirutas durch den Tunnel zwischen Zentrum und Vororten Acapulcos reisten und sehr häufig auf Busmusiker trafen, den Musiker mit sehr viel kleineren coperachas als Reisende in den Überlandbussen. Somit erklärte sich, dass Lorenzo Villanueva seinen Umstieg von Überlandbussen auf die camiones der Großstadt Acapulco als sozialen Abstieg interpretierte, den er vor Bekannten und Nachbar/innen zu verheimlichen versuchte, weil er ihn beschämte. Die Busräume und das fragile Selbstwertgefühl der músicos ambulantes In Interviews zeigten sich Passagier/innen zwar in der Regel tolerant gegenüber den Busmusikern und sprachen in diesem Zusammenhang auch von deren Recht, ihre Arbeit auszuüben, jedoch betonten sie beinahe ausschließlich, dass sie den Musikern aus karitativen Motiven Geld gaben. Sie waren der Ansicht, músicos ambulantes an Bord der Busse würden allein durch ihre finanzielle Notlage in die Busse getrieben, Musik sei ein letzter Ausweg vor dem Absturz in die Kriminalität, aber keine Berufung. Die Biographien meiner Interviewpartner unter den músicos ambulantes zeigten, dass ihre Karrieren an Bord der Busse tatsächlich anfangs Folge akuter ökonomischer Krisen waren. Besonders musikalischen Anfängern boten die Busse oft die einzigen Räume für ihre Performances, bei denen sie ihr winziges Repertoire stets wiederholten. So verstanden die Musiker bei ihren ersten Auftritten die Busse selbst als Räume für Dilettanten und blutige Anfänger und berichteten von der überwältigenden Scham, die sie bei diesen Auftritten empfanden. Ihre Scham überwanden die Musiker erst, als sie aufhörten ihre Arbeit als erzwungene Übergangslösung einer ökonomischen Krise zu betrachten. Sie erweiterten ihre musikalischen Fähigkeiten und ihr Repertoire, sie legten Wert auf professionelle Kleidung und ein gepflegtes Äußeres, das ihrer Wahrnehmung als Bedürftige entgegenwirkte, und sie entwickelten ein Bewusstsein für die besonderen Fähigkeiten, die ihnen ihre tägliche Arbeit an Bord der Busse ermöglichten. Sie begannen ihre Dienste als Musiker auf privaten Feiern oder Auftragskomponisten zu bewerben und vertrieben an Bord ihre eigenen Tonträger. Sie entzogen sich der Stigmatisierung durch die Räume ihrer Performances, indem sie sie als Bestandteil von Strategien mit Zielen jenseits der Busse verstanden. So gaben auch jene Busmusiker, die von der erdrückenden Scham berichteten, die sie quälte, als sie begannen in Bussen aufzutreten, in Interviews an, dass sie mittlerweile Gefallen an ihrer Arbeit und sogar künstlerische Bestätigung an Bord der Busse fanden. Das Beispiel Lorenzo Villanuevas zeigt jedoch, dass auch das Selbstvertrauen erfahrener Musiker herbe Rückschläge
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erlitt, wenn sie, wie in den urbanen Bussen, auf die prekäre coperacha als einzige Motivation zurückgeworfen wurden und weder ihre musikalischen Fähigkeiten noch ihr professionelles Auftreten zum Ausdruck bringen konnten.
Zweiter Halt Músicos ambulantes und die Performance der Busräume: Rollen, Zuschreibungen und Aushandlungsprozesse an Bord der Überlandbusse
Wenn Musiker vom Straßenrand die drei oder vier Stufen hinauf in einen Überlandbus stiegen, mischten sie sich unter ein Ensemble von Busfahrern, Passagier/innen und der Transportgesellschaft, die gemeinsam eine Busreise performten. Um Erfolg zu haben, waren sie gezwungen, ihre Rolle in diesem Ensemble auszuhandeln. Die Musiker mussten die übrigen Akteur/innen kennen und Strategien entwickeln, die Busfahrer motivierten, sie an Bord ihrer Fahrzeuge zu dulden, und Passagier/innen bewegten, ihren Auftritt mit einer möglichst hohen coperacha zu belohnen. Die Kategorie der Busse, ihr servicio, hatte entscheidende Auswirkung auf diese Performance und die Zusammensetzung ihrer Teilnehmer/innen. Während die alten Busse des niedrigsten servicio económico klappriger und lauter waren, als die Busse höherer servicios, begünstigte ihre Haltepolitik, den Zustieg der Musiker zwischen Haltestellen. Auch ihr späteres Publikum an Bord des servicio económico bestand aus Passagier/innen ländlicher Transiträume, die höher kategorisierte, direkte Busse ohne Halt passierten. Es waren die rutas und nicht die günstigeren Ticketpreise, die die Zusammensetzung der Reisenden an Bord bestimmten. Trafen músicos ambulantes an der Costa Grande in den Bussen der Kooperative AGC, deren Endstation direkt neben dem größten Markt in Acapulco lag, vor allen Dingen auf Händler/innen und campesino/as, beförderten die Busse der línea AMS ein überwiegend bürgerliches Publikum ins Zentrum der Stadt und zu Anschlussbussen in größeren Terminals. So erwartete Tomás Ramírez an Bord der Busse der línea AMS Passagier/innen mit einem weiteren Bildungshorizont als in den Bussen der línea AGC, wo er hauptsächlich ländlich konnotierte corridos spielte, während er für das vermeintlich gebildetere Publikum an Bord der Busse der línea AMS internationale Popstücke interpretierte und die Pausen mit internationalen Nachrichten füllte. Die zentrale Rolle an Bord der Busse spielten die Busfahrer, die über den Zustieg von Musikern und Händler/innen entschieden, obwohl ihnen die Duldung von Subunternehmertum an Bord der Busse durch ihre Arbeitgeber untersagt war. Fern der Busterminals entlang der rutas hatten die Fahrer Kontrolle und Verantwortung über die Fahrzeuge und traten entsprechend als Herren über ihren Busraum auf. Die Monotonie, die schlechte Bezahlung und die Einsamkeit, über die sich sämtliche Busfahrer in Bezug auf ihre Arbeit beklagten, führten dazu, dass sie nur wenig Loyalität gegenüber
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ihren Arbeitgebern verspürten und oft Fahrtgeld unterschlugen. So setzten wiederum die Verantwortlichen der líneas wenig Vertrauen in ihre Angestellten in den Bussen ihrer Flotte und entsandten Inspekteur/innen, um die Fahrer zu kontrollieren. Die Busse, die músicos ambulantes bestiegen, waren also bereits konfliktbeladene und umkämpfte Räume, in denen sie sich den Unmut der Fahrer zunutze machten. Die Musiker entwickelten Strategien, die darauf ausgerichtet waren, das Netzwerk bekannter Busfahrer stetig auszuweiten und bestehende Beziehungen zu pflegen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Regelverstößen und Unregelmäßigkeiten an Bord der Busse fand zwischen Musikern und Fahrern allerdings kein monetärer Austausch statt. Vielmehr wussten die Musiker um die Langeweile und die Einsamkeit der Fahrer und boten ihnen im Gegenzug für ihren Gefallen Unterhaltung und Gesellschaft. Sie wurden zu alten Bekannten auf langen rutas, wo die übrigen Begegnungen flüchtiger Art waren. So entwickelten sich langfristig reziproke Beziehungen, die sowohl Musiker als auch Fahrer als »amistad« bezeichneten. Die Rollen von Fahrern und Passagier/innen spiegelten sich auch in der räumlichen Aufteilung an Bord der Busse in Fahrerraum und Fahrgastraum, während sich músicos ambulantes mit ihren Performances im Gang im wahrsten Sinne des Wortes zwischen die Stühle begaben, weder in der Rolle der arbeiteten Fahrer noch in der Rolle der zahlenden Passagier/innen. Die Musiker wurden als Akteure der Transiträume zu jenen structural holes, die kollektive Busreisen von Urrys Konzept der »automobility« unterschieden. Ihre informelle Rolle an Bord der Überlandbusse trug dazu bei, dass sie als bedürftig wahrgenommen wurden. Diese vermeintliche Bedürftigkeit bewegte die überwiegende Mehrheit der Passagier/innen dazu, die Musiker in der Performance der Busreise zu tolerieren und ihren Auftritt sogar mit einer coperacha zu belohnen. Aber obwohl die Musiker von der Wahrnehmung als Bedürftige profitierten, litten sie doch aufgrund dieser Stigmatisierung. Viele von ihnen hatten bewusst rutas fern ihrer Wohnorte gewählt, um Treffen mit Nachbarn und Bekannten an Bord der Busse zu vermeiden. Alle músicos ambulantes der ersten Generation berichteten von erdrückender Scham während ihrer ersten Auftritte, wie Gabriel Villanueva, der anfangs die eigene Familie bezüglich seiner Arbeit an Bord der Busse belog. Deshalb wirkte die stete Wiederholung von Sätzen wie »Solo trato de ganarme la vida honradamente« oder »Eso sí es un trabajo« nicht nur als Verteidigung gegenüber den Vorwürfen der Passagier/innen, sondern erweckte den Verdacht, Musiker versuchten mit diesen Sätzen auch sich selbst zu überzeugen. Schließlich belegten die Biographien von músicos ambulantes der ersten Generation, dass sie in der Tat zunächst aus finanziellen Notlagen heraus begonnen hatten, in Bussen aufzutreten. Nur selten hatten sie geplant, ihre Arbeit als músicos ambulantes über die Dauer einer akuten ökonomischen Krise hinaus zu verfolgen. Die Scham, die mit dem räumlichen Stigma der Überlandbusse verbunden war, überwanden die Musiker letztendlich durch Professionalisierung. Obwohl sie der Überzeugung waren, dass gerade Überlandbusse und ihr stetig wechselndes Publikum ihnen die Möglichkeit boten mit einem sehr schmalen Repertoire aufzutreten, arbeiten sie stets an ihren musikalischen Fähigkeiten und erweiterten ihr Repertoire, bis sie in der Lage waren auch Gigs auf privaten Feiern und in Restaurants wahrzunehmen. Mit ihrer Kleidung und ihrem gepflegten Äußeren bemühten sie sich, ihrem Stigma als Bettler mit Musikinstrument entgegenzuwirken. Die Musiker, die anfangs allein an der prekären coperacha am Ende ihrer Performances interessiert waren, verfolgten mit
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wachsender Erfahrung Absichten, die sich außerhalb der Busse platzieren ließen. Sie betrachteten ihre Auftritte an Bord der Busse als Werbung für Gigs auf privaten Feiern oder als Komponisten von Auftragsarbeiten und verkauften im Rahmen ihrer Performances Tonträger ihrer eigenen Musik. Die Busse boten ihnen dabei nicht nur ein großes Publikum, das sich durch die ansonsten dünnbesiedelten Transiträume bewegte. Dieses Publikum mit seiner heterogenen geographischen Herkunft half den Musikern auch, ihre räumliche Bekanntheit auszudehnen und ihre Kassetten und CDs um ein Vielfaches weiter zu streuen als durch lokalen Verkauf. Wie sehr das Selbstbewusstsein der músicos ambulantes von ihrer Professionalisierung und Motivationen außerhalb der Busse abhing, zeigte das Beispiel Lorenzo Villanuevas nach seinem Umstieg in die urbanen camiones Acapulcos. In den engen Gängen der urbanen Busse musste Lorenzo Villanueva ohne seinen Vater alleine Musik spielen, die für dueto de guitarras konzipiert war. Dabei bestanden seine einzigen Einnahmen aus der coperacha, weil die CDs der »Pajaritos del Sur« in Gabriel Villanuevas Abwesenheit unverkäuflich waren. Die Lichtschranken hinter der Tür der camiones zwangen den Musiker über die Treppe und unter den Reflektoren hindurch ins Innere zu kriechen. Dieser erniedrige Einstieg hatte auch zur Folge, dass Lorenzo Villanueva auf die teuren Seidenhemden, die er bei Auftritten mit seinem Vater trug, verzichten musste und stattdessen auf rustikale, einfache Kleidung zurückgeworfen wurde. So schämte sich der erfahrene Busmusiker in den camiones aufzutreten, während ihm seine Arbeit an Bord der Überlandbusse keine Probleme bereitete. Lorenzo Villanuevas Umstieg von den klimatisierten und geräumigen Überlandbussen in die engen, lauten Stadtbusse belegte, welch großen Einfluss verschiedene Bustypen auf das Selbstwertgefühl der músicos ambulantes hatten. Die Protagonisten meiner Arbeit hoben sich von anderen Musikern ab, weil sie an Bord von Überlandbussen auftraten. Diese besonderen Räume beeinflussten ihre Performance nicht nur durch ihre physischen Eigenschaften, wie Geräusche, Enge und Bewegung, sie entstanden im Zusammenwirken von Busfahrern, Passagier/innen und Transportgesellschaften. In diesem sozialen Gefüge mussten músicos ambulantes ihren Zustieg aushandeln und ihre Rolle finden. Sie nutzten das brüchige Verhältnis der Transportgesellschaften zu ihren Busfahrern und bauten zu letzteren reziproke Beziehungen auf, so dass Fahrer bereit waren, für die Musiker ihren Arbeitsplatz zu riskieren, wenn sie sie vom Straßenrand auflasen. Als Akteure der Transiträume, die weder von der Transportgesellschaft beschäftigt waren noch ein gültiges Ticket besaßen balancierten die Busmusiker in ihrer informellen Rolle an Bord jedoch stets auf einem schmalen Grat zwischen der Wahrnehmung als Bedürftige, die Passagier/innen zur coperacha bewegte, und dem eigenen professionellen Selbstwertgefühl, das ihnen half, die erdrückende Scham zu überwinden.
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Performanceräume
Die Räume der Wechselbeziehungen zwischen Passagier/innen und músicos ambulantes
Fischer-Lichte stellt fest, dass die Ko-Präsenz von Akteur/innen und Zuschauer/innen eine notwendige Bedingung für eine Performance ist: »Damit eine Aufführung stattfinden kann, müssen sich Akteure und Zuschauer für eine bestimmte Zeitspanne an einem bestimmten Ort versammeln und gemeinsam etwas tun.« (Fischer-Lichte 2004: 47) Dieses »etwas«, das sie gemeinsam tun, ist durch die Wechselbeziehungen von Akteur/innen und Zuschauer/innen bestimmt, jener feedback-Schleife, die die Grenzen zwischen beiden Gruppen verschwimmen lässt. McAuley kommt zu einer sehr ähnlichen Feststellung, wenn sie schreibt: »[I]f theatre involves communication between live actors and live spectators, then they must be present to each other within a given space.« (McAuley 2000: 4) Allerdings legt sie einen noch stärkeren Fokus auf den Raum, in dem sich beide Gruppen treffen und leitet mit ihrer Argumentation letztendlich Anne Uebersfelds Aussage her: »Theater is space.« (Ebd.: 3) Der Raum der Performances entfaltete sich zwischen músicos ambulantes, den Passagier/innen und den Busfahrern an Bord der Überlandbusse. Das Publikum setzte sich folglich aus Mitgliedern jenes Ensembles zusammen, das gleichzeitig Busräume performte. Die Räume und die Menschen, die in ihnen zum Publikum gefasst wurden, machten die Performances der músicos ambulantes im Vergleich zu anderen musikalischen Performances in Konzertsälen, Clubs oder selbst Fußgängerzonen und Parks besonders. Keiner ihrer Zuhörer/innen hatte sich eingefunden, um einer musikalischen Performance beizuwohnen. Fahrer gingen während der Performances weiterhin ihrer Arbeit nach und steuerten den Bus. Viele der Passagier/innen blickten aus dem Fenster, hörten Musik über Kopfhörer oder schliefen. Zugleich war kaum ein Mitglied des Publikums in der Lage, den Performanceraum an Bord der Busse zu verlassen. Wenn sich músicos ambulantes in der Mitte des Ganges im Fahrgastraum des Busses platzierten, setzten sie Passagier/innen und Busfahrer in ein neues räumliches Verhältnis. In diesem Kapitel geht es folglich um Fragen nach den Wechselbeziehungen, die sich zwischen den músicos ambulantes und ihrem besonderen Publikum ergaben. Zu den Performanceräumen zähle ich auch die diskursiven Räume, die durch die Performance von in Texten und Musik an Bord der Überlandbusse konstituiert wurden. Damit folge ich der Annahme, dass es erst die Performance von Texten sei, die Theater in Kunst verwandle (vgl. McAuley 2000: 4 und Fischer-Lichte 2004: 43). Ein Grund-
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satz, der sich ebenso auf die Musik übertragen lässt. So stellt Small fest: »[P]erformance does not exist in order to present musical works, but rather, musical works exist in order to give performers something to perform.« (Small 1998: 8) Während sich einige Stücke sich auf die Wechselbeziehungen zwischen Musikern und Publikum an Bord der Überlandbusse bezogen, wie beispielsweise die kunstvoll verarbeitete Bitte um coperacha des unbekannten Musikers zwischen Oaxaca und Tuxtla Gutiérrez1, nahmen andere Stücke Bezug auf Orte entlang der ruta und entfalteten im Spannungsfeld zwischen mobilen Reisenden an Bord der Überlandbusse und lokalen Transiträumen eine besondere Bedeutung. Diese diskursiven Räume, die auf diese Art und Weise durch die Performances der músicos ambulantes entstanden, schlossen einen Kreis, der von den Einstiegsorten der Musiker am Straßenrand an Bord der Überlandbusse führte, wo die Musiker in Musik und Texten ihrer Performances wieder auf Transiträume bezugnahmen.
7.1 »MAN MUSS EH ZUHÖREN«: DAS PUBLIKUM UND DIE FEEDBACK-SCHLEIFE AN BORD DER BUSSE Tanenbaum berichtet über die New Yorker Metro, wie Auftritte von Musiker/innen die Aufmerksamkeit der ansonsten vor sich hinstarrenden Passagier/innen fokussierten: »[I]n the presence of a musician the glazed stares on riders’ faces were transformed into expressions of almost childlike wonder.« (Tanenbaum 1995: X) In den Gesichtern der Passagier/innen, die in Südmexiko das Publikum der Musiker in Überlandbussen bildeten, ließ sich während der beobachteten Performances keine kindliche Begeisterung ablesen. Vielmehr schienen Performances auf den ersten Blick bei den meisten Passagier/innen gar keine Reaktionen hervorzurufen. Abgesehen von Kindern drehten sich Passagier/innen niemals um, um über die Kante ihrer Rückenlehne Musiker hinter sich zu betrachten. Selbst Passagier/innen, die einen bequemen Blick auf die Musiker hätten haben können, schauten stattdessen häufig aus dem Fenster oder starrten apathisch auf die Rückenlehne des Sitzes vor ihnen. Oft hingen sie auf ihren zurückgeklappten Sitzen, wirkten erschöpft von Hitze und Reise und viele schliefen. Die músicos ambulantes bedauerten, dass ihnen nicht die Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde, die sie sich von den Passagier/innen erhofften. Zwei Verse des »Corrido del Cancionero« von Salvador Hernández kommentieren die scheinbare Teilnahmslosigkeit des Publikums: Otros ni nos hacen caso ni nos arriendan a ver.
Andere beachten uns gar nicht und drehen sich nicht einmal um.
Titel: Corrido del Cancionero Interpreten: Dueto Águila y Sol Komponist: Salvador Hernández Transkription einer Aufnahme vom 10.11.2011
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Vgl. Kapitel 1.1.
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Auch Julio García beklagte sich, über die Passagier/innen der Costa Grande, die ihm mit gelangweilter Attitüde ein Gefühl von Übersättigung vermittelten: »Es ist nicht mehr so wie früher. Früher konnte man mehr Kohle machen. Jetzt nicht mehr. Die Leute schlafen lieber. Sie müssen nur sehen, dass ein Musiker einsteigt: ›Ach Scheiße, da kommt ein Musiker!‹« (García, Julio 24.9.2010) Gleich ob die Besucher einer Philharmonie, eines Rockkonzertes oder jene Menschen, die in Fußgängerzonen Kreise um Straßenmusiker bildeten, sie fanden sich zusammen, um einer Performance beizuwohnen. Das Publikum der músicos ambulantes hingegen vereinten nicht notwendigerweise gemeinsame Hörgewohnheiten oder das Interesse an einer Performance, sondern seine Reiseabsicht. Es hatte für seine Anwesenheit an Bord des Busses bezahlt, nicht aber für die Teilnahme an einer musikalischen Performance. Anders als den Zuhörer/innen von Straßenmusiker/innen war es den Passagier/innen verwehrt, sich dem Performanceraum zu entziehen. Umgekehrt hatte die Performancesituation für die Musiker zur Folge, dass sich ihr Publikum anders als die Zuhörer/innen anderer Performances verhielt. Nicht selten schauten die Musiker in die Gesichter Schlafender. Mitglieder ihres Publikums blickten scheinbar teilnahmslos aus dem Fenster oder hörten über Kopfhörer Musik ihrer Wahl. Zugleich verwandelte ihre Doppelrolle als Kund/innen der líneas und Publikum der Busmusiker das Wohlbefinden der Passagier/innen in das zentrale Argument der Transportgesellschaften im Kampf um die Busse. Nichts desto trotz ergaben sich, wie in Konzertsälen, Clubs oder Fußgängerzonen auch an Bord südmexikanischer Überlandbusse aus der Ko-Präsenz von Musikern, Busfahrern und Passagier/innen Performances (vgl. Fischer-Lichte 2004: 47). Die Passagier/innen nahmen dabei bereits durch ihre physische Anwesenheit Einfluss. Ihre Körper, veränderten durch ihre Form, ihre Masse und ihre Oberfläche den Klang, auch wenn diese akustischen Nuancen im Innern des Busses unter Fahrt- und Motorengeräuschen nicht in gleicher Weise wahrnehmbar gewesen sein mögen, wie die Wirkung des Publikums in einem stillen Konzertsaal. Die Anzahl der Passagier/innen und ihre Verteilung im Bus formten die Performanceräume und bestimmten im Fall der meisten Busmusiker die Position, die diese im Gang des Busses einnahmen. Die Ströme der Passagier/innen, die je nach Wochentag und Uhrzeit die Überlandbusse bevölkerten, waren der wichtigste Faktor bei der Streckenwahl. Unmittelbar nachdem sie die Busse betraten, machten sich die Musiker ein Bild von Zusammensetzung und Stimmung der Passagier/innen und entschieden entsprechend, welche Stücke sie auf dieser Performance spielten. Der Einfluss der Passagier/innen ging folglich über die schlichte physische Ko-Präsenz hinaus. Alle im Bus Anwesenden verwandelten sich in Teilnehmer/innen der Performance. Aus den Interaktionen zwischen ihnen entspannten sich feedback-Schleifen, Ketten von Reaktionen, die Performances der Busmusiker nicht nur bestimmten, sondern auch einzigartig machten (vgl. Fischer-Lichte 2004: 127). Aus dem sonderbaren Verhältnis zwischen den músicos ambulantes und ihrem Publikum ergaben sich folglich Fragen, die für das Verständnis der Arbeit der Musiker von zentraler Bedeutung waren. Wie positionierten sich die Musiker im Bus und welchen Einfluss hatte die physische Nähe zwischen Musikern und Publikum? Spielten sie vor einem Publikum wider Willen oder trafen sie auf gelangweilte Passagier/innen, die begierig alles begrüßten, was sie aus der Monotonie ihrer Reise erlöste? Wie verhielten sich die Passagier/innen während der Auftritte von Musikern, und wie floss ihr Verhalten in die feedback-Schleifen der Performances ein? Gaben sie coperacha, und,
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wenn ja, warum gaben sie coperacha? Und wenn ihnen die Performances nicht gefielen: hatten sie tatsächlich keine Möglichkeit, sich den Performanceräumen zu entziehen? Welche Effekte hatten Kopfhörer und personal stereos? Welche Strategien entwickelten músicos ambulantes, um eine vermeintlich unglückliche Performancesituation zu ihrem Vorteil zu wenden? »In der Mitte des Wagens«: Die Platzierung der Musiker inmitten ihres Publikums Anders als Musiker/innen bei Performances in Clubs, Konzerthallen oder Philharmonien standen die músicos ambulantes an Bord der Überlandbusse nicht erhöht und getrennt von ihrem Publikum auf Bühnen. Sie standen Schulter an Schulter mit Passagier/innen im Gang der Busse, sie standen über Passagier/innen in den umliegenden Sitzen, und gelegentlich standen sie im Weg, wenn Passagier/innen den Bus verlassen wollten. Anders als pomaderos, die Pillen, Cremes und Tropfen an Bord der Busse verkauften, oder Prediger, die willigen Fahrgästen, die Erlösung versprachen, platzierten sich músicos ambulantes nicht vorne, wo alle Passagier/innen sie sehen konnten. Sie spielten in der Mitte des Ganges. So musste sich über die Hälfte ihres Publikums umdrehen, ihren Kopf in den Gang oder über die Rückenlehne schieben, um die Musiker sehen zu können. Warum wählten also músicos ambulantes gerade diesen Ort für ihre Performances? Welche räumlichen Relationen ergaben sich aus diesen Platzierungen? Dieses Unterkapitel ist der Platzierung der músicos ambulantes im Gang des Busses und dem Verhältnis, das sich aus dieser Platzierung zwischen ihnen und ihrem Publikum ergab, gewidmet. Nicht einmal auf den kurvigen Straßen, die vor allen Dingen die Streckennetze der »Mixteca Poblana« und die »Zona Norte« prägten, setzten sich músicos ambulantes während ihrer Performances. Sämtliche Musiker, die ich bei ihrer Arbeit begleitete, spielten stehend im Gang der Überlandbusse. Um beide Hände frei zu haben und trotzdem die Balance zu halten, stützten sich die Musiker mit dem unteren Teil ihres Rückens gegen die Lehne eines Sitzes und bemühten sich um einen möglichst festen Stand: »Manchmal bremsen sie. Du musst vorbereitet sein, musst breitbeinig stehen, damit du dich wehren kannst. Aber das weiß man halt. Du lehnst dich gegen den Sitz und stellst die Füße fest auf den Boden, damit du nicht stürzt. Manchmal bremst der Bus abrupt und du schlägst gegen Sitze oder haust Menschen mit deiner Gitarre. Das ist alles schon passiert!« (Hernández, Hexiquio 29.3.2013) Auch Lorenzo Villanueva erklärte, dass es häufig zu Stürzen kam, wenn Busfahrer abrupt bremsten, und Passagier/innen dabei in Mitleidenschaft gezogen wurden: »Manchmal, wenn sie stark bremsen, stürze ich oder werde umgeschleudert. Manchmal schlägst du aus Versehen einen Passagier mit deiner Hand oder es setzt versehentliche Schläge mit der Gitarre, nicht? Die Erfahrungen macht man manchmal. Das passiert manchmal, obwohl man aufpasst.« (Villanueva, Lorenzo 4.4.2013) Obwohl alle interviewten Musiker Geschichten von Verletzungen oder bei Stürzen zerbrochenen Gitarren zu erzählen wussten, waren sie sich einig, dass es notwendig war, stehend im Gang des Busses zu arbeiten. Efraín Balbuena erklärte:
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»Ich setze mich nicht gerne hin, […] weil es bei meiner Arbeit wichtig ist, dass man mich sehen und hören kann. Damit ich für das, was ich tue, Aufmerksamkeit bekomme. Nur so, glaube ich, geben sie mir etwas. Wenn sie mich nicht hören, geben sie mir nichts. Bemerken sie mich nicht, mögen sie es nicht. Es interessiert sie nicht.« (Balbuena, Efraín 19.3.2013)
Abbildung 22: Salvador Hernández im Gang eines Busses der línea TER.
Foto: Kirschlager
Damit also die Lehnen der Sitze weder die Sicht auf die Musiker versperrten noch den Klang ihrer Stimmen und Instrumente abschirmten, stellten sich die Musiker in den Gang zwischen den Sitzreihen. In der Regel wählten sie die Mitte des Ganges und platzierten sich somit auch in der Mitte ihres Publikums. Sie hoben sich mit dieser Platzierung von den pomaderos ab, die sich grundsätzlich unmittelbar hinter dem Fahrer am vorderen Ende des Ganges positionierten, um ihre Ware zu bewerben. Im Blickfeld aller Passagier/innen hielten die Medizinverkäufer ihre Dosen und Fläschchen hoch und demonstrierten die Anwendung ihrer Produkte. Sie schmierten sich »Schlangenfett« auf den Handrücken oder vollbrachten das Kunststück, sich auf der kurvigen Straße »Wundertropfen« in ihre Augen zu träufeln. Während die pomaderos ihre Performances im Blickfeld aller Passagier/innen abzogen, hatte die Position der músicos ambulantes zur Folge, dass nur Menschen in der hinteren Hälfte des Busses sie bequem sehen konnten: »Irgendwem drehst du immer deinen Rücken zu. Sagen wir mal, wenn ich singe, drehe ich mich immer entweder nach hier oder nach da. […] Wenn ich mich nach dort drehe, [dreht seinen Oberkörper] wird es Leute geben, die dich bitten, dich andersherum zu drehen. Es wird immer Leute geben, […] die sagen: ›Warum zeigt er uns seinen Rücken?!‹« (Hernández, Hexiquio 29.3.2013)
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Aber Hexiquio Henández erklärte auch, dass er nur äußerst selten wahrnahm, dass Passagier/innen sich bemühten, ihn während der Performance zu betrachten. 2 Im Gegensatz zu den pomaderos spielten visuelle Aspekte beim Spacing während der Performances von músicos ambulantes eine untergeordnete Rolle. Die Musiker achteten bei ihrer Platzierung stattdessen auf optimale akustische Verhältnisse. Lorenzo Villanueva sagte: »Normalerweise hören sie dich vorne und hinten. Ich versuche mich in die Mitte des Busses zu stellen. […] Weil wenn du hinten spielst und der Bus ist voll, dann können sie nicht genießen, wie du singst. Zwischen dem ganzen Motorenlärm und dem Lärm durch die offenen Fenster, hören sie nichts. Ich versuche, mich in die Mitte zu stellen, damit man mich hinten wie vorne hören kann.« (Villanueva, Lorenzo 4.4.2013)
Je nach eigenem Stimmvermögen und Lärm des jeweiligen Fahrzeuges waren die músicos ambulantes, die sich in die Mitte des Ganges stellten, sowohl in der letzten Sitzbank, als auch für den Fahrer deutlich zu hören. Wenn Busfahrer ihre Radios leise stellten oder abschalteten, vereinte die Performance Fahrer- und Fahrgasträume. Die Musik überwand die sonic threshold, die beide Räume voneinander trennte, verband sie akustisch zu einem einzigen Performanceraum und verwandelte sowohl Busfahrer als auch Passagier/innen in ihr Publikum.3 Wenn Musiker also ihren Standort an Bord der Busse frei wählen konnten, ließen sie sich von akustischen Faktoren leiten. Allerdings waren sie keinesfalls immer frei in der Wahl ihres Standortes. In der Feriensaison füllten sich die Busse an der Costa
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Eine Ausnahme vom visuellen Desinteresse der Passagier/innen bildeten die internationalen Tourist/innen im Streckennetz »Paradero 30-30«. Marco Antonio Calderón berichtete: »Wenn ich einsteige und der Bus voll mit stehenden Leuten ist, dann drehen sich alle um [streckt und dreht seinen Hals]. Aber das Wichtige ist, dass sie dich hören. Nur manchmal habe ich den Eindruck, dass Touristen, die gerne Fotos machen, dich sehen wollen. Das ist auch wichtig fürs Trinkgeld.« (Calderón, Marco Antonio 8.3.2013) Die einzige Ausnahme von dieser Regel bildete der blinde Tomás Ramírez, der sich zu Beginn seiner Performances über die gesamte Länge des Ganges in den hinteren Teil des Busses begab, wo er sein erstes Stück spielte. Dieser Gang half dem blinden Musiker sich ein Bild von der Zusammensetzung und der Verteilung seines Publikums zu machen: »Auf dem Weg nach hinten, bekomme ich einen Eindruck. Ich nehme die Vibes der Menschen wahr.« (Ramírez, Tomás Ramírez 8.10.2011) Zwischen den einzelnen Stücken seiner Performance bewegte sich Tomás Ramírez dann in die Mitte des Ganges und letztlich nach vorne zwischen die ersten Sitzbänke des Fahrzeuges. An den verschiedenen Orten wandte er jenes Wissen an, das er auf seinem anfänglichen Gang durch den Bus über seine Insass/innen gewonnen hatte. Wenn es Tomás Ramírez möglich war, bestimmte Bereiche im Bus verschiedenen Gruppen zuzuordnen, stimmte er die Wahl von Genre und Stück auf das jeweilige Publikum ab. Anders als die übrigen Musiker vereinte Tomás Ramírez folglich nicht alle Anwesenden in einem Performanceraum mit einem akustisch opportunen Zentrum, sondern untergliederte den Innenraum der Busse in drei unterschiedlich zentrierte Performanceräume, in denen er die Wahl von Stück und Genre auf die umsitzenden Passagier/innen anpasste.
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Grande mit Angestellten der Hotels in Acapulco und Zihuatanejo, die zur Arbeit pendelten. Die Busse der línea Teotihuacanos Richtung Hauptstadt füllten sich zu den Schließzeiten des archäologischen Parks von Teotihuacán an der Haltestelle »Puerta Uno«, so dass die letzten Passagier/innen nur noch auf den Stufen des Einstiegs Platz fanden und mit ihren Schultern gegen die Frontscheibe des Fahrzeugs lehnten. Je mehr Passagier/innen im Bus reisten, desto näher kamen sich Musiker und Zuhörer/innen physisch. Es war also kein Zufall, dass Stürze der Musiker an Bord der Busse, wie Lorenzo Villanueva berichtete, oft Passagier/innen in Mitleidenschaft zogen. Sobald der cupo überschritten wurde und Menschen stehend im Gang reisten, verwandelten sich Passagier/innen und Musiker zu Konkurrent/innen um den Raum. Oft verweigerten daher die Fahrer voller Busse Musikern den Zustieg, weil sie möglichen zahlenden Passagier/innen den Platz nahmen. Auch sonst schienen Passagier/innen die Nähe zu den Musikern nicht immer zu schätzen. Während sich die músicos ambulantes mit ihrer Platzierung im Bus bemühten, für alle Passagier/innen gut hörbar zu sein, war eine der häufigsten Beschwerden der Passagier/innen, dass die Musiker zu laut seien und sich so weit wie möglich entfernen sollten. Hexiquio Hernández beklagte sich, dass er gelegentlich im Gang der Busse hin und her geschickt werde: »Manchmal stellst du dich hin um zu singen und den Leuten gefällt das nicht: ›Weißt du was? Geh mal nach dort!‹ sagen sie. Das nervt: ›Geh dort hin!‹ Oder sie schlafen, nicht? ›Machen sie hier keinen Lärm!‹ Dann rennt man von hier nach dort.« (Hernández, Hexiquio 29.3.2013) Da die Überlandbusse in der Regel über nur eine Tür verfügten, mussten sich immer wieder ein- und aussteigende Fahrgäste während der Performances an den Musikern vorbeischieben. Dabei kam es im engen Gang zu Berührungen, und Busmusiker mussten gelegentlich ihre Stücke unterbrechen. Umgekehrt reagierten Passagier/innen auf physischen Kontakt mit den Musikern, äußerten Unmut, wenn sie berührt wurden, oder brachten durch Gesten zum Ausdruck, dass sie sich eben nicht gestört fühlten. Aber nicht nur die physische Enge voller Busse bereitete den Musikern Schwierigkeiten. Gabriel Villanueva bemängelte, dass bereits einige wenige stehende Passagier/innen die akustischen Verhältnisse des Busses entscheidend verschlechterten: »Mir gefällt es zu spielen, wenn der Bus bis zum Cupo besetzt ist. Das sind 44 Passagiere und nicht einer steht. […] Warum? Weil man zuhören kann. Alle Passagiere hören gut. Wenn im Bus acht oder zehn Passagiere stehen, spielst du trotzdem, aber der stehende Passagier schirmt den Klang der Gitarre ab und hinten hören sie nichts und geben nichts. Deshalb steige ich bei stehenden Passagieren lieber gar nicht erst ein, weil die mich hinten nicht hören.« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013)
So spielten die »Los Pajaritos del Sur« zur Ferienzeit seltener in Bussen (Villanueva, Gabriel 4.4.2013). Die vielen Angestellten der Hotels in Acapulco und Zihuatanejo pendelten entlang der Costa Grande und Costa Chica und ließen sich an Bord der überfüllten Busse nur schwer von den Musikern erreichen. Stehend reisende Passagier/innen waren auch ein Grund dafür, dass die Musiker im Streckennetz »Paradero 30-30« die Busse der línea Teotihuacanos auf dem Rückweg vom archäologischen Park mieden, obwohl sie auf dem Hinweg erbittert um Einstieg kämpften (Jaímez, José David 8.3.2013). In ihrer räumlichen Ordnung waren südmexikanische Überlandbusse folglich keinesfalls ideal für die Performances von Musik. Durch die Ausrichtung der Sitze, den
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Motorenlärm und die unmittelbare Nähe zum Publikum beeinflusste die räumliche Ordnung der Busse Performances in ihrem Innern und zwang Musiker zu Kompromissen und kreativen Lösungen (vgl. Fischer-Lichte 2004: 189). Die strikte räumliche Trennung zwischen Musikern und Zuhörer/innen, die Small in Philharmonien bemerkt (vgl. Small 1998: 27), die ebenso für Rockkonzerte typisch ist und selbst in den Kreisen um Straßenmusiker/innen reproduziert wird (vgl. Harrison-Pepper 1990: 125-127), wurde bei den Auftritten von Busmusikern durchbrochen. Stattdessen zeichneten sich die Performanceräume an Bord der Überlandbusse durch die Nähe zwischen Musikern und ihrem Publikum aus. Fahrgäste empfanden die aus der Nähe resultierende Lautstärke als unangenehm, stürzende Musiker zogen Passagier/innen in Mitleidenschaft und sämtliche Anwesende kämpften in vollen Bussen um den knappen Raum im Gang. Die Wechselwirkungen zwischen Musikern und Passagier/innen waren daher für musikalische Performances außerordentlich physisch. Publikum wider Willen? Passagier/innen an Bord der Busse waren kaum in der Lage, sich den Performances der músicos ambulantes räumlich zu entziehen. Wenn den Passagier/innen die Musik nicht gefiel oder sie ihrer müde wurden, konnten sie den Performanceraum nur verlassen, wenn sie den zeitlichen und finanziellen Schaden, auf einen folgenden Bus zu warten, in Kauf nahmen. In Interviews mit Passagier/innen spiegelte sich ihre unfreiwillige Teilnahme an Performances von Busmusikern, in fatalistischen Bemerkungen. Auf die Frage, ob ihnen die Auftritte von Busmusikern gefielen, antworteten mehrere Passagier/innen, dass ihre Meinung zu Performance und Musik unbedeutend sei, da sie sich ohnehin nicht entziehen könnten. Schließlich seien es die Busfahrer allein, die über ihren Zustieg entschieden, wie ein 40-jähriger Passagier auf dem Weg von Ciudad Sahagún nach Mexiko-Stadt erklärte: »Die Busfahrer sagen niemals ›Nein‹. Es kommt selten vor, dass sie ihnen den Einstieg verweigern.« (Passagier 6 in Teotihuacanos zwischen Otumba und Autobuses del Norte, 40 Jahre, 29.11.2011) Sie unterstrichen, dass sie sich nicht aus dem Performanceraum entfernen konnten, waren die Musiker einmal an Bord. Eine 29-jährige Passagierin aus San Luis la Loma, die regelmäßig nach Acapulco reiste, um dort Garnelen zu verkaufen, bemerkte: »Wenn sie einmal drin sind, muss man ohnehin zuhören.« (Passagierin 3 in AGC zwischen Tecpan und Acapulco, 29 Jahre, 17.11.2011) Trotz dieses Zwangs ließen langen Reiserouten und der hohe Anteil an Pendler/innen, die mehrere Stunden täglich an Bord der Busse verbrachten, zunächst die Annahme zu, dass Passagier/innen in mexikanischen Überlandbussen jeder Form von Unterhaltung und Ablenkung offen gegenüberstanden. In diesem Sinn betrachtet Wald, der den »Pajaritos del Sur« ein Kapitel seines Buches Narcocorrido widmet, die Performance Situation an Bord als gewinnbringend für Musiker und Publikum: »Buses are an ideal venue, since they promise a captive audience eager for anything that will break the monotony of travel.« (Wald 2002: 231-232) Interviews mit Passagier/innen hatten allerdings zum Ergebnis, dass ihre überragende Mehrheit unabhängig des servicio, der línea oder der ruta angab, sich an Bord von Bussen niemals zu langweilen. Ein Mann, der Bananenblätter von der Costa Grande zum Markt nach Acapulco transportierte und deshalb jeden Tag sechs Stunden in den Bussen der Kooperative AGC verbrachte, antwortete auf die Frage, ob er sich auf den Fahrten langweile: »Nein. Man
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gewöhnt sich halt dran.« (Passagier 5 in AGC zwischen Tecpan und Acapulco, 30 Jahre, 17.11.2011) Wie der junge Mann antworteten überraschender Weise besonders oft Pendler/innen, dass gerade Gewohnheit und Wiederholung ihnen halfen, Langeweile zu überwinden. Dabei war kaum zu beobachten, dass sich Passagier/innen die Zeit an Bord der Überlandbusse durch Unterhaltungen mit Mitreisenden verkürzten. Nur selten lasen Passagier/innen Bücher oder Zeitschriften. Eine 52-jährige Passagierin aus Otumba, die sich mit ihrem Mann in einem Bus der línea Teotihuacanos auf dem Weg nach Mexiko-Stadt befand, antwortete auf die Frage, ob sie oder ihr Mann unterwegs läsen: »Nein, fast nie. Diese Angewohnheit haben wir nicht.« (Passagierin 4 in Teotihuacanos zwischen Otumba und Autobuses del Norte, 52 Jahre, 29.11.2011) Während Passagier/innen im servicio de primera den Filmen auf den Bordbildschirmen folgten, blieb Reisenden im servicio económico nur der Blick aus dem Fenster.4 Tatsächlich zeigten sich in Interviews vor allen Dingen Passagier/innen, die nur selten in Bussen reisten, interessiert am Ausblick auf die durchreisten Räume jenseits des Busfensters. Ein campesino, der sein Dorf tief in der Sierra des municipios Coyuca de Benítez nur einmal im Monat verließ und sich gerade mit einem Nachbarn auf dem Rückweg von Besorgungen in Tecpan befand, entgegnete auf die Frage, ob er sich gelegentlich langweile: »Glauben Sie das bloß nicht! Unsereiner amüsiert sich: die Landschaft. […] Damit unterhält man sich.« (Passagier 6 in AGC zwischen Tecpan und Acapulco, 35 Jahre, 17.11.2011) Genauso erklärte ein 84-jähriger Mann, der aus Fortín de las Flores in Veracruz durch die Mixteca in seinen Geburtsort Nochixtlán in Oaxaca reiste, dass ihm der Blick aus dem Busfenster genüge: »Ich lenke mich mit der Landschaft ab. […] Was mir am meisten gefällt, sind die Gärten, die Jahreszeiten, all das, die Natur.« (Passagier 2 in SUR zwischen Huajuapan und Oaxaca, 84 Jahre, 6.12.2011) Ein großer Teil der übrigen Passagier/innen zeigte auffällig wenig visuelles Interesse an Transiträumen und machte stattdessen Gebrauch von den Vorhängen, die sich vor die Fenster ziehen ließen. Viele der Fahrgäste, besonders Markthändler/innen und campesinos/as, deren Tage früh morgens begannen, aber auch pendelnde Lehrer/innen und Angestellte, gaben an, dass sie Busreisen als Entspannung und Pause vom harten Arbeitsalltag empfanden. Ein Lehrer, der jedes Wochenende von seinem Arbeitsplatz in Amacuzac in Morelos zu seiner Familie in Huitzuco in Guerrero und wieder zurück reiste, erklärte: »Nach einer Arbeitswoche, dient mir die Reise in der Regel zur Entspannung. […] Ich reise fast immer schlafend.« (Passagier 2 in TER zwischen Iguala und Puente de Ixtla, 35 Jahre, 4.12.2011) Auch eine 35-jährige Händlerin, die Meeresfrüchte von Tecpan nach Acapulco brachte, war eine der vielen, die ihre Reise entlang der Costa Grande gerne schlafend verbrachte: »Weil ich jeden Tag arbeite und meine Arbeit hart ist, steige ich in den Bus und schlafe sofort ein.« (Passagierin 8 in AGC zwischen Acapulco und Tecpan, 35 Jahre, 17.11.2011) Insgesamt gab etwa ein Drittel aller befragten Passagier/innen an, dass sie die Zeit in Bussen nutzten, um zu schlafen.5 Daher verdunkelten Passagier/innen ihren Sitzplatz mit Hilfe der Vorhänge, stellten unmittelbar nach Anfahrt des Busses ihre Rücklehnen in eine möglichst 4
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2011 wurden sämtliche Bildschirme aus den Bussen der línea TER entfernt. Bis zu diesem Zeitpunkt war diese línea die einzige im servicio económico, die in den von mir betrachteten Streckennetzen, über ein Unterhaltungsprogramm verfügte (vgl. Kapitel 6.1). Mir wurde von Busfahrern untersagt, schlafende Passagier/innen zu wecken, um mit ihnen Interviews zu führen, was auf einigen Fahrten bis zu zwei Drittel der Passagier/innen als
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flache Position, begannen zu schlafen oder schlossen zumindest die Augen. Die Passagier/innen mexikanischer Überlandbusse lechzten also keinesfalls nach Unterhaltung, sondern suchten in erster Linie Entspannung. Eine der wohl größten Besonderheiten der Musiker in Überlandbussen bestand folglich darin, dass ihre Performance vor einem beachtlichen Anteil schlafender Menschen in ihrem Publikum begann. Das Entspannungsbedürfnis der Passagier/innen wurde zum zentralen Argument im Kampf, den líneas, Inspekteur/innen, Busfahrer, Busmusiker und auch Passagier/innen um die Busse austrugen. Laut Fahrern bestand der Vorwurf, mit dem Vertreter/innen der líneas die Performances an Bord der Busse zu unterbinden suchten, in der Belästigung der zahlenden Passagier/innen. Die Busfahrer selbst widersprachen dieser Annahme. »Daniel«, Busfahrer der línea SUR, verteidigte die Musiker gegenüber den Vorwürfen seines Arbeitgebers: »Sie sagen, dass sie die Passagiere belästigen. Aber das ist nicht wahr.« (Gespräch mit »Daniel« in SUR zwischen Acatlán und Cuautla am 11.12.2010) Auch die Musiker selbst widersprachen den Anschuldigungen der líneas mit Schilderungen enthusiastischer Reaktionen der Passagier/innen auf ihre Arbeit. Gabriel Villanueva versicherte: »Es gibt viele Inspekteure, die die Fahrer überwachen, weil sie nicht wollen, dass sie Musiker einsteigen lassen. Angeblich, so sagen sie, ärgern sich sonst die Passagiere. Aber in unserem Fall, der Pajaritos del Sur, gefällt den Passagieren unsere Kunst, wenn wir zusteigen.« (Villanueva, Gabriel 4.4.2013) Auf Fragen nach negativen Passagierreaktionen reagierten Musiker mit auffällig ähnlichen Geschichten von Fahrgästen, deren Einwände gegen ihre Performance immer in physischen oder psychischen Ausnahmesituationen begründet lagen. 6 Doch selbst die geplagten Passagier/innen dieser Erzählungen ließen die Musiker ihre Arbeit machen oder entschädigten sie finanziell für die ausgefallene Performance: »Wenn Mexiko eins ist, dann ein Land voll toleranter Menschen, Menschen, die dir die Hand reichen und helfen. Schau! Wir sind uns bewusst, dass in jedem Bus eine gestresste Person sitzt, mit schlechter Laune, die jemand geärgert hat, der ein Verwandter verstorben ist, was weiß ich… Mir ist es schon passiert, dass ein Mann mich unterbrach, weil gerade ein Verwandter von ihm gestorben war. Er sagt: ›Weißt du was? Ich will keine Musik hören! Mein Bruder ist gerade gestorben.‹ – Ich weiß nicht genau, wie er es sagte: ›Bitte respektiere meinen Schmerz!‹ Am Ende gab er mir ein Trinkgeld, aber er ließ mich nicht singen. […] Wir sind uns der gestressten Personen bewusst. […] Das sind keine schlechten Menschen, Despoten oder Spielverderber. Manchmal macht der Stress dich halt fertig.« (Jaímez, José David 8.3.2013)
Nichts desto trotz begann die Bitte der Musiker um coperacha beinahe ausnahmslos mit einer Entschuldigung, die vermuten ließ, dass die Musiker nicht ganz ausschließen wollten, dass sich einzelne Passagier/innen belästigt fühlten:
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mögliche Interviewpartner/innen ausschloss. Paradoxerweise nannten also nur Passagier/innen, die gerade nicht schliefen, Schlaf als Beschäftigung in Bussen. Entsprechend dürfte der Anteil Passagier/innen, der einen Teil seiner Reisen schlafend verbrachte, noch größer sein. Neben José David Jaímez berichteten auch Efraín Balbuena, Salvador und Hexiquio Hernández von ihren Begegnungen mit einzelnen Fahrgästen, die sie aus unterschiedlichen Gründen baten, auf ihre Performance zu verzichten. Mal hatten diese Passagier/innen Zahnschmerzen und mal Kopfweh (Balbuena, Efraín 19.3.2013; Hernández, Hexiquio 29.3.2013 und Hernández, Salvador 28.3.2013)
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»Einen schönen Tag meine Damen und Herren. Entschuldigen Sie die Störung, die ich Ihnen allen verursache, wenn ich Ihre Reise, Ihre Pause, Ihre Lektüre oder Ihre Unterhaltung unterbreche. Wie Sie sehen, bin ich kein großer Sänger, kein großer Musiker. Ich versuche nur meinen Lebensunterhalt ehrlich zu bestreiten…« (Lorenzo Villanueva bei einer Performance in Maxirutas zwischen Ciudad Renacimiento und Acapulco am 5.10.2011)
Tatsächlich gab eine überwältigende Mehrheit der befragten Passagier/innen an, sich an Auftritten von Busmusikern nicht zu stören. Nur drei Passagier/innen unter den 59 Befragten beschwerten sich, dass die Performances von Busmusikern sie belästigten.7 Das Ergebnis überraschte zunächst vor dem Hintergrund, dass eine große Mehrheit der Passagier/innen erklärte, Busreisen zur Entspannung zu nutzen und gerne an Bord der Busse zu schlafen. Jedoch sagten selbst Fahrgäste, die zugaben, dass ihnen die Musik der Busmusiker in der Regel nicht gefiel, dass sie sich durch die Performances derselben nicht belästigt fühlten. Eine mögliche Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs bot unabhängig von ruta und servicio die offensichtlich hohe Toleranz vieler Passagier/innen gegenüber akustischen Einflüssen: »Der Typ neben mir geht mir gehörig auf die Nerven, weil er auf seinem Telefon Spiele spielt […]. Jeder Knopfdruck erzeugt ein schmatzendes Geräusch, das sich mit den schrillen Tönen des Videospiels vereint, um sich dann über die Tonspur des Films auf den Bordbildschirmen zu legen. Die ätzenden Geräusche sind so laut, dass sie in der Hälfte des Busses gut zu hören sein müssen. Doch niemand der um uns Sitzenden beschwert sich oder wirft meinem Sitznachbarn auch nur einen genervten Blick zu. Es dauert fast bis San Martín [Texmelucan], als Cameron Diaz erste Unterwäscheszene seine Aufmerksamkeit weg von seinem Telefon auf die maue Hollywoodkomödie des Bordentertainments lenkt. Ich wundere mich immer wieder, dass andere Fahrgäste nicht einmal wahrzunehmen scheinen, was mir als anstrengende Lärmbelästigung den letzten Nerv raubt.« (Tagebucheintrag vom 5.8.2010 in ATAH zwischen Tlaxcala und MexikoStadt)
Ebenso wenig führten auf anderen Reisen Störungen der Bordbildschirme, die diese über mehrere Stunden in kurzen Abständen laute Warnsignale abgeben ließen (Busfahrt in Estrella Blanca zwischen Chilpancingo und Iguala am 12.10.2011), oder die zerrenden Lautsprecher von Mobiltelefonen, mit denen vor allen Dingen junge Passagier/innen weite Teile des Fahrgastraumes mit ihrer privaten Playlist beschallten (z.B. Busfahrt mit Pullman de Morelos zwischen Buenavista und México D.F. am 10.11.2011), zu Beschwerden meiner Mitreisenden. Keiner der Passagier/innen, die auf diesen Reisen den Fahrgastraum mit mir teilten, reagierte auf diese akustischen Eindrücke, als empfände er/sie diese als »acoustic intrusion«, wie ähnliche Reize laut David Bissel von britischen Zugreisenden empfunden werden (Bissel, 2009: 60). 7
Da meine Interviews auf freiwilliger Basis stattfanden, bestand jedoch die Möglichkeit, dass sich unter den – wenn auch wenigen – Passagier/innen, die ein Interview ablehnten, gerade eben solche befanden, die ihre Ruhe haben wollten und daher auch Busmusiker als Belästigung empfanden. Auf der anderen Seite stärkten, die wenigen Passagier/innen, die in Interviews angaben, sich von Busmusikern belästigt zu fühlen, genauso wie jene, die sich über schmutzige Busse und Mitreisende beklagten, dass gerade unzufriedene Fahrgäste Interviews als willkommene Gelegenheit wahrnahmen, um ihren Unmut zu äußern.
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Die hohe Toleranz der Fahrgäste gegenüber akustischen Reizen spielte unabhängig der Qualität der Performance eine wichtige Rolle in ihrer Wahrnehmung der Busmusiker. Ein älterer Passagier, der als Journalist durch den ganzen Bundesstaat Guerrero und vor allen Dingen täglich in Bussen fuhr, sagte über sich, was offensichtlich für viele Fahrgäste galt, die die Performances der Busmusiker verschliefen: »Wenn ich müde bin, schlafe ich. Nein, mich stört das nicht.« (Passagier 1 in Altamar zwischen Cruz Grande und San Marcos, 70 Jahre, 20.11.2011) Eine Fischhändlerin aus El Papayo, die täglich entlang der Costa Grande reiste, um ihre Ware zu verkaufen, gab sogar an, dass sie gerade zur Musik der Busmusiker hervorragend einschlafen könne: »Ich mag [die Musik], sie lullt mich in den Schlaf [lacht] […] Manchmal schlafe ich während des ersten Liedes ein.« (Passagierin 5 in AGC zwischen Acapulco und Tecpan, 30 Jahre, 17.11.2011) Nur ein einziger befragter Fahrgast machte eben genau für den Fall, dass er müde war die Ausnahme, dass er Musiker in diesen Momenten als störend empfand: »Manchmal schon, wenn du müde bist, wenn du schlafen möchtest und nicht Musik hören. […] Ja. Manchmal stören sie.« (Passagier 1 in Teotihuacanos zwischen Otumba und Autobuses del Norte, 25 Jahre, 29.11.2011) Häufiger hingegen passierte es, dass Passagier/innen die Musiker als Konkurrenten um den Raum in Überlandbussen betrachteten. In vollen Bussen kamen sich Musiker und stehende Passagier/innen im Gang des Busses in die Quere. Dass dies nicht nur Musiker8, sondern auch Passagier/innen lästig fanden, zeigte der Kommentar eines Passagiers, der Musikern in Bussen an sich positiv gegenüberstand. Als Passagier der línea Teotihuacanos, die zu den Öffnungs- und Schließzeiten des archäologischen Parks in Teotihuacán häufiger mit Überfüllung zu kämpfen hatte, erklärte der Mann: »Es stört mich nicht so sehr, wenn sie singen. Es stört eher, wenn der Bus sich mit Leuten füllt, so dass die Leute nicht mehr reinpassen und schieben, und dann singt da noch ein Sänger oder verkauft ein Verkäufer. Dann nervt es.« (Passagier 6 in Teotihuacanos zwischen Otumba und Autobuses del Norte, 40 Jahre, 29.11.2011) Mehr noch als durch ihre Toleranz gegenüber akustischen Reizen zeichneten sich die befragten Passagier/innen durch soziale Toleranz gegenüber den Musikern aus. Ein 55-jähriger campesino aus Iguala erklärte im Bus nahe Puente de Ixtla: »Wir alle haben das Recht, unseren Lebensunterhalt zu bestreiten. Deshalb kooperiert man und gibt ihnen etwas. Denn sie haben ihre Familie und davon leben sie.« (Passagier 3 in TER zwischen Puente de Ixtla und Iguala, 55 Jahre, 4.12.2011) Die meisten befragten Passagier/innen waren der Ansicht, dass Busmusiker ihrer Arbeit nachgingen und dies zu respektieren sei. Sie beschrieben die Tätigkeit der Busmusiker als »andan buscando la vida«, »sie suchen ihr Auskommen«, »cada quien hace su luchita«, »jeder kämpft seinen Kampf« oder »andan ganando honradamente«, »sie verdienen auf ehrbare Weise«. Dabei spielten die musikalischen Fähigkeiten der Busmusiker für viele der Fahrgäste eine untergeordnete Rolle, wie ein Pendler aus Hidalgo in einem Bus der línea Teotihuacanos deutlich machte: »Manche sind sehr gut und andere nicht. Aber gut, sie wollen arbeiten, sie wollen Geld verdienen, deshalb hilft man ihnen, fünf Peso, vier Peso, sechs Peso.« (Passagier 6 in Teotihuacanos zwischen Otumba und Autobuses del Norte, 40 Jahre, 29.11.2011) Eine Passagierin an der Costa Chica knüpfte ihre Tole-
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Gabriel Villanueva gab als einziger Musiker an, dass Überlandbusse zu voll seien konnten, um darin aufzutreten.
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ranz explizit daran, dass Musiker nicht zum Spaß, sondern aus ökonomischer Notwendigkeit in Busse stiegen: »Ich bin tolerant. Ich toleriere es, weil es letztendlich eine Art des Lebensunterhalts ist. Sie machen es, um zu überleben und nicht zum Spaß. Ich glaube nicht, dass das eine Art Hobby für sie ist. Für sie ist das überlebenswichtig.« (Passagierin 2 in Altamar zwischen Acapulco und Cruz Grande, 32 Jahre, 11.11.2011) Gerade die letzten beiden Zitate machten jedoch auch deutlich, dass Passagier/innen die künstlerischen Aspekte der Arbeit der músicos ambulantes der ökonomischen Notwendigkeit unterordneten. »Gebt was und stellt Euch nicht schlafend!«: Freiwillige coperacha oder sozialer Zwang Ihre Toleranz war folglich eng an die Wahrnehmung der Busmusiker als Bedürftige geknüpft. Eine Wahrnehmung, die von der Bitte um coperacha gegen Ende der Performance befördert wurde.9 Die vermeintlich freiwillige coperacha, stand dem räumlichen Zwang, der die Passagier/innen mit den músicos ambulantes an Bord der Busse einsperrte. Anders als die contratos auf privaten Feiern oder pedidos in cantinas und Restaurants, basierte das coperacha-Prinzip darauf, dass Musiker/innen ohne konkrete Nachfrage Musik spielten und dafür von allen Zuhörer/innen einen finanziellen Beitrag erbaten. Die Höhe des Beitrags beziehungsweise die Entscheidung, überhaupt einen Beitrag zu leisten, wurde den Zuhörer/innen überlassen. Der Begriff »Coperacha«, den vor allen Dingen die Musiker selbst verwendeten, bezeichnete im Gegensatz zu »limosna«, »ayuda« oder »caridad« keine Geldübergabe aus primär karitativen Beweggründen, sondern betonte den Zusammenhang zwischen Entlohnung und Leistung der Musiker. Zudem unterstrich der von dem Wort »cooperación« abgeleitete Begriff den partizipativen Charakter dieses monetären Austausches, mit dem sich Passagier/innen an der Performance beteiligen konnten. Die Musiker hoben den freiwilligen Charakter der coperacha stets hervor. So rief Salvador Hernández: »Hallo Leute, Freunde, Freundinnen, jeder, der etwas geben möchte, eine Münze, eine freiwillige Münze. Vielen Dank im Voraus, dass Sie mir zuhören und haben sie alle Glück und eine schöne Reise.« (Salvador Hernández bei Performance in TER zwischen Iguala und Palmillas am 2.12.2011) Obwohl auch die Fahrgäste von einem freiwilligen Beitrag sprachen, schwang ihren Antworten auf die Frage, ob und wie viel Geld sie gaben, jedoch ebenso ein Unterton der Verpflichtung mit: »Sie zwingen dich nicht, etwas zu geben. […] Das ist freiwillig, deshalb sagen sie zu Beginn: ›Was Sie mir schenken möchten, ist freiwillig.‹ Das ist alles. Gut, zwei oder drei Peso werden deine Tasche nicht leeren. Man muss ihnen etwas geben, denn darin besteht ihre Arbeit. Man muss ihnen ein, zwei, drei oder fünf Peso geben. Was auch immer, du ihnen geben willst. Es gibt keine zwingende oder feste Menge.« (Passagier 4 in AMS zwischen Acapulco und Tecpan, 74 Jahre, 18.11.2011)
Dieser ältere Passagier in einem Bus der línea AMS hob zwar den freiwilligen Charakter der coperacha hervor, widersprach aber sogleich mit seiner Formulierung »Hay
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Vgl. Kapitel 6.3.
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que darle…«, »Man muss ihnen… geben« und beschränkte die Freiwilligkeit auf die Höhe der coperacha. Die coperacha an sich stellte er als soziale Pflicht dar, die er eng mit der Ansicht, dass Musiker an Bord der Überlandbusse ihrer Arbeit nachgingen, verknüpfte. Auch andere Kommentare verrieten, dass Passagier/innen es für ihre soziale Pflicht hielten, Busmusiker mit einer coperacha zu unterstützen, und sie gleiches auch von ihren Mitreisenden erwarteten: »Ich glaube, alle geben diesen Menschen von Herzen, denn so verdienen sie ihren Lebensunterhalt.« (Passagier 2 in AGC zwischen Acapulco und Tecpan, 17.11.2011) Noch deutlicher kam diese soziale Pflicht in der Aussage eines Passagiers in einem Bus der línea Teotihuacanos zum Ausdruck: »Die Fahrer sagen niemals ›Nein‹. Es kommt selten vor, dass sie ihnen den Zustieg verwehren. Das ist schon eine Tradition, ein Brauch, dass Sänger einsteigt und man ihm etwas geben muss. Praktisch niemand entzieht sich. Das ist schon eine Tradition.« (Passagier 6 in Teotihuacanos zwischen Otumba und Autobuses del Norte, 40 Jahre, 29.11.2011) Passagier/innen waren sich dieses Drucks offenbar bewusst. So war der Anteil der Passagier/innen, die in Interviews angaben, immer eine coperacha zu geben, deutlich höher als der Anteil der Passagier/innen, die nach Performances den Musikern auch tatsächlich Geld gaben. Ihre Behauptung entsprach offensichtlich nicht immer ihrem tatsächlichen Verhalten und ließ den Schluss zu, dass sie letzteres als falsch empfanden. Umgekehrt nahmen Passagier/innen, die keine coperacha gaben, den folgenden Passagier/innen den sozialen Druck. So hatten Musiker beobachtet, dass eine geringe Bereitschaft zur coperacha zu Beginn ihres Ganges durch den Bus oft zur Folge hatte, dass auch die weiteren Passagier/innen weniger gaben.10 Obwohl die coperacha also als eine freiwillige Abgabe der Passagier/innen an die Musiker angekündigt wurde, war sie für die Passagier/innen mit sozialem Druck verbunden. Dieser Druck lastete auf sämtlichen Passagier/innen, da sie alle in gleichem Maße der Performance, welche ihrerseits als zu entlohnende Arbeit der Busmusiker angesehen wurde, beiwohnten. Musiker verdächtigten Passagier/innen daher, Taktiken zu entwickeln, um den sozialen Druck der coperacha zu entgehen. Wenn sich die Musiker in den Gang der Busse begaben, hatte oft über die Hälfte der Passagier/innen die Lehnen ihrer Sitze zurückgeklappt und ihre Augen geschlossen. Die Musiker gingen davon aus, dass nicht alle diese Passagier/innen auch wirklich schliefen. Julio García beklagte sich: »Hier schätzen sie die Musik nicht. Hier steigst du ein und sie schlafen sofort ein oder sie hören erst zufrieden dem Lied zu und stellen sich schlafend, sobald du für die Coperacha rumgehst [tut als schliefe er]. So sind sie: sie stellen sich schlafend und ihre Augen zittern [er lässt die Augenlider zittern]. Sie pressen die Augen zu [lacht].« (García, Julio 7.10.2011)
10 Noch deutlich fiel dieser Effekt bei den pomaderos aus, die gleich zu Beginn ihrer Performance auf die Teilnahme der Passagier/innen angewiesen waren, wenn sie Proben ihres Produktes verteilten. So zitiert Wald einen pomadero an der Costa Grande: »No one has to buy anything, you can just give the jar back to me when I have finished my presentation, but please take it for now. If people see one person waving it aside, then they do the same. The other day a woman in the front row declined to take a jar and the whole bus followed her example. So please take the jars; you can give them back afterward, but please let me do my job.« (»Pomadero« in Wald 2002: 233)
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Salvador Hernández äußerte den gleichen Verdacht: »Manchmal singst du und schaust hoch und alle sind wach. Und wenn du das letzte Lied singst und sie wissen, dass das vierte oder fünfte Lied das letzte ist, klappen sie ihren Sitz zurück und stellen sich schlafend.« (Hernández, Salvador 28.3.2013) Diesen Verdacht hatte Salvador Hernández in seinem »Corrido del Cancionero« verarbeitet, den er und sein Bruder an Bord der Busse spielten: [...] Y al subirse a un autobús se siente rete bonito, de ver que todo el pasaje traen abierto su oiditos y al pasar por la colecta muchos se hacen dormiditos. [...]
[...] Wenn wir in einen Bus steigen, fühlt es sich wunderschön an, wenn wir die Passagiere sehen, die uns zuhören. Doch wenn wir die Spende einsammeln, stellen sich viele schlafend. [...] Titel: Corrido del Cancionero Interpreten: Dueto Águila y Sol Komponist: Salvador Hernández Transkription einer Aufnahme vom 10.11.2011
Die sechs Verse in dem Stück, dessen Text die Leiden und alltäglichen Probleme ambulanter Musiker beklagt, hatten eine tiefere Wirkung, als lediglich Mitleid der Zuhörer/innen für die gebeutelten músicos ambulantes hervorzurufen. Salvador Hernández hatte die Erfahrung gemacht, dass gerade diese Verse seiner Komposition Passagier/innen zum Lachen brachten und Kommentare der Busfahrer provozierten. Der Spiegel, den er seinem Publikum vorhielt, hatte den Effekt, dass sich die Passagier/innen eben genau nicht wie das Publikum im Stück zu verhalten versuchten. In ihren Kommentaren unterstützten Busfahrer zusätzlich diese Wirkung des »Corrido del Cancionero«: »Ich mache Spaß in dem Lied und oft lachen die Leute über das, was das Lied sagt. Oft rufen sogar die Busfahrer: ›Jetzt gebt was! Gebt was und stellt Euch nicht schlafend!‹« (Hernández, Salvador 28.3.2013) Sowohl Salvador Hernández als auch sein Bruder Hexiquio spielten den »Corrido del Cancionero« in der Regel als letztes Stück ihrer Performance, nicht nur, weil in die letzte Strophe ein eleganter Aufruf zur coperacha eingewebt ist, sondern ebenso, weil Salvador Hernández der Ansicht war, dass sich Passagier/innen gerade gegen Ende der Performance schlafend stellten. Seine Pointe wirkte auf diese Weise zum richtigen Zeitpunkt der Performance. Gabriel Villanueva hingegen war nicht daran interessiert, zwischen schlafenden und Schlaf simulierenden Passagier/innen zu unterscheiden. Er wollte die Aufmerksamkeit aller Anwesenden und war davon überzeugt, dass er Passagier/innen einen Dienst erwies, wenn er sie mit seinem Auftritt weckte: »Wenn ich selbst im Bus reise, finde ich es schlecht zu schlafen. Warum? Weil du nichts siehst, nichts bemerkst. Viele Leute setzen sich in den Sitz im Überlandbus und – Schwusch! – schnarchen sie, schlafen tief und fest. Und viele wollen gar nicht schlafen. Wenn wir einsteigen und singen, entspannen sie sich: ›Stell dir vor, ich war müde und deine Lieder haben die Müdigkeit
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vertrieben. Du hast mir geholfen, wegen dir bin ich nicht eingeschlafen, denn das ist gefährlich.‹ Das ist wirklich wahr.« (Villanueva, Gabriel 04.04.2013)
Um diesen Effekt seiner Performance auf schlafende Passagier/innen zu verstärken, entwickelte Gabriel Villanueva einen falsettierten grito, den er im letzten Stück seiner Performance unmittelbar vor den üblichen saludos11 über das requinto Zwischenspiel seines Sohnes schmetterte: Abbildung 23: Die einzelnen Rufe des gritos von Gabriel Villanueva. Transkribiert aus dem corrido »Masacre en el Charco«.
Quelle: »Masacre en el Charco«. (Komponist: Gabriel Villanueva; Interpreten: Los Pajaritos del Sur; Album: Los Internacionales Pajaritos del Sur y su Pesadilla Tropical; Jahr: 2010).
Da der grito auf einen 3/4 Takt abgestimmt war, spielten »Los Pajaritos del Sur« in der Regel als letztes Stück ihrer Performance einen getragenen corrido valseado. Denn obwohl Gabriel Villanueva vorgab den Schlafenden einen Gefallen zu tun, wenn er sie mit seinem eindringlichen und ungewöhnlichen grito weckte, bestand seine persönliche Absicht selbstverständlich darin, die bewusst hörenden Menschen in seinem Publikum und somit die coperacha zu maximieren: »Wenn jemand schläft, bringe ich den Grito, damit die Leute aufwachen und ihren Beitrag leisten [lacht]. Und das merken die Leute. Wenn einer schläft [spielt überrascht]: ›Was war das für ein Schrei?!‹ Sie erinnern sich an mich. Das mache ich immer nach drei Liedern im letzten Lied, da bringe ich den Grito. Falls jemand schläft, wacht er auf und leistet seinen Beitrag.« (Villanueva, Gabriel 16.10.2010)
Wie die saludos fand auch der grito den Weg aus den Performances an Bord der Überlandbusse auf die Aufnahmen der »Los Pajaritos del Sur«, als Gabriel Villanueva feststellte, dass die Passagier/innen Gefallen an seinem ausgefallenen Ruf hatten: »Ich merkte das der Grito den Leuten gefiel. Ich nahm eine CD auf, auf der ich keinen Grito machte. Dann gab es viele Anfragen bei der Plattenfirma: ›Hey! Hey, Gabriel! Du hast gar keinen Grito gemacht.‹ Viele Leute sagten mir: ›Warum hast du keinen Grito gemacht?‹ Ich sagt: ›Na…‹ – ›Auf der nächsten CD will ich aber, dass du wieder einen Grito machst!‹ Deshalb gibt es auf jeder CD Lieder, in die der Grito passt.« (Villanueva, Gabriel 16.10.2010)
11 Zu Gabriel Villanuevas saludos vgl. Kapitel 6.2. und Kapitel 7.4.
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Auf Aufnahmen und contratos, auf denen er ebenfalls den grito über die Zwischenspiele seiner corridos rief, bekam dieser eine vollkommen andere Wirkung, da er gleichzeitig den emotionalen Höhepunkt des corridos markierte12 und die Zuhörer/innen, so Gabriel Villanueva, zum Trinken animiere: »Wenn ich trinke, höre ich den Grito und bekomme Lust, noch mehr zu trinken. Der Grito regt an.« (Villanueva, Gabriel 10.10.2011) Im Interview erzählte Gabriel Villanueva, dass die Produzenten seiner aktuellen CDs mittlerweile nach seinem grito verlangten: »Die von der Plattenfirma sagten mir: ›Bring den Grito! Das wollen die Leute hören!‹« (Villanueva, Gabriel 10.10.2011)13 Der grito, den Gabriel Villanueva entwickelt hatte, um die schlafenden Passagier/innen an Bord der Busse zu wecken, war folglich zu seinem musikalischen Alleinstellungsmerkmal geworden. Gabriel Villanuevas gritos und der Vers in Salvador Hernández »Corrido del Cancionero« waren zwei unterschiedliche Mittel, um die Anzahl der Passagier/innen, die bewusst an der Performance teilnahmen, und somit ihre coperacha zu steigern. Beide Beispiele fanden ihren Weg aus den feedback-Schleifen an Bord der Busse, für die sie entwickelt worden waren, auf die Aufnahmen der Musiker, wo sie ihre Bedeutung veränderten. »Und das, obwohl er hässlich singt«: Applaus, Zwischenrufe und Reaktionen Doch nicht alle Passagier/innen an Bord der Überlandbusse schliefen und die übrigen Reisenden waren nicht so teilnahmslos, wie sie zunächst erschienen, wenn sie ihre Blicke von den Musikern abgewandt durch die Fenster auf die vorbeirauschende Landschaft oder auf das abgenutzte Velours des Sitzes vor ihnen richteten. Ein zweiter Blick während meiner Beobachtungen ließ tatsächlich erkennen, dass einige Passagier/innen bei bekannten Stücken leicht ihre Lippen bewegten und – wenn auch sehr leise – mitsangen. Bei humoristischen Stücken, wie beispielsweise »Los calzones de la dama« oder »El doble engaño«, reagierten Fahrgäste häufig mit einem Lächeln auf die über-
12 Gabriel Villanueva war keinesfalls der einzige Musiker, der in corridos einen oder mehrere grito ausstieß. Tatsächlich handelte es sich bei gritos um ein sehr typisches Mittel, das sowohl Musiker als auch ihr Publikum in Performances anbrachten (vgl. McDowell 2000: 28). So avancierte der falsettierte grito »¡Ayayayayayay!« zu einem internationalen Stereotyp mexikanischer Musik. Allerdings hatte Gabriel Villanueva einen besonders ausgefallenen grito entwickelt und setzte diesen als einziger meiner Interviewpartner bewusst in Bussen ein, um schlafende Passagier/innen zu wecken. 13 Aufgrund seines unverwechselbaren gritos auf einer Aufnahme der Konkurrenz wurde Gabriel Villanueva im Rechtsstreit mit seiner ehemaligen Plattenfirma (vgl. Kapitel 4.3.3) beinahe des Vertragsbruchs überführt: »Als die CD rauskam, schickte mir die Plattenfirma, mit der ich noch einen Vertrag hatte, eine Vorladung und erklärten: ›Du singst da.‹ Ich sage: ›Nein, ich singe da nicht.‹ Aber der Grito ist unverwechselbar: ›Du machst da den Grito.‹ Ich sage: ›Nein, mein Herr. Ich mache keinen Grito. Das sind meine Söhne.‹ – ›Aber du wirst mich doch nicht anlügen.‹ – ›Doch, es ist wahr.‹ Am Ende wollten sie 300.000 Peso oder das Mastertape.« (Villanueva, Gabriel 17.10.2010)
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raschenden Wendungen, mit denen diese Stücke schlossen. Corridos lokaler Ereignisse, die vielen Passagier/innen bekannt waren, ließen Passagier/innen nicken, als ob sich die Schilderung einzelner Details im corrido mit ihrer persönlichen Erinnerung decke. Seltener nahmen Passagier/innen durch Zwischenrufe und Kommentare an der Performance teil. Dies passierte am häufigsten bei Performances von Tomás Ramírez, der in seinen langen Monologen zwischen den Stücken das aktuelle Tagesgeschehen kommentierte und mit rhetorischen Fragen und Witzen Passagier/innen dazu ermunterte, seine Pointen aufzunehmen oder durch Zwischenrufe ihre Meinung zum Thema mitzuteilen. Ebenfalls zur lauten Teilnahme an Performances gehörten gritos, die während meiner Beobachtungen nur männliche Passagiere an emotionalen Höhepunkten von corridos ausstießen. Gelegentlich gab es am Ende einzelner Stücke oder der gesamten Performance Applaus. Viele der Musiker, selbst jene, die sich an anderer Stelle über die ihre Geringschätzung durch die Passagier/innen beklagten, schilderten in Interviews ein noch aktiveres Verhalten ihres Publikums, als ich es während ihrer Performances an Bord der Busse beobachten konnte. Ihre schwärmerischen Schilderungen reichten vom Applaus bis hin zu Passagier/innen, die ihren Gefühlen ganz und gar freien Lauf ließen, lauthals mitsangen, weinten oder sogar tanzten. Für Endir de León und Rubén Jaímez waren es gerade die unterschiedlichen Reaktionen der Passagier/innen, die ihre Arbeit attraktiv machten. Beide erzählten von jungen Frauen, die berührt von ihrer Performance in Tränen ausbrachen (Jaímez, Rubén und de León, Endir 7.10.2010). Auch Lorenzo Villanueva berichtete von sehr emotionalen Reaktionen, die seine Performances bei manchen Passagier/innen auslösten: »Gerade erst vor vier Tagen hörte ich auf zu spielen, da sagte mir eine Frau – eine junge Frau, aber verheiratet – ›Sie brachten mich zum weinen!‹ Und der Ehemann an ihrer Seite: ›Und das, obwohl er hässlich singt.‹ Sie brachten mich zum lachen.« (Villanueva, Lorenzo 04.04.2013) Dabei war nicht nur die Reaktion der Frau bemerkenswert, sondern auch der kumpelhafte relajo ihres Ehemannes, der, anders als viele Zwischenrufe, von Lorenzo Villanueva keinesfalls als Beleidigung aufgefasst wurde. Vom expressiveren Gefühlsausbruch einer Passagierin berichtete auch sein Vater Gabriel Villanueva. Er erinnerte sich an eine alte Frau, die sich von ihrem Sitz erhob und im Gang des Busses zu tanzen begann, während »Los Pajaritos del Sur« spielten: »Eine Dame, etwa 75 oder 80 Jahre alt – die hatte schon keine Zähne mehr. Ich sang ein Lied und die Dame diesen Alters stand auf und tanzte im Überlandbus. Ganz ohne Zähne brachte sie mich zum lachen. Die Dame sagte mir: ›Hey! Hey Pajaritos!‹ sagte sie, ›mit diesem Lied, dass du spielst, hast du mich daran erinnert, wie ich 12 Jahre alt war. Du hast mir Lust gemacht zu tanzen. Guck an: Du hast mich im Überlandbus tanzen lassen!‹ Und alle applaudierten der Dame.« (Villanueva, Gabriel 04.04.2013)
Selbst Salvador Hernández, dessen »Corrido del Cancionero« die Teilnahmslosigkeit vieler Fahrgäste beklagt, erklärte, dass er immer wieder Momente erlebe, in denen ihn die Reaktionen des Publikums beflügelten: »Mir gefällt [die Arbeit in den Bussen]. Zum Beispiel gestern stieg ich in einen Wagen, der von hier [Palmillas] nach Buenavista fuhr. Ich stieg ein, der kam aus Cuautla, und ich fuhr nach Iguala. Die Leute sagten mir, dass ich gut singe. Sie sagten: ›Nein, du singst gut. Es gibt andere
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Musiker, die zusteigen und nichtmal schön singen.‹ Nein. Manchmal applaudieren sie und geben mir Geld. […] Das fühlt sich gut an.« (Hernández, Salvador 04.12.2011)
Reaktionen fielen meist extremer aus, wenn sich Gruppen unter den Passagier/innen befanden. So traf beispielsweise Lorenzo Villanueva in einem urbano der línea Maxirutas zwischen dem Zentrum Acapulcos und Ciudad Renacimiento auf eine Gruppe junger Krankenschwestern: »Als zweites Stück spielt Lorenzo ›Señora, Señora‹ […]. Während des Refrains bemerke ich, dass Passagiere mitsingen. Obwohl sie dies laut zu tun scheinen, denn ich kann sie deutlich hören, brauche ich eine Zeit, um sie im Lärm aus Motorengeräuschen und Fahrtwind im Bus zu orten. Auf der letzten Bank, neben der hinteren Tür sitzen drei junge Frauen in Krankenschwesteruniformen, die nicht nur singen, sondern auch im Rhythmus des Stückes klatschen und schunkeln. Lorenzo scheint das zu gefallen, und es ist ihm anzumerken, dass er sich noch mehr Mühe als normalerweise gibt. Seine Halsmuskeln sind angespannt und er läuft rot an. […] [Nach dem Stück] rufen die drei Frauen ›Zugabe! Zugabe!‹ und klatschen rhythmisch in die Hände. Nach den ersten Zeilen Me llamas para decirme que te marchas… (Du rufst mich an, um mir zu erzählen, dass du ihn verlässt…) brechen die drei Frauen in Jubel aus und beginnen erneut lauthals mitzusingen.« (Tagebucheintrag vom 10.10.2011 zwischen Acapulco Centro und Ciudad Renacimiento)
Tomás Ramírez begleitete ich in einem Bus der línea Olas de Pacífico, als er zwischen Coyuca und El Tamarindo auf eine ausgelassene Gruppe Teenager stieß: »Im hinteren Teil des Busses sitzt eine Gruppe von etwa 15 Jungen, die Polohemden und Baseballkappen tragen und auf ihren Sitzbänken herumlümmeln. Offenbar kennen sie sich untereinander, denn sie unterhalten sich angeregt und lautstark. So ist es auch für den blinden Tomás keine Schwierigkeit, die Jungen als größte Gruppe unter den Passagier/innen auszumachen: ›Jetzt haben sie also die Jungs rausgelassen. Sie lassen sie am Samstag raus, he. Na dann!‹ sagt er laut, während er sich durch den Gang nach hinten tastet. Einige der Jungs lachen. ›Das fühlt sich gut an,‹ fügt Tomás hinzu, bevor er aus seinem Rock-Mexicano-Repertoire ›Pobres de los Niños‹ von El TRI auswählt, welches er in Anbetracht seines jungen Publikums offensichtlich für angebracht hält. Tomás beginnt mit kräftigen einleitenden Akkorden und die Jungen applaudieren und jubeln. Jedoch flacht ihre lautstarke Unterstützung bereits während der ersten Strophe ab und sie beginnen wieder, sich miteinander zu unterhalten, obwohl sie weiterhin gelegentlich ›Los, los!‹ in Tomás Richtung rufen. […] Vielleicht weil er merkt, dass er den Geschmack der Jungen nicht ganz getroffen hat, kündigt Tomás, während er sich an der Gruppe der Jungen vorbei in die Mitte des Ganges begibt, für das zweite Stück einen Genrewechsel an: ›Dann mische ich eine andere Sorte Musik mit Alejandro Lora[14]. Los geht’s mit den Tigres del Norte!‹ Noch bevor er ein konkretes Stück der Tigres ankündigen kann, fordert einer der Jungen: ›La Reina del Sur‹. Sein Musikwunsch trifft auf enthusiastische Unterstützung seiner Begleiter. ›Mal sehen, ob ich mich erinnern kann,‹ sagt Tomás, während er den Kapodaster auf dem Hals seiner Gitarre verschiebt, und als er nach einer etwas holprigen Requinto-Einleitung den ersten Vers Voy a cantar un corrido... [Ich werde einen Corrido singen…] singt, beginnen die Jungen, zu jubeln und Gritos einzuwerfen, was sie von nun an in den Pausen des Gesangs nach jedem zweiten Vers 14 Sänger der Rockgruppe El TRI.
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wiederholen. Sie sind ausgelassen und drehen sich immer wieder zu mir. Zwei, die in meiner Nähe sitzen, stehen sogar auf und winken kichernd in das Mikrofon meines Aufnahmegerätes, als sei es eine Kamera. Nachdem Tomás den Hit der Tigres del Norte beendet, fordern die Jungen weitere Corridos. Doch Tomás befindet sich bereits auf dem Weg ins vordere Drittel des Busses, wo einige ältere Fahrgäste sitzen [...]: ›Die haben auch Rechte, oder? Lasst uns was aus den 60ern spielen.‹ Er entscheidet sich für eine spanisch sprachige Version des ›Jailhouse Rock‹, dessen Intro die aufgemischten Jugendlichen ebenso frenetisch feiern, wie ›La Reina del Sur‹. Tomás scheint das Feedback für seine persönliche Lieblingsmusik noch stärker zu beflügeln, als der Jubel für den vorangegangenen Corrido, und er steckt hörbar mehr Energie in Gitarrenspiel und Gesang. Vielleicht entschließt er sich auch deshalb, ein viertes Stück zu spielen. Doch noch während der ersten Strophe der ruhigeren Zugabe verlassen die Jungen in El Zapote schreiend durch die hintere Tür den Bus und rennen die Böschung zum Zentrum des Ortes hinauf. Keiner der Jungen gibt Tomás eine Coperacha. [...] [Dennoch] scheint Tomás zufrieden mit dem Auftritt, als wir den Bus in El Papayo verlassen.« (Tagebucheintrag vom 8.10.2011 in Olas del Pacífico zwischen Coyuca und El Papayo)
In beiden Performances wurde deutlich, dass sich Passagier/innen häufig deutlich ausgelassener verhielten, wenn sie in Gruppen mit Personen, die sie offensichtlich bereits vor der Fahrt kannten, reisten. Doch Gruppen hatten nicht nur das Potential, die Stimmung während der Performance zugunsten des Musikers zu fördern. Mitglieder reisender Gruppen neigten auch schneller zu beleidigenden Zwischenrufen. Julio García befürchtete jedes Mal, wenn er einen Bus bestieg und eine Gruppe Jugendlicher sah, dass sie Ärger bedeuteten: »Hier triffst du auf eine Gruppe Jungs oder Jugendliche, Schüler aus der Oberstufe und beginnst zu singen [singt] Y por esa calle vive la que me abandonó... [In dieser Straße lebt die, die mich verließ…] [spricht] und sie rufen: ›Nein!‹ und sie machen sich lustig. Verstehst du? Es sind Leute, die die Arbeit von einem nicht respektieren.« (García, Julio 5.04.2013) Den Zwischenrufenden unterstellte er boshafte Absicht: »Sie wollen einen immer demütigen. Mehr als alles andere.« (García, Julio 5.04.2013) Sehr ähnlich schätzte Gabriel Villanueva die Motivationen der Rufenden ein, wenn er erklärte: »Die Leute denken immer das Schlimmste. Sie beobachten dich und denken: ›Hey, der zieht mir das Geld aus der Tasche.‹ Dann denken sie sich etwas aus, um dir zu schaden. Es gibt Leute, die davon leben, andere, hart arbeitende Menschen fertigzumachen.« (Villanueva, Gabriel 16.10.2010) Jesús García machten erniedrigende Zwischenrufe so wütend, dass er den Rufenden gelegentlich seine Gitarre in die Hand drückte und sie aufforderte, besser zu spielen als er: »Viele Leute sind so: ›Ah, wie schwierig kann es sein, das zu spielen?‹ sagen sie mir. Dann nehme ich meine Gitarre ab und gebe sie ihnen: ›Dann zeig mal! Spiel, was ich spiele! Ich werde dir Geld geben!‹ sage ich und gut. Die wollen nur Ärger machen, damit sie gut aussehen. […] Dann gebe ich ihnen die Gitarre. Dann sehen sie schlecht aus.« (García, Jesús 5.04.2013)
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»El Celular«: Personal stereos und die Performances der músicos ambulantes Während Gruppen Reisender expressive Reaktionen auf Performances der músicos ambulantes verstärkten, hatte eine junge Entwicklung zur Folge, dass sich einzelne Passagier/innen zurückzogen und sich gar ganz aus dem akustischen Raum des Überlandbusses nahmen. Kopfhörer und personal stereos, wie Kassetten-Spieler, Mp3-Player und Mobiltelefone kapselten ihre Benutzer/innen akustisch von den übrigen Anwesenden ab. Die músicos ambulantes betrachteten diese Entwicklung mit Sorge. In seiner Komposition »El Corrido del Cancionero« verarbeitete Salvador Hernández seine Erfahrungen mit der steigenden Zahl an Fahrgästen mit tragbaren Kassetten-Playern, die er zudem verdächtigte, vornehmlich englischsprachige Musik abzuspielen: […] Otros traen sus caseteras oyendo música en inglés.
[…] Andere haben ihre Kassettenspieler und hören Musik auf Englisch.
[…]
[…] Titel: Corrido del Cancionero Interpreten: Dueto Águila y Sol Komponist: Salvador Hernández Transkription einer Aufnahme vom 10.11.2011
Im Interview unterstrich er noch einmal wie auffällig diese Entwicklung vor allen Dingen unter den jüngeren Fahrgästen sei: »Heute merkst du, wie du anfängst zu singen und die Jungs stecken sich ihre Kopfhörer in die Ohren. […] Dann beachten sie dich nicht mehr. Das Lied sagt die Wahrheit!« (Hernández Salvador 28.3.2013) Allerdings waren die Kopfhörer, die Salvador Hernández in den Ohren der Passagier/innen ausmachte, zur Zeit meiner Feldforschung nicht mehr an tragbare Kassetten-Player, sondern an digitale personal stereos, die in der Regel Musik im Mp3-Format wiedergaben, angeschlossen. Auf die Frage, womit sich Passagier/innen die Reisezeit vertrieben, war eine der häufigsten Antworten »el celular«, »das Mobiltelefon«. Damit meinten sie nicht etwa, dass sie während der Fahrt telefonierten15, sondern dass sie mit ihrem Mobiltelefon Musik hörten. Fast alle Busmusiker gaben an, dass der Anteil der Passagier/innen mit Kopfhörern in den Jahren vor und während meiner Feldforschung stark angestiegen sei. Die Zahl der Fahrgäste in mexikanischen Überlandbussen, die mit Kopfhörern
15 Während zur Zeit meiner Feldforschung ein Großteil der Streckennetze weiterhin außerhalb der Funknetze lag, gerieten vor allen Dingen Musiker in urbanos, wie beispielsweise Lorenzo Villanueva in Acapulco, bereits häufiger in Konflikt mit Fahrgästen, die die Zeit in Bussen nutzten, um über ihre Mobiltelefone zu telefonieren. In vielen Fällen zeigten sich diese Fahrgäste deutlich weniger tolerant als der Großteil der von mir interviewten Passagier/innen und beschwerten sich bei den Musikern (Villanueva, Lorenzo 4.4.2013).
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reiste, stieg also zur gleichen Zeit, in der Mobiltelefone mit integriertem Mp3-Player erschwinglich wurden. Gabriel Villanueva beobachtete: »Das ist noch nicht lange so, das mit den Kopfhörern. Ich würde sagen, das geht seit 10 Jahren so. Das hat das ganze System verändert. Jetzt tragen sie Kopfhörer und hören Musik. Sie verbinden ihr Handy [mit dem Internet] und laden Musik darauf. Dann setzen sie ihre Kopfhörer auf und hören uns nicht mehr. Sie hören ihre Musik, die ihnen gefällt.« (Villanueva, Gabriel 04.04.2013)
Auch Julio García beklagte sich darüber, dass er als live spielender Musiker in der Konkurrenz zur wiedergegebenen Aufnahme der personal stereos das Nachsehen habe: »Seit diese Dinger erfunden wurden, ging es für uns abwärts. Denn sie sagen: ›Nein, der singt schön… der im Walkman.‹ […] Die Leute, die unsere Art Musik nicht mögen, bringen jetzt ihre Lieblingsmusik mit. Bei denen lässt sich nichts holen.« (García, Julio 5.04.2013) Während zuvor Busmusiker den Fahrgästen die einzige Möglichkeit boten, in Bussen Musik zu hören, ermöglichten personal stereos nun, jederzeit und unterwegs Musik selbst zu wählen.16 Obwohl sich im Fall der »Los Pajaritos del Sur«, die bis wenige Jahre vor meiner Feldforschung ihre Musik noch auf Kassetten an Bord der Busse vertrieben, die steigende Zahl tragbarer Kassetten-Player sogar bisweilen positiv auf ihren Absatz auswirkte, bedeuteten Mobiltelefone und Mp3-Player als Wiedergabemedien digitaler Musikformate genau das Gegenteil: »Das hat uns nicht geholfen, sondern geschadet. Warum? Weil sich die Leute nun nicht mehr die CDs kaufen. Warum? Weil sie die CD auf einen USB-Stick spielen […]. Auf einen Stick können sie mit dem Internet alle Lieder spielen. Sie laden sie herunter und speichern die Lieder, die sie wollen. Der Markt ist eingebrochen. Wir verkaufen nicht mehr wie früher.« (Villanueva, Gabriel 04.04.2013)
Mobiltelefone mit integrierten Mp3-Playern bedeuteten für die meist einkommensschwachen Passagier/innen an Bord der Busse des servicio económico eine Steigerung des Effektes, den Peter Manuel Audiokassetten in Südasien attestiert (vgl. Manuel 1993: 2-3). Nutzer/innen digitaler personal stereos waren nicht mehr nur in der Lage, Tonträger selbst und kostengünstig zu bespielen. In Kombination mit file-sharing über das Internet ermöglichten Mp3-Player nahezu unbegrenzten Zugriff auf jede beliebige Musik, die ihre Nutzer/innen dank der enormen Speichermöglichkeiten des Mp3-Formats (vgl. Sterne 2006: 838) nun an Bord der Busse mit sich führen konnten. Personal stereos hatten noch einen zweiten Effekt: Sie kapselten ihre Nutzer/innen vom sie umgebenden Raum akustisch ab, obwohl sie ihn abhängig von der Lautstärke des Gerätes durchaus noch wahrnehmen oder – bei besonders hoher Lautstärke – sogar
16 So stellt auch Michael Bull in seiner Analyse des Gebrauchs von personal stereos fest, dass ihre Innovation gerade im Zusammenhang zwischen Bewegung und Klangerfahrung besteht (vgl. Bull 2000: 3).
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aktiv mitgestalten17 konnten: »Personal-stereo use reorientates and re-spatializes experience which users often describe in solipsistic and aesthetic terms. They describe the personal stereo as providing them with an invisible shell without which the boundaries of both cognitive and physical space become reformulated.« (Bull 2000: 22) David Bissel beschreibt in seinem Aufsatz »Moving with others«, wie dieser Effekt von personal stereos und Kopfhörern von Passagier/innen im britischen Bahnverkehr bewusst eingesetzt wird, um sich der als unangenehm empfundenen erzwungenen Gesellschaft der übrigen Reisenden zu entziehen und einen »personalized space« zu schaffen: »One of the most common ways that space is personalized is by listening to music through headphones. […] A ›safety bubble‹ is formed around the travelling body as a form of sonic shield that has the effect of distancing other passengers who are not listening to the same music.« (Bissel 2009: 58) Die akustische Isolation der Nutzer/innen von personal stereos an Bord der Überlandbusse Südmexikos führte bisweilen dazu, dass sie die Auftritte der músicos ambulantes gar nicht mehr wahrnahmen. Der músico ambulante Plutarco León aus Iguala sagte resigniert: »Es gibt Leute, die die Musik nicht beachten, sie hören ihrem Handy zu. So reisen sie. Die merken nicht einmal, dass unsereiner spielt.« (León Gutiérrez Plutarco 8.11.2011) Auch Julio García musste feststellen, dass viele Passagier/innen gar nicht bemerkten, dass er im Gang des Busses zu spielen begann. Zumal die Träger/innen von Kopfhörern häufig dösten und ihre Augen geschlossen hatten: »Die hören nicht mehr zu. Vielleicht kam gerade ein Lied, das er mochte, aber weil er seine Kopfhörer trägt, hört er uns nicht. Manchmal schlafen sie dabei auch noch, ruhen sich mit ihren Kopfhörern aus. Dann wissen sie gar nicht, dass ein Musiker zugestiegen ist. Manchmal gibt es Leute, neben die du dich stellst, und sie machen Grimassen: ›Ahh!‹ [verzieht sein Gesicht] oder ›Hey! Geh mal ein bisschen darüber, ja?!‹ Sie verstehen nicht, dass man versucht, sich den Lebensunterhalt zu verdienen.« (García, Julio 5.4.2013)
Die zweite Hälfte der Aussage Julio Garcías machte deutlich, dass Passagier/innen, die sich mit ihren personal stereos von ihrem akustischen Umfeld abschirmten, sehr empfindlich reagieren konnten, wenn Busmusiker, durch ihre Lautstärke in ihre »invisible shell« beziehungsweise »safety bubble« einbrachen. Auch andere Musiker erzählten von Benutzer/innen von personal stereos, die ihnen unmissverständlich mitteilten, dass sie die Musiker als Eindringlinge empfanden. Endir de León berichtete von einem Mann, der ihm kurz zuvor in einem Bus begegnet war: »Da fuhr ein Herr mit Kopfhörern – nicht mal ein Herr, der war erst 27 oder 30 – und der fuhr mit seinen Kopfhörern. Dann begann ich, meine Gitarre zu stimmen, und er hörte wahrscheinlich Musik und hörte mich nicht. Als ich den ersten Akkord schlug, machte er so [verzieht sein Gesicht]. Richtig wütend, ne! Sehr, sehr wütend. So [er verzieht sein Gesicht mit Nachdruck]. Er
17 Die Einführung des Walkmans führte in öffentlichen Verkehrsmitteln Großbritanniens dazu, dass sich Mitreisende von Nutzer/innen akustisch belästigt fühlten. In der Londoner Metro wurden eigens Regeln bezüglich der Lautstärke des »Walkman« eingeführt (vgl. du Gay; Hall; Janes; MacKay und Negus 1997: 114).
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nahm sein Kopfhörer und drückte sie heftig in die Ohren und ich hatte noch nicht einmal angefangen. Der war richtig sauer. Am Ende nahm der die Kopfhörer aus den Ohren und ging weg. Supersauer!« (de León, Endir 12.3.2014)
Plötzlich störte die Musik der Busmusiker andere akustische Informationen, denen die Nutzer/innen von personal stereos zu folgen versuchten. Personal stereos senkten damit überraschenderweise die Toleranz, mit der die übrigen Fahrgäste akustischen Einflüssen und auch der Arbeit der Musiker begegneten. Ungeachtet der Lautstärke der personal stereos und dessen, was ihre Benutzer/innen tatsächlich wahrnahmen, ließen sich Kopfhörer auch als Signal gewünschter Isolation interpretieren. Die Benutzer/innen machten deutlich, dass sie das akustische Angebot der músicos ambulantes nicht annahmen. Personal stereos boten ihren Nutzer/innen, die mit den Musikern im Bus eingeschlossen waren, die Möglichkeit, sich dem Raum der Performance zumindest symbolisch zu entziehen. Somit entkamen sie dem sozialen Druck der coperacha, da sie die Musik nicht hatten hören können. Obwohl sich diese Vermutung nur schwer beweisen ließ, bemerkten viele Musiker, dass Passagier/innen mit Kopfhörern sie in der Regel bei der coperacha vorüberziehen ließen, ohne ihnen etwas zu geben. Hexiquio Hernández sagte über die Benutzer/innen von personal stereos: »Diese Leute unterstützen dich in der Regel nicht, sie geben keinen Beitrag. […] Nehmen wir an, ein Bus ist voll besetzt und 15 oder 20 haben Kopfhörer, dann werden diese Leute nichts geben. Wenn ich sonst 50 Peso in dem Wagen verdient hätte, dann bekomme ich nun nur noch 20, 30 oder 35 Peso, weil diese Leute keinen Beitrag bezahlen. Wenn keiner Kopfhörer hätte und alle einen Beitrag geben würden, dann könnten wir mehr Geld verdienen.« (Hernández, Hexiquio 29.3.2013)
Häufig beobachteten die Busmusiker einen direkten Zusammenhang zwischen ihrer Performance und dem Gebrauch von personal stereos. So steckten sich Fahrgäste ihre Kopfhörer erst in die Ohren, wenn Musiker zu spielen begannen, oder drückten Kopfhörer, die sie bereits trugen, noch tiefer in ihre Gehörgänge. Manche Musiker, wie zum Beispiel José David Jaímez, empfanden diese Geste als persönliche Beleidigung: »Es gibt Leute, die benehmen sich wirklich albern. Wenn du singst, gibt es Leute, wenn du neben ihnen stehst und singst und die Person trägt Kopfhörer, dann stecken sie sich die noch tiefer rein [steckt Finger in die Ohren]. Was geht, he?! Wenn er mich nicht hören will, hat er die Ohren ohnehin schon verstopft, oder? Aber die Geste, dass sie sich die Kopfhörer noch tiefer reinstecken, das ärgert dich schon.« (Jaímez, José David 8.3.2013)
Umgekehrt gab es aber auch Passagier/innen, die ihre Kopfhörer aus den Ohren nahmen, sobald Musiker zu spielen begannen. Lorenzo Villanueva sagte: »Manchmal nehmen sie sie sogar ab, weil es ihnen gefällt. […] Sobald sie das Lied hören – manchmal kennen sie es noch nichtmal, aber wollen die Geschichte hören – nehmen sich manche Leute, die welche benutzen, ihre Kopfhörer ab.« (Villanueva, Lorenzo 04.04.2013) Endir de León berichtete von einer Touristin, die nicht nur ihre Kopfhörer aus den Ohren nahm, sondern sogar begann den jungen Musiker aufzunehmen:
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»Einmal traf ich eine, ich glaube das Mädchen war Amerikanerin. Die hatte ihre Kopfhörer auf. Als sie hörte, dass ich anfing zu singen, wurde sie wütend, es störte sie. Dann machte sie so, nicht? Hielt sich so die Hände hin… [er hält sich die Ohren zu]. Vermutlich hörte sie mehr von mir als von ihrer eigenen Musik. Dann nimmt sie einen raus. Sie hörte zu und es gefiel ihr, wie ich sang – glaube ich. Dann nahm sie sich den anderen raus. Aber am Anfang war sie wütend und störte sich an mir. Nachdem sie den zweiten rausgenommen hatte, beendete ich das erste Lied und es gefiel ihr. […] Bei den nächsten Liedern, fing sie an mich aufzunehmen, und dann hörte sie nicht mehr auf mich aufzunehmen, aber erst musste sie ihre Wut verdauen.« (de León, Endir 12.3.2014)
Nutzer/innen von personal stereos waren folglich nicht nur in der Lage sich dem Raum der Performance zu entziehen, ihre Kopfhörer boten ihnen auch die Möglichkeit demonstrativ ihr Interesse an der Performance zu bekunden, wenn sie aus den Ohren entfernt wurden. Obwohl oder gerade weil Kopfhörer und personal stereos sie vom umgebenden akustischen Raum abschotteten, hatten ihre Nutzer/innen weiterhin Einfluss auf die Performance und die feedback-Schleife, die sich zwischen músicos ambulantes und ihrem Publikum entspannte. Die besonderen feedback-Schleifen an Bord südmexikanischer Überlandbusse Gleich jeder anderen Performance verbanden folglich an Bord südmexikanischer Überlandbusse feedback-Schleifen músicos ambulantes mit ihrem Publikum. Viele der Wechselwirkungen funktionierten dabei, wie sie auch bei Performances populärer Musik in anderen Räumen zu beobachten waren. Sobald die Passagier/innen ihren Gefallen an der Performance zum Ausdruck brachten, mitsangen oder klatschten, förderten sie den Enthusiasmus der Musiker. Lorenzo Villanueva und Tomás Ramírez steigerten die Intensität und Lautstärke ihrer Performances, als sie das positive feedback der Passagier/innen erreichte. Auch Salvador Hernández, Rubén Jaímez und Endir de León zogen aus den positiven Reaktionen der Passagier/innen Energie und Freude an ihrer Arbeit. Der gesteigerte Enthusiasmus der Musiker wirkte sich wiederum auf die Reaktionen der Passagier/innen aus. Die feedback-Schleife entfaltete sich dabei nicht allein zwischen Musikern und ihren Zuhörer/innen, sondern auch zwischen den anwesenden Passagier/innen. So spielten die zwischenmenschlichen Verhältnisse innerhalb des Publikums eine wichtige Rolle. Gruppen unter den Passagier/innen wirkten als Verstärker der feedback-Schleife und ermunterten ihre Mitglieder zu expressiver Interaktion. Untereinander bekannte Reisende taten sich häufiger durch Zwischenrufe hervor, klatschten oder sangen gemeinsam mit. Hingegen hielten Passagier/innen, die Desinteresse signalisierten, die übrigen Anwesenden zurück. Andere Eigenschaften der feedback-Schleifen bei Auftritten der músicos ambulantes waren eng an die Besonderheiten der Performanceräume an Bord der Überlandbusse geknüpft. Passagier/innen hatten nicht für die Teilnahme an der Performance bezahlt, sondern wurden von den Musikern um eine coperacha gebeten. Die Bitte um diesen Beitrag bildete ebenso Bestandteil der Performance, wie die entsprechenden Reaktionen des Publikums. Dies wurde deutlich, wenn sich Passagier/innen schlafend
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stellten, um sich dem sozialen Druck des vermeintlich freiwilligen Beitrags zu entziehen. Ohnehin wirkte das Publikum der músicos ambulantes auf den ersten Blick oft teilnahmslos. Viele der Passagier/innen schliefen tatsächlich, während andere aus dem Fenster sahen oder auf den Sitz vor ihnen starrten. Die Reisenden hatten vor allen Dingen den Wunsch, sich an Bord der Busse zu entspannen. Die Musiker entwickelten ihrerseits Taktiken, mit denen sie schlafende Passagier/innen in Performances einbanden. Salvador Hernández unterstellte ihnen im Text seines »Corrido del Cancionero«, sich schlafend zu stellen, um der coperacha zu entgehen, und Gabriel Villanueva stieß im letzten seiner Stücke einen schrillen Schrei aus, der alle Anwesenden weckte. Größere Probleme bereitete den Musikern die wachsende Zahl von personal stereos an Bord der Busse. Immer mehr Passagier/innen hörten mitgebrachte Musik im Mp3-Format. Die Musiker verloren auf diese Weise nicht nur ihr Unterhaltungsmonopol, sie wurden von den meist jungen Passagier/innen mit Kopfhörern oft nicht einmal mehr wahrgenommen. Mehr noch als Schlafende waren Nutzer/innen von personal stereos in der Lage sich dem akustischen Raum, den die Performance der Musiker konstituierte, zu entziehen. Nichts desto trotz blieben auch die Nutzer/innen von personal stereos Bestandteil der feedback-Schleife, wenn Musiker beleidigt zur Kenntnis nahmen, dass im Laufe ihrer Performance Kopfhörer in Ohren gesteckt wurden oder sie trotzig die Lautstärke ihrer Performance erhöhten. Ihr geringes soziales Ansehen an Bord der Busse machte die Musiker zum Ziel erniedrigender Zwischenrufe. Auch in diesen Fällen löste sich der binäre Charakter der feedback-Schleife auf. Jesús García stellte fest, dass sich die Zwischenrufe nicht allein an ihn richteten. Vielmehr verfolgten die Rufenden die Absicht, sich auf seine Kosten vor ihren Mitreisenden hervorzutun. Jesús García reagierte auf diese Buhlerei mit einem Wettstreit um die Gunst des Publikums. Er weigerte sich nach Beleidigungen der Passagier/innen, weiter seine Rolle in der Performance zu spielen, und forderte die Rufenden auf, statt seiner Gitarre zu spielen und zu singen. Der Rollenwechsel, den Jesús García zu erzwingen versuchte, war das was Fischer-Lichte als feedback-Schleife »unter dem Vergrößerungsglas« bezeichnet (vgl. Fischer-Lichte 2004: 66). Doch auch die übrigen Wechselwirkungen zeigten, dass sämtliche Anwesende an Bord der Busses die Performance gestalteten und somit musicking betrieben (vgl. Small 1998: 9). Das Publikum aus Passagier/innen war also keinesfalls so teilnahmslos, wie es auf den ersten Blick wirkte. Im Gegenteil: die räumliche Nähe der Musiker zu ihren Zuhörer/innen und das besondere Machtverhältnis zwischen ihnen provozierte Interaktionen, die nicht entstanden, wenn ein Publikum aus der Dunkelheit zu Musikern auf einer erhobenen und beleuchteten Bühne aufschaute.
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7.2 KATASTROPHEN, VERKEHRSUNFÄLLE UND ANDERE EREIGNISSE DER TRANSITRÄUME ALS THEMA IN GABRIEL VILLANUEVAS CORRIDOS 18 »Wenn es um Corridos geht, hat es mir immer gefallen, die Wahrheit zu sagen. Wenn die Leute mir sagen: ›Weißt du was? Komponiere den Corrido, aber bau Gerüchte ein!‹ Dann komponiere ich lieber gar nichts, das hat keinen Zweck. Es gibt Leute, die kennen die Geschichte, die Tragödie und dann hören sie den Corrido, der die Fakten nicht berichtet, wie sie passierten. Dann tuscheln alle und machen sich über dich lustig. Sie sagen: ›Er hat den Corrido geschrieben, aber die Sache ist gar nicht so abgelaufen, wie der Corrido erzählt.‹ Deshalb hat es mir immer gefallen, die Sachen zu erzählen, wie sie sind, damit die Leute sagen: ›Ja, stell dir vor, genau so hat es sich zugetragen.« (Villanueva, Gabriel 19.12.2010)
Der Anspruch, dass in guten corridos nichts als die Wahrheit erzählt werde, brachte dem Genre den Ruf ein, eine Art gesungene Tageszeitung zu sein. Als Argument für diese These verweisen Autor/innen auf die zentrale Bedeutung von Mobilität, die Komponisten dieses Genres auszeichne und sie sowohl zu Augenzeugen der Ereignisse als auch zu Verteilern der Nachricht mache. Die músicos ambulantes, allen voran Gabriel Villanueva, stritten hingegen ab, dass es sich bei ihren Kompositionen um gesungene Nachrichten handle. Sie erklärten, dass Erinnerung die zentrale Funktion ihrer corridos sei. Damit setzten sie nicht nur voraus, dass die Hörer/innen mit den besungenen Ereignissen vertraut waren, sondern unterstrichen eine lokale Verankerung ihrer corridos, die auf den ersten Blick im Widerspruch zu ihren mobilen Performanceräumen stand. Corridos wurden vor allen Dingen im Streckennetz »Costa Grande y Costa Chica« von den músicos ambulantes an Bord der Busse gespielt, machten aber auch einen großen Teil der Repertoires der Musiker in der »Zona Norte« und der »Mixteca Poblana« aus. In welchem Verhältnis standen also die oft sehr lokalen Inhalte zu der Mobilität der Musiker und ihres Publikums? Beeinflussten Ereignisse der Transiträume Musiker bei der Komposition eigener corridos? Wie begegneten sie dem Widerspruch zwischen ihren mobilen Performances und den lokalen Bezügen der corridos? Dieses Unterkapitel führt zunächst anhand der These des Nachrichtenmediums und den ihr
18 Die Tatsache, dass Gabriel Villanueva und seine Kompositionen den Schwerpunkt dieses Unterkapitels bilden, liegt nicht darin begründet, dass er mit seiner Strategie, lokale Ereignisse in corridos zu verarbeiten, exemplarisch gewesen wäre, sondern vielmehr darin, dass sich diese Strategie als außerordentlich erfolgreich erwiesen hatte. Sowohl Gabriel Villanueva als auch sein Sohn Lorenzo schrieben den großen Erfolg der »Los Pajaritos del Sur« ihren lokal verankerten corridos zu: »Die Leute, die uns unterstützen – und das sind viele – tun das vor allen Dingen wegen der Corridos, den echten, kritischen, schweren, ungerechten Fällen, die in der Vergangenheit passiert sind. […] Traurige Fälle wie der ›Corrido de Aguas Blancas‹, ›Desgracia en Chiapas‹, ›El masacre del Charco‹, ›El ciclón Paulina‹ und andere, die Geschichte geschrieben haben und vielleicht für immer gehört werden […]. Denn das sind traurige Dinge, nicht? […] Vor allen Dingen sind es Corridos über wirkliche Fälle, wahrheitsgetreue Fälle, weshalb die Menschen uns unterstützen.« (Villanueva, Lorenzo 16.10.2010)
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widersprechenden Aussagen meiner Interviewpartner in das Spannungsfeld zwischen Mobilität und Lokalität in corridos ein. Der zweite Teil verdeutlicht, welche Rolle lokale Bezüge in corridos an Bord der fahrenden Überlandbusse spielten, um dann schließlich zu analysieren, wie sich dieses Spannungsfeld in Gabriel Villanuevas Komposition über einen schweren Verkehrsunfall auflöst. »Wahre Geschichten«: Corridos als mobiles Nachrichtenmedium oder als lokale Erinnerung Das Repertoire der »Los Pajaritos del Sur« bestand, wie die Repertoires der meisten duetos de guitarra in Guerrero, zu einem überwältigen Teil aus corridos. Diese Balladen erzählten den Hergang von Ereignissen, die nicht nur meistens tragisch waren, sondern – so unterstrichen meine Interviewpartner – sich auch genauso, wie im corrido berichtet, zugetragen hatten: »Fast alle sind über etwas komponiert, das auch passiert ist.« (Hernández, Salvador 28.3.2013) Corridos in den Repertoires meiner Interviewpartner erzählen in der Regel von den kühnen und häufig letzten Taten berüchtigter Revolverhelden, wie »El corrido de Claudio Bahena«, »La Mula Bronca«, »El Chante Luna« und »El corrido de Simón Blanco«. Allerdings besingen sie ebenso andere Unglücke. So komponierte Gabriel Villanueva corridos über die Folgen verheerender Wirbelstürme, Brände und Explosionen bis hin zum tragischen Unfalltod einer Frau, die auf einer Baustelle ein ungesichertes Stromkabel berührt. Trotz der Vielfalt der Themen, die er in seinen corridos erzählte, bestand Gabriel Villanueva darauf, dass sie alle der Wahrheit entsprachen und Fakten nannten. Wie auch die übrigen Musiker im Streckennetz »Costa Grande y Costa Chica« verwendete er den Begriff »historias verídicas« synonym zu »corridos«. Ihr Wahrheitsgehalt war für Gabriel Villanueva das Kriterium, an dem sich die hohe Qualität seiner corridos messen ließ, und darin fühlte er sich von seinem Publikum bestätigt: »Ich habe Briefe bekommen, geschriebene Geschichten, die sie mir aus verschiedenen Ecken der mexikanischen Republik geschickt haben. Warum? Weil es Leute gibt die merken, wer ein rechtmäßiger Komponist ist, wer die Dinge sagt, wie sie wirklich passierten. […] Ich mag die wahren Dinge. Ich komponiere keine ausgedachten Corridos.« (Villanueva, Gabriel 16.10.2010) In weiten Teilen der Fachliteratur hat sich daher die Annahme, corridos seien gesungene Nachrichten für ein häufig nicht alphabetisiertes Publikum, durchgesetzt. 19 Während sich einige Autor/innen dabei auf die klassischen corridos aus der Zeit der mexikanischen Revolution oder sogar davor beziehen (vgl. z.B. Figueroa Torres 1995: 15 und Ragland 2009: 33), wird auch bei corridos jüngeren Datums immer wieder davon ausgegangen, sie dienten als Nachrichtenmedium (Lucero-White Lea
19 Einige Autor/innen sehen bereits in der Bezeichnung des Genres einen Hinweis auf dieses Merkmal und übersetzen den Begriff »corrido« mit »current happening« (Gruening 1928: 647) oder »that which is current«, wie Robert Redfield in seiner berühmten Ethnographie Tepoztlán: A Mexican Village (Redfield 1974: 180).
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1953: 118-119; Simmons 1957: 35 und Wald 2002: 4-5).20 Die These des corridos als Nachrichtenmedium ist dabei eng mit der Mobilität der Musiker beziehungsweise der Komponisten verknüpft, von denen die Autor/innen, wie Merle Simmons, annehmen, sie reisten von Dorf zu Dorf und Markt zu Markt, um dort gegen Geld einem interessierten Publikum corridos vorzutragen: »This man is a corridista, one of those rustic minstrels, also known as trovadores or cantadores, who travel from market to market singing their songs and selling cheaply printed copies of their lyrics to those who will buy.« (Simmons 1957: 3) Vicente T. Mendoza, Autor der bekanntesten Monographie über den corrido, erklärt, erst ihre Mobilität verleihe den Musikern jene Autorität, die sie vor ihrem Publikum in eine glaubhafte Nachrichtenquelle verwandle: »Die Troubadoure aus dem Volk, die aus ihrem Gesang einen Beruf machen, werden von unserem Volk als ›Männer von Welt‹ betrachtet. Sie haben Umgang mit vielen Menschen gehabt, sie haben beinahe das ganze Land bereist, von Fest zu Fest, von Dorf zu Dorf, drei Tage hier und drei Tage dort, sie wiederholen zum Anschlag ihrer alten Gitarre herausragende Geschehnisse und Ereignisse, die in diesen Regionen, wo die Presse ein Luxus ist, eine Neuigkeit darstellen. In vielen Fällen waren sie Augenzeugen der Gebenheiten, die sie berichten. Folglich sind auch sie es, die der Erzählung Form und Aufmerksamkeit geben.« (Mendoza 1997: 144-145)
Die Mobilität, wie sie Mendoza beschreibt, erfüllt zum einen die Funktion der Verbreitung der Neuigkeiten und zum anderen unterstreicht sie die Glaubwürdigkeit der Musiker, die auf ihren Reisen oft selbst Augenzeugen der besungenen Ereignisse seien. Diesen Zusammenhang zwischen den Bewegungen der Musiker und der vermeintlichen Nachrichtenfunktion des corridos greift auch Wald in seinem Kapitel über »Los Pajaritos del Sur« auf und vergleicht die Busmusiker an der Küste Guerreros mit den fahrenden Bänkel- und Moritätensängern, die vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert über Europas Marktplätze und Jahrmärkte zogen: »[M]any of them will spend their lives travelling from small town to small town, supplying local travelers with the same entertainment provided in the market squares of the Middle Ages.« (Wald 2002: 232) Seine Annahme stützt Wald unter anderem auf Aussagen Gabriel Villanuevas, der im Interview die Faktentreue seiner corridos und seine gewissenhaften Recherchemethoden hervorhob: »I go and investigate personally, because you know that the newspapers don’t tell the truth. And I, as a composer and as a citizen, well, I like to tell the truth. Because the people who live through something always know the truth, and if after a while they hear the corrido, they’ll say, ›That’s not how things happened.‹« (Villanueva in Wald 2002: 240) Jedoch bereits die zweite Hälfte des Zitats, widersprach bei genauerer Betrachtung der These, Gabriel Villanueva informiere mit seinen corridos Menschen über ihnen unbekannte Ereignisse. Offensichtlich dachte er bei der Komposition an ein Publikum, das mit den Geschehnissen nicht nur vertraut war, sondern sie aus nächster Nähe, eventuell am eigenen Leib erfahren hatte. So verneinte auch Gabriel Villanueva selbst die direkte Frage, ob corridos der Übermittlung von Nachrichten dienten. Er erklärte stattdessen, dass Menschen corridos hörten, um sich mit ihrer Hilfe an die erzählten Ereig-
20 Zu einer ausführlichen Diskussion der vermeintlichen Funktion von corridos als Nachrichtenmedium vgl. Kirschlager 2015b.
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nisse zu erinnern: »Nein! Sondern als Erinnerung, als Erinnerung.« (Villanueva, Gabriel 19.12.2010) Und auch die übrigen Musiker, die corridos komponierten, bestanden darauf, dass diese der Erinnerung dienten. Salvador Hernández, der zwei Männern aus seinem Dorf Palmillas, die bei Verkehrsunfällen ums Leben gekommen waren, jeweils einen corrido gewidmet hatte, erklärte deren Zweck: »Sie sind wie ein Andenken, ein schönes Andenken, die Corridos über Luis und Rubén. […] Als ich ihn komponierte – ich komponierte zuerst den über Luis, ›El corrido de Luis Díaz‹ – gefiel er seiner Familie sehr. Als sie ihn hörten, sagten sie mir, dass der Corrido sehr schön sei.« (Hernández, Salvador 04.12.2011) Corridos richteten sich also vor allen Dingen an ein Publikum, das mit den besungenen Ereignissen bereits vertraut war. Als »Los Pajaritos del Sur« auf einer privaten Feier in La Sinaí, einem armen Vorort Acapulcos spielten, kam es zu einem pedido, der Gabriel Villanuevas Widerspruch gegen die These, er verbreite Nachrichten, illustrierte. Es war der Namenstag von Teresa Cruz, einer älteren Frau, die das dueto von ihren Reisen in Überlandbussen entlang der Costa Chica kannte und den Auftritt von ihren Söhnen geschenkt bekommen hatte. Nun verlangte Teresa Cruz den corrido über einen Mord, der sich kurz zuvor in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft zugetragen hatte: »›Kann ich euch um einen Gefallen bitten? Ihr zwei könnt nicht den Corrido über Reynaldo Lozano?‹ fragt Doña Teresa die Pajaritos. ›Nein, nein.‹ Gabriel schüttelt bedauernd den Kopf. ›Der von hier, von diesem Mord…‹ erklärt einer der Söhne Doña Teresas, um von Gabriel unterbrochen zu werden. Auch Gabriel kennt die Geschichte: ›Ja, ja. Der, den sie unten auf dem Boulevard ermordet haben.‹ – ›Ja, ja, genau,‹ rufen Doña Teresa und ihre Söhne zustimmend. Gabriel will zeigen, dass er sehr wohl weiß, um welchen Mord es geht: ›Den sie in seim PickUp umgebracht haben, nicht? Wo der Mörder die Pistole in einem Eimer mitbrachte.‹ – ›In einem Eimer… der Mörder!‹ wiederholt Doña Teresa das offensichtlich zentrale Detail des Verbrechens. Doch Gabriel kennt nur die Geschichte, nicht aber den Corrido: ›Den Corrido kann ich nicht. Aber ich habe ihn schon mal gehört…‹ – ›Trotzdem danke.‹ Doña Teresa winkt ein wenig enttäuscht ab.« (Tagebucheintrag vom 17.10.2010 in La Sinaí, Acapulco)
Das Beispiel des missglückten pedidos auf der Namenstagfeier zeigt, dass die Inhalte von corridos ihrem Publikum oft bereits bekannt waren und ihr Interesse, wie Gabriel Villanueva bemerkte, darin bestand, sich mit Hilfe des corridos des besungenen Ereignisses zu erinnern.21 Genauso wie Teresa Cruz schätzten auch Passagier/innen in Bussen corridos für ihre expliziten lokalen Bezüge. Ein campesino aus dem municipio Coyuca de Benítez an der Costa Grande erklärte: »Wir sind den Rancheras zugeneigt, den Corridos. […] Hier heißen sie Corridos, wenn sie über die Erlebnisse und Gegebenheiten singen, die hier passiert sind, und sie sind die Ausdrucksform der Bauern, von denen, die hier leben. […] Natürlich, alles ist schön. Aber ich mag am liebsten
21 Zu der Funktion von corridos als Medium kollektiver Erinnerung vgl. auch Kirschlager 2015b. Außerdem hebt John Holmes McDowell, der corridos der Costa Chica untersuchte, hervor, dass corridos über die Gewalttaten lokaler Akteur/innen, heilende Elemente besitzen, die der Gemeinschaft helfen, die traumatischen Ereignisse zu verarbeiten (vgl. McDowell 2000: 196-197).
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sowas, weil sie Ereignisse von hier erzählen und man sagt: ›Ah, was für ein schöner Text!‹ Denn was passiert ist, kommt an.« (Passagier 2 in AGC zwischen Acapulco und Tecpan 17.11.2011)
Derselbe Passagier erklärte weiter, dass er corridos ihm bekannter lokaler Ereignisse angemessen wertschätzen könne, weil er die Möglichkeit hatte, ihren Text mit der »realidad« abzugleichen: »Das gut, denn nur so sehen wir, wie gut der Interpret ist. Ob er sich wirklich auf die Wirklichkeit stützt. Deshalb höre ich die.« (Passagier 2 in AGC zwischen Acapulco und Tecpan 17.11.2011) Corridos waren also keine gesungenen Nachrichten, mit denen ein Musiker ein fremdes Publikum informierte, sondern Erzählungen, die auf ein lokales Publikum abzielten. Auch die übrigen Musiker bestätigten, dass corridos ihre Wirkung nur dort, wo auch ihre Handlung verortet war, voll entfalten konnten (z.B. Contreras, Andrés 6.8.2010; García, Julio 24.9.2010 oder Hernández, Hexiquio 29.3.2013). Salvador Hernández spielte die beiden corridos über seine verunglückten Nachbarn nur in Palmillas (Hernández, Salvador 04.12.2011). Die gewissenhaften Recherchemethoden, die Wald als Beweis für Gabriel Villanuevas Selbstverständnis als Journalist dienen, unternahm dieser also eigentlich, um vor den Erwartungen seines bestens informierten Publikums zu bestehen. Weil sein Publikum ein detailliertes Bild der Ereignisse besaß, lief Gabriel Villanueva Gefahr, sich durch eine fehlerhafte Darstellung lächerlich zu machen. Seine größten Hits schrieb er daher über Ereignisse, bei denen er persönlich anwesend war, wie beispielsweise den corrido »Desastre en La Sinaí« über den Zyklon »Boris«.22 Zwar war Gabriel Villanueva im Hinblick auf seine CDs daran interessiert, Themen für seine corridos zu finden, die einen breiten Markt ansprachen, jedoch hatte er feststellen müssen, dass die Bekanntheit der Protagonisten nicht den entscheidenden Ausschlag gab. Als er einen corrido über den ermordeten Fernsehmoderator Paco Stanley komponierte, floppte dieser: »Als sie Paco Stanley töteten, sagte ich mir: ›Die Geschichte ist gut. Ich werde einen Corrido komponieren. So ein Corrido könnte funktionieren.‹ Aber er funktionierte nicht. Stell dir vor! Und das ist eine Geschichte, die man im Fernsehen sehen konnte, der hat beim Fernsehen gearbeitet.« (Villanueva, Gabriel 19.12.2010) Sehr viel erfolgreicher war hingegen der »Corrido de Lilia Fernández« über eine Textilhändlerin aus Acapulco, die auf der Baustelle ihres Hauses durch einen Stromschlag ums Leben gekommen war: »[Diese Dame] tötete ein Stromkabel mit hoher Spannung. Sie war sehr nett und viele Menschen vom Markt kannten und mochten sie.« (Villanueva, Gabriel 19.12.2010) Anders als der corrido über Paco Stanley besitzt der corrido über den tragischen Tod der Markthändlerin diverse sehr lokale Verweise, wie die colonia El Progreso, in der ihr Haus steht, das Krankenhaus, in dem sie ihren Verletzungen erliegt, und die sehr präzise Lage ihres Ladens in der »Cerrada Vallarta« auf dem »Mecado Central«, auf dem sie bekannt und beliebt gewesen ist.
22 Vgl. Kapitel 4.3.3.
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Un día 28 de Agosto presente lo tengo yo en el puerto de Acapulco esta desgracia pasó. Una señora muy buena que en Acapulco murió.
An einem 28. August, ich erinnere mich noch gut, im Hafen von Acapulco passierte dieses Unglück. Eine gute Frau starb in Acapulco.
A las once en la mañana ella salió de su tienda en compañía de su hijito el más pequeño de todos. Ella iba para su casa que le estaban trabajando.
Um 11 Uhr morgens verließ sie ihr Geschäft in Begleitung ihres Sohnes, dem jüngsten von allen. Sie ging zu ihrem Haus an dem gerade gearbeitet wurde.
Se subió al segundo piso para allá mirar su obra pero no se daba cuenta que se acercaba su hora y que ese cable de luz su vida le arrebatara.
Sie stieg hinauf in den 2. Stock, um die Bauarbeiten zu betrachten. Sie bemerkte nicht, dass ihre Stunde gekommen war und dass dieses Stromkabel ihr das Leben entreißen würde.
Cuando la miro su hijito lo que esaba pasando el corrió para salvarla y la tomó de la mano. Recibió una gran descarga que lo tiró pa’ atrás quemándolo de la mano muy triste recordará.
Als ihr Sohn sah, was geschehen war, eilte er herbei, um ihr zu helfen, und nahm ihre Hand. Der Stromschlag, den er erlitt, schleuterte ihn nach hinten und verbrannte seine Hand. Voll Trauer wird er sich erinnern.
[Y hay que tener mucho cuidado con los cables de luz. Eso es un consejo que les digo a todo el mundo entero]
Vorsicht mit den Stromkabeln! Das ist ein Rat, den ich allen gebe!
Ella cayó desde arriba como a diez metros de altura cayendose hasta la calle casi entregando su vida y entre su mente decía: »pobrecita mi criatura«
Sie fiel von oben aus etwa zehn Metern Höhe nieder auf die Straße und war schon dem Tode nahe. Sie sagte noch im Geiste: »Mein armes Kind!«
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Serían las 2 de la tarde cuando es caso pasó. La llevaron al seguro como a las 4 murió. Así sería su destino Diosito se la llevó.
Es muss 2 Uhr gewesen sein, als all dies passierte. Sie brachten sie ins Krankenhaus, wo sie um 4 Uhr starb. Das war ihr Schicksal. Gott nahm sie zu sich.
Lilia era su mero nombe Fernández su apelativo. En la colonia Progreso la recuerdan sus amigos. Ella era muy buena gente en compañía de sus hijos.
Lilia war ihr Name, Fernández ihr Familienname. Im Viertel Progreso werden sich Freunde ihrer erinnern. Sie war ein guter Mensch, und immer bei ihren Kindern.
Ahí en Cerrada Vallarta ahí tiene su local. Es una tienda de ropa que sus hijos administrarán que su madrecita santa los enseñó a trabajar.
Dort in der Cerrada Vallarta hatte sie ihr Geschäft. Es ist ein Kleiderladen, den nun ihre Kinder übernehmen, wie es sie ihre heilige Mutter gelehrt hat.
Sus hijos le lloran mucho sus padres le lloran más porque ese cable de luz a Lilia vino a matar, porque ese cable de luz a Lilia vino a matar.
Ihre Kinder haben sie beweint und noch mehr ihre Eltern, denn dieses Stromkabel tötete Lilia, denn dieses Stromkabel tötete Lilia.
Los Pajaritos del Sur ya se van a retirar cantandoles estas bregarias que nunca olvidarán y mucho menos sus hijos siempre la recordarán a su madrecita santa. ¡Que Lilia descanse en paz!
Die Pajaritos del Sur setzen sich nun zur Ruhe und singen euch diese Tragödie, die sie niemals vergessen werden, und noch weniger ihre Kinder. Sie werden sich immer erinnern an ihre heilige Mutter. Lilia, ruhe in Frieden! Titel: Lilia Fernández Lagunas Interpret: Los Pajaritos del Sur Komponist: Gabriel Villanueva Album: Chante Luna Jahr: 2008
Lokale corridos in bewegten Bussen Die vermeintliche Funktion der corridos als Nachrichtenmedium ließ sich, wie Walds Analogie zu den Bänkelsängern Europas zeigt, hervorragend mit der Mobilität der
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músicos ambulantes an Bord der Überlandbusse in Einklang bringen. Die Aussagen der Musiker und Hörer/innen, die dieser These widersprachen und die lokale Gebundenheit der corridos herausstellten, erzeugten hingegen ein Spannungsfeld zu der bewegten Tätigkeit der Musiker. Schließlich fuhren die Busse nicht nur durch verschiedene Transiträume, sondern auch ihre Passagier/innen waren unterschiedlicher Herkunft. Wie gingen die músicos ambulantes also mit diesem Spannungsfeld um? Salvador und Hexiquio Hernández begegneten ihrem mobilen Publikum an Bord der Überlandbusse schlicht mit anderen corridos, als sie in ihrem Dorf Palmillas spielten. Stattdessen wählten sie corridos, deren legendäre Protagonisten exemplarisch für einen viel weiter gefassten Raum, nämlich den Bundesstaat Guerrero standen. Statt der corridos über ihre verunglückten Nachbarn spielten Salvador und Hexiquio Hernández an Bord der Überlandbusse corridos über Revolverhelden, wie beispielsweise »El Chante Luna«, die sich im ganzen Bundesstaat Guerrero – allerdings nur in Guerrero (vgl. McDowell 2005: 47) – großer Beliebtheit erfreuten.23 Dass auch bei diesen corridos der räumliche Bezug eine wichtige Rolle spielte, bestätigte Hexiquio Hernández: »Die Menschen mögen sie, denn sie sind aus unserer Gegend. Sie mögen sie, denn alle kennen sie.« (Hernández, Hexiquio 25.11.2010) Die beiden Brüder begegneten also dem lokalen Publikum in ihrem Heimatdorf mit einem anderen spezifischeren Repertoire als dem mobilen Publikum der Überlandbusse, für das sie weiter gefasste Räume besangen. Wenn Lorenzo Villanueva hingegen an Bord der Busse der línea Maxirutas spielte, hatte er aufgrund der kurzen Strecke und der Herkunft der Passagier/innen, die zu ihrer überwältigenden Mehrheit aus den Vierteln am Rande Acapulcos stammten, weniger Probleme mit dem Spannungsverhältnis zwischen Mobilität und Lokalität. Die corridos, die er an Bord der urbanen Busse interpretierte, erzählten die Begebenheiten extrem lokaler Ereignisse: »Manchmal baue ich einen Corrido ein, einen von den wahren, […] Corridos wie ›Que me lleve el diablo!‹, […] ›Los dos comandantes‹« (Villanueva, Lorenzo 04.04.2013) Der corrido »Los dos comandantes« erzählt die Geschichte einer Schießerei, direkt auf der Avenida Cuauhtémoc, über die die Busse der línea Maxirutas zwischen dem Zentrum Acapulcos und dem Tunnel verkehrten. […] Rafael Santiago de veintiseis años Comandante federal muere en Acapulco en la Calle Cuauctémoc, avenida principal.
[...] Rafael Santigo 26 Jahre alt und Kommandant der Bundespolizei stirbt in Acapulco auf der Cuauctémoc, der Hauptstraße.
23 Vgl. zur Bedeutung des »Corrido de Chante Luna« auch McDowell 2005: 63. Sowohl Gabriel Villanueva als auch der Musiker Plutarco León aus der »Zona Norte« verwendeten im Zusammenhang mit dem »Corrido de Chante Luna« den Ausdruck »himno de Guerrero« (Villanueva, Gabriel 19.12.2010 und León, Plutarco 8.11.2011).
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A los ocho días de la balacera el comandante García muere por lo mismo dicen los doctores por las balas recibidas.
Acht Tage nach der Schießerei stirbt der Kommandant García genauso, sagen die Ärzte, an seinen Schusswunden. Titel: Los dos comandantes Interpret: Los Pajaritos del Sur Komponist: Onofre Contreras Album: Sus 15 mejores éxitos Jahr: 2009
Aber auch an Bord der Überlandbusse auf der MEX-200 spielte Lorenzo Villanueva gemeinsam mit seinem Vater Gabriel corridos, die von sehr präzise platzierten lokalen Ereignissen handelten. Sie spielten den corrido über den Tod der Markthändlerin Lilia Fernández oder den corrido »Desastre en La Sinaí«, aber auch corridos über Ereignisse anderer Orte der durchreisten Transiträume. Letztere waren gleichzeitig ein Produkt der mobilen Arbeit der »Los Pajaritos del Sur«. Gabriel Villanueva nutzte die Überlandbusse, um durch die Erzählungen von Passagier/innen und Fahrern an Material für neue corridos zu gelangen. Er erweiterte sein Repertoire dabei gezielt in seiner räumlichen Vielfalt. So wie sich die Passagier/innen der rutas, auf denen die Strecken der »Los Pajaritos del Sur« lagen, in ihrer Herkunft aus Orten entlang der Costa Grande und der Costa Chica zusammensetzten, wuchs auch sein Repertoire um corridos lokaler Ereignisse eben dieser Orte: »In den Überlandbussen erfährt man viel, weil Leute aus vielen Orten in ihnen reisen. […] Sie kennen die Geschichte eines Falles, eines Verwandten, den sie ermordet haben. Sie lernen mich im Überlandbus kennen und sagen mir: ›Hey! Warum komponierst du nicht den Corrido über den Einen aus diesem Ort?‹ und ›Komm dorthin! Ich wohne dort.‹ So ist das. Ich gehe und […] bringe viele Geschichten zurück. Die sammle ich, und nach und nach bringe ich meine Corridos raus, nach und nach. Warum? Weil sich der Besuch lohnt. Es lohnt sich, dass du an einen Ort reist, weil du dort Geschichten kennenlernst, von denen du zu Hause nie gehört hättest.« (Villanueva, Gabriel 10.10.2011)
Für die Komposition seiner corridos reiste er beinahe immer an die Schauplätze der Ereignisse, über die er dichtete. Vor Ort redete er mit Augenzeugen und Betroffenen, um sich ein Bild vom Hergang der Ereignisse zu machen (Villanueva, Gabriel 19.12.2010). Aber Gabriel Villanueva komponierte die corridos, die sich aus seiner Recherchearbeit ergaben, nicht für Fremde, sondern für Menschen aus eben den Gemeinden, in denen sich die besungenen Ereignisse zugetragen hatten. So performte er die corridos an Bord der Busse in Abstimmung mit den Transiträumen, durch die sich der Bus während seiner Performance bewegte. Auch wenn er Themen wählte, die eine möglichst große Zielgruppe ansprachen, achtete er, wie im corrido »Lilia Fernández Lagunas«, auf die konkrete Platzierung der Ereignisse. Am Beispiel seiner Komposition »La Mojarra Escamada« über einen Mord in Cerro Hermoso, Oaxaca, erklärte er,
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dass er die potentiellen Hörer/innen dieses corridos wie die besungenen Ereignisse an der östlichen Costa Chica verortete: »Alle sind zufrieden, wenn sie einen Corrido hören und noch mehr, wenn sie die Geschichte kennen. Deshalb werden sich diese zwei Lieder, die ich über El Zapotal und Cerro Hermoso aufgenommen habe, in Puerto Escondido, Oaxaca, Pinotepa, Jamiltepec, Huaspaltepec, La Boquilla de Chico-Ometepec, Cuaji [Cuajinicuilapa], Marquelia und Corralero verkaufen. In all diesen Dörfen wird sich die CD verkaufen, weil sie die Orte kennen, weil sie dort fischen und zum Strand gehen, um sich zu amüsieren. Sie kennen die Orte, und wenn du die Orte nennst, verschaffst du dem Lied Aufmerksamkeit.« (Villanueva, Gabriel 10.10.2011)
So verfügte Gabriel Villanueva über eine Vielzahl an corridos lokaler Ereignisse, die er jeweils nur auf bestimmten Abschnitten seines Streckennetzes performte. Dabei bezog er sich nicht allein auf die Herkunftsorte der Passagier/innen, sondern auch auf ihre Reiseziele. Der corrido »Lilia Fernández Lagunas« funktionierte nicht nur in Acapulcos Viertel El Progreso, wo die Protagonistin bis zu ihrem Tod lebte, sondern nahm auch Bezug auf den »Mercado Central«, auf dem viele der Passagier/innen in den Bussen entlang der Costa Grande arbeiteten.24 Die CDs der »Los Pajaritos del Sur« spiegelten diese gezielte Vielfalt lokaler Ereignisse und ihrer corridos: »Auf eine CD muss man immer Corridos aus verschiedenen Orten packen.« (Villanueva, Gabriel 10.10.2011)25 »Fracaso Carretero«: Die Auflösung des Spannungsfeldes Gabriel Villanuevas mobile Arbeit an Bord der Busse brachte ihn allerdings nicht nur mit den Erzählungen Dritter in Kontakt. Er wurde tatsächlich, wie Mendoza in seinem Zitat über die reisenden »Männer von Welt« behauptet, unterwegs auch persönlich Augenzeuge von Tragödien, die er in corridos verarbeitete. So befanden sich in seinem Repertoire einige corridos über schwere Verkehrsunfälle. Die Texte dieser corridos lösten, wie das Beispiel »Fracaso Carretero« zeigt, das Spannungsverhältnis zwischen Mobilität und Lokalität während der Performances der »Los Pajaritos del Sur« an Bord der Busse auf. Sie platzierten das besungene Ereignis direkt auf der Bundesstraße. Die Musiker wurden während ihrer Arbeit an Bord der Überlandbusse bedauerlich oft Zeugen schwerer Unfälle. Gabriel Villanueva sagte dazu: »Ich habe viele traurige Dinge erlebt. Warum? Weil man manchmal Dinge sieht, Unfälle zum Beispiel. Diese Unfälle, die auf der Landstraße so häufig sind. Weil wir täglich in den Überlandbussen unterwegs sind, sehen wir Autos, die Unfälle hatten, Zusammenstöße, bei denen Menschen sterben. Der Überlandbus hält an, und ich steige aus und sehe mir den tragischen Unfall
24 Zur Zusammensetzung der Passagier/innen an der Costa Grande vgl. Kapitel 4.3 und Kapitel 6.1. 25 So führte Gabriel Villanueva in einem sehr regionalen Rahmen Roland Robertsons Begriff der »Glokalisation« zurück zu seinen Wurzeln im Mikro-Marketing (vgl. Robertson 1998: 197-198).
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an, weil ich Lieder komponiere. Dort beginne ich den Text für meinen Corrido zu machen.« (Villanueva, Gabriel 04.04.2013)
So wurde Gabriel Villanueva seinem Anspruch, stets persönlich zu recherchieren, gerecht. Wenn er auch nicht immer direkter Augenzeuge des Unfallhergangs war, so befand er sich doch dank seiner Arbeit an Bord der Überlandbusse häufig unmittelbar nach dem Unfall am Ort des Geschehens, sah Verletzte und Tote und hörte die Berichte Überlebender. Eine Möglichkeit, die sich ihm meistens nicht mehr bot, wenn er zu Hause von einem Unfall hörte und sich von dort aufmachte, um vor Ort mehr in Erfahrung zu bringen. Der tragische Unfall nahe Las Vigas auf der MEX-200 an der Costa Chica mit mehreren Todesopfern ereignete sich unmittelbar vor dem Bus, in dem »Los Pajaritos del Sur« gerade auftraten. Gabriel Villanueva widmete dem grausigen Ereignis einen corrido mit dem Titel »Fracaso Carretero«: »Das letzte Mal hatten ich und mein Sohn bei Cruz Grande gespielt und kamen zurück, als ein Taxi einen Pick-Up überholen wollte und ihm ein anderes Auto, ein grüner Pontiac, entgegenkam. Der Taxifahrer überholte den Pick-Up in einer Rechtskurve. Als er hinter dem Pick-Up rausfährt, knallt er mit dem Pontiac zusammen und zerlegt sich. Ich komme in etwa 300 Metern Entfernung im Überlandbus […] Mein Sohn erschreckte sich, als er den Taxifahrer sah. Der saß immer noch lebendig am Steuer. […] Mann, wie wir uns erschreckten! Häßlich! […] Kinder und Frauen: tot. Es gab sieben Tote. Mein Kopf begann sofort zu arbeiten und als ich hier zu Hause ankam, hatte ich den Corrido bereits komponiert, von Las Vigas bis hier, im Überlandbus. Ich nahm den Corrido auf. Er heißt ›Fracaso Carretero‹.« (Villanueva, Gabriel 17.10.2010) ¡Ay, ay, ay, ay, ay!, Siento ganas de llorar de un accidente que hubo que siempre recordarán muy cerquitas de Las Vigas un gran accidente fatal. Muy cerquitas de Las Vigas un gran accidente fatal.
Ay, ay, ay, ay, mir ist zum Weinen zumute wegen eines Unfalls, den sie immer erinnern werden, ganz in der Nähe von Las Vigas, ein großer, tödlicher Unfall. Ganz in der Nähe von Las Vigas, ein großer, tödlicher Unfall.
Un lunes 4 de marzo a las 10 de la mañana un taxi con otro coche los dos chocaron de frente sin saber que este día se encontrarían con la muerte. Sin saber que este día se encontrarían con la muerte.
An einem Montag dem 4. März um 10 Uhr morgens stieß ein Taxi mit einem anderen Auto frontal zusammen, ohne dass sie gewusst hätten, dass ihnen der Tod bevorstand. Ohne dass sie gewusst hätten, dass ihnen der Tod bevorstand.
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Un hombre con su señora ellos fueron a auxiliar. Sacando un niño del carro pero en sus brazos murió. Así sería su destino. Su madre también murió. Así sería su destino. Su madre también murió.
Ein Mann und seine Frau liefen zur Hilfe. Sie holten ein Kind aus dem Wagen, aber es starb in ihren Armen. Das war sein Schicksal. Auch seine Mutter starb. Das war sein Schicksal. Auch seine Mutter starb.
Una niñita rogaba a su madre no muriera: »Porque si te vas al cielo ¡Mamá contigo me llevas!« »Porque si te vas al cielo ¡Mamá contigo me llevas!«
Ein Mädchen betete, dass seine Mutter nicht sterbe: »Wenn du in den Himmel gehst, Mama, dann nehme mich mit!« »Wenn du in den Himmel gehst, Mama, dann nehme mich mit!«
La señora se murió y a su hijita se llevó. Ahora ya están en el cielo siempre juntitas las dos. Ahora ya están en el cielo dándoles cuenta al creador.
Die Frau starb und nahm ihr Kind mit sich. Jetzt sind sie im Himmel für immer vereint. Jetzt sind sie im Himmel und erzählen dem Schöpfer.
[grito] ¡Oy, oy, oy, jajajajá! Esto va en especial para Samuel Domingo Ramírez Ferrón y toda su familia ahí en Tulancingo, Hidalgo de sus amigos Los Pajaritos del Sur.
[grito] Oy, oy, oy, jajajajá! Ein besonderer Gruß an Samuel Domingo Ramírez Ferrón und seine ganze Familie in Tulancingo, Hidalgo von seinen Freunden Los Pajaritos del Sur!
El chofer de ese taxi tenía dos días trabajando. Él era de Aguascalietes según comenta la gente. Ya pasado San José ya lo esperaba la muerte. Ya pasado San José ya lo esperaba la muerte.
Der Taxifahrer arbeitete erst seit zwei Tagen. Er kam aus Aguas Calientes, so sagten die Leute. Hinter San José wartete auf ihn der Tod. Hinter San José wartete auf ihn der Tod.
Los pasajeros del taxi cinco eran los que viajaban. Un maestro era de Xaltianguis, la maestra iba pa’ Ayutla. Ahí perdieron sus vidas, cinco murieron sin culpa. Ahí perdieron sus vidas, cinco murieron sin culpa.
Die Passagiere des Taxis waren zu fünft. Ein Lehrer kam aus Xaltianguis. Eine Lehrerin fuhr nach Ayutla. Dort verloren sie ihr Leben. Fünf starben ohne Schuld. Dort veröloren sie ihr Leben. Fünf starben ohne Schuld.
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Cuatro niños que venían con su madre en el otro coche. La señora se murió y un hijo la acompañó. Tres niñitos se salvaron por un milagro de Dios. Tres niñitos se salvaron por un milagro de Dios.
Vier Kinder fuhren mit ihrer Mutter im anderen Auto. Die Frau starb und nahm ein Kind mit sich. Drei Kinder überlebten durch ein Wunder Gottes. Drei Kinder überlebten durch ein Wunder Gottes.
Los Pajaritos del Sur ahí estuvieron presentes. Juan Carlos Ansos también el vió morir a esa gente. Daba tristeza, señores como gritaba esa gente. Daba tristeza, señores al ver morir esa gente.
Die Pajaritos del Sur waren dabei und Juan Carlos Ansos auch. Er sah diese Menschen sterben. Es war so traurig, meine Herrschaften, wie diese Menschen schrien. Es war so traurig, meine Herrschaften, diese Menschen sterben zu sehen.
Ya me voy a despedir choferes tengan presentes: Nunca rebasen en curva porque se muere la gente. Gentes que no tienen culpa recordando ese accidente. Gentes que no tienen culpa muera la gente inocente.
Mit dieser verabschiede ich mich. Fahrer macht Euch klar: Überholt niemals in einer Kurve, denn dabei sterben Menschen, Menschen ohne Schuld, wenn ich mich an diesen Unfall erinnere. Menschen ohne Schuld, es sterben unschuldige Menschen. Titel: Fracaso Carretero Interpreten: Los Pajaritos del Sur Komponist: Gabriel Villanueva Album: Los calzones de la otra Jahr: 2009
Anders als in anderen corridos, die in der ersten Strophe meist eine Aufforderung des Publikums zur Aufmerksamkeit enthalten (vgl. McDowell 1972: 215), verweist die erste Strophe von »Fracaso Carretero« wie auch der corrido »Lilia Fernández Lagunas« mit der Zeile »que siempre recordarán…« auf den für Gabriel Villanueva zentralen Aspekt der Erinnerung, der die starke lokale Bindung seiner corridos bedingte. Genauso spiegelte sich in dem corrido die enge Verknüpfung zwischen Erinnerung und der Notwendigkeit der Faktentreue, die Gabriel Villanueva in unseren Interviews zum Ausdruck brachte. Wie im corrido »Desastre en La Sinaí« über die Folgen des Zyklons »Boris« werden auch in diesem corrido Gabriel Villanueva beziehungsweise »Los Pajaritos del Sur« als Augenzeugen ausgewiesen und am Schauplatz des Unfalls verortet: »Los Pajaritos del Sur/ ahí estuvieron presentes.«26
26 Zum Text des corridos »Desastre en La Sinaí« vgl. Kapitel 4.3.3.
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Den corrido »Fracaso Carretero« macht jedoch seine Verortung auf der Bundesstraße besonders. Zwar wird der Unfall im Text nahe Las Vigas platziert, doch ist der eigentliche Schauplatz die MEX-200, auf der sich »Los Pajaritos del Sur« an Bord der Überlandbusse entlang der Costa Chica bewegten. Während die ersten fünf Strophen vor dem requinto-Zwischenspiel und den Grußworten den Schrecken am lokalen Unfallort nachzeichnen, werden besonders die auf das Zwischenspiel folgenden drei Strophen von Verben der Bewegung dominiert und beschreiben die Bewegung der Opfer zum schicksalhaften Ort des tödlichen Zusammenpralls. Sie bewegen sich in unmittelbarer zeitlicher und räumlicher Nähe zum Unfallort, durch die Bewegung der Unfallfahrzeuge »Ya pasado San José…«, und gleichzeitig von ihren Herkuftsorten, Xaltianguís, hin zu den Zielen ihrer Reisen, Ayutla de los Libres, die dennoch – wie der Unfallort – an der Costa Chica platziert werden. Auf diese Weise erzeugt der corrido räumliche Nähe zu den Herkunftsorten der Opfer »sin culpa«, während er die Verantwortung für den schrecklichen Unfall mit dem Herkunftsort des unerfahrenen Unglücksfahrers im fernen Aguascalientes platziert.27 Während »Los Pajaritos del Sur« sonst lokale corridos bestimmten Abschnitten ihres Streckennetzes zuordneten, lösten sie das Spannungsverhältnis zwischen Lokalität und Mobilität in »Fracaso Carretero« auf. Gabriel Villanueva war durch seine mobile Arbeit an Bord der Überlandbusse Augenzeuge des schrecklichen Ereignisses geworden, er hatte den corrido noch im Bus auf dem Weg zwischen Unfallstelle und Acapulco komponiert und performte ihn anschließend mit seinem Sohn Lorenzo als »Los Pajaritos del Sur« an Bord der Überlandbusse, die den Unglücksort passierten. Auch im Text konstituiert sich der Raum der Handlung anhand mobiler und lokaler Elemente. Zwar wird der Unfallort nahe Las Vigas platziert, jedoch synthetisieren die Bewegung der Unfallfahrzeuge sowie die Herkunftsorte und Reiseziele der Unfallopfer entlang der MEX-200 die titelgebende Bundesstraße zum Raum des besungenen Ereignisses. Der corrido »Fracaso Carretero« erzeugte durch seinen Text und die Performancesituation in Überlandbussen eine Verbindung zwischen den Passagier/innen, die sich mit den »Los Pajaritos del Sur« an Bord über die MEX-200 bewegten, und der besungenen Katastrophe, die sich aus der Bewegung über ebendiese Straße ergeben hatte.
27 Gleichzeitig lässt sich »Fracaso Carretero« als Warnung vor den Kollektiv-Taxis lesen. Als Kritik an der schärfsten Konkurrenz der Überlandbusse auf den rutas entlang der Costa Chica reiht sich dieser corrido in die Versuche ein, die Sympathien der Busfahrer über Werbung für deren línea oder Überlandbusse im Allgemeinen zu gewinnen (vgl. Kapitel 6.2). Mit Juan Carlos Ansos wird ein Inspekteur des »alten Systems« gegrüßt, der unter den Busfahrern der línea Estrella Blanca viele Freunde hatte und im Zuge der Kampagne der líneas gegen Korruption seine Anstellung verlieren sollte. Juan Carlos Ansos befand sich ebenfalls im Bus, in dem »Los Pajaritos del Sur« zufällig an die Unfallstelle gelangten.
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7.3 »ICH HABE OAXACA VERLASSEN UND BIN UNTERWEGS NACH TUXTLA«: RÄUME UND ORTE IN TEXTEN Ya estoy de vuelta, paisano, y los quiero saludar. Es cierto traigo unos tragos de chocolate con pan. Yo ya salí de Oaxaca y voy a Tuxtla pasear.
Da bin ich wieder, Landsmann, und ich will euch grüßen. Tatsächlich habe ich ein Paar Schluck heiße Schokolade und Brot dabei. Ich habe Oaxaca verlassen und bin unterwegs nach Tuxtla.
Atrás ya quedó Huajuapan umbral de nuestra [unverständlich] Nochixtlan, Telixtlahuaca, también nuestra Villa de Etla. Ya veo mi lindo Oaxaca y a mi raza Zapoteca.
Hinter uns liegt schon Huajuapán Schwelle unseres/r [unverständlich] Nochixtlán, Telixtlahuaca, auch unser Villa de Etla. Ich sehe schon mein schönes Oaxaca und meine Zapoteken-Leute.
Después me sigo al sur y paso por Tlacolula. Me acerco al región del Istmo, llego a Tuxtla y Tapachula. Dos estados muy bonitos y sus mujeres tan chulas.
Danach fahre ich weiter nach Süden vorbei an Tlacolula. Ich nähere mich dem Istmus und gelange nach Tuxtla und Tapachula. Zwei schöne Staaten mit so hübschen Frauen. Titel, Interpret und Komponist: unbekannt Transkription einer Aufnahme vom 25.2.2008
Der Text, den der unbekannte Musiker im Bus der línea FYPSA in Oaxaca sang, nannte eine ganze Reihe von Orten, die er durch ihre Anordnung, Verben der Bewegung und Richtungsangaben in ein räumliches Verhältnis zueinander setzte. Zugleich handelte es sich bei den genannten Orten um Stationen der ruta, auf der wir uns gerade bewegten. Der Bus war bereits aus Mexiko-Stadt gekommen, hatte Cuautla, die Mixteca Poblana und auch Efraín Balbuenas Haus passiert, bevor er nördlich von Huajuapan de León in den Bundesstaat Oaxaca eingefahren war. Er hatte in Huajuapan und Nochixtlán gehalten und war an Telixtlahuaca und Villa Etla vorbeigefahren, bevor ich ihn in Oaxacas »Central de Autobuses de Segunda Clase« bestiegen hatte. Durch die Zeilen Ya veo mi lindo Oaxaca/ y a mi raza Zapoteca vermittelte der músico ambulante den Eindruck, dass er selbst aus der Gegend kam. Diesen Eindruck unterstrich die hohe Dichte der Orte, die der Busmusiker zwischen Huajuapan im Norden und Tlacolula im Süden nannte, während Tuxtla und Tapachula, die er als Bundesstaaten und nicht als Städte bezeichnete, auffällig vage blieben. Zugleich bot das lyrische Ich des Textes den Passagier/innen an Bord unseres Busses die Möglichkeit, sich mit ihm zu identifizieren. Wir alle bewegten uns auf dieser ruta und viele meiner Mitreisenden stammten wohlmöglich aus dem einen oder anderen pueblo, dass der Musiker in seinem Text besang.
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Der Text, den der músico ambulante über die Akkorde von »Al estilo mexicano« sang, war keinesfalls ein Sonderfall. Die meisten der Busmusiker, die ich interviewte und begleitete, verfügten in ihrem Repertoire ebenfalls über Stücke, mit ganz ähnlichen Texten. Anders als corridos über lokale Ereignisse standen die Texte dieser Stücke oft in enger Verbindung zu rutas, entlang derer sie performt wurden, und die Bewegung der Busse verband die genannten Orte zu Räumen, Straßen und Routen. Die Nennung und Anordnung von Orten in den Texten dieser Stücke stehen im Mittelpunkt dieses Unterkapitels. Welche Orte nannten músicos ambulantes in ihren Textenm, und welche Räume synthetisierten sich aus ihnen? In welchem Verhältnis standen diese Orte und Räume zu den Performances der Musiker, zum Bus und seiner ruta und zu Transiträumen, durch die sie sich bewegten? Veränderten die Musiker ihre eigenen oder fremde Texte, um sie an die Strecken, auf denen sie auftraten, anzupassen? »Dörfer nennen«: Manipulierte Texte und Verweise in gritos Wenn Gabriel Villanueva begründete, was seinen Erfolg ausmachte, führte er stets an, dass er seine Musik nicht nur an Bord der Überlandbusse vermarktete, sondern bereits für die Passagier/innen der Überlandbusse komponierte. Dazu gehöre, dass er es im Gegensatz zu anderen Komponisten verstehe, Orte und Räume in seine Texte einzuflechten. Seine CDs und Kassetten, so Gabriel Villanueva, verkauften sich besonders gut in Räumen, die in den Stücken auf den Tonträgern namentlich erwähnt würden: »Viele Komponisten, viele Gruppen nennen keine Orte. Sei es, weil sie nicht wollen oder weil sie keine Ahnung haben. Aber ich komponiere so, weil ich in den Überlandbussen spiele und sie mir in jedem Dorf die CDs abkaufen, weil ich ihr Dorf nenne.« (Villanueva, Gabriel 04.04.2013) Doch auch für die anderen músicos ambulantes, die ich interviewte, war es eine Selbstverständlichkeit, dass sich Passagier/innen an Bord der Busse freuten, wenn ihr Wohnort oder ihre Region in Texten Erwähnung fand. Salvador Hernández erklärte: »Wenn die Leute den Namen ihres Dorfes hören, dann rufen sie: ›Bravo!‹ […] Wie ich, ich mag das auch.« (Hernández, Salvador 04.12.2011) Die Musiker machten deutlich, dass die Orte und Räume in den Texten ihrer Stücke den Passagier/innen an Bord der Busse Identifikationsmöglichkeiten bieten sollten. Die Wahl der Stücke beziehungsweise der Orte und Räume, die sie in ihre eigenen Stücke einflochten, stand deshalb im engen Bezug zu Transiträumen, in denen sie die Herkunft der Passagier/innen vermuteten.28 So besaß Salvador Hernández in seinem Repertoire einen großen Korpus an Stücken, die den Bundesstaat Guerrero feierten und mit denen er sich auch selbst identifizieren konnte: »Wenn du ein Lied über Guerrero singst, dann gibst du dir Mühe, weil du dich damit identifizierst. Du sagst dir: ›Ich bin aus Guerrero. Ich bin geboren, um das zu singen.‹ Ich weiß, dass es den Leuten auch gefallen wird. Wenn du zum Beispiel nach Iguala fährst, weisst du, dass nur Leute aus Guerrero im Bus sitzen. Aha. Denen wird das Lied gefallen, weil es von ihrem Staat erzählt.« (Hernández, Salvador 28.3.2013)
28 Vgl. Kapitel 5.4.
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Wenn Salvador Hernández Richtung Norden nach Morelos spielte, kannte er zwar deutlich weniger entsprechende Stücke, doch war er auch hier bemüht, lokale Bezüge herzustellen. In dem Stück »La eterna Primavera« von Narciso Silva, das er Richtung Puente de Ixtla häufig spielte, werden die Reize von Morelos und seiner Hauptstadt Cuernavaca besungen. Der Text dieses huapangos ist exemplarisch für die lokalen Referenzen in den Stücken aus den Repertoires der Busmusiker. Das lyrische Ich erklärt seine tiefe emotionale Verbundenheit zur besungenen Region. Die drei häufigsten Motive sind dabei die Schönheit der lokalen Natur, die Reize der Frauen und die Attraktivität für vergnügungssuchende Männer. In »La eterna Primavera« sind es die Blumen und Wasserfälle Cuernavacas, die schönen Frauen aus Atotonilco und Tepalcingo und das Geld, welches das lyrische Ich in Zacatepec gelassen hat: He venido desde Cuautla, soy soldado Zapatista. ¡Que viva Tlaltizapán, Tepoztlán y Puente de Ixtla! Tetecala y mi Jojutla son los pueblos que más quiero. Allá por Zacatepec me gastaba mi dinero.
Ich komme aus Cuautla und bin Soldat Zapatas. Es lebe Tlaltizapán, Tepoztlán und Puente de Ixtla! Tetecala und mein Jojutlá sind mir die liebsten Dörfer. Drüben in Zacatepec verprasste ich mein Geld.
Que bonito es Cuernavaca donde tengo mis amores. Es la eterna primavera porque siempre se ven flores. Encendidas buganvillas se miran por la mañana, el salto por su cascada y su iglesia franciscana.
Wie schön ist Cuernavaca, wo ich meine Geliebten habe. Es herrscht der ewige Frühling, weil die Blumen immer blühen. Leuchtende Bougainvilleen sieht man am Morgen, dazu den Wasserfall und die Franziskanerkirche.
De Atotonilco a Tepalcingo se ven mujeres hermosas. Si voy a Palo Bolero me recuerdan muchas cosas. Jonacatepec y Zapata es cuna del agradista. Que bonito es Alpuyeca y los baños de Tehuixtla.
Von Atotonilco bis Tepalcingo sieht man schöne Frauen. Wenn ich nach Palo Bolero gehe, erinnere ich mich an viele Dinge. Jonacatepec und Zapata sind die Wiege der Bauernrechtler. Wie schön ist Alpuyeca und die Bäder von Tehuixtla.
[...]
[...] Titel: La eterna Primavera Interpret: Salvador Hernández Komponist: Narciso Silva Transkription einer Aufnahme vom 10.11.2011
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Die Busse der línea TER, in denen Salvador Hernández in der Regel auftrat, passierten auf ihrer ruta die Orte Cuautla, Tlaltizapán, Jojutla, Zacatepec und Puente de Ixtla, die in »La eterna Primavera« besungen werden. Viele der Passagier/innen befanden sich auf dem Weg in Morelos Hauptstadt Cuernavaca, der der Refrain gewidmet ist. Das Stück, in dem Orte im Bundesstaat Morelos zum Raum des »ewigen Frühlings« synthetisiert werden, eignete sich hervorragend für Salvador Hernández Performances auf Strecken Richtung Morelos. Wenn Stücke auf den ersten Blick keine Bezüge zu Transiträumen oder Busräumen besaßen, stellten músicos ambulantes diese durch gritos her. Die Musiker stießen gritos an den emotionalen Höhepunkten von corridos, canciones rancheras oder sones aus. Auch Passagier/innen riefen gelegentlich gritos in die Performances. Wie McDowell feststellt, handelt es sich beim grito um einen Ausdruck von Euphorie in enger Verbindung mit der Äußerung lokalen Stolzes: »Under the power of this moving experience, they formulate a newly energized sense of self in gritos such as así es la costa, puro gallo […], linking pride of place to a feisty animal that is elevated in local thinking as a token of unbridled defiance.« (McDowell 2005: 63) Typische gritos der Brüder Salvador und Hexiquio Hernández waren »¡Puro Guerrero!« oder »¡Puro Palmillas!«, wenn sie Textstellen als exemplarisch für ihr Dorf herausstellen wollten: »Nach der ersten Strophe des Huapangos ›El Huizache‹ ruft Salvador nach dem Vers ›¿Que culpa tiene el huizache de haber nacido en el campo?‹ (›Was kann der Farn dafür, dass er auf dem Land gewachsen ist?‹) um einiges lauter als sein Gesang ›¡Puro Guerrero, paisanos!‹, (›Einfach Guerrero, Landsleute!‹), bevor er in die zweite Strophe einsteigt.« (Tagebucheintrag vom 10.11.2011 in TER zwischen Buenavista und Iguala) Mit diesem grito schrieb Salvador Hernández nicht nur die rauen, ungehobelten und doch charmanten Eigenschaften des Protagonisten von »El Huizache« dem Bundesstaat Guerrero oder besser seinen Bewohnern zu, sondern er verortete mit dem Zusatz »paisanos« auch noch sich selbst und die Zuhörer/innen als guerrerenses. Auch bei Performances von Julio und Jesús García waren häufig gritos, wie »¡Así es Guerrero!«, (»So ist Guerrero!«) oder »¡Pura Costa!«, (»Nur die Küste!«), zu vernehmen. Passagier/innen beantworteten gritos dieser Art oft mit weiteren gritos.29 Auf Gabriel Villanuevas markanten grito folgte hingegen selten ein lokalpatriotischer Ausruf. Stattdessen schlossen sich auf den markanten Schrei der »Los Pajaritos del Sur« in der Regel gesprochene saludos an. In diesen saludos widmete Gabriel Villanueva seine corridos Freunden, Bekannten und sehr häufig Busfahrern. In den Grußworten gab er stets die Wohnorte der Gegrüßten an. Damit bediente er nicht allein den Lokalpatriotismus der Empfänger/innen, sondern zielte, wie er erklärte, ebenfalls auf die Aufmerksamkeit anderer Bewohner/innen der genannten Orte. Während die saludos also auf der einen Seite als Aufmerksamkeit für die Busfahrer gedacht waren, fächerten sie auf der anderen Seite die lokalen Referenzen in Gabriel Villanuevas Performances und Aufnahmen auf und banden weitere Ortsnamen ein, die das Stück für Bewohner/innen dieser Orte attraktiv machten:
29 Bei den gritos von Passagier/innen, die ich während der Performances der músicos ambulantes beobachtete, handelte es sich allerdings öfter um Ausrufe von Silben, wie beispielsweise »¡Ayayayayay!«. Das Gelächter der Rufenden und ihrer Sitznachbar/innen, das oft auf ihre gritos folgte, ließ vermuten, dass sie gritos persiflierten.
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»Ich nenne Freunde aus verschiedenen Orten. Zum Beispiel auf der CD, die ich aufgenommen habe, nenne ich Alfonso Noyola aus Corralero. Bei einem anderen Grito nenne ich einen Compadre, den ich in Cruz Grande habe. In einem anderen Grito nenne ich einen Freund aus Atoyac de Álvarez. Denn immer wenn ein Freund in einem Dorf gegrüßt wird, verkauft sich das Lied in diesem Dorf.« (Villanueva, Gabriel 10.10.2011)
Somit halfen gritos wie »¡Puro Guerrero, paisanos!«, entweder besungene Heldentaten oder Eigenschaften der Protagonist/innen in Texten lokal zu verorten oder die Platzierung einer bereits verorteten Handlung zu unterstreichen. Mit saludos, wie jene der »Los Pajaritos del Sur«, konnten Musiker Stücke um lokale Referenzen erweitern, auch wenn diese nicht notwendigerweise im Verhältnis zur besungenen Handlung standen. Aufwendiger und eleganter als inhaltlich und musikalisch losgelöste gritos und saludos in die Stücke einzufügen, war die Praxis, die Texte bekannter Kompositionen umzuschreibenen. Músicos ambulantes veränderten die Ortsangaben der fremden Stücke, um sie an die Transiträume ihrer Streckennetze anzupassen. Efraín Balbuena, der in der Mixteca Poblana auftrat, modifizierte Stücke, in denen eigentlich Guerrero und Michoacán besungen werden, und fügte Orte und Räume in Puebla ein: »Damit man mir nicht sagt, [das Lied] sei über Guerrero, nenne ich einfach einen Ort aus Puebla, der heißt Acatlán. […] Ich vertausche die Namen, denn wenn ich in Acatlán spiele, sagen sie: ›Oh, Mann!‹ Denn alle kennen dieses Lied, nicht? Alle kennen es, […] aber jetzt heißt es nicht mehr: ›el estado de Guerrero‹ sondern ›Es un Pueblo que digo de Puebla que se llama Acatlán‹ Verdammt! Das hört sich gut an! Ich suche die Art, auf die es gut klingt, nicht wahr? […] Es gibt ein anderes da heißt es: ›Für schöne Frauen, die Stadt Apatzingán‹. Ich tausche dann Apatzigán gegen Acatlán. Klingt ähnlich, nicht? […] Ich sage: ›Schöne Frauen gibt es nirgendwo, wie in Acatlán‹ [lacht]« (Balbuena, Efraín 19.3.2013)
Auch Gabriel Villanueva veränderte die Texte fremder Kompositionen, um das Publikum in den Bussen anzusprechen. Daran war bemerkenswert, dass er dies nur bei Performances tat, nicht aber bei Aufnahmen. Somit spielte er das Stück »Sonora y sus Ojos negros« in drei verschiedenen Varianten: den Text des Originals mit der Ortsbezeichnung »Sonora« auf der Aufnahme, eine Textvariante entlang der Costa Grande und eine dritte Variante an der Costa Chica: »Wenn der Überlandbus nach Lázaro Cárdenas oder nach Zihuatanejo fährt, singen wir an Bord ein Stück von der neuen CD: […] ›Sonora y sus ojazos negros‹: [singt] En un camión pasajero/ de esos que van pa’ Sonora... (›In einem Bus mit Passagieren,/ von denen die nach Sonora fahren…‹) [spricht] Wenn der Bus nach Zihuatanejo fährt: [singt] En un camión pasajero/ de esos que van para Zihua... [spricht] nenne ich Zihuatanejo. Alle fühlen sich gut und die Leute fühlen sich gut, weil ich Städte und Dörfer aus der Nähe nenne. […] Wenn ich in einem Überlandbus entlang der Costa Chica nach Puerto Escondido, Oaxaca fahre, singe ich: [singt] En un camión pasajero/ de esos que van para Puerto/ yo iba cansado y con sueño/ cuando subió una señora... [spricht] Dann nenne ich eine andere Stadt aus der Gegend und die Leute freuen sich und kaufen meine CD. Warum? Weil das Lied auf der CD diese Orte nicht nennt. Wir bauen sie nur ein, damit sich alle wohl fühlen. Auf der CD haben wir das Lied so aufgenommen: [singt] En un camión pasajero/ de esos que van pa’ Sonora/ yo iba cansado y con sueño/ cuando subió una
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señora/ con unos ojazos negros/ de veras encantadoras... (›In einem Bus mit Passagieren,/ von denen die nach Sonora fahren,/ saß ich müde und schläfrig/ als eine Dame zustieg/ mit schwarzen Wahnsinnsaugen,/ die wirklich bezaubernd waren…‹) [spricht] wir manipulieren den Text – live. Auf der Platte ist alles, wie es sich gehört. Aber die Leute sagen: ›Gib mir die Platte!‹« (Villanueva, Gabriel 16.10.2010)
Gabriel Villanueva wählte nicht einfach zwei beliebige Orte an der Costa Grande beziehungsweise der Costa Chica, um sie gegen die Ortsbezeichnung »Sonora« zu tauschen. Stattdessen ersetzte er »Sonora« durch »Zihua« (Zihuatanejo) oder »Puerto« (Puerto Escondido), die zwei wichtigsten Endstationen der Busse, die Acapulco Richtung Costa Grande und Costa Chica verließen. Er verwies folglich nicht nur, wie er erklärte, auf zwei Orte, aus denen oder deren Nähe mit hoher Wahrscheinlichkeit viele der Passagier/innen stammten. Stattdessen bezog er den Text des Stückes direkt auf die ruta und mit ihr den Bus, in dem er performte, und erfasste somit alle bei der Performance anwesenden Passagier/innen: En un camión pasajero/ de esos que van pa‹ Puerto… Die Stücke, die Musiker auswählten, um sie an Bord der Überlandbusse zu performen, besaßen also nicht zufällig Texte die Reisen beschrieben. Dies galt nicht nur für »Sonora y sus Ojos negros«, sondern auch für »La eterna Primavera« und das Stück »Al Estilo mexicano«, das der músico ambulante im Bus der línea FYPSA spielte. Weitere beliebte Stücke, die von Reisen erzählten und von músicos ambulantes oft an Bord von Bussen gespielt wurden, waren »Caminos de Michoacán« des Komponisten Bulmaro Bermúdez, das sowohl »Los Pajaritos del Sur« als auch Salvador Hernández und José David Jaímez an Bord der Busse spielten, oder »Caminos de Chilpancingo« und »Por los caminos del sur« des Komponisten Agustín Ramírez, das Salvador Hernández und sämtliche Musiker im Streckennetz »Costa Grande y Costa Chica« spielten. Die Orte die Musiker in den Texten ihrer Stücke zu Wegstrecken und anderen Räumen synthetisierten, standen nicht allein im Verhältnis zu Orten durchreister Räume, die Passagier/innen als ihre Wohnorte identifizieren konnten, sondern auch zu den rutas der Busräume und sprachen auf diese Weise alle Insass/innen des entsprechenden Busses an. Drei Beispiele für Spacing und Synthese in Eigenkompositionen der músicos ambulantes Noch präziser als in fremden Stücken, fanden Orte und Räume in eigenen Kompositionen Entsprechungen in Transiträumen und Busräumen. Als »Los Pajaritos del Sur« begannen, auf den rutas entlang der MEX-51 im Streckennetz der »Zona Norte« aufzutreten, band Gabriel Villanueva plötzlich auch Stationen dieser rutas in seine Kompositionen ein. Da es ihm in Bezug auf seine neuen Strecken an dem Wissen mangelte, das er in seinen extrem lokalen corridos an der Küste verarbeitete, fasste er die Orte Iguala, Arcelia, Teloloapan und Ciudad Altamirano entlang der MEX-51 in der Tierra Caliente in einem corrido über sein eigenes Leben zusammen: »Ich habe auch einen Corrido, der die Tierra Caliente erwähnt, geschrieben […]. Der Corrido erzählt über meine Person, er heißt: ›Les contaré mi vida‹. Ich nenne Iguala, Arcelia, Teloloapan, Altamirano. Warum nenne ich diese Orte? Deshalb: wenn ich dort hinfahre, um zu spielen, ist
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das der Corrido, den ich spiele. Die Leute fühlen sich gut, weil ich ihre Dörfer nenne. […] In dem Vers singe ich: [singt] Costa Grande y Costa Chica/ Tierra Caliente también/ Arcelia y Teloloapan/ Altamirano también/ cuando escuchen mi corrido/ recordarán a Gabriel... (Costa Grande und Costa Chica,/ auch Tierra Caliente:/ Arcelia und Teloloapan/ auch Altamirano./ Wenn ihr diesen Corrido hört,/ erinnert euch an Gabriel…) [spricht] Weil das die Orte sind, wo ich spiele. Ich fahre regelmäßig dorthin, um meine CD zu bewerben, und das macht, dass die Leute die Platte kaufen. Warum? Weil ich ihre Dörfer erwähne.« (Villanueva, Gabriel 04.04.2013)
Efraín Balbuenas Stück »Paisanos poblanos« nannte nicht nur die Orte Tulcingo, Matamoros, Tehuitzingo und Acatlán, die Orten in der Mixteca Poblana entsprachen, sondern ließ seine Protagonisten zwischen diesen Orten und den USA reisen: »Ich habe dieses Lied komponiert. […] Dort oben gibt es einen Ort, der Tulcingo del Valle heißt. Viele Leute von dort sind in den USA. Es erzählt von denen, die rüber gehen, und es erzählt von Matamoros, Acatlán und nennt die Orte Tehuitzingo und Acatlán und gut… das ist schön.« (Balbuena, Efraín Balbuena 19.3.2013) Voy a cantarles, señores, a tododitos mis paisanos un corrido que compuse a mis paisanos poblanos que se la pasan viajando de Acatlán al otro lado.
Ich singe, meine Herrschaften, für all meine Landsleute, einen Corrido, den ich komponierte für meine Leute aus Puebla, die stets auf der Reise sind von Acatlán auf die andere Seite.
De Tulcingo a Matamoros, de Tehuitzingo a Acatlán, se escuchan cuernos del chivo muy seguidos disparar. Hay mucha gente pesada que no se sabe rajar.
Von Tulcingo bis Matamoros, Von Tehuitzingo bis Acatlán, hört man oft Kalashnikovs schießen. Es gibt viele Ganoven, die sich niemals unterkriegen lassen.
Ya mis paisanos poblanos se disponen a tomar, se encuentran todos reunidos de negocios van a hablar. [...]
Meine Leute aus Puebla setzen sich zum Trinken. Sie kommen alle zusammen, um über Geschäfte zu reden. [...]
Titel: »Paisanos poblanos« Interpret. Efraín Balbuena Komponist: Efraín Balbuena Transkription einer Aufnahme vom 11.12.2010[30]
30 Der Begriff »Cuerno del Chivo« bezeichnet das berühmte AK-47 Sturmgewehr der Marke Kalaschnikow und findet sich häufig in Texten so genannter narcocorridos.
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Efraín Balbuena konstituierte in seinem Text zwischen Tulcingo, Matamoros, Tehuitzingo und Acatlán nicht nur einen Raum, der tollkühne und trinkfeste Männer hervorbringt, sondern setzte diesen Raum durch die Reise dieser Männer ins Verhältnis zu den USA. Dabei bot das Stück nicht nur jenen Männern, deren Reisen in die USA mit Kalashnikows und obskuren Geschäften verbunden waren31, sondern allen Migranten, die aus der Mixteca Poblana in die USA reisten, Identifikationsmöglichkeiten. Auf der selbstproduzierten CD des duetos »Águila y Sol« befindet sich als erstes Stück Salvador Hernández Komposition »El Corrido del Municipio«, die er und sein Bruder Hexiquio häufig an Bord der Überlandbusse spielten. Der Text nennt zwölf Dörfer und Siedlungen, die er zum municipio Buenavista de Cuéllar zusammenfasst: »Das Lied vom Municipio […] bezeichnet das ganze Municipio, das zu Buenavista gehört, alle Dörfer: Santa Fe, Zacapalco, Palmillas… dort oben auf dem Berg gibt es ein Dorf, das heißt Coxcatlán. Das gehört auch zu Buenavista und dort gibt es noch andere Dörfer, […] die ich alle nenne.« (Hernández, Salvador 04.12.2011) En el norte del estado de Guerrero lugar donde siempre brillan las estrellas, hay un lindo municipio de este estado, municipio de Buenavista de Cuéllar.
Im Norden des Staates Guerrero, dort, wo die Sterne immer scheinen, gibt es ein schönes Municipio, das Municipio Bunevista de Cuéllar.
Alrededor tiene sus lindos poblados. Santa Fé Tepetlapa el primero Zacapalco, Ixtlahuaca y Los Limones y Buenavista es un pueblito de ensueño.
Drumherum hat es schöne Dörfer. Santa Fé Tepetlapa ist das Erste, Zacapalco, Ixtlahuaca und Los Limones und Buenavista ist ein Dorf wie ein Traum.
Palmillas se distingue por su gente que es alegre, cabal y muy sincera. Sus hombres siempre han sido muy formales. Sus mujeres como siempre son muy bellas.
In Palmillas leben ganz besondere Menschen Sie sind fröhlich, redlich und sehr ehrlich. Seine Männer sind stets sehr höflich. Seine Frauen sind wie immer wunderschön.
[Zwischenspiel]
[Zwischenspiel]
Carretera que pasas por La Venta donde los carros unos vienen y otros van cuando llegues al puerto de una cruz me saludas al bello Coxcatlán.
Straße, die Du an La Venta vorbeiführst, wo die Busse kommen und gehen, wenn Du zum Kreuz kommst, grüße mir das hübsche Coxcatlán.
31 Obwohl Efraín Balbuena seine Komposition als corrido bezeichnete, handelte es sich nicht um einen narrativen Text. Vielmehr schrieb er den »Paisanos Poblanos« Eigenschaften zu. Der Text lässt dabei einen starken Einfluss von narcocorridos ab den späten 1990er Jahren erkennen, die sich ebenfalls eher der Beschreibung ihrer Protagonist/innen als der Erzählung ihrer Handlungen widmeten. Von diesem Einfluss zeugten die Betonung des Hedonismus, in diesem Fall der Alkoholkonsum, und der Mut in Verbindung mit dem Gebrauch automatischer Waffen (vgl. Ramírez-Pimienta 2011: 14).
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Cieneguillas y Amates dos pueblitos que se encuentran al sur del municipio los recuerdo con una grande alegria porque son unos pueblitos muy bonitos.
Cienegillas und Amates, die zwei Dörfer im Süden des Municipios, ich erinnere Euch mit großer Freude, denn ihr seid sehr schöne Dörfer.
Platanar no te voy a olvidar. El Zapote también te recuerdo. Los pueblitos que yo he mencionado aquí dentro del pecho los llevo.
Platanar ich werde Dich nicht vergessen. Auch an El Zapote erinnere ich mich. Diese Dörfer, die ich nannte, trage ich in meiner Brust.
Y en el norte del estado de Guerrero lugar donde siempre brillan la estrellas, hay un lindo municipio en este estado, rinconcito de Buenavista de Cuéllar.
Im Norden des Staates Guerrero, dort, wo die Sterne immer scheinen, gibt es ein schönes Municipio, die kleine Ecke Bunevista de Cuéllar. Titel: Corrido del Municipio Interpreten: »Dueto Águila y Sol« Komponist: Salvador Hernández Transkription einer Aufnahme vom 10.11.2011
Die erste Strophe und ihre Wiederholung am Ende des Stückes fassen die zwölf zwischen ihnen genannten Orte zum municipio Buenavista de Cuéllar zusammen und verorteten das gesamte municipio im Norden des Bundesstaates Guerrero. An der abschließenden Strophe fällt zudem auf, dass als einziges Wort gegenüber der ersten Strophe das kühle verwaltungstechnische Wort municipio durch »rinconcito« ersetzt wird. So gewinnt der Raum, dessen konstitutive Orte nun bekannt sind, deutlich an Bildhaftigkeit und strahlt Geborgenheit aus. Die Anordnung der einzelnen »poblados« zwischen diesen beiden Strophen ist keinesfalls zufällig, sondern entspricht ihrer Abfolge entlang der Schnellstraße von Puente de Ixtla in Richtung Iguala beziehungsweise der ruta Cuautla-Iguala der línea TER.32 So erklärt sich, dass Santa Fé Tepetlapa zusätzlich zu seiner Position im Text als „primero“ in einer Reihe von »lindos poblados« ausgezeichnet wird. Santa Fé Tepetlapa war das erste Dorf im municipio, das die Schnellstraße und auf ihr die ruta der línea TER passierte. Von den Dörfern entlang der Schnellstraße wird nur El Platanar, welches entsprechend der ruta auf Palmillas folgen müsste, übersprungen und erst in der vorletzten Strophe genannt. Dabei lässt sich allerdings die Bemerkung »El Platanar no te voy a olvidar« so interpretieren, dass der Text in seiner Bewegung El Platanar hinter den beiden südlichsten Orten Cieneguillas und Los Amates längst passiert hätte. In diesem Sinne verdeutlicht auch die vierte Strophe unmittelbar nach dem Zwischenspiel die Ausrichtung des Textes entlang der ruta Cuautla-Iguala. Coxcatlán, das weit abseits der ruta lag, werden im Text über die in La Venta de la Negra abzweigende carretera lediglich Grüße gesandt. Neben der Landstraße nach Coxcatlán nennt der Text sogar jene Busse, die Coxcatlán mit 32 Palmillas liegt nördlich von Buenavista an der Schnellstraße und müsste entsprechend zuerst genannt werden. Da der Wohnort des duetos »Águila y Sol« allerdings mit einer eigenen Strophe bedacht wird, erlaubte es vermutlich der Aufbau des Textes nicht, die genaue Reihenfolge einzuhalten.
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Venta de la Negra und somit mit der Schnellstraße und der ruta der línea TER verbanden. Die formulierten Grüße bewegen sich folglich entlang der Landstraße nach Coxcatlán. Das noch ferner der Schnellstraße liegende El Zapote wird ebenfalls nicht wie die übrigen Orte passiert, sondern findet als Bestandteil der Erinnerung des reisenden lyrischen Ichs Erwähnung. In Performances an Bord der Überlandbusse ließen sich die Orte des Textes folglich auf den Ebenen der Busräume und der Transiträume zu Abschnitten der ruta der línea TER beziehungsweise der Schnellstraße Puente de Ixtla-Iguala verbinden, obwohl weder die ruta noch die Schnellstraße im Text Erwähnung finden. Obwohl das lyrische Ich deutlich im Hintergrund steht und auf der textlichen Ebene nicht Verben der Bewegung, sondern der Begriff des »municipio« die Orte zu einem Raum fasste, war der »corrido del municipio« dem Stück des unbekannten Busmusikers, den ich 2008 im Bus der línea FYPSA hörte, sehr ähnlich. Auch der Text aus Oaxaca entsprach in seiner Abfolge den Orten entlang der MEX-190 beziehungsweise der ruta des Busses, in dem der Musiker das Stück performte. Beide Texte waren beschrieben nicht einfach durchreiste Transiträume, sondern waren dabei an das Straßennetz gebunden. Während ich im Fall des unbekannten Musikers niemals erfuhr, ob er die Reihenfolge der Orte in einem Bus in entgegen gesetzter Richtung umstellte, gehörte der »Corrido del Municipio« zu jenem Teil von Salvador Hernández Repertoire, den er in Richtung »pa’ Guerrero« – also von Buenavista oder Puente de Ixtla Richtung Iguala – spielte. Die Performance im Überlandbus entsprach somit stets der Abfolge der Orte im »Corrido del Municipio«. Abbildung 24: Die im »Corrido del Municipio« genannten Orte entlang der ruta Cuautla-Iguala der línea TER.
Abbildung: Kirschlager
Gabriel Villanueva berichtete mir in einem Interview 2010 von einer neuen Komposition33, deren Titel »El monito chañudo« lautete und die er speziell für Performances an
33 Der Text im Refrain des Stückes »Te lavaste la cara y el mono no« erinnert sehr stark an den Refrain des Banda-Hits »Te lavaste« von Benjamín Villanueva, das 2009 gleich mehreren bandas aus Guerrero und Sinaloa bekannt machten. Allerdings finden sich im übrigen Text
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Bord von Überlandbussen geschrieben hatte. Bei den zwei Begriffen »mono« (»Vagina«) und »chañudo« (»schmutzig«) handelte es sich laut Gabriel Villanueva um zwei lokale Begriffe der Costa Chica: »Gerade schreibe ich ein Stück, das ›El monito chañudo‹. Es hat vielleicht einen belanglosen und etwas umgangssprachlichen Titel, aber wir dunklen, schwarzen Leute aus dem Süden Oaxacas reden schlecht. […] Dort sagen die Frauen zu ihrer Nachbarin: ›Komm Nachbarin, wir gehen baden, wir waschen uns den ›Chaño‹ ab.’ ›Chaño‹ heißt hier das, was unten im Mixer bleibt, wenn du Chile pürierst […] all die Samen und so. Das heißt ›Chaño‹, hier in Guerrero. Deshalb komponierte ich ›El monito chañudo‹.«(Villanueva, Gabriel 16.10.2010)
Was der Titel zunächst nicht vermuten ließ, war die geographische Reichweite, die Gabriel Villanueva dem Stück zuschrieb und in die er große Hoffnungen setzte: »Es erzählt von ganz Guerrero, ganz Mexiko, den ganzen USA, Los Angeles, New York, Atlanta und kommt dann nach Oaxaca zurück, das Lied. Ich bin mir sicher, es wird ein Hit.« (Villanueva, Gabriel 16.10.2010) Hinter seiner vordergründigen Schlüpfrigkeiten zeichnet der Text des Stückes, das »Los Pajaritos del Sur« schließlich 2011 aufnahmen, tatsächlich Wege, die in engem Verhältnis zu Gabriel Villanuevas Vertriebswegen und insbesondere seiner Arbeit an Bord der Busse standen: No tengas pena, no te preocupes, ese monito chañudo lo quiero yo.
Schäm Dich nicht, mach Dir keine Sorgen! Diese schmutzige Muschi, die liebe ich.
Dondequiera que ando yo trabajando, siempre en mi mente lo llevo yo.
Wo auch immer ich arbeite, bin ich in Gedanken immer bei ihr.
Me da vergüenza de lo que dicen, pero ni modo así lo quiero yo.
Ich schäme mich für das Gerede. Doch nichtsdestotrotz liebe ich sie.
No tengas pena, no te preocupes, que ese monito chañudo lo quiero yo.
Schäm Dich nicht, mach Dir keine Sorgen! Diese schmutzige Muschi, die liebe ich.
Se lavó la cara y el mono no.
Sie wusch sich das Gesicht, aber die Muschi nicht.
Si paso por Chilpancingo también Iguala y en Cuernavaca me dicen que esa muchacha el mono no se lavó.
Komme ich durch Chilpancingo auch durch Iguala und Cuernavaca, sagen sie mir, dass dieses Mädchen sich nicht die Muschi wusch.
und auch in der Musik von Gabriel Villanuevas »El monito chañudo« keine weiteren Übereinstimmungen mit »Te lavaste«, so dass es sich um eine eigenständige Komposition handelt.
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Se lavó la cara y el mono no.
Sie wusch sich das Gesicht, aber die Muschi nicht.
Pasé por Sonora, también Tijuana y Nueva York, regresé a Los Ángeles, también Atlanta y allá me dicen que esa muchacha el mono no se lavó. Se lavó la cara y el mono no.
Ich kam durch Sonora und Tijuana und New York. Zurück nach Los Angeles und nach Atlanta, dort sagten sie mir, dass dieses Mädchen sich nicht die Muschi wusch. Sie wusch sich das Gesicht, aber die Muschi nicht.
Regresé por Puebla y allá en Oaxaca me dicen que esa muchacha el mono no se lavó.
Ich kam zurück nach Puebla y nach Oaxaca. Dort sagen sie mir, dass dieses Mädchen sich nicht die Muschi wusch.
Se lavó la cara y el mono no.
Sie wusch sich das Gesicht, aber die Muschi nicht.
En Pinotepa, también en Cuaji, y allá en Marquelia la cara ella se lavó.
In Pinotepa und auch in Cuaji und drüben in Marquelia wusch sie sich das Gesicht.
Se lavó la cara y el mono no.
Sie wusch sich das Gesicht, aber die Muschi nicht.
Pasé por Cruz Grande, también Las Vigas y allá en San Marcos la cara ella se lavó.
Ich kam durch Cruz Grande und Las Vigas und drüben in San Marcos wusch sie sich das Gesicht.
Se lavó la cara y el mono no.
Sie wusch sich das Gesicht, aber die Muschi nicht.
Se fue a Acapulco y muy tristemente ella se despidió. Se fue a las playas de la Condesa y allá el monito ella se lavó.
Sie ging nach Acapulco und verabschiedete sich traurig. Sie ging zum Strand von La Condesa und dort wusch sie sich die Muschi.
Y aunque no crean lo que les digo, pero ese tujo se le quitó. No tengas pena, no te preocupes que ese monito chañudo lo quiero yo.
Auch wenn Ihr mir nicht glaubt, aber der Dreck ist weg. Schäm Dich nicht, mach Dir keine Sorgen! Diese schmutzige Muschi, die liebe ich.
Performanceräume | 329
Se lavó la cara y el mono no.
Sie wusch sich das Gesicht, aber die Muschi nicht. Titel: El Monito Chañudo Interpreten: Los Pajaritos del Sur Komponist: Gabriel Villanueva Nuyola Album: Y siguen arrazando exitos Jahr: 2011
Der Begriff »mono chañudo« zog, wie Gabriel Villanueva betonte, Aufmerksamkeit auf das Stück und regte die Passagier/innen an Bord der Busse zu Scherzen an: »Ich sehe, wie die Frauen sich untereinander aufziehen: ›Ay! Wasch dir die Muschi!‹ Sie ziehen sich gegenseitig auf [lacht]. Aber es ist kein schmutziges Lied. Das Lied entspannt dich, lässt dich gut fühlen.« (Villanueva, Gabriel 04.04.2013) Die Handlung des Stückes stellt die Reise des lyrischen Ichs dar. Wohin seine Arbeit es auch verschlägt, eilt ihm stets der Ruf seiner ungewaschenen Geliebten voraus. Bis sich die Besitzerin des »mono chañudo« schließlich an Acapulcos Strand wäscht. Im Gegensatz zum Text von »El Corrido del Municipio« finden sich in »El monito chañudo« Verben der Bewegung, die die genannten Orte in ein räumliches Verhältnis zueinander setzen. Den Bogen der Reise, die den Text schließlich nach Acapulco führt, fasste Gabriel Villanueva selbst zusammen: »Ich mache eine Runde. Von hier fahre ich nach Chilpancingo, von Chilpancingo nach Iguala, von Iguala nach Cuernavaca und von Cuernavaca geht es weiter nach Mexiko-Stadt, Sonora, die USA, Atlanta und dann komme ich zurück […] nach Puebla, ich komme zurück nach Oaxaca, Pinotepa. Cuaji, Marquelia, Cruz Grande, Las Vigas, San Marcos und die schmutzige Muschi kommt nach Acapulco und hier badet sie und wäscht sich. Das macht mir ein gutes Gefühl. Warum? Wie ich sagte: die Leute reisen zu diesen Zielen.« (Villanueva, Gabriel 04.04.2013)
Die Orte, die im Text benannt werden, waren in ihrem Verhältnis zu Transiträumen und Busräumen keinesfalls beliebig gewählt. Jede Station der Reise hatte für Gabriel Villanueva und »Los Pajaritos del Sur« eine bestimmte Bedeutung. Iguala bildete das Zentrum des Streckennetzes »Zona Norte« beziehungsweise der »Tierra Caliente«, von der Gabriel Villanueva sprach, wenn er sich auf seine Strecke zwischen Iguala und Ahuehuepan bezog. Die Städte Chilpancingo und Cuernavaca, Hauptstädte der zwei Bundesstaaten Guerrero und Morelos befanden sich zwar nicht in diesem Streckennetz waren aber Fluchtpunkte, da die wichtigsten rutas, die Iguala nach Norden verließen, über Cuernavaca und jene Richtung Süden Chilpancingo passierten. Die Reihenfolge Chilpancingo, Iguala, Cuernavaca entsprach der Lage der drei Städte auf dem Weg nach Norden über die MEX-95. Sonora und Tijuana definierten den Transitkorridor, durch den ein Großteil der Migrant/innen von der Küste Guerreros, wie auch Julio García, in die USA reisten. Von den drei Orten, die der Text in den USA nennt, sind nicht etwa die beiden Pole New York und Los Angeles die wichtigsten, sondern Atlanta, wo Gabriel Villanuevas Sohn Rodimiro Hernández das dueto »Los Pajaritos de Guerrero« betrieb. Auch »Los Pajaritos del Guerrero«, deren Publikum sich hauptsächlich aus Migrant/innen von der Küste Guerreros zusammensetzte, spielten »El
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Monito chañudo«.34 2013 freute sich Gabriel Villanueva, dass er dank des Stücks bereits reichlich Rückmeldung aus den USA erhalten habe: »Aus der Gegend der Costa Chica und Costa Grande sind unglaublich viele Leute in den USA. Weil ich bekannte Ort [von hier] nenne, aus denen viele Leute weggehen, fühlen die sich gut. Deshalb, glaube ich, rufen sie mich so oft aus den USA an.« (Villanueva, Gabriel 04.04.2013) Der Weg im Text führt aus den USA über Puebla, wo »Los Pajaritos del Sur« in unregelmäßigen Abständen für contratos gebucht wurden, nach Oaxaca an die Costa Chica, den eigentlichen Ausgangspunkt der Reise, wo Gabriel Villanueva den Ausdruck »mono chañudo« gelernt hatte. Während die vorherigen Stationen der Reise – mit Ausnahme jener in der »Tierra Caliente« – sehr vage lokale Bezüge besaßen – die Bundesstaaten Sonora, Puebla und Oaxaca –, fanden die lokalen Referenzen an die Costa Chica plötzlich sehr präzise Entsprechungen. Die Nennung der Orte stimmte in ihrer Reihenfolge nicht nur mit ihrer Lage an der MEX-200 überein, es handelte sich bei den letzten vier – Marquelia, Cruz Grande, Las Vigas und San Marcos – auch um die Einstiegsorte der »Los Pajaritos del Sur«.35 Schließlich führt der Text nach Acapulco, wo der inhaltliche Höhepunkt zugleich mit der präzisesten Ortsbezeichnung zusammenfällt, die Protagonistin wäscht sich an der nur wenige hundert Meter langen »Playa Condesa«. Wie »El Corrido del Municipio« in der »Zona Norte« verbanden sich die Orte in »El monito chañudo« während der Performances der »Los Pajaritos del Sur« an Bord der Busse zwischen Iguala und Ahuehuepan und an der Costa Chica. Wie Efraín Balbuenas Komposition »Paisanos Poblanos« bot auch »El monito chañudo« durch die beschriebene Reise in die USA und die Entfernung zwischen dem lyrischen Ich in Atlanta und der Geliebten an der Küste Guerreros Identifikationsmöglichkeiten für das Publikum der »Los Pajaritos de Guerrero«, das sich aus Migrant/innen aus Guerrero zusammensetzte. Gabriel Villanueva ließ keinen Zweifel daran, dass er das Stück aus kommerziellem Kalkül im Hinblick auf seine Arbeit an Bord der Überlandbusse komponiert hatte: »Ich nenne die Orte, die ich spielend an Bord der Busse passiere. […] Wenn ich nach Chilpancingo fahre, spiele ich ›El monito chañudo‹, so wie es auf der CD ist. Warum? Weil ich Chilpancingo, Iguala und Cuernavaca erwähne. Das ist die Strecke, auf der ich unterwegs bin, und die Leute im Bus sagen: ›Hey! Das Lied ist schön.‹ Sie kaufen mir meine CDs ab. Entlang der Costa Chica, wenn ich nach San Marcos fahre, nach Las Vigas, Cruz Grande spiele ich ›El monito chañudo‹ und die Leute horchen auf: ›Hey, wie schön…‹, weil ich ihr Dorf erwähne. Deshalb: ›Hey! Gib mir diese CD!‹ All das tue ich, weil ich weiß, dass die Leute die CD kaufen, wenn ich ihr Dorf nenne.« (Villanueva, Gabriel 04.04.2013)
Dass Gabriel Villanueva richtig lag, als 2010 kurz nach der Komposition des Stückes dessen Erfolg vorhersagte, bestätigte nicht nur er selbst. Ein Jahr später nannte ein älterer Passagier an der Costa Grande auf die Frage, ob er Gefallen daran finde, wenn músicos ambulantes in ihren Stücken seinen Wohnort erwähnten, »El monito chañudo« als Beispiel. An dem Stück gefiel ihm, dass es die Costa Chica, an der er 34 Zu der internationalen Vernetzung Gabriel Villanuevas und den »Los Pajaritos de Guerrero« vgl. Kirschlager 2015. 35 Vgl. Kapitel 4.3.3.
Performanceräume | 331
geboren war, feierte. Als besonders gelungen bemerkte er, dass die Folge der Orte im Text mit der ruta, auf der sich »Los Pajaritos del Sur« während ihrer Performance bewegten, übereinstimmte: »In ihrem Arrangement machen sie die Lieder größer und berühmter. Wie dieses Lied ›Te lavaste la cara y el mono no‹. Das singen sie, wenn sie aus Richtung Pinotepa kommen. Und sie [die Protagonistin] reist auch, dabei wäscht sie sich das Gesicht, aber sie badet nicht. Sie kommt durch Ometepec, passiert Marquelia, Copala, kommt durch Cruz Grande und San Marcos und wäscht sich nicht, badet sich nicht. Dann kommt sie in Acapulco an den Strand und badet dort und wäscht sich die Muschi [lacht]. Das ist sehr witzig, weil sie es so komponieren, wie sie auch fahren: ›Te lavaste la cara y el mono no‹ […] Das ist eine Komposition zum Lachen. Wenn man sieht, dass sie durch all diese Municipios fährt, ohne sich zu waschen. […] [Die Komposition] ist schön. Sehr gut, sehr gut. Ich habe das auch zu Hause.« (Passagier 1 in Altamar zwischen Cruz Grande und San Marcos, 70 Jahre, 20.11.2011)
Vor allen Dingen für Musiker in den drei Streckennetzen »Costa Chica und Costa Grande«, »Zona Norte« und »Mixteca Poblana« war es selbstverständlich, dass ihre Performances besser ankamen, wenn sie Bezug auf bestimmte Orte nahmen. Gabriel Villanueva bezeichnete diese Praxis, die als eines der Fundamente seines Erfolges betrachtete, »mentar pueblos«. Dabei achteten die Musiker darauf, dass die genannten Orte mit den Herkunftsorten ihres Publikums übereinstimmten. Entweder wählten sie Stücke, deren Texte die Reize der Transiträume besangen, sie modifizierten Texte und änderten fremde Ortsbezeichnungen in lokale oder sie komponierten eigene Texte, die sie auf die Strecken, entlang derer sie auftraten, maßschneiderten. Besaßen die Texte der Stücke, die sie spielten, keine eindeutigen lokalen Bezüge, so fügten die Musiker oft gritos hinzu, die fehlende Bezüge erzeugten beziehungsweise bestehende unterstrichen. Auch saludos nutzten sie bewusst dazu Ortsnennungen in ihren Performances unterzubringen. Besonders bei modifizierten und selbstkomponierten Texten achteten die Musiker darauf, dass die Ortsnennungen nicht einfach nur Orten in Transiträumen entsprachen, sondern ordneten sie auch entsprechend ihrer Abfolge entlang der rutas, in denen sie sich bewegten. Am deutlichsten tritt dieser geographische Realismus im von Salvador Hernández komponierten »El Corrido del Municipio« hervor. Manche Texte, wie der des unbekannten Musikers in Oaxaca, stellen zusätzlich durch Verdichtung und Präzision der Ortsnennungen Zentralität her, die trotz teils internationaler Referenzen, wie in »El monito chañudo« von Gabriel Villanueva, lokale Transiträume wie unter einem Vergrößerungsglas hervorhebt. In der Regel beschrieben die Texte die Reise eines lyrischen Ichs, sei es in einem Bus wie in »Sonora y sus Ojazos Negros« oder durch Verben der Bewegung in Gabriel Villanuevas »El monito chañudo«. Auf diese Weise versahen die Musiker ihre Performances nicht nur mit Referenzen an Transiträume, sondern stellten auch einen Bezug zu Busräumen her und sprachen alle Passagier/innen an Bord des Busses unabhängig von ihrem Wohnort an. Die Texte der músicos ambulantes verbanden folglich die drei räumlichen Ebenen der Performanceräume, der Busräume und der Transiträume.
8
»Jetzt verabschiede ich mich von allen«: Der Ausstieg
Im Juli 2010 begann ich meine Feldforschung mit der Suche nach jenem Musiker, dem ich 2008 auf dem Weg von Oaxaca nach Tuxtla Gutiérrez begegnet war. Ich reiste mehrfach zwischen Huajuapan im Norden des Bundesstaates Oaxaca bis in den Isthmus von Tehuantepec entlang der MEX-190 und bewegte mich dabei in Bussen der línea FYPSA, in der ich den músico ambulante das erste Mal getroffen hatte, und auch in der línea SUR, die über ähnliche rutas verkehrte. Ich fragte Passagier/innen und Busfahrer nach dem Musiker. Doch ich sollte den Mann nicht wiedertreffen. So erfuhr ich nie, was diesen Musiker antrieb, an Bord von Überlandbussen seinen Lebensunterhalt zu verdienen oder, wie er es nannte, »rifar la suerte cantándole en los carros«, »das Glück in den Bussen herausfordern«. Entsprechend blieb auch sein persönliches Verhältnis zum Busfahrer, den er in seinem Text mit »noble él que va manejando« bedachte, im Dunkeln. Die Fragen nach seinem Wohnort blieben ebenso ungeklärt, wie jene nach seinen Einstiegsorten und den Wegen, die er während seiner Arbeit zurücklegte. Die Feldforschung brachte mich jedoch in Kontakt zu einer ganzen Reihe anderer músicos ambulantes, die ich interviewte und auf ihrer Arbeit begleitete. Ihre Einstiegsorte an Bundesstraßen und ihre Bewegungen entlang der rutas verschiedener líneas synthetisierte ich zu den vier Streckennetzen »Mixteca Poblana«, »Zona Norte«, »Costa Grande y Costa Chica« und »Paradero 30-30«. Diese Streckennetze setzten sich mal, wie im Fall der »Mixteca Poblana« aus den Bewegungen eines einzigen Musikers zusammen, und mal, wie im Fall »Paradero 30-30« aus den Bewegungen mehrerer Musiker, die sich ihre Einstiegsorte mit vielen weiteren Musikern teilen mussten. Die fragmentierten mobilen Forschungsräume waren das Resultat, eines relationalen Raumkonzeptes. Mit Läpples beziehungsweise Löws Begriffen »Syntheseleistung« und »Spacing« gehe ich in dieser Arbeit davon aus, dass Räume keine passiven Behälter bilden, in denen Menschen Handlungen vollziehen, sondern Räume erst durch Handlungen konstituiert werden, und die auf diese Weise entstandenen Räume ihrerseits Handlungen beeinflussen. Die Konstitution von Räumen vollzieht sich im Rahmen zweier Prozesse. Im Spacing werden Güter platziert, und in der Syntheseleistung werden Güter zu Räumen gefasst. Der räumliche Fokus dieser Arbeit ergab sich bereits aus ersten Beobachtungen von Performances an Bord der Busse, sowie Interviews und Gesprächen mit Musikern, Passagier/innen und Busfahrern, die die zentrale Bedeutung von Räumen für die Arbeit der músicos ambulantes verdeutlichten. So waren es die Räume ihrer Performances an Bord der Überlandbusse, die sie gemeinsam hatten und die sie von anderen Musikern
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unterschieden. Sie waren auf Güter entlang der Bundesstraßen angewiesen, die die Fahrt der Busse bremsten, und ihr Aufenthalt in den Bussen hing von Aushandlungsprozessen mit Busfahrern und anderen Akteur/innen ab. Wenn sie im Gang der Busse ihre Musik spielten, so taten sie dies in einem Raum, dem eigentlich eine ganz andere Nutzung eingeschrieben war. Schließlich waren ihre Performances voller räumlicher Referenzen und in ihren Repertoires befanden sich zahlreiche Stücke, die Geschichten lokaler Ereignisse erzählten oder – ähnlich den Stücken des unbekannten Musikers zwischen Oaxaca und Tuxtla – Orte nannten und zu Routen synthetisierten. Entsprechend orientierte sich meine Forschung an zwei zentralen Fragen: • •
Wie beeinflussten Überlandbusse und die Räume, durch die sie sich bewegten, die músicos ambulantes und ihre Performances? Auf welche Art und Weise konstituierten Musiker durch ihre Performances Räume an Bord und außerhalb der Busse?
Im Interesse der ersten Frage standen Eigenschaften der Einstiegsorte der Musiker und der Einfluss jener Räume, durch die sich die Musiker an Bord der Busse bewegten. Im Rahmen dieser Frage befasste ich mich auch mit der räumlichen Ordnung, auf die Musiker im Innern der Busse stießen. Die zweite Frage betonte die kreative Leistung der músicos ambulantes, die nicht nur in Räumen handelten, sondern durch ihre Arbeit und ihre Bewegungen selbst Räume hervorbrachten. Im Zusammenhang mit dieser Frage beschäftigte ich mich sowohl mit den räumlichen Verhältnissen, die konkurrierende Musiker in ihrem Kampf um die Gunst der Busfahrer hervorbrachten, als auch mit jenen Räumen, die sich aus den Wechselbeziehungen zwischen Musikern und ihrem Publikum ergaben. Zu den Räumen im Fokus dieser Frage zählten ebenso diskursive Räume, die músicos ambulantes in ihrer Musik und ihren Texten konstituierten. Wie beeinflussten Überlandbusse und die Räume, durch die sie sich bewegten, die músicos ambulantes und ihre Performances? Egal ob auf dem Washington Square in Manhattan, auf den Bahnsteigen des New Yorker U-Bahnsystems oder in den Waggons der Metro Mexiko-Stadts, wo immer sich Straßenmusiker öffentliche oder private Räume durch ihre Performances aneignen, umgibt sie der Mythos von Unabhängigkeit und Freiheit. Dieser Mythos taucht nahezu immer auf, wenn Musiker zu ihren Motivationen befragt werden (vgl. Harrison-Pepper 1990: 10 und Domínguez Prieto 2010: 227). Deshalb seien es besonders junge Menschen, die sich für diese romantischen Idee begeisterten und sich an ihr versuchten, bis soziale Reife und familiäre Verantwortung sie in geordnete Verhältnisse zwängen (vgl. Tanenbaum 1995: 53-54; Wald 2002: 232 und Clyne 2006: 3). Die meisten der músicos ambulantes, die ich interviewte und begleitete, waren jedoch nicht mehr jung und selbst als sie – Jahrzehnte zuvor – begonnen hatten, auf diese Art und Weise ihren Lebensunterhalt zu verdienen, waren es gerade familiäre Verantwortungen, die sie in die Busse trieben. Gabriel Villanueva wusste nicht, wie er anders seine Familie ernähren sollte, als er seine Gitarre nahm und in seinen ersten urbano in Acapulcos Zentrum stieg. José David Jaímez verdiente in der Fabrik nicht genug Gehalt für sich und seine schwangere Freundin und der junge Endir de León versorgte
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mit seinen Einnahmen aus den Bussen sich selbst und seine jüngere Schwester, nachdem sein Vater nach Norden in die USA und seine Mutter nach Chiapas im extremen Süden Mexikos gegangen waren. Trotzdem sprachen auch músicos ambulantes von Freiheit und Unabhängigkeit als Ideal ihrer Arbeit, dass sie bewegte, ihr Glück an Bord der Überlandbusse zu suchen: »In der Tat laufen sie so frei herum, weil sie nicht ausgebeutet werden wollen, weil sie keinen Chef wollen, der sie ausbeutet.« (Contreras, Andrés 6.8.2010) Dieses romantische Bild strahlte auf den ersten Blick umso mehr vor dem Hintergrund mexikanischer Bundesstraßen durch die einsamen Berge der Mixteca Poblana oder der Zona Norte Guerreros, langen Geraden und sanften Kurven durch die Kokosplantagen zwischen Sierra Madre und Pazifik an der Costa Grande oder der plötzlich scheinbar endlosen Weite des Estado de México jenseits der beklemmenden Enge Mexiko-Stadts. Musiker, die sich vom Wunsch nach grenzenloser Freiheit und Unabhängigkeit an topes und Haltestellen leiten ließen, wurden jedoch enttäuscht. Zwar bot die Arbeit an Bord der Busse deutlich mehr Unabhängigkeit als die eines Tagelöhners oder Fabrikarbeiters und brachte oft größeren ökonomischen Gewinn, allerdings unterlagen auch músicos ambulantes sozialen Zwängen und räumlichen Ordnungen, die sie davon abhielten, nach eigenem Belieben an Bord fahrender Überlandbusse ihr Publikum zu unterhalten. Die meisten músicos ambulantes verbrachten einen Großteil ihres Tages nicht singend in Bussen, sondern auf ihren turno wartend am Straßenrand. In San Marcos an der Costa Chica und in Coyuca an der Costa Grande bildeten sich ebenso Schlangen wartender Musiker, Getränkehändler und Medizinverkäufer, wie an der Ausfahrt des Busterminals von Iguala in der Zona Norte Guerreros. Besonders große ökonomische Krisen, wie die »Tequila-Krise« Mitte der 1990er Jahre oder die schwere internationale Wirtschaftskrise ab 2007, spülten unzählige Musiker aus ihren regulären Jobs an den Rand der Bundesstraßen, wo sie mit alteingesessenen Musikern um den Einstieg in die Busse konkurrierten. Neuankömmlinge erhielten oft nicht einmal die Chance sich in die Warteschleifen einzureihen. Die bittere Konkurrenz im Streckennetz »Paradero 30-30« zwang etablierte Musiker, ihre Einstiegsorte gegenüber anderen Musikern abzuriegeln. Sie nutzten ihre langjährige Erfahrung, ihren Zusammenhalt untereinander und ihre guten Beziehungen zu Busfahrern, um Neuankömmlinge von ihrer Haltestelle und somit aus den lukrativen Bussen mit internationalen Tourist/innen an Bord fernzuhalten. Den unorganisierten Neuankömmlingen blieben die überfüllten und gefährlichen Haltestellen »30-30« und »Indios Verdes«, wo sie in Busse stiegen, deren Passagier/innen sich aus nationalen Pendler/innen zusammensetzten. Es bildeten sich umkämpfte Territorien heraus, die hierarchische Strukturen unter den Musikern räumlich spiegelten. Auch wenn die Musiker der konkurrierenden Lager bei Begegnungen höflich miteinander umgingen, so brodelten unter dieser ruhigen Oberfläche Neid und Missgunst, und auf beiden Seiten machten Gerüchte von gewalttätigen Übergriffen der Konkurrenz die Runde. Als die Haltestelle »30-30« aufgrund der prekären Sicherheitslage verlegt wurde, konnten die etablierten Musiker weiterarbeiten, während ein Großteil der unorganisierten Musiker aus dem Streckennetz verschwand. Anstatt sich also in unbegrenzter Freiheit Räume für ihre Performances anzueignen, erfuhren besonders Neueinsteiger unter den músicos ambulantes die wichtige Rolle von Machtverhältnissen bei der Konstitution von Räumen.
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In den dünnbesiedelten Transitäumen anderer Streckennetze waren die Musiker nicht gezwungen, sich gegen singende Konkurrenz durchzusetzen. Ihre langen Wartezeiten ergaben sich aus den niedrigen Frequenzen passierender Busse. Sie konnten sich nicht frei entlang der Bundes- und Landstraßen bewegen, sondern mussten lernen, Güter durchreister Räume zu nutzen, um an Bord der Busse zu gelangen. Damit Busfahrer sie nicht am Straßenrand stehen ließen, strukturierten Musiker Transiträume. Sie synthetisierten Kreuzungen, Militärkontrollen und vor allen Dingen topes zu räumlich-zeitlichen Streckennetzen aus Ein- und Ausstiegsorten, die auf die Frequenz der Busse abgestimmt waren, so dass sich Wartezeiten minimierten und sich die optimale Dauer für Performances an Bord der Busse ergab. Die Fahrpläne der Busse bedingten einen zeitlich oft sehr präzise strukturierten Arbeitstag, den die Musiker nicht in Stunden rechneten, sondern in der Anzahl der Performances an Bord der Busse, bevor der letzte sie abends nahe ihres Wohnortes absetzte. Während Musiker/innen im urbanen Nahverkehr hervorheben, dass sie sich ihren Arbeitstag frei gestalten können (Domínguez Prieto 2010: 227), mussten sich músicos ambulantes räumlichen und zeitlichen Strukturen fügen, wenn sie ihre eigenen Streckennetze konstituierten. Egal, ob sie unmittelbar vor den Toren Mexiko-Stadts ihr Glück versuchten oder zwischen den einsamen Hügeln der Mixteca Poblana, músicos ambulantes begaben sich immer in die absolute Abhängigkeit von Busfahrern, die außerhalb der Terminals Kontrolle und Verantwortung über die Busse hatten. Músicos ambulantes waren gezwungen, Strategien zu entwickeln, die ihnen die Sympathien der Fahrer einbrachten und diese zum Halt bewegten, obwohl Fahrer nicht weniger als ihren Arbeitsplatz riskierten, falls die stetig strikter werdenden Inspekteur/innen Musiker an Bord ihrer Fahrzeuge entdeckten. Während viele der informellen Verhältnisse, die Busfahrer entlang ihrer rutas pflegten, auf monetärem Austausch basierten und Fahrer checadore/as und Inspekteur/innen schmierten oder Passagier/innen günstiger ohne Ticket transportierten, um deren Fahrtgeld einzustreichen, teilte keiner der músicos ambulantes seine coperacha mit den Männern, die ihn vom Straßenrand auflasen. Vielmehr machten sich Musiker die katastrophalen Arbeitsbedingungen der Busfahrer zunutze, die schlechtbezahlt und fern ihrer Wohnorte oft über 14 Stunden täglich hinter dem Steuer ihrer Busse verbrachten. Músicos ambulantes trugen Abwechslung und Unterhaltung in ihren monotonen und einsamen Alltag, der ansonsten einzig flüchtige Begegnungen mit Passagier/innen oder mit Angestellten an Terminals zu bieten hatte. So waren músicos ambulantes stets bemüht ihr Netzwerk aus befreundeten Busfahrern auszubauen, während alte camaradas aus dem Dienst schieden und der Druck der líneas immer mehr Busfahrer davon abhielt, Musiker und Händler/innen an Bord arbeiten zu lassen. Die Arbeit der músicos ambulantes entsprach also keinesfalls dem romantischen Klischee von Freiheit und Unabhängigkeit. Auch wenn sie, wie sie oft bemerkten, keinen patrones Rechenschaft schuldig waren, so waren sie vom Wohlwollen der Busfahrer abhängig, die als Herren über die Busräume über ihren Zustieg entschieden. Obwohl keine Vorgesetzten ihren Arbeitsalltag strukturierten, so brachte die bittere Konkurrenz zwischen Musikern strikte Hierarchien hervor, die sich anhand der territorialen Ordnungen räumlich ablesen ließen. Die Musiker schufen Grenzen. Selbst einsame Musiker waren gezwungen, die endlos scheinende Weite der Transiträume zu ordnen und räumlich zu definieren, zwischen topes und anderen Orten fixe Strecken zu etablieren und ihren Arbeitstag nach Passagierströmen und Fahrplänen zu gliedern,
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um erfolgreich zu sein. Die Arbeit der músicos ambulantes unterlag meistens einer sozialen Hierarchie und nahezu immer einer strikten räumlichen und zeitlichen Routine. Gelangten sie an Bord, trafen músicos ambulantes auf ein Publikum, das sich nicht zusammengefunden hatte, um einer musikalischen Performance beizuwohnen. Sie begegneten nicht nur Passagier/innen, die ihnen keine Aufmerksamkeit entgegenbrachten, aus dem Fenster blickten oder schliefen. Sie spielten auch vor solchen, die sich dem Raum der Performance vermeintlich aktiv zu entziehen versuchten, wenn sie sich schlafend stellten oder sich mit personal stereos akustisch abschirmten. Die besonderen feedback-Schleifen, die sich an Bord der Überlandbusse entspannten, verdeutlichten, dass die Musiker in einem nicht für Musik vorgesehenen Raum performten. Músicos ambulantes mussten nicht nur die akustischen Hürden – den Motorenlärm oder den Fahrtwind – überwinden und die übrigen physischen Herausforderungen – Kurven und Vollbremsungen – ausbalancieren, sondern sahen sich zugleich mit der symbolischen und sozialen Ordnung der Räume an Bord konfrontiert. Wie ihre Musik waren auch die Musiker an Bord der Busse »out of place«. Ihre Position auf der Mitte des Ganges zwischen Fahrerraum und Fahrgastraum spiegelte ihre informelle Rolle in den Bussen, in denen sie weder in einem formellen Anstellungsverhältnis arbeiteten noch wie zahlende Passagiere reisten. Diese informelle Rolle begünstigte ihre Verquickung mit anderen Akteuren, wie Bettlern und Räubern. An Musikern in südmexikanischen Überlandbussen haftete ein Stigma der Bedürftigkeit und gelegentlich einer beunruhigenden Nähe zur Kriminalität. Diese Stigmata hatten nicht allein negative Folgen für die Musiker. Busfahrer gaben oft Mitgefühl als Grund an, wenn sie gefragt wurden, warum sie Musikern Zustieg gewährten. Efraín Balbuena beklagte sich sogar, dass er nicht mehr mitgenommen wurde, nachdem Fahrer erfahren hätten, dass er mehr als sie selbst verdiente. Auch Passagier/innen begründeten ihre auffällige Toleranz gegenüber músicos ambulantes mit der Bedürftigkeit, die sie ihnen zuschrieben. Fahrgäste sprachen von der coperacha als »apoyo« oder »ayuda« oder erklärten, dass Musik in Bussen ein letzter Notanker sei, der músicos ambulantes von der kriminellen Karriere als Straßenräuber abhielte. Die Musiker wussten um den positiven Effekt dieser zwiespältigen Zuschreibungen und verarbeiteten sie in ihren Monologen und Texten, wie der unbekannte Musiker zwischen Oaxaca und Tuxtla Gutiérrez, der eine kriminelle Vergangenheit suggerierte oder Salvador Hernández, der in seinem Stück »El músico y los rateros« Musiker und Räuber nebeneinanderstellte. Gerade jedoch die Tatsache, dass sie immer wieder in die Nähe von Kriminellen gerückt wurden, hatte verheerende Folgen für die Busmusiker. Maßnahmen, mit denen Staat und Busgesellschaften der beunruhigenden Sicherheitslage an Haltestellen und an Bord der Busse Herr zu werden versuchten, trafen in der Regel auch Musiker. Berüchtigte Haltestellen, wie »El Paradero 30-30« wurden verlegt, und ohne gültiges Ticket oder offizielle Anstellung wurde Musikern der Zutritt zu den neuen bewachten Haltestellen versperrt. Busfahrer wurden mit Nachdruck dazu verpflichtet, zwischen Haltestellen keine Menschen aufzunehmen. An Bord führte die Verquickung von Musikern und Kriminellen zu Extremen, wenn beispielsweise »Eduardo« nach einem Überfall fürchten musste, als vermeintlicher Komplize der Räuber gelyncht zu werden. Vor allen Dingen führte ihre Stigmatisierung aber zu einem belasteten Verhältnis der músicos ambulantes selbst zu ihrer Arbeit, unter dem sie massiv litten. Besonders
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zu Beginn ihrer Karrieren, so berichteten meine Interviewpartner, quälte sie überwältigende Scham, die sie in ihren Performances beschränkte und dazu bewegte, Strecken fern ihrer Wohnorte aufzusuchen, um nicht Verwandten oder Nachbarn zu begegnen. Der Eindruck, den ihnen ihr Publikum vermittelte, traf auch deshalb einen wunden Punkt, da die Musiker in den meisten Fällen tatsächlich aus akuten ökonomischen Krisensituationen heraus die Entscheidung getroffen hatten, in Überlandbussen aufzutreten. Sie betrachteten ihre Arbeit als vorübergehende Lösung, um diese Krise zu überbrücken, und brachten häufig minimale musikalische Fähigkeiten mit, die ihnen andere Räume musikalischer Performances versperrten. Die Stigmatisierung und die eigene Scham machten es den Musikern unmöglich, langfristig ihrer Tätigkeit an Bord der Überlandbusse nachzugehen. Entsprechend hatten meine Interviewpartner, von denen die meisten bereits über 20 Jahre an Bord von Bussen performten, erfolgreiche Strategien entwickelt, mit denen sie ihre Scham überwunden hatten. Sie hatten sich professionalisiert. Sie übten regelmäßig, um ihre musikalischen Fähigkeiten zu steigern, und betrieben Recherche, um ihre Repertoires zu erweitern und auf den Geschmack ihres Publikums abzustimmen. Schließlich hatten sämtliche Musiker, die ich begleitete, ein Niveau erreicht, das es ihnen erlaubte, zusätzlich in Restaurants und auf privaten Feiern aufzutreten. Gleichzeitig achteten die Musiker auf ein professionelles, gepflegtes Auftreten. Sie stimmten ihre Kleidung nicht auf ihren praktischen Nutzen an Bord der Busse ab, sondern trugen Cowboystiefel, Westernhüte, lange Jeans und feine Hemden, die im Falle der »Los Pajaritos del Sur« sogar uniform waren und das Logo des duetos zeigten. Sie passten ihr Äußeres somit den Auftritten populärer banda oder norteña Musiker in Musikvideos und auf großen Bühnen an. Vor allen Dingen aber verschoben sich die Motivationen, die erfahrene Musiker in Überlandbusse trieben. Sie spielten nicht mehr allein für die prekäre coperacha. Stattdessen verfolgten sie Ziele, die sich außerhalb der stigmatisierenden Busräume platzieren ließen. Sie empfahlen sich an Bord für Auftritte auf privaten Feiern, so genannte contratos, wo sie pro Stunde entlohnt wurden. Sie bewarben sich als Komponisten, für corridos de encargo, in denen sich ihre Kund/innen gegen ein überraschend hohes Honorar preisen ließen. »Los Pajaritos del Sur« vertrieben an Bord der Busse sogar ihre Studioalben mit großem Erfolg. Auftritte in Überlandbussen waren ein günstiges Medium, um diese neuen Ziele zu verfolgen. Die Musiker erreichten ein deutlich größeres Publikum, als bei lokalen Auftritten in ihren Gemeinden. Das mobile Publikum war nicht nur zahlreicher, es war auch in seiner geographischen Herkunft äußerst divers. Die Musiker, wie »Los Pajaritos del Sur« erreichten durch die Auftritte an Bord der Busse eine weite räumliche Verbreitung ihrer Tonträger und auch die übrigen Musiker gelangten durch ihre Performances in Bussen an Aufträge aus weit entfernten Gemeinden, die sie durch lokale Auftritte niemals erreicht hätten. Músicos ambulantes balancierten folglich auf einem schmalen Grat zwischen der erniedrigenden Stigmatisierung als Bedürftige und der Wahrnehmung als professionelle Künstler, die sie eventuell den Zutritt zu Bussen und die Toleranz der Reisenden kosten konnte. So ergab sich der rhetorische Spagat, wenn ein professioneller Musiker wie Lorenzo Villanueva gegen Ende einer makellosen Performance seinem Publikum erklärte: »Wie Sie sehen, bin ich kein großer Sänger, kein großer Musiker. Ich versu-
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che nur, mir ehrlich meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Wenn Sie gerne einen freiwilligen Beitrag geben wollen, vielen Dank!« (Lorenzo Villanueva bei Performance in Maxirutas am 21.9.2015) Auf welche Art und Weise konstituierten Musiker durch ihre Performances Räume an Bord und außerhalb der Busse? Die zweite Forschungsfrage legte den Schwerpunkt auf die kreative, raumkonstituierende Leistung der músicos ambulantes und ihrer Performances. Bei der Betrachtung der Ergebnisse meiner Untersuchung wird allerdings deutlich, dass die Antworten auf diese zweite Frage eng mit den Ergebnissen der ersten Frage verbunden sind. Jene Bewegungen, die músicos ambulantes an die Straßenränder, in die Busse und entlang der carreteras führten, implizierten immer auch eine schöpferische Komponente, brachten also Räume hervor. Wenn Efraín Balbuena an einem der drei topes in den engen Kurven der Siedlung Nuevos Horizontes seine Gitarre hob und den Fahrer eines Busses dazu brachte, die Tür zu öffnen, durch die er dann an Bord kletterte, schuf er eine informelle Verbindung zwischen Transiträumen und Busräumen. Wie andere músicos ambulantes, die es ihm an anderen topes, Kreuzungen oder Militärkontrollen gleichtaten, wurde Efraín Balbuena zu einem jener »structual holes«, die laut Urry, Busreisen von der »seamlessness« der Reise im privaten Auto unterschieden. Die Musiker waren ein Faktor, der die Busse des servicio económico stärker in die Transiträume einband als die höheren Serviceklassen, die auf Autobahnen zwischen Start und Ziel verkehrten. Gemeinsam mit anderen informellen Akteur/innen, wie Bettler/innen, Händler/innen, pomadero/as, Predigern und Räuber/innen wurden músicos ambulantes zu einem konstitutiven Element in der Synthese des servicio económico. Passagier/innen bezeichneten Busse dieser niedrigsten Serviceklasse als »levantamendigos« oder erklärten in Interviews, die Auftritte der Musiker seien fester Bestandteil der Reisen an Bord dieser Busse: »Es ist schon eine Tradition, ein Brauch, dass jemand einsteigt und singt und man ihm etwas geben muss.« (Passagier 6 in Teotihuacanos zwischen Otumba und Autobuses del Norte, 40 Jahre, 29.11.2011) Waren die Musiker an Bord gelangt, stellten sie sich auf die Hälfte des Ganges und begannen zu spielen. Anders als Musiker auf Bühnen in Clubs oder Konzerthäusern oder auch Straßenmusiker inmitten der Kreise aus Passant/innen waren músicos ambulantes nicht das visuelle Zentrum der Performance. Sie wählten ihren Standort den schwierigen akustischen Bedingungen an Bord der Busse entsprechend, so dass Passagier/innen auf der hintersten Sitzbank sie ebenso hören konnten, wie der Fahrer direkt hinter der Windschutzscheibe. So entstand in den Bussen, wie bei allen musikalischen Performances, unter Einfluss der physischen Gegebenheiten ein Performanceraum, in dem alle Anwesenden durch die Wechselbeziehungen von feedback-Schleifen verbunden wurden. Die Musiker sangen und spielten, ihr Publikum reagierte und nahm wiederum Einfluss auf die Musiker. Besonders blieb jedoch, dass außer den Fahrern niemand dieser Performance freiwillig beiwohnte und den Musikern oft demonstratives Desinteresse oder sogar erniedrigende Zwischenrufe entgegenschlugen. Deshalb entwickelten músicos ambulantes Strategien, die auf ihr Publikum abgestimmt waren.
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Salvador Hernández thematisierte in seinem »Corrido del cancionero«, dass Passagier/innen in Bussen häufig lieber lasen, ihre Ohren mit den Kopfhörern ihrer personal stereos verschlossen oder sich sogar schlafend stellten, anstatt ihm Aufmerksamkeit zu schenken. Er provozierte durch diesen Spiegel, dem er seinem Publikum vorhielt, eine aktivere, wohlwollende Teilnahme an seiner Performance, die ihm letztendlich eine höhere coperacha bescherte. Gabriel Villanueva hatte einen schrillen Schrei entwickelt, den er auf dem Höhepunkt seines letzten Stückes ausstieß. Er lockerte auf diese Weise nicht nur die Stimmung unter den Reisenden, sondern weckte schlafende Passagier/innen und lenkte die Aufmerksamkeit seines Publikums auf die anschließende Bitte um coperacha. Die Räume, die sich aus den feedback-Schleifen der Performances von músicos ambulantes ergaben, schlossen nicht nur Passagier/innen, sondern auch Fahrer ein. Musiker berücksichtigten die musikalischen Vorlieben ihrer camaradas und hoben ihre professionelle Zuverlässigkeit in den Texten ihrer Stücke, in Grußworten, Widmungen und Monologen hervor. Bereits auf meiner Suche nach músicos ambulantes zu Beginn meiner Feldforschung wurde schnell deutlich, dass Busfahrer entlang ihrer rutas sehr genau über die räumlichen Routinen der músicos ambulantes Bescheid wussten. Fahrer der línea TER erklärten, dass sich die Musiker vor dem Eisstand an der Ausfahrt des Terminals von Iguala trafen und sie wussten, dass die Hernández-Familie im kleinen Dorf Palmillas, direkt an ihrer ruta lebte. Der Busfahrer »Mario«, der zur Zeit meiner Feldforschung bei der línea TER in Morelos und der Zona Norte arbeitete, verband mit der ruta Acapulco-Zihuatanejo, die er zuvor für die línea Los Galgos befuhr, die Auftritte der Musiker des duetos »Los Pajaritos del Sur« und Tomás Ramírez. Für die Fahrer, die meist über wenig Beziehungen zu den Transiträumen, durch die sie täglich ihre Busse lenkten, verfügten, wurden Musiker und Händler/innen zu zentralen Platzierungen in diesen Räumen. Die Musiker brachten jedoch nicht nur sich selbst an Bord der Busse, sondern auch Elemente durchreister Räume. Sie wählten die Genres ihrer Stücke in enger Abstimmung mit den Transiträumen, durch die sich der Bus während ihrer Performance bewegte. An der Küste Guerreros spielten sowohl die »Pajaritos del Sur«, als auch Julio und Jesús García an der Costa Grande boleros, während sie an der Costa Chica chilenas und vor allen Dingen corridos interpretierten. Salvador Hernández spielte südlich des Terminals von Buenavista de Cuéllar sones und corridos, die er im Bundesstaat Guerrero verortete, während er nördlich canciones románticas und boleros auswählte, die er dem urbaneren Morelos zuschrieb. Salvador Hernández wählte diese Stücke, weil er den Erwartungen seines Publikums entsprechen wollte, und tatsächlich erklärten vor allen Dingen Fahrgäste aus urbanen Zentren, die durch die Zona Norte Richtung Iguala reisten, dass sie diese musikalischen Einblicke in die ländlichen Transiträume genossen. Entsprechend interpretierten die Musiker an Bord der Busse der línea Teotihuacanos für ihr internationales Publikum Stücke, wie »Cielito Lindo«, »Quizas, quizas, quizas« oder »La Bamba«, auch wenn sie selbst der Überzeugung waren, dass es sich vielmehr um Stereotypen mexikanischer Musik handle, als dass sie diese den lokalen Transiträumen zuordneten. Während die Musiker bemüht waren, den Erwartungen der Passagier/innen an durchreiste Räume zu entsprechen, prägten sie zugleich die Synthese von Transiträumen durch ihr reisendes Publikum. Gespräche mit Busfahrern und Passagier/innen zeigten, dass sie anhand der Genres, die sie in Performances an Bord hörten, Rückschlüsse auf die Musik der Transiträume zogen, wie der Busfahrer der línea TER, der anhand der Performances von Musikern an Bord seiner
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Busse, die Räume »folclórico« in der Zona Norte und »puros corridos« in der Tierra Caliente, voneinander abgrenzte. Auch Passagier/innen bemerkten, dass sich die Genres bei Performances von músicos ambulantes veränderten, sobald sie die Grenze zwischen den Bundesstaaten Morelos und Guerrero überquerten. Músicos ambulantes wurden durch die Wahl ihrer Genres zu musikalischen Repräsentanten durchreister Räume, in denen ihr Publikum sie platzierte. Neben lokalen musikalischen Genres komponierten oder wählten die Musiker corridos, die den Hergang lokaler Ereignisse erzählten. Sie platzierten Schießereien zwischen Revolverhelden und Polizisten ebenso in Transiträumen, wie die verheerenden Folgen von Wirbelstürmen oder spektakuläre Einzelschicksale, wie dem tragischen Unfalltod der Markthändlerin Lilia Fernández. Diese corridos richteten sich in erster Linie an ein Publikum, das ebenfalls aus den durchreisten Räumen stammte. Besonders Passagier/innen aus Transiträumen der Streckennetze »Costa Grande y Costa Chica« und »Zona Norte« bestätigten ihren großen Gefallen an lokalen corridos. Komponisten wie Gabriel Villanueva oder Salvador Hernández legten großen Wert auf die Recherche des genauen Hergangs der Ereignisse. Sie wussten, dass bereits informierte Passagier/innen die corridos mit eigenem Wissen um den Hergang der Ereignisse abglichen und die Komposition entsprechend bewerteten. So flochten die Musiker auch sehr präzise Ortsbezeichnungen in ihre Texte ein. Die Ereignisse, die in lokalen corridos wiedergegeben wurden, wurden in denselben Transiträumen platziert, wie die Passagier/innen, die die Musiker mit ihren Kompositionen anzusprechen gedachten. Bei dem entsprechenden Publikum brachten diese räumlichen Referenzen jenes Gefühl räumlicher Verbundenheit hervor, das McDowell als »pride of place« bezeichnet und das Musiker mit Zwischenrufen wie »¡Puro Guerrero!« oder »¡Pura Costa!« zu unterstreichen versuchten. Für jene Passagier/innen, die jedoch nicht mit den entsprechenden corridos vertraut waren, konnten die berichteten Ereignisse zu prägenden Platzierungen in ihrer Synthese durchreister Räume werden. In diesem Sinne sagte ein Passagier in der Zona Norte über die Tierra Caliente, Costa Chica und Costa Grande: »[Corridos] werden in der Tierra Caliente und an der Küste gehört. Dort sind sie gefährlich und an Gewalt gewöhnt. […] Das ist etwas, dass mir nicht gefällt.« (Passagier 3 in TER zwischen Buenavista de Cuéllar und Cuautla, 80 Jahre, 14.12.2011) Die besungenen Anekdoten über gewalttätige Auseinandersetzungen wurden folglich von Passagier/innen bei der Konstitution von Räumen platziert, die ihrerseits wieder als Strecken der Angst auf die Reisenden wirkten. Músicos ambulantes konstituierten durch ihre Performances an Bord südmexikanischer Überlandbusse also nicht allein Räume durch die feedbackSchleifen, die alle Anwesenden miteinander vernetzten und in die Performance einbanden. Sie konstituierten auch Räume jenseits der Busfenster, wenn sie lokale Genres an Bord trugen und in ihren corridos den Hergang lokaler Ereignisse in Transiträumen platzierten. Als Akteure der Transiträume trugen sie dazu bei, dass diese Räume nicht überwunden, geschrumpft oder sogar vernichtet, sondern zum Bestandteil der Reise an Bord des Busses wurden.
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Mobilität als zentraler Bestandteil der Performances von músicos ambulantes Den Erfolg ihrer Performances maßen músicos ambulantes kaum am Applaus des Publikums, den es ohnehin nur in Ausnahmen gab, sondern an der Höhe der coperacha, die sie gegen Ende der Performances einsammelten, an contratos, die in den Bussen an sie herangetragen wurden und, im Fall der »Los Pajaritos del Sur«, an verkauften Tonträgern. Wie bei Musiker/innen in jeder anderen Performancesituation hing auch der Erfolg der músicos ambulantes davon ab, ob sie in der Lage waren, ihr Publikum emotional abzuholen und es im Laufe der Performance zu unterhalten. Allerdings stellte diese Aufgabe für músicos ambulantes eine besondere Herausforderung dar. Zum einen wirkten die Räume ihrer Performances an Bord der Busse der Wahrnehmung ihrer Performance als professioneller musikalischer Leistung entgegen. Zum anderen einte die Mitglieder ihres Publikums nicht der Wunsch nach Teilnahme an einer musikalischen Performance, sondern ihre gemeinsame Reiseabsicht. Hatten die Musiker die erste Hürde überwunden und die Aufmerksamkeit der Passagier/innen – beispielsweise durch gritos – gewonnen, mussten sie die Anwesenden als mobile Reisende diverser räumlicher Herkunft in die feedback-Schleife einbinden. Mobilität wurde somit zum zentralen Bestandteil der Performance von músicos ambulantes. Gleichzeitig erwartete das Publikum lokale Referenzen, die músicos ambulantes nicht vernachlässigen durften. Folglich entstand ein Spannungsfeld zwischen Lokalität und Mobilität, dem erfolgreiche músicos ambulantes begegnen mussten, um ihr Publikum zu unterhalten. Wie alle músicos ambulantes mit Ausnahme der Musiker im Streckennetz »El Paradero 30-30« reagierten die Brüder Salvador und Hexiquio Hernández auf das flüchtige Verhältnis der mobilen Busse und ihrer Insass/innen zu den lokalen Transiträumen, durch eine feine Gliederung ihres Streckennetzes. Sie unterteilten den relativ kurzen Abschnitt zwischen Iguala und Puente de Ixtla in zwei unterschiedliche musikalische Räume, denen sie bestimmte Genres zuordneten. Diese Genres hatten einen starken regionalen Bezug zu den Transiträumen, die die Busse während der Performance durchquerten. Sie transportierten Zuschreibungen, wie »urban«, »ländlich«, »folclórico« oder sogar »gefährlich«. Sowohl Busfahrer als auch Passagier/innen nahmen diese sich wandelnden Referenzen auf unterschiedliche Räume wahr. Gleichzeitig bewegten sich die Busse durch Räume, die sich aus den Platzierungen lokaler corridos synthetisieren ließen, die músicos ambulantes entsprechend der durchreisten Räume an Bord der Busse aneinanderketteten. Gabriel Villanueva hatte aus seinem gefloppten corrido über die Ermordung des national bekannten Fernsehmoderators Paco Stanley gelernt, dass sein Publikum nach Bezügen auf sein eigenes lokales Umfeld verlangte. Entsprechend der räumlich vielfältigen Herkunft seines Publikums passte er die Wahl seiner corridos an die durchquerten Transiträume an. So performten »Los Pajaritos del Sur« den »Corrido de la mojarra escamada« nahe Oaxacas Costa Chica, wo sich die erzählten Ereignisse zugetragen hatten. Sobald sie sich Acapulco näherten, spielten sie den corrido »Desastre en La Sinaí« über den Zyklon Boris, der mehrere Vororte der Hafenmetropole verwüstete. Ihren corrido über das Massaker von Aguas Blancas spielten sie nahe dem Tatort im municipio Coyuca de Benítez an der Costa Grande. Im corrido über den tragischen Unfall der Markthändlerin Lilia Fernández gelang es dem
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dueto sogar einen Großteil ihres Publikums unterschiedlicher Herkunft an Costa Grande und Costa Chica in seinem gemeinsamen Reiseziel, dem Markt von Acapulco, zu bündeln. Dieser corrido gehörte zu den größten Erfolgen der »Los Pajaritos del Sur«. Die Möglichkeit regional-spezifischer Kompositionen eröffnete sich Gabriel Villanueva vor allem, weil er Geschichten und Material aus eben jenen Räumen akkumulierte, durch die er sich bei seiner mobilen Arbeit an Bord der Busse bewegte. Aber auch Musiker, wie Julio und Jesús García, die kaum selbst komponierten, stimmten die ihre Auswahl fremder corridos auf die jeweils durchreisten Transiträume ab. Wenn sich also die musikalischen Räume oder die narrativen Referenzen an Transiträume im Laufe der Reise veränderten, konnte der Eindruck von Mobilität entstehen. Allerdings, obwohl regionale Genres und narrative Platzierungen in corridos bereits Referenzen auf extrem lokale durchreiste Räume waren, überquerten Busse und ihre Insass/innen selten eine oder gar mehrere Grenzen zwischen solchen Räumen während einer einzelnen Performance. So ergab sich der Eindruck, der Bus bewege sich durch verschiedene Räume, in der Regel nur bei regelmäßig Reisenden und Busfahrern, die mehrere Performances miteinander verglichen. Um auch die übrigen Passagier/innen als mobile Reisende ansprechen, waren Reisen und Bewegung zentrale Motive im Repertoire der músicos ambulantes. Sehr häufig spielten die Musiker an Bord der Busse corridos über Migration und Grenzübertritte. Sie richteten sich somit nicht allein an die Passagier/innen als mobiles Publikum an Bord eines Busses, sondern nahmen auch Bezug auf Migrationserfahrungen, die die Mehrheit ihrer Zuhörer/innen im Süden Mexikos teilte. So spielte Tomás Ramírez »Los alambrados« der »Los Bukis« über den Grenzübertritt einiger Mexikaner in die USA, und Salvador Hernández erzählte in »El bilingüe« von einem Mexikaner, der Englisch lernt, um mit seiner Geliebten zu kommunizieren, die aus den USA zurück ins Dorf ihrer Eltern reist. Zu diesen corridos über Migration ließ sich ein großer Teil der so genannten narcocorridos zählen, die vor allen Dingen Tomás Ramírez und Julio und Jesús García an der Küste Guerreros, aber auch Efraín Balbuena in der Mixteca Poblana interpretierten. Besonders narcocorridos der 1970er bis 1990er Jahre, die norteño-Bands wie »Los Tigres del Norte« oder »Los Tucanes de Tijuana« berühmt gemacht hatten, spielen mit Schmuggel und Grenzübertritt als zentralen Motiven und verschafften dem Subgenre den Ruf, die »collective experience of travel« einer neuen mexikanischen Identität zu repräsentieren (Ragland 2009: 17). Nicht alle Musiker spielten narcocorridos. Einige, wie »Los Pajaritos del Sur« distanzierten sich bewusst von diesem Subgenre, da sie befürchteten zwischen die Fronten gewalttätiger Konflikte zu geraten. Nichtsdestotrotz teilten »Los Pajaritos del Sur« mit sämtlichen anderen músicos ambulantes in ihrem Repertoire Stücke, die von Reisen erzählten. Die Stücke »Caminos de Michoacán« oder »Caminioncito de Flecha Roja« gehörten zu den am häufigsten gespielten Stücken im Repertoire aller Musiker, die ich begleitete. In den Texten der beiden Stücke betrauern männliche Erzähler die Trennung von einer mobilen Geliebten, der sie im ersten Fall durch den gesamten Bundesstaat Michoacán folgen, während sie sie im Fall von »Camioncito de Flecha Roja« der Verantwortung des Busfahrers beziehungsweise seines Fahrzeugs anvertrauen. Ein Stück, das besonders oft von Musikern gespielt und sogar von Passagier/innen verlangt wurde, war das Stück »Sonora y sus ojos negros«, das – ebenfalls aus männlicher Perspektive – die Entwicklung einer romantischen Be-
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ziehung an Bord eines Überlandbusses zwischen den Bundesstaaten Sinaloa und Sonora erzählt. Mit diesen Stücken sprachen die Musiker ihr Publikum als Reisende oder sogar spezifischer als Reisende an Bord von Überlandbussen an. Jedoch ließ sich zwischen genannten Orten in Michoacán oder in Mexikos extremen Nordwesten kaum ein Bezug zwischen Texten, Reisenden und lokalen Transiträumen im Süden Mexikos herstellen. Für Salvador Hernández, der in der Zona Norte Guerreros bis hinein in den Bundesstaat Morelos bewegte, stellte der huapango »La eterna primavera« einen Glücksfall dar, weil in dessen Text das lyrische Ich durch Morelos reist und die Schönheit ausgewählter Orte des Bundesstaates preist. Die Orte, die im Text von »La eterna primavera« zusammengeführt werden, entsprachen zu einem großen Teil Orten entlang der ruta, auf der Salvador Hernández das Stück zu spielen pflegte. Wenn Musiker nicht das Glück hatten, dass sich fremde Kompositionen auf ihre eigenen Bewegungen übertragen ließen, manipulierten sie die Texte der Stücke und passten die genannten Ortsnamen an die Transiträume ihrer Streckennetze an. So begannen »Los Pajaritos del Sur« das Stück »Sonora y sus ojos negros« entlang der Costa Grande mit den Zeilen: »En un camión pasajero/ de esos que van para Zihua…« (In einem Bus voller Passagiere,/ von denen die nach Zihua fahren…«). An der Costa Chica sangen sie »En un camión pasajero/ de esos que van para Puerto…«. Sie spielten somit auf die Endstationen Zihuatanejo und Puerto Escondido an und verlegten die Handlung direkt in jene Busse, in denen sie gerade performten. Im Stadtverkehr Acapulcos sang Lorenzo Villanueva im selben Stück von einem Bus Richtung »El Rena« und bezog sich auf Acapulcos prominentesten Vorort. Efraín Balbuena ersetzte im Text des corridos »El Traficante« über einen Drogentransport von Michoacán nach Kalifornien, den Ortsnamen »Apatzingán« durch »Acatlán« und verlegte den Ausgangspunkt der erzählten Reise in die Mixteca Poblana, wo er auftrat. Efraín Balbuena manipulierte allerdings nicht nur fremde Kompositionen. Wie Salvador Hernández in der »Zona Norte« und Gabriel Villanueva an »Costa Grande y Costa Chica« komponierte er gezielt eigene Stücke für Performances an Bord von Überlandbussen. Mit seinem corrido »Mis paisanos poblanos« schrieb »El Solitario del Sur« bewusst einen Text, der mit Tulcingo, Tehuitzingo, Matamoros und Acatlán die zentralen Orte seines Streckennetzes nennt, aus denen mutige Männer aufbrechen, um in die USA zu reisen. Efraín Balbuena verband so die lokalen Transiträume der Mixteca Poblana mit Mobilität, ohne allerdings konkret auf Überlandbusse oder deren rutas einzugehen. Salvador Hernández Komposition »Corrido del Municipio« hingegen, die auf den ersten Blick lediglich die Orte des municipios Buenavista de Cuéllar zu preisen scheint, entwickelte erst an Bord der Überlandbusse auf der Schnellstraße zwischen Puente de Ixtla und Iguala seine volle Wirkung. Die Orte werden im Text in der Reihenfolge genannt, in der sie vom Bus Richtung Süden passiert wurden. Orte abseits der Schnellstraße wie »Coxcatlán« werden nicht einfach im municipio platziert, sondern durch Seitenstraßen an die ruta des Busses angebunden. Der Raum, der im »Corrido del municipio« konstituiert wurde, entstand folglich erst durch seine Performance an Bord der Busse der línea TER, deren Bewegung sämtliche Platzierungen miteinander verknüpfte. Ebenso funktionierte auch jener Text, den der unbekannte Musiker zwischen Oaxaca und Tuxtla Gutiérrez über die Akkorde von »Al estilo mexicano« sang. Die im Text gepriesenen Orte lagen in der Reihenfolge ihrer Erwähnung entlang der MEX-190 in südlicher Richtung zwischen Huajuapan und Tuxtla Gutiérrez
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beziehungsweise Tapachula im extremen Süden. Die Mobilität, die diese Stücke implizierten war nicht die losgelöste Verbindung zwischen Start und Ziel der Reise, sondern Bewegung durch lokale Transiträume. Passagier/innen fanden sich selbst in diesen Reiserouten wieder und zeigten Gefallen an Stücken dieser Art. So verkaufte sich die CD Y siguen arrazando con más éxitos der »Los Pajaritos del Sur« laut Gabriel Villanueva vor allen Dingen dank ihres Hits »El monito chañudo« hervorragend an Bord der Busse. Die Orte im Text fügten sich zu einer Route, die die Strecke der »Los Pajaritos del Sur« in der Tierra Caliente einband und in einem weiten Bogen über die USA entlang immer dichter werdender Platzierungen an die Costa Chica führte, bevor sie schließlich am Strand »La Condesa« in Acapulco kulminierte. Ein Passagier an der Costa Chica und Besitzer der CD erklärte seine Begeisterung für die vielfältigen lokalen Bezüge des Textes, die schließlich in die ruta übergingen, auf der er und »Los Pajaritos del Sur« sich bewegten: »Sie kommt durch Ometepec, durch Marquelia, durch Copala, durch Cruz Grande und durch San Marcos und wäscht sich nicht, badet sich nicht. Dann kommt sie an den Strand von Acapulco, badet sich und wäscht sich die Muschi [lacht]. Das ist sehr witzig, weil das Lied ist so komponiert, als führen sie von hier nach dort.« (Passagier 1 in Altamar zwischen Cruz Grande und San Marcos, 70 Jahre, 20.11.2011) Während auf diese Weise Mobilität in den Texten der músicos ambulantes lokalisiert wurde, ging Gabriel Villanueva mit seinen corridos über Verkehrsunfälle, insbesondere dem corrido »Fracaso carretero«, den umgekehrten Weg. Er mobilisierte ein lokales Ereignis. Der Ort des erzählten Unfalls nahe Las Vigas liegt nicht nur auf eben der MEX-200, auf der sich der Bus und mit ihm die Reisenden während der Performance bewegten. Der Unfallort im Text ist zusätzlich über die Bundesstraße mit den mannigfaltigen Herkunftsorten der Todesopfer verbunden. Performten »Los Pajaritos del Sur« den corrido auf ihren Strecken entlang der Costa Chica, schuf der Text ein Netzwerk an Platzierungen entlang der MEX-200, das einen großen Teil der Passagier/innen über ihre Wohnorte in eine Erzählung einband, die sie ohnehin schon betraf, weil es sich um die Geschichte eines Verkehrsunfalls handelte. Auch im Fall des corridos »Fracaso Carretero« entwickelte der Text erst in seiner Performance an Bord eines Überlandbusses – in diesem Fall auf der MEX-200 entlang der Costa Chica – seine volle Bedeutung. Die besondere kreative Leistung erfolgreicher músicos ambulantes bestand also darin, in Performanceräumen mobile Busräume und lokale Transiträume miteinander zu verbinden. Die letzte Strophe? Gabriel Villanueva, der ökonomisch erfolgreichste meiner Interviewpartner unter den músicos ambulantes, hatte sich bereits gegen Ende meiner Feldforschung beinahe vollständig von der coperacha unabhängig gemacht. Im Gegensatz zu seinem Sohn, sang er nur noch in Überlandbussen, um seine regelmäßig erscheinenden Tonträger zu promoten. Trotz seines Erfolges, der an Bord der Busse gründete, zeichnete er, wie meine übrigen Interviewpartner, eine düstere Zukunft für músicos ambulantes: »Tatsächlich sind sie die Werbefläche von uns Armen, die Fahrzeuge von Firmen wie Estrella Blanca, Estrella de Oro und so weiter. Dort vertreibt unsereins seine Platten, seine Kassetten. Aber in letzter Zeit ist das sehr schwierig.« (Villanueva, Gabriel 10.10.2011) Immer mehr rutas des servicio económico fielen Streichungen zum Opfer.
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In den Jahren meiner Feldforschung wurde 2011 die ruta Puebla – Huajuapan der línea ERCO gestrichen und 2014 plante die línea TER, laut Angestellten, die Frequenz der Fahrten auf der ruta Cuautla – Iguala zu halbieren (Gespräch mit »Antonio« 15.3.2014). Diese Kürzungen und der verstärkte und effizientere Einsatz von Inspekteur/innen in manchen Streckennetzen, erklärten die pessimistischen Perspektiven, die músicos ambulantes äußerten. Während einige der Musiker in Interviews laut über berufliche Alternativen nachdachten, war »Eduardo« bereits 2011 aus dem Streckennetz »Paradero 30-30« verschwunden. Lorenzo Villanueva, der vor den Inspekteur/innen in den Überlandbussen auf der MEX-200 in die urbanen camiones Acapulcos geflohen war, beobachtete nun mit großer Sorge, wie dort Bagger und Arbeiter die Fahrbahn für den neuen »Acabús« anlegten, der die camiones ersetzen sollte. Julio und Jesús García legten 2014 mit staatlichen Fördergelden ein Tomatenfeld auf dem staubigen Hang vor ihrem Haus an, aber träumten eigentlich davon, über die Grenze in die USA zu gelangen. Gleichzeitig zog Salvador Hernández von Tür zu Tür und vertrieb Nahrungsergänzungsmittel einer Firma, deren Geschäftsmodell bedrohlich nach Schneeballprinzip anmutete. Nichtsdestotrotz begaben sie sich, wie die übrigen músicos ambulantes, die ich begleitet hatte, jeden Morgen aufs Neue an die topes und Haltestellen entlang der MEX-85D, der MEX-190, der MEX-200 oder der Schnellstraße zwischen Puente de Ixtla und Iguala. Sie warteten auf ihren turno und streckten den nahenden Bussen ihre Gitarren entgegen. Und nach wie vor beendete Salvador Hernández seinen »Corrido del Cancionero« mit der Aussicht auf ein baldiges Wiedersehen: Ya me despido de todos con gusto y con alegria. Si hoy no trae pa’ propina ¡Ay!, me la da otro día. ¡Felicidades a todos! ¡Dios nos conserve la vida!
Jetzt verabschiede ich mich von allen mit Gefallen und Freude. Wenn Sie heute nichts für die Spende haben, Ay, dann an einem anderen Tag. Alles Gute für alle! Beschütze Gott unser Leben! Titel: Corrido del Cancionero Interpreten: Dueto Águila y Sol Komponist: Salvador Hernández Transkription einer Aufnahme vom 10.11.2011
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INTERVIEWS MIT MUSIKERN UND HÄNDLERINNEN »Alan«: Ecatepec de Morelos, Estado de México 7.10.2010. Balbuena Reyes, Efraín: Colonia Tres de Mayo, Acatlán, Puebla 28.7.2010. ____: Colonia Tres de Mayo, Acatlán, Puebla 11.12.2010. ____: Colonia Tres de Mayo, Acatlán, Puebla 19.3.2013. Bolaño, Francisco Manuel: Cuautla, Morelos 16.8.2010. Calderón Ramírez, Marco Antonio: México D.F. 8.3.2013. Contreras, Andrés: México D.F. 6.8.2010. Cruz Ramírez, Anatolio und Villanueva Noyola, Gabriel: Río Seco, Acapulco, Guerrero 21.11.2011. »Eduardo«: Ecatepec de Morelos, Estado de México 7.10.2010. »Erika«: El Papayo, Coyuca de Benítez, Guerrero 8.10.2011. García, Jesús: Brasilia, Bajos de Ejido, Guerrero 24.9.2010.
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____: Brasilia, Bajos de Ejido, Guerrero 7.10.2011. García, Julio: Brasilia, Bajos de Ejido, Guerrero 24.9.2010. ____: Brasilia, Bajos de Ejido, Guerrero 7.10.2011. ____: Brasilia, Bajos de Ejido, Guerrero 5.4.2013. Hernández Muñoz, Hexiquio: Iguala, Guerrero 25.11.2010. ____: Palmillas, Buenavista de Cuéllar, Guerrero 29.3.2013. Hernández Muñoz, Salvador: Palmillas, Buenavista de Cuéllar, Guerrero 4.12.2011. Hernández Muñoz, Salvador: Palmillas, Buenavista de Cuéllar, Guerrero 28.3.2013. Jaímez López, José David: México D.F. 8.3.2013. Jaímez, Rubén und de León, Endir: Ecatepec de Morelos, Estado de México 7.10.2010. ____: Ecatepec de Morelos, Estado de México 3.11.2011. »José Luis und Ismael«: Ecatepec de Morelos, Estado de México 7.10.2010. de León, Endir: México D.F. 11.3.2014. León Gutiérrez, Plutarco: Iguala, Guerrero 8.11.2011. »Manuel«: Ecatepec de Morelos, Estado de México 7.10.2010. Ramírez, Tomás: Coyuca de Benítez, Guerrero 15.8.2010. ____: Coyuca de Benítez, Guerrero 8.10.2011. Villanueva Noyola, Gabriel: Ciudad Renacimiento, Acapulco, Guerrero 16.10.2010. ____: Ciudad Renacimiento, Acapulco, Guerrero 17.10.2010. ____: Ciudad Renacimiento, Acapulco, Guerrero 19.12.2010. ____: Ciudad Renacimiento, Acapulco, Guerrero 3.10.2011. ____: La Frontera, Acapulco, Guerrero 10.10.2011. ____: Ciudad Renacimiento, Acapulco, Guerrero 4.4.2013. Villanueva, Lorenzo: El Renacimiento, Acapulco, Guerrero 16.10.2010. ____: El Renacimiento, Acapulco, Guerrero 5.10.2011. ____: La Frontera, Acapulco, Guerrero 4.4.2013.
TONTRÄGER »Los Pajaritos del Sur«: Masacre en el vado, Discos Karim, 1995 ____: Chante Luna, Discos Karim, 2008 ____: Los calzones de la otra, Discos Karim, 2009 ____: Sus 15 mejores éxitos, Arce’s Imports, 2009 ____: ¡Rompiendo ma...!, Arce’s Imports, 2010 ____: Los Internacionales Pajaritos del Sur y su Pesadilla Tropical, 2010 ____: Y siguen arrazando con más éxitos, Arce‹s Imports, 2011
Musikwissenschaft Michael Rauhut
Ein Klang – zwei Welten Blues im geteilten Deutschland, 1945 bis 1990 2016, 368 S., kart., zahlr. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3387-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3387-4
Sarah Chaker, Jakob Schermann, Nikolaus Urbanek (Hg.)
Analyzing Black Metal – Transdisziplinäre Annäherungen an ein düsteres Phänomen der Musikkultur 2017, 180 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3687-1 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3687-5
Thomas Phleps (Hg.)
Schneller, höher, lauter Virtuosität in populären Musiken 2017, 188 S., kart., zahlr. Abb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3592-8 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3592-2
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Musikwissenschaft Lars Oberhaus, Christoph Stange (Hg.)
Musik und Körper Interdisziplinäre Dialoge zum körperlichen Erleben und Verstehen von Musik 2017, 342 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3680-2 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3680-6
Sylvia Mieszkowski, Sigrid Nieberle (Hg.)
Unlaute Noise / Geräusch in Kultur, Medien und Wissenschaften seit 1900 (unter Mitarbeit von Innokentij Kreknin) 2017, 380 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-2534-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2534-3
Johannes Gruber
Performative Lyrik und lyrische Performance Profilbildung im deutschen Rap 2016, 392 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3620-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3620-2
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