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German Pages 244 [245] Year 2011
Jutta Rump|Frank Schabel Stephan Grabmeier (Hrsg.)
Auf dem Weg in die Organisation 2.0 Mut zur Unsicherheit
Verlag Wissenschaft & Praxis
Auf dem Weg in die Organisation 2.0
Jutta Rump ⎪ Frank Schabel Stephan Grabmeier (Hrsg.)
Auf dem Weg in die Organisation 2.0 Mut zur Unsicherheit
Verlag Wissenschaft & Praxis
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Vorwort Langsam dringen die demografische Entwicklung und ihre tiefgreifende Bedeutung in das Bewusstsein von Organisationen ein. Fachkräfte werden mehr und mehr zur Mangelware. Um das immer rarer werdende Gut von Hochschulabsolventen entwickelt sich zwischen Unternehmen wieder ein harter Wettbewerb, in dem sehr viel Geld investiert wird. Employer Branding heißt das neue Zauberwort. Doch damit nicht genug: Es ändern sich nicht nur die harten Fakten und die Umwelt, in der Unternehmen agieren, sondern auch die Bedürfnisse der Mitarbeiter. Work-Life-Balance und selbstbestimmtes Arbeiten stehen auf deren Liste ganz weit oben – in der Regel sind ihnen diese Punkte wichtiger als die Höhe des Gehalts. Es gilt – gerade für Mitarbeiter, die auch Eltern sind – mit den Lebensumständen konform gehende Arbeitsstrukturen bereitzustellen. Genauso gilt es für ältere Mitarbeiter adäquate Lösungen zu finden im Sinne einer lebensphasenorientierten Personalpolitik. Und das Umgehen mit fünf Wertegenerationen innerhalb ihrer Organisation ist für Unternehmen ebenfalls keine triviale Aufgabe. Es gibt also jede Menge Themen, die Organisationen in den nächsten Jahren beschäftigen. Dabei stellt sich allen Unternehmen die Frage, ob sie diesen tiefgreifenden Wandel über sich ergehen lassen oder aktiv gestalten und ihn früh aufgreifen. Aktiv gestalten bedeutet, diese aufkommenden Themen ernst zu nehmen und nach Lösungen bzw. Wegen zu suchen. Hier bieten sich Unternehmen Ansätze, die wir bereits aus dem Internet und dessen ständiger Weiterentwicklung kennen. Von Open Source über Web 2.0 und Enterprise 2.0 bis hin zum Thema Social Media zieht sich ein roter Faden bzw. mehrere rote Fäden: Hierarchien verlieren an Bedeutung. Bei der zunehmenden Vernetzung von Menschen spielen sie kaum mehr eine Rolle. Dies gilt auch für die Kommunikation, die künftig nicht mehr von oben nach unten verläuft. Vielmehr kommuniziert und kommentiert jeder Mitarbeiter die Geschehnisse in seinem Unternehmen, was die Transparenz enorm steigert. Und last not least wird selbstbestimmtes Arbeiten und Job Enrichment ein immer wichtigerer Aspekt.
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VORWORT
Organisation 2.0 in unserem Verständnis ist folglich eine Organisation, die vernetzt statt hierarchisch strukturiert ist, in der Mitarbeiter ihre Arbeit selbstbestimmter gestalten, in der Führung nicht kontrolliert, sondern den Rahmen setzt und in der Kommunikation nach allen Richtungen fließt. Wenn wir oben von Employer Brand sprachen, hier genau hat sie sich zu bewähren und ihre Verheißungen im Unternehmensalltag einzulösen. Sonst stimmen die begehrten hoch qualifizierten Mitarbeiter mit ihren Füßen ab und suchen nach neuen Betätigungsfeldern. Fertige Lösungen gibt es in dieser Welt nicht mehr – die skizzierten Prinzipien der 2.0-Welt dienen eher als Raster, wohin die Organisationsreise langfristig gehen wird. Langfristig, weil die Welt von heute noch völlig anders verläuft. Hierarchien sind nach wie vor ein zentrales Element in den noch sehr statischen Ablauf- und Aufbauorganisationen, die sich erst langsam auflösen. Dazu zählen auch die standardisierten Prozesse, die über Jahre hinweg entwickelt und eingeführt wurden. Und natürlich bedarf es in einer Organisation 2.0 vor allem eines kostbaren Gutes – Vertrauen. Heute prägt aber noch Kontrolle und Disziplin viele Unternehmen. In unserem Buch geht es um mögliche Ansätze für Unternehmen, wie sie den Weg in diese neue Welt der Organisation 2.0 beschreiten. Aus unserer Sicht sollten Unternehmen auf vier Handlungsebenen agieren. Zum einen auf der Ebene der Mitarbeiter, deren Wertewandel aufgegriffen werden muss und der gleichzeitig die demografischen Implikationen im Blick hat. Zum zweiten in Bezug auf die Führung, die auch in einer Organisation 2.0 eine bedeutende Rolle spielt, aber unter anderen Prämissen. Organisationsstrukturen wesentlich variabler und geschmeidiger zu gestalten sowie die verkrusteten Formen aufzuweichen, ist der dritte Punkt. Und zuletzt – als viertes Handlungsfeld – gilt es, die Kommunikation auf andere Beine zu stellen und den Duktus der Social Media auch in Unternehmen aufzugreifen. Bei allen Handlungsfeldern und praktischen Lösungen – entscheidend ist und bleibt die Offenheit der jeweiligen Organisationskultur. Dazu gehört der Mut zum Risiko oder besser: zum Beschreiten unsicherer Wege, ohne Erfahrung und Wissen, wohin die Reise führt.
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VORWORT
Die Beiträge in diesem Buch setzen auf der bestehenden Organisationswelt auf und spiegeln auf deren Basis eine mögliche Organisation 2.0 auf diesen vier skizzierten Handlungsebenen wider. Sie bieten Facetten und erste Elemente. Wir erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder ein komplettes Bild. Insofern wird das Modell eines Herausgeberbuchs, das viele Beiträge unter einem Dach bündelt, der Thematik mehr als gerecht. Kein geschlossenes Modell, sondern pragmatische und offene Wege kennzeichnen die Organisation 2.0. Wir bedanken uns vielmals bei den Autoren der Fachbeiträge für Ihre spontane und unbürokratische Mitarbeit an diesem Buch. Wir wünschen Ihnen eine hoffentlich anregende Lektüre auf dem Weg in die Organisation 2.0. März 2011 Prof. Dr. Jutta Rump, Frank Schabel, Stephan Grabmeier
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Inhalt Einführung in die Organisation 2.0 ........................................................ 11 1
Organisation 2.0 oder: Die Uneinheitlichkeit der Unternehmenswelt ...13 von Jutta Rump und Frank Schabel
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Mit neuen Regeln im System beginnt ein neues Spiel..........................22 Interview mit Thomas Sattelberger und Peter Kruse
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Organisation 2.0 – Plädoyer für eine durch Kultur gesteuerte Organisation......................38 von Bernd Schmid und Susanne Ebert
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Forschungsschwerpunkt: Employability..............................................53 von Jutta Rump und Silke Eilers
Führung .............................................................................................. 71 5
Führungskräfte werden „soziale Architekten“ .........................................73 Interview mit Anja Förster und Peter Kreuz
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Organisationen als „fluide“ Systemstrukturen verstehen und führen .....77 von Susanne Quistorp
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Remote Management......................................................................89 von Hartmut Hillebrand
Human Resources ................................................................................ 99 8
Gesellschaft und Unternehmenswelten im demografischen Wandel...101 von David Alich
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Die jüngere Generation in der Arbeitswelt.......................................118 von Jutta Rump und Silke Eilers
10 Strategie für die Zukunft: Die lebensphasenorientierte Unternehmens- und Personalpolitik ................................................131 von Jutta Rump, Silke Eilers und Gaby Wilms
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INHALT
Neue Organisationsformen ................................................................. 141 11 Klare Organisationsstrukturen, klare Strategie ................................143 Interview mit Jürgen Heindl 12 Innovation durch Vernetzung von Know-how ...................................148 von David Alich 13 Open Innovation in der Organisation 2.0.......................................160 von Stephan Grabmeier und Helge Wangler 14 Virtuelle Teams – Zukunft oder überholte Vergangenheit? Ein Praxisbericht ...........................................................................176 von Ina Arndt-Fabian Kommunikation und Arbeitsformen ...................................................... 185 15 Unternehmenskommunikation 2.0..................................................187 von Thomas Nonnast 16 Digital Residents – Ich mache mir die Welt wie sie mir gefällt ...........197 Interview mit Jonathan Imme 17 „Im Dunkel des gelebten Augenblicks“ – Zwischen ubiquitärer Erreichbarkeit und den nötigen Grenzen der Verfügbarkeit ...............204 von Welf Schröter 18 Blogs in der Unternehmenskommunikation ..........................................215 von Nils König Ausblick ............................................................................................ 231 19 Organisation x.0 – Leben und Arbeiten in 2020.............................233 von Sven Gábor Jánszky
Aus Gründen der Lesbarkeit wird in den folgenden Artikeln auf die weibliche Form verzichtet. Gemeint sind aber immer beide Geschlechter. 10
Einführung in die Organisation 2.0
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Organisation 2.0 oder: Die Uneinheitlichkeit der Unternehmenswelt
von Jutta Rump und Frank Schabel Dr. Jutta Rump ist Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Internationales Personalmanagement und Organisationsentwicklung an der Fachhochschule Ludwigshafen. Daneben leitet sie das Institut für Beschäftigung und Employability IBE, das den Schwerpunkt seiner Forschungsarbeit auf personalwirtschaftliche, arbeitsmarktpolitische und beschäftigungsrelevante Fragestellungen legt. Sie hat darüber hinaus zahlreiche Mandate auf regionaler und nationaler Ebene inne. Frank Schabel ist Leiter Marketing/Corporate Communications der Hays AG und verfügt über langjährige Führungserfahrung in Marketing und Kommunikation. Er ist Mitherausgeber des Fachbuchs „Intellectual Capital und Kommunikation“, Wiesbaden 2006.
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1. Ausgangslage – Wo stehen Unternehmen? Zunehmend befinden sich Unternehmen in einer Sandwich-Position. Denn sowohl in ihrer Binnen- als auch in ihrer Außenwelt geraten sie unter Spannung. In ihrer Außenwelt sorgen die globalisierten Märkte für einen steigenden Wettbewerbsdruck. In immer kürzeren Zeiträumen müssen Unternehmen innovative Produkte und Services bieten, um im Wettbewerb zu bestehen. Verbunden mit hoher Unsicherheit: Durch die Digitalisierung von Produkten und Abläufen sowie die Etablierung neuer Wertschöpfungsnetze entstehen ständig neue Geschäfts- und Preismodelle, die Märkte binnen weniger Jahre komplett verändern. Denken wir beispielsweise an die Firma Apple, die über den iPod den Musikverkauf auf neue Füße gestellt hat. Keine Organisation kann sich diesen Entwicklungen entziehen, denn die globale Vernetzung führt zu gegenseitigen Abhängigkeiten. Kleine Veränderungen in Asien führen schnell zu Eruptionen in Europa, die hier heftiger ausfallen können als am Ausgangspunkt. Gerade die letzte Krise hat eindrucksvoll demonstriert, wie weit die globale Wirtschaft auf der Waren- und der Finanzebene bereits fortgeschritten ist. Die andere Sandwich-Seite, die Druck auf Unternehmen ausübt, ist ihre innere Welt. Die Bedürfnisse der jüngeren Mitarbeiter an ihre berufstätige Rolle wandeln sich. Sie wollen sich nicht mehr in standardisierte Prozesse pressen lassen, sondern erwarten Arbeitsformen und -zeiten, die im Einklang mit ihrem gesamten Leben stehen. Hinzu kommt die steigende Heterogenität der Mitarbeiterschaft. In vielen Unternehmen gibt es mittlerweile bis zu fünf Generationen, die über völlig unterschiedliche Wertesysteme verfügen und deren Auffassungen von Disziplin, Arbeit und Kommunikation oft diametral entgegengesetzt sind. Diese komplexen Wertewelten auszusteuern und ins Lot zu bringen, verlangt von Unternehmen eine hohe Sensibilität – Reißbrettmodelle helfen hier nicht mehr weiter. Und natürlich wird die Veralterung ihrer Mitarbeiter die Unternehmen immer stärker herausfordern. Zum einen gilt es, das hohe Potenzial älterer Mitarbeiter besser auszuschöpfen und zum anderen die immer rarer werdenden hoch qualifizierten jungen Menschen zu gewinnen und zu binden. 14
1 DIE UNEINHEITLICHKEIT DER UNTERNEHMENSWELT
Die hohe Pluralität und Heterogenität ihrer Binnenwelt sowie der zunehmende Druck der globalisierten Märkte stellen Unternehmen vor die Herausforderung, adäquate Lösungen zu finden. Um diesen Komplexitätsdruck abzufedern und aufzufangen, bedarf es beweglicher, schneller, agiler und flexibler Strukturen. Die bisherigen Organisationsmuster, die durch Standardisierung, definierte Prozesse und Workflows gekennzeichnet sind, bieten hier keine passende Lösung. Mit ihren immer noch klassischen Ablauf- und Aufbauorganisationen bilden sie das hohe Markttempo und die komplexe Welt nicht mehr hinreichend ab.
2. Offener Ansatz oder die Unbeherrschbarkeit und Widersprüchlichkeit In dieser unsicheren und sich stetig ändernden Welt stehen Unternehmen in dem ständigen – und eigentlich nicht lösbaren – Widerspruch, die vorgefundene Komplexität zu reduzieren und sie gleichzeitig zu akzeptieren. Denn schlichte, eindimensionale Lösungen werden der komplexen Innen- und Außenwelt der Organisationen nicht mehr gerecht. Was heißt dies nun für ihre innere Haltung und kulturelle Disposition: •
•
Für Unternehmen ist ihre Zukunft nicht mehr planbar und einfach herzuleiten. Sie benötigen eine grundsätzliche Offenheit für Risiken und Ungewissheiten. Feste Organisationswelten mit verlässlichen Sicherheiten gehören der Vergangenheit an. Es wird keine eindeutigen, klar fassbaren Entwicklungen geben, sondern sich teils widersprechende, ambivalente Tendenzen. In dieser Ungleichzeitigkeit von Entwicklungen werden sich Organisationen zunehmend 15
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bewegen. Während sich die produktionsnahen Bereiche weiter in tayloristischen Welten bewegen, organisieren sich andere Unternehmensbereiche selbst. Aus der technischen Welt kennen wir den Begriff Hybrid – vielleicht sprechen wir in den nächsten Jahren auch von hybriden Organisationen, in denen unterschiedliche Systeme unter dem Dach eines Unternehmens miteinander kombiniert werden. •
•
Die Entwicklungen des Social Web (Web 2.0) werden sich auch auf der Ebene der Organisationen ausbreiten. Dabei verändern sich die kulturellen Muster – sowohl in Bezug auf ihre Mitarbeiter als auch auf Kunden und Geschäftspartner: Vertrauen statt Kontrolle, Selbstorganisation statt Disziplin, Dialog statt Monolog, Individuum statt Taylorismus – das, was im Web 2.0 bereits zum Teil gelebt wird, fließt in Organisationen ein und verändert deren Gestalt. Sich selbst steuernde, selbstreflexive Systeme werden künftig nicht nur in akademischen Zirkeln diskutiert, sondern die Praxis der Organisation 2.0 mitprägen. Hierarchische und zentralistische Steuerungssysteme sind auf sich ständig beschleunigenden Märkten schlicht zu langsam sowie schwerfällig und die Unternehmensführung meist zu weit weg vom Marktrhythmus. Hier gilt es, Rahmen für diese Systeme zu erzeugen.
3. Handlungsfelder Nichtsdestotrotz haben Unternehmen Optionen, um ihre Sandwich-Position konstruktiv auszubalancieren – sowohl im täglichen Geschäft als auch langfristig. Aus unserer Sicht sind es vier Handlungsfelder, auf denen die Organisation 2.0 agieren sollte: •
Mitarbeiter
•
Führung
•
Kommunikation
•
Organisationsstrukturen
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Es bedarf engagierter Mitarbeiter, die ihre individuellen Kompetenzen und ihren Wunsch nach Work-Life-Balance sinnvoll mit den Zielen ihrer Organisation verknüpfen. Führung muss diese Individualisierung ausloten und in Einklang mit den Zielen des Gesamtunternehmens bringen. Hierzu bedarf es einer hohen Transparenz und Klarheit in der Kommunikation, die nicht mehr von oben nach unten funktioniert, sondern sich in verschiedene Richtungen vernetzt. Die Organisation verabschiedet sich damit von ihren alten Mustern und lässt mehr Offenheit und Selbststeuerung zu. Diese vier Handlungsfelder verfügen über hohe wechselseitige Interdependenzen. Ein stärkeres Eingehen auf die individuellen Bedürfnisse der Mitarbeiter erzeugt flexiblere Strukturen und Arbeitsabläufe. Dies kann nur durch eine vermittelnde und moderative sowie situative Führung geregelt werden, die offene Kommunikation anbietet und keine festen Muster und strikte Anweisungen. Dieser dialogorientierte Stil verändert wiederum die Prozesse in Unternehmen. Das heißt, die gesamte Organisation verändert sich, wenn auf einem der vier Handlungsfelder agiert wird und diese Verschiebungen verfestigen sich dann in der Unternehmenskultur. Denn letztere saugt diese Änderungen ständig auf und spielt sie bis in die feinen Verästelungen der Organisation hinein. Dadurch verändern sich Mentalitäten, Verhaltensweisen und Kommunikationsformen.
3.1
Die Mitarbeiter
Die demografische Entwicklung und der Wertewandel werden diese Entwicklung vorantreiben: Mitarbeiter entscheiden künftig mit, in welcher Menge und an welchem Ort sie arbeiten. Zum Beispiel ob sie eine längere Auszeit nehmen, für einige Monate nur zu 50 Prozent arbeiten oder sich künftig nicht mehr jeden Tag am Arbeitsplatz einfinden, sondern über ein Home Office arbeiten. Das heißt, eine signifikante Anzahl von Mitarbeitern wird nicht mehr täglich von 9 bis 17 Uhr an einem festen Arbeitsplatz verfügbar sein. Hier gilt: Je höher der Mehrwert, den Mitarbeiter erzeugen und je wichtiger ihr Wissen für ein Unternehmen ist, umso mehr steigt ihr Freiraum. Diese Bedürfnisse abzubilden, stellt neue Prämissen für die Personal- und Organisationsentwicklung dar. Denn mit der zunehmenden Individualisierung (gerade der für den Unternehmenserfolg entscheidenden Mitarbeiter) fallen 17
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standardisierte Arbeitsregelungen weg. Die Organisation ist gefragt, ihre Abläufe und Workflows zu modifizieren und statt Linearität nun Komplexität und Pluralität zuzulassen. In der Organisation 2.0 entsteht dadurch ein permanentes Austarieren der Interessen der Organisation und der Bedürfnisse der Mitarbeiter an eine sich je nach Lebensphase ändernde Work-Life-Balance. Neu ist, dass Mitarbeiter und Organisation ihre Interessen nicht mehr hierarchisch, sondern gleichberechtigt und partnerschaftlich regeln. Denkbar ist, dass die Organisation 2.0 verschiedene Module einführt, die von den Mitarbeitern je nach ihrer Lebenslage und ihren Bedürfnissen individuell gestaltet werden, wie z. B. Spielregeln für Sabbaticals oder Arbeitszeitreduzierungen für Eltern. Der Computerhersteller Dell hat es seinen Kunden ermöglicht, ihren eigenen PC aus vordefinierten Bausteinen selbst zu konfigurieren. Auf die Ebene der Organisation übertragen, haben Unternehmen klare Modelle mit hinterlegten Spielregeln im Portfolio, aus denen Mitarbeiter die für sie passenden nutzen, ohne dass noch über deren inhaltliche Ausstattung diskutiert werden muss. Erste Elemente werden in einigen Vorreiterunternehmen bereits umgesetzt. Hierzu zählt das Modell der lebensphasenorientierten Personalpolitik. Es orientiert sich an der jeweiligen Lebensphase der Mitarbeiter und bietet ihnen sowohl in ihrer Tätigkeit als auch in der Vereinbarkeit von Beruf und Lebenssituation geeignete Lösungen an. So können jüngere Menschen beispielsweise einen sogenannten Lebensstau, in dem sich Familiengründung, beruflicher Aufstieg und evtl. ein Hausbau verdichten, durch Arbeitszeitreduzierung über einen gewissen Zeitraum auflösen – ohne Konsequenzen für ihre Karriere. Oder ältere Mitarbeiter erhalten gesundheitsfördernde Angebote und Arbeitsplätze von ihrem Unternehmen. Eng verknüpft mit der Lebensphasenorientierung ist die dauerhafte Erhaltung der Beschäftigungsfähigkeit der Mitarbeiter, das Employability Management. Unternehmen und Gesellschaft fördern im Beruf stehende Menschen kontinuierlich über Personalentwicklung und Arbeitsorganisation etc., um deren Zukunftsfähigkeit in der Arbeitswelt zu sichern. Umgekehrt ist die Bereitschaft und innere Motivation der Mitarbeiter gefragt, aktiv dabei mitzuwirken, ihre Fähigkeiten zu erweitern und lebenslang zu lernen. In diesem Zusammenspiel entsteht in den unsicheren Arbeitswelten Orientierung: das Wissen um die eigenen Kompetenzen. 18
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3.2
Führung
In der Organisation 2.0 kommt der Führung – trotz oder gerade wegen – der sich zunehmend selbst steuernden Systeme eine hohe Bedeutung zu. Sie wird auch nicht durch Netzwerke und Schwarmmodelle ersetzt. Vielmehr zeigt sich: Je ungewisser die Welt der Unternehmen wird, umso höher steigt das Bedürfnis nach Halt und Leitplanken. Partizipative Führung bietet in unsicheren Zeiten mit permanent wachsender Komplexität zu wenig Orientierung. Als Führungskraft Leitplanken zu setzen bedeutet, transparente Kommunikation sowie eine eindeutige Sprache zu realisieren. Führung ist – erst recht in der Organisation 2.0 – eine kommunikative Rolle: Künftig werden Mitarbeiter nicht mehr mit Sprechblasen und trivialen Aussagen motiviert, sondern mit ungeschminkten Aussagen. Denn über Social Media bewerten Mitarbeiter ohnehin extern, was intern geschieht – vor allem wenn die Diskrepanzen zwischen dem Hochglanz der Arbeitergebermarke und der De-facto-Realität zu groß ist. Zudem übernehmen Führungskräfte in der Organisation 2.0 zunehmend die Aufgabe der Personalentwicklung vom HR-Bereich. Sie sind näher an den Bedürfnissen der Mitarbeiter dran und haben in den Teams die wachsenden Anforderungen der Mitarbeiter an eine lebensphasenorientierte Personalpolitik konstruktiv zu lösen. In jedem Fall werden Führungskräfte in der Organisation 2.0 eine hohe Ambiguitätstoleranz benötigen und je nach Individuum und nach Situation unterschiedlich zu führen haben, ohne ihre Konsistenz und Glaubwürdigkeit zu verlieren. Ein Spagat, bei dem ein hohes Maß an Selbstreflexion über die eigene Rolle und zudem eine transparente Rückspiegelung dieser eigenen Widersprüchlichkeit an die Mitarbeiter hilft.
3.3
Kommunikation
Durch das interaktive Web 2.0 dankt die eindimensionale Verlautbarungskommunikation in Unternehmen ab. Mitarbeiter sind es durch die Social Media mehr und mehr gewohnt, Feedback zu geben und erwarten darauf auch Antworten. Inkonsistente Unternehmensaussagen werden binnen Minuten konterkariert und im öffentlichen Internet in Foren oder virtuellen sozialen Netzwerken diskutiert. 19
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Damit verliert die Unternehmensspitze die Herrschaft über Kommunikation. Der Glaube, sie könne die Kommunikation von oben steuern und kritische Themen verschweigen, ist im Web 2.0 Geschichte. Dies hat zur Folge, dass in der Organisation 2.0 eine Kommunikation entsteht, die durch Dialog und Interaktion geprägt ist statt von monatlichen Vorstandmails. Zudem wird in der Organisation 2.0 differenzierter kommuniziert. Es gilt, sowohl die unterschiedlichen internen Mitarbeiterzielgruppen der verschiedenen Wertegenerationen als auch die atomisierten Kundenzielgruppen angemessen – d. h. relevant – anzusprechen. Zu grob geschnittene Kommunikation, welche die Zielgruppe nicht „abholt“, scheitert. Eine klare Kommunikation bedeutet auch, dass vorgestanzte und ideologisch aufgeladene (gleichzeitig entleerte) Begriffe nicht mehr gefragt sind. Mitarbeiter wie Kunden verlangen eine schlichte, frische und direkte Sprache, die sich Themen konkret annimmt und sich nicht in abstrakten Sprachwelten bewegt.
3.4
Organisationsstrukturen
Aufgrund der vernetzten und globalisierten Welt mit den sich laufend verändernden Geschäftsmodellen und dem permanenten Wachstum an Wissen müssen Unternehmen ihre Organisationen ständig neu ausrichten. Den Aufbau und Ablauf einer Organisation in Beton zu gießen, um dadurch eine hohe Effizienz und Standardisierung zu erreichen, ist in dieser Welt kontraproduktiv. In der alten Organisationswelt wären Unternehmen dann mit einem endlosen Business Process Reengineering beschäftigt – ohne Aussicht, die Organisation stets auf der Höhe der jeweiligen Zeit zu halten. Eine stärkere Ausrichtung auf zeitlich befristete Projekte, die sich eines klar umrissenen Themas oder Ziels annehmen, bietet hier eine adäquate Form. Die betriebliche Projektwirtschaft ist viel beweglicher und marktnäher. Zudem passt sie sich an die gestiegene Wissensdynamik an. Steht z. B. die Entwicklung eines neuen Produktes oder eines neuen Services an, werden die für diese Aufgabe benötigten Mitarbeiter aus verschiedenen Unternehmensbereichen in diesem Projekt eingesetzt. Denn die Komplexität der Aufgabe eines Projekts verlangt, dass das Projektteam diese über seine Kompetenzen und 20
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Erfahrungen abdecken kann. Mit dieser stärkeren Konzentration auf die betriebliche Projektwirtschaft dankt die Ablauf- und Aufbauorganisation jedoch nicht ab. Beide Formen haben ihre je eigene Berechtigung. Nur werden wir eine buntere Organisationswelt erleben, in der beide Formen nebeneinander existieren. Hier gilt es auszusteuern, wie beide Welten vermittelt werden und sich in Richtung einer hybriden Organisation bewegen können. In der Organisation 2.0 wird zudem das Modell des atmenden Unternehmens weiter an Bedeutung gewinnen, da es als Ergänzung zur Projektwirtschaft ebenfalls eine hohe Geschmeidigkeit und Nähe zu den aktuellen Entwicklungen im operativen Geschäft ermöglicht. In diesem atmenden Unternehmen gibt es einen harten, festen Belegschaftskern mit hoher Stabilität. In einem zweiten Kreis um diesen Kern herum werden zeitlich befristet für anstehende Projekte und Themen externe Spezialisten oder hoch qualifizierte Zeitarbeiter eingesetzt, deren Wissen inhouse nicht verfügbar ist. Den dritten Kreis bilden je nach Konjunktur- und Auftragslage gering qualifizierte Zeitarbeiter für unterstützende Aufgaben, meist in der Produktion. Das atmende Unternehmen bewegt sich folglich ständig und passt sich seiner Umwelt an, indem es zyklisch aufnimmt und abgibt.
4. Unternehmenskultur als Klammer Halten wir fest: die Organisation der Zukunft bewegt sich in einer pluralen und von hoher Unsicherheit geprägten Welt, in der die alten Säulen fester und standardisierter Abläufe sowie Strukturen nicht mehr greifen. Auf den Ebenen der Mitarbeiter, der Führung, der Kommunikation und der Strukturen kann die Organisation handeln, um ihre inneren und äußeren Spannungsfelder auszutarieren. Dieser dauernde Balanceakt gelingt, wenn die Unternehmenskultur offen ist, Unsicherheit zulässt und Selbstreflexion ermöglicht. Dann trägt sie die neuen Justierungen mit und verankert sie mental in der gesamten Organisation. In diesem Sinne wirkt die Unternehmenskultur als zentrale Weichenstellung, indem sie Änderungen mitträgt oder blockiert und damit verpuffen lässt. Auf der kulturellen Ebene entscheidet sich also die Zukunft der Organisation 2.0 und damit die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens.
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Mit neuen Regeln im System beginnt ein neues Spiel
Interview mit Thomas Sattelberger und Peter Kruse Thomas Sattelberger (1949) ist seit 2007 Personalvorstand der Deutschen Telekom AG. Vorhergehende berufliche Stationen waren Continental AG, Deutsche Lufthansa AG und Daimler Benz AG. Seine Schwerpunkte liegen in der strategischen Ausrichtung der Personalarbeit, dem globlalen Talentmanagement sowie dem internationalen Arbeitskostenmanagement. Prof. Dr. Peter Kruse ist geschäftsführender Gesellschafter der nextpractice GmbH und Honorarprofessor für Allgemeine und Organisationspsychologie an der Universität Bremen. Sein Fokus liegt auf der Entwicklung von neuen Ansätzen zur Förderung und Nutzung kollektiver Intelligenz und zur Professionalisierung von Unternehmertum im Zeichen eines stabilisierenden Kulturaufbaus.
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2 MIT NEUEN REGELN IM SYSTEM BEGINNT EIN NEUES SPIEL
Was heißt Enterprise 2.0 für Sie? Kruse: Enterprise 2.0 ist eigentlich gar nicht so ein wirklich brauchbarer Begriff. Ich denke, es geht vielmehr um Vernetzung. Und diese Vernetzungsidee, die Idee, dass man kollektive Intelligenz in Firmen nutzt, ist ja nicht mit dem Web 2.0 entstanden. Die gibt es schon sehr lange. Sie wird heute durch das Web 2.0 nur aktueller und brisanter denn je. Sattelberger: Das sehe ich genauso. Nur die strukturelle und kulturelle Dynamik, die durch Web 2.0 entstehen kann, ist eben eine ganz andere als die, die wir bisher kennen. Das gleiche gilt für die durch die Vernetzung entstehende Komplexität. Im Grunde geht es um die Frage: Wie schaffen es Einheiten nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb der legalen Grenzen eines Unternehmens, sich effizient zu vernetzen und zusammen zu arbeiten. Eine neue Art von Arbeit in flüssigen Strukturen. Kruse: Wir leben in einer Welt, die sich immer stärker vernetzt. Und Web 2.0 wirkt da wie ein Turbolader. Wir können es uns immer weniger erlauben, das zu ignorieren. Es gibt eine gewachsene Notwendigkeit, sich mit dem Thema ganz neu auseinanderzusetzen. In dem Moment, wo man sich dieser Web 2.0 Tools bedient, muss man sich als Unternehmen auch gleichzeitig nach außen öffnen, oder? Sattelberger: Ja, natürlich. Manchmal sage ich sehr hart, dass große Unternehmen eigentlich die letzten bolschewistischen Organisationen sind. Sie haben es oft über viele Jahrzehnte geschafft, sich fast umweltresistent abzuschotten. Diese Abschottungsmöglichkeit wird heute immer geringer. Auf der einen Seite, weil sich die Unternehmen für Neues öffnen möchten, auf der anderen, weil sie gar nicht mehr anders können. Kruse: Das ist richtig. Organisationen haben immer die Tendenz, sich abzuschotten, das entspricht ihrer inneren Logik: Man hält eine Kultur stabil, man hält Wertemuster stabil und grenzt dadurch die eigene Identität ab. Das wird aber heute in Netzwerken ungleich schwieriger. Unternehmen haben in den letzten zwei, drei Jahrzehnten sehr stark ihre Prozesse optimiert. Plötzlich steht das Thema Innovation im Mittelpunkt. Und Innovation funktioniert in Netzwerken deutlich besser als in hierarchischen 23
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Strukturen. Wenn es um den Teil der Kreativität und der Invention der neuen Idee geht, dann brauchen wir Netzwerke, müssen uns also öffnen. Im Bereich der Umsetzung brauchen wir Hierarchie. Wir können gute Ideen in einer Hierarchie gut umsetzen, aber die gute Idee zu bekommen, das ist eine klassische Netzwerkfunktion. Sattelberger: Ich würde dem noch hinzufügen, dass der Charakter des „Wandels“ sich stark verändert. Während es früher inkrementeller Wandel war, ist es heute ein Wandel, der weder in Intensität noch in Komplexität vorhersehbar ist. Man kann sich nicht schulbuchmäßig darauf vorbereiten. Und Netzwerkorganisationen sind einerseits einfach „elastischer“ im Auffangen dieses Veränderungsdrucks und andererseits aufgrund ihrer Multiperspektivität „antwortfähiger“. Es kommt noch etwas dazu: Viele Menschen agieren heute sehr viel stärker als Freelancer, als eigene Unternehmer. Die Zahl derer, die sozusagen die „loyalen Soldaten sind“, also einem Unternehmen unkonditioniert treu verbunden sind, nimmt mehr und mehr ab. Kruse: Das ist eine interessante Feststellung. Für welche Bereiche trifft das zu? Ist es tatsächlich so, dass sich „Freelancer“ heute in Bereiche hineinbegeben, in denen das früher nicht möglich war? Sattelberger: Das ist für mich einerseits ganz eng mit dem zunehmenden Akademisierungsschub verbunden und andererseits mit der Begehrlichkeit nach „hot skills“. Die Entscheidung, ob ich Mitglied in einer „Trutzburg“ oder im Netzwerk werde, geht im Trend ganz klar hin zu Gunsten der Netzwerke. Für mich als hoffentlich progressiven Manager in einem Großunternehmen ist die Frage erstens: Wie viel „Freelancer-Geist“ wollen wir ins Unternehmen reinlassen. Und zweitens: Wie viel Unternehmer gibt es heute schon im eigenen Unternehmen? Gibt es überhaupt ausreichend Spielräume? Ist die Konzern- mit der Unternehmerlogik vereinbar? Sind Großkonzerne nicht per se Effizienz- und Umsetzungsmaschinen? Ich bin mir nicht ganz sicher! Kruse: In den letzten Jahrzehnten konnten wir für einen Großteil der Mitarbeiter sagen, dass sie sozusagen in der Firma, im Unternehmen sozialisiert wurden. Es galt der Spruch: einmal Daimler, immer Daimler! Das Unternehmen war ein Kulturraum, in den die Mitarbeiter hineinwuchsen. Heute ist die große 24
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Frage: Wie können Unternehmen Kulturen erzeugen, die in sich flexibel genug sind, um die Mitarbeiter immer wieder neu an sich zu binden. Gerade auch dann, wenn sie NICHT eine Sozialisation miteinander teilen, wenn sie keine gemeinsamen Basiswerte verinnerlicht haben. Wie schaffen Unternehmen es dann, dieses Gefühl der Identität zu erzeugen? Sattelberger: Sie haben dazu das Stichwort schon selbst gegeben: Die berufliche Identität ist etwas anderes als die organisatorische Identität, als die Firmenloyalität. Ich vermute daher, dass wir in Teilen eine Renaissance der mittelalterlichen Zünfte erleben. Unternehmen müssen Heimatbeziehung für Profis und professionelle Communities entwickeln. Kruse: Also eine Art von Identität, die sich an meine Professionalität knüpft, nicht an die Firma, in der ich arbeite. Aber dann stellt sich die Frage, wie sich ganz unterschiedliche Identitäten für einen Zeitbereich miteinander finden lassen, wie schnell Aushandlungsprozesse der geteilten Werte stattfinden können? Unternehmen haben nicht mehr die Zeit, ihre Kultur wachsen zu lassen, sondern Unternehmen müssen sich Gedanken darüber machen, wie sie Abstimmungsprozesse zwischen diesen verschiedenen Professionen beschleunigen. Und da wird dann Enterprise 2.0 wichtig. Ich glaube, dass die Werkzeuge, die dort zur Verfügung stehen, diese Prozesse tatsächlich beschleunigen können. Sattelberger: Da bin ich ganz bei Ihnen. Web 2.0 und/oder Enterprise 2.0 werden nicht nur die Prozesse beschleunigen, sie werden sie auch transparenter machen. Was bedeutet dies für ein Unternehmen wie die Deutsche Telekom AG? Kruse: Die Sichtbarkeit dessen, was eine Firma in dieser Gesellschaft tut, ist mit den Netzen gewaltig gestiegen. Heute wird alles beobachtet – und es wird von jedem beobachtet. Menschen begreifen sich sozusagen als Kommentatoren von Firmengeschehen und erzeugen damit eine Sichtbarkeit der Verhaltensweisen und Grundwerte einer Firma, die es in dieser Form vorher nicht gab. Unternehmen können sich heute einer Diskussion um ihre Tätigkeiten nicht mehr entziehen, sie stehen in einem anderen Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitskontext.
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Sattelberger: Das ist eine interessante Frage: Verhalte ich mich wie ein scheues Reh im grellen Scheinwerferlicht oder weiß ich, dass enthüllende Transparenz eine natürlich wachsende sein wird? Dass die Unternehmung zunehmend eine für Außenstehende „nackte“ Unternehmung wird? Dass es in jeder Faser ausgeleuchtet werden kann. Die intelligenten Unternehmen werden ihre Handlungen sehr viel bewusster gestalten, die anderen wie ein Reh in Schockstarre verharren. Insofern ist das Netz eigentlich ein äußerst willkommener Beschleuniger… Kruse: Das ist die Behauptung, ja. Sattelberger: … ein Beschleuniger dessen, was gute Menschen schon immer wollten. Kruse: Das ist schön, dass sie das so sagen! Das ist ein Optimismus, den ich teile und bei dem ich mir manchmal ein bisschen blauäugig vorkomme … Manche sagen dann auch zu mir: Träum weiter, Idealist! Aber ich glaube nicht, dass hier nur der Wunsch der Vater des Gedankens ist. Ich halte die Entwicklung vielmehr für eine systemische Notwendigkeit. In den Netzen findet etwas statt, was Transparenzen von außen geradezu erzwingt. Ein Unternehmen kann das gar nicht mehr verhindern. Und das ist natürlich in dem Sinne etwas sehr Optimistisches, weil man sagt, die Systemlogik erzwingt etwas, was wir beide als wichtig unterschreiben würden. Sattelberger: Nur werden viele Unternehmen das nicht rechtzeitig erkennen. Und die notwendige Veränderung wird ihnen auf eine bittere, schwere Art und Weise abgetrotzt. Manche werden sogar dabei untergehen. Es ist plötzlich eine neue Kraft da, die von unten her die etablierten Kräfte stört und irritiert, in Frage stellt. Ein disruptiver Wandel, in sozialen Systemen. Wie die Leipziger Demonstrationen vor der Wende. Krisen, egal ob das Reputationskrisen, Marktkrisen, Produktkrisen oder Compliance-Krisen sind, schütteln ein Unternehmen durch und geben aber gleichzeitig auch die Chance, Themen ganz anders anzupacken. Wir als Deutsche Telekom AG haben sehr viel aus den Bespitzelungs- und Datenskandalen gelernt. Die haben uns kulturell wachgerüttelt. Wir sind bis in die Haarspitzen sensibilisiert. Und was unseren manageriellen Allmachtsglauben an Steuer-
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barkeit und die Kontrolle unserer Maßnahmen betrifft, sind wir in gutem Sinne skeptisch geworden. Glauben Sie, dass ein Netzwerk wie das Internet nicht einer gewissen inneren Wertigkeit folgt, die etwas mit Selbstorganisation und Freiheit zu tun hat? Glauben Sie, dass man dort langfristig ideologisieren kann? Sattelberger: Ich würde es zumindest nicht ausschließen, dass dies für einen längeren Zeitraum gelingt und damit auch großer Schaden zugefügt werden kann. Menschen sind manipulierbar. Kruse: Betrachten wir diese Aufschaukelungsphänomene, die immer häufiger auftreten. Wenn diese Hypes häufig in eine Richtung deuten, dann können wir davon ausgehen, dass sich unterschwellig ein Resonanzfeld in der Gesellschaft gebildet hat, das dieser Richtung entspricht und auch längerfristig stabil ist. Dann hätten wir eigentlich – wenn Sie so wollen – kein Ideologieproblem, wo eine kleine Gruppe etwas durchsetzt, sondern wir hätten ein Problem innerhalb der Gesellschaft. Die Gesellschaft als Ganzes hat sich für eine Richtung entschieden. Dass eine kleine Gruppe dominiert, das kann ich mir dann nicht mehr vorstellen. Sattelberger: Schwierigere gesellschaftliche Konflikte sind ja meistens Resultat oder Ausdruck schwieriger wirtschaftlicher Lagen. Also insofern glaube ich, dass solche Situationen immer kommen können. Kruse: Sagen wir, dass sie entstehen können. Aber es spricht doch auch einiges ganz klar dagegen. Nehmen wir die Entwicklung im Marketing. Die Zielgruppen der Unternehmen nähern sich immer mehr n gleich 1, also die Differenziertheit in der Grundgesamtheit der Kunden steigt. Und da, wo sich Muster ausdifferenzieren, ist es natürlich immer schwieriger, derartige Grundresonanzen zu treffen. Die wird es so einfach nicht mehr geben! Gleiches gilt für gesellschaftliche Themen. Die Wahrscheinlichkeit für eine Ideologisierung wird immer geringer. Das liegt auch daran, dass die Kommunikationsnetze uns die Gelegenheit geben, an ganz unterschiedlichen Perspektiven teilzunehmen. So ist der Sozialisationsraum nicht mehr der der jeweiligen Herkunft, sondern immer auch eine
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Teilhabe an Informationen und an Erlebnisräumen, die deutlich anders sind als meine eigene persönliche Sozialisation. Daher bin ich überzeugt, dass die Wahrscheinlichkeit von allgemeingültigen Strömungen eher sinkt – getrieben über die Netze. Die innere Logik der Netze arbeitet gegen eine solche ideologische Vereinheitlichung. Sattelberger: Diese Ausdifferenzierung sehe ich auch. Aber durch meine, sagen wir, schönen bitteren Lebenserfahrungen bin ich ein vorsichtiger Skeptiker geworden. Ich sehe mit Freude die vielen positiven Effekte des Web 2.0. Aber, ich sehe immer auch ein Stück die Schattenseiten, z. B. der Normierung, verhaltensmäßigen Einordnung, Aufschaukelung oder Massenmobilisierung für schlechte Sachen. Was ist denn zum Beispiel so eine Schattenseite von Enterprise 2.0/Web 2.0? Sattelberger: Bei Enterprise 2.0 beschäftigt mich beispielsweise die Frage der Selbstausbeutung des Menschen. Dieses unkonditionierte Sich-Hingeben für ein Thema oder für das Netz. Ich frage mich, wie kann ich Autismus verhindern und wie gelingt es mir, alle meine Lebensbereiche auszubalancieren? In den Startup-Kulturen sieht man das am deutlichsten: das sogenannte 24/7Modell der Arbeit. Für uns in einem großen Konzern müssen wir uns auch die Frage stellen, wie gehen die einzelnen Mitarbeiter mit diesem Thema um? Hat ein Unternehmen Verfügungsgewalt über seine Mitarbeiter anytime, anywhere? Bei uns im Hause haben wir eine E-Mail Policy verabschiedet, in der ausdrücklich gesagt wird, dass die Mitarbeiter das Recht haben, auf EMails am Wochenende NICHT zu antworten. Kruse: Jetzt sind wir aber bei einem sehr interessanten Punkt. Ich meine, dass wir zwei grundsätzliche Kulturmuster unterscheiden sollten: Auf der einen Seite reden wir über eine Push-Kultur, in der alles sozusagen hierarchisch durchgetaktet ist. Zielvereinbarungen, Controlling-Strukturen, es geht um Steuern und Regeln. Bewege ich mich in einer solchen Kultur, dann ist pausenlose Verfügbarkeit natürlich eine Katastrophe. Es entsteht ein permanenter Druck bei den Mitarbeitern, dem sie sich nicht entziehen können. Also in dem Moment, in dem sich ein Unternehmen mit einer Push-Kultur der neuen Medien bedient, wird es für die Mitarbeiter hart. Dann wird die Selbstmotivierung sozusagen indirekt zur fremd gesteuerten Selbstausbeutung. 28
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Sattelberger: Ja. Wir sprechen über Enterprise 2.0 unter zwei verschiedenen Perspektiven: auf der einen Seite Enterprise 2.0 in alten Konzernlogiken wie Verfügbarkeit, Steuerung, Direktive, Performance Management, und auf der anderen Seite Enterprise 2.0 als Pull-Kultur – um bei Ihren Worten zu bleiben –, also gewissermaßen Unternehmertum jung, frisch, fröhlich, frei auf der grünen Wiese. Das sind zwei ganz unterschiedliche Welten, mit denen wir uns als Unternehmen seriös auseinandersetzen müssen. Denn da hat das Web 2.0 durchaus auch potenzielle Schattenseiten. Kruse: Wenn Sie eine Unternehmenskultur haben, die nicht diesen 2.0Medien entspricht, sondern eher der alten Logik, dann steckt in diesen technischen Möglichkeiten in der Tat Missbrauchspotenzial. Ja, das stimmt. Und davor habe ich ein klein wenig Angst. Man läuft Gefahr, die positiven Aspekte zu zerstören. Und dann wird exakt die Kritik der Ausbeutung berechtigt. Es ist insofern sehr bedeutsam und wichtig, dass wir diesen Übergang von der Push- zu einer motivierenden, begeisternden Pull-Kultur einfach mit bedenken. Wie beurteilen Sie das Risiko, dass in einem Open Sourcing der Mensch sozusagen zum motivierten Tagelöhner wird, der sein intellektuelles Kapital weitergibt? Kruse: Das ist kein Risiko. Und das ist auch keine Ausbeutung des Mitarbeiters. In dem Moment, in dem ich intellektuelles Kapital in ein Netzwerk einspeise, bin und werde ich attraktiv in diesem Netzwerk. Und wo immer Sie in einem Netzwerk attraktiv sind, bekommen Sie etwas zurück. Das ist so. Sattelberger: Gilt das auch für Firmen? Kruse: Ja. Dann sind wir natürlich sehr schnell bei den Geschäftsmodellen und bei der Frage, wo das Kapital hängen bleibt, das daraus entsteht? Sattelberger: Also die Frage nach dem Wert und Gegenwert. Also auch da, glaube ich, kann die Begeisterung... Kruse: … ganz schnell einen deutlichen Dämpfer kriegen. Sattelberger: Ja.
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Kruse: Das ist richtig. Aber es gibt ja auch so gewisse Grundregeln im Netz, die dem vorbeugen. Eine davon heißt z. B. „Tit for Tat“. Gemeint ist damit, dass wenn mein Vertrauen einmal im Netz missbraucht wird, dann entziehe ich mich dem Netz. Das ist die Höchststrafe, die ich als Individuum aber auch als Unternehmen vergeben kann. Wenn ich einmal mitbekommen würde, dass mich jemand in einem fremden Verwertungskontext einfach nur ausnutzt, dann entziehe ich mich dem Netzwerk. Da wäre ich sehr, sehr sensibel. Sattelberger: Insofern ist das Arbeiten mit dem Netz und im Netz eigentlich ein Arbeiten, das auch sehr würdevoll ist. Kruse: Würdigend, gegenseitig würdigend. Man muss da sehr ehrlich und sehr offen miteinander umgehen und sich einfach klar machen, dass das Entziehen der Vernetzung tatsächlich eine Realstrafe ist. Normalerweise würde man immer fragen, woher ich im Netz Macht habe. Die Netze funktionieren da aber ganz anders. In den Netzen ist der mächtig, der einspeist, der Nutzwert stiftet. Nicht der, der Geld gibt. Und in den Netzen ist der mächtig, der als Nachfrager unterwegs ist, nicht mehr der Anbieter. Das wird dazu führen, dass Mitarbeiter – und das werden Sie wahrscheinlich in den nächsten Jahren erleben – sich ihrer Macht bewusster werden. Die Macht geht nicht nur über die Hierarchie, also Top-Down, sondern die Mitarbeiter werden sich beteiligen wollen – und wenn sie sich nicht beteiligen wollen oder sich den offenen Unternehmensprozessen verweigern, dann sitzen sie zwar noch weiter auf der Payroll, aber sie verweigern die Ideen. Und wer hat dann den Schaden? Am Ende das Unternehmen. Unternehmenskultur scheint somit zu einer zentralen strategischen Fragestellung in den Unternehmen zu werden … Kruse: …ohne Zweifel. Der Kulturbildungsprozess ist strategisch von zentraler Bedeutung. Die eben beschriebene Form von Beschäftigung mit Kultur erreicht mit den Netzwerken meines Erachtens eine neue Form von Wichtigkeit. Sattelberger: Bei Enterprise 2.0 geht es um die Rolle von Hierarchie und Macht, die Rolle von Informalität und Beziehung, die Rolle von Kollaboration, die Rolle von Öffnung nach außen. In der „neuen“ Unternehmenskultur sind
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das aus meiner Sicht Schlüsselwerte, die in der heutigen Unternehmenswelt entweder an Grenzen stoßen oder gar nicht erst zum Blühen kommen. Kruse: Im Prinzip muss diese „neue“ Unternehmenskultur zwei Treiber fördern: Zum einen muss sie den Rahmen spannen, um die Kreativprozesse zu managen, die Wissensprozesse zu öffnen und damit die maximale Kreativität unter der Hoffnung von Nicht-Selbstausbeutung aus dem System zu bekommen. Sattelberger: Das haben Sie schön gesagt. Kruse: Und der zweite Teil, muss sich mit der Tatsache beschäftigen, dass wir mit reinen Wettbewerbsmodellen nicht mehr weiter kommen. Ich glaube, dass wir in den nächsten Jahren horizontal wie vertikal ganz neue Kollaborationen zwischen Firmen sehen werden. Wir haben in den letzten Jahren die Möglichkeiten der Optimierung innerhalb einer Firma sehr weitgehend ausgeschöpft. Was ich heute bei den Firmen sehe, ist, dass das Thema Kollaboration neue Dimensionen bekommt. Firmen denken darüber nach, wie sie sowohl horizontal als auch vertikal neu zusammen arbeiten. Zum Beispiel die Integration zwischen Hersteller und Handel wird im Moment komplett neu gedacht. Früher galt das Modell, dass der Einkauf des Handels den Hersteller unter Druck gesetzt hat. Man hat maximalen Mehrwert aus dem Verhandeln von guten Preisen geschöpft. Das reicht aber HEUTE nicht mehr. Wir sind in einer Situation, in der die Menschen merken, dass sie gemeinschaftlich Marktentwicklung betreiben müssen. Und damit öffnen sich plötzlich die Firmengrenzen in Richtung auf gute Zusammenarbeit auf eine völlig neue und intensivere Art. Sattelberger: Aber dann sprechen wir im Grunde eigentlich darüber, dass auch die Form, Wettbewerb zu gestalten, sich aus einer dominanzorientierten – bis hin zum Auffressen der Konkurrenten wie in den M&A Wellen – zu einer stärker kooperationsorientierten entwickelt, zu den strategischen Allianzen und Netzwerken. Kruse: Ja. Ich glaube, dass es genau in die Richtung geht. Die neuen Techniken reduzieren die Kosten der Kollaboration ganz ungemein. Wie haben heute die technologischen Möglichkeiten, die diese Form der Zusammenarbeit fördern. Früher war das alles sehr aufwändig und es war wesentlich kostengünstiger, sich innerhalb der eigenen Firma aufzuhalten. Also Kollaboration
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wird zum wesentlichen Wettbewerbsfaktor – so absurd das im ersten Moment klingen mag. Welche Auswirkungen hat denn dieses Kulturthema auf Unternehmensführung und auf Mitarbeiterführung? Sattelberger: Da stellen Sie mir mit meinem patriarchalischen Führungsstil aber schwere Fragen. Aber in der Tat beschäftigt mich das sehr. Wie muss ich mich selber verändern? Was lasse ich zu? Oder was muss ich zulassen? Die Welt um mich transformiert sich und ich muss mich in ihr quasi verändern. Kruse: Wenn ich über Selbstorganisation und Führung rede, höre ich oft die Kritik, dass ich mich zu sehr auf der Prinzipienebene bewege und zu wenig ins Detail gehe, zu wenig konkret werde. Aber ich glaube, dass, sobald Sie über Sozialisation nachdenken, Sie die Form von Führung auf eine höhere Form der Abstraktion heben müssen. Sie haben sozusagen nicht mehr die Möglichkeit, in die operativen Details hineinzugehen, sondern es gilt da, wirklich weitgehend Freiräume zu lassen. Die Frage, die sich stellt, ist: Wie kann ich Rahmenbedingungen im Unternehmen schaffen, in denen sich die Selbstorganisation des Systems trotzdem noch auf etwas einigt. Und da sind wir auf der Werteebene. Sattelberger: Was den instrumentell ausgerichteten Personalkolleginnen und -kollegen ja oft schwer fällt. Ich bin da absolut bei Ihnen, denn es ist im Grunde eine Führung auf einer Metaebene, ja auf einer 3. Ebene über der command-and-control-Ebene, aber auch über dem Performance Contracting. Diese Ebene ist nicht einfacher, sondern schwieriger. Mich beschäftigen mehr und mehr die Fragen: Führe ich so, dass mein Verbund, der soziale Organismus, intakt bleibt? Dass Wissen dableibt und sich auch wohl fühlt. Wie divers das System sein muss, um nach außen antwortfähig zu sein. Aber auch wie stark das System von der Integrität der Akteure abhängt. Ich merke an mir, dass ich deutlich längere Reflektionsschleifen einlege mit den Menschen. Und dass Ausgänge manchmal offener sind als vorher. Kruse: Wenn das so ist, dass wir uns auf prinzipielleren Ebenen bewegen, könnten wir zumindest noch eine Hypothese wagen: Es wird immer wichtiger, dass man selbst ein Vorbild für seine Prinzipien ist – walk the talk sozusagen. Denn die Leute bewerten dann nicht mehr die operative Seite, sondern sie 32
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bewerten über diese eher wertebezogene Seite. Damit wird diese Vorbildfunktion von Führung ganz bedeutungsvoll. Nicht mehr die Fachkompetenz gilt als Führungsqualität, sondern es zählt künftig, Vorbild auf der Werteebene zu sein. Das kann dann durchaus auch einmal dazu führen, dass ein Mitarbeiter, der eigentlich in der Hierarchie weiter unten angesiedelt ist, fachlich mehr zu sagen hat als ich … Sattelberger: Und um das mitzubekommen, müssen wir Manager Mitspieler im Netz werden. Kruse: Danke schön, dass Sie es sagen. Das ist der zentrale Punkt. Die Manager müssten sich eigentlich dieser Form der Vernetzung möglichst selbstverständlich öffnen und einfach mitmachen. Nur so bekommen sie die Strömungen mit und werden als wichtiger Knotenpunkt wahrgenommen. Nur so bekommen sie die Reaktion des Netzes auf die Impulse, die sie senden. Sattelberger: Als Führungskraft führe ich Wahlkampf um die Köpfe und Herzen der anderen Netzteilnehmer. Kruse: Ja, man muss sozusagen immer wieder neu um Reputation und Resonanz werben. Sattelberger: Obwohl ihnen von oben Rolle und Positionsmacht verliehen sind, werden Manager heute mehr und mehr eigentlich faktisch von unten gewählt. Wenn sie die Stimmen Ihrer Menschen nicht mehr haben, werden sie Hülse, leerer Torso ohne Herz und Seele im Netzwerk. Und das müssen wir erkennen und akzeptieren. Wie bewegen Sie sich selbst in diesen Netzen? Haben Sie die Zeit dazu? Nehmen Sie sich die Zeit? Sattelberger: Ich bin da ganz klar auf Hilfe angewiesen. So ein Unikat wie einen blog post zu erstellen, ist ein sehr hoher Kraftaufwand. Menschen helfen mir dann z. B. Sachverhalte zu recherchieren. So schaffe ich etwas in 20 Minuten, für was ich sonst das Doppelte bräuchte. Ab und an, wenn es besonders „heiß“ ist, gehe ich persönlich rein und gebe dem Thema meinen Duktus. Nehmen wir z. B. den Blog zum Thema Frauenquote. Da habe ich an zwei Punkten thematisch interveniert. Wobei – im Nachhinein wird man ja immer klüger – ich „persönlicher“ hätte intervenieren müssen. Ich war zu 33
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sachlich, zu „staatstragend“. Ich glaube, dass die Teilhabe an der Netzkommunikation einen fordert, sehr viel direkter, kristallklarer und authentischer zu sein als in der Kommunikation, deren Stil oft propagandistisch und posaunenhaft wirkt. Und das stößt ab. Also ist auch da ein Umlernen in der Art und Weise angesagt, wie ich kommentiere und argumentiere. Kruse: Das glaube ich auch. Es geht um direkt und schnell. Wenn Sie authentisch, persönlich antworten, können Sie schnell sein. Sie haben keine internen Abstimmungsprozesse. Sattelberger: Ja. Und dann stellt sich noch die Frage, wie viel Zeit ich selbst im Netz verbringe. Im Augenblick bin ich da noch etwas zweifelnd, wie viel ich mir zumuten kann. Aber ich spüre, dass ich dabei sein muss, um spontan, schnell, direkt und authentisch zu antworten. Also muss ich meine Arbeitsorganisation überdenken. Und die ist in einem Konzern nicht immer ganz so, dass sie auf das Netz passt. Inwieweit würden Sie der These zustimmen, dass Unternehmenskultur, also Kommunikation nach innen, nur die andere Seite der Markenkultur, der Kommunikation nach außen ist? Und je besser ein Unternehmen diese Synchronisation beherrscht, desto besser agiert es auf dem Markt. Sattelberger: Ich würde es vielleicht ein bisschen moderater formulieren und sagen: Der Druck auf Synchronisierung wird deutlich höher. Organisationen sind farbig, sind vielstimmig. Im Chor muss die Melodie erkennbar sein. Kruse: Eigentlich war es ja schon immer so, dass die Marke nicht der Company gehörte, sondern den Diskursen zwischen den Kunden. Und das wird jetzt – getrieben durch die sozialen Medien – nur erst richtig deutlich. Sattelberger: Deswegen war da auch ein bisschen Zögerlichkeit in meiner ersten Reaktion auf die Frage. Ich muss ja dann die Marke wirklich authentisch haben, dass sie im Diskurs der Teilnehmer besteht. Natürlich ist eine Marke zumindest im Prozess ihres Aufbaus immer ähnlich wie die zehn Gebote. Man setzt ein Stück Anspruch und bewegt sich hoffentlich schnell auf dem Weg dahin. Aber man ist immer auch ein Stück davon entfernt. So. Und der Druck auf die Synchronisierung zwischen Anspruch und Realität wächst.
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Kruse: Ohne Zweifel. Und es steigt die Sichtbarkeit von Widersprüchen. Sie sind für jedermann sofort sichtbar. Sattelberger: Insofern reflektiert sich das Thema Enterprise 2.0 auch irgendwann in einer höheren Authentizität der Marke und hoffentlich widerspruchsärmerer Identität. Kruse: Das kann man ja sehr weit treiben. Wenn Mitarbeiter Teilnehmer in den Diskursen rund um Marke werden, dann sind sie ja tatsächlich – was früher immer vom Außendienst gesagt wurde – Botschafter der Marke. Jetzt ist nicht nur der Außendienst Botschafter der Marke, es sind alle Mitarbeiter! Die ganze Firma. Wie gehen wir damit um, wenn Einzelne Kommentare zur Firma geben und plötzlich eine Lawine losgetreten wird? Sattelberger: Würden Sie raten, damit disziplinarisch umzugehen? Kruse: Überhaupt nicht! Man muss sich aber klar machen, was man tut, wenn man die Schleusen öffnet und das Wasser fließt. Denn es ist nicht mehr sicher, wohin sich alles entwickelt. Zurückholen können Sie das Wasser nicht wieder. Sattelberger: Wenn der Pelz gewaschen wird, wird er nass. Kruse: Das ist genau der Punkt. Sattelberger: Das ist übrigens auch in Teilen meine Sorge. Wie weit werden Schleusen geöffnet. Oder, wenn sie einmal offen sind, sind sie dann eigentlich komplett offen und nicht nur einen Spalt offen... Kruse: Schwer zu kontrollieren … Sattelberger: So ist es. Insofern ist simultane Werte- und Kulturentwicklung das zentrale Thema. Wenn Management und Mitarbeiter stilvoller miteinander umgehen, wenn Vertrieb und Produktion produktiv miteinander agieren, wenn diese alltägliche Kulturarbeit ihre Früchte trägt, dann ist auch das Öffnungsrisiko geringer. Beziehungsweise selbst wenn „eine Rakete hochgeht“, wird eine Mehrheit an Menschen die Stimme erheben und sagen, wir sehen das ganz anders. Kruse: Die Erfahrung kann man tatsächlich machen. Wenn sozusagen eine resonanzfähige Grundlage im Unternehmen vorhanden ist, dann werden die 35
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Diskurse nicht skandalös. Sondern sie fangen immer an, sich selbst gegen zu balancieren. Eine Frage treibt mich noch um, die der Kosten-Nutzen-Balance. Meine Hypothese dazu wäre, dass die Menschen, die mit der Firma und für die Firma draußen im Netz unterwegs sind, ein legitimes Wahrnehmungsorgan des Unternehmens sind und dadurch auch dessen Fähigkeiten erhöhen. Was mich zu dieser Überzeugung treibt, ist der Fakt, dass diese Netze uns die Möglichkeit geben, Gesellschaftsdynamiken auf eine Art zu verstehen, die für die Firma sehr profitabel und gut sein kann. Wenn wir Mitarbeiter haben, die in diesen Dynamiken unterwegs sind, dann haben wir Menschen, die sehr markennah sind. Die einfach mitbekommen, was mit der Marke los ist. Viele Handelsunternehmen sind ganz stolz darauf, dass ihre Mitarbeiter so etwas werden wie gewünschte und gesuchte Netzwerkpartner für Kunden. Kunden gehen ganz gezielt Mitarbeiter an, die eine bestimmte Kompetenz ins Netz tragen – unabhängig von der Organisationsstruktur, die für die Firma relevant ist. Das ist sehr förderlich, weil damit eine andere Form der Darstellung stattfindet. Sattelberger: Für mich ist die digitale Marke nichts ohne die menschliche Marke, „Humans as Brands“. Das setzt voraus, dass wirklich eine ordentliche Kulturarbeit gemacht wird. Markenbotschafter können zu Markenabtrünnigen werden. Und wenn das in größerer, in kritischer Masse passiert, ist das hochgefährlich. Also insofern ist es fast ein Sog. Je stärker Menschen im Netz tätig sind, umso mehr sind wir als Manager gezwungen, die Internetdemokratie zu fördern. Kruse: Danke schön. Das ist die zentrale Aussage, die ich auch unterschreiben würde. Die Tatsache, dass wir nach draußen hin diese Netze intensivieren, erzwingt nach drinnen hin diese Art von Netzwerkkultur. Die klassischen Machtstrukturen geraten einfach ins Wanken. Und insofern wird das Thema Macht uns die nächsten Jahre heftig begleiten. Würden Sie dem zustimmen? Sattelberger: Ich habe einen lockeren Spruch auf der Lippe, der sagt: Das Meiste im Leben handelt von Sex und Liebe, Geld…und Macht – Grundtriebe und Motivationen der Menschen. Die interessante Frage wird sein, ob das 36
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Web gegen diese Genetik von Menschen ankommt, respektive im größeren Umfang Veränderung im Machtgefüge dauerhaft induzieren kann. Hat das Netz tatsächlich die Kraft dazu, menschliche Grunddynamiken zu domestizieren, oder schöner gesagt: zu sublimieren. Kruse: Wir ändern gerade grundlegend die Regeln der Kommunikation. Das muss man sich klarmachen. Wir haben früher immer eine Situation gehabt, in der der Einzelne mit seiner Kommunikation nur mächtig werden konnte, wenn er sich Verstärkungsfaktoren im Sinne von Verteilung, Massenmedien leisten konnte. Wir sind heute in der Situation, in der der Nachfrager mitunter mächtiger wird als der Anbieter. Das ist eine völlige Umkehr der Regelwerke. Und das zumindest habe ich gelernt. Wenn wir die Regeln in einem System ändern, dann beginnt ein neues Spiel. Und wenn Sie mich fragen würden, wie das Spiel endet, würde ich sagen: Lassen Sie uns erst mal spielen. Wobei ich mir aber bei Unternehmen schon sehr sicher bin: Wenn sie die Regeln nicht ändern, bekommen sie auf Dauer Probleme in den weltweit vernetzten Märkten von heute.
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Organisation 2.0 – Plädoyer für eine durch Kultur gesteuerte Organisation
von Bernd Schmid und Susanne Ebert Dr. phil. Bernd Schmid (Jg. 1946) leitet seit 1984 das Institut für systemische Beratung in Wiesloch. Er studierte Wirtschaftswissenschaften und promovierte in Erziehungswissenschaften und Psychologie. Lehrtrainer verschiedener Gesellschaften im Bereich Psychotherapie, Coaching, Supervision, systemische Beratung sowie Organisations- und Personalentwicklung. Ehrenmitglied der Systemischen Gesellschaft SG, Präsidiumsvorsitzender des Deutschen Bundesverbandes Coaching (DBVC), Hochschulrat der University of Education Heidelberg (2006 – 2010), Eric Berne Memorial Award 2007 der internationalen TA-Gesellschaft ITAA und Wissenschaftspreis 1998 der Europäischen TAGesellschaft EATA. Zahlreiche Veröffentlichungen in Schrift und Ton. Susanne Ebert (Dipl.-Päd.) ist seit 2006 Mitarbeiterin am Institut für systemische Beratung Wiesloch. Sie ist Projekt- und Seminarleiterin in den Bereichen Bildung/Weiterbildung, Coaching und Kollegiale Beratung sowie im Themenfeld Demografischer Wandel.
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1. Einleitung In der Welt scheint es bezüglich Komplexitätserhöhung und damit der Erzeugung von Steuerungsbedarf ebenso unbekümmert zuzugehen wie beim Gedicht vom Zauberlehrling. Zunächst freut man sich über die neuen Horizonte und entfesselten Kräfte, aber dann bekommt man die gerufenen Geister nicht mehr unter Kontrolle. Vielerorts werden dringend Lösungen gebraucht, um den Steuerungsbedarf, den sich Organisationen und Wirtschaftssysteme geschaffen haben, in den Griff zu bekommen. Auch bei aller Offenheit für große Organisationen und globales Wirtschaften hat man doch gelegentlich den Eindruck, dass man vielerorts nicht wirklich an Lösungen für die damit verbundenen, aber verschleppten Probleme arbeitet und bereit ist, den dafür fälligen Preis zu zahlen. Stattdessen scheint sogar eine Flucht in eine wachsende Größe von Apparaten und eine Aufblähung von Prozeduren stattzufinden. Erzeugte Steuerungsbedarfe und verfügbare Steuerungskompetenzen geraten immer mehr in ein krasses Missverhältnis. Statt Lösungen erhalten wir Potenzierungen bekannter Probleme. Wir plädieren in diesem Beitrag für einen Ansatz einer durch Kultur gesteuerten Organisation. Dazu werden wir der Frage nachgehen, inwiefern die aktuelle Lage mit einem immer noch weit verbreiteten mechanistischen Weltbild und einem entsprechenden Verständnis von Organisationen zu tun hat. Und wir bieten als Kontrast dazu Ansätze, Organisationen als lebende Organismen zu beschreiben. Wir wollen aufzeigen, dass die meisten Organisationen ohnehin nur durch komplexe persönliche Steuerungen von Menschen leistungs-, lebens- und entwicklungsfähig gehalten werden. Die Frage ist nur, ob dieser Tatsache programmatisch Rechnung getragen wird. Will man überhaupt Organisationen als lebende Organismen verstehen? Meist geschieht Perspektivenerweiterung dann, wenn wir mit einem alten Verständnis an Grenzen stoßen, dies anerkennen und Fehlentwicklungen zum Anlass nehmen, unser Weltbild zu überdenken. Krise genug haben wir heute eigentlich für einen Perspektivenwechsel. Und will man die Konsequenzen, die sich aus einer solchen Betrachtung ergeben würden, willkommen heißen?
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Manche erkennen prinzipiell an, dass eine Organisation von letztlich menschlichen Faktoren lebt und diese naturgemäß nur begrenzt kalkulierbar sind, erklärt sich aber dann für diese Dimensionen für nicht kompetent oder nicht zuständig. Dann ist nicht genug getan. Manchmal hört man den Einwand, dass spätestens ab einer bestimmten Organisationsgröße der Mensch als Hauptfaktor der Organisation nicht mehr wirklich berücksichtigt werden kann. Dass große Organisationen große Herausforderungen bezüglich menschlicher Steuerung bedeuten, stimmt in der Regel. Und je größer Organisationen werden und je mehr Komplexität sie zu bewältigen haben, umso mehr brauchen sie intelligente menschliche Steuerung. Statt hier zu kapitulieren, brauchen wir komplexe Maßnahmen, um Steuerung durch Menschen zu verbessern. Aus durchaus vorhandenen Erfahrungen müssen Programme gemacht und diese auch auf Großorganisationen zugeschnitten werden. Stellt man sich dieser Herausforderung, dann kommt die Steuerung durch Menschen, global und strategisch einerseits sowie lokal und situativ in Millionen von zu koordinierenden Varianten andererseits, als Beschreibungs- und Gestaltungsaufgabe ins Blickfeld. Programme zur Pflege eines durch Menschen gesteuerten komplexen Organismus’ kann man nicht allein mit mechanistischem Denken auflegen. Sondern die bewusst-methodische, instrumentelle Steuerung muss mit der unbewusst-intuitiven Steuerung durch Menschen mit unübersehbarer Diversität kombiniert werden. Dies geht nur durch Konzepte, mit deren Hilfe die Selbststeuerung von Menschen und ihr Zusammenwirken beschrieben und gestaltet werden können, ohne dass alle dabei mitwirkenden Faktoren letztlich berücksichtigt oder auch nur verstanden werden. Eine solche Steuerung ist nur dann zu begreifen und bewusst konstruktiv zu beeinflussen, wenn professionelle Persönlichkeiten und hintergründige Wirkungszusammenhänge für die Selbststeuerung und Kooperation von Menschen mit erfasst werden. Beschreibungen und Gestaltungen solch komplexer Systeme von formellen und informellen Wirkmechanismen versucht man gemeinhin unter dem Begriff Kultur zu fassen.
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2. Organisationskultur Das Wort Kultur ist bei vielen mit Ereignissen verbunden, die in Feuilletons behandelt werden. Hier ist aber in erster Linie von Kultur die Rede, wie sie im Wirtschaftsteil von Zeitungen, in Managementmagazinen oder in Organisationslehrbüchern zum Ausdruck kommt.1 Kultur ist das selbstverständlich Gewordene, ist das, was Denken, Fühlen, Erfinden, Gestalten, Bezogensein etc. der Menschen steuert und in Beziehungen aufeinander abstimmt, ohne dass sich die Beteiligten hinreichend bewusst sind, was eigentlich geschieht. Kultur ist wie Sprache, die zusammengehörige Menschen durch Erfahrung miteinander lernen. Diese Sprache organisiert Denken und Erleben, Verhalten und Zusammenleben, auch wenn die Grammatikregeln oder die Wortbedeutungszusammenhänge nicht explizit benannt werden können. Jede Gemeinschaft entwickelt irgendeine Art von Sprache und diese Sprache beeinflusst dann ihre Wirklichkeiten und Mentalitäten. Sprache ist deshalb so bedeutsam, weil sie unbemerkt Wirklichkeit erzeugt. Deshalb müssen Sprache und Sprachentwicklung Gegenstand des Erkennens und Gestaltens werden, will man die Wirklichkeitsgewohnheiten einer Gemeinschaft verändern. Wie wird Sprache erworben? Durch zufällige und bewusste Spracherziehung. Will man einen bewussten und hochwertigen Umgang mit Wirklichkeit, braucht man eine Hochsprache bzw. eine Hochkultur. Obwohl selbstverständlich nicht jeder Germanist oder Kulturwissenschaftler werden kann, müssen wir mit Sprachentwicklung und Kulturentwicklung verantwortlich umgehen, wenn wir einer anspruchsvollen Wirklichkeit gerecht werden wollen. Anders als etwa eine Programmiersprache, ist Kultursprache nicht vollständig definierbar, weil sie mit Dimensionen verknüpft ist, die ihrerseits nur begrenzt definiert werden können. Dennoch kann Wesentliches verstanden werden, wenn auch oft intuitiv.2
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Wir folgen hier einem Verständnis von Niklas Luhmann, nach dem Wirtschaft und Kultur nicht Sektoren der Gesellschaft sind, sondern Dimensionen aller gesellschaftlicher Prozesse (vgl. Luhmann 1984). Siehe die Unterscheidung zwischen randscharf und kernprägnant in Steiner 2004, nach Babel: Aspekte der Sprache und des Übersetzens und in Bernd Schmid (2004): Identität und Abgrenzung.
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Kultur ist hoch wirksam im Guten wie im Schlechten. Kulturentwicklung lohnt sich, weil gute Kultur Menschen in ihren besseren Möglichkeiten anspricht und koordiniert. Vieles, was man meint durch Schulung anerziehen zu müssen, wird spontan aktiviert oder dazu gelernt. Kultur aktiviert die Seiten der Persönlichkeit und die Identitäten, die ihr entsprechen. Gute Kultur ist vergleichbar mit dem Swing einer Band. Wenn er sich einstellt, finden alle zu ihrem eigenen Sound und Rhythmus, rufen Verfügbares leicht und passend ab und finden spielerisch Neues.
3. Kulturverantwortung Wer muss für Kulturentwicklung Verantwortung übernehmen? Genauso wenig wie man religiöse Belange an Pfarrer oder das Verständnis von Leib-SeeleZusammenhängen an Psychosomatiker delegieren kann, kann man den Umgang mit Menschen und Organisationskultur an Personal- oder Kulturentwickler delegieren. Ob, um in der Analogie zu bleiben, religiöse oder psychosomatische Dimensionen im Leben und bei der Gesundheitsfürsorge eine Rolle spielen, hängt davon ab, ob alle Beteiligten sie in ihre Lebens- und Steuerungsperspektiven übernehmen. Dafür können Fachleute das Feld bereiten sowie Konzepte und Vorgehensweisen für die Integration dieser Dimensionen in den Alltag entwickeln und bereitstellen. Ob sich dadurch in Organisationen wirklich etwas ändert, hängt davon ab, ob es gelingt, explizite und implizite Weltbilder und Selbstverständnisse aller, insbesondere aber der Schlüsselfiguren in Organisationen, nachhaltig zu beeinflussen. Diese Schlüsselfiguren sind somit Kulturverantwortliche, ob sie wollen oder nicht. Sie sollten dies aus Einsicht in die Zusammenhänge auch sein wollen und entsprechende Mentalitäten und Kompetenzen erwerben, auch wenn sie darin zunächst nicht ihre Zuständigkeit sehen. Sich epidemisch ausbreitende Burn-out-Probleme sprechen eine deutliche Sprache. Strategische Steuerungsversuche greifen nicht konkret, weil sie die Menschen nicht gewinnen („Aquaplaningeffekt“). Lebens- und Entwicklungsfähigkeit sowie der Erfolg ihrer Organisationen hängen von Kultur ab, und das fällt unstrittig in die Zuständigkeit von Organisationsgestaltern und Unternehmenslenkern. 42
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4. Denkmodelle Welche Denkweisen brauchen wir für kulturgesteuerte Organisationen? Zunächst soll die Situation aus der Perspektive der Denkmodelle für Organisationen geschildert und Grenzen, an die man mit mechanistischen Denkmodellen stößt, aufgezeigt werden. Organisationen werden heute vielfach noch tayloristisch gedacht und gestaltet. Ähnlich einem Uhrwerk sollen die Funktionen in abgegrenzte Teilfunktionen aufgeteilt werden, die dann wieder möglichst reibungsfrei ineinandergreifen sollen, um so die Gesamtfunktion sicherzustellen. Verantwortungen sind an Funktionsträger vergeben, die diese entsprechend einem vorgesehenen Regelwerk auszufüllen haben. Würde das alles auch wie vorgesehen funktionieren, bräuchte man sich über Kultur wenig Gedanken zu machen. Doch beschreiben solche Vorstellungen eher versuchte Rahmensetzungen als das wirkliche Geschehen in endlos vielen Teilprozessen und Handlungen: Obwohl mechanistische Vorstellungen wenig vom tatsächlichen Funktionieren von Organisationen abbilden, werden sie gerne als scheinbar hinreichende Beschreibungen herangezogen. Warum zeigt diese „mechanische Beleuchtung“ von Organisation Fehlfunktionen nicht oder erst viel zu spät? Weil im Schatten dieser Betrachtung, komplexe menschliche Selbststeuerung, die Lücken füllt und Fehler kompensiert, nicht erkennbar wird und erst als Fehlfunktion auffällt. Also scheint es zunächst für nicht mechanische Betrachtungen keine Notwendigkeit zu geben. Solange in Organisationen die Verhältnisse übersichtlich bleiben, die Akteure jenseits ihrer Teilverantwortung noch Gesamtverantwortung im Auge haben, solange Kommunikation persönlich genug und Feedbackschleifen dicht genug sind, können Defizite im Funktionieren und im Ineinandergreifen der Funktionen ohne programmatische Berücksichtigung identifiziert und behoben werden. Die Maschine scheint sich selbst zu reparieren. Solange sich die Akteure untereinander persönlich kennen und sich als Individuen gesehen fühlen, sind sie in der Regel motiviert, auch bei suboptimalen Regelungen durch situative Anpassungen nicht Geregeltes sinnvoll zu improvisieren und bei Bedarf die Regelungen weiter zu entwickeln. Solange die persönlichen Eigenarten von Individuen und Gruppierungen gewürdigt 43
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werden, sind sie in der Regel bereit, unter suboptimalen Rahmensetzungen zu arbeiten und durch informelle Anstrengungen Dinge passend zu machen. Das Personal und die Kultur scheinen sich selbst zu entwickeln. Solange also die Steuerung durch persönlich geprägte, spontane Kultur hinreichend funktioniert, gerät sie nicht wirklich ins programmatische Blickfeld und mit dem Uhrwerkbild von Organisation nicht in Konflikt. Auch dort, wo sich die Organisation auf Schematisierung und Klonen einfacher Funktionsweisen zurückziehen kann, wo Funktionsträger weniger wegen ihrer kreativen Professionalität als wegen der Berechenbarkeit ihrer Beiträge zu fest definierten Abläufen geschätzt werden, wo Einarbeitung eben heißt, möglichst bald als gut geöltes Rädchen in einem Uhrwerk zu funktionieren, Persönlichkeit für den Betrieb bestenfalls als Zuverlässigkeit und Servicebereitschaft gebraucht wird, kann mit einem Verständnis von Organisation als Maschine weiterhin erfolgreich gewirtschaftet werden. Es gibt keinen Anlass, von Kultur zu sprechen.
5. Kultur und Komplexität Für Kulturbeeinflussung verwenden wir einen Kulturbegriff mit erkennbarer Werteorientierung, wie sie für die Steuerung komplexer Prozesse gebraucht wird. Diese Werteorientierung soll hier möglichst transparent gemacht werden. Zusätzlich rücken wissenschaftliche Betrachtungen von lebenden Systemen in den Vordergrund. In anspruchsvollen Organisationen einer wissensbasierten modernen Dienstleistungsgesellschaft heißt die selten befriedigend beantwortete Herausforderung Umgang mit Komplexität. Komplexität heißt, dass wesentliche Wirkungszusammenhänge letztlich nicht bestimmbar sind. Bateson und Mead haben das in einer plausiblen Metapher illustriert: Wenn man einen Stein in genau berechneter Weise tritt, kann man den Effekt genau vorhersagen. Tritt man einen Hund, ist dies anders (vgl. Schmid 2000). Sieht man Organisationen als komplexe lebende Systeme, dann bedeutet das, dass es immer kreative, verständige Mitarbeiter braucht, die aufgrund eines gemeinsamen Kulturverständnisses ihre Organisation täglich rekonstruieren und 44
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dennoch funktional halten, wobei sie auf bewährte Traditionen und Erfahrungen aufbauen, diese aber nicht in starre Strukturen oder Prozesse gerinnen lassen. Man kann es auch etwas pathetisch ausdrücken: Viele Organisationen brauchen eine Seele, um leistungsfähig und lebendig zu bleiben. Zumindest die Schlüsselfiguren müssen etwas von dieser Seele in sich tragen. Sie wollen sich selbst, einander gegenseitig und damit die Gesamtorganisation durch ihre Mitwirkung beseelen. Ob eine Organisation in diesem Sinne ein lebendiger, beseelter Organismus ist, spüren die Menschen in der Organisation, aber auch in den relevanten Umwelten. Vielleicht fragt man sie nicht danach, weil man nicht weiß wie, und was man dann mit den Antworten tun soll. Doch sind diese Fragen in vielen Bereichen zumindest längerfristig erfolgsrelevant, weil Organisationen nach innen wie nach außen auch durch die Lebensqualität wirken, die sie erzeugen. Dies wird im Marketing in oft fragwürdiger Weise längst berücksichtigt. In immer mehr Werbespots treten statt konkreter Produkte und Organisationen eher Weltbilder und Lifestyles in den Vordergrund. Man kann sich durch Agenturen und Kampagnen Kulturbilder schaffen lassen, doch wenn sie keinen Anschluss an gelebte Kultur haben, ist fraglich, inwieweit sie für den Lebensvollzug der Organisation Bedeutung haben. Die Krise vieler gesellschaftlicher Institutionen stellt sich als Vertrauenskrise dar, weil etwas anderes propagiert als gelebt wird.
6. Organisationskrisen als Kulturkrisen Und was geschieht in wachsenden Organisationen? Erfolgreiche „Garagenfirmen“ wachsen oder werden bewusst strategisch vergrößert. Dann werden die Rahmenbedingungen den neuen Verhältnissen angepasst. Dafür gibt es ein Bewusstsein, Fachleute und Ressourcen. Die Kultur muss sich irgendwie mitentwickeln. Doch meist ist die Qualität von Prozessen und Beziehungen ohne sorgfältige Pflege schwer aufrechtzuerhalten, und es gelingt bestenfalls an unterschiedlichen Orten auf verschiedene Weise. Da Menschen duldsam und kreativ sind, kann es dennoch irgendwie funktionieren und lange dauern, bis daraus eine Krise wird. Hypes können hier hilfreich sein, zusätzlich moti45
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vieren, Belastungen kompensieren, Folgen abpuffern. Allerdings wird auch verschleiert, dass die hintergründige Steuerung durch Kultur und persönliche Abstimmung nicht mehr hinreicht. Auf dem Weg zur Großorganisation überlappen sich oft quantitatives Wachstum und der Übergang von der Pionier- in die Institutionalisierungsphase. Hier wäre nun komplementär zur Organisationsentwicklung bewusste Kulturentwicklung angesagt. Ohne diese gehen leicht die Leistung und die Integration des Gesamtorganismus verloren. Dies geschieht meist über eine längere Zeit hinweg und schleichend. Persönliche Verantwortung nicht nur für den eigenen Teilbereich, sondern für das Zusammenspiel des Ganzen zu übernehmen, wird mangels Übersicht für alle schwieriger. Aber auch seelisch sind solche Übergänge schwierig, weil die Horizonte weit, die Vielschichtigkeiten verwirrend und die Abstimmungsprozesse kaum befriedigend zu leisten sind. Oft kommen Personal- und Rollenwechsel zur Neugestaltung von Strukturen und Prozessen hinzu. Eine Vielzahl von Gestaltungs- und Verantwortungslücken tun sich auf, die aufgrund günstiger Bedingungen oder gesteigertem persönlichem Engagement noch lange kompensiert oder auch nur verdeckt werden können. Wo offensichtlich etwas geschehen muss, werden Strukturen und Regelwerke verändert. Doch hat dies nur einen begrenzt positiven bis negativen Effekt, wenn Kultur das Problem ist. Mangels alternativer Ideen werden Umstrukturierungen gelegentlich zum Problem verstärkenden Dauerlösungsversuch. Werden solche Fehlentwicklungen nicht abgefangen, gerät das System in Negativzirkel (vgl. Schmid 2008). Die Menschen erleben dadurch zusätzliche Kulturverstörungen und schützen sich noch mehr durch Ausweich- und Absicherungsstrategien, bis die Risse offensichtlich werden. Das System geht von der verdeckten in die Phase der offenen Desintegration über (vgl. Schmid & Messmer 2005). Das System ist erkennbar krank. Das Gewährleisten von Verstehen wichtiger Zusammenhänge, von Selbstwirksamkeit und von Sinnerleben wird für die Beteiligten fast unmöglich (vgl. Antonowsky 1997). Die Menschen im System erkranken erkennbar (vgl. BDP 2008).
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7. Dezentralisierung Wo Kulturentwicklung aus vielfältigen Gründen nicht geleistet werden kann bzw. sogar als unerwünscht oder doch zumindest nicht wirklich nötig angesehen wird, versucht man gelegentlich, die Probleme durch Dezentralisierung in den Griff zu bekommen. Dadurch werden die Teilorganisationen wieder kleiner und man hofft, dass sie ohne zentrale Kultursteuerung unter Berücksichtigung lokaler Besonderheiten irgendwie eigene Lebenstüchtigkeit entwickeln. Doch bleiben dann als zentrale Steuerung oft auch nicht mehr als Holdingstrukturen und eine Zahlenmentalität. Ob sich dann die Teilorganisationen wie gewünscht entwickeln, ob sich ein gemeinsames Organisationsverständnis, ein gemeinsames Kraftfeld aufbauen bzw. erhalten lässt, ist fraglich. Solange die Zahlen stimmen, scheint das vielen Konzernlenkern tragbar, doch zeigen die Wellen von Zentralisierung und Dezentralisierung, dass bislang kaum Lösungen gefunden sind, die den Umgang mit Diversität, gemeinsamer Identität und Steuerbarkeit hinreichend optimieren. Wir meinen, dass Dezentralisierung nicht weniger, sondern intelligentere Kultursteuerung braucht und dass für gelingende dezentrale Steuerung, die über Finanzsteuerung hinausgeht, nicht weniger, sondern bessere Führungskonzepte gebraucht werden.
8. Kompliziertheit Die Alternative ist meist der Versuch, die Organisation stärker zu zentralisieren und/oder zu hierarchisieren. Doch heißt dies auch meist, sie immer komplizierter zu gestalten, um Koordination und Prozesssicherheit herzustellen. Immer mehr formalisierte Verfahren und Gremien sollen Lebensfunktionen der Organisation sichern und entwickeln. Dies ist bei komplexen Aufgaben ohnehin prinzipiell kaum zu leisten und wird aus vielen Gründen schwerfällig, unproduktiv oder gar kontraproduktiv. Versucht man es dennoch flächendeckend, bleibt für einen bewussten und strategischen Umgang mit individuellen und informellen Faktoren kaum Gestaltungsspielraum. Ohne Ausnahmen vieler Art geht nichts wirklich voran. Die Organisation wird doppelbödig und stranguliert sich durch Verkomplizierung. Als Gegensteuerungsversuch wer47
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den zwar aufwändige Prozeduren gefahren, aber von vielen aus vielerlei Motiven nicht wirklich im Alltag berücksichtigt. Um die Gestaltungslücken zu schließen, entstehen unkontrollierte, informelle Steuerungsmechanismen, die eigentlich nicht sein dürften, ohne die aber auch nichts wirklich geht. Als pervertierte Folge solcher Steuerungen kann „Dienst nach Vorschrift“ sogar als Streikmittel begriffen werden. Schon im unspektakulären Organisationsalltag kann man beobachten, dass in sich unterschiedliche Steuerungsmentalitäten ohne bewusste Kulturentwicklung nicht zusammenwirken. Wer kennt nicht ausführliche Strategieworkshops und Teamberatungen, in denen um Steuerung und Koordination gerungen wird, an deren Ende aber für die konkrete Steuerung im Alltag wenig herauskommt. Weil die „Umsetzung“ scheitert, wird letztlich nach sehr einfachen und für andere wenig durchsichtigen Prinzipien entschieden. Konkrete Interpretationen und Ausgestaltungen vor Ort finden ohne wirkliche Abstimmung und Integration daher auch letztlich unkontrolliert statt. Nachdem man sich lange sogenannte Synergieeffekte bei Zusammenschlüssen von Organisationen versprochen hatte, auch wenn man keine kulturintegrierenden Konzepte hatte, ist Ernüchterung eingetreten. Wenn es schon in persönlichen Kooperationen entgegen aller Hoffnungen viel braucht, damit 1 + 1 nicht weniger als 2 oder womöglich sogar mehr ergibt, ist dies bei Mergern erst recht der Fall. Viele solcher Vorhaben sind gescheitert. Dies müsste nicht so sein, wenn man Kulturfragen nicht erst beachten würde, wenn nichts mehr klappt, sondern Kulturentwicklung von vornherein als Schlüssel zum Gelingen ansehen würde. Wenn auf diese Weise Hilflosigkeit und Doppelbödigkeit unbemerkt Einzug gehalten haben, wird es zur Gewohnheit, dass Teilorganisationen und Funktionen Partialoptimierung vor Gesamtoptimierung stellen, um ihr Bestes zu geben oder auch um selbst am besten wegzukommen.
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9. Kulturbegegnung Organisationen sind Orte der Kulturbegegnung. Damit sind sie Orte, an denen implizit oder explizit Weltbilder und Wertorientierungen verhandelt werden. Allerdings wird hier Kulturbegegnung nicht auf die Begegnung von Menschen verschiedener Völker reduziert. Länderspezifische Kulturkenntnisse zu haben ist nützlich, doch ist bei der Unüberschaubarkeit der Varianten in internationalen Begegnungen ein Gerüstetsein durch spezielle Kenntnisse oder gar Benimmregeln aussichtslos. Ein in über 50 Ländern agierendes mittelständiges Unternehmen im technischen Bereich z. B. ist in internationalen Mentoring-Programmen vom Beherrschen bestimmter Kulturtechniken als Voraussetzung von Mentoren abgegangen und hat stattdessen eine Aufgeschlossenheit gegenüber den Mentees, ein Interesse an den Kultur- und Persönlichkeitseigenarten sowie die Bereitschaft, sich sensibel und im Dialog abzustimmen, als wichtigste Voraussetzungen gewählt. Dies ist aus unserer Kulturorientierung betrachtet die konsequente Umsetzung unserer auch sonst im Umgang mit Komplexität vorgeschlagenen Haltungen und Strategien. Denn in Organisationen begegnen sich z. B. auch Technikerkulturen mit kaufmännischen, juristischen, arbeitspsychologischen, konservativen, klassenkämpferischen, weiblichen, männlichen, akademischen und nichtakademische Kulturen, Menschen aus verschiedenen gesellschaftlichen Milieus, die ihrerseits vielfältige Hintergründe haben. Also „small is beautiful“? Ja, gerne, wo dies geht und wenn damit für Menschen sinnvolle Tätigkeiten möglich sind. Doch wollen wir hier nicht einer romantisierten Welt der kleinen und schon deshalb humanen Wirtschaft das Wort reden. Erstens können auch kleine Organisationen inhuman agieren und äußerst schwierig positiv zu gestalten sein. Und Zweitens müssen für große, global aufgestellte Organisationen ohnehin dringend Lösungen gefunden werden. Dabei werden auch große und global agierende Organisationen viele der Qualitäten beachten müssen, die Menschen als Kultur des beruflichen Zusammenwirkens in überschaubaren kreativen, nachhaltig wirtschaftenden kleineren Organisationen schätzen. Das menschliche Maß bleibt entscheidend.
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10. Kulturentwicklung Kann man Kultur entwickeln? Ein Uhrwerk kann von außen entwickelt werden. Man erwartet nicht, dass es beseelt ist und eine eigene Entwicklungsdynamik zeigt. Betrachtet man eine Organisation als lebenden Organismus, ist dies anders. Ein wichtiges Charakteristikum von Lebewesen ist Selbsttranszendenz. Selbsttranszendenz einer komplexen Organisation meint, durch eigendynamische komplexe Lern- und Anpassungsprozesse sowie Integrationsleistungen vieler Teilorganismen in eine Gesamtidentität eigenständig am Leben zu bleiben und sich zu entwickeln. Kann für Selbsttranszendenz etwas getan werden oder handelt es sich um ein Naturereignis? Lebendigkeit von Kultur wird selbst dort, wo ihre Bedeutung anerkannt wird, heute noch eher wie das Wetter behandelt. Man hat es lieber schön, wünscht sich, dass es irgendwie gut bleibt oder wird. Wird es dann doch ungemütlich und „verhagelt“ es unübersehbar Leistung und Zufriedenheit, dann versucht man es doch mit Wettermachen, meist durch Motivationsevents, Leitbild-Kampagnen oder ähnlichem. Doch Kulturpflege entscheidet sich nicht auf solchen Sonderevents – diese können nur anregende Funktionen haben –, sondern durch eine gelebte Praxis im Alltag. Diese positiv zu gestalten kann aber jedem ein wesentliches Anliegen werden, auch wenn man nicht primär an Kultur interessiert ist, weil deutlich geworden ist, dass Kultur über Organisationen und das Schicksal von Menschen entscheidet. Was sind die Aufgaben? Ein Teil der Aufgabe heißt, Kulturentwicklung als Dimension von Professionalisierung zu etablieren. Näher betrachtet gehört die Gestaltung von Kulturbegegnung und Kulturentwicklung zu den Managementdimensionen aller Organisationen und ist in das Selbstverständnis und Kompetenzrepertoire der Schlüsselfiguren von Organisationen integriert, unabhängig vom Rollen- und Funktionsportfolio, aus dem heraus diese agieren. Ein anderer Teil der Aufgabe heißt, professionell und strategisch gestaltete Organisationskultur als Programm und eine Programmatik der Kulturentwicklung zu etablieren. Unser wichtigstes Anliegen ist hier, Unternehmern und unternehmerisch denkenden Managern, Führungs- und Fachkräften nahezulegen, Organisationskultur als einen entscheidenden Faktor zu verstehen und gestalten zu wollen. Wegen der Vielschichtigkeit der Fragestellung und der 50
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Vielzahl der Varianten, gibt es leider weder eindeutig zu bestimmende Zutaten, noch eindeutige Programmteile, noch eine geklärte Hintergrundstheorie. Kulturentwicklung kann nur ein genau so offenes Feld bleiben wie Kultur eben ist. Hier kommen wir auf die Analogie zur Sprache zurück. Sprachen sind vielgestaltig und in ständiger Wandlung begriffen. Man kann nur Varianten davon begrenzt beherrschen und entdeckt bzw. entwickelt auch dann immer wieder Neues. Sprache lernt man durch das Sprechen und ihre Vernetzung mit dem Erleben und Erfahren. Trotz dieser prinzipiellen Offenheit lohnt sich die Förderung von Sprachbewusstsein, von Sprachunterricht, von Programmen zur Förderung guter Sprache, von Unterricht und Didaktik vor dem Hintergrund von Sprachwissenschaften. Niemand würde abschließende Entwicklungen in diesen Bereichen abwarten, bevor er selbst Sprachen lernt oder sich mit Sprachentwicklung befasst. Viele Teildisziplinen können zu einer Pragmatik der Steuerung von Organisationen durch Kultur beitragen, aber auch zu entsprechender Professionalisierung und einer pragmatischen Wissenschaft von Organisationskulturentwicklung. Letztlich muss dies eben in dem jeweiligen wirtschaftlichen und kulturellen Rahmen geschehen, in dem Entwicklung stattfinden soll.
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11. Literatur Antonovsky, A. (1997): Salutogenese. Zur Entmystifizierung von Gesundheit. Tübingen (DGTV) Berufsverband deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) (2008): Psychologische Gesundheit am Arbeitsplatz. Informationsbroschüre abrufbar unter: http://www.bdp-verband.org/aktuell/2008/bericht/BDP-Bericht-2008_Gesundheit-am-Arbeitsplatz.pdf Glasl, F./Lievegoed, B. (2004): Dynamische Unternehmensentwicklung: Grundlagen für nachhaltiges Management. Stuttgart, 3. Aufl. (Freies Geistesleben) Luhmann, N. (1984): Soziale Systeme, Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt (Suhrkamp) Schmid, B. (2000): Der systemische Ansatz in Training und Beratung. Trainer – Kontakt – Brief Nr. 30, 03/00. Schmid, B. (2004): Identität und Abgrenzung. Studienschrift des Instituts für systemische Beratung, Wiesloch. Erschienen in: Die DownloadBar – Das E-Publishing Angebot des Carl-Auer Verlags (2006). Schmid, B./Messmer, A. (2005): Systemische Personal-, Organisations- und Kulturentwicklung. Köln (EHP). Schmid, B. (2008): Wenn der Coach in der Zwickmühle steckt. Erschienen in: Das Coaching-Magazin, Ausgabe 1/2008. Steiner, George (2004): Nach Babel: Aspekte der Sprache und des Übersetzens. Frankfurt (Suhrkamp).
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Forschungsschwerpunkt: Employability
von Jutta Rump und Silke Eilers Dr. Jutta Rump ist Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Internationales Personalmanagement und Organisationsentwicklung an der Fachhochschule Ludwigshafen. Daneben leitet sie das Institut für Beschäftigung und Employability IBE, das den Schwerpunkt seiner Forschungsarbeit auf personalwirtschaftliche, arbeitsmarktpolitische und beschäftigungsrelevante Fragestellungen legt. Sie hat darüber hinaus zahlreiche Mandate auf regionaler und nationaler Ebene inne. Silke Eilers war während ihres berufsintegrierenden Studiums der Betriebswirtschaftslehre an der Fachhochschule Ludwigshafen am Rhein als Sachbearbeiterin und Übersetzerin in der internationalen Vertriebsabteilung der Koenig & Bauer AG in Frankenthal tätig. Nach ihrem Abschluss als Diplom-Betriebswirtin (FH) übernahm sie im gleichen Unternehmen Aufgaben in den Bereichen Personalentwicklung und Personalbetreuung, Hochschulmarketing und Nachwuchskräfteförderung. 2003 wechselte sie an das Institut für Beschäftigung und Employability IBE.
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1. Ausgangslage Die Forderung nach Beschäftigungsfähigkeit oder Employability ist keineswegs neu. Die Diskussion um die Schlüsselkompetenzen hat eine lange Tradition und beschäftigt Bildungsfachleute seit Jahrzehnten. Unter dem Begriff der Employability allerdings wurde die Thematik im angelsächsischen Raum deutlich früher aufgegriffen als in Deutschland (vgl. Kraus 2006). Die „Renaissance“ der Schlüsselkompetenzen im Kontext von Employability hat ihren Ursprung in den sich verändernden Bedingungen innerhalb und außerhalb von Unternehmen. So erfährt ein konsequentes Employability Management angesichts der zentralen Trends und Herausforderungen in der Arbeitswelt eine zunehmende Signifikanz. Zu nennen sind hier insbesondere der demografische Wandel, die Entwicklung zur Wissensgesellschaft, die Globalisierung, technologische Entwicklungen, der gesellschaftliche Wertewandel sowie der „Vormarsch“ der Frauen. Der Wandel in der Arbeitswelt, durch den Erwerbsarbeit zugleich knapper und voraussetzungsreicher wird, bringt qualitative und quantitative Veränderungen in Bezug auf die Anforderungen an Arbeitskräfte mit sich. Die Nachfrage nach niedrig qualifizierten Beschäftigten sinkt in dem Maße, in dem die Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft manuelle und repetitive Tätigkeiten aus dem Berufsspektrum verdrängt. Gleichzeitig steigt der Bedarf an mittleren und höheren Qualifikationen. Diese Tendenz wird verstärkt durch die voranschreitende Verringerung der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, denn ein ausreichender Ersatz an Fachkräften ist nur dann zu erwarten, wenn die nachrückenden geburtenschwachen Jahrgänge besser qualifiziert sind als die ausscheidenden Jahrgänge (vgl. IW 2007, IAB 2007 B1, IAB 2007 C6, Kraus 2006). Für den Einzelnen ist dies mit der Notwendigkeit verbunden, den eigenen Arbeits- und Lebensrhythmus immer wieder neu zu definieren und den eigenen Qualifikationsstand permanent mit den Anforderungen vergleichen und anpassen zu müssen. Darüber hinaus bewirkt die Instabilität der Arbeitsplätze und Arbeitsbereiche, dass der erlernte Beruf nicht mehr ein ganzes Leben lang trägt und es keine „Stammplatzgarantie“ mehr gibt (vgl. Scholz 2009). Vielmehr ist damit zu rechnen, dass Menschen ihr Arbeitsfeld im Laufe des Er54
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werbszyklus sieben bis achtmal wechseln. Nicht selten wird damit auch eine berufliche Um- bzw. Neuorientierung verbunden sein. Daraus resultiert, dass dem Erhalt der Qualifikation bzw. der Anpassung des Kompetenzstandes mehr Gewicht eingeräumt werden sollte als dem Streben nach Arbeitsplatzsicherheit. Verantwortung für sich selbst und die berufliche Entwicklung wird zur Schlüsselqualifikation und Kernkompetenz – zur Wettbewerbsfähigkeit des Einzelnen auf internen und externen Arbeitsmärkten (vgl. Ernst/Hauser/ Katzenstein/Micic 2003; Kraus 2006). Dies impliziert die Fähigkeit, lebenslang zu lernen, flexibel und anpassungsfähig zu sein, mit neuen, ungewohnten Situationen umgehen zu können, sich relativ schnell in neue Tätigkeitsfelder einzuarbeiten etc. Fachwissen allein reicht dafür allerdings nicht aus! Für Unternehmen bedeuten die Entwicklungen einen kontinuierlichen Wandlungsprozess sowie einen steigenden Wettbewerb um die Wissens- und Kompetenzträger. Auch sie haben keinen „Stammplatz“ auf dem Weltmarkt oder in der Gunst (potenzieller) Mitarbeiter (vgl. Scholz 2009). Zudem ist davon auszugehen, dass kollektive Lösungen nicht länger sinnvoll sind. Was sich für einen produzierenden Betrieb als richtig erweist, muss nicht als Vorbild für ein Dienstleistungsunternehmen oder für einen anderen produzierenden Betrieb dienen. Der Umgang mit Vielfalt und Komplexität bedingt, immer mehr zu differenzieren. Zunehmende Komplexität und die damit verbundene Differenzierung erfordern permanente Innovationskraft, die in unmittelbarem Zusammenhang zu Wissen und Kompetenz der Mitarbeiter steht. Auch für sie besteht also ein enger Zusammenhang zwischen der Beschäftigungsfähigkeit ihrer Belegschaft und ihrer eigenen Wettbewerbsfähigkeit. Darüber hinaus erweist sich die altbewährte Strategie, auf Veränderungen mit der Optimierung von Strukturen und Prozessen zu reagieren, als nicht unproblematisch. Das Ausschöpfen von Potenzialen erfordert mehr und mehr einen hohen Einsatz und Aufwand. Gerade in Krisenzeiten stellen Unternehmen zunehmend fest, dass eine traditionelle Personalpolitik nicht mehr greift. Gefragt ist statt dessen eine Personalpolitik, die die Bedeutung von Fachkräften für die Wettbewerbsfähigkeit im Blickpunkt hat und gleichzeitig mit konjunkturellen und strukturellen Entwicklungen adäquat umgehen kann. Eine moderne Personalpolitik in und für Krisensituationen wird notwendig, die es zu entwickeln gilt. Aus einer zukunftsorientierten Perspektive heraus ist dieser Ansatz allerdings „zu kurz gesprungen“. Es sollte statt dessen eine krisenresistente Personalpolitik in den 55
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Fokus genommen werden. Employability Management spielt dabei eine große Rolle. Denn es trägt erheblich dazu bei, dass Mitarbeiter und Führungskräfte qualifiziert, motiviert, produktiv und loyal sind und sich mit dem Arbeitgeber zu jeder Zeit identifizieren. Nur so lassen sich Phasen des Aufschwungs und des Abschwungs in einer globalen, wissens- und innovationsgeprägten sowie schnellen Wirtschaftswelt bewältigen.
2. Employability als Erfolgsfaktor Um für den Wandel gerüstet zu sein, sind also fachliches Wissen und fachliche Kompetenz alleine nicht mehr ausreichend. Daneben spielt ein breites Spektrum an überfachlichen Kompetenzen, Einstellungen und Mentalitäten eine Rolle. Deren Ausprägung und Entwicklung wird bereits stark durch die Sozialisation, Erziehung und Schulbildung jedes einzelnen Menschen geprägt. Dazu gehören Erfahrung und Fähigkeiten, die sowohl innerhalb oder außerhalb der aktuellen beruflichen Tätigkeit erworben worden sein können, ebenso wie die Bereitschaft zur Teilnahme an entsprechenden Maßnahmen, die die so genannte Employability oder zu deutsch Beschäftigungsfähigkeit fördern. Employability ist die Fähigkeit, fachliche, soziale und methodische Kompetenzen unter sich wandelnden Rahmenbedingungen zielgerichtet und eigenverantwortlich anzupassen und einzusetzen, um eine Beschäftigung zu erlangen oder zu erhalten. Ein endgültiger Konsens darüber, welche Merkmale einen Menschen nun beschäftigungsfähig oder „employable“ machen, lässt sich nicht herstellen, da der Begriff sich aufgrund der Dynamik und Komplexität der Märkte beständig weiter entwickelt und einen sehr individuellen Charakter besitzt. Dennoch ist es sinnvoll, einen Rahmen zu entwickeln, in dem definierte Kernfelder sich der Begrifflichkeit nähern. Denn Employability muss von allen relevanten Akteuren als schlüssiges Konzept erkannt werden können, als eine Zielrichtung, an der man gemeinsam arbeiten kann. Abb. 1 stellt diesen Rahmen dar:
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4 FORSCHUNGSSCHWERPUNKT: EMPLOYABILITY
Gesundheit/Wohlbefinden Soziale Fähigkeiten • Arbeiten im Team • Mit Konflikten umgehen • Kommunikationsfähigkeit Überfachliche Fähigkeiten • Zielorientiertes und aufgabenorientiertes Denken und Handeln • Mit Weitblick handeln
„in Bewegung bleiben“ „in Balance bleiben“ Soziale Fähigkeiten
Einstellung Haltung
Überfachliche Fähigkeiten
„Mentalität“
Einstellung und Haltung • Eigenverantwortung • Eigeninitiative • Veränderungsbereitschaft • Engagement • Belastbarkeit • Lernbereitschaft
Fachliche Kompetenzen Medienkompetenz
Abb. 1: Die Kernkompetenzen der Employability
Das komplexe Anforderungsprofil der Employability führt nicht selten zu der Frage nach der Machbarkeit und der Befürchtung, man könne damit überfordern und die Messlatte ohne Not zu hoch legen. Nun geht es nicht darum, in jedem der Kompetenzfelder für jeden die höchst mögliche Ausprägung als Ziel zu definieren, sondern deutlich zu machen, dass die grundsätzliche Relevanz in jedem Aufgabenfeld und Qualifikationsbereich gegeben ist und all diese Facetten Erfolgsfaktoren darstellen. Hier zeigt sich die grundlegende Philosophie: „Den ersten Schritt zu tun und in Bewegung zu bleiben“ – das regelmäßige Auseinandersetzen mit der eigenen Qualifikation und der kontinuierliche Ausbau aller relevanten Kompetenzen stellen einen persönlichen Entwicklungsprozess dar, der zu langfristiger Beschäftigungsfähigkeit führt. Sehr wichtig ist es auch, dabei „in Balance zu bleiben“, d. h. sich vor Überforderung und Überlastung zu schützen. Für Arbeitnehmer gilt es also, sich bewusst zu machen, dass Arbeitgeber dem Anforderungsprofil der Beschäftigungsfähigkeit eine große Bedeutung zumessen und dass es sich daher bei der Auseinandersetzung mit der eigenen Beschäftigungsfähigkeit um eine Investition in den eigenen Vermögenswert handelt: „Ebenso wie Unternehmen dafür verantwortlich sind, ihre Investitions57
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güter (Hardware) permanent auf dem neuesten Stand zu halten und die Investoren dafür einen Teil ihrer Rendite einsetzen müssen, so müssen Mitarbeiter ihr Wissen aktualisieren und dafür im Sinne des Co-Invests eine Selbstbeteiligung in Form von Zeit in den Erhalt ihres Investitionsgutes einbringen“ (Sattelberger 2009). Denn es wird in Zukunft immer weniger einen sicheren Arbeitsplatz und/oder ein sicheres Unternehmen geben. Selbst die Sicherheit einer „abgeschlossenen“ Berufsausbildung, die vermeintlich ein Leben lang trägt, wird es nicht mehr geben. Die eigenen Fertigkeiten, Fähigkeiten und Kompetenzen bieten einzig und allein Sicherheit. In Zahlen ausgedrückt beträgt der Vermögenswert des Wissens und der Kompetenzen bei einem durchschnittlichen Brutto-Jahreseinkommen von 35.000 Euro und einer Lebensarbeitszeit von 40 Jahren etwa 1,4 Mio. Euro. Zunächst einmal obliegt die Verantwortung für die nachhaltige Sicherung von Employability somit dem Einzelnen. Er ist gefordert, sich kontinuierlich den verändernden Rahmenbedingungen sowie den Anforderungen des internen wie externen Arbeitsmarktes anzupassen. Dazu ist die Bereitschaft allein nicht ausreichend. Auch individuelles Handeln – ohne die Unterstützung des Arbeitgebers – ist gefragt. Es gilt: Qualifizieren und Lernen in der Vergangenheit: Notwendigkeit zum beruflichen Aufstieg. Qualifizieren und Lernen in der Zukunft: Vermeidung des beruflichen Abstiegs. Dennoch: Arbeitgeber, die Employability fordern, sind auch in der Pflicht, diese zu fördern. Employability ist somit auch unweigerlich mit einer neuen Art von Kontrakt zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer verbunden. Auf Seiten des Arbeitnehmers stehen als „vertragliche Verpflichtungen“ die individuelle Beschäftigungsfähigkeit und das permanente Bemühen, diese zu erhalten und zu entwickeln, auf Seiten des Arbeitgebers die Schaffung entsprechender Rahmenbedingungen. Der „Gewinn“ liegt für das Unternehmen in Wertschöpfung und Wettbewerbsfähigkeit. Darüber hinaus kommt der Arbeitgeber durch die Förderung der Employability gleichermaßen einer neuen Art der „Fürsorgepflicht“ dem Arbeitnehmer gegenüber nach. Denn an die Stelle der Beschäfti58
4 FORSCHUNGSSCHWERPUNKT: EMPLOYABILITY
gungsgarantie tritt die Unterstützung bei der beruflichen Fitness. In guter Wirtschaftslage hilft eine auf Employability ausgerichtete Unternehmens- und Personalpolitik, sich als attraktiver Arbeitgeber im „War for talents“ zu positionieren, in Krisenzeiten wird die soziale Verantwortung auf diese Weise gewahrt. Der „Gewinn“ für den Arbeitnehmer liegt in der Beschäftigungssicherung. Diese besteht in „guten Zeiten“ darin, sich frei auf dem Arbeitsmarkt bewegen und aus unterschiedlichen Angeboten auswählen zu können. In „schlechten Zeiten“ stellt Employability den Sicherungsanker schlechthin dar, da sie den internen Wechsel ebenso ermöglicht wie die Orientierung außerhalb des bisherigen Berufsfeldes und Unternehmens. Dieser beidseitige Nutzen stellt letztlich für den Arbeitgeber die angemessene Balance zwischen seinen Aufwendungen zur Förderung der Employability und der ihm dafür entgegengebrachten Loyalität dar (vgl. Kraus 2006, Sattelberger 1999b). Was die Dauer des neuen Kontraktes anbelangt, so besteht er nur so lange, wie individuelle Beschäftigungsfähigkeit seitens des Arbeitnehmers besteht und umgekehrt das Unternehmen ihm die Möglichkeit bietet, diese voranzutreiben und zu bewahren (vgl. Kraus 2006).
3. Das Konzept des Employability Managements Um das Menschenbild eines beschäftigungsfähigen Arbeitnehmers mit Leben zu füllen und die Beschäftigten dazu zu bewegen, dieses Menschenbild als das ihre anzuerkennen und es als Grundlage für ihr Denken und Handeln zu nehmen, werden derzeit einzelne Maßnahmen entwickelt und umgesetzt. Zur Förderung von Employability der Arbeitnehmer reichen diese Einzelaktivitäten jedoch nicht aus. Darüber hinaus genügt es nicht, dass die Maßnahmen ein gemeinsames Ziel haben. Vielmehr ist es notwendig, dass alle relevanten Unternehmensfelder einbezogen werden, die Aktivitäten zur Steigerung der Beschäftigungsfähigkeit aufeinander abgestimmt und miteinander verknüpft sind, sowie Wechselwirkungen berücksichtigt werden.
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Damit wird deutlich, dass Employability Management bestimmte Handlungsfelder beinhalten muss. Diese erfolgskritischen Handlungsfelder sind: Unternehmenskultur Gesundheits-
Führung
förderung
Employability Management
Vergütung
Organisation
Karriere-
Personal-
modelle
entwicklung
Abb. 2: Die erfolgskritischen Handlungsfelder des Employability Managements
Eine Unternehmenskultur, die Beschäftigungsfähigkeit fördert und fordert, zeigt sich vor allem in folgenden Punkten: •
Förderung der Übernahme von Verantwortung.
•
Offenheit und Vertrauen.
•
Fehlertoleranz.
•
Leistungsorientierung.
•
Unterstützung von werteorientiertem und reflektiertem Handeln.
•
Wertschätzung der Mitarbeiter und ihrer Beiträge.
•
Unterstützung von Mobilität und Unabhängigkeit.
•
Förderung des Networking innerhalb des Unternehmens.
•
Positive Haltung zum Lernen.
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4 FORSCHUNGSSCHWERPUNKT: EMPLOYABILITY
Insbesondere die unmittelbaren Vorgesetzten sind gefordert, diese Aspekte einer Employability fördernden Unternehmenskultur mit Leben zu füllen. Dies liegt darin begründet, dass sie aufgrund des täglichen und praxisnahen Kontaktes zu ihren Mitarbeitern einen sehr viel besseren Überblick über deren Kenntnisse und Fähigkeiten sowie über Bedarfe an Wissens- und Kompetenzentwicklung haben als beispielsweise die Personalabteilung. Daraus leitet sich folgendes Anforderungsprofil der Führungskräfte ab: •
•
Keine Führung im Sinne des „Gießkannen-Prinzips“, statt dessen individualisierte Führung (jeden Mitarbeiter dort abholen, wo er steht; kombiniert mit Führung durch Ziele). Schaffung von Rahmenbedingungen, in denen Mitarbeiter erfolgreich arbeiten können.
•
Gewährung von Freiräumen und Handlungsspielräumen.
•
Übernahme von Verantwortung.
•
Glaubwürdigkeit, die sich im konsequenten Handeln und im Vorleben zeigt, und Vorbild sein.
•
Inspirieren, Überzeugen, Motivieren und Herausfordern.
•
Sensibilisierung für Beschäftigtenbelange.
•
Schaffen einer Atmosphäre von Offenheit und Vertrauen.
•
Führungsphilosophie: „Unternehmer im Unternehmen“.
Gerade im Bereich Employability ist die Führungskraft als Vorbild der beste Motivator. Die Vorbildfunktion umfasst dabei das Vorleben von Eigenverantwortung und Initiative ebenso wie ein konsequentes „Sich-in-Frage-stellen“. Zeigt die Führungskraft sich stets interessiert an Erhalt und Steigerung ihrer eigenen Beschäftigungsfähigkeit und spiegelt dies auch an ihren Mitarbeitern, werden diese der Thematik ebenfalls offener und vertrauensvoller begegnen. Ein Unternehmen, das zielgerichtete und praxisorientierte Beschäftigungsfähigkeit anbietet, muss sich als „Lernende Organisation“ mit durchlässigen und flexiblen Strukturen begreifen, die wie folgt gekennzeichnet ist:
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• •
Hoher Autonomiegrad und große Handlungsspielräume. Übertragung der Verantwortung für Aufgabe und Ergebnis auf die Mitarbeiter.
•
Delegation von Entscheidungsbefugnissen.
•
Verflachung der Hierarchie.
•
Arbeitsinhalte mit hohem Autarkiegrad.
•
Kurze, gut funktionierende Informations- und Entscheidungswege.
Neben der strategischen Dimension der Organisation spielt auch die operative Dimension der Arbeitsorganisation eine Rolle. Eine Employability fördernde Arbeitsorganisation basiert auf dem Prinzip: „Öfter mal etwas Neues“. Das bedeutet nicht unbedingt, die gesamte Belegschaft regelmäßig rotieren zu lassen. Schon kleinteilige Maßnahmen wie Projekt- bzw. Teamarbeit, Coaching, Mentoring oder Stellvertretungen führen zum Erfolg. Personalentwicklung im Employability-Konzept verfolgt einen vorausschauenden Ansatz, in dem die Qualifikation des Einzelnen einer kontinuierlichen Überprüfung und Anpassung unterliegt, die sich nicht nur an konkreten Unternehmensbedürfnissen oder der Beschäftigungssituation ausrichtet, sondern auch an den aktuell und zukünftig auf dem Arbeitsmarkt nachgefragten Kompetenzen und Fähigkeiten. Die Initiative geht dabei sowohl vom Arbeitgeber als auch vom Arbeitnehmer aus, der nicht die Rolle des passiven Konsumenten der Aus- und Weiterbildungsangebote annimmt, sondern aktiv mitgestaltet. Employability fördernde Personalentwicklung ist lebenslanges Lernen. Aufgabe der Personalentwicklung ist es in diesem Zusammenhang, eine Lernkultur im Unternehmen zu schaffen, die die Lernmotivation und -kompetenz der Mitarbeiter in unterschiedlichen Lebensphasen erhält und erhöht. Qualifizierung erfolgt nicht dabei mehr primär durch Seminare. Es geht vielmehr darum, dem Mitarbeiter im Rahmen seiner täglichen Arbeit und/oder in gezielten Lernfeldern mit zielgruppenspezifischem bzw. individuellem Bezug eine Möglichkeit zur Weiterentwicklung zu bieten. Solche Lernansätze sind neben den bereits genannten Maßnahmen im Bereich der Arbeitsorganisation beispielsweise Training on oder near the Job, eine Veränderung der Arbeitsinhalte und eine kontinuierliche Standortbestimmung (vgl. Rump/Lau-Villinger 2001). 62
4 FORSCHUNGSSCHWERPUNKT: EMPLOYABILITY
Die Auffassungen darüber, was „Karriere“ bedeutet, gehen häufig weit auseinander. Jedes Unternehmen, ja jedes Individuum definiert diesen Begriff für sich. Eines scheint jedoch klar – die vielfältigen Veränderungen der Arbeitswelt lassen auch den Karrierebegriff nicht unberührt. So macht die Forderung nach flacheren Hierarchien, durchlässigen Organisationsstrukturen und flexiblen Modellen der Arbeitsgestaltung rein vertikale Karriereentwicklungen in Unternehmen immer schwerer realisierbar. Betrachtet man vertikale Karrieremodelle vor dem Hintergrund der Employability, so zeigt sich zudem, dass sie der Förderung der Beschäftigungsfähigkeit nicht dienen, sondern diese eher behindern, da sie dem Einzelnen wenig Raum für den Blick „über den Tellerrand hinaus“ lassen. Horizontale Karrierepfade oder Treppenkarrieren (Mix zwischen horizontalen und vertikalen Karriereetappen) hingegen, die sich über die Mitarbeit in unterschiedlichsten Projekten oder aber das Einbringen von Expertenwissen in verschiedene Bereiche gestalten können, fördern die Beschäftigungsfähigkeit des Einzelnen in erheblicher Weise. In Abhängigkeit von einer Arbeitswelt, die durch Brüche in den Erwerbsbiografien und vielfältige Tätigkeitsbereiche im Laufe eines Berufslebens gekennzeichnet ist, werden Arbeitnehmer ihre Karriere zudem in Zukunft globaler sehen (müssen). Sie können sich nicht mehr auf ein eingeschränktes Berufsfeld oder einen bestimmten Karrierepfad in einem bestimmten Unternehmen konzentrieren, sondern entwickeln sich im Sinne von „Portfolio-Laufbahnen“ oder „Mosaik-Karrieren“ gemäß ihrer individuellen Talente und Fähigkeiten und erleben dabei unterschiedliche Formen von Status und Funktion (vgl. Sattelberger 1999a). Viele gängige Vergütungssysteme orientieren sich primär an dem Modell des „Normalarbeitsverhältnisses“ und entlohnen „...oft nur eine spezifische Arbeitsaufgabe in einer hierarchischen Organisation mit einer starren Arbeitsteilung“ (Blancke/Roth/Schmid 2000). Zudem ist Entlohnung häufig an kurzfristige Perspektiven gekoppelt und berücksichtigt nicht den Aspekt der Bewältigung künftig zu erfüllender Aufgaben. Diese Art und Weise der Vergütungspolitik ist kaum kompatibel mit der Implementierung von Employability und bedarf einer Anpassung.
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Es gibt eine Reihe von Determinanten der Vergütungssysteme, die der Umsetzung von Employability-Ansätzen im Unternehmen gerecht werden. Diese sind (vgl. Blancke/Roth/Schmid 2000): •
Schaffung von Anreizen zum Erwerb von Zusatzqualifikationen.
•
Aufwertung zukunftsorientierter Arbeitsplatzanforderungen.
•
• •
•
Einführung von Zuschlägen auf das Grundentgelt in Abhängigkeit vom Unternehmensergebnis oder für kontinuierliche Verbesserungsprozesse. Aufwertung nicht-standardisierter Arbeitsverhältnisse. Sensibilisierung der Führungskräfte für leistungsgerechte Entlohnung ohne starre Orientierung an Tarifen. Stärkere Ausgestaltung der Vergütung in Form empfängerorientierter Förderungen (z. B. Seminarteilnahme) anstelle von Statussymbolen.
Darüber hinaus sollten zur Bindung von Mitarbeitern an das Unternehmen immaterielle Anreize angeboten werden. Dazu gehört auch der gezielte Einsatz von Statussymbolen. Sicherheit als Incentive muss in diesem Zusammenhang keineswegs lebenslange Arbeitsplatzgarantie bedeuten, sondern kann ebenso aus der Gewissheit entstehen, in dem gegenwärtigen Arbeitsumfeld optimale Bedingungen dafür vorzufinden, die eigene Beschäftigungsfähigkeit zu verbessern. Der Erhalt und die erfolgreiche Entwicklung von Employability auf der einen Seite sowie Gesundheit und körperliches Wohlbefinden auf der anderen Seite stehen in engem Zusammenhang. Erst das Vorhandensein von beruflich verwertbarer Kompetenz und Gesundheit führt zu einer nachhaltigen Beschäftigungsfähigkeit. Verfügt ein Mitarbeiter zwar über exzellente berufsrelevante Kompetenzen, achtet jedoch nicht auf seine Gesundheit, ist er ebenso wenig beschäftigungsfähig wie derjenige, der gesundheitsbewusst handelt, dafür aber seinen beruflichen Anforderungen nicht gewachsen ist (vgl. Kriegesmann 2005). Wohlbefinden ist ein förderlicher Faktor bei der Ausbildung von Employability. Demgegenüber ist auch zu konstatieren, dass das Ziel und der Prozess zum Erhalt und zur Entwicklung von Employability mit Belastungen einhergehen können. Ängste, Befürchtungen und Stress sind hier zu nennen. Die Ausfüh64
4 FORSCHUNGSSCHWERPUNKT: EMPLOYABILITY
rungen machen deutlich, dass Gesundheitsförderung ein erfolgskritisches Handlungsfeld im Rahmen von Employability Management darstellt. Dabei ist vor allem der Fokus auf die Gesundheitsprävention sowohl in Bezug auf physische als auch psychische Belastungsmomente, die sich immer stärker häufen, zu richten. Damit wird die Gesundheitsprävention auch Aufgabe von Führung, ist im Kontext von Personaleinsatzplanung zu betrachten und steht in einer interdependenten Beziehung zur Personalentwicklung (vgl. Bertelsmann Stiftung/Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände 2003, Kriegesmann 2005, Prognos AG 2005).
4. Fazit Erhalt und Förderung von Employability stellt eine Aufgabe dar, der sich Arbeitgeber, Staat und Individuum gleichermaßen annehmen müssen. Darüber hinaus wird deutlich, dass die Entwicklungen in Wirtschaft, Politik, Recht und Gesellschaft ein weiteres Aufschieben dieser Aufgabe nicht zulassen. Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft auf Unternehmensseite und die Sicherstellung einer befriedigenden und existenzsichernden Beschäftigung auf Seiten des Individuums sind untrennbar mit dem Thema Employability verbunden. Employability umfasst ein Bündel von Kompetenzen. Neben fachlichen Kompetenzen und Medienkompetenz lassen sich auch soziale und überfachliche Fähigkeiten sowie Kompetenzen, die in Bezug zur Einstellung, Haltung und Mentalität stehen, identifizieren. Dabei kommt es nicht darauf an, dass ein Beschäftigter sofort die optimale Ausprägung entwickelt. Vielmehr ist die Philosophie „Der Weg ist das Ziel“ (jedoch nicht ohne sich ein Ziel zu setzen) und die Einstellung „sich auf den Weg zu machen“ sowie sich mit dem Thema „lebenslange Beschäftigungsfähigkeit“ auseinander zu setzen von Wichtigkeit. Mit Employability werden zum einen Nutzenaspekte generiert. Zum anderen sind mit Employability Ängste und Befürchtungen verbunden. Die Nutzenbetrachtung lässt erkennen, dass nicht nur Arbeitnehmer, sondern auch Arbeitgeber von einer gelebten Employability-Kultur profitieren. Für das Unternehmen bedeutet die Förderung der Beschäftigungsfähigkeit ihrer Mitarbeiter ei65
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ne Investition in ihre organisationale Wissensbasis, die in Zeiten eines zunehmenden Wettbewerbs- und Innovationsdrucks eine immer höhere Bedeutung erlangt. Darüber hinaus ermöglicht sie ihnen einen Vorteil bei der Rekrutierung von High Potentials sowie einen flexibleren Mitarbeitereinsatz, der nicht zuletzt in Krisenzeiten von Bedeutung ist. Downsizing-Prozesse können in der Folge derart gestaltet werden, dass auch die Moral der zurückbleibenden Beschäftigten gefestigt bleibt und das Unternehmensimage nicht in Mitleidenschaft gezogen wird. Für den Einzelnen bedeutet die Sicherung seiner Beschäftigungsfähigkeit einen unablässigen Prozess, der ihm neue Perspektiven nicht nur bei einem Arbeitgeber und in einem Berufsfeld, sondern auf dem gesamten Arbeitsmarkt eröffnet. Im Hinblick auf Ängste und Befürchtungen lässt sich feststellen, dass Arbeitgeber kritisch das Kosten-Nutzen-Verhältnis betrachten. Nur langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass der Aufwand und die Gefahr einer „Qualifizierung nach außen“ vergleichsweise gering, der langfristige Zugewinn an Know-how und Flexibilität dafür aber umso höher ist. Auf Mitarbeiterseite sind Ängste sichtbar, die vor allem auf eine mögliche Überforderung zurückzuführen sind. Zwar ist den Arbeitnehmern mehr und mehr bewusst, dass eine „gute“ berufliche Erstausbildung und eine gezielte Berufs- und Arbeitsplatzwahl keine Sicherheit mehr garantieren, dennoch fällt es immer noch schwer, die eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen als allein sicherheitsgebend zu betrachten. Darüber hinaus haben nicht wenige Mitarbeiter die Befürchtung, dem kontinuierlichen Lernprozess nicht gewachsen zu sein. Hier bedarf es der Unterstützung und sozialen Verantwortung der Unternehmen und vor allem der Sozialpartner. Die Forderung und Förderung von Employability im Unternehmenskontext erfordert einen ganzheitlich-integrativen Ansatz, um alle für den Unternehmenszweck und -erfolg relevanten Handlungsfelder in die Employability orientierte Umsetzung zu integrieren. Dabei spielt das individuelle Können und Wollen eine ebenso große Rolle wie das von der Unternehmensseite geprägte Dürfen und Sollen. Zum anderen ist eine systemische Denkweise zu bevorzugen, die zunächst auf normativer Ebene das Gedankengut der Employability zu einer unternehmensweiten Vision werden lässt. Nach einer Konkretisierung dieser Vision auf strategischer Ebene in den Managementsystemen wird der so entstandene Handlungsrahmen in praxisorientierten Instrumenten und Verhal66
4 FORSCHUNGSSCHWERPUNKT: EMPLOYABILITY
tensweisen operationalisiert. Hier stehen insbesondere die Handlungsfelder Unternehmenskultur, Führung und Organisation, Karriere- und Personalentwicklung, Vergütung sowie Gesundheitsförderung im Fokus. Abschließend lässt sich sagen, dass im Zentrum der Bestrebungen zu Erhalt und Steigerung von Employability eine zielgerichtete Konzeption stehen muss, die Ängsten und Hindernissen auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite ebenso Rechnung trägt wie tradierten Strukturen und Systemen, die ihre Umsetzung hemmen. Denn Employability darf nicht länger ein Schlagwort bleiben, dem keine konkreten Taten folgen.
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5. Literatur Bertelsmann Stiftung/Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (2003): Erfolgreich mit älteren Arbeitnehmern, Gütersloh 2003. Blancke, S./Roth, C./Schmid, J. (2000): Employability („Beschäftigungsfähigkeit“) als Herausforderung für den Arbeitsmarkt – Auf dem Weg zur flexiblen Erwerbsgesellschaft – Eine Konzept- und Literaturstudie (Arbeitsbericht Nr. 157 der Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg), Stuttgart 2000. Ernst, H./Hauser, R./Katzenstein, B./Micic, P. (2003): Lebenswelt 2030, Köln 2003. IAB (2007 B1): Materialsammlung Fachkräftebedarf der Wirtschaft. Zukünftiger Fachkräftemangel? Demografische Effekte auf das Erwerbspersonenpotenzial, Nürnberg 2007. IAB (2007 C6): Materialsammlung Fachkräftebedarf der Wirtschaft. Ansatzpunkte für Therapien. Arbeitsmarkt für Frauen, Nürnberg 2007. IW (Institut der Deutschen Wirtschaft) (2007a): Wertschöpfungsverluste durch nicht besetzbare Stellen beruflich Hoch qualifizierter in Deutschland, Köln 2007. Kraus, K. (2006): Vom Beruf zur Employability? Zur Theorie einer Pädagogik des Erwerbs, Wiesbaden 2006. Kriegesmann, B. (2005): Lebenslanges Lernen im Bereich von Sicherheit und Gesundheitsschutz: Entwicklung eines Kompetenzmodells als Basis für die Förderung eigenkompetenten Verhaltens, Bochum 2005 (www.bmwa.de/fors/fb05/fb1038.pdf). Prognos AG (2005): Work-Life-Balance, Motor für wirtschaftliches Wachstum und gesellschaftliche Stabilität, Berlin 2005. Rump, J./Lau-Villinger D. (2001): Management Tool Wissensmanagement, Köln 2001. Rump, J./Völker, R. (2007): Employability in der Unternehmenspraxis. Eine empirische Analyse zur Situation in Deutschland und ihre Implikationen, Heidelberg 2007. Sattelberger, T. (1999a): Der „Neue Moralische Kontrakt“: Nadelöhr für das strategische Management der Humanressourcen in Netzwerkorganisationen, in: Sattelberger, T. (Hrsg.), (1999): Wissenskapitalisten oder Söldner? Personalarbeit in Unternehmensnetzwerken des 21. Jahrhunderts, Wiesbaden 1999, S. 59 – 95. Sattelberger, T. (1999b): Lernkultur für ein Unternehmen der Zukunft, in: QUEM-report. Schriften zur beruflichen Weiterbildung 60: Kompetenz für Europa. Wandel furch Lernen – Lernen im Wandel, S. 93 – 117.
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4 FORSCHUNGSSCHWERPUNKT: EMPLOYABILITY
Sattelberger, T. (2009): Unternehmen als Chancen- und Risikogemeinschaft: Initiativen geteilter Verantwortung, in: Speck, P. (Hrsg.): Employability – Herausforderungen für die strategische Personalentwicklung. Konzepte für eine flexible, innovationsorientierte Arbeitswelt von morgen, 4. Auflage, S. 309 – 326. Scholz, C. (2009): Employability bei „fortgeschrittenen“ Spielern ohne Stammplatzgarantie, in: Speck, P. (Hrsg.): Employability – Herausforderungen für die strategische Personalentwicklung. Konzepte für eine flexible, innovationsorientierte Arbeitswelt von morgen, 4. Auflage, S. 357 – 366.
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Führung Führung wird in der Organisation 2.0 keineswegs aufgelöst zugunsten egalitärer Strukturen und sich selbst steuernder Systeme. Im Gegenteil spielt sie eine zentrale Rolle, um dem hohen Tempo in den Organisationen und den sich darin bewegenden Menschen den notwendigen Halt zu geben. In diesem Verständnis bieten Führungskräfte Leitplanken – nicht mehr autoritär von oben herab, sondern partizipativ mit aktiver Einbindung der Mitarbeiter. In ihrem Interview sprechen Anja Förster und Peter Kreuz daher von Führungskräften, die in der Organisation 2.0 als soziale Architekten fungieren und ein hohes Fingerspitzengefühl an den Tag legen. Führung muss gerade in neuen Organisationen um ihre Zerbrechlichkeit wissen und in hohem Maße selbstreflexiv sein. Hierauf verweist die Organisationsberaterin Susanne Quistorp, für die Führung ein zentrales Element in unsicheren Zeiten darstellt. Mehr denn je. In globalen Unternehmen sind Teams oft nicht mehr an einem zentralen Ort vertreten, sondern streuen sich weltweit. Darauf muss sich Führung einstellen und entsprechend „remote“ führen, wie der SAP HR-Manager Hartmut Hillebrand in seinem Artikel aufzeigt.
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5 Führungskräfte werden „soziale Architekten“ Interview mit Anja Förster und Peter Kreuz zur Führung in der Organisation 2.0 Anja Förster und Dr. Peter Kreuz sind „Vordenker einer neuen Generation in Wirtschaft und Management“. Sie sind als Berater im Topmanagement renommierter internationaler Unternehmen aktiv und veröffentlichen in regelmäßigen Abständen mehrfach ausgezeichnete Managementbücher.
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FÜHRUNG
Was verstehen Sie unter Führung? Führung bedeutet, die gesamte Organisation dahin zu bringen, dass sie sich aus Überzeugung für Veränderungen begeistert. Jeder Mitarbeiter schlägt Innovationen vor, testet, verwirft, ändert und schlägt erneut vor, bis ein entscheidender neuer Nutzen entstanden ist. Chefs, die nach dem Prinzip Kommando und Kontrolle arbeiten, haben in der Organisation 2.0 keine Chance mehr. Die Führungskräfte neuen Typs sind „soziale Architekten“, deren Einfluss weniger auf ihrer Rolle als auf ihrer Persönlichkeit basiert. Sie sind Integratoren, konzeptionelle Denker, kreative Problemlöser, bringen unterschiedliche Meinungen zusammen. Ist Führung etwas, was mit Ausstrahlung zu tun hat, also eine Art „natürliche“ Begabung zur Führung? Oder können Menschen in Führung hineinwachsen, Führung lernen? Wirkliche Führer praktizieren Führung nicht – sie leben sie. Sie sind, was sie tun. Das hat weniger mit einer natürlichen Begabung zu tun und sehr viel mehr damit, als Mensch du selbst zu bleiben. Die Ausstrahlung, die wir dann bei solchen Menschen wahrnehmen, ist eine Folge ihrer Authentizität. Ist Führung immer gekoppelt mit Konsequenz, mit Härte, mit Durchsetzungskraft? Führung ist gekoppelt mit Konsequenz – das ist richtig. Aber Konsequenz ist nicht gleichbedeutend mit Härte. Konsequenz bedeutet vielmehr, Entscheidungen zu treffen – auch solche, die unangenehm sind. Gute Führer verstecken sich nicht, auch wenn das bisweilen schlecht für ihren Imagewert ist. Heißt Führung immer Bindung? Führung, die Mitarbeiter bindet, funktioniert nicht – jedenfalls nicht mehr in der Organisation 2.0. Es funktioniert nur auf dem umgekehrten Wege: Mitarbeiter binden sich freiwillig an eine Führungskraft und folgen ihm/ihr. Und das bedeutet: Gefolgschaft kann eben nicht mehr eingefordert oder angeordnet werden – sie ist freiwillig. Und das bedeutet: Erfolg wird derjenige haben, der durch die Qualität seiner Ideen, die Überzeugungskraft seiner Argumente, sichtbare Expertise und auch durch selbstloses Verhalten gegenüber den eigenen Anhängern überzeugt. Das Internet gibt uns heute schon eine ganz gute Idee, wie das zukünftig aussieht. Siehe Organisationen wie Wikipe74
5 FÜHRUNGSKRÄFTE WERDEN ‚SOZIALE ARCHITEKTEN‘
dia: Dein Status wird durch die Qualität Deiner Ideen bestimmt. Nicht Deine Position ist von Bedeutung. Und wenn Deine Ideen und Beiträge nicht gut sind, dann wirst du auch keine Leute haben, die sich Dir freiwillig anschließen. Gibt es in Unternehmen überhaupt noch einen Wunsch, ein Bedürfnis nach Führung? Natürlich! Aber es ist keine besserwisserische Führung, die den Mitarbeitern sagt, wo es lang geht, sondern eine Führung im Sinne eines sozialen Architekten. Nimmt Führung dann künftig eher eine Moderatorenrolle ein? Zu einem gewissen Teil ja. Aber Moderation darf nicht mit moderat und konfliktscheu oder im Sinne von der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner verwechselt werden. Es geht vielmehr darum, unterschiedliche Meinungen zusammenbringen. Wie weit sind Organisationssysteme in der Lage, sich selbst zu steuern? Geht dies ohne Führung? Die Erkenntnis setzt sich durch, dass jene Organisationen erfolgreich sein werden, denen es gelingt, das volle menschliche Potenzial zu nutzen. Das bedeutet, aus der Fülle des menschlichen Wissens und der Kreativität der Individuen zu schöpfen und es in neue nützliche Anwendungen zu übersetzen. Das funktioniert nur, wenn den Menschen Freiheit gewährt wird, sie sich selbst Ziele setzen und selbst darüber entscheiden, wie sie arbeiten wollen. Und das bedeutet: Keine physische Anwesenheitspflicht, damit der Chef auch kontrollieren kann, ob ich arbeite und wie lange, sondern Vertrauensarbeitszeit. Kein Abarbeiten von Aufgaben, sondern ein erwachsenes zielgesteuertes Arbeiten. Klingt für viele heute noch wie Science Fiction und wird allenfalls Selbstständigen oder Kreativen zugebilligt. Das stimmt aber schon längst nicht mehr: Fortschrittliche Organisationen setzen schon längst auf die Fähigkeit ihrer Mitarbeiter zur Selbststeuerung.
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FÜHRUNG
Es gibt mittlerweile fünf unterschiedliche Generationen in Organisationen, die teilweise divergierende Wertesysteme haben. Wie geht Führung damit um? Führung hat immer schon bedeutet, dass in einer Organisation unterschiedliche Generationen zu managen waren, die immer auch divergierende Wertesysteme hatten. Aufgabe der Führung muss es sein, diese Unterschiede zu nutzen. Als Chef eines innovativen Unternehmens brauchen Sie bunte Mitarbeiter: Menschen unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Lebenserfahrung oder unterschiedlicher Wertesysteme. Die Kunst liegt darin, die daraus resultierende Reibung zuzulassen und diese für Innovation und Veränderung zu nutzen. Was bedeutet die Alterung der Unternehmen für die Führungsaufgabe? Führungskräfte in der Organisation 2.0 sind Veränderungsmakler, die Mitarbeiter dazu bringen, über eine ungewisse Zukunft nachzudenken und sich darauf vorzubereiten. Kreative (Zer-)Störer im Sinne Schumpeters, die auch im Unternehmen schöpferische Ungleichgewichte erzeugen und nutzen. Einen solchen Störauftrag auszuüben und damit einhergehende permanente Veränderung voranzutreiben, wird angesichts der zunehmenden Veralterung der Unternehmen sicherlich nicht einfacher.
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Organisationen als „fluide“ Systemstrukturen verstehen und führen
von Susanne Quistorp Susanne Quistorp ist Mitinhaberin, Partnerin und operative Geschäftsführerin des Instituts für Systemische Impulse in Zürich. Ihre Schwerpunkte sind interdisziplinäre, multikulturelle Verständigung und Kooperation, Führung sowie die Begleitung von Familienunternehmen in Konfliktsituationen. Sie ist Diplom-Pädagogin und Diplom-Psychologin.
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FÜHRUNG
1. Einführung Wenn wir heute Organisationen betrachten, stellen wir fest, dass wir deren Veränderungen nur unzureichend beobachten können. Darauf haben wir uns neu einzustellen – sowohl, was unsere Selbststeuerungsmöglichkeiten in diesen temporeichen Wandlungsprozessen als auch deren Steuerbarkeit selbst betrifft. Wo sind Halt bietende Inseln im Chaos? Sind Projektwirtschaften die Antwort? Ein unbeständiges Umfeld, eine fluide Organisation, eine fluide Persönlichkeit? Wie viel Fluidität erträgt der Mensch? Wo ist die Grenze des Adaptierbaren? Wie definieren wir uns als Personen, Organisationen, menschliche Gesellschaften im akzelerierenden Wechsel zwischen Chaos und Stabilität? Führung bewegt sich mittlerweile im Spannungsfeld zwischen traditionellen und partizipativen Führungsverständnissen bis hin zu neuen Ansätzen für die Steuerung komplexer Herausforderungen, um die es hier geht.
2. Die Betrachtung von Organisationen als „fluide“ Systemstrukturen Die Globalisierung bestimmt mit rasanter Geschwindigkeit soziale und organisationelle Entwicklungen sowie deren Bezogenheiten. Systeme, wie Organisationen oder Unternehmungen, sind zunehmend Momentaufnahmen. Zielund Verantwortungsdefinitionen, Produkte, Dienstleistungen, Aufgaben, personelle Zusammensetzung, kulturelle wie soziale Bezüge, Organisationsgestaltungen, unternehmerisches Umfeld, Märkte – alles ist im Fluss und lässt sich nur aktuell beschreiben und entwicklungsbezogen konzipieren. Aber mit Blick auf was und wen? Auch das können wir nur aktuell beschreiben und uns dadurch zu erkennen geben. Den Anspruch, die Komplexität zu erfassen, die wir zu verantworten haben, können wir zwar formulieren und mit ernsthafter Bemühung verfolgen, doch nie umfassend erreichen. Intersystemische Faktoren in der Komplexität 78
6 ORGANISATIONEN ALS „FLUIDE“ SYSTEMSTRUKTUREN VERSTEHEN UND FÜHREN
ihrer Wechselwirkungen sind nicht wirklich kontrollierbar: Je höher die intraund intersystemische Vernetzungsdichte, umso zahlreicher und unüberschaubarer sind die Rückkopplungseffekte: „Angesichts der Phänomene organisierter Komplexität, mit der es das Management zu tun hat, ist es unmöglich, im vornhinein zu wissen, welche Probleme es wie lösen wird“ (Baecker 1999). Das Wegfallen von klaren Strukturen, der Verlust von Planbarkeit, mangelnde Transparenz, Information und Kommunikation sind Alltagsrealität für Arbeitnehmer. Führung kann heute folglich als rahmende, sichernde, vernetzt tragende, treibende und suchende Steuerung von angestrebten, aber ungewissen Entwicklungen beschrieben werden. Dabei kann sie vor allem „Leitplanken markieren“ (Wedekind/Georgi 2008), die erlaubtes/gefordertes von nicht erlaubtem/nicht gefordertem unterscheiden – und Kooperationsprozesse im Sinne von „Beziehungsmanagement“ (Pinnow 2005) fördern. Es entspricht wohl der Natur des Menschen, dass dieses „Beziehungsmanagement“ eine fortwährende und in ihrer Entwicklung unberechenbare Gratwanderung zwischen sach- und personendienlicher Zielverfolgung vollzieht. Je komplexer und damit unüberschaubarer sich die sachdienlichen Perspektiven darstellen, desto stärker verbreitern sich die personendienlichen. Besonders in Krisenzeiten oder in Zeiten großer Veränderungen ist ein „Verständnis von Organisationen als kommunikatives System mit den typischen Merkmalen komplexer Systeme („Nicht-Linearität, Turbulenzen, sensible Abhängigkeiten von Ausgangsbedingungen, Feedback-Kaskaden zwischen Organisation und Umwelt, begrenzter Vorhersagbarkeit, Konstruktion von Wirklichkeiten, Selbstähnlichkeit etc.“ (Wilke 1995, in Wedekind/Georgi 2008)) hilfreich, um einen zeitgemäßen Zugang zu Themen wie Führung, Steuerung, Leitung und Hierarchie zu entwickeln.
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FÜHRUNG
Eine orientierende Rahmung: Ein Artikel zu diesem Thema hat die implizite Erwartung der Herausgeber wie der Lesenden, er möge neue Orientierungen und ggf. auch Sicherheiten generieren. Auch die Autorin schafft sich schreibend selbst Orientierung. Aber wir können nicht darüber hinwegsehen, dass wir uns letztlich immer nur bemühen können, eine mit dem aktuellen Stand unseres Wissens orientierende Rahmung zu schaffen für den Umgang mit ungewissen Entwicklungen. Darum soll es hier gehen: Wie orientieren wir uns selbst? Wie gehen wir die von uns verantworteten Zielsetzungen und Aufgaben an, wenn wir uns eingestehen, dass wir vieles erreichen, aber niemals alles kontrollieren können? Und wie sorgen wir für identitätsstiftende Orientierung und für motivierende Arbeitsbedingungen?
3. Führen von fluiden Organisationsstrukturen – das grundlegende Postulat Führen heißt Verantwortung verstehen, übernehmen, tragen und delegieren – für Weitblick, Rahmung, Orientierung, Sicherung, Forderung, Förderung. Dies setzt voraus, dass Führungskräfte sich ihrer eigenen Wertelandschaft bewusst sind und diese mit den unternehmerischen Visionen und Werten verbinden, für die sie einstehen, mit denen sie sich identifizieren. Es bedingt die kognitive Fähigkeit, Komplexitäten und deren Wirkungspotenziale umfassend wahrzunehmen. Es erfordert Mut zur intelligent-intuitiven Komplexitätsreduktion, zur Priorisierung und zur verantwortlichen Steuerung im Rahmen wahrgenommener Möglichkeiten. Dabei sind kontinuierliche Selbstbeobachtung und professionelle Reflexion unabdingbar. Sich die eigenen Stärken und Schwächen bewusst zu machen, findet u. a. in einer proaktiven Unterstützungskultur Ausdruck (Coaching, Steuerungsgruppen, Experten u. ä.). Die Bewusstmachung von unternehmerischen Ressourcen und Stärken wird öffentlich gepflegt, optimal genutzt und ersetzt die Tradition 80
6 ORGANISATIONEN ALS „FLUIDE“ SYSTEMSTRUKTUREN VERSTEHEN UND FÜHREN
der Schwächen- und Fehlerfokussierung. Den Mitarbeitern sind ihre Entwicklungs- und Produktivitätsräume bekannt, ihr motivationales Potenzial wird gefördert, ihre Eigenverantwortung wird mobilisiert. Transparenz und Kommunikation, Verständigung und Unterstützung sind wesentliche Bestandteile der gelebten Organisationskultur. Zu diesen Annahmen eine Standortklärung: Wo stehen sie als Führungskraft? Selbstcheck 1 Was hat Ihre Führungshaltung geprägt? Was sind Ihre Vorbilder? Wie sind Sie zu Ihrer Führungsaufgabe gekommen? Was waren dabei Ihre Orientierungspunkte? Was sind Ihre Führungsaufgaben? Was daran bereitet Freude? Welche Ideen zum Thema „Führung“ sind für Sie inspirierend? Was scheint Ihnen weniger handlungsrelevant? Worin bestehen Ihrer Ansicht nach Ihre Führungskompetenzen? Wie denkt berufliches wie Ihr privates Umfeld über Ihre Selbsteinschätzung? Wohin wollen Sie sich und andere führen? Was bedeutet für Sie Orientierung, Sicherheit, Unsicherheit? Was ist der „Weitwinkel“, den Sie einstellen, bevor Sie Ihre Prioritäten festlegen? Was schreiben Sie dem Begriff Autorität zu? Führungskräfte wirken nach systemischem Verständnis am ehesten erfolgreich, wenn sie im positiven Sinne Attraktoren darstellen für das, wofür sie einstehen, und wenn sie mit dieser Haltung ihre Mitarbeiter zur Selbstverantwortung aktivieren. Es bietet sich daher die Auseinandersetzung mit Zuschreibungen zum Autoritätsbegriff an.
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FÜHRUNG
4. Annäherung an ein konstruktives Autoritätsverständnis „Autorität ist im weitesten Sinne eine soziale Positionierung, die einer Institution oder Person zugeschrieben wird und dazu führt, dass sich andere Menschen in ihrem Denken und Handeln nach ihr richten.“ (de.wikipedia.org/wiki/Autorität) Traditionelle autoritäre Konzepte haben auf ihre Art Orientierungen geboten – oder gar erzwungen. Diese Modelle wurden im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts bekämpft und durch partizipative Führungskonzepte abgelöst, die sich in einem kompetenten, nicht hierarchischen, kooperativen Klima bewähren. Doch für komplexe Herausforderungen und fluide Systemstrukturen bieten sie zu wenig Halt. Dies begünstigt erneut die Gefahr von totalitären Führungsstrukturen, wie wir es in vielerlei Hinsicht (politisch, wirtschaftlich, religiös) beobachten. Wenn wir dem entgegenwirken wollen, müssen wir uns dem Verantwortungsbegriff neu stellen. Das Konzept der konstruktiven Autorität nimmt die strukturell definierte und entwicklungsbezogene Verantwortung wieder in die Hand – unter Verzicht auf die Nutzung von struktureller Gewalt. Sie besetzt den Führungsbegriff positiv im Sinne von Halt und Orientierung geben, Fordern und Fördern, Grenzmarkierungen für Handlungsspielräume und gelebter Präsenz, Ein- wie Zusammenstehen für die vertretenen Prioritäten sowie Zielsetzungen und Anforderungen. Eine Gegenüberstellung – traditionelle und konstruktive Autorität mit ihren Perspektiven (in Anlehnung an Haim Omer):
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6 ORGANISATIONEN ALS „FLUIDE“ SYSTEMSTRUKTUREN VERSTEHEN UND FÜHREN
Perspektiven traditionelle Autorität
Perspektiven konstruktive Autorität
Dämonisierung: Dem Gegner wohnt ein Dämon inne, der sein Verhalten bestimmt. Positiven Signalen und Kompromissen ist deshalb zu misstrauen (Manipulation, Trick, usw.)
Vielstimmigkeit: viele Seiten, Rollen, Möglichkeiten stecken in einer Person. Deshalb Positives annehmen und stärken und Schwieriges thematisieren
Kontrolle: Ohne totale Kontrolle bin ich verloren (übernimmt der Dämon die Kontrolle) > Illusion der Kontrollierbarkeit
Präsenz: Keine Möglichkeit der totalen Kontrolle von anderen, sondern nur des eigenen Verhaltens: präsente, entschiedene Positionierung
Lineare Eskalation: „er hat angefangen, ich reagiere nur...“
Zirkuläre Eskalation: Eskalation ist immer gegenseitig, immer Interaktion: „Ich kann meinen eigenen Beitrag verändern“
Pflicht zu gewinnen: - moralisch (weil ich recht habe) - strategisch (weil ich sonst verloren bin) - wenn es für den anderen so wichtig ist, zu gewinnen, muss es auch für mich wichtig sein
Pflicht zu widerstehen: „Ich kann nicht anders, als mich gegen dieses Verhalten (nicht gegen die Person) zu stellen.“
Vergeltung: Auge um Auge
Asymmetrie: - kreativ - gewaltlos - öffentlich
Konsequenz (consistancy): total, immer
Beharrlichkeit (persistency): Ich kann nachgeben, aber ich komme darauf zurück. „ich muss nicht gewinnen, aber ich muss beharren“
Unmittelbarkeit: sofort reagieren, sonst wird eine Schwäche unterstellt: aber wegen emotionaler Erregung oft schlechte Reaktionen > Eskalation
Aufschub/Reife: „Ich kann dieses Verhalten nicht akzeptieren, ich komme darauf zurück“
„DER STÄRKERE SEIN!“ angeborene Eigenschaft, intuitive, reflexhafte, „normale“ Art von Reaktion
„POSITIVE BEZIEHUNG FÖRDERN!“ anstrengend, verlangt Selbstkontrolle, Wertschätzung, Dranbleiben
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FÜHRUNG
5. Merkmale gelebter konstruktiver Autorität: Professionelle Präsenz Arist von Schlippe (2009) unterscheidet vier Formen der Präsenz, die alle als professionelle Präsenz zu verstehen sind: die körperliche Präsenz (im Sinne von Anwesenheit spürbar leben), die mentale Präsenz (Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeitserleben, die wie die unternehmerische Kompetenz eine Grundlage für verantwortliches, strategisches Führen bilden), die soziale Präsenz (Vernetzung von Führungsverantwortung) und die Verhaltenspräsenz (einschreitendes Verhalten in einem sorgenden bzw. sichernden Sinne). Diese vier Aspekte professioneller Präsenz bilden die Grundlage für ein authentisches wie verantwortliches Führungsverhalten: eine orientierende Rahmung für organisationelle Entwicklungen. Positionierung Menschliche Entwicklung und zwischenmenschliche Verständigung verlangen nach Positionierung, Authentizität, Orientierung, Sicherheit, Feedback und Fürsorge. Vielleicht sind dies die wesentlichsten Aspekte eines zeitgerechten Verständnisses von Verantwortung und Führung. Um dieser Herausforderung gerecht zu werden, ist eine weitere Selbstreflexion unerlässlich: Wo stehe ich? Was ist meine Verantwortung? Was sind meine inneren und die äußeren Koordinaten, die mir Orientierung geben? Führungskräfte sind gut beraten, diese Fragen in ihre alltäglichen Reflexionen hineinzunehmen. Dafür mögen folgende, weitere Selbst-Reflexionen hilfreich sein: 1. Verständigung, Entwicklung und Produktivität brauchen strukturelle, soziale und emotionale Sicherheit: •
Worauf können Sie sich bei sich selbst verlassen?
•
Wie sichern Sie sich in unsicheren Zeiten?
•
Worauf können sich ihre Mitarbeitenden bei Ihnen verlassen?
•
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Worauf können sich ihre Mitarbeitenden in ihrem Unternehmen verlassen?
6 ORGANISATIONEN ALS „FLUIDE“ SYSTEMSTRUKTUREN VERSTEHEN UND FÜHREN
2. Verständigung, Entwicklung und Produktivität brauchen Kontakt, wahrnehmbar wertebasiertes, zielfokussiertes Handeln und präsentes Geführt werden: •
Was sind ihre wichtigsten Werte und Ziele?
•
Werden diese von Ihrem Unternehmen geteilt?
•
•
Was wissen Sie darüber, wie Ihre Werte und Ziele von Ihren Mitarbeitenden wahrgenommen werden? Wie präsent und konsequent stehen Sie für Ihre Werte und Ziele ein?
3. Verständigung, Entwicklung und Produktivität müssen Sinn stiften: • •
Wie sind Sie sozial tragfähig vernetzt und gestützt? Wie sinnstiftend erleben Sie, erleben Ihre Mitarbeitenden, das, was zu tun ist?
•
Wie können Sie Ihre Stärken und Ihre Kreativität in Ihrer Rolle nutzen?
•
Wie fördern Sie tragfähige Kooperationsbeziehungen?
•
Wie zufrieden und kreativ dürfen Ihre Mitarbeiter sein?
4. Wenn Sie diese Fragen für sich beantwortet haben: •
Wie wirken Ihre Antworten auf Sie zurück?
•
Womit fühlen Sie sich sicher? Womit weniger?
•
Wen könnten Sie in einen Sie weiterbringenden Dialog über Ihre weniger zufriedenstellenden Antworten mit einbeziehen?
•
Wie leben Sie Ihre Entschiedenheit?
•
Wie bauen Sie Unterstützungssysteme für Ihre Zielvorhaben auf?
•
Wie motivieren Sie Ihre Mitarbeitenden?
•
Wie gut nutzen und pflegen Sie deren Ressourcen?
5. Führung braucht mentale, psychische und physische Entschiedenheit, Konzentration, Regeneration und Pflege. •
Wie stellen sie diese für sich sicher? 85
FÜHRUNG
6. Ausblick Im Dschungel der Komplexität von Organisationslandschaften bleibt Führung mit dem Gesagten zunächst einmal die kontinuierliche Selbstverortung und Selbstreflexion als bewusster Ausgangsort für Führungshandeln. Ruth Seliger (2008) bietet hierzu ein interessantes Führungsmodell an – die Leadership Map, die Führungskräfte durch die Vielschichtigkeit und Komplexität ihrer Führungsaufgabe navigiert. Wenn Führung sachdienlich sein will, kann ihre Aufgabe in aller Demut formuliert werden als der dranbleibende Versuch, wesentliche Komplexitätsparameter für angestrebte Entwicklungsprozesse zu erfassen und diese abgestützt und vernetzt zu fokussieren sowie mit nachhaltiger Zielsetzung zu verfolgen. Dafür sind menschliche Potenziale zu mobilisieren, verantwortlich zu aktivieren, zu motivieren und identitätsstiftende Kulturen zu schaffen. Dies ist Herausforderung wie Energiequelle zugleich. Und es ist aus Sicht der Autorin die uneingeschränkte Pflicht von Organisationsberatern, Führungskräfte in diesem Sinne zu unterstützen und den angeregten Fragen und Gedanken nachzugehen. Das ist vielleicht nicht nur angenehm, geht es ja mit dem Hinterfragen bisheriger Führungs- wie Beratungsverständnisse einher. Das braucht Zeit in einer Welt, in der schnelle Lösungsansätze mehr gefragt sind denn je. Aber haben wir noch ernsthaft die Wahl, in alter Manier weiterzumachen? Wertevernichtung und -zerfall sind allerorts beklagte Entwicklungen; ebenso persönliche Bilanzen von Energie-, Kompetenz- und Sozialverlust. Andernfalls riskieren wir eine resignierte, unmotivierte oder sich selbst führende Mitarbeiterlandschaft, die sich im Opfermodus gelähmt fühlt – neben gleichermaßen resignierten und ausgebrannten Führungskräften: „Notplan gegen Selbstmorde: Frankreich zwingt Firmen zu Abkommen gegen Stress. Auch in Deutschland steigt die Belastung“ (Süddeutsche Zeitung, Ausgabe 233/2009). Diese und ähnliche Nachrichten weisen auf die Dringlichkeit der hier aufgezeigten Perspektiven hin. Führungspersonen, die ihr Handeln auf die Basis eines im oben beschriebenen konstruktiven Autoritätsbegriffs stellen, mobilisieren ihre Energie und ihre rollenadäquate Handlungs-
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6 ORGANISATIONEN ALS „FLUIDE“ SYSTEMSTRUKTUREN VERSTEHEN UND FÜHREN
fähigkeit. Dies ist Grundvoraussetzung für verantwortliches und nachhaltiges Führen, für motivierendes Führen in verlässlichen Rahmungen und mit nachvollziehbaren Orientierungen sowie nicht zuletzt für unternehmerische und menschliche Gesundheit. Es gibt keine Garantie für nachhaltigen Unternehmenserfolg. Aber das hier beschriebene Führungsverständnis begünstigt seine Chancen. Essentiell wird sein, wie breit Führungshandeln (nicht zuletzt durch professionelle Organisationsberatung) abgestützt und getragen ist, wie sehr es sich auch im Wettbewerb der Märkte durchsetzt, die zur Zeit noch mit dem Konzept von Gewinnern und Verlierern operieren. Ein Wettbewerb auf dieser letztgenannten Basis ist ein risikofreudiges und primär eigennütziges Spiel, das mit verantwortlicher Führung nichts zu tun hat. Professionelle Organisationsberater haben in diesem Spiel nichts zu suchen. „Knowledge is not the secret, nor is money. What one needs is optimism, humanity, enthusiasm, intuition, curiosity, love, humour, a sense of joy, magic and fun – a pinch of the magical potion euphoria. None of these things are in the curriculum of a business school“ (Anita Roddick, Gründerin des Body Shop).
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FÜHRUNG
7. Literatur Baecker, Dirk (1999): Organisation als System (S. 35) Suhrkamp Ciompi, Luc (1998): Die affektiven Grundlagen des Denkens – Kommunikation und Psychotherapie aus der Sicht der fraktalen Affektlogik. In: Welter-Enderlin, Rosmarie und Bruno Hildenbrand (Hrsg.): Gefühle und Systeme ( S. 77 – 100). Carl Auer Glasl, Friedrich/Lievegoed, Bernard (2004): Dynamische Unternehmensentwicklung. Verlag Freies Geistesleben Faltin, Günter (2008): Social Entrepreneurship, Definitionen, Inhalte, Perspektiven. Erschienen in: Social Entrepreneurship – Unternehmerische Ideen für eine bessere Gesellschaft. (Braun/French (Hrsg.), (S.25-46) Carl Hanser Maturana, Humberto (1985): Reflexionen über Liebe. In: Zeitschrift für systemische Therapie, Jg. 3 (3), (S. 129-131) Omer, Haim/von Schlippe, Arist/Alon, Nahi (2006): Feindbilder – Psychologie der Dämonisierung, Vandenhoeck & Ruprecht Omer, Haim/von Schlippe, Arist (2010): Stärke statt Macht. Vandenhoeck & Ruprecht Pinnow, Daniel (2005) Führen. (S. 40) Gabler Schmidt, Paul (2009): Autorität? Führung? Macht? Erschienen im online-Journal: Organisationsberatung, Supervision, Coaching Juni 2009 Ruth Seliger (2008) Das Dschungelbuch der Führung. Carl Auer von Schlippe, Arist (2009): Vortrag: „neue Autorität in Management und Organisation; Osnabrück 20.3.2009 Wedekind, Erhard/Georgi, Hans (2008): Orientierende Rahmung – Überlegungen zu einem systemischen Leitungsverständnis. In: Anwendungsfelder systemischer Praxis.
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Remote Management
von Hartmut Hillebrand Hartmut Hillebrand ist Senior Vice President der SAP AG im Personalbereich
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FÜHRUNG
1. Virtuelle Teams gehören zu einer globalen Welt In der Prozesssteuerung müssen die vorhanden Ressourcen auf die klar beschriebenen Ziele hin ausgerichtet und eingesetzt werden. In der Mitarbeiterführung gilt es, die Teammitglieder zu überzeugen und ihre Fähigkeiten in den Dienst der gemeinsamen Aufgabe und Ziele zu stellen. Das Arbeiten mit virtuellen Teams stellt aber an alle Beteiligten zusätzliche Anforderungen. Die Mitarbeiter müssen selbstständig agieren, Selbstverantwortung übernehmen und grenzüberschreitend kommunizieren können. Die Führungskräfte müssen noch mehr als bei einem „vor Ort“-Team vor allem eine Vertrauenskultur schaffen. Wie führen nun Manager in globalen Unternehmen Teams, die weltweit verstreut sind? Welchen besonderen Herausforderungen müssen sie sich dabei stellen? Die zusätzlichen Anforderungen werden klarer, wenn man sich einmal die Unterschiede zu einer Führungssituation mit einem Team an einem Standort vor Augen führt. In diesem Fall ist die direkte Begegnung mit den Menschen der Normalfall. Themen können schnell und direkt im persönlichen Gespräch angesprochen und geklärt werden. Konflikte und Probleme können rechtzeitig aufgedeckt und gelöst werden. Die Kommunikation in virtuellen Teams hingegen ist eine vor allem mediengestützte Kommunikation. Die Mitarbeiter, die nur remote mit der Zentrale und den Kollegen verbunden sind, fühlen sich gegebenenfalls weniger mit der Firma, ihren Zielen und Werten verbunden. Sie fühlen sich abgeschnitten vom Unternehmen und seinen Werten. Sie erleben nur selten die gelebte Firmenkultur. Daher steigt das Risiko, dass die erbrachte Arbeitsleistung nicht den Zielen oder den Qualitätsanforderungen entspricht. Zudem ist auch das Risiko höher, dass man Mitarbeiter verliert. Wie kann eine Führungskraft nun in diesem Rahmen ein Hochleistungs-Team aufbauen und entwickeln, jeden einzelnen Mitarbeiter motivieren und fördern?
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7 REMOTE MANAGEMENT
Was muss also hinsichtlich Teambuilding, Kommunikation und Medieneinsatz, Steuerung der Arbeitsabläufe, Konfliktmanagement, Personalentwicklung beachtet werden? Welche Führungskompetenzen stehen im Vordergrund?
2. Team Building Entscheidend für eine erfolgreiche Zusammenarbeit über große Entfernungen und unterschiedliche Zeitzonen hinweg sind der Zusammenhalt im Team und die Kooperation der Menschen. Dazu bedarf es einer klaren Definition des Auftrags und des Ziels. Jedem muss klar sein, was als Ergebnis vom Team und von einem selbst als Einzelnem erwartet wird. Dies sollte, falls das Team neu aufgesetzt wird oder die Führungskraft ein neues Team übernimmt, klar kommuniziert und diskutiert werden. Nach dieser Phase sollte sich das Ganze in klaren Zielvereinbarungen und Arbeitsaufträgen niederschlagen. Nun hängt der Teamerfolg aber nicht nur davon ab, ob der Manager mit jedem Einzelnen gut kommunizieren kann, sondern auch die Zusammenarbeit der Mitarbeiter untereinander ist entscheidend für den Gesamterfolg. Daher steht am Beginn eines neuen Projekts oder am Anfang eines neuen Geschäftsjahrs ein Kick-off-Meeting, bei dem sich alle Mitarbeiter des Projekts oder der Abteilung idealerweise persönlich treffen und kennenlernen. Bei diesen Zusammenkünften sollten aber nicht nur die gemeinsame Zielsetzung und die Abstimmung konkreter Themen im Vordergrund stehen. Vielmehr muss auch das persönliche „Netzwerken“ eine ebenso große Rolle spielen. Wenn in solchen Meetings – besonders natürlich in den Abendveranstaltungen – auch persönliche und private Themen dazugehören, dann fördert dies den Zusammenhalt der Gruppe. Dies sollte aber nicht nur einmal im Jahr stattfinden, sondern in jedem regelmäßigen Teammeeting eine Rolle spielen Gerade in Teams, bei denen die Mitglieder in verschiedenen Unternehmenseinheiten als „Einzelkämpfer“ agieren, droht die Gefahr, dass sich die Einzelnen isoliert fühlen, keine Bindung zum Gesamtteam entwickeln. So muss die Führungskraft dafür sorgen, dass die Mitarbeiter sowohl eng mit dem Team 91
FÜHRUNG
verbunden sind als auch mit den Mitarbeitern anderer Teams an ihren jeweiligen Standorten zusammenarbeiten. Die große Herausforderung an jeden Einzelnen in einem virtuellen Team bleibt aber bestehen: Die Fähigkeit zur Selbstorganisation und -steuerung muss stark ausgeprägt sein. Sie darf sich aber nicht soweit verselbstständigen, dass das Teamziel aus dem Auge verloren wird und die Aktivitäten daher nicht zielgerichtet und wertschöpfend sind. Der Teamzusammenhalt wird vor allem über die konkrete Zusammenarbeit an gemeinsamen Themen gestärkt, aber auch die Entwicklung von gemeinsamen Ritualen, regelmäßigen besonderen Veranstaltungen oder speziellen Symbolen fördern den Teamgeist. Wenn die Remote-Kooperation auch unterschiedliche Kulturen umfasst, führt dies zu zusätzlichen Schwierigkeiten, wenn man den Unterschieden keine Beachtung schenkt. Unterschiedliche Verhaltensweisen, Werthaltungen, soziale Denkmuster und Weltbilder prägen das Sozial- und Kommunikationsverhalten der Menschen entscheidender, als wir gemeinhin wahrnehmen. Nur der geringste Teil dieser Unterschiede liegt sichtbar an der Oberfläche. Alles andere sind tief verankerte Verhaltensdispositionen, die man nicht ändern muss, deren man sich aber bewusst sein sollte. Zum Beispiel gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen zum Thema „Pünktlichkeit“. Wenn ein Manager sich solcher Einflüsse nicht bewusst ist, dann kann er auch keine geeignete Gegensteuerung betreiben.
3. Kommunikation und Medieneinsatz Ein zentrales Merkmal für das Führen von verteilten Teams ist die fast ausschließliche Kommunikation über Medien. Die direkte Kommunikation ist nur selten möglich. Daher muss der mediengestützten Kommunikation bei der Führung von virtuellen Teams große Beachtung geschenkt werden.
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7 REMOTE MANAGEMENT
Zunächst einmal muss man entscheiden, welche Medien wann eingesetzt werden. Die zentralen Medien werden in den allermeisten Fällen E-Mail und Telefon(-konferenzen) sein. Von Fall zu Fall werden auch andere Kommunikationsmedien zum Einsatz gebracht, wenn z. B. Präsentationen oder Dokumente mit allen geteilt werden müssen. Die Mail- und Telefonsysteme müssen für eine schnelle und störungsfreie Kommunikation geeignet sein. Wer kennt sie nicht, die Telefonund Internetbasierten Konferenzen, die sich mehr mit der Herstellung einer stabilen Konferenzumgebung befassen als mit dem Inhalt der Konferenz selbst! Alle diese aufgeführten Medien haben ihre Möglichkeiten, aber auch ihre Grenzen. Zudem sollten die Teammitglieder mit ihnen umgehen können. Dazu gehört nicht nur die technische Handhabung, sondern auch die Etikette im Umgang. Das gilt vor allem für das zentrale Medium E-Mail. Der Medieneinsatz ist aber auch für die konkrete Erarbeitung von Inhalten unabdingbar. Eine gemeinsame Dateiablage, „Collaboration Rooms“ im Intranet, elektronische Pinnwand etc. sorgen für gleichen Informationsstand im Team und stellen die Arbeitsergebnisse für alle zur Verfügung. Die Verwendung moderner Kommunikationsformen, die von sozialen Netzwerke wie z. B. Facebook bekannt sind, fördern auch in Unternehmen die Zusammenarbeit und stärken den Zusammenhalt.
4. Arbeitsabläufe Für virtuelle Teams gilt noch mehr als für Mitarbeiter vor Ort, notwendige gemeinsame Spielregeln für die Zusammenarbeit festzulegen. Eine der Regeln betrifft die Erreichbarkeit. Es sollten Abmachungen getroffen werden über Präsenzzeiten im Büro oder im Home Office. Dabei stellt die Zusammenarbeit über mehrere Zeitzonen hinweg eine besondere logistische Herausforderung dar. Genauso muss es klare Regeln geben, wie Abwesen-
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FÜHRUNG
heitszeiten (Urlaub, Geschäftsreisen, Kundentermine etc.) allen transparent gemacht werden, z. B. in einem gemeinsamen Kalender. Es sollte auch festgelegt werden, in welchem Zeitraum auf Mail-Anfragen zu reagieren ist (z. B. innerhalb von 24 h) oder wie oft die Teammitglieder sich im virtuellen Büro anmelden oder den „Collaboration Room“ betreten. Damit kann man dann davon ausgehen, dass jeder im Team auf dem neuesten Informationsstand ist. Ein „Muss“ ist auch die gemeinsame Dokumentenablage. Auf einem Server werden die Arbeitsdokumente, Protokolle, Präsentationen, Bekanntmachungen usw. strukturiert abgelegt. Dort sollte auch für jeden sichtbar der Arbeitsfortschritt des Teams abgelegt werden. Es muss auch geregelt werden, wie das Team mit Konflikten umgeht. Es empfiehlt sich jedoch nicht, noch weitere und detailliertere Regeln festzulegen, z. B. welche Medien wann eingesetzt werden. Das sollte dann situativ entschieden werden. Die aufgestellten Regeln und die Zusammenarbeit ganz allgemein sollten regelmäßig auch vom ganzen Team reflektiert und ggf. angepasst werden. Für den Zusammenhalt von zentraler Bedeutung sind die gemeinsamen Meetings. Diese werden meist als Telefon- oder Videokonferenzen durchgeführt, kombiniert mit der Möglichkeit, Dokumente (Präsentationen, Texte, Grafiken, Statistiken etc.) allen gleichzeitig zu zeigen. Diese Konferenzen sollten so aufgesetzt werden, dass sowohl die Zeitzonen (bei globalen Teams mit Mitarbeitern in Kalifornien und in Singapur ist das eine echte Herausforderung!) als auch die unterschiedlichen Feiertagskalender und Wochenendregelungen (z. B. in Israel) berücksichtigt werden. Die Meetings müssen noch sorgfältiger vorbereitet, disziplinierter durchgeführt und energischer nachbereitet werden als Präsenzmeetings. Mediengestützte Konferenzen sind in der Regel anstrengender als Präsenzmeetings. Daher sollten sie kürzer sein und gut vorbereitet werden. Die Moderation und Beachtung des Zeitplans müssen vom zuständigen Meeting Owner aktiv gestaltet werden. Im Nachgang werden die Ergebnisse der Meetings präzise dokumentiert und allen auf der gemeinsamen Dateiablage zugängig gemacht. 94
7 REMOTE MANAGEMENT
Wie wird bei einer Zusammenarbeit auf Distanz eine wirksame Fortschrittskontrolle angemessen betrieben? Bei virtuellen Teams sollte man die richtige Balance finden zwischen Zahlen und Fakten auf der einen Seite und verbalen Arbeitsberichten auf der anderen. Je nach Situation kann man sich mit den Berichten der Mitarbeiter begnügen (Vertrauenskultur!) oder bei Schwierigkeiten intensiver einschreiten. Die beste und auch effektivste Lösung liegt sicherlich darin, dass alle Teammitglieder gemeinsam verantwortlich den Arbeitsfortschritt überwachen und protokollieren. In der Kommunikation des Vorgesetzten mit einzelnen Teammitgliedern sollte er sich hin und wieder Arbeitsergebnisse ausführlich zeigen und erläutern lassen. Dadurch bekommt er einen Einblick in den Arbeitsfortschritt, aber auch in die Arbeitsweise des Mitarbeiters. Letzteres gibt dann Ansatzpunkte für Unterstützung und/oder Anregungen für gezielte Entwicklungsmaßnahmen. Zu den Aufgaben des Vorgesetzten gehört aber auch, dass er aktiv die Einbindung des Teams in die Gesamtorganisation betreibt. Er sorgt dafür, dass die Arbeitsergebnisse der Abteilung, des Projekts im Unternehmen sichtbar werden. Motivierend ist, von Zeit zu Zeit das höhere Management in die Kommunikation einzubinden, z. B. durch die Teilnahme des zuständigen Bereichsleiters an einer Telefonkonferenz. Dieser unterstreicht dabei die Einbindung in die Gesamtorganisation und macht die Abstimmung mit den Unternehmenszielen transparent.
5. Konfliktmanagement Konflikte kommen in allen Teams vor. Sie werden aber in verteilten Teams durch die Mediennutzung und die räumliche Distanz in besondere Weise beeinflusst. Die rein mediengestützte Kommunikation und im Besonderen via E-Mail führt oft zu Missverständnissen und schneller Eskalation. Zudem fehlen die sonst kommentierenden Beobachtungen von Mimik und Gestik. Auch die Möglichkeit der beiläufigen Klärung ist sehr eingeschränkt. Durch die räumliche Trennung werden die Konflikte erst in einem relativ späten Stadium sichtbar. Dadurch wird der Aufwand zur Konfliktlösung erhöht, 95
FÜHRUNG
bei gleichzeitiger Reduzierung der Konfliktlösungsmöglichkeiten. Auch die kulturellen Unterschiede hinsichtlich des Umgangs mit Konflikten stellen eine Herausforderung dar. Daher sollte der Vorbeugung großes Augenmerk geschenkt werden. Wenn Konflikte da sind, sollte man sie offen ansprechen. Manches kann durch die Reflexion über die besondere Arbeitssituation in verteilten Teams indirekt geklärt werden. Anderes muss in möglichst kleinem Kreis besprochen und gelöst werden.
6. Personalentwicklung Eine der Kernbestandteile der Personalführung ist die Personalentwicklung. Es gilt permanent, die Fähigkeiten der Mitarbeiter an die jeweiligen unternehmerischen Bedarfe anzupassen. Dabei sind neben der fachlichen Qualifikation auch die Arbeitsmethoden und die sozialen Kompetenzen zu entwickeln. Moderne Personalentwicklung berücksichtigt dabei auch die persönlichen Entwicklungsbedarfe der Mitarbeiter. Die Hauptverantwortung für die Entwicklung liegt bei den Mitarbeitern selbst, unterstützt durch den Vorgesetzten und die Personalfunktion. Bei virtuellen Teams liegt die Herausforderung darin, dass die jeweiligen Mitarbeiter nicht bei ihrer Arbeit beobachtet werden. So kann der Manager den Entwicklungsbedarf nur durch intensive Kommunikation in Erfahrung bringen. Daher kommt dem Mitarbeitergespräch eine zentrale Bedeutung zu. Dies sollte, wenn irgendwie möglich, persönlich geführt werden. Die Ergebnisse müssen sehr sorgfältig dokumentiert werden. Dies gilt dann auch für die Zielvereinbarungen für das jeweilige Geschäftsjahr, die sehr präzise formuliert sein sollten, um Missverständnisse zu vermeiden. Auch wenn man sich nicht oder selten persönlich trifft, müssen die Mitarbeiter hinsichtlich ihrer Weiterentwicklung und Karriere gefördert werden. Dem Manager kommt die Aufgabe zu, seine Leute, die häufig auch von zu Hause aus arbeiten, in der Firma oder im Konzern sichtbar zu machen. So wird zum ei96
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nen die Bindung der Mitarbeiter an das Unternehmen, aber auch deren Möglichkeiten zur Weiterentwicklung erhöht. Unabhängig vom individuellen fachlichen Bedarf sind vor allem folgende Kompetenzen der Mitarbeiter, die in einem virtuellen Zusammenhang arbeiten, zu entwickeln bzw. zu pflegen: Selbstorganisation, Zeitmanagement, Konfliktmanagement, interkulturelles Verständnis, Sprachkompetenz (mit Fokus auf die Schriftsprache), Medienkompetenz, Selbstreflexion.
7. Führungskompetenzen Grundsätzlich ändern sich die grundlegenden Anforderungen an Führung auch in einem verteilten Szenario nicht. Es kommen jedoch einige Aspekte hinzu, die zu einem erfolgreichen Remote Management gehören. Die grundlegende Komponente erfolgreicher Führung verteilter Teams ist Vertrauen. Der Aufbau und Pflege einer ausgeprägten Vertrauenskultur bildet die Grundlage für erfolgreiche Zusammenarbeit auf Distanz. Der Vorgesetzte muss daher ein niedriges Kontrollbedürfnis haben bzw. entwickeln. Remote Management bietet keinen Platz für Mikromanagement. Daher erfolgt die Führung vor allem über Zielvorgaben und Arbeitsergebnisse. Die gemeinsamen Teamziele wie die individuellen Ziele müssen klar formuliert, transparent kommuniziert und ausführlich erläutert werden. Jeder im Team sollte verstehen, wie seine individuellen Ziele zum Teamziel beitragen und wie diese mit der Gesamtausrichtung der Firma verbunden sind. Ergebnisorientierte Führung, gepaart mit transparenter Prozesssteuerung, sind wichtige Säulen einer stabilen Hochleistungsorganisation. Eine sehr große Bedeutung kommt auch der Kommunikation zu. Manager müssen klar und verständlich kommunizieren. Dies gilt vor allem hinsichtlich der Schriftsprache. Sie müssen auch häufiger und aktiver kommunizieren. Sie sollten lieber einen Sachverhalt doppelt und dreifach erläutern, als später Energie in Klärungen oder Konfliktlösungen zu stecken. Sie sollten aber auch
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FÜHRUNG
nachfragen und sich Sachverhalte erläutern lassen. So können Bedürfnisse erkannt und mögliche Konflikte frühzeitig identifiziert werden. Ein besonderes Augenmerk sollte auf das Team Building, speziell auf die Vernetzung der Teammitglieder untereinander, gelegt werden. Gemeinsame Rituale und Regeln sind Teil des Teamselbstverständnisses. Bei der Festlegung von Teamregeln sollte der Vorgesetze sich besonders an den Interessen, Bedürfnissen und Vorschlägen der Mitarbeiter orientieren. Zu den notwendigen Führungskompetenzen gehören Sensibilität und Offenheit für unterschiedliche Kulturen. Wenn die Verteilung des Teams auch über kulturelle Grenzen hinweg reicht, dann spielt der professionelle Umgang mit Diversity eine Schlüsselrolle. Sie kann – bei richtigem Umgang mit ihr – zu einem produktiven Element in der Zusammenarbeit werden. Eines ist auf jeden Fall sicher: In unserer sich immer weiter globalisierenden Welt ist die Mitarbeiterführung in einer virtuellen Umgebung eine grundlegende Managementanforderung. Die dazu notwendigen Führungskompetenzen müssen daher essenzieller Bestandteil der Ausbildung zukünftiger Manager werden.
8. Literatur Herrmann/Hüneke/Rohrberg (2006): Führung auf Distanz. Wiesbaden 2006 Corporate Leadership Council (2009): Managing Virtual Teams. www.CLC.Executiveboard.com 2009. Leading Virtual Teams, www.seanet.com 2009 Managing Remote Workers, www.ceoforum.com 2009
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Human Resources Bei aller Führung wird es für Unternehmen, die sich in Richtung der 2.0-Welt öffnen, immer zentraler, die Bedürfnisse ihrer Mitarbeiter adäquat aufzugreifen und abzudecken. Hinzu kommt, dass sich die Organisation 2.0 auf eine wesentlich pluralistischere und heterogenere Welt einzustellen hat. So wird es in den nächsten Jahren ein zentrales Thema für sie sein, den demografischen Wandel zu gestalten und hier passende Wege zu finden. David Alich zeigt in seinem Beitrag auf, wie gravierend die Demografie unsere künftige Organisationswelt beschäftigen wird und skizziert Lösungen, wie eine Organisation 2.0 mit ihr umgehen kann. Nicht nur die Demografie wird Unternehmen künftig auf Trab halten, sondern auch die Tatsache, dass in den Organisationen mittlerweile fünf Generationen vertreten sind, die unterschiedliche und teils konträre Wertevorstellungen auszeichnen. Was gerade die „jungen“ Generationen auszeichnet und wie Unternehmen deren Ideen und Arbeitsweisen konstruktiv in die Organisation einbinden und aussteuern, analysieren Jutta Rump und Silke Eilers. In einem weiteren Beitrag von Jutta Rump, Silke Eilers und Gaby Wilms geht es um die Frage, wie Unternehmen mit den individuellen Lebensphasen ihrer Mitarbeiter umgehen und diese mit einer umfassenden Work-Life-Balance synchronisieren. Was bedeutet dies für Menschen, die im Lebensstau stehen und was für ältere Mitarbeiter, die andere Themen haben – dies zeigt ihr Artikel auf.
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Gesellschaft und Unternehmenswelten im demografischen Wandel
von David Alich David Alich ist promovierter Demograf. Bevor er das Market Research im Bereich Marketing und Corporate Communications der Hays AG in Mannheim übernahm, arbeitete er fünf Jahre als Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für demografische Forschung. Hier forschte er insbesondere an den Auswirkungen ökonomischer, sozialer und politischer Veränderungen auf individuelles demografisches Verhalten. Als Market Research Manager bei Hays ist er seit 2008 neben analytischem CRM und klassischer Marktforschung unter anderem für die Erstellung wissenschaftlicher Studien zu allgemeinen Management- und Arbeitsmarktthemen verantwortlich.
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HUMAN RESOURCES
1. Einleitung Unternehmen sehen sich heute mit einer Vielzahl von komplexen Entwicklungen konfrontiert. Dazu gehören die ständig steigende Geschwindigkeit und Globalisierung der Märkte, der Klimawandel, zunehmende Ressourcenknappheit, politische und gesellschaftliche Konflikte und nicht zuletzt demografische Veränderungen. Mit diesen Entwicklungen steigen auch die Anforderungen an nachhaltiges und vorausplanendes Unternehmensmanagement. Die jüngste Vergangenheit, insbesondere der Ausbruch der Finanzkrise 2008, zeigte jedoch sehr drastisch die Grenzen eines vorausschauenden unternehmerischen Planens und bewies, dass wirtschaftliche Entwicklungen und ihre Auswirkungen nur sehr begrenzt prognostizierbar sind und somit nur sehr schwer in Planungen berücksichtigt werden können. Natürlich werden dennoch Wege gesucht, unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklungsszenarien durchzuspielen, um in entsprechenden Situationen reagieren zu können. Umso verwunderlicher ist es, dass ein strategisches „Demographic Management“ im Großteil der deutschen Unternehmen bisher kaum zu beobachten ist (vgl. BDU 2009), denn im Unterschied zu den meisten der genannten Veränderungen hat der demografische Wandel einen wesentlichen Vorteil: Die demografische Entwicklung und ihre Implikationen für die unternehmensinterne Entwicklung, für den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt sind nicht nur bekannt, sondern auch verlässlich prognostizierbar. Für Unternehmen heißt das, ihre demografische Zukunft hängt nicht von unvorhersehbaren spontanen Verwerfungen der Bevölkerungsstruktur ab, sondern von nachhaltiger Personalpolitik die sich verfügbaren, demografischen Wissens bedient. Nicht nur im demografischen Sinne liegt genau darin die Herausforderung, die ein Unternehmen personalpolitisch auf dem Weg zur „Enterprise 2.0“ meistern muss. Dieser Beitrag fasst den aktuellen demografischen Wissensstand und einige wichtige Hypothesen zusammen. Es gibt einige Anhaltspunkte, mit welchen Entwicklungen wir in den kommen Jahren gesamtgesellschaftlich rechnen müssen und welche Implikationen sie für Unternehmen und ihr „Demographic Management“ haben werden.
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2. Ausgangssituation: Wie der demografische Wandel unsere Gesellschaft verändert Warum lässt sich relativ verlässlich vorhersagen, welche demografischen Veränderungen in der Zukunft auf unsere Gesellschaft und die Unternehmen zukommen werden? Die Antwort ist einfach: Weil die Menschen, die in nächsten 20 bis 30 Jahren auf dem Arbeitsmarkt verfügbar sein werden, heute schon geboren sind und nach ihrer Geburt vor allem eines tun werden – Altern. Gleiches gilt für die Prognose, wie viele Menschen wann aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden werden. Aufgrund der sehr niedrigen Sterblichkeit bis weit über das Alter 60 hinaus wird sich diese Personenanzahl quantitativ kaum verändern. Rein demografisch betrachtet können momentan Erwerbstätige ebenfalls nur noch altern, d. h. in einem relativ gut eingrenzbaren Zeitfenster aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden. Natürlich gibt es noch eine weitere wichtige Determinante von Bevölkerungsstruktur und Arbeitsmarkt, die Migration. Diese müsste jedoch in einem völlig unrealistischen Umfang stattfinden, um die ablaufenden demografischen Veränderungen grundlegend zu beeinflussen.
Abb. 1: Bevölkerungspyramiden, Stand 2010, Prognosen 2030, 2040; Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Variante 1-W2, Statistisches Bundesamt (2010)
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HUMAN RESOURCES
Dass die deutsche Bevölkerung mit zunehmendem Tempo altert, liegt in der permanent steigenden Lebenserwartung und den geringen Geburtenzahlen begründet, die seit ca. 40 Jahren in Deutschland zu beobachten sind. Der Generation der jahrgangsstarken „Baby-Boomer“ aus den Geburtsjahrgängen der 1950er und 1960er Jahre stehen nach dem vergleichsweise abrupten „Pillenknick“ seit den 1970ern also sehr viel schwächer besetzte Altersjahrgänge gegenüber (siehe Abb. 1). Der Geburtenberg der „Baby-Boomer“ verschiebt sich im Laufe der Zeit von der Altersgruppe der 40- bis 50Jährigen (in 2010), in die Altersgruppe der 60- bis 70-Jährigen (in 2030) bzw. der 70- bis 80-Jährigen (2040) und bestimmt so maßgeblich den Alterungsprozess der deutschen Bevölkerung. Erst nach 2040 werden sich die geburtenstarken Jahrgänge der 1950er und 1960er Jahre zahlenmäßig signifikant reduzieren.
Altersgruppen
jünger 20 Jahre Bevölkerung in Mill.
2010 2030 2040
20 bis 64 Jahre
Anteil
Bevölkerung in Mill.
15,0
18 %
13,2
17 %
12,4
16 %
65 Jahre und älter
Altersquotient
Anteil
Bevölkerung in Mill.
Anteil
49,7
61 %
16,8
21 %
34
43,5
55 %
22,3
28 %
51
40,5
53 %
23,9
31 %
59
Abb. 2: Verteilung der deutschen Bevölkerung über Altersgruppen, Anteile, absolute Zahlen und Altesquotient, Stand: 2010, Prognosen: 2030, 2040; Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Variante 1-W2, Statistisches Bundesamt (2010)
Noch deutlicher werden der Alterungsprozess und seine Auswirkung auf die deutsche Bevölkerungsstruktur, wenn man die Anteile verschiedener Altersgruppen an der Gesamtbevölkerung (siehe Abb. 2) betrachtet. Heute hat die Altersgruppe der 20- bis 64-Jährigen mit knapp 50 Millionen Menschen einen Anteil von über 60 % an der Gesamtbevölkerung. Diese Gruppe ist für die Gesellschaft deshalb so wichtig, weil sie sich in den produktivsten Lebensphasen befindet – sowohl wirtschaftlich als auch demografisch. In den kommenden 30 Jahren wird diese Gruppe um ca. zehn Millionen Menschen abnehmen und nur noch 53 % der deutschen Bevölkerung stellen. Gleichzeitig nimmt die Gruppe der über 65-Jährigen zu. Ihr Anteil an der Gesamtbevölke104
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rung wird dann von 21 % auf 31 % ansteigen. Aufgrund dieser Entwicklungen verändert sich der Altersquotient – das statistische Verhältnis der beiden Altersgruppen – drastisch. Er wird von 34 auf 59 Punkte steigen, das heißt auf 100 Menschen in der Altersgruppe der 20- bis 64-Jährigen kommen heute 34 Menschen die 65 Jahre und älter sind. 2040 wird dieses Verhältnis 100 zu 59 betragen. Wie die Daten außerdem belegen rückt eine ständig sinkende Anzahl von unter 20-Jährigen nach. Ihre Zahl wird von 15 Millionen auf 12,4 Millionen sinken. Selbst bei einem völlig unrealistischen Szenario, in dem die Geburtenzahl pro Frau ab sofort vom heutigen Niveau von 1,4 Kinder je Frau auf drei Kinder stiege, würde unsere Bevölkerung dennoch in den nächsten Jahrzehnten weiter altern und schrumpfen. Demografische Veränderungsprozesse sind sehr viel träger als gemeinhin häufig angenommen. Nun könnte die Migration nach Deutschland durch Änderung von gesetzlichen Rahmenbedingungen sehr schnell geändert werden, um dadurch die Anteile der Altersgruppen an der Gesamtbevölkerung signifikant zu beeinflussen. Doch auch dies ist unrealistisch. Selbst bei einer Nettozuwanderung von 710.000 Personen pro Jahr würde laut Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) der Altersquotient im Jahr 2040 54 Punkte betragen. Das sind lediglich 5 Punkte weniger als im hier verwendeten Standardprognoseszenario des Statistischen Bundesamtes. Selbst bei einer Nettozuwanderung von ein oder 1,5 Millionen Menschen pro Jahr würden sich die Bevölkerungsanteile nur äußerst langsam verändern, da Zuwanderer zwei sehr entscheidende menschliche Eigenschaften besitzen: Erstens altern sie auch und zweitens passen sie ihr Geburtenverhalten relativ schnell den Mustern des Einwanderungslandes an. Abgesehen davon würde eine Zuwanderung im genannten Umfang kaum lösbare Integrationsanforderungen an die deutsche Gesellschaft stellen.
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HUMAN RESOURCES
3. Welche Auswirkungen hat der demografische Wandel auf die Wirtschaft, den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt? Stichwort: Fachkräftemangel Die deutsche Bevölkerung wird also altern und dieser Prozess den Arbeitsund Ausbildungsmarkt nachhaltig verändern. Die ablaufenden Veränderungen sollten jedoch weder dramatisiert noch verharmlost werden. Was genau wird sich verändern? Mit der schrumpfenden Altersgruppe der 20- bis 64-Jährigen wird auch das Angebot von Arbeitskräften auf dem Arbeitsmarkt sinken. Wenn sich die Nachfrage nach Arbeitskräften in den nächsten Jahren im Vergleich zu heute kaum bzw. nicht verändert, verknappt sich das Arbeitskräfteangebot. Bei momentan ca. drei Millionen Arbeitslosen mag diese Entwicklung teilweise einen positiven Effekt haben und dafür sorgen, dass die Arbeitslosigkeit sinkt, da für einige Bevölkerungsgruppen die Konkurrenz bei der Stellensuche abnimmt und somit neue Perspektiven und Beschäftigungsmöglichkeiten entstehen. Dies gilt vermutlich insbesondere für Gruppen mit mittleren und eher niedrigem Bildungsniveau und Qualifizierungsstand. Für den Arbeitsmarkt der Höher- und Höchstqualifizierten ist ein solch positiver Trend nicht zu erwarten. Hier erleben wir schon heute einen Fachkräftemangel, der insbesondere in Bereichen der technischen Qualifikationen (z. B. Techniker und Ingenieure) signifikant die Entwicklung vieler Unternehmen beeinflusst. Dieses Phänomen wird sich flächendeckend über nahezu alle höher und hoch qualifizierten Bildungsabschlüsse und Qualifizierungslevel ausweiten und mittelfristig auch die mittleren Level erfassen. Der Mangel an gut ausgebildeten Arbeitnehmern wird sich also allein durch die quantitative Abnahme der Angebotsseite verschärfen. Dies führt dazu, dass Unternehmen zunehmend miteinander auf dem Bewerbermarkt um die geeigneten Köpfe konkurrieren. Gesamtwirtschaftlich ist noch eine weitere Entwicklung von entscheidender Bedeutung. In einer alternden Gesellschaft verringert sich die insgesamt geleistete Arbeitszeit stark. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn – wie in 106
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Deutschland üblich – Ältere aufgrund von geringen Wiedereinstiegschancen nach Arbeitslosigkeit oder Frühverrentungsmodellen auch in Zukunft nicht mehr angemessen am Erwerbsleben teilnehmen. Diesen Trend beschreibt der sogenannte „Rostocker Indikator“ (Vaupel und Loichinger 2006). So werden sich in den kommenden 20 Jahren die geleisteten Arbeitsstunden pro Kopf von momentan 16,3 Stunden auf 15 Stunden verringern. Damit nimmt die gesamtwirtschaftlich gearbeitete Zeit um rund acht Prozent ab. Die Bevölkerungsalterung in Deutschland (und allen Industrienationen) wird also hohe wirtschaftliche Kosten verursachen. Die sinkende Arbeitsleistung wird sowohl die Wirtschaftsleistung als auch die gesamtgesellschaftliche Produktivität beeinflussen. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken und die Wertschöpfung und den Wohlstand in Deutschland aufrecht zu erhalten, wären deutliche Produktivitätssteigerungen auf anderen Ebenen notwendig (Skirbekk 2004, Kuhn 2004).
4. Produktivitätsrückgang und Fachkräftemangel: Mögliche Auswege aus dem Dilemma Der sich weiter verschärfende Fachkräftemangel und die sinkende gesamtgesellschaftliche Produktivität stellen Deutschland also vor große Herausforderungen. Es ist jedoch möglich, ihnen adäquat zu begegnen. Im Folgenden werden vier Szenarien skizziert, wie diese Folgen der Bevölkerungsalterung abgemildert werden könnten.
4.1
Technologischer Fortschritt
Aufgrund technischen Fortschritts kann mit einem geringeren Einsatz an Arbeit oder Produktionsmitteln (Input) eine gleichbleibend große Menge an Produktionsgütern oder Dienstleistungen oder aber eine größere Menge mit dem gleichen Input erstellt werden. Konkret bedeutet dies, durch Investitionen in Innovation, Forschung und Entwicklung neue Produktionsverfahren und neue Formen industrieller Organisation zu entwickeln, die einen Teil der weniger 107
HUMAN RESOURCES
geleisteten Arbeit in Form von Effektivitätssteigerungen kompensieren. Zum Beispiel wäre eine weitere Automatisierung und Rationalisierung von Produktionsverfahren und anderen Wertschöpfungsprozessen denkbar. Auch wäre es möglich, durch neue technische Entwicklungen altersgerechtere Arbeitsprozesse zu entwickeln und somit die produktiven Lebensphasen weiter zu verlängern.
4.2
Entzerrung der „Rush Hour“-Lebensphasen
Als „Rush Hour des Lebens“ bezeichnet man die Phase zwischen den Altern von Mitte 20 bis Mitte 40. Hier befindet sich der Mensch in modernen Industriegesellschaften in der Regel auf dem Höhepunkt seiner Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit – d. h. in einer Phase hoher Produktivität. Gleichzeitig werden insbesondere zu Beginn dieser Lebensphase signifikante Bildungs- und Karriereentscheidungen getroffen, welche den gesamten Lebensverlauf determinieren. Außerdem sind es genau die Lebensalter zwischen Mitte 20 und Mitte 40, in denen in allen modernen Industrienationen wesentliche Entscheidungen getroffen werden. Hier werden langjährige Partnerschaften aufgebaut, Ehen geschlossen, Familien gegründet und Kinder geboren. Diese Kumulation wesentlicher Entscheidungen und Ereignisse macht diese Alterspanne zur „Rush Hour des Lebens“. Da insbesondere Fertilitätsentscheidungen rein biologisch in diesem Alter stattfinden müssen und nur begrenzt aufschiebbar sind, gilt es auf gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Ebene nach Lösungen zu suchen, die eine Vereinbarkeit von Bildung, Job und Familie gewährleisten, beispielsweise durch den weiteren Ausbau von Betreuungsstrukturen für Kinder im Vorschulalter. Eine solche Entzerrung der „Rush Hour“ hätte zwei sehr positive Effekte. Zum einen würde sie mehr Individuen ermöglichen, Familien zu gründen und Eltern zu werden. Zweitens könnte man die hohe Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit von Männern und Frauen dieser Altersgruppen gesamtgesellschaftlich besser nutzen und somit Teile des demografisch bedingten Produktivitätsrückgangs und des Mangels an Fachkräften ausgleichen.
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4.3
Gesunde Alterung
Die Altersgruppen wachsen auch aufgrund ständig steigender Lebenserwartung. So hat ein heute geborenes Kind schon sehr gute Chancen, seinen 100. Geburtstag zu feiern. Doch werden die Menschen nicht nur älter, sie bleiben sehr viel länger geistig und körperlich fit – sie altern immer „gesünder“. Das bedeutet, auch wenn die Produktivität und Leistungsfähigkeit mit steigendem Alter grundsätzlich abnimmt, kann eine bessere Gesundheit bis ins hohe Lebensalter eine Quelle von möglichen Produktivitätszuwächsen sein. Dies gilt natürlich nur dann, wenn auch ältere Männer und Frauen auf dem Arbeitsmarkt und somit an der gesamtgesellschaftlichen Wertschöpfung partizipieren können. Hier sind Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gefragt, Lösungsstrategien und Angebote zu entwickeln, die genau das ermöglichen. Eine Reform von staatlichen und betrieblichen Renten- und Frühverrentungsmodellen wäre im Hinblick auf unsere demografische Zukunft und den Erhalt der gesamtwirtschaftlichen Produktivität und des Fachkräfteangebotes ein richtungweisender Schritt.
4.4
Bildung und Weiterbildung
Gesunde Alterung und damit eine möglicherweise gesündere und längere Lebensarbeitszeit erfordern ständige, lebenslange Investitionen in Bildung und Weiterbildung älterer Menschen. Gerade vor dem Hintergrund des rasanten technischen Fortschritts ist lebenslanges Lernen die entscheidende Möglichkeit, bisher ungenutzte Wissens- und Fähigkeitspotenziale zu erschließen. Dies gilt in gleichem Maße für minder qualifizierte Menschen, deren Potenziale in vielen Fällen noch nicht ausgeschöpft werden. Wichtig dabei ist, dass dieses Lernen gesamtgesellschaftlich ermöglicht wird und gleichzeitig individuelle Motivation und Lernbereitschaft besteht. Nur dann könnte die bisher ungenutzte Produktivität und das Fachkräftepotenzial entsprechend abgerufen werden. Die Möglichkeiten, den wirtschaftlichen Konsequenzen des demografischen Wandels in Deutschland zu begegnen, sind also vielfältig. Ihre Realisierung stellt unsere Gesellschaft jedoch vor große Herausforderungen. Dies gilt ins-
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besondere für die drei letzten Punkte. Um diese zu realisieren, wäre ein grundsätzlicher Mentalitätswandel auf individueller, unternehmerischer, politischer und gesamtgesellschaftlicher Ebene hin zu einer pluralen Wissensgesellschaft notwendig. Pluralität im Sinne von vielfältigen und individuell verschieden gestalteten Lebensentwürfen und -verläufen, die den heterogenen Anforderungen und Vorstellungen unserer Zeit gerecht werden.
5. Die Situation in den Unternehmen und Demographic Management Diese Entwicklungen auf der Makro-Ebene sind deshalb so bedeutsam, weil sie sich direkt auf die inneren Strukturen von Unternehmen auswirken. Da jeder Betrieb mit seiner Belegschaft einen eigenen demografischen Mikrokosmos darstellt, lassen sich aus der demografischen Perspektive verschiedene Szenarien skizzieren, mit deren Hilfe die unternehmensinternen Auswirkungen des demografischen Wandels diskutiert werden können. Wie schon angedeutet läuft die Alterung von Belegschaften nach ähnlichen Mustern ab wie die von Bevölkerungen. Werden Mitarbeiter in einer Firma eingestellt, so haben sie ebenfalls nur zwei Optionen: Entweder sie werden in der Firma alt oder sie verlassen die Firma. Das Verlassen der Firma entspräche dann der Migration bzw. Mortalität in Bevölkerungen. Das Einstellen von neuen Mitarbeitern entspräche einer gesteuerten, zielgerichteten Immigration. Auf der anderen Seite erfüllen Ausbildungs- und Trainee-Programme in Unternehmen die Funktion der Fertilität, d. h. eigener Nachwuchs wird generiert. Im Gegensatz zu ganzen Bevölkerungen kann jedoch die Zusammensetzung der Unternehmensbelegschaft deutlich einfacher und direkter gesteuert werden – durch kluge und nachhaltige Personalpolitik: „Demographic Management“. Allerdings ist dabei gerade die Rekrutierungsstrategie eines Unternehmens von dem Angebot auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt abhängig und muss sich so mit den demografischen Gegebenheiten, dem Arbeitskräfteangebot und -nachfrage auseinandersetzen. Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass der Begriff des demografischen Wandels zwar im Manage110
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ment der meisten Unternehmen angekommen ist, die Auseinandersetzung mit seinen Konsequenzen aber bisher nur rudimentär erfolgt. Hier besteht also ein klassisches „Knowledge Action Gap“. Großunternehmen und große mittelständische Unternehmen müssen sich dabei mit anderen Herausforderungen auseinandersetzen als kleine Mittelständler und kleine Unternehmen. Und alle Unternehmen stehen sich als Konkurrenten um geeignete Mitarbeiter auf einem Arbeitsmarkt mit verknappendem Angebot gegenüber. Auch wenn momentan generell noch nicht von einer Überalterung der Belegschaften in deutschen Unternehmen gesprochen werden kann, soll auf diese Unterschiede nachfolgend überblicksartig eingegangen werden.
5.1
Situation für Groß- und große mittelständische Unternehmen
Die demografischen Herausforderungen von großen Unternehmen liegen vor allem in den Rekrutierungsmustern innerhalb ihrer Wachstumsphasen begründet. Im Gegensatz zur Bevölkerungsentwicklung folgt das Wachstum der Mitarbeiteranzahl i. d. R. der allgemeinen Unternehmensentwicklung und konjunkturellen Schwankungen. Während Boom-Phasen werden sehr viele Mitarbeiter eingestellt und in rezessiven Phasen nur wenige oder gar keine. Typischerweise dominieren bei Neueinstellungen vor allem jüngere Altersgruppen, die dann gemeinsam als „Wachstumskohorten“ altern. Extreme Wachstumsphasen verjüngen Unternehmen also zunächst, danach folgt unweigerlich die Alterung der Belegschaft aufgrund der zahlenmäßigen Dominanz der Wachstumskohorten. Gerade bei einer Entlohnung nach Senioritätsprinzip und gleichzeitig tendenziell sinkender Produktivität im Alter verursacht eine solche Entwicklung hohe Kosten. Diese werden problematisch, wenn aufgrund der demografischen Situation innerhalb der Arbeits- und Bildungsmärkte oder aufgrund von schwächeren Wachstumsphasen Stillstand oder Rezession nicht adäquat – d. h. mit der Einstellung oder Ausbildung von jungen Mitarbeitern – gegengesteuert werden kann. Es bedarf einer frühen Analyse, um zukünftige personalstrukturelle Entwicklungen abschätzen zu können, da die Reaktionszeiten lang sind und nicht nur
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das Alter der Mitarbeiter von Bedeutung ist, sondern diese vor allem bestimmte Qualifikations- und Bildungsmerkmale vorweisen müssen. Im Wettbewerb um geeignete Mitarbeiter können große Unternehmen auf ihren hohen Bekanntheitsgrad, ihren Markennamen, ihr Employer Branding, die Arbeit ihrer Personalabteilungen, auf attraktive interne Karrieremöglichkeiten und häufig sogar auf internationale Rekrutierungsmärkte zurückgreifen. Damit haben sie gegenüber kleineren Betrieben entscheidende Wettbewerbsvorteile in demografisch schrumpfenden Bildungs- und Arbeitsmärkten. Entsprechend sind die kritische analytische Auseinandersetzung mit der eigenen Belegschaftsstruktur, Investitionen in das eigene „Arbeitgeber-Image“ und der strategische Auf- und Ausbau einer professionellen Rekrutierung für große Unternehmen entscheidende Möglichkeiten, mit den Herausforderungen des demografischen Wandels umzugehen.
5.2
Situation für kleine Unternehmen und den kleinen Mittelstand
Die externen, demografischen Rahmenbedingungen sind für alle Unternehmen gleich. Jedoch bedarf es in kleineren Unternehmen selten einer tief greifenden Analyse der Personalstruktur, um Ungleichgewichte und zukünftige Entwicklungen abschätzen zu können. Auch können sie i. d. R. sehr viel schneller und flexibler auf interne und externe Gegebenheiten reagieren. Ihre Alters- und Qualifikationsstruktur ist weniger träge als in großen Unternehmen. So kann es für kleine Betriebe ausreichen, eine geringe Anzahl von geeigneten Mitarbeitern einzustellen, um z. B. einer Überalterung der eigenen Belegschaft entgegenzuwirken. Entsprechend ist die Nachfrage nach neuen Arbeitskräften quantitativ eher gering. Geringe Größe bedeutet allerdings auch eine hohe Spezialisierung der Unternehmen. Hier liegen die Herausforderungen für kleinere Unternehmen. Mag auch die quantitative Nachfrage nach geeigneten Mitarbeitern eher gering sein, qualitativ müssen sie aufgrund der Spezialisierung häufig hohe Anforderungen erfüllen. Die Anzahl potenziell geeigneter Kandidaten auf dem Arbeits- und Bildungsmarkt ist also relativ gering und wird im Laufe der de112
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mografischen Entwicklung noch kleiner. Bei der Suche nach neuen Mitarbeitern stehen die kleinen Unternehmen dabei im direkten Wettbewerb zu den großen Betrieben. Trotz aller Unterschiede zwischen großen und kleineren Unternehmen und der entsprechend unterschiedlichen Möglichkeiten, mit den zukünftigen Herausforderungen des demografischen Wandels umzugehen, liegt eine der größten Kräfte zur Dämpfung seiner wirtschaftlichen Konsequenzen in den Belegschaften selbst – in einem nachhaltigen „Demographic Management“. Wie dieses aussehen kann, soll im Folgenden kurz dargestellt werden. Die Flexibilisierung von Arbeitszeitmodellen kann ungenutzte Produktivität von Mitarbeitern in sehr verschiedenen Formen freisetzen. Anstatt der heute üblichen Frühverrentungsmodelle könnten verstärkt Teilzeitregelungen für motivierte ältere Arbeitnehmer eingesetzt werden, denen eine Vollzeitstelle zu viel ist, die jedoch noch nicht komplett aus dem Arbeitsleben ausscheiden wollen. So könnten ihr Wissen und ihre Erfahrung verfügbar gehalten und an Nachwuchskräfte weitergegeben werden. Mit dem Ausbau von Teilzeitlösungen und einer grundsätzlichen Flexibilisierung von Arbeitszeiten könnten auch die Potenziale junger Eltern – insbesondere qualifizierter Mütter – besser nutzbar gemacht werden. Durch kluge Modelle lassen sich sowohl ein langes Ausscheiden durch Elternzeiten als auch die Reintegration und erneute Einarbeitung in die Unternehmensabläufe vermeiden. Gleichzeitig würde eine solche Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie von Seiten der Unternehmen möglicherweise den ein oder anderen Kinderwunsch erfüllbar machen und somit selber einen kleinen Beitrag zur Dämpfung des demografischen Wandels leisten. Darüber hinaus würden flexible Arbeitszeitmodelle generell eine bessere Work-Life-Balance gewährleisten und dies würde – darüber ist sich die einschlägige Forschung mittlerweile einig – zu höherer Motivation und damit gesteigerter Produktivität der Mitarbeiter führen. Ein nächster denkbarer Ansatz liegt in der weiteren Diversifizierung von Aufgaben und Tätigkeiten der Mitarbeiter. Bisher geschah dies vor allem nach Qualifikations- und Hierarchieebenen. Denkbar wären aber auch eine explizite Berücksichtigung des Alters und damit die Nutzung altersspezifischer Kompetenzen. Bei älteren Mitarbeitern wäre dies beispielsweise das Weitergeben von vorhandenen Erfahrungen, Führungs- und Organisationswissen oder so113
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zialer Kompetenz. Gerade bei sehr speziellem betriebs- und branchenspezifischem Wissen könnten Reibungsverluste – z. B. durch lange Einarbeitungszeiten – vermindert werden. Die Kontribution der Jungen läge sicher in ihrer technischen und Mediennutzungskompetenz, Leistungsfähigkeit, Belastbarkeit und Flexibilität. Eine solche altersspezifische Diversifizierung könnte insbesondere innerhalb von Projekt- und Teamarbeit eingesetzt werden. Diese Organisationsformen eignen sich ideal, um die verschiedenen Fähigkeiten der Altersgruppen zusammenzubringen und produktiv nutzbar zu machen. Altersspezifische Personalentwicklung könnte ein weiterer wichtiger Baustein eines nachhaltigen „Demographic Managements“ sein. Sie beinhaltet die gezielte Förderung von allen Altersgruppen hinsichtlich ihrer jeweiligen Stärken. Ausbildung, Weiterqualifikation und lebenslanges Lernen würden es möglich machen, die Produktivität und Potenziale der Mitarbeiter (unabhängig von formeller Qualifikation und Alter) zu erkennen und zu nutzen und darüber hinaus den eigenen Fachkräftenachwuchs auszubilden und sich somit von den demografischen Verwerfungen unabhängiger zu machen. Wenn geeignete Qualifikationen auf den Märkten zu teuer oder nicht vorhanden sind, müssen Unternehmen sie durch langfristige Investitionen in die Mitarbeiter selber aufbauen. In den Unternehmen gelebte nachhaltige Personalpolitik und „Demographic Management“ führen auch zu einer erhöhten Bindung und Loyalität der Mitarbeiter gegenüber dem Unternehmen. Auch dies ist ein adäquates Mittel, der zukünftigen demografischen Entwicklung zu begegnen. Hier gilt schlicht und einfach: Wenn Mitarbeiter bleiben, braucht man auf enger werden Märkten keinen Ersatz zu suchen. Ein weiterer positiver Aspekt all dieser Maßnahmen ist ihr Effekt auf das „Employer Branding“. Gute Arbeitsbedingungen, Entwicklungsmöglichkeiten, flexible Strukturen, eine ausgewogene Work-Life-Balance, gelebte Wissenskultur etc. sprechen sich herum, zahlen damit direkt auf das Arbeitgeberimage des Unternehmens ein und erleichtern somit die Rekrutierung von neuen Mitarbeitern.
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6. Fazit Die deutsche Bevölkerung altert und schrumpft schon heute. In den kommenden 20 bis 30 Jahren wird sich dieser Prozess beschleunigen. Wie gezeigt wurde, sind die Auswirkungen dieser demografischen Entwicklung auf den Arbeits- und Bildungsmarkt besonders stark und bergen vielfältige gesellschaftliche, wirtschaftliche und unternehmerische Herausforderungen, aber auch Chancen in sich. Als zentrale Herausforderungen für das deutsche Wirtschaftssystem und für die Unternehmen kristallisierten sich zum einen der schrumpfende Fachkräftemarkt und zum anderen die sinkende Produktivität (geleistete Arbeitszeit) alternder Bevölkerungen und Belegschaften heraus. Wie gezeigt wurde, würde aufgrund der demografischen Situation unter gleichbleibenden Bedingungen vor allem die gesamtgesellschaftliche Produktivität abnehmen. Dies hätte direkte Auswirkungen auf die gesellschaftliche Wertschöpfung und das Wohlstandsniveau in Deutschland. Gesellschaftliche Lösungsansätze könnten in der Förderung technologischen Fortschritts, der gesunden Alterung, in lebenslangem Lernen und in der Entzerrung von „RushHour“-Lebensphasen liegen. Um diese Ansätze zu realisieren, braucht es ein gesellschaftliches Bewusstsein, das sich mit dem demografischen Wandel auseinandersetzt. Die vielfältig zu beobachtende gesellschaftspolitische Dramatisierung der Entwicklung verhindert konstruktive und handlungsorientierte Problemlösungen. Dies macht das notwendige gesellschaftliche Umdenken und den erforderlichen kulturellen Wandel unmöglich. Gleiches gilt auch für die vorgestellten unternehmerischen Lösungsansätze – wie altersspezifische Personalentwicklung, Flexibilisierung von Arbeitszeitmodellen, Förderung der Work-Life-Balance, Employer Branding und Bindung der Mitarbeiter an das Unternehmen. Ein solches „Demographic Management“ erfordert den Umbau und die Reform vieler traditioneller Unternehmensstrukturen in Richtung Enterprise 2.0. Wenn dieser Umbau ausbleibt, werden sich die durch den demografischen Wandel verursachten Kosten und Probleme weiter verschärfen.
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Abschließend lässt sich feststellen, dass ein funktionierendes und nachhaltig umgesetztes Demographic Management nicht nur notwendig ist, sondern einen Gewinn für Mitarbeiter, Unternehmen und die Gesellschaft als Ganzes darstellt. Mitarbeiter werden individuell gefördert und eingesetzt. Dadurch gewinnen bzw. erhalten sie gesellschaftliche Partizipation, Lebensqualität und Zeit. Unternehmen können ihre Produktivität, Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit bewahren oder sogar steigern. Und die Gesellschaft profitiert von gesicherter Wertschöpfung und stabileren sozialen Sicherungssystemen.
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7. Literatur Brücker, H./Kohlhaas M./Nottmeyer O. (2004): Möglichkeiten der quantitativen und qualitativen Ermittlung von Zuwanderungsbedarf in Teilarbeitsmärkten. In: Deutschland – Eine Analyse der Effekte der Migration in heterogenen Arbeitsmärkte. Berlin: DIW. Bundesverband Deutscher Unternehmensberater (BDU) und Duale Hochschule BadenWürttemberg Lörrach (2009): Demografische Exzellenz – Herausforderungen im Personalmanagement. Ergebnis einer Studie in Baden-Württemberg. Berlin, Bonn: BDU. DESTATIS – Statistisches Bundesamt (2009): Bevölkerung Deutschlands bis 2060 – Ergebnisse der 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt. https://www-ec.destatis.de/csp/shop/sfg/bpm.html.cms. cBroker.cls?cmspath=struktur,Warenkorb.csp&action=basketadd&id=1024891 Kuhn, M. (2004): Über das Auf und Ab der Produktivität im Lebenslauf: Nicht alles ist dem Alter zuzuschreiben. Rostocker Zentrum für Demografischen Wandel, Debatten. Rostock: ZDWA. http://www.zdwa.de/zdwa/debatten/20060124_21316666_debatteW3DnavidW 261.php Skirbekk, V. (2004): Age and Individual Productivity: A Literature Survey, in: Feichtinger, G: Vienna Yearbook of Population Research 2004. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, S. 133-153. Vaupel, J. W./Loichinger, E. (2006): Redistributing work in aging Europe. Science, Vol. 312, Issue 5782, S. 1911-1913.
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9 Die jüngere Generation in der Arbeitswelt von Jutta Rump und Silke Eilers Dr. Jutta Rump ist Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Internationales Personalmanagement und Organisationsentwicklung an der Fachhochschule Ludwigshafen. Daneben leitet sie das Institut für Beschäftigung und Employability IBE, das den Schwerpunkt seiner Forschungsarbeit auf personalwirtschaftliche, arbeitsmarktpolitische und beschäftigungsrelevante Fragestellungen legt. Sie hat darüber hinaus zahlreiche Mandate auf regionaler und nationaler Ebene inne. Silke Eilers war während ihres berufsintegrierenden Studiums der Betriebswirtschaftslehre an der Fachhochschule Ludwigshafen am Rhein als Sachbearbeiterin und Übersetzerin in der internationalen Vertriebsabteilung der Koenig & Bauer AG in Frankenthal tätig. Nach ihrem Abschluss als DiplomBetriebswirtin (FH) übernahm sie im gleichen Unternehmen Aufgaben in den Bereichen Personalentwicklung und Personalbetreuung, Hochschulmarketing und Nachwuchskräfteförderung. 2003 wechselte sie an das Institut für Beschäftigung und Employability IBE.
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9 DIE JÜNGERE GENERATION IN DER ARBEITSWELT
1. Einführung Die Schrumpfung und Alterung der deutschen Erwerbsbevölkerung ist bereits seit Jahren Inhalt zahlloser Publikationen und Kongresse und findet auch zunehmend Niederschlag in betrieblichen Gestaltungsprozessen. Dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass Fachkräfteengpässe in bestimmten Branchen, Regionen und Berufsbildern immer deutlicher spürbar werden. Eher am Rande thematisiert wird eine der entscheidenden Herausforderungen in diesem Kontext – die Konsequenz der demografischen Entwicklung für die Generationen-Balance im Unternehmen. Denn angesichts einer steigenden Lebensarbeitszeit und dem zunehmenden Aufweichen klassischer Hierarchien, in denen Führung und Seniorität überwiegend an das Alter gekoppelt waren, arbeiten immer mehr unterschiedliche Altersgruppen Seite an Seite (vgl. Paine 2006). Diese Altersgruppen, die sich bestimmten Generationen zuordnen lassen, blicken auf vielfältige Sozialisationsmuster zurück, befinden sich in verschiedenen Lebens- und Berufsphasen und werden von den Entwicklungen und Trends in der Arbeitswelt auf sehr unterschiedliche Weise berührt. In der Folge differieren sie nicht unerheblich in Bezug auf ihre Werte, Haltungen und Einstellungen, auf ihre Kompetenzen und auch auf ihre Erwartungen an die Arbeit. Unternehmen, die im globalen Wettbewerb künftig mit einer kompetenten und über alle Altersstufen hinweg leistungsfähigen und -bereiten Belegschaft bestehen möchten, tun also gut daran, einen genaueren Blick auf diese generationenbezogenen Zusammenhänge zu werfen. Dabei steht nicht zuletzt die Frage im Fokus, wie sich gerade die zahlenmäßig immer knapper werdende jüngere Generation für ein Unternehmen begeistern und an einen Arbeitgeber binden lässt.
2. Zum Generationenbegriff Vor allem seit den frühen 1990er Jahren ist ein „fast inflationärer Gebrauch“ (Weisbrod 2005) des Generationenbegriffs insbesondere in der populärwissenschaftlichen Literatur zu beobachten, wobei die Klassifizierungen und Zuschreibungen zu den einzelnen Generationen deutlich differieren. Dies rührt 119
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nicht zuletzt von der Schwierigkeit einer angemessenen Abgrenzung her. Während die Generationenzuordnung auf familiärer Ebene in der Regel ohne Weiteres möglich ist, fällt eine gesamtgesellschaftliche Zuordnung vergleichsweise weniger trennscharf aus (vgl. Kohli 2003). Viele Wissenschaftler gehen infolge dieser Entwicklung inzwischen dazu über, lediglich drei grobe Generationen-Cluster – jüngere Generation, mittlere Generation und ältere Generation – zu verwenden, die durch gemeinsame politische, wirtschaftliche und kulturelle Epochenerlebnisse geprägt sind. So ist die heutige jüngere Generation ab den späten siebziger bzw. frühen achtziger Jahren geboren und mit digitalen Medien und der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion groß geworden. Sie kennt nichts anderes als liberalisierte Güter- und Arbeitsmärkte. Die mittlere Generation, zu der die Jahrgänge von den späten Fünfziger Jahren bis zum Ende der Siebziger Jahre zählen, hat die deutsche Wiedervereinigung und den Fall des „Ostblocks“ bewusst miterlebt und erinnert sich noch an Schwarz-Weiß-Fernsehen, D-Mark und Schallplattenspieler. Die heutige ältere Generation, die zum Teil noch im Erwerbsleben steht, geboren ab 1943 bis in die späten Fünfziger Jahre, ist im Bewusstsein des „kalten Krieges“ aufgewachsen und wurde noch sehr traditionell sozialisiert (Richter 2009).
3. Werte, Einstellungen und Kompetenzen der jüngeren Generation Bedingt durch die dargestellte Unübersichtlichkeit an Generationenklassifizierungen soll im Folgenden zusammenfassend von „der jüngeren Generation“ gesprochen werden, worunter Begrifflichkeiten wie die so genannten „Millenials“ oder auch die „Generation Y“ oder „Netzgeneration“ subsummiert sind. Dies vor dem Hintergrund, dass eine völlig überschneidungsfreie Einteilung nicht gelingen kann und zudem die Sozialisation des Einzelnen sowie die jeweilige Lebens- und Berufsphase, in denen sich ein Mensch befindet, ebenfalls Einfluss nehmen.
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9 DIE JÜNGERE GENERATION IN DER ARBEITSWELT
Die Arbeitsorientierung der Vertreter der jüngeren Generation, die sich bereits im Arbeitsmarkt befinden oder in Kürze eintreten, besteht meist aus dem Übergang von der Ausbildung bzw. dem Studium in das erste Beschäftigungsverhältnis sowie dem Aufbau beruflicher Erfahrung und der Anwendung aktuellen Wissens. Dabei zeigt sich soziale Sicherheit als bedeutendes handlungsleitendes Motiv, die sich vor allem über Arbeitsplatzsicherheit manifestiert. Etwa gleichzeitig erfolgen der Auszug aus dem Elternhaus, die Partnersuche und die Vorbereitung bzw. Gründung einer eigenen Familie, die allerdings mehrheitlich erst jenseits der 30 angestrebt wird. Für die meisten jüngeren Menschen hat die enge Beziehung zu ihrer Familie eine hohe Bedeutung, sie wird zum „ruhigen Hafen“ in turbulenten Zeiten. Wer nicht mehr zuhause wohnt, besucht die Eltern oder Großeltern regelmäßig (vgl. Opaschowski 2008, Richter 2009, Shell Deutschland Holding GmbH 2006, Langness/ Leven/Hurrelmann 2006). Eine zentrale Rolle im Leben der jüngeren Generation spielen moderne Informations- und Kommunikationstechnologien. Sie sind gerade für die jüngsten Kohorten derart selbstverständlich, dass man sie zuweilen auch als „Digital Natives“ bezeichnet. Ähnlich wie die mittlere Generation leben auch die Vertreter der jüngeren Generation in mehreren Spannungsfeldern. Diejenigen, die bereits beruflich integriert sind, zeigen sich selbstbewusst in Bezug auf die Qualität und Produktivität ihrer Arbeit und stark zukunftsorientiert. Sie weisen eine äußerst hohe Leistungsbereitschaft auf, fordern und erwarten allerdings auch ein regelmäßiges Feedback, insbesondere im Sinne einer Belobigung für positive Arbeitsleistungen sowie eine angemessene Vergütung. Gleichzeitig sind sie geprägt von einer hohen Anpassungsbereitschaft, nicht zuletzt resultierend aus dem Bewusstsein, dass die Flexibilität und Mobilität, die ihnen die Arbeitswelt abverlangt, sie immer wieder vor „neue Anfänge“ stellt (vgl. Parment 2009, Richter 2009). Ein Kennzeichen der jüngeren Generationen ist die Forderung nach Perspektiven, Sinn und Freude an der Arbeit. Es ist davon auszugehen, dass die Forderung nach Freude an der Arbeit auch etwas mit „Entschleunigung“ zu tun hat. In einer Arbeitswelt, die mehr und mehr durch eine steigende Veränderungsgeschwindigkeit und Beschleunigung gekennzeichnet ist, reagieren 121
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viele Menschen mit einem Gegentrend im privaten Bereich – der Entschleunigung und dem Wunsch nach „Nischen zum Verschnaufen“. Der jüngeren Generation ist durchaus bewusst, dass sie das Tempo, das ihnen die Arbeitswelt abverlangt, nicht über ein verlängertes Erwerbsleben hinweg aufrecht erhalten können, ohne dabei Gefahr zu laufen, „auszubrennen“. Darüber hinaus spielen bei Personen dieser Altersgruppe die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie die damit verbundene Wahlfreiheit eine große Rolle. Arbeitsund Familienleben werden zunehmend nicht als Gegensatz, sondern als verbundene Bereiche wahrgenommen. Dies ist nicht zuletzt dadurch bedingt, dass gerade die jüngsten Kohorten bereits in einem Elternhaus aufgewachsen sind, in dem vielfach die Mütter – wenn auch überwiegend in Teilzeit – berufstätig waren und die Väter zunehmend Verantwortung für Familien- und Hausarbeit trugen (vgl. Parment 2009, Rump/Eilers 2007, Richter 2009). Generell ist zu konstatieren, dass Arbeit ihre Bedeutung als zentraler Lebensinhalt einbüßt, insbesondere bei den jüngeren Menschen. Sie engagieren sich leidenschaftlich für ihre Arbeit und verbinden hohe Erwartungen mit ihr, messen jedoch anderen Lebensbereichen im Kontext von Selbstverwirklichung und Lebensqualität eine gleichwertige Bedeutung bei. Einerseits streben sie nach einem interessanten Arbeitsumfeld, in dem sie lernen und sich entwickeln sowie ihre Ausbildung einsetzen können und sind auch bereit, entsprechende Leistungen zu erbringen. Andererseits ziehen sie sehr viel eher als die Generationen vor ihnen deutliche Grenzen dahin gehend, inwieweit sie ihr Leben durch die Arbeit bestimmen lassen (vgl. Ponzellini 2009, Towers Perrin 2007, Opaschowski 2008, Parment 2009, Richter 2009) Karriere um jeden Preis kommt für die Mehrzahl der jüngeren Arbeitnehmer nicht mehr in Frage: „Diese Karrieregeneration der Zukunft wählt mehr die Form der ‚sanften Karriere’, will ebenso leistungsmotiviert, zielstrebig und erfolgsorientiert sein, lässt sich aber nicht mehr nur von ‚harten Prinzipien’ wie Geld, Macht und Aufstiegsstreben leiten. Sie hat Freude am Erfolg und an der Verwirklichung eigener beruflicher Vorstellungen“ (Opaschowski 2008). Gleichzeitig trifft man eine starke Tendenz zur Individualisierung bei Mitarbeitern dieser Altersgruppen an, die jedoch mit der Orientierung an gemeinsamen Zielen gekoppelt ist. Hinter der Orientierung an gemeinsamen Zielen verbirgt sich das Wissen, in Arbeitsprozessen mit komplexen Aufgaben und Projekten konfrontiert zu sein, die nicht allein zu bewältigen sind. Teamorien122
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tierung äußert sich dann erst einmal in Zweckgemeinschaften. Zudem lassen sich Jüngere stärker von Emotionen, individuellen Vorlieben und Neigungen – auch bei der Wahl des Arbeitsplatzes – leiten (vgl. Parment 2009, Richter 2009). Für die Vertreter der jüngeren Generation, die aufgrund einer niedrigeren schulischen bzw. beruflichen Bildung von Arbeitslosigkeit oder unsicheren Arbeitsverhältnissen betroffen sind, gelten andere Voraussetzungen: Sie betreiben Risikominimierung und orientieren sich stark an der Gegenwart. Dabei verlieren sie vielfach den Blick für die erforderliche berufliche und persönliche Weiterentwicklung (vgl. Richter 2009).
4. Generationenverhältnisse im Arbeitskontext Jüngere Forschungsergebnisse weisen nicht auf einen Generationenkonflikt, sondern eher auf eine solidarische Haltung zwischen den Generationen in der Gesellschaft hin (vgl. Franz/Frieters/Scheunpflug/Tolksdorf/Antz 2009, Opaschowski 2008). Im Arbeitskontext ist jedoch nicht zu erwarten, dass sich die Werte der jüngeren Generation denen der Älteren angleichen werden, da sie anders sozialisiert worden sind und sich nicht zuletzt aufgrund der demografischen Entwicklung teilweise auf Arbeitsmärkten bewegen werden, die als Arbeitnehmermärkte zu bezeichnen sind. Sie haben damit gar nicht die Notwendigkeit, sich anzupassen. Da die ältere Generation derzeit und wohl auch in Zukunft die wesentlichen Führungspositionen bekleidet, ist also ein gewisses Konfliktpotenzial nicht unrealistisch. Beispiele hierfür sind die unterschiedlichen Auffassungen in Bezug auf Feedback- und Kommunikationskultur: Während die jüngeren Generationen konstruktives und offenes Feedback schätzen, haben ältere Mitarbeiter in der Regel kaum gelernt, angemessen Feedback zu geben bzw. damit umzugehen. Sie befürchten, dass ein intensives Feedback mit Misstrauen und Unselbstständigkeit verbunden ist. In engem Zusammenhang hierzu steht die offene Art, in der die jüngere Generation üblicherweise kommuniziert und die von vielen Älteren, die eher zu einer zurückhaltenden Form der Kommunikation erzogen wurden, leicht als respektlos und beleidigend interpretiert wird. 123
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Gleiches gilt für die nicht selten anzutreffende Gewohnheit jüngerer Menschen, Multitasking zu betreiben, also beispielsweise während eines persönlichen Gesprächs gleichzeitig im Internet nach Informationen zu suchen, was Älteren als unhöflich anmutet, für die Jüngeren jedoch eher eine effektive Form der Zeitnutzung darstellt. Verstärkt wird dies durch den Umstand, dass die heutigen Älteren in ihren jungen Jahren sehr darum bemüht waren, sich den Weg für eine langfristige Tätigkeit in „ihrem“ Unternehmen zu ebnen und sich daher der damaligen älteren Generation im Betrieb eher unterordneten. Die Jüngeren hingegen, die – gerade wenn sie gut qualifiziert sind – sehr wohl wissen, dass sie eine Art „Mangelware“ darstellen, sehen für sich nur noch bedingt die Notwendigkeit, sich anzupassen und stellen die über viele Jahre hinweg bewährten Strukturen und Prozesse, die die Älteren geschaffen haben, in Frage (vgl. Parment 2009, Meyers 2009).
5. Ansatzpunkte zur Gewinnung und Bindung der jüngeren Generation In der Literatur finden sich vielfältige Hinweise darauf, wie sich die jüngere Generation für einen Arbeitgeber gewinnen und an ihn binden lässt. Auch hier ist von pauschalen Aussagen Abstand zu nehmen, doch lassen sich einige zentrale Ansatzpunkte identifizieren. So zeigen Studien unter Studierenden und Hochschulabsolventen übereinstimmend, dass viele „High Potentials“ von morgen weniger nach den klassischen Karrierezielen wie Einkommen und Status streben, sondern vielmehr nach einer ausgewogenen Work-Life-Balance, Arbeitsplatzsicherheit und herausfordernden Arbeitsaufgaben. Karriere zu machen bedeutet für sie in erster Linie, eine Arbeit zu haben, die Spaß macht, berufliche Aufstiegschancen realisiert sowie Anerkennung und Erfolgserlebnisse mit sich bringt. Anders als die ältere Generation lassen sie sich nicht zuletzt dadurch motivieren, dass das Unternehmen, für das sie arbeiten, sich für sie interessiert (vgl. ManagerMagazin 2005, Scheltwort 2004, Opaschowski 2008, Laick 2009, Gertz 2008, Towers Perrin 2007). 124
9 DIE JÜNGERE GENERATION IN DER ARBEITSWELT
Für die Rekrutierung bedeutet dies, den potenziellen Mitarbeitern der jüngeren Generation das Gefühl zu vermitteln, wichtig für das Unternehmen zu sein und nicht einfach nur einen frei gewordenen Arbeitsplatz neu zu besetzen. Darüber hinaus sollte im Rekrutierungsprozess dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die Jüngeren anders kommunizieren und bei der Arbeitsplatzsuche neue Wege gehen. Gerade soziale Netzwerke werden immer häufiger zu „Jobportalen“ und zur Austauschplattform über die Vor- und Nachteile eines Arbeitgebers. Die jüngere Generation ist Transparenz und zielgerichtete Kommunikation gewohnt – daher sollten sich Arbeitgeber darauf einstellen, dass z. B. Karriereperspektiven im Unternehmen bei einem Vorstellungsgespräch nachgefragt werden und eine klare und eindeutige Antwort erwartet wird. Eine direkte und weniger formelle Ansprache kommt bei vielen Absolventen gut an, muss allerdings mit der allgemeinen Kommunikationsstrategie des Unternehmens kompatibel sein. Eine hohe Bedeutung nehmen auch die Werte ein, die ein Unternehmen nach außen hin vermittelt sowie die Unternehmenskultur – dies hängt mit dem Wunsch nach der „Bedeutsamkeit“ der eigenen Tätigkeit zusammen (vgl. Parment 2009). Da die jüngere Generation sich überwiegend im klassischen „Familiengründungs-Alter“ befindet, fühlt sie sich naturgemäß auch durch Angebote zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie angesprochen bzw. lässt sich hierdurch für einen Arbeitgeber gewinnen oder an ihn binden. Neben den eindeutigen Ergebnissen der Studien unter Studierenden zeigt sich diese Werthaltung auch bei jungen Arbeitnehmern. So ergab eine repräsentative Befragung von 25bis 39-jährigen Arbeitnehmern mit eigenen Kindern unter 18 Jahren, dass 92 % der Vereinbarkeit von Familie und Beruf Vorrang vor einem hohen Gehalt einräumen (vgl. BMFSFJ 2007). Ein weiterer Attraktivitätsfaktor für die jüngere Generation, für die moderne Technologien bereits selbstverständlich zum Alltag gehören, ist die Ausstattung ihres Arbeitsplatzes mit den neuesten Technologien bzw. die Möglichkeit, diese zu erlernen. Ebenso müssen sich Führungskräfte damit vertraut machen, dass es „den typischen Arbeitstag“, an dem Mitarbeiter innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens an einem bestimmten Arbeitsplatz anzutreffen sind, nur noch bedingt geben wird. Die jüngere Generation schätzt die mobilen Technologien insbesondere dafür, dass sie das Arbeiten zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten möglich machen und erwartet zuneh125
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mend, dass man ihr diese Freiräume lässt – umso mehr vor dem Hintergrund des zunehmenden Wunsches nach einer ausgewogenen Work-Life-Balance. Dies birgt allerdings auch Gefahren der Überlastung, die sich Arbeitgeber bewusst machen und für entsprechende Vorbeugung bzw. Entlastung sorgen sollten (vgl. Meyers 2009, Richter 2008, Ponzellini 2009, Towers Perrin 2007). Jüngere Arbeitnehmer suchen durchaus nach Orientierung und Beständigkeit in einer immer schnelllebiger und komplexer werdenden Arbeitswelt. Führungskräften kommt daher eine bedeutende Rolle zur Vermittlung von Werten und Maßstäben zu. Allerdings ist die jüngere Generation dazu erzogen, ihre Meinung offen zu artikulieren und ihren Standpunkt zu vertreten – auch „Respektpersonen“ gegenüber. Sie erwartet in der Folge im Arbeitskontext ein kooperatives und partizipatives Miteinander, in dem Hierarchie übergreifend Ideen, Wünsche, aber auch Probleme frei diskutiert werden (vgl. Parment 2009). Bedingt durch eine gute Ausbildung und das Bewusstsein, dass eine Ausbildung nicht für ein Leben trägt, bringen junge Arbeitnehmer eine hohe Lernbereitschaft und ein ausgeprägtes Interesse an Entwicklungsperspektiven mit. Diesem Umstand sollte ein Unternehmen Rechnung tragen, indem entsprechende Angebote zur Verfügung gestellt werden (vgl. Bruch/Kunze/Böhm 2010). Denn gerade die besser qualifizierten Nachwuchskräfte zögern nicht lange, sich um eine chancenreichere Position bei einem anderen Arbeitgeber zu bemühen, wenn ihnen keine ausreichenden Perspektiven geboten werden.
6. Schlussbetrachtung Die immer weiter voranschreitende Vielfalt von Mitarbeitern unterschiedlicher Altersgruppen im Arbeitsprozess bringt durchaus Chancen mit sich: „Je größer die demografische und kulturelle Vielfalt der Arbeitsplätze in einem Unternehmen ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass immer Mitarbeiter da sind, die mittwochabends, am 1. Weihnachtsfeiertag oder alle zwei Wochen samstagabends arbeiten können. Manche Menschen arbeiten gerne intensiv zwei Wochen hintereinander, um dann eine Woche frei zu haben, an126
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dere arbeiten gerne montags bis donnerstags viele Stunden, um dann ein verlängertes Wochenende im italienischen Sommerhaus verbringen zu können“ (Parment 2009). Die Herausforderung besteht darin, die Erkenntnis in den betrieblichen Alltag zu integrieren, dass ein angemessenes Miteinander abhängig ist von der Berücksichtigung und Akzeptanz der unterschiedlichen Werte und einen Einklang mit den Unternehmenszielen herzustellen (vgl. Paine 2006). Was die jüngere Generation anbelangt, lässt sich zusammenfassend konstatieren, dass diese ihr immenses Leistungspotenzial insbesondere dann ausschöpft, wenn ihr die entsprechenden Freiräume dafür gewährt werden.
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HUMAN RESOURCES
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9 DIE JÜNGERE GENERATION IN DER ARBEITSWELT
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HUMAN RESOURCES
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10 Strategie für die Zukunft: Die lebensphasenorientierte Unternehmens- und Personalpolitik von Jutta Rump, Silke Eilers und Gaby Wilms Dr. Jutta Rump ist Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Internationales Personalmanagement und Organisationsentwicklung an der Fachhochschule Ludwigshafen. Daneben leitet sie das Institut für Beschäftigung und Employability IBE, das den Schwerpunkt seiner Forschungsarbeit auf personalwirtschaftliche, arbeitsmarktpolitische und beschäftigungsrelevante Fragestellungen legt. Sie hat darüber hinaus zahlreiche Mandate auf regionaler und nationaler Ebene inne. Silke Eilers war während ihres berufsintegrierenden Studiums der Betriebswirtschaftslehre an der Fachhochschule Ludwigshafen am Rhein als Sachbearbeiterin und Übersetzerin in der internationalen Vertriebsabteilung der Koenig & Bauer AG in Frankenthal tätig. Nach ihrem Abschluss als DiplomBetriebswirtin (FH) übernahm sie im gleichen Unternehmen Aufgaben in den Bereichen Personalentwicklung und Personalbetreuung, Hochschulmarketing und Nachwuchskräfteförderung. 2003 wechselte sie an das Institut für Beschäftigung und Employability IBE. Dipl.-Kff. Gaby Wilms war bei der HERTIE Waren- und Kaufhaus GmbH im Vorstandsressort Personalmanagement beschäftigt, bevor sie in leitender Funktion bei der Gemeinnützigen HERTIE-Stiftung tätig wurde. Bei der Deutschen Gesellschaft für Personalführung e.V. (DGFP) leitete sie das Weiterbildungsinstitut in Frankfurt am Main. Anschließend wechselte sie als Geschäftsführerin der C. R. Poensgen-Stiftung – Das Management Development Institut in der DGFP – nach Düsseldorf. Im Anschluss daran machte sie sich selbstständig als Unternehmensberaterin und Geschäftsinhaberin eines Modeunternehmens. Seit 2009 unterstützt sie das Institut für Beschäftigung und Employability IBE, Ludwigshafen. 131
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1. Warum eine lebensphasenorientierte Unternehmens- und Personalpolitik immer wichtiger wird Kommt Ihnen folgende kleine Geschichte bekannt vor? Er oder sie ist jung, Single, bestens qualifiziert, Diplom-Wirtschaftingenieur/in, „frisch“ von der Uni, voller Tatendrang und Innovationsgeist. Als Nachwuchsführungskraft wird er bzw. sie eingestellt und macht schnell Karriere. Nach drei Jahren eine Führungsaufgabe im Vertrieb, internationale Projektverantwortung für Deutschland und Europa, 60-Stunden-Woche und vielfältige Reisetätigkeiten. Mit 35 Jahren die Phase der Familiengründung: Heirat, das erste Kind, ein Haus wird gebaut. Es zeichnet sich die so genannte „Rush Hour“ des Lebens ab. Zu den beruflichen Verpflichtungen gesellen sich jetzt vermehrt private Aufgaben. Was nun? Eine Zwickmühle? Wo liegen die Prioritäten? Wie können jetzt beide Bereiche miteinander synchronisiert werden, ohne dass einer von beiden darunter leidet? In der Phase der Familiengründung wäre ein Teilzeitarbeitsverhältnis mit relativ geregelten Arbeitszeiten und weniger Reisetätigkeiten von Vorteil. Für einen begrenzten Zeitraum zurück in die Fachlaufbahn zu gehen, käme ihm oder ihr auch nicht ungelegen, z. B. als Vertriebsspezialist in der Produktentwicklung. Wie wird das Unternehmen auf solche Vorschläge reagieren? Was würden Sie tun? Gerade jüngere Männer und Frauen definieren die Attraktivität ihres Unternehmens nicht mehr vorrangig über das Gehalt. Die Realisierbarkeit persönlicher Ziele und Wertvorstellungen hat einen sehr hohen Stellenwert, wie Befragungen immer wieder aufzeigen. Hinzu kommt, dass sich gesellschaftliche Rollenbilder und familienpolitische Paradigmen wandeln, ebenso wie das Durchschnittsalter der Belegschaften und die Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte. Gerade kleine und mittelständische Betriebe müssen sich mit den folgenden Fragen auseinandersetzen, um ihre Wettbewerbsfähigkeit dauerhaft zu erhalten: •
•
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Wie lassen sich Beschäftigte in Unternehmen binden und für Unternehmen gewinnen? Wie können die unterschiedlichen Werte sowie Denk- und Handlungsmuster der verschiedenen Generationen und Beschäftigtengruppen berücksichtigt werden?
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Wie kann die Lern- und Leistungsfähigkeit der Beschäftigten unter Berücksichtigung der Lebensphasen gefördert werden? Wie lässt sich die Vereinbarkeit von Beruf und Familie (Kinderbetreuung und Pflege) realisieren? Wie lässt sich der so genannte „Lebensstau“ entzerren?
Insbesondere die Sicherung der nachhaltigen Beschäftigungsfähigkeit sowie die Gewinnung und Bindung qualifizierter Nachwuchskräfte stellen wesentliche Voraussetzungen für die Wettbewerbsfähigkeit dar. Die Tatsache, dass durch technologische und ökonomische Entwicklungen der Bedarf an Fachkräften stetig ansteigt, gleichzeitig ihre Verfügbarkeit jedoch aufgrund des demografischen Wandels sinken wird, lässt erkennen, dass es dringend Handlungsbedarf gibt. Für viele Fachkräfte gilt in Zukunft, dass sich ihr Arbeitsmarkt von einem Arbeitgebermarkt zu einem Arbeitnehmermarkt wandelt. Daraus resultiert, dass die Gewinnung und Bindung insbesondere von Fachkräften eine zentrale Aufgabe von Personalpolitik ist. Nicht nur die Förderung der Lern- und Leistungsfähigkeit über die gesamte Lebensarbeitszeit unter Berücksichtigung der Lebensphasen ist von grundlegender Wichtigkeit, sondern auch die Beachtung der unterschiedlichen Werte sowie Denk- und Handlungsmuster der Beschäftigten. Immer mehr Menschen, darunter in zunehmendem Maße Jüngere, wünschen sich eine Entzerrung des „Lebensstaus“, der viel beschworenen „Rush Hour“ des Lebens. In dieser Zeitspanne im Alter zwischen 20 und 40 Jahren stehen zahlreiche Weichenstellungen im privaten und beruflichen Bereich nahezu gleichzeitig an, wie das eingangs erwähnte Beispiel aufzeigt. Unterstützende Maßnahmen seitens der Betriebe sind derzeit noch eher die Ausnahme. Arbeitgeber sollten sich bewusst machen, dass die daraus resultierende Belastung nicht nur im „Lebensstau“ selbst die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft hemmt, sondern auch zu einem frühzeitigen Ausbrennen der Leistungsträger sowie zu gesundheitlichen Folgewirkungen im Laufe des verlängerten Erwerbslebens führen kann. Gleichzeitig sollte man dem Bestreben der jüngeren Generationen nach herausfordernden Aufgaben, an denen sie sich weiter entwickeln und lebenslang lernen können, gerecht werden. So zeigt sich deutlich, dass mit einer eindimensionalen Herangehensweise, die intergenerationale Unterschiede nicht berücksichtigt, auf Dauer keine optimale Leistungsbereitschaft und -fähigkeit zu erreichen ist. 133
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2. Was bedeutet Lebensphasenorientierung für die Praxis? Eine lebensphasenorientierte Personalpolitik begegnet diesen Anforderungen. Unternehmen werden künftig auch auf den Arbeitsmärkten im Wettbewerb zueinanderstehen. Gut für den Betrieb, der auch auf dem Arbeitsmarkt als attraktiv wahrgenommen wird. Denn hier werden die Grundlagen dafür gelegt, dass er auf den Absatzmärkten erfolgreich ist. Unternehmen, die mit einer innovativen Personalpolitik moderne Rahmenbedingungen schaffen, sichern ihre Zukunftsfähigkeit und sind Motor der Wirtschaft. Die lebensphasenorientierte Personalpolitik hat einerseits die Lebenssituation der Beschäftigten im Fokus. Zudem werden die betrieblichen Prozesse in den Blickpunkt genommen. Zu den Lebensphasen, die es zu berücksichtigen gilt gehören: •
Partnerschaft
•
Familie/Kinderbetreuung
•
Familie/Pflege
•
Um- und Neuorientierung
•
Krankheit
•
Vorbereitung auf den 3. Lebensabschnitt
Berufs- und Arbeitsphasen sind z. B.: •
Arbeitsalltag/Arbeitsprozesse
•
Personalentwicklung/Karrieren
•
Veränderung (Arbeitsplatz/Bereich)
•
Ausland
•
Beruflicher Rückzug (temporär/endgültig)
Im Rahmen der lebensphasenorientierten Personalpolitik bedarf es eines Matchings von Berufs- und Lebensphasen. Die folgende Matrix zeigt einige Bespiele, welche Maßnahmen zum Einsatz kommen können. 134
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Berufsphasen Lebensphasen
Arbeitsalltag
Personalentwicklung/Karriere
Veränderung (Arbeitsplatz/ Bereich)
Ausland
Rückzug (temporär/endgültig)
Partnerschaft
Einladung zu Veranstaltungen auch für den Partner
Integration der Situation des Partners in PE-Gespräche
Dual Career Thematik
Sprach- und interkulturelles Training auch für den Partner
Austrittsgespräch
Familie/Kinder
Beratung; Flexible Arbeitszeit/Arbeitsort; Kooperation mit Kinderbetreuungseinrichtung
Kontakthalteprogramme während der Elternzeit; Wiedereinstiegsprogramme
Überprüfung, ob der neue Arbeitsplatz flexible Arbeitsmodelle ermöglicht; Sensibilisierung von Führungskräften
Unterstützung bei der Kinderbetreuung beim Auslandseinsatz
Elternzeit; KontakthalteProgramme
Familie/ Pflege
Beratung; Erfahrung; Flexible Arbeitszeit/ Arbeitsort
Kontakthalteprogramme während der Pflegezeit; Wiedereinstiegsprogramme
Sensibilisierung von Führungskräften
Unterstützung bei der Organisation der Pflege von Angehörigen
Pflegezeit; Kontakthalteprogramme
Um- und Neuorientierung
Mitarbeitergespräch; Coaching
Coaching; Mentoring; Durchlässigkeit von Karrieren
Mitarbeitergespräch; Coaching
Erstellen von Ausstiegsszenarien
Sabbatical; Outplacement
Krankheit
Gesundheitsmanagement; Unterstützung beim Umgang mit der Krankheit; Flexible Arbeitsmodelle (Zeit, Ort); Arbeitsplatzwechsel
Verschiebung von Qualifizierungen; Veränderung der Arbeitsbedingungen
Berücksichtigung der Krankheit bei Personaleinsatzplanung
Vorzeitige Rückkehr
Krankenzeit; Kontakthalten während der Krankenzeit; Kleine Aufmerksamkeiten, wie Blumen etc.
Vorbereitung auf den 3. Lebensabschnitt
Überlappende Amtsdauer zum Wissenstransfer
Ausscheidende Mitarbeiter als Berater und Coach
Vorgezogener Ruhestand; Altersteilzeit
Ausscheidende Mitarbeiter als Berater für das Auslandsgeschäft
Austrittsgespräch; Berater-/Trainervertrag; Überlappende Amtsdauer zum Wissenstransfer
Abb. 1: Mögliche Massnahmen der lebensphasenorientierten Personalpolitik
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An einem Beispiel aus der täglichen Personalarbeit lässt sich dieses „Matching“ verdeutlichen: Stellen Sie sich vor, eine mittlere Führungskraft verabschiedet sich voraussichtlich in drei Jahren in den Ruhestand und zum jetzigen Zeitpunkt steht eine Umstrukturierung im Betrieb an, die auch die Abteilung dieser Person betrifft. Mit welchen Instrumenten kann nun dazu beigetragen werden, diesen Mitarbeiter bis zum Ausstieg aus dem Unternehmen leistungsfähig, engagiert und voll motiviert zu erhalten? Wie können Veränderungswiderstände aufgefangen werden? Wird er sich mit den neu installierten Systemen und Abläufen anfreunden können? Wie kann der Wissenstransfer gesichert werden, bevor er das Unternehmen verlässt und gegebenenfalls eine große Lücke im Betrieb hinterlässt? Wer übernimmt im Anschluss die Führungsposition? Steht ein entsprechend qualifizierter Nachfolger zur Verfügung? Sollte der ausscheidende Mitarbeiter eventuell einen Anschlussvertrag als Senior-Experte bekommen und als Coach für jüngere Kollegen eingesetzt werden? Fragen über Fragen aus den Bereichen Personalplanung und Personalentwicklung, um nur einige zu nennen … Auslöser dafür stellt in diesem Beispiel die persönliche Lebenssituation eines Mitarbeiters dar, der in absehbarer Zukunft das Unternehmen verlassen wird, sowie die parallele Situation der betrieblichen Veränderung. Damit kommen zahlreiche Aufgaben und Problemstellungen auf das Personalmanagement zu, die verschiedener Lösungen bedürfen. Eine weitere Begebenheit aus dem Alltag des Unternehmens: Eine Frau mittleren Alters, teilzeitbeschäftigt als kaufmännische Angestellte, verheiratet, seit einem halben Jahr getrennt lebend, ihr Sohn im Alter von 11 Jahren sowie ihre pflegebedürftige Mutter leben mit ihr zusammen in einem Haushalt. Aus finanziellen Gründen wendet sie sich an die Personalabteilung, um eine zukünftige Beschäftigung in Vollzeit mit gleichzeitig hoher persönlicher Flexibilität überprüfen zu lassen. Welche Optionen kann das Unternehmen anbieten? Besteht für sie die Möglichkeit, einen Teil ihrer Aufgaben von zuhause aus im „Home Office“ erledigen zu können? Ist die damit verbundene Vertrauensarbeitszeit denkbar im Betrieb? Welcher Stein wird damit ins Rollen gebracht und wie soll es breit kommuniziert werden? Wäre dies eine Einzelfalllösung oder gilt es für den ganzen Betrieb? Ist ihre Führungskraft damit einverstan136
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den und vertraut mit einem ergebnisorientierten Führungsstil? Steht ihr auch dann noch der Weg offen für die Übernahme einer Gruppenleiterfunktion, wie es vor ihrer Trennung vom Ehemann seitens des Vorgesetzten angedacht war? Kann das Unternehmen mit einer Beratungsdienstleistung unterstützen, um die Versorgung ihrer pflegebedürftigen Mutter rund um die Uhr sicher zu stellen? Hier kommen mehrere betriebliche Prozesse und Abläufe wie Arbeitsorganisation, Führung, Personalentwicklung und Services gleichzeitig zum Tragen, um dem Wunsch der Mitarbeiterin nachzukommen und sie zugleich an das Unternehmen zu binden und nicht mittelfristig zu verlieren. Generell gilt für alle lebensphasenorientierten Maßnahmen, dass es bei der Umsetzung in die betriebliche Praxis nicht darauf ankommt, so viel wie möglich durchzuführen. „Weniger ist mehr!“ Aber es ist notwendig, die Maßnahmen aufeinander abzustimmen, Wechselwirkungen zu identifizieren sowie Synergien aufzudecken und zu nutzen.
3. Die Aktionsfelder der lebensphasenorientierten Unternehmens- und Personalpolitik Die o. g. Beispiele beinhalten eine Reihe von möglichen Maßnahmen, die zum Einsatz kommen können, wenn die Lebensphase oder Lebenssituation der Beschäftigten es erforderlich machen. Es fällt auf, dass es sich zum großen Teil um Instrumente handelt, die zum gängigen und mittlerweile üblichen Repertoire der Unternehmens- und Personalpolitik gehören: z. B. flexible Arbeitsmodelle (Zeit, Ort etc.), Führung, Personalentwicklung, Personalplanung, Beratungsservices für die Beschäftigten, Informations- und Kommunikationspolitik. Sie gelten quasi als „Dauerbrenner“ und MÜSSEN unabhängig von Unternehmensgröße und Branchen im Fokus stehen. Die große Kunst liegt darin, diese individuell anzupassen! Das richtige Instrument für die jeweilige Situation des Beschäftigten und des Unternehmens in der richtigen Art und Weise anzuwenden, ist die Herausforderung einer lebensphasenorientierten Personalpolitik! 137
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Grundsätzlich lassen sich vier Thesen aufstellen: 1. Je flexibler ein Unternehmen seine betrieblichen Prozesse zu gestalten in der Lage ist, desto flexibler kann es auf die Lebenssituationen der Beschäftigten eingehen und individuelle Lösungen anbieten. Während in einer eher starren Arbeitsorganisation Mitarbeiter mehr oder weniger an ihr Tätigkeitsfeld gebunden bleiben, zeichnet sich eine flexible Organisation durch Offenheit und Mobilität aus. Eine flexible Organisation trägt darüber hinaus dazu bei, die so genannte „Spezialisierungsfalle“ zu vermeiden, in die Mitarbeiter geraten können, wenn sie über viele Jahre nur in einem Tätigkeitsfeld und Einsatzgebiet arbeiten. Eine flexible Organisation und Arbeitsplatzgestaltung spielen eine wichtige Rolle bei der Umsetzung der lebensphasenorientierten Personalpolitik, weil sie den Erhalt und die Entwicklung der Beschäftigungsfähigkeit unterstützen und z. B. eine Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglichen. 2. Je mehr Führungskräfte ein Gehör und Verständnis für die persönliche Lebenssituation ihrer Mitarbeiter haben, desto schneller und besser wird eine lebensphasenorientierte Personalpolitik im Unternehmen umgesetzt. Bei einer lebensphasenorientierten Personalpolitik stehen wirtschaftliche Ziele und Mitarbeiterorientierung gleichermaßen im Visier. Mehr noch: Sie sollen sich gegenseitig bedingen und ergänzen. Diese Verbundenheit muss sich auch auf Führung übertragen, d. h., Führungskräfte sollten zwar einerseits durchaus leistungsorientiert agieren, andererseits jedoch auch für unterschiedliche Lebensereignisse und die damit einhergehenden Zusammenhänge sensibilisiert sein. Dazu gehört, dass sie über alle Handlungsmöglichkeiten umfassend informiert sind und nach bestmöglichen Lösungen suchen, wenn dies erforderlich ist. Führungskräfte sind die Schnittstelle zu den Mitarbeitern, sie kennen sie aufgrund des engen Kontaktes meist am besten und können erste Ansprechpartner sein. 3. Je offener und ehrlicher die Beschäftigten mit ihrer Lebenssituation im betrieblichen Kontext umgehen, desto frühzeitiger sind Führungskräfte in der Lage, den „Lebensstau“ ihrer Mitarbeiter zu entzerren. Nicht selten vertreten Beschäftigte selbst die Ansicht, dass ihre persönlichen Belange keinen Raum einnehmen sollten. Hier gilt es im Unternehmen die 138
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Mitarbeiter darin zu bestärken und zu ermuntern, ihr Selbstmanagement in die Hand zu nehmen und den Bedarf mit der Führungskraft zu diskutieren. 4. Je wertschätzender die Unternehmenskultur den unterschiedlichen Lebensphasen der Mitarbeiter sowie Führungskräfte Rechnung trägt, desto nachhaltiger wird diese Thematik im Betrieb und im Bewusstsein aller Beschäftigten verankert. Durchgängig auf allen Ebenen sollte von den Führungskräften und Mitarbeitern eine lebensphasenorientierte Personalpolitik bejaht werden. Die Verankerung in den Köpfen ist eine wichtige Voraussetzung für die breite Umsetzung mit allen Konsequenzen – auch für das eigene Verhalten. Gerade in Bezug auf die Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie behindert eine Unternehmenskultur, die nicht wertschätzend wirkt, eine dauerhafte Stärkung dieser Thematik im Betrieb – stattdessen fördert sie die Entwicklung des Lebensstaus. Unter Arbeitgebern wächst mittlerweile die Einsicht in die Notwendigkeit einer lebensphasenorientierten Unternehmens- und Personalpolitik – zur tatsächlichen Umsetzung bewegen die meisten jedoch konkrete ökonomische Vorteile. Viele Unternehmen scheuen allerdings den Aufwand, den sie für eine Kosten-Nutzen-Rechnung bezüglich der Lebensphasenorientierung erwarten, und schätzen die Möglichkeit einer realistischen Steuerung und Erfolgskontrolle eher skeptisch ein. Es erscheint daher unerlässlich, ein Instrument zu gestalten, das Arbeitgeber „in ihrer eigenen Sprache“ anspricht. Gefordert sind konkrete Indikatoren, die leicht zu handhaben sind und ihnen in klarer und übersichtlicher Form die Relevanz der Lebensphasenorientierung für ihren betrieblichen Kontext aufzeigen.
4. Nicht zuletzt ... Die Entwicklungen in Bezug auf den demografischen Wandel sowie auf wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene machen deutlich, dass Handlungsbedarf für eine Neugestaltung der Unternehmens- und Personalpolitik gegeben ist. Die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen wird künftig immer stärker davon abhängen, sich als attraktiver Arbeitgeber zu positionieren und der 139
HUMAN RESOURCES
Belegschaft Wege aufzuzeigen, wie sie trotz verlängerter Lebensarbeitszeit die Balance zwischen Berufs- und Privatleben meistern und dabei ihre Beschäftigungsfähigkeit aufrechterhalten. Nur so lässt sich dem anstehenden Fachkräfteengpass begegnen. Für Unternehmen sind hiermit vielfältige betriebswirtschaftliche Vorteile verbunden: •
Bindung von Mitarbeitern.
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Erhöhung von Mitarbeitermotivation und Arbeitsproduktivität.
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Förderung von Beschäftigungsfähigkeit.
•
Realisierung von Einsparpotenzialen (Wiederbeschaffungs-/Überbrückungskosten).
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Reduktion von Ausfallzeiten, des Krankenstands und der Fluktuationsrate.
•
Steigerung der Attraktivität des Arbeitgebers auf dem Arbeitsmarkt.
•
Imageverbesserung.
•
Unterstützung in Veränderungsprozessen (Veränderungen benötigen Mitarbeiter, die ein hohes Maß an Loyalität haben).
Selbstverständlich liegt die Verantwortung für eine adäquate Umsetzung einer lebensphasenorientierten Unternehmens- und Personalpolitik nicht alleine auf Unternehmensseite. Der bzw. die Einzelne selbst kann ebenfalls zum Erfolg der lebensphasenorientierten Unternehmens- und Personalpolitik beitragen, indem er bzw. sie sich aktiv einbringt. Darüber hinaus erweisen sich das Bewusstsein für die Notwendigkeit des lebenslangen Lernens und der nachhaltigen Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit als erfolgskritisch. Verantwortung für sich selbst sowie die persönliche und berufliche Entwicklung zu übernehmen, sind untrennbar mit dem Erfolg dieses Konzepts verbunden.
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Neue Organisationsformen Die Flexibilisierung der Organisationsformen ist seit einigen Jahren ein Dauerbrenner. Die Organisation 2.0, die sich in schnellen und auf globalen Märkten zu bewähren hat, benötigt eine wesentlich höhere Beweglichkeit und Agilität. Statt einer strikten Ablauf- und Aufbauorganisation mit schematisierten Prozessen steht in ihr eher die betriebliche Projektwirtschaft im Zentrum. Neue Themen, neue Lösungen – sie werden mithilfe von Projekten angegangen, wie David Alich in seinem Beitrag aufzeigt. Und Innovation in der Organisation 2.0 setzt mehr und mehr auf Open Innnovation. In ihr sind die Türen und Labors von Unternehmen weit offen für Anregungen von Kunden oder Partnern. Sie werden aktiv in Neuentwicklungen einbezogen, wie Stephan Grabmeier und Helge Wangler darstellen. Virtuelle Teams sind ebenfalls eine neue Form, in der sich Organisation seit einigen Jahren bewegen, wenn sie sich auf viele Länder verteilen. Die Chancen und Grenzen virtueller Teams illustriert Ina Arndt anhand einiger Beispiele in ihrem Beitrag. Bei allem geht es aber auch in der Organisation 2.0 um eine klare Strategie, der die Organisationsstruktur dann zu folgen hat. Wie sich die Organisation an einer solch klaren Strategie orientiert, demonstriert Jürgen Heindl, der dies mit seinem Unternehmen erfolgreich praktiziert.
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11 Klare Organisationsstrukturen, klare Strategie Interview mit Jürgen Heindl Jürgen Heindl, Diplom-Wirtschaftsingenieur, ist Chief Executive Officer der Progroup AG. Die Progroup AG ist Branchenführer bei Wellpappen-Formaten und wurde von Jürgen Heindl 1992 als Prowell GmbH gegründet. Mit dieser war er Vorreiter in Sachen E-Commerce. Die Kunden von Prowell GmbH konnten – erstmals in der Branche – Wellpappenformate direkt online bestellen. Für diese besondere unternehmerische Leistung erhielt Jürgen Heindl u. a. Innovationförderpreise vom Land Rheinland-Pfalz.
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NEUE ORGANISATIONSFORMEN
Die Progroup wächst seit Jahren kontinuierlich und bietet eine gelungene Erfolgsgeschichte. In welchen Faktoren liegt dies begründet? Wesentlich für unseren Erfolg ist, dass wir seit unserer Gründung unsere zentralen Ansätze konsequent verfolgen und nicht daran rütteln. Einer davon ist, die besten verfügbaren Technologien zu nutzen und hier die Führerschaft in unserer Industrie zu übernehmen. Ein zweites Credo von uns ist es, dass wir ab einer bestimmten Größe und einem klar definierten Produktvolumen schnell neue Produktionsstätten eröffnen. Dies ist als eine Art Zellteilung zu verstehen und wir nutzen dabei den Greenfield-Ansatz. Das heißt eine neue Fabrik entsteht auf der grünen Wiese und wird immer mit der neuesten Technik ausgestattet. Alle unsere Werke werden komplett in unsere Prozesse und unsere IT integriert und vernetzt. Wir kombinieren gewissermaßen unsere gläserne Fabrik vor Ort, deren Kennzahlen und Abläufe sehr transparent sind, mit einer ganzheitlichen und vernetzten Steuerung. Das letzte Kernelement: Die Produktionsstätten vor Ort verfügen über eine hohe Autonomie. Dies geht nur, weil wir ausschließlich gut ausgebildete Mitarbeiter mit einem abgeschlossenen Beruf einstellen. Technologieführerschaft – was heißt dies für Sie genau? IT macht für uns den Unterschied aus. Sie hat die Spezifika unseres Geschäfts nahtlos, vollständig und integriert abzudecken. Dazu haben wir eine Art Körpermodell in unseren Informations- und Kommunikationstechniken geschaffen. In unserer Zentrale befindet sich der Kopf. Hier läuft die gesamte Koordination zusammen – unsere IT steuert alles und verfügt über das Wissen unserer Geschäftsabläufe. Menschen sind für die Steuerung der Prozesse zu langsam, darum bildet unsere IT alle Abläufe perfekt ab. Unsere Produktionsstätten sind in diesem Modell unsere Hände. Wir haben es so geregelt, dass unsere Anlagen vor Ort bei maximaler Geschwindigkeit selbst fahren und die Bediener nur bei Problemen eingreifen. Mitarbeiter nehmen keine Grundeinstellungen bei den Maschinen und Prozessen vor, dies steuern wir zentral. Dabei protokollieren die Anlagen selbst mit, warum sie nicht schneller arbeiten – es ist ein selbstlernendes System. Individualität ist bei der Produktion und in den Prozessen explizit nicht gewollt. 144
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Wo findet dann in Ihrem Unternehmen Individualität statt? Indem wir unseren Leuten auf anderen Ebenen Verantwortung geben, nur nicht bei den Maschinen. So sind die Teams vor Ort für alles zuständig, was in ihrer Schicht passiert und agieren in diesem Sinne als Unternehmer vor Ort. Dies unterstützen wir durch unser Gehaltsmodell: Wir zahlen nach Deckungsbeitrag, den wir gut messen können, da unsere Prozesse klar definiert sind. 30 Prozente des Gehalts sind fix, 70 Prozent sind ein Teamlohn. Nach Schichtende weiß jeder Mitarbeiter, welche Wertschöpfung und welchen Deckungsbeitrag er generiert hat. Erfolg und Misserfolg sind bei uns immer direkt sichtbar, zumal die Rahmenbedingungen für die Teams im Jahresdurchschnitt gleich sind. So erkennt jedes Team, dass es auf sie selbst ankommt. Welche Kompetenzen benötigt eine starke Zentrale? Für mich entsteht Exzellenz, wenn Unternehmen auf ihre Kernprozesse konzentriert sind und diese professionell steuern und entwickeln. Dazu gehört gerade in der Zentrale, ganzheitlich, vernetzt und mit Weitblick zu denken. Nur so können unsere Mitarbeiter die Konsequenzen ihres Handelns abschätzen. Diese Anforderungen fördern wir durch unsere offene Bürowelt. Denn sich auf der IT-Seite zu vernetzen ist nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite steht die soziale Vernetzung. Entscheidend ist hierbei, sich ständig auszutauschen. Prozesse effizient zu steuern, verlangt also Kommunikation als elementares Element. Sicher – und dies ist ein sensibler Punkt – steigt die Komplexität in unserem Headquarter mit jedem neuen Standort stark an – insbesondere, wenn die neuen Standorte im Ausland liegen. Hier kommen unsere Mitarbeiter oft an Grenzen, wenn sich die Zahl der Vorgänge erhöht und ihnen interkulturelle Kompetenzen fehlen. Wie bilden Sie Ihr ständiges Wachstum in ihren Organisationsstrukturen ab? Wir haben eine magische Produktionsgrenze für ein Werk festgelegt. Wenn wir diese überschreiten, bauen wir eine neue Produktionsstätte auf der grünen Wiese. Bei deren Etablierung folgen wir einem Plug and Go-Prinzip. Auch hier erfolgt eine zentrale Planung und genau konfigurierte Integration des neuen Werks in unsere bestehenden Strukturen – immer unter der Nutzung 145
NEUE ORGANISATIONSFORMEN
neuester Technologien. Unsere letzten drei Werke sind beispielsweise baugleich gebaut. Welche Qualifikation haben Ihre Mitarbeiter, wie sieht die Einarbeitung aus? Bei aller IT-Affinität und standardisierten Prozesse legen wir sehr hohen Wert auf die Qualität unserer Mitarbeiter. Wir suchen nur Mitarbeiter, die über eine hohe Qualifikation verfügen. Dazu zählt für uns ein anerkannter Berufsabschluss. Nach ihrer Einstellung werden unsere neuen Mitarbeiter sechs Monate in einem unserer Werke ausgebildet sowie geschult und bauen anschließend das neue Werk mit auf. Zudem gibt es für jeden neuen Kollegen einen erfahrenen Mitarbeiter als Paten. Wenn das neue Werk gestartet ist, laufen die Schulungsmaßnahmen noch ein Jahr weiter. Wie kamen Sie auf diese glasklaren Strukturen, die Sie in Ihrem Unternehmen so konsequent umsetzen? Ich habe in meiner früheren Berufslaufbahn einiges gesehen, was ich nicht so gut fand. Zum Beispiel die Zwänge in Konzernen und ihre speziellen Unternehmenskulturen. Ich habe mich immer als Unternehmer gesehen, aber Konzerne wollen keine Unternehmer, sondern Manager und Profit-CenterStrukturen. Und Schnelligkeit und Flexibilität ist in Konzernen oft nicht gegeben. Viele Entscheidungen durchliefen mühsam einige Ebene, obwohl die Märkte ein hohes Tempo vorgeben. Neueste Technologien einzusetzen, war auch oft verpönt, vielmehr galt es immer erst abzuwarten, bis sich neue Maschinen auf dem Markt bewährt hatten. Technologieführerschaft habe ich hier eher als Fremdwort erlebt. Letztendlich muss in diesen Strukturen im Vergleich zum Nutzen ein zu hoher Aufwand betrieben werden, um etwas zu bewegen. Dies wollte ich in meinem Unternehmen schlicht anders gestalten. Was sehen Sie als die größten künftigen Herausforderungen für Ihr Unternehmen an? Die größte Herausforderung ist es, die vorhandene Komplexität zu steuern, indem wir sie reduzieren. Weitere Themen, die uns beschäftigen werden, sind eine noch stärkere Kundenorientierung, eine direktere Kommunikation zwischen unserer Zentrale und den Werken sowie die Weiterqualifizierung unserer Mitarbeiter. 146
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Wie können Sie Komplexität genau reduzieren? Das ist in der Tat nicht einfach und ob wir dies wirklich erreichen, bleibt für mich offen. Denn Komplexität lässt sich nicht mit nur Teilung – wie wir dies in unserer Produktion angehen – oder über einfache Instrumenten lösen. Es gibt jedoch einige Elemente auf dem Weg dorthin. So können wir über eine integrierte IT-Landschaft und unsere Anwendungen die Komplexität digital abbilden und Automatismen sowie Workflows erzeugen. Wir verlagern Komplexität in die Systeme, um uns zu entlasten. Zudem hat die Bewältigung von Komplexität viel mit kontrolliertem Wachstum zu tun. Unser Ziel ist es, ein erreichtes Niveau in unserer Organisation zu sichern und fest zu etablieren. Unsere Mitarbeiter sollen die vorhandenen Prozesse unserer Gegenwart verstehen und beherrschen. Das ist in jedem Fall eine wichtige und stabile Ausgangslage, ohne die wir der immer komplexer werdenden Zukunft überhaupt nicht gewachsen wären.
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12 Innovation durch Vernetzung von Know-how Organisationsstrukturen im Wandel betrieblicher Projektwirtschaft
von David Alich David Alich ist promovierter Demograf. Bevor er das Market Research im Bereich Marketing und Corporate Communications der Hays AG in Mannheim übernahm, arbeitete er fünf Jahre als Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für demografische Forschung. Hier forschte er insbesondere an den Auswirkungen ökonomischer, sozialer und politischer Veränderungen auf individuelles demografisches Verhalten. Als Market Research Manager bei Hays ist er seit 2008 neben analytischem CRM und klassischer Marktforschung unter anderem für die Erstellung wissenschaftlicher Studien zu allgemeinen Management- und Arbeitsmarktthemen verantwortlich.
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1. Betriebliche Projektwirtschaft – Einführung und Begriffsklärung 2007 veröffentlichte der Think Tank „Deutsche Bank Research“ eine vielbeachtete Studie zur zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands. Sie entwarf verschiedene Zukunftsszenarien, wie die deutsche Wirtschaftsstruktur im Jahre 2020 aussehen könnte. In einem dieser Szenarien wurde unter anderem die Hypothese aufgestellt, dass Projektwirtschaft im Jahre 2020 ca. 15 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung ausmachen wird, bei einem Anteil von ca. zwei Prozent in 2006. Deutsche Bank Research definierte Projektwirtschaft als Zusammenarbeit von verschiedenen Unternehmen innerhalb einer gemeinsamen Zielstellung oder eines Produktionsprozesses, z. B. bei der Erstellung eines gemeinsamen Produktes oder einer Dienstleistung. Eine solche Kooperation zwischen Unternehmen innerhalb der Volkswirtschaft könnte man auch als externe Projektwirtschaft bezeichnen. Die Studie zeigte, dass diese Form des Wirtschaftens momentan noch eher selten zu beobachten ist, in Zukunft aber weiter an Bedeutung gewinnen wird. Demgegenüber ist die unternehmensinterne Durchführung von Projekten heute eher die Regel als die Ausnahme. Das heißt, die flexible Zusammenarbeit von Mitarbeitern in Teams in einem thematisch und zeitlich begrenzten Rahmen und mit einer Zieldefinition gehört in vielen Unternehmen zum Alltag. Bei diesen internen Organisationsstrukturen sprechen wir von betrieblicher Projektwirtschaft. Betriebliche Projektwirtschaft beinhaltet die Gesamtheit aller Leistungen, Produkte und Dienstleistungen die innerhalb von Projekten erstellt werden. Dabei variieren sowohl die Anzahl und Zusammensetzung der Projektmitarbeiter, die Länge der Projekte und der Umfang der erzeugten Leistungen. Neben klassischen Großprojekten (z. B. im Anlagenbau) mit sehr langen Laufzeiten, einem hohen Managementaufwand und sehr großen Teams beinhaltet Projektwirtschaft auch kleinere Projekte mit kurzer Bearbeitungsdauer und wenigen Projektmitarbeitern (z. B. im Marketing). Obwohl es zur Arbeit in Projekten und Projektteams bereits vielfältige Untersuchungen hinsichtlich Teamstruktur, Gruppendynamik etc. gibt, blieb bisher 149
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unklar, in welchem Umfang betriebliche Projektwirtschaft in deutschen Unternehmen stattfindet und welche strategische Bedeutung ihr zukommt: Wie viele Mitarbeiter arbeiten in projektwirtschaftlichen Strukturen? Wie viele Produkte und Leistungen werden mithilfe von Projekten erstellt? Und werden Projekte eher „ad hoc“ aufgesetzt oder sind sie fest in die strategische Planung von Unternehmen integriert? Neben der Beantwortung dieser Fragen soll in diesem Kapitel außerdem auf die Vorteile, Herausforderungen und Ursachen des Scheiterns von Projekten eingegangen werden. Die empirische Basis für die folgenden Darstellungen und Überlegungen bildet die Studie „Betriebliche Projektwirtschaft. Eine Vermessung“ (Rump/Schabel/Alich/Groh 2010) des „Institutes für Beschäftigung und Employability“ (IBE) in Zusammenarbeit mit dem Personaldienstleistungsunternehmen Hays.
2. Verbreitung, Struktur und Organisation betrieblicher Projektwirtschaft Projektarbeit und Projektteams gehören in den meisten Unternehmen bereits zum Handwerkszeug bei der Bewältigung von Herausforderungen, die eine zunehmend vernetzte, beschleunigte und globalisierte Welt und Weltwirtschaft an sie stellt. Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass sich der Einsatz von Projektarbeit und die Arbeit in Teams etabliert hat und so aus einfacher Projektarbeit, eine strategisch motivierte und organisatorisch verfestigte betriebliche Projektwirtschaft geworden ist. Dabei wird die traditionelle Welt der Abteilungen und Hierarchien gründlich reformiert, da Projektteams häufig unabhängig von diesen Strukturen arbeiten und zusammengestellt werden. Die empirischen Ergebnisse der Studie belegen, dass in der absoluten Mehrheit (drei Viertel) der Unternehmen betriebliche Projektwirtschaft heute bereits Realität ist (siehe Abb. 1). Der Anteil projektwirtschaftlicher Prozesse – im Vergleich zu herkömmlichen Arbeitsabläufen – variiert allerdings stark zwischen 150
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den Unternehmen. In den meisten Firmen findet betriebliche Projektwirtschaft bisher nur in einem eher geringen Umfang statt. Auf der anderen Seite steht dagegen ein Drittel der Unternehmen, die bereits mehr als die Hälfte ihrer Prozesse projektwirtschaftlich organisieren. In dieser Gruppe finden sich überdurchschnittlich viele kleinere und mittelständische Unternehmen.
Abb. 1: Verbreitung betrieblicher Projektwirtschaft Rump/Schabel/Alich/Groh (2010)
Was sind die Ursachen dieser heterogenen Verteilung von betrieblicher Projektwirtschaft zwischen den Unternehmen? Der Anteil projektwirtschaftlich erstellter Leistungen variiert nach Branchen und Wirtschaftssektor. So findet beispielsweise im produzierendem Gewerbe (z. B. der Automobilindustrie) tendenziell seltener Projektarbeit statt als im Dienstleistungsgewerbe, da sich gerade die in der Produktion üblichen hoch effizienten, standardisierten Abläufe nur in begrenztem Umfang projektwirtschaftlich abbilden lassen. Die Verbreitung betrieblicher Projektwirtschaft variiert nicht nur zwischen den Unternehmen, sondern auch innerhalb der Unternehmen zwischen Bereichen und Abteilungen. Deutlich kristallisieren sich hier prozess- und projektgetriebene Unternehmensbereiche heraus. Stark in der traditionellen Prozesswelt 151
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verankert sind in der Regel Rechts-, Finance- und Controlling-Abteilungen, der Einkauf und häufig auch die Produktion. Demgegenüber findet in der IT, in Marketing- und PR-Abteilungen, im Vertrieb und der Kundenbetreuung und in der Forschung & Entwicklung vieler Unternehmen deutlich häufiger Projektarbeit statt. Ursachen für diese Zweiteilung der internen Unternehmenswelten liegen vor allem in den Aufgaben und Verantwortlichkeiten der einzelnen Abteilungen begründet. So ist es beispielsweise für das Vertrags- und Rechnungswesen notwendig, in standardisierten und damit verlässlichen Prozessen zu arbeiten. Daher kann hier nur ein relativ geringer Teil der zu erbringenden Leistungen in Projekten bearbeitet werden. Entsprechend arbeiten viele Mitarbeiter in diesen Abteilungen innerhalb fester Abläufe und Strukturen. Demgegenüber bieten die Aufgabenbereiche anderer Abteilungen per se mehr projektwirtschaftlichen Gestaltungsraum. Insbesondere IT-Abteilungen sind geprägt von zeitlich und thematisch begrenzten Anforderungen, beispielsweise bei Systemumstellungen. Auch Aufgaben im Vertrieb und Marketing haben häufig Kampagnencharakter und werden demnach in Projekten bearbeitet. Neben diesen anforderungsspezifischen Ursachen mögen aber auch spezifische Mentalitäten, Steuerungsmechanismen und Qualifikationsstrukturen in der Abteilung betriebliche Projektwirtschaft eher begünstigen oder erschweren.
3. Warum Projektwirtschaft – Motivation und Vorteile Nach dieser deskriptiven Darstellung werden im Folgenden die Gründe diskutiert, warum Unternehmen ihre traditionellen Prozesse zugunsten betrieblicher Projektwirtschaft verändern und welche Vorteile dabei zum Tragen kommen. Einen Teil der Ursachen bilden externe Faktoren, welche die Unternehmen von Seiten der Märkte beeinflussen. Als wesentlich werden die zunehmende Komplexität von Produkten und Dienstleistungen genannt, die die Unternehmen zu kürzeren Innovationszyklen zwingen und so den Innovationsdruck steigern. Entsprechend sehen sich die Unternehmen wachsenden Markterfordernissen gegenüber, die sie gleichzeitig möglichst kosteneffizient erfüllen 152
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müssen. Für den Umgang mit diesen Entwicklungen ist Projektarbeit für viele Unternehmen die adäquate Organisationsform, um vorhandene Ressourcen und Potenziale noch besser zu nutzen. Folglich stehen an erster Stelle der unternehmensinternen Motivation die Nutzung und Vernetzung von Kompetenzen und Know-how unterschiedlicher Unternehmensbereiche, um komplexe Fragen und Aufgabenstellungen zu lösen. Der fachbereichsübergreifende Wissenstransfer gewährleistet dabei eine – im Vergleich zu Mitarbeitern in traditionellen Organisationsstrukturen – wesentlich effizientere Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen und steigert so die Innovationsfähigkeit, die Entwicklungsgeschwindigkeit, die Konkurrenzfähigkeit und die Flexibilität der Unternehmen.
Abb. 2: Vorteile betrieblicher Projektwirtschaft Rump/Schabel/Alich/Groh (2010)
Die Vorteile betrieblicher Projektwirtschaft gegenüber klassischen Organisationsformen lassen sich auf der Mitarbeiterebene weiter konkretisieren (siehe Abb. 2). In den meisten Unternehmen arbeiten Projektteams im Vergleich zu Mitarbeitern in Linienorganisationen lösungsorientierter, selbstständiger und produktiver. Mitarbeiter in Projekten identifizieren sich ferner stärker mit Zielen und Zielvorgaben, verfügen über eine bessere Problemerkennung und sind motivierter bei der Sache. Beim Management und der Steuerung von Projektteams sowie bei der Einhaltung von Milestones und Deadlines sind die Vorteile allerdings weniger stark ausgeprägt.
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Die beschriebenen Vorteile liegen in den zentralen Merkmalen projektwirtschaftlicher Prozesse begründet: in der klaren Definition von Projektzielen, dem festgelegten zeitlichen Rahmen und der Arbeit in Teams. Zieldefinitionen erleichtern das selbstständige Erkennen und die Lösung auftretender Probleme. Das Wissen, „wofür gearbeitet wird“, und eine zeitliche Begrenzung schaffen ferner Motivation und Identifikation. Zudem minimiert die Knowhow-Vernetzung in den Teams Wissenslücken. Entsprechend lassen sich bei den meisten Unternehmen mithilfe betrieblicher Projektwirtschaft Produktivitätsgewinne erzielen. Die Themengebiete, die mithilfe von Projektarbeit angegangen werden, spiegeln die Vorteile und Motivationslagen direkt wider. Laut Studie stehen die Implementierung neuer Prozesse und Abläufe, die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen, gefolgt von der Einführung neuer Produkte ganz oben. Auch bei der Unternehmenssteuerung und beim Change Management wird häufig auf betriebliche Projektwirtschaft zurückgegriffen. Es zeigt sich also klar, dass Projektwirtschaft aufgrund ihrer beschriebenen Stärken vor allem für Innovationsthemen, organisatorische Veränderungen und komplexe, wissensintensive Aufgabenstellungen eingesetzt wird. Mithilfe von Projektarbeit kann notwendiges Know-how schnell neu kombiniert, aktiviert und einsetzbar gemacht werden.
4. Organisation Die Organisation betrieblicher Projektwirtschaft ist in den Unternehmen auf die Realisierung der beschriebenen Vorteile und Aufgabenstellungen ausgerichtet. Um Wissen im Unternehmen zu vernetzen und effizient für Innovation und andere komplexe Aufgabenstellungen zu nutzen, findet Projektwirtschaft in der Regel abteilungsübergreifend statt. Zudem setzen sich Projektteams aus Mitarbeitern unterschiedlicher Altersgruppen, Bereiche, Qualifikationsstufen und Hierarchieebenen zusammen. Da Projektarbeit jedoch sehr hohe Anforderungen an jeden einzelnen Mitarbeiter stellt, ist das zentrale Rekrutierungskriterium die themenspezifische, fachliche Qualifikation und Kompetenz der Teammitglieder. 154
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Die große Heterogenität innerhalb der Projektteams bei gleichzeitig hohen Ansprüchen an die Hard Skills der Mitarbeiter erfordert effizientes Management und Rekrutierungsstrategien. Entsprechend ist betriebliche Projektwirtschaft in den meisten Unternehmen strategisch integriert und fester Bestandteil der unternehmensweiten Planungsprozesse. Das bedeutet im Allgemeinen auch, dass die Projekte von der oberen Managementebene oder vom Vorstand direkt initiiert werden. Die Auswahl geeigneter Projektmitarbeiter ist dabei weniger demokratisch als es die multidimensionale Zusammensetzung der Teams vermuten lässt. Selten finden sich die Mitarbeiter selbstständig zusammen, vielmehr werden sie von der übergeordneten Führungsebene bestimmt bzw. vom Projektinitiator ausgewählt. Diese Hierarchiegebundenheit spiegelt sich auch in der Projektleitung wider. In den meisten Fällen hat das Teammitglied mit der höchsten Position die Projektverantwortung.
5. Herausforderungen und wieso Projekte scheitern Trotz der vielfältigen Vorteile betrieblicher Projektwirtschaft und ihrer strategischen Bedeutung gibt es einige Herausforderungen, denen sich Unternehmen stellen müssen, wenn sie diese Organisationsform adäquat nutzen wollen. Um Mitarbeiter in Projekten einsetzen zu können, müssen sie in den meisten Unternehmen zumindest teilweise von ihren Linienaufgaben entbunden werden. Denn begrenzte Zeitbudgets der Mitarbeiter stehen an erster Stelle der Herausforderungen. Auch mit ungenügendem Projektmanagement, zu starren Organisationsstrukturen oder Prozessen und fehlendem Wissen über das Vorgehen und Arbeiten in Projekten sehen sich die Unternehmen konfrontiert. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass Projektarbeit dagegen nur selten an der Motivation und Flexibilität der Mitarbeiter oder an räumlichen Gegebenheiten – wie ungeeigneten Bürostrukturen – scheitert. Die Herausforderungen beim Einsatz betrieblicher Projektwirtschaft liegen also im vorausschauenden Management der vorhandenen Ressourcen und der intelligenten Führung der Projektmitarbeiter. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, nicht nur einzelne Teile der Organisation oder einzelne Mitarbeiter auf die Arbeit in Projekten einzustellen. Vielmehr müssen sich Unternehmensstrukturen insgesamt 155
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flexibilisieren, Wissenstransfers gewährleistet und wechselnde Konstellationen von Mitarbeitern und Bereichen zugelassen werden. Zudem braucht es verlässliche, definierte Schnittstellen zwischen Projekt- und Prozessabteilungen, damit Innovation und Produktivitätssteigerungen nachhaltig realisiert werden können. In vielen Firmen braucht es dazu nichts weniger als eine grundlegende Reform von erstarrten und von Herrschaftswissen geprägten Unternehmensstrukturen. In einer Organisation 2.0 fördert die betriebliche Projektwirtschaft folglich einen geeigneten Rahmen, um ihre Vorteile auszuspielen.
Abb. 3: Top 5 – Warum Projekte in Unternehmen scheitern Rump/Schabel/Alich/Groh (2010)
Wie wichtig Projektmanagementkompetenzen in den Unternehmen sind, zeigt ein Blick auf die Top 5 der Gründe, wieso Projekte scheitern (siehe Abb. 3). Fehlende Zieldefinitionen, das Ausbleiben wichtiger Entscheidungen, unrealistische Projektplanungen, fehlende Kontrolle der Umsetzung und eine zu späte Definition von Standards führen die Liste der Ursachen an. Fehlen also die entsprechenden Kompetenzen in den Projektteams oder im Unternehmen, verkehren sich die Vorteile betrieblicher Projektwirtschaft schnell ins Gegenteil. Das Scheitern von Projekten hat also vor allem organisatorische Ursachen. Für die Unternehmen gilt es sich dieser Tatsache sehr bewusst zu sein und vorhandene Organisationsstrukturen auf ihre Projekttauglichkeit zu prüfen. Gleiches gilt natürlich für die in Projekten eingesetzten Mitarbeiter, bei 156
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denen vor allem Projektmanagementfähigkeiten aufgebaut und weiterentwickelt werden müssen. Auch hier erzeugt eine Organisation 2.0 andere strukturelle Muster, die dem Gelingen von Projekten entgegen kommen. Das bedeutet auch, dass die starke Gewichtung der fachlichen Eignung der Mitarbeiter bei der Zusammenstellung der Projektteams (siehe Kapitel 4) stets hinterfragt werden sollte. Denn für den finalen Projekterfolg sind sowohl ausgeprägtes Projektmanagement als auch bestimmte Soft Skills – wie z. B. Teamfähigkeit, Entscheidungsstärke, Kreativität und Flexibilität – von entscheidender Bedeutung.
6. Fazit: Betriebliche Projektwirtschaft – die Organisationsform der Zukunft? Die Bedeutung von betrieblicher Projektwirtschaft wird in den Unternehmen weiter steigen. Laut Studie wird der Anteil von Produkten und Dienstleistung die mithilfe von Projektarbeit erstellt werden, in Unternehmen aller Größen und Branchen weiter zunehmen. Die beschriebenen systematischen Unterschiede zwischen unterschiedlichen Gruppen von Unternehmen und Unternehmensbereichen (siehe Kapitel 2) bestehen dabei allerdings weiter und werden teilweise sogar noch zunehmen. Im Gegensatz zu den in projektwirtschaftlichen Strukturen erstellten Produkten und Dienstleistungen wird sich außerdem die Anzahl der Mitarbeiter, die regelmäßig in Projektteams arbeiten, weit weniger stark erhöhen. Was bedeutet das für die Zukunft betrieblicher Projektwirtschaft? In den Unternehmen wird sich die Differenzierung und Spezialisierung von Unternehmensbereichen und Mitarbeitern weiter fortsetzen. Schon heute finden sich insbesondere in großen Unternehmen Mitarbeitergruppen, die nahezu komplett außerhalb von Linienaufgaben arbeiten und sich ausschließlich auf Projektarbeit spezialisiert haben. Diese Mitarbeiter sind heute noch häufig spezialisierte Projektmanager, die ihre Kompetenzen hinsichtlich Führung, Wissensmanagement und Koordination in die Projekte einbringen und so in der Lage sind, das spezifische Fachwissen aus unterschiedlichen Bereichen und Abtei157
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lungen effizient zusammenzuführen. Zunächst wird jedoch nicht vorrangig die Anzahl solcher Projektmanager weiter wachsen, sondern die Anzahl der Arbeitsstunden, die fachlich spezialisierte Wissensarbeiter in Projektarbeit einbringen. Auf diese Art und Weise können ihre Fähigkeiten flexibel für unterschiedliche Aufgabenstellungen genutzt werden. Ähnliches gilt für die projektwirtschaftliche Zukunft der Abteilungen. Es ist zu erwarten, dass sich die operativen Bereiche, wie z. B. Produktentwicklung, Vertrieb, Marketing oder IT, die bereits stark durch betriebliche Projektwirtschaft geprägt sind, weiter in diese Richtung entwickeln und ihre Leistungen zum Großteil in Projekten erstellen werden. Demgegenüber ist es schwer vorstellbar, dass sich administrative und ablauforientierte Strukturen, wie im Controlling oder in der Produktion, in einem vergleichbaren Umfang flexibilisieren. Das Ergebnis sind Parallelwelten in den Unternehmen, zwischen denen Schnittstellen und Synergien zu schaffen sind, um die Potenziale betrieblicher Projektwirtschaft optimal auszunutzen. Ein sehr ähnliches Szenario werden wir auch auf der Makroebene beobachten können. Die beschriebenen unterschiedlichen Entwicklungen von Großunternehmen und Mittelstand deuten es bereits an. Auf der einen Seite werden vor allem mittelständische Unternehmen dezidiert auf betriebliche Projektwirtschaft setzen und damit den größten Teil ihrer Produkte und Dienstleistungen in flexiblen Organisationsstrukturen erstellen. Die so gewonnene projektwirtschaftliche Flexibilität, Reaktions- und Innovationsfähigkeit können gerade mittelgroße und kleinere Unternehmen mit schlanken Organisationsstrukturen als Wettbewerbsvorteil gegenüber trägeren Großorganisationen ausspielen, wenn beispielsweise in kürzester Zeit Kundenwünsche nach neuen Produkten und Dienstleistungen realisiert werden. Denn es ist auf der anderen Seite nicht damit zu rechnen, dass sich Großunternehmen ganz von ihrer tradierten Prozess- und Linienorganisation verabschieden bzw. verabschieden werden. Die Antwort auf die Frage nach der Projektwirtschaft als Organisationsform der Zukunft lautet also ja. Bewusst eingesetzt besitzt sie die Fähigkeit, benötigtes Wissen effizient zu vernetzen, Mitarbeiter aufgrund von klaren Zielstellungen zu motivieren und die notwendige Flexibilität für Innovation und Weiterentwicklung in den Unternehmen zu schaffen. Sie ist damit das ideale Werkzeug für eine Organisation 2.0, um ständig wachsenden und wechselnden Anforderungen der Märkte zu begegnen. Betriebliche Projektwirtschaft 158
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wird dabei immer mehr die tradierten Organisationsstrukturen von Abteilungen und Linienaufgaben aufbrechen und Unternehmen und Mitarbeiter vor eine Vielzahl kultureller Herausforderungen stellen, die eines veränderten Führungsstils, eines nachhaltigen Wissensmanagements und einer gezielten Personalentwicklung bedürfen.
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13 Open Innovation in der Organisation 2.0 Neue Formen der Innovation – Öffnung der Wertschöpfungsstrukturen
von Stephan Grabmeier und Helge Wangler Stephan Grabmeier ist Head of Culture Initiatives der Deutschen Telekom AG. Dort ist er u. a. für die Enterprise-2.0-Strategie des Konzerns verantwortlich. Seine beruflichen Stationen waren z.B. die HypoVereinsbank, CortalConsors und BMW. Er ist Mitgründer verschiedener Start-ups und kreativer Gestalter von innovativen Business- und Organisationsmodellen. Helge Wangler studierte Kommunikation & Management in Berlin und Stuttgart. Er widmete sich bis 2008 auf Agentur- und Unternehmensseite der Marketingkommunikation. Dabei unterstützte er im In- und Ausland Projekte für internationale Konzerne wie Daimler, Airbus und Electrolux. Sein Schwerpunkt bei der Deutschen Telekom AG ist die kulturelle Perspektive auf Enterprise 2.0 und Open Innovation.
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1. Einführung Schneller, effektiver und effizienter neue Produkte und Services zu entwickeln, stellt immer mehr Unternehmen vor gravierende Herausforderungen. Ein viel diskutiertes und in der Praxis immer häufiger angewendetes Konzept ist die gesteuerte Öffnung der Innovationsprozesse durch Open Innovation. Doch welches Potenzial birgt diese Öffnung zur Unternehmensumwelt? Und wie gestalten Unternehmen den Öffnungsprozess konkret aus? Was die Idee hinter Open Innovation ist – und welchen Impact die Implementierung mit sich bringt, skizzieren die folgenden drei Abschnitte.
2. Innovationen – Herausforderungen im Wandel westlicher Märkte Die Märkte westlicher Industrienationen determiniert ein tiefgreifender Wandel. Seit der Nachkriegszeit hat sich das Angebot an Gütern stetig vergrößert. In nur wenigen Segmenten ist die Nachfrage nach verfügbaren Leistungen noch höher als das Angebot. Diese Entwicklung geht einher mit Symptomen, die deutliche Spuren in der Produktentwicklung hinterlassen. Produktangleichung In nahezu allen Bereichen ist eine klare Angleichung spürbar, preispolitisch und produkttechnisch. Beim Einkauf eines Shampoos steht der Verbraucher z. B. weniger vor dem Problem, woher er dieses bekommt als vielmehr welches der zahllosen, nahezu identischen Produkte er auswählen soll. Steigende Kundenerwartungen Mit dem Einzug des Internets verhalten sich Konsumenten dank steigender Informationstransparenz zunehmend aufgeklärter. Die Folge: steigendes Qualitätsbewusstsein und steigende Erwartung an eine schnelle und unmittelbare Anpassung neuer Produktgenerationen an die eigenen Bedürfnisse.
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Rasant schrumpfende Produktlebenszyklen Die hohe Komplexität und der rasante Anstieg von Kundenerwartungen spiegeln sich in der Halbwertszeit der Produkte wider: Die Lebenszyklen verkürzen sich radikal. Der Modellzyklus in der Automobilindustrie sank im letzten Jahrzehnt von zehn auf durchschnittlich sechs Jahre. Elektronische Unterhaltungsgeräte werden bereits nach ca. sechs bis zwölf Monaten durch eine Nachfolgeserie ersetzt. Zeitdruck Wo eine preisliche Unterbietung nicht möglich ist, verbleibt Unternehmen letztlich nur der Faktor Wissen als Wettbewerbsvorteil, um sich über Innovationen und Marktnähe nachhaltig zu differenzieren. Angesichts schrumpfender Produktlebenszyklen bleibt für deren Entwicklung allerdings immer weniger Zeit. Produktimitation Der zeitliche Druck wird ergänzt durch die rasche Produktnachbildung. Neue Produktkonzepte werden oftmals innerhalb weniger Monate durch Anbieter von Handelsmarken oder ausländische Unternehmen kopiert und zu deutlich günstigeren Konditionen vertrieben. Steigende Entwicklungskosten Schneller und häufiger zu innovieren, erfordert zusätzliche Investitionen in Forschung und Entwicklung (F&E). Die steigenden F&E-Ausgaben haben sich mittlerweile als Trend etabliert, eine analoge Ausbeute an wirtschaftlich verwertbaren Ideen bleibt jedoch aus. Fehlende Marktnähe Folgt man der deutschen Gesellschaft für Konsumforschung (GfK), schaffen es nicht einmal drei Viertel der jährlich zu Tausenden eingeführten Produkte, mittelfristig zu überleben. Langfristig sind es sogar nur einige wenige Prozente, die am Markt akzeptiert werden. Produkte werden also nicht nur immer teurer entwickelt, sondern größtenteils jenseits jeglicher Kundenpräferenzen.
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2.1
Der Druck, Innovationen zu entwickeln, wächst.
Angesichts der herrschenden Situation werden Unternehmen in Bezug auf ihr Innovationsmanagement drei wesentliche Aufgaben lösen müssen: Verkürzung der „Time-to-Market“ Um sich jenseits des Preiswettbewerbs positionieren zu können, müssen sich Unternehmen stetig durch neuartige, innovative Lösungen differenzieren. Angesichts schrumpfender Produktlebenszyklen und schneller Imitationen verbleibt dafür jedoch immer weniger Zeit. Eine Herausforderung liegt darin, deutlich schneller neue Leistungen zu entwickeln und die Zeit für deren Marktreife radikal zu verkürzen. Verringerung der „Cost-to-Market“ Mehr Output in kürzerer Zeit erfordert bei einem gleichbleibend (in-)effektiven Entwicklungsprozess eine Mehrinvestition. Das Ziel der Unternehmen muss es daher sein, deutlich günstigere Wege in ihrer Entwicklung zu finden, um die Kosten bis zur Marktreife eines Produktes radikal zu senken und die Effizienz im Prozess zu erhöhen. Verbesserung des „Fit-to-Market“ Schafft es ein Unternehmen, die Innovationsrate zu erhöhen, bedeutet dies zunächst auch automatisch mehr Flops, sofern es weiterhin im alten Prozessdenken agiert. Ziel muss es sein, deutliche marktorientierte und kundennähere Leistungen zu entwickeln, um die Marktakzeptanz zu erhöhen und Fehlentwicklungen zu reduzieren. Neue kundenzentrierte Vorgehensweisen im Entwicklungsprozess sind dafür notwendig. Um sich zur Organisation 2.0 zu entwickeln, müssen Unternehmen zukünftig schneller, günstiger und marktnäher innovieren. Dieser Entwicklung stehen im Wesentlichen zwei Herausforderungen gegenüber. Überholte geschlossene Prozesse Die Innovations- und Wertschöpfungsstrukturen, d. h. jene Abläufe und Prozesse, aus denen neue Produkte resultieren, finden im konventionellen Ver163
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ständnis vor allem in der Marktforschung (MaFo) und der F&E statt. Innoviert wird im klassischen Verständnis ausschließlich im Unternehmen selbst. Dabei wird meist eine radikale Trennung zwischen Produzent und Konsument gelebt. In Anbetracht der herrschenden Marktgegebenheiten wird deutlich, dass diese formalen Strukturen bereits heute an ihre Grenzen stoßen und dem neuen Zeitalter des Effizienz- und Effektivitätsdrucks nicht mehr gewachsen sind. Verkrustete mentale Strukturen Der zweite Faktor – und in der Gewichtung viel gravierender – sind die Menschen in und hinter den Wertschöpfungsprozessen. Sie sind es, die ihre Erfahrungen, ihre Ideen und Vorschläge austauschen. Und sie sind es auch, die in den frühen Wertschöpfungsphasen durch die Kombination ihres Wissens neuartige Ansätze entwickeln – für Verbesserungen an bestehenden bzw. gänzlich neuen Leistungen. Begrenzt wird dieses immense Schöpfungspotenzial durch die Grenzen der Organisationen zu ihrer Umwelt. Die Folge von Abgrenzung statt Öffnung ist, dass Organisationen sich in der Verfügbarkeit von Wissen – worunter auch Anregungen, Ideen, Erfahrungen etc. zusammenzufassen sind – stark begrenzen. Da dieses Wissen wesentliche Grundlage jeglicher Innovationen ist, ist es aus intraorganisationaler Perspektive stets begrenzt und reduziert sich lediglich auf das zugängliche Wissen der Organisationsmitglieder. Demzufolge wird das Innovationspotenzial von Unternehmen stark begrenzt, wenn sie sich nur nach innen orientieren.
2.2
Neue Wege zu Innovationen gefragt
Als pragmatischer Ansatz zur Reduktion von Entwicklungskosten haben sich F&E-Kooperationen bewährt. Mittlerweile gehen durchschnittlich 34% aller europäischen Unternehmen derartige Kooperationen ein (vgl. Enkel/Gassmann 2009). Darunter führend die Elektro-, Luft und Raumfahrt- sowie die Pharmaindustrie. Aus Kostenperspektive stellt ein solcher Verbund eine beliebte und effiziente Lösung dar, da sich mit zunehmender Zahl kooperierender Partner die Investition pro Betrieb verringert. Doch neben dem finanziellen Vorteil vergrößert die Zusammenarbeit mit externen Partnern vor allem das Innovationspotenzial, wie bereits in den frühen Neunzigern bewiesen wurde.
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Besonders Erfolg versprechend ist hierbei der Austausch mit externen Bezugsgruppen wie F&E-Partnern, Universitäten oder Kunden. Speziell den Benutzern (Usern) wird in diesem Zusammenhang ein besonderer Stellenwert zugeschrieben, da sie täglich in Kontakt mit den Produkten oder Leistungen stehen und somit über genaueste Kenntnisse zu deren Eigenheiten, Stärken und Schwächen verfügen. Sie kennen Substitutionsmöglichkeiten oder Alternativen und wissen, welche Kombinationen, Modifikationen oder Erneuerungen nötig sind, um die Handhabe komfortabler zu gestalten und den Mehrwert zu maximieren. Sie sind es, die neues, bisher unzureichend genutztes Know-how und weiteres Innovationspotenzial bergen. Wer also über das Wissen der Kunden verfügt, ist in der Lage, deutlich marktnähere Leistungen zu entwickeln. Dieser Erkenntnis folgend erklärt sich der aktuelle Trend, Innovation nicht mehr einzelnen Bereichen zu überlassen, sondern vielmehr aktiv die Umwelt zu nutzen und den Innovationsprozess zu öffnen. Reflektion: Open Innovation in einer Organisation 2.0 Welches sind die Schlüsselentwicklungen in der Umwelt Ihrer Organisation? Welches sind Ihre Kernherausforderungen im Innovationsmanagement? Wie effektiv und effizient ist Ihre F&E aufgestellt? Wo werden externe Experten einbezogen und Wissen von Außen genutzt? Welchen Einfluss haben Ihre Kunden auf die Produkte?
3. Open Innovation – Öffnung der Wertschöpfung als Innovationsmotor Unternehmen wie Procter & Gamble, Henkel oder BMW haben begonnen, ihre Kunden aktiv in den Entwicklungsprozess einzubeziehen. Dahinter steht ein Ansatz, der in der Literatur seit geraumer Zeit unter verschiedenen Stichworten diskutiert wird. Die bekanntesten darunter sind Tofflers ProsumerModell, von Hippels Lead-User-Ansatz, Ramaswamys Co-Creation, Ches165
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broughs Open Innovation oder Reichwald & Pillers Interaktive Wertschöpfung. Diese und weitere Modelle unterscheiden sich in ihren Details unterschiedlich stark voneinander, weisen jedoch gleichzeitig eine sehr große Schnittmenge auf: nämlich bei der Integration Externer in den Innovations- und Wertschöpfungsprozess. Als international bekanntester Ansatz gilt das Prinzip der Open Innovation von Chesbrough (Chesbrough/Vanhaverbeke/West 2006). Er definiert ihn als einen „zweckmäßigen Wissensein- und Abfluss“. Das Ziel ist sowohl die Beschleunigung der internen Innovationsgenese als auch die Vergrößerung des externen Marktpotenzials. Vergegenwärtigt man sich an dieser Stelle die skizzierten Veränderungen der Umwelt, erklärt sich Chesbroughs Argumentation, dass eine reine Kommerzialisierung interner Ideen nicht mehr ausreichen wird. Er geht daher davon aus, dass Unternehmen interne sowie externe Ideen und Wege zu Märkten nutzen sollten. Die Situation betrifft besonders jene Unternehmen, die sich als Innovationsführer positionieren.
3.1
Drei Varianten von Open Innovation
Open Innovation lässt sich in drei Varianten darstellen. Als Outside-In-Prozess, der die Integration externen Potenzials forciert. Als Inside-Out-Prozess, worunter Aktivitäten zur externen Kapitalisierung fallen und die Kombination beider als Coupled-Prozess. Outside-In Der Outside-In-Prozess versteht die Integration externer Wissens- und Innovationsquellen. Gemeint sind Kunden, Lieferanten und Forschungsinstitute oder aber vielversprechende Start-Ups mit besonderem Know-how. In der Praxis entscheiden sich vor allem Unternehmen mit kurzen Produktlebenszyklen und hohem Innovationsdruck für diesen Ansatz. BMW bezieht beispielsweise Kunden aus der Motorradsparte in den Innovationsprozess ein. So werden im Rahmen des „BMW Motorrad Innovation Contest“ bestehende und potenzielle Nutzer eingeladen, im Rahmen eines Workshops erst ihre Bedürfnisse zu kommunizieren und anschließend eigene konkrete Produktideen vorzuschlagen. Sie sind somit integrativer Bestandteil der Ideenfindungs- und 166
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Bewertungsphase. Die Kombination von Kundenwissen und dem eigenen Know-how ermöglicht BMW, Konzepte zu generieren, die sich präzise an den Bedürfnissen der Kunden orientieren. Neben BMW haben auch andere Unternehmen Open Innovation bereits fest verankert, z. B. der US-amerikanische Konzern Procter & Gamble, der mit dem Programm Connect + Develop (vgl. Huston/Sakkab 2006) die strategische Ausrichtung seiner gesamten F&E nach den Maximen der Open Innovation ausrichtet. Inside-Out Neben dem Einbezug unternehmensfremder Experten, Forscher, Tüftler und Kunden sollen aber auch intern entwickelte Vermögenswerte und Know-how nach außen zur Verfügung gestellt und dort kapitalisiert werden. Dazu zählt z. B. Procter & Gamble Lizenzen für Marken, Technologien und andere Dienstleistungen. Diese Ausgliederung von Wertschöpfungspotenzial wird als InsideOut-Prozess bezeichnet. Neben Aus-Lizenzierungen sind darunter auch SpinOffs oder Beteiligungen zu verstehen. Coupled Die Kombination beider Prozesse wird als Coupled-Prozess verstanden. Gemeint sind damit z. B. Entwicklungskooperationen und Allianzen, bei denen „das Geben und Nehmen von entscheidender Bedeutung ist“. Als Beispiel ist das Joint Venture Toll Collect zu nennen, das aus einer Entwicklungskooperation der Deutschen Telekom, des Daimler Konzerns und des französischen Unternehmens Cofiroute hervorging. Ihr Gemeinschaftsprodukt ist die MautErhebung auf deutschen Straßen. Es gliedert sich zwar weniger in die Produktportfolios der Unternehmen ein, spiegelt aber dennoch ihre Kompetenzen wider. Als weiteres bekanntes Beispiel eines Coupled-Prozesses ist die Entwicklung der RFID-Technologie zu nennen. Sie wird von einer strategischen Allianz aus Lieferanten, Lebensmittelherstellern und Handelsunternehmen wie Metro, Unilever und Henkel vorangetrieben. Das Ziel ist die Entwicklung und aktive Mitgestaltung eines gemeinsamen Standards, da dieser für alle Beteiligten zukunftsrelevant sein wird.
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NEUE ORGANISATIONSFORMEN
Der Trend lässt vermuten, dass zukünftige Innovationen – z. B. Solartechnik (Desertec), Elektroantriebe (Better Place) oder drahtlose Ladetechnik – immer mehr von Forschungskonsortien nach dem Open Innovation Prinzip umgesetzt werden. Im zuletzt genanntem Technologieumfeld kooperieren 50 Weltkonzerne (Nokia, Samsung, Philips etc.) im WPC (Wireless Power Consortium) zusammen. Diese Organisationsform erlaubt es, Innovationen der Zukunft deutlich schneller, günstiger und marktnäher zu generieren. Losgelöst von einer Klassifizierung in die drei genannten Prozesse veranschaulichen die Beispiele, dass die F&E im Sinne einer Open Innovation weniger als ein in sich geschlossener und abgeschirmter Vorgang zu sehen ist. Sie sollte vielmehr als ein offenes System begriffen werden, in dem wertvolle Ideen sowohl von innen als auch von außen kommen können. Open Innovation bezieht sich in der Theorie ausschließlich auf die frühen Phasen der Wertschöpfung, also jene Phasen von der Produktidee bis zu seiner Markteinführung. Doch muss der Ansatz hier nicht zwingend enden. Auch mit Eintritt in den regulären Produktlebenszyklus verspricht das Prinzip der wechselseitigen Leistungserbringung neues Wertschöpfungspotenzial für Unternehmen. Ein bekanntes Beispiel für die konsequente Exekution des Prinzips bietet etwa das US-amerikanische Unternehmen Threadless, das seine gesamte Wertschöpfungskette nach außen öffnet. Den Kunden kommt im nahezu vollständig ausgegliederten Wertschöpfungsprozess eine zentrale Rolle zu, denn sie tragen einen Großteil der Wertschöpfung selbst. Die Produktentwicklung, d. h. die Konzeption neuer Designs, erfolgt sowohl durch Amateure als auch durch professionelle Grafikdesigner. Kunden sichten eingereichte Vorschläge, machen Verbesserungsvorschläge und wählen selbst jene Modelle aus, die in die externe Produktion gehen. Die Wahl treffen die Kunden durch unverbindliche Kaufzusicherungen mit Abstimmungscharakter. Ein System erfasst diese in einer Statistik und ab einer bestimmten Menge beginnt die Fertigung. Auch die Produktion von Katalogmotiven wird den Kunden teilweise bis ganz überlassen. Threadless stellt lediglich die Infrastruktur und koordiniert die Prozesse der externen Produktion und Logistik. Dieses Geschäftsmodell sichert dem Unternehmen einen monatlichen Verkauf von über 60.000 T-Shirts. Die Gestaltung der Wertschöpfungskette mit einem hohen Grad an ausgelagerten Aktivitäten minimiert das Risiko von Fehlentwicklungen in der Produktkreation, da diese von den Käufern selber übernommen werden und reduziert somit die Floprate. 168
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Reflektion: Open Innovation in einer Organisation 2.0 Inwieweit ist Ihr Unternehmen bereit für eine Öffnung? Wie kann eine Ausgestaltung aussehen, welche Variante scheint lukrativ? Welche Geschäftsziele ließen sich mittels Open Innovation forcieren?
3.2
Erfolgreiche Beispiele zu Open Innovation
Die Grundlage jeglicher Interaktion ist eine geeignete Infrastruktur. Die Art und Größe der Bezugsgruppe entscheidet dabei über die Ausgestaltung. IBM IBM führt beispielsweise regelmäßig sog. „Innovation Jams“ durch (vgl. Enkel/Gassmann 2009), d. h. Online-Brainstormings, in deren Rahmen für 72 Stunden ein weltweites Netzwerk von über 150.000 Menschen gemeinsam nach Lösungen zu spezifischen Themenstellungen sucht. Die Umsetzung erfolgt aus Kostengründen und der Möglichkeit der internationalen Einbindung über eine virtuelle Plattform. Starbucks Die US-amerikanische Kaffee-Haus-Kette Starbucks setzt ebenfalls auf eine digitale Lösung, um sich mit Kunden auszutauschen. Auf „My Starbucks Idea“ (www.mystarbucksidea.force.com) werden sie eingeladen, ihre Produktideen und Verbesserungsvorschläge preiszugeben, gegenseitig zu bewerten und zu diskutieren. BMW BMW hat neben digitalen Zusammenkünften auch Events etabliert. So entschied sich BMW beispielsweise beim „BMW Motorrad Innovation Contest“ über www.atzio.com für ein Umfeld, das sehr genau auf die Präferenzen der Zielgruppe zugeschnitten war. Man lud Kunden zu Workshops außerhalb deutscher Großstädte ein, in Lokalitäten, die sich als Ausflugsziel für Motorradfahrer eignen. Der Rahmen orientierte sich somit an den Bedürfnissen der Partner. 169
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Henkel Henkel setzt bei der Kundenintegration im Entwicklungsprozess auf Hausbesuche und Kundentagebücher (vgl. Müller-Kirschbaum/Wuhrmann/Burkhart 2009). Das Unternehmen sieht dies als Voraussetzung für die stetige Entwicklung kundennaher Lösungen. Unternehmen, für die sich der Betrieb einer eigenen Plattform nicht rechnet, bietet Innocentive die Möglichkeit, über ihre Online-Plattform technische Entwicklungsprobleme von einem offenen Kreis von externen Tüftlern, Experten und Wissenschaftlern lösen zu lassen. Neben einer Gebühr an Innocentive zahlt das Unternehmen ein Preisgeld, das teilweise über 1 Mio. US-Dollar liegt. Kunden sind u. a. BASF, Novartis, Nestlé oder Procter & Gamble. Eine vergleichbare Dienstleistung zu Innocentive bietet das Schweizer Unternehmen Atizo sowie die 3M Plattform Zukunft Innovation, allerdings mit deutlich kleineren Entwickler-Communities.
4. Schritte zur Öffnung der Wertschöpfung Die „Öffnung“ der Organisation bedeutet eine unternehmerische Entscheidung, die eine Reflexion und grundlegende Neubewertung bisheriger Rollen und Sichtweisen erfordert. Dazu sollten Unternehmen folgendes angehen: Die Kundenrolle neu definieren Entwicklungsnahe Bereiche, wie F&E, MaFo oder Produktmarketing, können ihre Stakeholder fortan nicht mehr ausschließlich in ihrer ursprünglichen Funktion betrachten. Sie müssen sie gleichzeitig als potenzielle und gleichrangige Entwicklungspartner begreifen, sowohl auf interner als auch externer Ebene. Kunden sind folglich nicht mehr rein passive, konsumierende Empfänger, sondern geben gleichzeitig als Ideensponsor Input und werden so Teil eines kooperativen Wertschöpfungssystems. Ihre Position im Wertschöpfungsprozess ist damit nicht mehr auf das Ende einer Wertschöpfungskette begrenzt. Mit Ideen, Anregungen oder konkreten Produktverbesserungsvorschlägen stehen sie nun ebenso am Anfang des Prozesses. 170
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Die eigene Rolle neu definieren Die eigenen Mitarbeiter und Kollegen sind nicht nur als Vertreter ihres eigentlichen Funktionsbereiches zu sehen. Auch sie sind mögliche Experten und Ideensponsoren für alternative, innovative Produkt- oder Prozessveränderungen. Neben der nach außen gerichteten Rollenreflexion ist die der eigenen Position gleichermaßen grundlegend, was sich am Beispiel der F&E zeigt. Folgt man allgemeinen Definitionen, ist im betrieblichen Kontext das vorrangige Ziel der F&E die „Generierung von Wissen“. Aber genau diese Sichtweise steht dem Leitbild eines geöffneten Wertschöpfungs- und Innovationsprozesses entgegen. Denn es steht nicht ausschließlich die zentrierte Wissensgenese im Fokus, sondern vielmehr das Aufnehmen, Beurteilen und Verarbeiten von externem Wissen und Ideen. Der Fokus wandert somit von der Generierung internen Wissens in Richtung Akquisition externer Wissensquellen. Die Kundenbeziehung neu definieren Mit der Entscheidung für die Prozessöffnung stehen Organisationen vor veränderten Aufgaben. Denn mit entsprechender Verinnerlichung des Interaktionsgedankens werden Kunden durch eine weit reichende Integration zu (Mit-)Schöpfern ihrer eigenen Produkte, was die konventionelle Wertschöpfung, wie mehrfach skizziert, revolutioniert. Wie am Beispiel des Unternehmens Threadless erläutert, muss sich der Einbezug dabei nicht nur auf die frühen Wertschöpfungsphasen der Innovation beschränken, sondern kann sich bis ans Ende der Wertschöpfungskette vollstrecken. Dieses „gemeinsame Schaffen von Werten“ wird auch als Co-Creation bezeichnet. Der Wert liegt dabei nicht mehr ausschließlich im Resultat des Entstehungsprozesses, dem fertigen Produkt oder der entstandenen Dienstleistung, sondern vielmehr in der gemeinsamen Gestaltung selbst. Die Öffnung des Unternehmens ist die Neudefinition aller Stakeholder-Rollen und -beziehungen. Die Neuorientierung geht einher mit der Notwendigkeit, alte Paradigmen zu überdenken, zu erneuern oder gänzlich zu ersetzen. Open Innovation ist daher keinesfalls als ein rein prozessdominiertes Thema zu verstehen, sondern auch als eine geistige Haltung oder Business Philosophie.
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NEUE ORGANISATIONSFORMEN
Reflektion: Open Innovation in einer Organisation 2.0 Inwieweit sind Ihre Organisationsmitglieder in der Lage, alte Rollen abzulegen? Wie und wo lässt sich eine Augenhöhe mit den Kunden herstellen? Wo rechnen Sie mit Widerständen und wie gehen Sie mit diesen um?
5. Fazit Bei der Implementierung von Open Innovation im eigenen Unternehmen können die folgende Erfahrungen Orientierung geben: Sorgen Sie für strategische Verankerung Es muss eine Verbindung des Integrationsgedankens zur Unternehmensstrategie vorhanden sein. Dabei ist zu klären, wo die Öffnung einen konkreten Beitrag zur Umsetzung der Strategie und zum Unternehmenserfolg leisten kann. Als Erfolg versprechend hat sich die Verankerung im Leitbild erwiesen. Auf strategischer Ebene scheint sich in der Praxis außerdem eine Verankerung in den Zielvorgaben bewährt zu haben, wie etwa bei Procter & Gamble. Dieses gibt seinen Mitarbeitern vor, mindestens 50 % ihrer Innovationen extern zu akquirieren. Etablieren Sie ein strategisches Programm Die Öffnung der Prozesse betrifft Strukturen, Prozesse, Ressourcen, Unternehmenskultur und andere wichtige Faktoren im Unternehmen. Um die Komplexität zu reduzieren, alle relevanten Einflussfaktoren zu erfassen, konkrete Handlungsbereiche mit Zielen zu definieren und um Orientierung zu geben, empfiehlt sich die Installation eines strategischen Open Innovation Programms. Schaffen Sie eine passende Infrastruktur Es gilt betroffene Prozesse und Strukturen so zu gestalten, dass Informationen nicht nur sporadisch ausgetauscht werden, sondern kontinuierlich an die richtige Stelle gelangen, bewertet und dem entsprechendem Bereich zugeordnet 172
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werden. Nach außen müssen für das Innovationsziel und die Interaktionspartnern entsprechende Schnittstellen geschaffen werden. Diese sollten sich in ihrer Ausgestaltung an den Gewohnheiten, Vorzügen und Bedürfnissen der zu integrierenden Bezugsgruppe orientieren. Bei besonders hohen Teilnehmerzahlen wird in der Regel auf virtuelle Plattformen zurückgegriffen. Darüber hinaus haben sich für kleine Gruppen Events, Workshops oder Tagebücher bewährt. Sichern Sie sich Unterstützung von oben Top-Management und Führungskräfte müssen die neuen Paradigmen aktiv vorleben und einfordern. In der Praxis haben sich sog. Projektsponsoren bewährt, um neuen Themen in Organisationen zur Akzeptanz zu verhelfen, sie voranzutreiben und die Umsetzung auf breiter Ebene zu forcieren. Bereiten Sie betroffene Mitarbeiter vor Die Mitarbeiter sind der wesentliche Erfolgsfaktor im Prozess. Sie sind es, die den Austauschprozess moderieren und im Kontakt mit den Kunden stehen. Ihrem Enabling kommt somit eine wichtige Rolle zu, etwa durch Workshops, in denen der Impact auf Prozesse und das Tagesgeschäft reflektiert werden. Selektieren Sie geeignete Informationspartner Identifikation von bestehenden Stakeholdern und potenziellen Partnern, die über relevantes Wissen für Ihre Kernthemen verfügen. Schaffen Sie einen klaren Nutzen für Ihre Partner Partner binden ihren Input in der Regel an einen Nutzen. Daher müssen Anreize geschaffen werden, an der Lösung mitzuwirken. Je nach Interaktionspartner gilt es, die relevanten Motivationsfaktoren zu identifizieren und gezielt zu stimulieren: durch einen materiellen Anreiz (Beteiligung, Vergütung, Sachgüter u. ä.) oder immateriellen Nutzen (Partizipationsmöglichkeit, Austausch, Wertschätzung u. ä.). Das Beispiel Open Source verdeutlicht, dass allein die Faktoren Anerkennung und Identifikation mit einer Community einen zentralen Anreiz zur Kollaboration schaffen.
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Reflektion: Open Innovation in einer Organisation 2.0 Welche Wertschöpfungsbereiche bergen in Ihrem Unternehmen Potenzial? Welche Produkte würden Sie gerne mit externen Partnern weiter entwickeln? Welche Stakeholder sehen Sie als potenzielle Innovationspartner und Ideengeber? Welches Format eignet sich in Ihrem Fall (Workshops, virtuelle Plattformen o. ä.)? Wie steht das Management zu derartigen Vorhaben? Welche strategischen Partner sollten Sie intern einbeziehen? Wen sollten Sie intern vorab qualifizieren? Wie kann eine Kommunikationsstrategie nach außen aussehen – wo sehen sie Bedarf?
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6. Literatur Benkler, Y. (2006). The Wealth of Networks – How Social Production Transforms Markets and Freedom. New Haven, London: Yale University Press. Chesbrough, H. (2006). Open Innovation – The New Imperative for Creating and Profiting from Technology. Boston, MA: Harvard Businessschool Press. Chesbrough, H., Vanhaverbeke, W., & West, J. (2006). Open Innovation – Research a New Paradigma. Oxford et al.: Oxford University Press. Enkel, E., & Gassmann, O. (2009). Neue Ideenquellen erschließen – Die Chancen von Open Innovation. Marketing Review St. Gallen (2), 6-11. Piller, F., Möslein, K., & Reichwald, R. (2009). Herausforderungen für die Unternehmensführung durch Open Innovation und interaktive Wertschöpfung. In K. Gelbricht, & R. Souren, Kundenintegration und Kundenbindung (pp. 3-18). Wiesbaden: Gabler GWV Fachverlage. Piller, T. F. (2006). Mass Customization – Ein wettbewerbsstrategisches Konzept im Informationszeitalter (4. ed.). Wiebaden: Deutscher Universitäts-Verlag Gabler GWV Fachverlage. Platt, S. (2007 йил Januar). Neue Strategien zum Aufbau nachhaltiger Unternehmensperspektiven. Marketing Journal (1-2), pp. 38-41. Prahalad, C. K., & Ramaswamy, V. (2004). Die Zukunft des Wettbewerbs. (S. Schilasky, Trans.) Wien: Linde Verlag. Toffler, A. (1980). The Third Wave. London: Pan Books. von Hippel, E. (2006). Democratizing Innovation. Cambridge, London: The MIT Press. von Hippel, E. (1994). Sticky Information and the Locus of Problem Solving: Implication for Innovation. Management Science (40(4)), 429-439. von Hippel, E. (1977). The Dominant Role of the User in Semiconductor and Electronic Subassembly Process Innovation. IEEE Transactions on Engeneering Management, EM 24, 60-71.
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14 Virtuelle Teams – Zukunft oder überholte Vergangenheit? Ein Praxisbericht von Ina Arndt-Fabian Dr. Ina Arndt-Fabian ist Projekt- und Programm-Managerin im Bereich Architecture & Innovation Services der SAP AG und betreut internationale, bereichsübergreifende Großprojekte. Sie verfügt über langjährige Erfahrung in Business Development und im Business & Prozess Consulting. Sie ist DiplomWirtschaftsinformatikerin und promovierte an der Universität Mannheim in Organisationswissenschaften.
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1. Einführung Der Begriff der „virtuellen Teams“ geistert mittlerweile seit mehr als zehn Jahren durch Unternehmen aller Größen, Branchen oder Nationalitäten. Trotz einer reichen – teils auch widersprüchlichen – Vielfalt an Definitionen ist im Kern darunter ein Team zu verstehen, dessen Mitglieder erstens ein gemeinsames Ziel (oder mehrere gemeinsame Ziele) verfolgen, zweitens an verschiedenen Orten oder sogar in verschiedenen Zeitzonen arbeiten und daher drittens überwiegend mit Hilfe moderner Kommunikations- und Informationstechnologien kommunizieren. Neben diesen drei Kerneigenschaften wären weitere Dimensionen denkbar, wie zeitliche Befristung des Teams z. B. im Rahmen eines Programms oder Projekts versus Teil einer dauerhaften Linienorganisation oder unternehmensinterne versus unternehmensübergreifende Teams. Im Gegensatz zu virtuellen Teams sind die klassischen, co-präsenten Teams zu sehen, die sich zwar ebenfalls an einem oder mehreren gemeinsamen Zielen orientieren, jedoch einem gemeinsamen Standort zugehören und deren Kommunikation daher zu einem guten Teil durch persönliche Interaktion geprägt ist. Die Meinungen zu virtuellen Teams und vor allem zu deren künftigem Stellenwert für Organisationen sind sehr kontrovers. Gerade in letzter Zeit haben neue kollaborative Technologien wie das Web 2.0 der Diskussion und dem Trend hin zu „virtuellen Teams“ neuen Aufschwung verliehen. Virtuelle Teams werden als das Allheilmittel auf andauernde Ressourcenknappheit beziehungsweise falsche Ressourcenallokation, hohe Lohn- und Produktionskosten sowie geschäftliche Reisekosten gesehen. Viele Unternehmen bilden Teams über verschiedene Kontinente und Zeitzonen hinweg und sehen das Ende der Geschäftsreise gekommen. Allerdings scheint dies nicht immer zum erhofften Erfolg zu führen. Qualitätsmängel in Arbeitsergebnissen, zeitintensive Abstimmungsrunden sowie – keineswegs zu vernachlässigen – resultierende Stresssituationen und verdeckte Konflikte bis hin zu deutlicher Unzufriedenheit oder gesundheitlichen Konsequenzen der Teammitglieder lassen Unternehmen an virtuellen Teams zweifeln. Teilweise so stark, dass sich der Eindruck breit macht, man sei mit der Anzahl an virtuellen Teams „zu weit gegangen“, sei von der schnellen und hohen Kosteneinsparung verführt und wäre nun mit 177
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zu viel Kommunikationstechnologie und zu wenig direkter Interaktion gestraft. Nun müsse das Pendel „zurückschwingen“. Das heißt, virtuelle Teams müssten wieder von der Bildfläche verschwinden und die Aufgabenerfüllung von Teams habe sich wieder an einem gemeinsamen Standort zu konzentrieren. Wie immer gibt es hier vermutlich kein schwarz oder weiß. Vielmehr liegt die Wahrheit „irgendwo dazwischen“ oder anders ausgedrückt, „es kommt eben darauf an!“. Der nachfolgende Beitrag geht davon aus, dass sowohl virtuelle Teams als auch klassische, co-präsente Teamstrukturen – in verschiedenen Situationen – jeweils „vorteilhafter“ sein können. Weil der Erfolg der einen oder anderen Organisationsform stärker von Faktoren wie der „Art der Tätigkeit“ oder den „Aufgaben und Gestaltungsspielräumen des Teams“ oder der „Mentalität der Teammitglieder“ abhängt als nur von Verfügbarkeit und Reifegrad der Kommunikationstechnologien und des Internets. Für diese Sicht sprechen zumindest einige Erfahrungen aus der täglichen Arbeitswelt, die an jeweils einem Beispiel im Folgenden aufgezeigt werden.
2. Virtuelle Teams im Veranstaltungsmarketing für IT-Produkte Die meisten IT-Unternehmen bedienen schon lange nicht mehr nur ihren lokalen Heimatmarkt, sondern haben ihre Geschäftstätigkeit über den gesamten Globus ausgeweitet. Seien es nun Marketingaktivitäten mit eigenen Landesgesellschaften oder Vertriebsaktivitäten über Partnerkanäle: Die Botschaften über Produktfunktionalitäten, Nutzen, erfolgreichen Einsatz, Positionierung gegenüber möglicher Konkurrenz usw. müssen überall dort platziert werden, wo sich potenzielle Kunden und Interessenten befinden – an verteilten Orten in aller Welt. Das Marketing für IT-Produkte hat sich längst zu einer globalen Aufgabe entwickelt, wobei abhängig von Produkt, Markt, Rahmenbedingungen etc. lokale Nuancen notwendig und sinnvoll sind. Ein möglicher Ansatz, diese Aufgabe zu strukturieren und zu lösen, liegt in der Bildung global agierender virtueller Teams, verstärkt durch lokale co-präsente Teams. Im Folgenden soll der Fokus auf den globalen virtuellen Teams liegen. 178
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Üblicherweise sind globale Marketingaufgaben stark durch Veranstaltungen geprägt, deren inhaltliche Vorbereitung oft monatelanger Planung und Abstimmung bedarf. Hierunter können sowohl interne Zusammenkünfte wie jährliche Vertriebsauftaktveranstaltungen fallen als auch externe Aktivitäten wie Hausmessen, Analystenkongresse oder Kundeninformations- und Schulungsveranstaltungen. Die Organisation dieser Veranstaltungen folgt in der Regel einem fest definierten Prozess, zu dem die beteiligten Gruppen Produktmanagement, Marketing, Eventorganisation, Kundenbetreuung oder Public Relations beitragen. Zur Bildung eines virtuellen Organisationsteams, das die Spezialisten aus unterschiedlichen Aufgabenbereichen und Standorten des Unternehmens zusammenführt, gibt es in diesem Fall keine wirkliche Alternative. Zu groß wäre der Aufwand, alle Experten an einen Ort zusammen zu bringen – warum auch? Die erfolgreiche Durchführung der Veranstaltungen zeigt, dass solche virtuellen Teams ihre Aufgabe erfüllen. Herauszustellen ist, dass sowohl die Natur der Aufgabe als auch eine transparente und engmaschige Kommunikation im verteilten Team entscheidend für den Erfolg sind. Die unterschiedlichen Gruppen sind in den Phasen des Projekts in unterschiedlichem Grade aktiv und involviert, wobei diese Aufgabenverteilung im Wesentlichen durch den Gesamtprozess und die jeweils benötigten Qualifikationen und Tätigkeiten geprägt ist – nicht durch selbst organisierte Arbeitsteilung. Der Freiheitsgrad der Prozessgestaltung und flexiblen Aufgabenverteilung ist durch Rahmenbedingungen und Zeitplan eingeschränkt und daher tendenziell wenig durch die Teammitglieder beeinflussbar. Dies bedeutet, dass zu jeder Zeit des Projekts ein gemeinsames Verständnis über Kompetenzen, Aufgabenverteilung, Zeitablauf etc. herrschen muss, das in der Regel auch nicht grundlegend verändert werden darf, so dass die Koordination der beteiligten Gruppen stets an einer gemeinsamen Grundlage orientiert ist. Dies soll nun nicht heißen, dass kein Raum für Kreativität und Gestaltung gegeben wäre. Allerdings ist dieser Freiraum auf die Arbeitsinhalte beschränkt und nicht auf den Arbeitsablauf an sich anwendbar. Es werden unterschiedliche Kommunikationsmechanismen und Technologien genutzt, um einen bestmöglichen Projektablauf sicher zu stellen. Kern der Abstimmung in diesen virtuellen Teams bilden wöchentliche Regeltermine, meist in Form von Telefonkonferenzen, bei denen zusätzlich Informationen über webgestützte Applikationen in Form von Präsentationen gezeigt werden. So179
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wohl die Teilnahme als auch aktive Beiträge zu solchen Konferenzen erfordern ein hohes Maß an Konzentration und Aufmerksamkeit, da wesentliche Merkmale der nonverbalen Kommunikation nicht übermittelt werden. Gerade in Konfliktsituationen kann sich dies als kritischer Nachteil erweisen. Einige virtuelle Teams entscheiden sich daher, zumindest einmal monatlich auf Videokonferenzen zurück zu greifen, um einen Teil der Nachteile zu kompensieren. Über Abstimmungs- und Regelmeetings hinaus muss zudem ein kontinuierlicher Informationsaustausch bzw. ein gemeinsamer Zugriff auf die projektrelevanten Daten möglich sein. Hierbei reicht die Bandbreite von der Etablierung eines gemeinsamen Datenservers bis hin zu Nutzung von webgestützter Kollaboration bzw. Content Management Tools. Auch Wiki-Technologien erlangen zunehmend an Bedeutung für virtuellen Teams oder Angebote wie Google Wave (http://wave.google.com/about.html), ein Werkzeug für Kollaboration über verteilte Standorte hinweg – in Echtzeit. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass virtuelle Teams in einem genau beschriebenen, strukturierten Umfeld an einer klar definierten Aufgabe effektiv arbeiten und qualitativ gute Ergebnisse liefern. Die Kombination unterschiedlicher Kommunikationstechnologien sichert dabei den abgestimmten und reibungslosen Ablauf der Projekte. Anders lauten die Erfahrungen im Umfeld der IT-Produktentwicklung.
3. Co-Präsente Teams in der IT-Produktentwicklung Auch in der Produktentwicklung haben IT-Unternehmen über Jahre hinweg auf virtuelle Teams gesetzt und Standortfaktoren, wie beispielsweise Verfügbarkeit von hoch qualifizierten Mitarbeitern bei relativ geringen Lohnkosten, als bestimmende Rahmenbedingungen für die Gestaltung von Teamstrukturen einbezogen. Nicht unüblich sind oder waren Konstellationen, in denen der Produktmanager im Silicon Valley beheimatet ist, der Entwicklungsprojektleiter von Deutschland aus ein Team von ungarischen Entwicklern steuert, deren Arbeitsergebnisse wiederum von indischen Teamkollegen des dortigen Competence Centers verschiedenen Tests unterzogen werden. Allein die geografi180
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sche Streuung dieses virtuellen Teams über verschiedene Kontinente und Zeitzonen hinweg stellt eine wirkliche Herausforderung für die Teammitglieder dar. Es ist nahezu unmöglich, längere Abstimmungs- oder Statusmeetings zu einer für alle Teammitglieder angemessenen Tageszeit anzusetzen. Die knappe gemeinsame Kommunikationszeit ist in der Regel nicht ausreichend, alle relevanten Punkte abzustimmen. Viele Themen werden zeitversetzt mit Hilfe von E-Mail oder Collaboration Tools bearbeitet. Trotz bester Vorsätze, hilfreichen Standards und Richtlinien treten immer wieder Qualitätsmängel oder zeitliche Verzögerungen aufgrund von Missverständnissen auf. Verstärkt wird dies durch die zu Beginn einer Produktentwicklung eher noch unscharfe Anforderungsbeschreibung. Diese konkretisiert sich in der Regel erst im Laufe des Entwicklungsprozess. Als Konsequenz ist mittlerweile eine Abkehr von virtuellen Teams und die Rückkehr zu co-präsenten Entwicklergruppen zu beobachten, vielfach verbunden mit der Einführung eines neuen Arbeitsmodells, das im Folgenden näher betrachtet wird. Unter anderem IBM, Microsoft und auch SAP tendieren mittlerweile zu Formen des „Lean Development“, einer konsequenten Umsetzung von LeanManufacturing-Grundsätzen in der Softwareentwicklung (siehe dazu auch „Lean Software Development“ von Mary and Tom Poppendieck). Zentrale Idee ist es, den Softwareentwicklungsprozess von Reibungsverlusten und Ineffizienzen zu befreien – explizit gefordert werden dabei auch co-präsente Teamstrukturen bis hin zu „one team one office“. Nach dem Lean-Development-Prinzip ist ein Team selbstorganisierend, d. h. die Teammitglieder entscheiden gemeinsam, welche Teilaufgaben zu welchem Zeitpunkt von welchem Mitarbeiter übernommen werden, welche Ressourcen wann eingesetzt werden und auch welche Aufgabenumfänge gegebenenfalls zurückgestellt werden, wenn Qualität, Zeit oder Ressourcen die Bearbeitung nicht zulassen. Die Teams sind voll verantwortlich für Ihre Aufgabe in dem Sinne, dass Entscheidungen nicht durch die Linienmanager revidiert werden dürfen. Entsprechend muss sicher gestellt sein, dass die Teams über die vereinbarten Ressourcen verfügen (z. B. Reisebudget) und alle notwendigen Qualifikationsprofile (z. B. Softwarearchitekt, Tester, Entwickler, Qualitätsmanager etc.) im Team repräsentiert sind. Idealerweise arbeitet jeder Mitarbeiter stets nur in einem Team bzw. an einem Produkt. Durch Vermeidung von mehreren Projekten zum gleichen Zeitpunkt entfällt ein Um181
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schalten von einer Tätigkeit auf die nächste. Ziel ist es, damit verbundene Produktivitätsverluste zu verhindern. Die Teams sind über die Dauer von einem Projekt hinaus stabil, d. h. idealerweise erhält ein eingespieltes Team nach Beendigung seiner Aufgabe ein neues Projekt zugewiesen, dass dann in gleicher Teambesetzung bearbeitet wird. Auch dahinter verbirgt sich die Idee, Produktivitätsverluste zu vermeiden, die sich beim Auflösen und erneuten Zusammenstellen von Teams zwangsweise ergeben („Every time Team membership is changed, the productivity gained from self-organization is diminished. Care should be taken when changing Team composition.” (Ken Schwaber/Jeff Sutherland:The Scrum Guide). Nun soll jedoch nicht der Eindruck entstehen, dass Teams im Lean Development nach eigenen Wünschen Aufgabenumfänge willkürlich abändern können und damit jegliche Verlässlichkeit und Steuerbarkeit der Arbeitsergebnisse verloren geht. In jedem Team gibt es einen Produktverantwortlichen, der den Arbeitsauftrag, die Markt- und Kundenanforderungen für das zu entwickelnde Produkt sowie die Kundenvalidierung verantwortet. Zu Beginn eines jeden Entwicklungsabschnitts legen der Produktverantwortliche und die anderen Teammitglieder gemeinsam die Prioritäten und Ziele für den nächsten Projektabschnitt fest und überprüfen auch gemeinsam am Ende ihre Zielerreichung. Sie tragen offene Punkte und gewonnene Erfahrungen bzw. Verbesserungsansätze zusammen, die dann wiederum in die Planungen des nächsten Projektabschnitts eingehen. Betrachtet man dieses Arbeitsmodell, wird schnell offenbar, dass ein hohes Maß an Interaktion zwischen den Teammitgliedern gefordert ist. Neben täglichen viertel- bis maximal halbstündigen Abstimmungsmeetings, die zur Identifikation und Lösung von Problemen und Hemmnissen dienen, ist durch die co-präsente Struktur und das gemeinsame Office direkte Kommunikation möglich. Zeitverlust und Qualitätsmängel durch Missverständnisse reduzieren sich. Informations- und Wissensaustausch findet in Echtzeit statt und in direkter Kommunikation anstatt über zeitversetzte Erstellung von Abstimmungsdokumenten. Man muss bedenken, dass Softwareentwicklung letztlich ein kreativer Prozess ist, bei dem Probleme nicht einfach abgearbeitet, sondern immer erst gelöst werden müssen, wobei dann auch oft mehrere Lösungsoptionen parallel diskutiert werden.
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4. Fazit Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass co-präsente Teams in einem wenig vorab strukturierten Umfeld, in dem Selbstorganisation an der Tagesordnung ist, bessere Ergebnisse erzielen. Mit der Entscheidung für ein Lean Development Model ist somit auch eine mehr oder weniger klare Absage an bisherige virtuelle Teamstrukturen erteilt. Zumindest für die Entwicklungsbereiche einiger IT-Unternehmen gehören virtuelle Teams daher eher der Vergangenheit an. Erfahrungen über längere Zeit werden zeigen, ob die gewünschten Ziele hinsichtlich der Sicherung der Produktqualität sowie der Lieferung in gegebenem Zeit- und Kostenrahmen mit der co-präsenten Teamstruktur und dem neuen Arbeitsmodell besser erreicht werden. Die aufgezeigten Beispiele weisen also darauf hin, dass nicht Verfügbarkeit oder Reife von Kommunikationstechnologie letztlich relevant für eine Entscheidung zwischen virtuellen oder co-präsenten Teams sind. Die Beobachtungen legen vielmehr den Schluss nahe, dass die zu lösende Aufgabe und der gewählte Arbeitsprozess entscheidend sind. Klar strukturierte und gut beschriebene Aufgaben in einem festgelegten Arbeitsprozess eignen sich demnach für eine Bearbeitung durch virtuelle Teams. Haben Teams aber die Freiheit, die Gestaltung der Arbeitsabläufe anzupassen und ist die Aufgabe zudem (zumindest zu Beginn) eher unscharf formuliert, scheinen co-präsente Teams erfolgreicher. Ob sich diese These in Zukunft bestätigen wird? Wir dürfen gespannt sein.
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Kommunikation und Arbeitsformen Social Media und Web 2.0 verändern die Kommunikation – nicht nur im Internet, sondern auch in Unternehmen. Die Organisation 2.0 wird sich auf eine Kommunikation einzulassen haben, die jenseits hierarchischer Grenzen verläuft, die kommentiert und eine sehr hohe Transparenz bietet. Doch geht es nicht nur um die Kommunikation, sondern auch um neue Arbeitsformen, in denen die physische Präsenz an einen festen Ort im Betrieb nicht mehr notwendig ist, sondern durch eine ständige digitale Vernetztheit zur Tagesordnung gehört. Thomas Nonnast zeigt in seinem Artikel auf, dass die Öffnung der Kommunikation in Richtung 2.0-Welt mit einer neuen Unternehmenskultur einhergeht. Beides bedingt sich gegenseitig. Unternehmen benötigen hierzu Mut und Offenheit, sich auf dieses kommunikative Wagnis einlassen und ihre Verlautbarungspolitik von oben nach unten zu verabschieden. Wie dies konkret aussehen kann, schildert Nils König in seinem Beispiel, in dem er den Daimler-Blog beschreibt. Wie Digital Residents in Zukunft arbeiten möchten und was sie sich hierunter vorstellen, schildert Jonathan Imme im Interview: vernetzt, frei und selbstbestimmt. Welf Schröter zeigt in seinem Beitrag auf, wie künftig eine virtuelle Arbeitswelt aussieht und welche Implikationen diese auf verschiedenen Ebenen mit sich bringt.
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15 Unternehmenskommunikation 2.0 von Thomas Nonnast Thomas Nonnast ist Pressesprecher der BASF AG. Zuvor war er in der gleichen Rolle bei der Bertelsmann AG aktiv sowie jahrelang als Redakteur, u. a. beim Handelsblatt, tätig
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KOMMUNIKATION UND ARBEITSFORMEN
1. Einleitung „Bleibt alles anders“ nannte der Musiker Herbert Grönemeyer ein Album, das 1998 innerhalb kurzer Zeit an die Spitze der deutschen Charts stürmte. Bei seinem paradoxen Wortspiel hatte der Musiker aller Wahrscheinlichkeit nach nicht im Sinn, wie das Internet unsere Informations- und Kommunikationsgewohnheiten ändern könnte. Auch dürfte er kaum geahnt haben, dass zur selben Zeit viele Tausend Kilometer entfernt zwei Studenten der kalifornischen Eliteuniversität Stanford im Begriff waren, ein Unternehmen mit dem Namen „Google“ zu gründen, das die Art und Weise, wie wir heute Informationen suchen und finden, grundlegend verändern sollte. Und doch scheint Grönemeyers Albumtitel mit Blick auf die sich ändernden Mediengewohnheiten ungewollt weitsichtig und aktuell. Stellen wir zunächst einmal fest: Neben Buch, Zeitungen und Zeitschriften, Radio und Fernsehen hat sich das Internet als neue Medienplattform etabliert. Laut einer Erhebung des Werbezeitenvermarkters Seven One Media hat sich die Internetnutzungsdauer in Deutschland in der Bevölkerungsgruppe der 14bis 49-Jährigen seit 2002 von rund einer halben Stunde auf heute rund eineinhalb Stunden verdreifacht – Tendenz steigend. Aber haben Google & Co. auch unser Leben verändert? Je mehr Menschen man diese Frage stellt, desto mehr verschiedene Antworten erhalten wir. Befragt man einen Landwirt oder einen Schreiner, wird der Einfluss des Internets auf deren Tätigkeit sehr beschränkt sein – obwohl der Landwirt den lokalen Wetterbericht im Netz sicherlich schätzen wird. Fragt man dagegen einen Makler oder Journalisten, werden diese vermutlich sagen, dass das Internet innerhalb weniger Jahre die Rahmenbedingungen für ihren Beruf radikal verändert hat. Informationen, die in der „analogen“ Welt an Tausenden verschiedenen Orten verstreut waren, sind plötzlich über eine Plattform abrufbar. Ein unschätzbarer Vorteil auf der täglichen Jagd nach Informationen, dem günstigsten Angebot, dem besten Auto, der tollsten Reise. Das Internet hat aber nichts daran geändert, wie oder wo wir gerne unsere Ferien verbringen. Die Menschen wohnen nach wie vor in Häusern und Wohnungen, die – sehen wir von den Modetrends der Architektur einmal ab – in Gestalt und Funktion denen ähneln, die seit Jahrhunderten gebaut wurden. Und selbst die Arbeitswelt 188
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funktioniert auch im Internetzeitalter im Grunde in den gleichen Strukturen wie seit Menschengedenken. Was sich allerdings gewaltig verändert hat, sind die Marktplätze, auf denen sich Angebot und Nachfrage gegenüber stehen, sowie die Art und Weise, wie wir uns auf diesen Märkten die notwendigen Informationen beschaffen. Wo planen Menschen die nächste Urlaubsreise und wo schauen Wohnungssuchende zuerst? Warum hat sich der früher fast buchdicke Stellenmarkt in den Samstagsausgaben der Tageszeitungen den Internet-Jobportalen „Monster“, „Stepstone“ oder „Jobware“ fast kampflos ergeben? Die Antwort ist einfach: Weil die neuen Marktplätze den bisherigen in Funktionalität und Umfang der Informationen um Längen überlegen sind. Bitter für die, die Geschäft verloren haben ist, dass die Ware nach wie vor dieselbe ist.
2. Der Begriff Unternehmenskommunikation 2.0 Was hat das alles mit dem Thema Unternehmenskommunikation 2.0 zu tun? Beginnen wir mit einer kurzen begrifflichen Abgrenzung. Definiert man Unternehmenskommunikation ganz allgemein als die Gesamtheit aller Kommunikationsprozesse in einem Unternehmen, dann lassen sich stark vereinfacht drei unterschiedliche Kategorien ableiten: Die erste Kategorie ist die Kommunikation, die für die Leistungserstellung eines Unternehmens im weiteren Sinne notwendig ist. Nennen wir sie einmal Prozess- oder Funktionskommunikation. Ihr Ziel ist die Vernetzung interner Funktionseinheiten in Unternehmen, wie Forschung & Entwicklung, Einkauf, Produktion und Vertrieb. Vor allem im Bereich der Forschung & Entwicklung spielen digitale Communities und Informationsnetzwerke traditionell eine bedeutende Rolle, die aufgrund der oft komplexer werdenden Forschungsprojekte an Bedeutung zunehmen werden. Trotzdem blenden wir diesen Bereich an dieser Stelle aus, da er wenig mit der Außenwirkung von Unternehmen zu tun hat. Die zweite Kategorie ist die Marktkommunikation, deren Aufgabe vor allem in der Produktinformation, dem Marketing und der Werbung liegt. Im Bereich 189
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der Marktkommunikation haben viele Unternehmen Zeit gebraucht, um die Chancen des Internets zu begreifen, vor allem welche Vorteile die Rückkanalfähigkeit im Hinblick auf den direkten Dialog mit Kunden bietet. Doch mittlerweile ist hier die Mehrheit der Unternehmen auf der Höhe der Zeit. Egal, ob Bücher beim Online-Händler Amazon, der Auto-Konfigurator bei Mercedes oder der Produktonlinekatalog bei Fischer Dübel – fast zu jedem Produkt lassen sich im Netz detaillierte Informationen in Text und Bild abrufen und die Zahlen der ständig steigenden Online-Einkäufe sprechen eine deutliche Sprache. Die dritte Kategorie ist die Kommunikation, die darauf gerichtet ist, das Unternehmen nach innen und außen bei seinen relevanten Zielgruppen darzustellen und für ein positives Image zu sorgen. Man kann verallgemeinernd von Public Relations sprechen. Im Vergleich zur Marktkommunikation ist das Internet als Infrastruktur für Public Relations unterbelichtet. Dabei geht es weniger um die Zahl der Webseiten als vielmehr um deren Aktualität und Relevanz. Überspitzt gesagt: Das Netz ist voll von bunten Unternehmensseiten. Wenn sich aber ein Chef eines Dax 30-Unternehmens zu einer wichtigen Frage äußert, wird er das weder in seinem Blog noch auf der firmeneigenen Website tun, sondern lieber der F.A.Z. oder dem Handelsblatt ein Interview geben. Das ist deshalb erwähnenswert, weil es heute einfacher ist als jemals zuvor, in Wort, Ton und Bild zu publizieren. Bis zur Entwicklung des Internets zum Massenmedium standen vor der Veröffentlichung eines Textes, eines Radiointerviews oder von Bewegtbildern sowohl hohe technische als auch institutionelle Hürden, da der technischen Umsetzung in aller Regel eine komplexe Redaktionshierarchie bis hin zu kommerziellen und politischen Interessen von Verlegern oder Sendergremien vorgelagert sind. Allein der Druck und Vertrieb von Printmedien ist eine aufwändige und kostspielige Angelegenheit. Noch wesentlich größer ist der Aufwand, Fernsehen zu produzieren und auszustrahlen. Im Zeitalter des Internets sind die technischen Hürden für die Veröffentlichung eines Artikels nicht mehr höher als das Verschicken einer E-Mail. Der Aufwand, ein Foto zu veröffentlichen, ist vernachlässigbar und das Aufnehmen und Einstellen eines Videos auf YouTube ist geradezu lächerlich, verglichen mit der Produktion und Ausstrahlung professioneller Fernsehbilder.
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Warum begeben sich dann Unternehmen nach wie vor in die Hände von Journalisten und Medien? Eine mögliche Antwort liefert die jährlich erscheinende Acta-Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach, die das Medienverhalten der Bevölkerung in Deutschland untersucht. Demnach sind die Leitmedien für Nachrichten aus Politik und Wirtschaft das Fernsehen, die Zeitung und das Radio – in dieser Reihenfolge. Erst auf dem vierten Rang liegt das Internet, trotz gewaltiger Zuwächse bei der Nutzung und Reichweite. Die Gründe liegen in der mangelnden Glaubwürdigkeit. Hand aufs Herz: Glauben Sie dem Chef einer internationalen Ölfirma, aus deren kollabiertem Tiefseebohrloch Hunderttausende Liter Rohöl ins Meer strömen, wenn er im schnell produzierten YouTube-Clip zu Protokoll gibt, dass die Lage unter Kontrolle ist und die Firma für alle Schäden haftet? Und warum nicht? Haben Sie dieselben Zweifel gegenüber einem Vertreter einer Umweltschutzorganisation, der auf demselben Übertragungsweg sagt, dass in Wirklichkeit alles noch viel schlimmer sei als gedacht? Und genau an diesem Punkt sind wir bereits mitten in der Kernproblematik der Unternehmenskommunikation 2.0. Gehen wir noch einen Schritt weiter und betrachten das Phänomen der sozialen Netzwerke. Die Community – in den Anfängen des Internets nicht mehr als eine Art Schwarzes Brett im Netz, auf denen Technik-Nerds zu bestimmten Themen Nachrichten und Informationen hinterließen - ist inzwischen ein globales Massenphänomen geworden, von dem nicht wenige behaupten, dass es die Art, wie wir miteinander kommunizieren, grundlegend verändern wird. Die Zahlen sind berauschend, das Wachstum rasant. Die Zahl der aktiven Facebook-Nutzer hat mittlerweile die Marke von 500 Millionen überschritten, die auf Musik und Entertainment ausgerichtete MySpace Community bringt es auf rund 250 Millionen Nutzer weltweit und selbst der Mikroblogging-Dienst Twitter hat inzwischen ein Millionenpublikum. Jede Sekunde meldet sich ein neuer Nutzer zum Business-Netzwerk LinkedIn an, zehnmal so viele sind es bei Facebook. Und jeden Tag werden zwischen 1,5 und 2 Milliarden Youtube-Videoclips angeschaut.
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3. Unternehmen und Social Media Viele Unternehmen haben damit begonnen, Social-Media-Aktivitäten zu starten oder sind damit in der Planung. Die meisten werden in der Praxis folgende Erfahrung machen: Treffen klassische Kommunikation und soziale Netzwerke aufeinander, stellt sich irgendwann die Frage, inwieweit man bereit ist, die Regeln sozialer Netzwerke inklusive der Äußerung auch nichtsachlicher Kritik hinzunehmen. Dabei kommt es im Bereich der Kommunikation zu einem regelrechten „Cultural Clash“. Die klassische Kommunikation kommt aus einem Paradigma, in der Kommunikation (zumindest in der Theorie) kontrollierbar ist, beziehungsweise der Erfolg einer Kommunikation daran gemessen wird, ob die geplanten Botschaften von der Öffentlichkeit übernommen wurden. In der Praxis kommunizieren in dieser Welt eine überschaubare Zahl von Repräsentanten eines Unternehmens synchron vorher definierte Botschaften. Unterstellt man für diese Methode der „One Voice Policy“ die notwendige Disziplin, lässt sich das Ergebnis von Kommunikationsmaßnahmen relativ gut vorhersagen. Der Nachteil daran ist, dass diese Kommunikation wegen teilweise notwendiger juristischer Absicherung oft phrasenhaft wirkt und Sprachstanzen verwendet. Das Risiko für den Kommunizierenden bleibt aber überschaubar, da der größtmögliche Schaden darin besteht, dass die Kommunikation keine Aufmerksamkeit findet. Bewegt sich aber ein Unternehmen in sozialen Netzwerken, ist es nahezu unmöglich, diese Kontrolle zu behalten. In sozialen Netzwerken kommunizieren in aller Regel nicht die Manager oder Sprecher von Unternehmen in formalisierten Formaten miteinander, sondern dort steht der Dialog von Person zu Person im Mittelpunkt, während die Funktion und Hierarchie in den Hintergrund rückt. Gewicht und Relevanz von Aussagen sind daher in sozialen Netzwerken nicht von der Stellung in der Hierarchie als vielmehr von persönlicher Glaubwürdigkeit abhängig. Wem würden Sie im Zweifel mehr Vertrauen schenken: dem Chef eines großen Unternehmens, der in seinem Blog eine Initiative für mehr Frauen in Führungspositionen ankündigt oder einer Mitarbeiterin derselben Firma, die in einem sozialen Netzwerk einen Kommentar schreibt, wie sie durch neue Kinderbetreuungsmodelle am Arbeitsplatz jetzt besser Karriere und Familie im Alltag unter einen Hut bringt? 192
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Beides ist heute bereits durchaus Realität. Wer in dem deutschen BusinessNetzwerk Xing den beliebigen Namen eine Dax-Konzerns eingibt erhält mittlerweile mehrere Tausend Treffer von Mitarbeitern, zumeist mit konkreter Beschreibung der Funktion und Zuständigkeiten. Die Öffentlichkeit hat über das Internet immer leichteren Zugang nicht nur zu Mitarbeitern, sondern auch Kunden und (Ex-)Lieferanten plaudern über ihre Erfahrungen im Netz. Auch das ist im Grunde kein Phänomen, das erst durch das Internet auftauchte: Kunden reden schon immer miteinander über Ihre Erfahrungen, Mitarbeiter reden schon immer über den Job. Nur heute tun Sie es nicht mehr nur auf Messen und Kongressen, sondern für alle Welt nachlesbar im Internet und damit öffentlich. Damit beginnt die Grenze zu verschwimmen, wo Medien aufhören und die private Meinungsäußerung anfängt. Diese Frage lässt sich im Internet nicht mehr ohne weiteres beantworten. Im Internet wird „die Trennung von Medien, Übertragungswegen, Inhalten und Kommunikation in Zukunft immer schwieriger“, konstatieren die Autoren der Studie „Navigator 04“ des Werbezeitenvermarkters Seven One Media.
4. Die Nutzung von Social Media verlangt Umdenken Damit ist aber auch das althergebrachte Modell einer auf Kontrolle ausgerichteten Unternehmenskommunikation ein Auslaufmodell. Kurz gesagt: Wer versucht, die Mittel der klassischen Unternehmenskommunikation auf die neuen Medien zu übertragen, wird scheitern. Denn selbst mit großem Aufwand wird es nahezu unmöglich sein, sich auf allen Plattformen im Internet zu bewegen. Aber wie mit dem „Kontrollverlust“ umgehen? Dafür bedarf es eines Umdenkens in vielen Köpfen in den Unternehmen. Das beginnt mit dem Wertekorridor des Top-Managements, das die Zielvorgaben für die Kommunikation vorgibt: An die Stelle von „positivem Medientenor“ muss „Glaubwürdigkeit“ als wichtigste Zielvariable treten. Ein Umdenken ist auch im Bereich der Mitarbeiter notwendig. Wer sich heute als Mitarbeiter eines Unternehmens in einem sozialen Netzwerk bewegt, muss sich darüber bewusst sein, dass er dort auch als Teil des Unternehmens wahrgenommen wird. Das heißt, die externe Kommunikation wird in Zukunft viel 193
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stärker als bisher nicht mehr allein eine Aufgabe des Managements und einiger Spezialisten im Unternehmen sein, sondern eine Aufgabe jedes Mitarbeiters. Die Aufgabe der Kommunikationsspezialisten muss es daher sein, den eigenen Mitarbeitern die Strategie und die für die Öffentlichkeit relevanten Entscheidungen so zu erklären, dass diese kompetent dazu sprechen können. Dafür muss sich die Kommunikation für einen kritischen Dialog innerhalb der eigenen Grenzen öffnen. Nur durch einen offenen Dialog nach innen kann ein Unternehmen die „Köpfe und Herzen“ der eigenen Mitarbeiter gewinnen. Wenn das gelingt, muss sich niemand mehr Gedanken darüber machen, ob oder wie man auf einen unsachlichen Eintrag auf einer Social Media Website reagieren sollte. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies die eigenen Mitarbeiter tun werden, ist relativ hoch. Last but not least ist auch bei den Kommunikationsspezialisten in den Unternehmen selbst ein Umdenken erforderlich. Sie müssen in Zukunft bereit sein, mehr Risiko zu tragen. Dazu gehört auch die Konfliktbereitschaft in der Diskussion mit dem eigenen Management. Das ist deshalb keine einfache Aufgabe, da im Unterschied zu den flachen Hierarchien des Internets die Unternehmen nach wie vor in hierarchischen Strukturen mit all ihren Vor- und Nachteilen funktionieren.
5. Umgang mit Social Media Eine Blaupause für den Umgang mit den neuen Medien und sozialen Netzwerken in der Unternehmenskommunikation kann es nicht geben. Wichtiger als eine Anleitung für die technische Umsetzung, die sich jederzeit leicht auf dem externen Markt zukaufen lässt, scheinen die Fragen der Ziele und der eigenen Kultur: Was möchte ich durch die aktive Nutzung der neuen Medien erreichen? Bin ich bereit, die Spielregeln zu akzeptieren? Wo liegt die Schmerzgrenze? All das sind Fragen, die sich jedes Unternehmen beantworten sollte, bevor es sich auf den neuen Medien tummelt. Für die Praxis lautet der simple Rat: Probieren geht über studieren. Aufgrund der hohen Dynamik macht es wenig Sinn, sich auf die gesamte Bandbreite 194
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der neuen Plattformen zu stürzen. Man sollte sich zunächst einen Überblick über die bestehenden Plattformen verschaffen. Dann auswählen, welche Plattform oder Community für die Zielgruppe interessant sein könnte und in einem nächsten Schritt in überschaubaren Projekten testen, welche neuen Angebote Sinn machen – und welche nicht. So kann es für die Personalabteilung eines Unternehmens durchaus von Nutzen sein, auf Facebook aktiv zu werden, weil man davon ausgehen kann, dass die Zielgruppe der Studenten und Universitätsabgänger dort zu finden ist. Für die Kunden des Unternehmens ist Facebook dagegen aufgrund der Alterstruktur kaum zu gebrauchen. Abraten sollte man auch davon, jede Produktpräsentation oder Keynote auf YouTube einzustellen. Denn neben der Frage, wen das tatsächlich interessiert, kommt noch ein zweiter Aspekt hinzu, der in der Begeisterung über die Möglichkeiten der neuen Technologie oft vergessen wird: das Netz hat ein langes Gedächtnis. Inhalte, die auf Social Media Plattformen einmal eingestellt worden sind, lassen sich später nur schwer wieder aus dem Netz entfernen. Auch wenn die Situation und die Botschaften inzwischen ganz andere sind. Ein weiterer Fehler, der in der Praxis gemacht wird, ist es, den Aufwand für die technische Umsetzung, inhaltliche Bewertung und die strategische Weiterentwicklung zu unterschätzen. Jedes Facebook-Profil braucht einen Verantwortlichen im Unternehmen, der kontinuierlich bereit stehen muss, auf Anfragen zu antworten und gegebenenfalls den angebotenen Dialog zu führen. Wer im Netz tote Briefkästen installiert, schadet sich und seiner Marke langfristig mehr als das PowerPoint Chart mit den innovativen Maßnahmen der Kommunikationsabteilung Pluspunkte bringt. Ein Social Media Newsroom bedarf, um erfolgreich zu sein, einer ebenso intensiven redaktionellen Betreuung wie die Unternehmenswebsite. Und selbst die kurze Twitter-Nachricht verschickt sich nicht von alleine.
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6. Der Wandel zum Social Media Manager Daher sollte gelten, sich bei seinen Aktivitäten auf das Machbare zu beschränken. Um all die verschiedenen Plattformen zu bedienen, wird in immer mehr Unternehmen die Stelle eines Social Media Managers besetzt. In der Praxis sind diese Stellen derzeit am ehesten mit der Funktion eines Multimedia-Redakteurs in der Online-Redaktion eines Medienunternehmens zu vergleichen, der vorhandene Inhalte für die neuen Medien aufbereitet, multimedial anreichert und vernetzt. Inwieweit der Social Media Manager in der Zukunft die Funktion eines Art Pressesprechers in sozialen Netzwerken übernehmen wird, lässt sich heute kaum vorhersagen und wird stark vom einzelnen Unternehmen abhängen. Wie die Unternehmenskommunikation der Zukunft aussehen wird, ist heute nur sehr schwer vorauszusagen. Sicher ist dabei nur eines: Es ist eine evolutionäre Entwicklung, in dessen Verlauf die bisherigen Werkzeuge weiterentwickelt und um neue ergänzt werden. Andere Formate werden verschwinden oder komplett ins Internet wandern, wo laufend neue Marktplätze für den Informationsaustausch entstehen. Mit Blick auf die Social-Media-Netzwerke erscheint es notwendig, dass der Fokus der heute hauptsächlich auf externe Zielgruppen gerichteten Public-Relations-Aktivitäten breiter werden muss und die Mitarbeiter als Multiplikatoren für die externe Kommunikation einbezogen werden müssen. Die oft generalistischen Querschnittsbotschaften werden vermehrt durch zielgruppenorientierte Kommunikationsangebote mit Dialogmöglichkeiten ergänzt. Im Zentrum der Unternehmenskommunikation wird jedoch auch weiterhin stehen, das unternehmerische Handeln möglichst transparent und verständlich zu machen. Im Vorteil sind hier alle Unternehmen, bei denen die Realität und das von der Kommunikation vermittelte Bild bereits heute nicht allzu weit auseinander fallen. Kann man die Frage danach mit einem klaren „Ja“ beantworten, bietet die Unternehmenskommunikation 2.0 deutlich mehr Chancen als Risiken. Lautet die Antwort „Nein“, hat man so oder so ein Problem – die neuen Medien werden es nur schneller und unbarmherziger ans Licht bringen.
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16 Digital Residents – Ich mache mir die Welt wie sie mir gefällt Interview mit Jonathan Imme Jonathan Imme wurde vor 26 Jahren in der regenreichsten Stadt Deutschlands geboren, dafür ist er inzwischen in Berlin zu einem erstaunlich sonnigen Gemüt geworden. Mit sechs Jahren setzt er sich vor Vatis Computer und an Muttis Klavier: Beide Instrumente sollten seine Arbeit und seine Denke entscheidend prägen. Die Leidenschaft zu Wirtschaft und Musik hat ihn zum Musikbusiness-Studium in Mannheim geführt, beruflich sammelte er zunächst seine Erfahrungen bei der GTZ, MTV und Universal Music. Im Jahr 2009 hat er zusammen mit einigen Kameraden das Projekt Palomar5 gegründet (www.palomar5.com) und ein sechswöchiges Innovationscamp zum Thema „Zukunft der Arbeit“ in Berlin organisiert. Seit Juni 2010 hat er ein neues Schiff erklommen: „until we see new land“. Mit der neu gegründeten Agentur konzentriert er sich auf die Kreation und Durchführung von Event-Formaten zum Neudenken der Gesellschaft.
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Ist der Titel dieses Interviews dein persönliches Motto? Sagen wir es so: Ich versuche, die banale Weisheit „jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“ so gut und so oft wie möglich zu leben. Wenn man aufhört, Systeme, Politik und andere Menschen für das eigene Leben verantwortlich zu machen und sich ein bisschen von der Pippi Langstrumpf-Attitüde beflügeln lässt, dann steigt die innere Zufriedenheit. Zumindest war das bei mir so – ich empfinde mein selbstbestimmtes Schaffen nicht mehr als Arbeit, kenne in der Form keinen drögen Alltag. Jeder kann im Kleinen bereits so viel selbst verändern. Da wir für einen bewussten Umgang mit Natur und Gesellschaft allerdings weiter als über den eigenen Tellerrand hinausschauen müssen, ist Pippis Slogan als allgemeines gesellschaftliches Motto doch nicht ganz so tauglich. Wie definierst du den Begriff „Digital Natives“? Ich habe mit dem Begriff meine Probleme, da er meist zu unreflektiert verwendet wird, gerade von vielen Journalisten. Die einst von Palfrey und Gasser aufgestellte These, dass die nach 1980 geborenen Menschen völlig intuitiv mit digitaler Technologie umgehen und die Netzwerklogik inhaliert haben, scheint zumindest in meinem erweiterten Bekanntenkreis nicht aufzugehen. Sicher fällt der jüngeren Generation der Umgang mit neuen Technologien zunächst leichter, da er spielerischer und schneller erfolgt. Aber wenn es darum geht, in global vernetzen Informations- und Personennetzwerken zu denken und zu handeln und dies auch auf die Offline-Handlungsmuster zu übertragen – für mich der Kern hinter dem Mythos – dann decken sich meine Erfahrungen mit dem Studienergebnis von Prof. Peter Kruse: Diese Digital Residents gibt es in allen Altersstufen – wie auch viele der nach 1980 geborenen Digital Visitors bleiben. Worauf muss sich ein Unternehmen einstellen, wenn es Mitarbeiter dieser Generation beschäftigen will? Oder anders gesagt: Was muss sich in Unternehmen ändern, um überhaupt interessant für Digital Residents zu sein? Pauschalaussagen lassen sich – befürchte ich – über meine Generation genau so wenig treffen, wie über die vor oder die nach mir. Es scheint aber so, dass der Anteil von Menschen, die lieber frei, mobil und selbstbestimmt arbeiten und sich nicht in einer großen „Corporate-Mühle“ abquälen und von Hie198
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rarchien zermalmen lassen wollen, hierzulande größer wird. Wahrscheinlich hängt dies auch damit zusammen, dass die Sicherheit und Verlässlichkeit beim Modell der Festanstellung – für viele noch der größte Trumpf – bei vielen Unternehmen mehr und mehr ins Wanken gerät. Doch konkret zurück zur Frage: Unternehmen müssen sich auf neue Kommunikationstechnologien einstellen. Das ist an sich nichts Neues. Tools wie Instant Messaging und Wikis als demokratische, globale und partizipative Sammelstellen des gemeinsamen Wissens haben das Potenzial, Unternehmen sicherlich mindestens genauso stark im Hinblick auf Kommunikation und Kollaboration zu verändern wie vor über 100 Jahren die Einführung des Telefons. Aber der Wandel vom hierarchieverliebten, einwegkommunizierenden Unternehmen zur kollaborativen Netzwerkorganisation fängt nur in den wenigsten Fällen mit einem Corporate Wiki an. Der Wandel beginnt in der Regel in den Köpfen. Auf den Führungsebenen muss man sich die Fragen stellen: Wie sehr ist man bereit, die Interessen und Ideen von Kunden und den eigenen Mitarbeitern zu berücksichtigen und in einen wirklichen Dialog zu gehen? Traut man seinen Mitarbeitern über den Weg, wenn sie zu Hause oder im Park arbeiten? Wie kann ich eine starke, kulturelle Identifikation schaffen, ohne Menschen fest anzustellen? Kann man sich eine Zusammenarbeit und einen offenen Austausch über Erfahrungen und Probleme mit vermeintlichen Konkurrenten vorstellen? Wird man den Applaus bei Erfolgen fair unter allen Mitwirkenden verteilen? Wenn Fehlverhalten durch die Netzlogik so schnell aufgedeckt wird, wie gehe ich dann damit um? Können Mitarbeiter ihre eigenen Räume frei gestalten und ihre Talente und Interessen wirklich einbringen? Fördert man kreativen Spieltrieb, nutzt man die menschliche Neugierde? Teilt man die Visionen und Strategien offen mit den Mitarbeitern? Und arbeitet man eigentlich an etwas, das gesellschaftlich Sinn stiftet und auch ökologisch vereinbar ist? Je öfter, je offener und je intensiver sich die Denker und Lenker in Unternehmen diese Fragen stellen und praktische Möglichkeiten der Umsetzung finden, desto attraktiver wird das Unternehmen nicht nur für die neuen, netzaffinen jungen Mitarbeiter, sondern auch für die bereits bestehenden. Und dann funktioniert es auch irgendwann mit dem Corporate Wiki.
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Was passiert, wenn Digital Residents diese geforderten Rahmenbedingungen in Unternehmen nicht antreffen? Ein Teil der jungen Generation wird sich so oder so in die Systeme eingliedern und die Ideale über Bord werfen. Und der andere, sicher nicht kleiner werdende Teil, wird sich selbstständig machen und sich zunehmend in losen Netzwerkorganisationen organisieren, welche dann sowohl in Kooperation als auch im Wettbewerb mit den klassischen Unternehmen arbeiten. Insbesondere für Wissens- und Kreativarbeiter wird die Festanstellung innerhalb der nächsten zehn Jahre mehr zur Ausnahme denn zur Regel. Du hast mit dem living camp Palomar5 (www.palomar5.com) weltweit Zeichen gesetzt. Was habt ihr in der Gesellschaft und in den Unternehmen damit bewegt? Das Palomar5 Camp in 2009 sollte im Rahmen eines Experimentalprojekts zeigen, wie sich eine junge, interdisziplinäre und interkulturelle Gemeinschaft ihren eigenen Raum schaffen kann, der Kreativität und Spieltrieb fördert. Ein Raum, wo online Input über soziale Netzwerke mit lokalem, sehr intensivem und emotionalem Arbeiten vernetzt wird, wo eigene Regeln zum Umgang mit geistigem Eigentum definiert werden, wo Ideen prototypisch umgesetzt werden können, wo Leadership natürlich entsteht. Darüber hinaus haben wir immer wieder Leute aus Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur aus verschiedenen Generationen für Input und Feedback mit eingestreut. Bei diesem ersten Camp waren es wahrscheinlich weniger die konkreten Projekte, die während der sechs Wochen entstanden sind, sondern die spannenden Meta-Erkenntnisse aus dem Camp als innovationsfördernder Kulturraum, die spannende – zum Teil auch stark kontroverse – Diskussionen in Unternehmen, in Communities, aber auch in klassischen Massenmedien getriggert haben. Viele waren dabei überrascht, wie analog und emotional – kurzum humanistisch – die 30 vermeintlichen Digital Natives miteinander kommunizierten und kollaborierten. Trotz all unserer Affinität zu digitalen Tools möchten wir daher auch die Message in die Unternehmen hineintragen, dass wir nicht gut daran beraten sind, alle Kommunikationsprozesse so weit wie möglich zu digitalisieren. Aus dem Palomar5 Camp lässt sich ableiten: Im Hinblick auf eine höhere, kreative Produktivität sollten wir uns mehr darauf konzentrieren, die Schnittstellen zwischen Offline- und Online-Prozessen intelligenter zu 200
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designen. Wir können neue Ideen und Energiereserven durch Räume zum kreativen Spielen und Experimentieren erschließen. Und wir sollten die Visionen, Talente und Interessen unserer Team-Mitglieder über moderierte Formate in regelmäßiger Frequenz visibel machen. Diese Quintessenz nimmt vielleicht einigen Social-Media-Beratern etwas die Butter vom Brot. Aber sie führt langfristig zu mehr Zufriedenheit und dadurch auch zu höherer Effektivität bei der Arbeit. War Palomar5 eine nette „Einmalaktion“ oder habt ihr damit etwas angestoßen was ihr weiterführt? Die hohe Dynamik des Camp-Formats, die daraus entstandene Community und die Projekte sind allesamt zu spannend, als dass wir es bei einer Einmalaktion belassen wollen. Palomar5 wird als Dachmarke für verschiedene, eher kreativ orientierte Projekte von zwei meiner alten Kollegen aus dem Organisationsteam des ersten Camps weitergeführt. Gemeinsam mit zwei anderen Gründern von Palomar5 haben wir unter dem Namen „until we see new land“ ein neues Schiff in See gesetzt. Hier konzentrieren wir uns auf das Design und die Durchführung von unkonventionellen, interdisziplinären Eventformaten. Für 2011 sind wieder zwei Camp-ähnliche Formate geplant. Nach dem ersten Experimentalprojekt werden wir in der Zukunft den Themenfokus allerdings jeweils etwas enger stricken und Mitarbeiter und Führungskräfte unserer Kooperationspartner intensiver in Prozess und Camp einbinden, um hier auf inhaltlicher und unternehmenskultureller Ebene einen noch besseren Transfer zu ermöglichen. Damit wir nicht bei jedem zukünftigen Camp eine temporäre Arbeits- und Lebenswelt auf- und wieder abbauen müssen, wollen wir mittelfristig bis Ende 2012 ein „Haus des Umdenkens“ in Berlin errichten. Neben diesen kommunenartigen Camps soll dieser Ort auch kleinere Events beherbergen, von Künstlern und Kreativen aus aller Welt kontinuierlich belebt, mitgestaltet und weiterentwickelt werden und Einzelpersonen und Management-Teams als Inspirationshostel zur Verfügung stehen.
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Welchen Beitrag bringt ihr denn ein, um Unternehmen in Innovationsprozessen zu unterstützen? Was können Unternehmen von euch lernen? Euch fehlt doch noch notwendige Berufserfahrung? Ich beantworte die Frage jetzt mal stellvertretend für unser Team, da ich nicht für die ganze Generation sprechen kann und will: Wir haben zwar Erfahrungen in der Arbeit in und mit Konzernen sammeln können – das beschränkt sich allerdings altersbedingt auf ein paar Jahre. Trotzdem oder gerade deshalb können wir mit Hilfe unserer Intuition und unkonventionellen Methodik Formate und Prozesse designen und moderieren, bei denen wir in interdisziplinären und intergenerationellen Formaten einen neuen Denkzugang zu Themenfeldern ermöglichen. Vor allem können wir dies aus einer authentischen, jungen Perspektive tun, denn wir sind selbst Zielgruppe unserer Formate. Was die Auswahl der Themenfelder angeht, so geht es hier verstärkt um Themenbereiche, die vom technologischen und kulturellen Wandel betroffen sind und bei denen Menschen zwischen 20 und 30 eine neue Perspektive einbringen können. Darüber hinaus können natürlich auch die älteren Generationen von unseren Formaten profitieren und in ein inspirierendes Denkund Schaffensumfeld jenseits der üblichen Konzernstrukturen eintauchen – vorausgesetzt, sie sind dazu innerlich bereit. In welcher Art von Unternehmen würdest du gerne arbeiten? Ich arbeite gerne mit Unternehmen aus den verschiedensten Bereichen, von der kleinen Agentur bis zum DAX-30-Konzern, da mich die Bandbreite der verschiedenen Unternehmenskulturen reizt und ich mich auch gerne in neue Themenfelder einarbeite. Wenn es aber darum geht, in einem Unternehmen zu arbeiten, so tue ich dies gerade mit Abstand am liebsten in meinem eigenen. Falls mich der Wind einmal an Land eines Unternehmens treiben sollte, das eine uns ähnliche Wertewelt verkörpert und mich von seiner Vision auch noch inhaltlich fasziniert, so will ich auch das Kapitel Festanstellung für mein späteres Leben nicht völlig ausschließen. Was sind für dich persönlich die wichtigsten Werte, die ein Unternehmen leben sollte? Erst mal: Für mich lebt ein Unternehmen nicht. Wenn wir von Werten in einem Unternehmen sprechen, so müssen wir immer auf die Menschen schau202
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en, die bedingt durch ihre Stellung, ihr Wissen oder ihre Fähigkeiten einen gewissen Einfluss auf andere ausüben und so durch ihre Handlungen eine Kultur entscheidend mitprägen (können). Für mich persönlich ist es wichtig, dass diese Menschen ihre Visionen – die stark sein müssen – transparent machen, dass sie Rahmenbedingungen schaffen, um die Neugierde und die Talente ihrer Mitarbeiter zu fördern und vielfältig einzusetzen. Und wenn ein Unternehmen langfristig erfolgreich und innovativ sein will, dann geht dies nur durch ein gewisses Maß an Experimentierfreudigkeit. Da so gut wie kein Experiment ohne eine Form des Scheiterns auskommt, liegt es an den Entscheidungsträgern, hier einen offenen und menschlichen Umgang mit dem Scheitern vorzuleben. Wen hast du als Vorbild? Ich habe kein direktes Vorbild, dafür inspiriert mich eine zu große Bandbreite an Menschen auf zu unterschiedliche Weise, als dass ich mich hier auf jemanden kaprizieren kann. Aber vielleicht komme ich so über Umwege auf Chris Anderson, der mir mit seiner Visionskraft für die TED Conference und seinen kuratorischen Fähigkeiten zahlreiche vorbildfähige Menschen gezeigt und dadurch inspirierende und nachdenkliche Momente beschert hat. Wo möchtest du beruflich in zehn Jahren stehen? Eigentlich würde ich in zehn Jahren lieber liegen – und das irgendwo am Strand. Aber Spaß bei Seite. Ich möchte beruflich da stehen, wo ich auch privat in zehn Jahren stehen möchte: Ich verbringe dann hoffentlich nach wie vor den Großteil meiner Zeit mit Projekten und Menschen, die Sinn stiften, mich fordern und mir am Herzen liegen. Mit großer Sicherheit werde ich dann auch immer noch in einem Umfeld arbeiten, wo ich Räume zur Veränderung schaffe und für ungewöhnliche Begegnungen zwischen Menschen sorge. Was in zehn Jahren allerdings auf meiner Visitenkarte steht – sofern wir überhaupt in zehn Jahren noch so etwas kennen – das ist mir genauso unbekannt wie egal.
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17 „Im Dunkel des gelebten Augenblicks“ – Zwischen ubiquitärer Erreichbarkeit und den nötigen Grenzen der Verfügbarkeit von Welf Schröter Welf Schröter ist Initiator, Mitbegründer und Leiter des Forum Soziale Technikgestaltung des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Darüber hinaus war er von 1999 – 2003 Leiter der Stabsgruppe „arbeit 21“ im Leitprojekt „MAP – Multimedia-Arbeitsplatz der Zukunft“ des Bundeswirtschaftsministeriums, er ist Mitglied verschiedener Beiräte des Bundeswirtschaftsministeriums, E-Government-Beauftragter des DGB Baden-Württemberg, Autor zahlreicher Aufsätze und Herausgeber mehrerer Bücher zum Themenfeld „Virtualisierung der Arbeitswelt“ sowie Initiator des Diskurses „SozialCharta Virtuelle Arbeit“.
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17 „I M D U N K E L N D E S G E L E B T E N A U G E N B L I C K S “
1. Einleitung Unter Betriebs- und Personalräten erfährt die Debatte um die Potenziale der „Organisation 2.0“ in der Regel bislang nur zurückhaltende Aufmerksamkeit. In wirtschaftlich angespannten Zeiten steht fast jeder Ansatz, neue Organisationswege gehen zu wollen, unter dem Generalverdacht, Entlassungen und „Freisetzungen“ vorzubereiten. Änderungen von Arbeitsumgebungen büßen zunächst einmal vertraut gewordene Sicherheitsempfindungen ein. Wer in Krisenzeiten solcherart Neuerungen voranbringen will, muss zuvor ein Klima des belastbar verlässlichen Vertrauens und der sichernden Berechenbarkeit schaffen. Nicht die Debatte um die „Organisation 2.0“ drückt ein Risiko aus, sondern die einhergehende Lockerung vorhandener Zusagen und stabil geglaubter Bindungen. Wer vor diesem Hintergrund Modelle einer innovativen Organisationalität einbringt, rutscht leicht in eine Ideenfalle. Mit einer technikorientierten Herangehensweise wird die Chancenpalette neuer Organisationsmöglichkeiten zumeist über die Themen Social Software/Web 2.0 oder über ein „Wissensmanagement 2.0“ abgeleitet. Dahinter verbirgt sich die verkürzte und in der Regel in die teure Investitionssackgasse führende Position, die Bereitstellung besonderer „sozialer“, kommunikationsbezogener Werkzeuge würde allein schon genügen, Wissen und Menschen geistig und physisch mobil werden zu lassen. Dadurch soll sich – so die Hoffnung der Web-Administratoren – der Einstieg in flexible Gruppen und betriebliche Netzwerke fast wie von selbst entfalten. Wer „Wissensmanagement 2.0“ so missversteht, wird über einen Kick-Off-Effekt kaum hinauskommen. Hinter derart weblastigen Wegen verbirgt sich zumeist ein in kurzen Intervallen agierendes Wirtschaftlichkeitsverständnis. „Organisation 2.0“ wird reduziert auf das Ziel der Kostensenkung und Produktivitätserhöhung. Mehr betriebliche Freiheit des Einzelnen soll rasch individuelle Leistungssteigerungen ermöglichen. Derartige kostenbedingte Flexibilisierungsmuster setzen kurzfristige Planungsmarken der Geschäftseinheiten um. Schnell mehr ProduktOutput bei noch mehr persönlicherem Leistungs-Input lautet dabei die Maxime. Wer so auf das Thema zugeht, bringt gute Ansätze zu Fall, bevor sie wirklich ihre Innovationspotenziale offenbaren können. 205
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2. Organisation 2.0 als nachhaltiger Ansatz „Organisation 2.0“ ist kein Thema unter dem Verdikt von Quartals-Börsenmeldungen. Es ist vielmehr ein viel versprechender Ansatz für eine nachhaltige Personalentwicklung und -planung. Die Zeitziele können, wenn sie erfolgreich wirken sollen, nur mittel- und langfristig sein. Damit entziehen sie sich aber teilweise eiligen Controlling-Maßnahmen. Bei „Organisation 2.0“ geht es um den mittel- und langfristigen Erhalt von proaktiver Arbeitskraft, von vitaler Motivation und vor allem von Bindungswirkungen eines sich wandelnden Verständnisses von Corporate Identity. „Organisation 2.0“ ist kein Mittel der Krisen-Re-Aktion sondern sollte dagegen Ausdruck einer präventiv wirkenden Betriebs- oder Arbeitsweltkultur sein. Flexible Organisationsimpulse sollten zur Pflege des persönlichen Arbeitsvermögens und der eigenen Employability helfend beitragen. Wenn sie beginnen, das Wir-Gefühl zu unterminieren und die Fürsorgeverantwortung von Vorgesetzten bzw. von Auftraggebern in Zweifel zu ziehen, verlieren sie ihre kreative Innovationskraft. „Organisation 2.0“ kann – richtig verstanden – ein hochattraktives Instrument zur Gewinnung – bzw. zur Haltung – von Fachkräften sein. Dies gilt umso mehr dann, wenn der demografische Wandel die Alterspyramide der Experten und deren Anzahl drastisch verändert (vgl. Rump/Biegel 2009). Ein kleiner Blick zurück mag nützlich sein: Als in den 1990er Jahren in Unternehmen und Verwaltungen mit dem Modell der Telearbeit experimentiert wurde, zeigten sich Verhaltensmuster, die mit der gegenwärtigen Debatte um „Organisation 2.0“ vergleichbar sind. Alternierende bzw. mobile Telearbeit wurde zunächst von den Gewerkschaften als Beginn einer Auslagerung vom Ort Betrieb und somit als Lockerung der Bindung der Person an die Stammbelegschaft missverstanden. Reserviertheit auf Seiten mancher Beschäftigtenvertreter sollte befürchtete kommende Arbeitsplatzverluste verhindern helfen. Parallel zu diesem Missverständnis blockierte der Unternehmensmittelbau in Gestalt von Abteilungsleitungen die Ausbreitung der Telearbeit, weil damit für sie ein massiver Kontrollverlust verbunden war. Die Kultur des ergebnisorientierten Führens hatte sich bis dahin nur unzureichend entwickelt (vgl. Schröter 2007).
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Positive Akzeptanz erfuhr die Telearbeit erst bei gut qualifizierten Beschäftigten, die die Chance der persönlichen Arbeitszeitsouveränität erkannten und in der zu erwerbenden Fähigkeit des selbst organisierten Arbeitens einen positiven Karrierebaustein, ein Element der eigenen Employability sahen. Für Akzeptanz und Nicht-Akzeptanz, für Akzeptabilität und Nicht-Akzeptabilität hatte nicht primär der Einsatz neuer technischer Infrastrukturen gesorgt, sondern die Aufhebung nicht-technischer Innovationshemmnisse. Perzeption und Partizipation entschieden die Performanz. Diese Lehren lassen sich auf die kommenden IT-gestützten Organisationsdebatten übertragen. Eine weitere Basiserfahrung, die in die Kontroverse um „Organisation 2.0“ einfließt, rührt aus der Entwicklerszene der Informationstechnik. Ausgiebig haben auf allen Erdteilen Menschen das Experiment mit SCRUM erlebt, erlitten, begeistert fortgeführt, resümiert und positioniert. SCRUM ist ein von ITEntwicklern für IT-Entwicklergruppen entworfenes Modell, wie arbeitsteilig und dezentral innovative Software-Lösungen erreicht werden können. Das leicht anarchistische Modell der horizontalen Wege der Selbstorganisation von Teams und Arbeitsläufen mit Hilfe der SCRUM-Methode teilt leidenschaftliche und distanzierte Befürworter. Das schon im Jahr 2001 erschienene „Manifest für agile Softwareentwicklung“ nennt zwölf Grundprinzipien neuer Modelle der Selbstorganisation von Arbeit (www.agilemanifesto.org). Einer der Kernsätze lautete: „The best architectures, requirements, and designs emerge from self-organizing teams.” Es waren zudem gerade diese IT-Leute, die unmissverständlich festhielten: „The most efficient and effective method of conveying information to and within a development team is face-to-face conversation.” Die Telearbeitsdebatte der neunziger Jahre und die SCRUM-Explosion im Folgejahrzehnt haben ihren inneren Zusammenhang in der tendenziellen Abkehr von hierarchischen Kontrollansätzen, von starren Top-Down-Organisationsstrukturen und in der Hinwendung zu sich ständig verändernden organisatorischen Zuordnungen von Menschen auf gleicher Augenhöhe. Hinter dem SCRUM-Traum, dem SCRUM-Team und dem SCRUM-Master steht die emanzipatorische Option selbstorganisierender, selbstverantwortlicher und selbsthandelnder Individuen. Die Methode fasziniert die IT Communities bis heute.
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Seitdem jedoch SCRUM zu einem Kernbaustein der marktorientierten Optimierung der Software-Entwicklung und der flexiblen Anhebung von Produktivitätsleistungen geworden ist, offenbart SCRUM ein zweites Gesicht. Die Horizontalität frei gewählter Arbeit gerät unter den Druck vertikaler Kundenanforderungen. Hier kehrt sich die Öffnung des Zeitmanagements, die selbst gewählte zeitliche Entgrenzung der Alltagsarbeit, in ein spannungsgeladenes Gegenstück. Die maximale kurzfristige Reorganisierbarkeit der eigenen Abläufe durch die Subjekte selbst kollidiert mit externen bzw. wirtschaftlichen Interessenlagen. Aus der selbst gewählten Methode der ständigen und ubiquitären Erreichbarkeit für die gemeinsamen Ziele wird eine unbegrenzte Verfügbarkeit für nicht mehr selbst gewählte Ziele. Die Doppelgesichtigkeit der SCRUM-Methode zeigt sich bei ihrer Einbettung in kontrastierende Kontexte. Blieb SCRUM ein Modell der eigenen Planung und der eigenen motivierenden, profilstärkenden Identitätsbildung, waren die Beteiligten zum maximalen zeitlichen Input bereit. Wurde SCRUM zum Vehikel externer Anforderungen, wurde SCRUM tendenziell zur Last. Die entgrenzte Verfügbarkeit verletzt die Motivationskurve, löst Burn-Out-Prozesse aus und verschiebt die Work-LifeBalance ins Negative. Natürlich soll diese etwas zugespitzte Beschreibung der SCRUM-Kultur nicht einer oberflächlichen Schwarz-Weiß-Betrachtung Vorschub leisten. Jedoch zeigt diese holzschnittartige Darstellung die Ambivalenz der Debatte. SCRUMErfahrungen sind Teil der hoffnungsvollen Optionen des Mainstreams „Organisation 2.0“. Für Betriebsräte, die ein Herz für die SCRUM-Teams erkennen lassen, entfaltet sich ein deutlicher Widerspruch zwischen unterstützendem GewährenLassen und intervenierendem Beschützer-Verhalten. Exzessiv verstanden können beide Reaktionsvarianten als singuläre Extreme erheblichen Unmut auslösen. Weder ein Laisser-faire noch ein Rückfall in autoritäre Kontrollversuche („Wir wollen doch nur Euer Bestes!“) bieten Auswege. Der normative Kollektivschutz-Ansatz eines Betriebsratsgremiums scheint mit dem Evolutionsprozess neuer Agilität in Form der „Organisation 2.0“ zu kollidieren.
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3. Electronic Mobility als Teil der Organisation Doch neben dem Blick auf die frühe Telearbeitswoge und die neue SCRUMWelle kann ein weiterer Augenschein behilflich sein. Wenden wir uns einem Phänomen zu, das Arbeitsprozesse losgelöst vom Menschen delegativ oder assistent im virtuellen Raum mobil organisieren will, genannt „Electronic Mobility.“ Die Diskussion über die Ausgestaltung virtuell-mobiler Arbeit begann zeitversetzt nach dem SCRUM-Aufbruch. Bei der Prüfung der Rahmenbedingungen für Menschen gegenüber solcher Art mobiler Arbeit kamen insbesondere wieder nicht-technische Innovationshemmnisse als organisatorisch wesentliche zum Tragen: „Das Anwachsen nicht-personaler Mobilität, d. h. die zunehmende Bedeutung virtueller Arbeitsgänge mit Hilfe von digitalen Assistenz- und Delegationstechniken, stellt für die meisten Menschen eine große Herausforderung dar. Bislang erlebten sie die Herausbildung von eigenen Identitätsmustern vornehmlich anhand haptisch-materieller Vorgänge. Die Spannung zwischen Virtualität und Identität steigt mit der Expansion von Electronic Mobility. Je dichter der mobile Arbeitsalltag sich darstellt, umso stabiler muss der affektive Bezugsrahmen, die Kraft emotionaler Bindungen, die Belastbarkeit von Vertrauen sein. (…) Die Bereitschaft zur persönlichen Flexibilität im Arbeitsalltag steigt eher dann an, wenn die organisatorischen Rahmenbedingungen genügend Zeitsouveränität in dem Sinne verfügbar halten, dass die/der mobil Arbeitende ausreichend synchrone Zeitfenster mit seinem Partner, seiner Partnerin, seiner Familie findet. Der Erfolg mobiler Arbeit ergibt sich maßgeblich aus der Gestaltung des Wechselverhältnisses mit der nicht-arbeitsbezogenen immobilen Eigen-Zeit (Work-Life-Balance)“ (Rump/Balfanz/Porak/Schröter 2007). Die „E-Mobility“-Debatte kam konsequent zu einer bemerkenswerten normativen Betrachtung: Die Zukunft der Organisation der mobilen Arbeit muss stärker aus der Perspektive des handelnden Menschen als aus der Perspektive der statisch bestehenden traditionellen Organisation des Unternehmens bzw. des bisherigen Wertschöpfungsprozesses betrachtet werden. Organisationale Kriterien sollten gleichermaßen dem Denken ergebnisorientierter Produktivität wie auch den Erfahrungen emotionaler Schwankungen und Stresssituationen entnommen werden. 209
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Bezogen auf E-Mobility drängte sich vor Jahren eine fast generische Empfehlung auf, die sowohl mit dem puristischen Laisser-faire als auch mit einem bevormundenden Kontrollimpuls brechen will und in die Zukunft der „Organisation 2.0“ hinüberleitet: „Das Heraufkommen neuer Modelle der Arbeitsorganisation fordert eine Leitbilderweiterung in den Vorstellungen der Sozialpartner heraus. Neben den kollegialen und kollektivbezogenen Vereinbarungen bedarf es einer deutlichen Aufwertung konsensualer Lösungen zur Förderung der Autonomie des Individuums. Mobile Arbeitswelten verlangen die Schaffung von Rahmenbedingungen für selbstgesteuert handelnde Einzelne. Sie benötigen eine offensive Besinnung auf das selbstverantwortlich tätige Subjekt und eine Fokussierung auf selbstbewusst arbeitende Menschen. Es gilt, Freiheiten und Verpflichtungen, Chancen und Teampotenziale in besonderer Weise organisatorisch aus der Perspektive des mobilen Subjekts zu beschreiben und zu verankern. Die Arbeitswelten der Zukunft werden in weit größerem Maße von Assoziationen und Netzwerken autonomer Berufstätiger geprägt sein“ (Rump/Balfanz/Porak/Schröter 2007). Seit längerem versuchen innovative Betriebsräte das Unmögliche: Sie bemühen sich das flexibel-offene mit dem berechenbar-standardisierten zu verbinden. Dabei zeigen sich zwei Fronten: Die Ungleichzeitigkeiten in den Empfindungen der Beschäftigten, die zwischen Verlust und Aufbruch subjektiv hin und her pendeln. Die Ungleichzeitigkeiten in den Verhaltensmustern von Führungskräften, die es nicht vermögen, die Spannung zwischen Neuerung und Kontrolle zu flexibilisieren. Es gilt, die jeweils innovativen Flügel in einen verlässlichen und vertrauensbasierten Aushandlungs- sowie Gestaltungsdialog hinein zu moderieren. Ohne einen solchen Dialog ist es fast unmöglich, den dynamischen „Geist“ von „Organisation 2.0“ in die Form einer verifizierbaren Betriebsvereinbarung zu „zaubern“. Um einen solchen Aushandlungsdialog im Sinne einer sozialen Gestaltung moderner Zeitflexibilität und innovativer Organisationalität zu beschleunigen, wurde vom Personennetzwerk „Forum Soziale Technikgestaltung“ ein Diskurs initiiert, der quer zu einzelnen Interessengruppen Beschäftigte, Unternehmensleitungen, Verwaltungen, Betriebs- und Personalräte, Wissenschaft, Politik, Erwerbssuchende, Zielgruppennetzwerke und Verbände verknüpft. Unter dem Dach des Projektes MAREMBA startete die Initiative „SozialCharta Virtuelle Arbeit“. 210
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3. SozialCharta Virtuelle Arbeit Hinter dem Akronym MAREMBA verbirgt sich die Mobile Assistenz für das REssourcenManagement in der Bau-Auftragsabwicklung. Das Projekt MAREMBA bietet für Betriebe ein ganzheitliches, prozessübergreifendes Kollaborationssystem zur Optimierung des Ressourcenmanagements, das mit einer entsprechenden Kollaborationsplattform, einem mobilen personalisierten Ressourcenmanagementdienst und einer besonders hohen Sicherheitskomponente ausgestattet ist. Das System soll nach Erprobung als buchbarer Teledienst betrieben werden. Mit dem Projekt soll exemplarisch die Integration von Handwerksbetrieben in mobile Projekte auf Großbaustellen erleichtert werden. MAREMBA will die Handwerksbetriebe an die Praxis der Zusammenarbeit im Netz (virtuelle Kooperation) und die Nutzung mobil anwendbarer Dienste und Dienstleistungen heranführen. Neben den technischen Faktoren sind es dabei auch die „weichen“ Schritte zur Herstellung von Akzeptanz und Akzeptabilität, die unter dem Schirm dieses SimoBIT-Vorhabens entwickelt und ausprobiert werden. Dabei betreibt das Forum Soziale Technikgestaltung den Transfer von Orientierungswissen im Bereich der elektronischen Geschäfts- und Arbeitswelten. Der Diskurs „SozialCharta Virtuelle Arbeit“ soll zur Kompetenzbildung beitragen. Dabei werden vor allem die weichen Faktoren wie Organisation, Weiterbildung, Kompetenz, Motivation, Work-Life-Balance etc. von hervorgehobener Bedeutung sein. Die „SozialCharta virtuelle Arbeit“ will zugleich eine der Voraussetzungen bilden, um mit Hilfe innovativer Anwendungen die Tür für neue Dienstleistungen und Wertschöpfungen zu öffnen, die die Basis für neue Arbeitsplätze schaffen sollen. Akzentuiert wird der Ansatz durch eine regionale Wertschöpfungsinitiative in der Fläche der Metropolregion Rhein-Neckar. Unter dem Namen „ZIMT“ haben Partner aus der Arbeitswelt den Anstoß für eine zukunftsweisende Diskussion gegeben. Nach einjähriger strukturierter Diskussion entstanden die „Heidelberger Thesen“ als Sammlung von Handlungsempfehlungen. Darin heißt es abschließend unter anderem: „Es geht um unsere Einstellung zur morgigen Arbeitswelt. Wir wollen die Gegensätze zwischen der neuen digitalen Genera-
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tion und den älteren Beschäftigten unter Berücksichtigung demografischer Veränderungen vermindern. Wir wollen dazu beitragen, die Widersprüche zwischen den digitalen Arbeits- und Geschäftskulturen einerseits und einer solidarischen Sozialisation mit neuer Sozialkompetenz andererseits aufzuheben.“ Eine der besonders leidenschaftlich und kontrovers debattierten Spannungspaare waren unter den Betriebsräten die Begriffe „Erreichbarkeit“ und „Verfügbarkeit“. Gerade die Personen im Alter von 40 und mehr Lebensjahren setzten der organisationalen Flexibilisierung dort ihre Grenzen, wo neue Modelle der agilen Kollaboration das Zeitbudget der Nicht-Arbeit zu Lasten des Privaten eingrenzten. Die Offenheit für Experimente der „Organisation 2.0“ fand ihre Widerstände deshalb, weil die begründete Befürchtung artikuliert wurde, dass die Zeit für Partnerschaften und Kinder in der neuen Organisationskultur keine oder keine ausreichende glaubwürdige Berücksichtigung fände. Der Kurs in Richtung „Organisation 2.0“ kann vor diesem Diskurshintergrund nur dann nachhaltig erfolgreich sein, wenn die Beteiligten nicht nur auf die Rolle der Beschäftigten bzw. der Auftragnehmenden verengt werden, sondern in ihrer Subjekthaftigkeit und in ihrer Ganzheitlichkeit gewürdigt werden. Der scheinbar verstaubte alte Begriff der „Würde“ bestimmt(e) maßgeblich die persönliche Grundhaltung zum Feld „Organisation 2.0“.
4. Zwischen persönlicher Realität und Virtualität Doch neben der hohen Relevanz und Bedeutung des individuellen und gemeinsamen Zeitmanagements taucht am Horizont ein weiteres Themenfeld auf, das die Anstrengungen für eine „Organisation 2.0“ beeinflusst. Es geht um die Verschränkungen und wechselseitigen Überlappungen von persönlicher Realität mit persönlicher Virtualität. Zur Optimierung neuer Organisationsmodelle entstehen virtuelle Arbeitsumgebungen, die sich komplementär an die natürlichen „andienen“, die sie ergänzen, assistierend ausformen oder partiell ersetzen. Das reale Ich tritt seinem Zwilling, dem virtuellen
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Ich im Netz, gegenüber. Die Organisation zwischen Ich und Ich wird möglicherweise zu einem zusätzlichen elementaren Baustein der „Organisation 2.0“. Techniknahe Juristen haben vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen die Frage aufgeworfen, ob etwaige softwareagentenbasierte Avatare bei ihren rechtsverbindlichen Transaktionen in virtuellen Geschäftsprozessen als echte Gerichtssubjekte behandelt werden müssen, wenn Schäden entstanden sind oder Haftungsnotwendigkeiten auftreten. Die scheinbar unverständliche Option eröffnet den Blick auf die Frage, ob es nicht geradezu erforderlich ist, zum Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern deren quasi-rechtliche Zwillingsidentitäten im virtuellen Raum zu schaffen, um den Schutz des informationellen Selbstbestimmungsrechtes der natürlichen Subjekte auf Dauer perspektivisch zu gewährleisten. Muss nicht das Recht auf anonyme Kommunikation und Interaktion der natürlichen Netznutzer konsequent zu der Überlegung führen, dass es einer virtuellen Identität der Beschäftigten für ihr Handeln im Netz bedarf? Bedarf es dazu nicht eines Rechtes auf ein selbstbestimmtes, proaktives Identitätsmanagement, das die Transformation des natürlichen Subjekts zum virtuellen Objekt reguliert? Der Softwareagent – personalisiert, gepflegt und mit Aufgaben betraut – tritt anstelle des abhängig Beschäftigten, anstelle des natürlichen Subjekts rechtsverbindlich handelnd in virtuellen Arbeits- und Geschäftsprozesskontexten auf. Diese Identitätsverschlüsselung – inhaltlich vergleichbar mit der Logik der elektronischen Signaturen – drängt zur verlässlichen Emanzipation des Subjekts innerhalb der Netzwelten. Ein derartiger Denkansatz forciert damit nicht die Verdinglichung der Würde des abhängig arbeitenden Menschen, sondern überträgt die Logik der Machine-to-Machine-Communication in den Potenzialansatz eines zivilgesellschaftlichen Identitätsmanagements. Diese Kultur dreht die Identitätsverdinglichung moderner Wirtschaftsweisen in eine Woge des Identitätsschutzes. Natürlich müsste ein derartiges soziales Identitätsmanagement auf Verbindlichkeiten in der Form beruhen, dass die Pseudonyme bei einem vertrauensvollen Dritten hinterlegt sind, die gegen den Willen der natürlichen Person nur per gerichtlicher Anforderung aufgehoben werden können. Ein solches Identitätsmanagement kann auch zu neuartigen Interpretationen des Assoziationsrechtes führen. Da wäre auf jene berühmte pseudonyme De213
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monstration von Avataren in Second Life zu verweisen, bei der über eintausend Beschäftigte eines großen globalen IT- Players gegen ihre drohende Entlassung im Netz anonym aufbegehrten. Allerdings zwänge ein derartiges strategisches Vorgehen auch die gewerkschaftlichen Verbände und Betriebsräte zu neuen Wegen. Soziales Identitätsmanagement könnte zu der Frage führen, ob virtuelle Betriebsräte auch personalisierte Avatare vertreten und ob solche Kunstgeschöpfe auch die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft beantragen können. Doch noch sind wir nicht soweit. Noch bewegen wir uns im „Dunkeln des gelebten Augenblicks“ (Ernst Bloch) in der Hoffnung, unser Handeln entschlüssele sich rückblickend als zielgerichtet, geplant und logisch.
5. Literatur Balfanz, Dirk/Schröter, Welf; Hg. (2010): Gestaltete Virtualität – Realität der neuen Medien in der Arbeitswelt. Standortbestimmung und Perspektiven. Mössingen 2010. Balfanz, Dirk/Schröter, Welf (2010): Akzeptanz – Soziale Gestaltung mobiler Arbeitswelten. Kleiner Leitfaden als Orientierungshilfe auf dem Weg zu innovationsfreundlichen Haltungen zwischen Gestaltungspartnern. Karlsruhe/Stuttgart. Typoskript 2010. Fähnrich, Klaus-Peter/Alt, Rainer/Franczyk, Bogdan (Hrsg.): Practitioner Track – Leipziger Symposium on Services Science 2009. Leipziger Beiträge zur Informatik Band XVI. Leipzig 2009. Rump, Jutta/Biegel, Isabel (2009): Arbeit und Freizeit. Wie wir in Zukunft leben und arbeiten werden. Mössingen 2009. Rump, Jutta/Balfanz, Dirk/Porak, Anatol/Schröter, Welf (2007): Electronic Mobility - Mobile Arbeitswelten und Soziale Gestaltung. In: Baacke, Eugen/Scherer, Irene/Schröter, Welf;(Hrsg.): Electronic Mobility in der Wissensgesellschaft. Mössingen 2007. Schröter; Welf (2007): Auf dem Weg zu neuen Arbeitswelten. Impulse des Forum Soziale Technikgestaltung. Mössingen 2007.
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18 Blogs in der Unternehmenskommunikation von Nils König Nils König studierte International Management & Economics, mit Schwerpunkt Marketing Management und Unternehmenskommunikation. Er ist Dozent an der American University of Central Asia in Bischkek (Kirgisistan), wo er Internationales Management und Unternehmenskommunikation unterrichtet. Zuvor war er in der Unternehmenskommunikation der Daimler AG beschäftigt, wo er unter anderem an der Entwicklung des Daimler-Blogs beteiligt war und viele der Social-Media-Aktivitäten des Unternehmens prägte.
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1. Einführung Die Bedeutung von Blogs in der Unternehmenskommunikation ist in den letzten Jahren enorm gestiegen. In den USA sind Blogs ein unverzichtbarer Teil der Außendarstellung von Unternehmen geworden und auch in Japan, Südkorea und dem Wachstumsmarkt China gehören sie bereits zu den Standardinstrumenten der Unternehmenskommunikation. Die einfache Administration, das durch Netzwerkeffekte hohe Reichweitenpotenzial und die durch den Dialog intensivierte Beziehung zu verschiedenen Anspruchsgruppen ermöglichen eine große Bandbreite an Einsatzmöglichkeiten über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg. Aufgrund des vorwiegend jungen Publikums und der vertrauensbildenden Authentizität persönlicher Blogbeiträge eignen sich Unternehmensblogs unter anderem hervorragend für die Kommunikationsaktivitäten im Rahmen des Personalmarketing. Das folgende Kapitel bietet eine kurze Einführung in das Thema Unternehmensblogs und zeigt am Beispiel des Daimler-Blogs (http://blog.daimler.de) erste Praxiserfahrungen eines DaxUnternehmens im Umgang mit dieser jungen Kommunikationsform. H
2. Grundlagen von Unternehmensblogs 1B
Das Internet hat in den letzten Jahren eine zentrale Stellung im Leben vieler Menschen erobert. Als Informations-, Kommunikations- und Unterhaltungsmedium ist es aus dem Alltag heute nicht mehr weg zu denken. Die Entwicklung so genannter „Social Media“ und damit die Möglichkeit, Inhalte und Meinungen mit einfachsten Mitteln jederzeit online publizieren und mit anderen diskutieren zu können, haben zu einer enormen Vernetzung von Internetnutzern und Internetinhalten geführt. Blogs und Microblogs, Wikis und Filesharing-Dienste wie YouTube und Flickr, sowie Soziale Netzwerke haben sich dabei als Plattformen für nutzergenerierte Inhalte (engl. User Generated Content) etabliert. Die Fülle an online verfügbaren Informationen hat dabei unter anderem dazu geführt, dass Kaufentscheidungen zunehmend online oder zumindest durch das Internet unterstützt getroffen werden. Dabei spielen einfache Preis- und Produktvergleiche genauso eine Rolle wie die Vielzahl von 216
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Produkttests und -bewertungen durch andere Nutzer, welche in Deutschland inzwischen mehr als die Hälfte aller Konsumenten vor dem Elektrogeräte-, Reise- und Autokauf konsultieren (Institut für Demoskopie Allensbach 2008). Unternehmen sind seit Jahren mit der Herausforderung konfrontiert, dass die Formen und Inhalte klassischer Unternehmenskommunikation zunehmend hinterfragt werden – eine Entwicklung, die das Internet und die damit verbundene schnellere Verifizierbarkeit von Informationen noch einmal deutlich beschleunigt hat. Gleichzeitig eröffnet sich ihnen jedoch die Möglichkeit, durch Dialogbereitschaft, Ehrlichkeit und Transparenz das Bild des eigenen Unternehmens und seiner Produkte positiv zu beeinflussen. Unternehmensblogs sind die komplexeste Form eines solchen Engagements im Social-MediaBereich. Im Folgenden soll daher kurz auf die Eigenschaften, Potenziale und möglichen Probleme sowie auf mögliche Ziele von Unternehmensblogs eingegangen werden. Ein Unternehmensblog (engl. Corporate Blog) ist ein Blog, welches im Namen eines Unternehmens geführt wird um dort dessen Produkte/Dienstleistungen, Strategien und Prozesse zu thematisieren. Das Unternehmen ist offiziell als Initiator der Inhalte erkennbar und besitzt die Urheberrechte an den auf dem Blog publizierten Inhalten. Darüber hinaus wird ein Unternehmensblog in regelmäßigen Abständen aktualisiert und dient dem Unternehmen als permanenter Kommunikationskanal (König 2009b). Als Autoren von Unternehmensblogs werden dabei Mitarbeiter des Unternehmens oder (seltener) Mitarbeiter von beauftragten Agenturen aktiv. In der Regel sind die Autoren anhand von Namen, Stellenbeschreibungen oder Bildern persönlich identifizierbar, wodurch sich Unternehmensblogs deutlich von den mehrheitlich unpersönlichen Mitteln der traditionellen Unternehmenskommunikation unterscheiden. Unabhängig vom Kommunikationsziel, ist die persönliche Beziehung zwischen Autoren und Lesern dabei ein Hauptfaktor für den Erfolg eines Unternehmensblogs.
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3. Vorteile von Unternehmensblogs Blogs im Unternehmenseinsatz haben eine Reihe potenzieller Vorteile. Im Allgemeinen ermöglichen Blogs den Autoren, gewählte Themen zu besprechen und dadurch bekannter zu machen. Die Vernetzung mit der Blogosphäre sorgt dafür, dass selbst Leserschaften außerhalb des eigenen „Tellerrandes“ schnell erreicht werden können. Ein Unternehmen kann damit sowohl neue Kanäle zu existierenden Zielgruppen aufbauen als auch neue Zielgruppen erschließen, die zum Beispiel aufgrund des Medienwandels schlechter oder überhaupt nicht mehr über klassische Medien erreicht werden können. Eine besondere Rolle spielt dabei der offene Dialog mit Kunden und anderen Anspruchsgruppen, welcher nachhaltig die Reputation des Unternehmens verbessern kann. Mögliche Ziele können dabei Absatz- und Umsatzsteigerungen sowie positive Einflüsse auf die Loyalität zu Produkten und Marken sein, da beispielsweise Kaufentscheidungen zunehmend mit der Unterstützung des Internets getroffen werden und Blogs diesbezüglich eine wichtige Möglichkeit der Einflussnahme darstellen. Durch die auf den meisten Blogs angebotene Kommentarmöglichkeit, das Weitertragen einer Diskussion auf andere Blogs oder einfach das passive Hineinhören in die Blogosphäre bietet sich für Firmen die Möglichkeit, Informationen zu gewinnen, die ihnen bei herkömmlichen Kunden- oder Nutzerumfragen verborgen bleiben. Diese Informationen können für die Marktforschung, aber auch die Qualitätskontrolle und die Produktentwicklung wertvoll sein und dabei langfristig auch Kostensenkungen ermöglichen. Aufgrund der direkten Kommunikation mit Zielgruppen, der hohen Suchmaschinenrelevanz F1 von Blogs sowie der starken Verlinkung wird es durch Blogs möglich, Themen gezielt zu besetzen. Unternehmen, welche Blogs langfristig auf spezielle Themen wie beispielsweise Karriere, Innovation oder Qualität ausrichten, können online zur Unternehmensreputation beitragen und das Unternehmensblog als Anlaufstelle für die gesetzten Themen etablieren. Durch eine Verknüpfung der Blog-Aktivitäten mit dem Issue Management ist darüber hinaus auch eine strategische Nutzung möglich. Da sich inzwischen 1
Gute Platzierung der eigenen Webseite bei Internet-Suchmaschinen.
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auch die klassischen Medien ins Web 2.0 vorgewagt haben und über komplexe Monitoring-Systeme verfügen, kommt es zudem vermehrt zu Übernahmen von Internet-Themen in die Offline-Medien. Dies erweitert die Möglichkeiten, positiv auf die öffentliche Berichterstattung über das Unternehmen einzuwirken.
4. Herausforderungen im Umgang mit Unternehmensblogs Der Einsatz von Social Media im Allgemeinen und Unternehmensblogs im Speziellen unterscheidet sich grundlegend von der Anwendung klassischer Mittel der Unternehmenskommunikation. Damit gehen eine Reihe von Ängsten und Hürden einher, die den erfolgreichen Aufbau neuer Kommunikationskanäle im Web 2.0 be- und sogar verhindern können. Charakterisiert durch den spontanen und persönlichen Dialog mit Zielgruppen erfordern Unternehmensblogs (als Teil von Social Media) flexible und schnelle Unternehmensprozesse, welche häufig mit den etablierten Abläufen der Unternehmenskommunikation als unvereinbar betrachtet werden (Puttenat 2007). Die Möglichkeit, dass Mitarbeiter sich beruflich und privat untereinander und mit Anspruchsgruppen für eine direkte Kommunikation vernetzen können, bedroht die traditionelle Informationshoheit des mittleren Managements in hierarchisch geprägten Unternehmen. Dies wird zudem häufig als Bedrohung für die von vielen Großunternehmen gepflegte „One-Voice-Policy“ gesehen. Darüber hinaus wird das Angebot an Zielgruppen, sich selbst in den Dialog einzubringen, beispielsweise durch Blogkommentare oder Verlinkungen, mit einem weiteren Kontrollverlust assoziiert (McAffee 2008). Der Aufbau und die Bedienung von Social Media für ein Unternehmen sind häufig mit nicht zu unterschätzendem technischen und vor allem personellen Aufwand verbunden. Dabei sind die von potenziell beteiligten Mitarbeitern wahrgenommenen technischen Hürden meist höher als die tatsächlichen. Der Erfolg der einzelnen Maßnahmen hängt stark am meist freiwilligen Engagement von Mitarbeitern, was zu einer psychologischen Zwickmühle führt. Die 219
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geringere Planbarkeit von Themen und Inhalten gefährdet ein gleichbleibend hohes Qualitätsniveau, während eine aktive Steuerung oder gar Zensur die Authentizität und damit den Erfolg der Aktivitäten riskieren. In diesem Zusammenhang stellt sich häufig die Frage, wie man es schaffen kann, Mitarbeiter zu eigenen Beiträgen zu animieren bzw. sie zur Fortführung ihres Engagements zu motivieren. Zu den weiteren Ursachen für das frühzeitige Scheitern von Blogprojekten zählen rechtliche Bedenken verantwortlicher Manager, beispielsweise bezüglich des Datenschutzes und des Urheberrechtes im Internet, sowie das fehlende Verständnis für Sinn und Potenzial von Social Media.
5. Blog-Strategien für Unternehmen Angesichts der Bandbreite potenzieller Vorteile eröffnet sich eine Vielzahl möglicher Anwendungen von Blogs über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg. Basierend auf der Nutzung des Internets zur Verbesserung der verschiedenen Unternehmensaktivitäten, lassen sich mit Blogs vor allem Information, Kommunikation und Zusammenarbeit verbessern (Zerfass and Boelter 2005). Dabei ist der Einsatz sowohl intern als auch extern möglich (Fleck et al. 2007; Schmidt 2008). Intern eignen sich Blogs z. B. als Ersatz von bzw. Ergänzung zu Mitarbeiterzeitungen – je nach Bedarf informations- oder dialogorientiert – oder als Mittel der Projektkommunikation. Extern ist beispielsweise ein Einsatz für die Logistikkoordination mit Zulieferern oder zur verbesserten Kundenbetreuung möglich. Darüber hinaus können Blogs als zeitlich beschränktes Kommunikationswerkzeug eingesetzt werden (z. B. Projekt- oder Kampagnenblogs) oder langfristig betrieben werden. Abb. 1 gibt einen Überblick über mögliche Einsatzmöglichkeiten von Blogs für verschiedene Unternehmensbereiche:
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Unternehmensinfrastruktur • Kollaboration (Team- & Projektblogs) und Kommunikation (Microblogs)
• Informationsverbreitung (Blogs)
Personalmanagement • Personalkommunikation (Interne Blogs) • Ansprache von/ Interesse wecken bei möglichen Bewerbern (Externe Blogs)
• Steigerung von Mitarbeitermotivation und Loyalität, Verbesserung der Unternehmenskultur (Interne/ externe Blogplattformen)
Technologieentwicklung • Echtzeit-Kollaboration und –Kommunikation (Team- & Projektblogs) • Online-Beobachtung von Technologie- & Produkttrends, Partner • Abbildung/ Entwicklung von Wissen und Expertise (Expertenblogs) (Blog-Monitoring)
Beschaffung • Suche nach geeigneten Partnern und Zulieferern (Externe Blogs, Blog-Monitoring) • Koordination mit Zuliefern z.B. bzgl. Logistik (Projektblogs)
• Evaluierung von Partnern/ Produkten z.B. bzgl. Qualität und Verlässlichkeit (Blog-Monitoring)
Beschaffungslogistik
Produktion
Distributionslogistik
Marketing &Vertrieb
• Koordination interner und externer Logistikfunktionen (Projektblogs, Microblogs) • Echtzeit-Informationen für Management und Controlling (Interne Blogs)
• Kontrolle und Koordination von Produktionsprozessen (Blogs, Microblogs) • EchtzeitInformationskanal für Management und Vertriebsfunktionen (Blogs)
• Koordination interner und externer Logistikfunktionen (Projektblogs, Microblogs) • Echtzeit-Informationen für Management und Controlling (Interne Blogs)
• Externe Kommunkation an Multiplikatoren, Händler, Endkunden, Investoren (Blogs, Microblogs) • Kommunikative Ergänzung bestehender Vertriebskanäle (Blogs, Microblogs)
Kundendienst
• Beobachtung von Kundenzufriedenheit (Blogs, Blog-Monitoring) • Aufdeckung von Qualitätsproblemen (Blogs, BlogMonitoring) • Plattform für KundenSelbsthilfe (Blogs)
Blog-unterstütztes Versorgungskettenmanagement
Abb. 1: Blogs in der Wertschöpfungskette
In der externen Unternehmenskommunikation werden Blogs besonders häufig für das Produkt- und Personalmarketing eingesetzt – zwei Einsatzgebiete, die hier noch näher beleuchtet werden sollen. Produktblogs dienen dem Ziel, über ein konkretes Produkt zu informieren und darüber hinaus einen Diskurs mit Nutzern und potenziellen Käufern anzustoßen. Neben dem Informationsnutzen können Unternehmen dabei vor allem von Nutzerfeedback zu dem entsprechenden Produkt sowie von einem Informationsaustausch unter den Nutzern profitieren. Im Personalmarketing haben – vor allem im deutschsprachigen Raum – sogenannte Recruiting Blogs an Bedeutung gewonnen. Durch den Einsatz von Social Media können Unternehmen darüber inzwischen frühzeitig auch längerfristige Beziehungen zu potenziellen Bewerbern aufbauen. So ermöglichen RSS-Feeds in Blogs und begleitende Podcasts einem Unternehmen das Arbeits- und Karriereumfeld über einen längeren Zeitraum und in seiner ganzen Komplexität darzustellen. Der Einsatz von Blogs im Personalmarketing kann 221
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dabei drei Ziele haben, die durch spezielle Karriereblogs aber auch mit Einzelbeiträgen auf allgemeinen Unternehmensblogs verfolgt werden können (König 2009a): Tabelle 1: Ziele von Blogs im Personalmarketing
I: Employer Branding/Schärfung des Unternehmensprofils Durch Hintergrundinformationen zu Themenschwerpunkten und Einsatzgebieten kann ein Unternehmen sich für bestimmte Aufgabenfelder für die Karrierewahl empfehlen. Bewerber können sowohl ihre Interessen als auch ihre Fähigkeiten mit dem dargestellten Bild abgleichen und auf Wunsch gar in diese Richtung entwickeln. Unternehmen profitieren dabei von einem Prozess der Selbstselektion, da eingehende Bewerbungen von vornherein besser auf ausgeschriebene Stellen und damit verbundene Berufsbilder abgestimmt sind. II: Veröffentlichung von Karriere- und Stelleninformationen Die aktive Kommunikation von Stellenangeboten, Workshops für Studenten und Absolventen, Bewerbungsfristen oder auch ausgeschriebenen Themen für Abschlussarbeiten erhöht das Bewusstsein über Karriereoptionen bei potenziellen Bewerbern. Dies kann zu einer Steigerung der Bewerberzahlen führen und andere Recruiting-Aktivitäten wie Messen oder Medienwerbung ergänzen. III: Bewerberbetreuung und Herstellung von Transparenz in Bewerbungsprozessen Klar kommunizierte Hintergrundinformationen beispielsweise zu Bewerbungsprozessen und Auswahlkriterien, aber auch allgemeine Hinweise zu häufigen Fehlern bei Bewerbungen oder Einladungen zu vorbereitenden Workshops können mit wenig Aufwand das Bild eines Unternehmens bei den entsprechenden Zielgruppen des Personalmarketings verbessern und gleichzeitig die Qualität der eingehenden Bewerbungen steigern. 222
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6. Das Daimler-Blog 2B
Das Daimler-Blog ist das offizielle deutschsprachige Unternehmensblog der Daimler AG. Es ist in der Unternehmenskommunikation angesiedelt und wird dort von der Abteilung Web Communications betreut. Der folgende Teil wird kurz in die Hintergründe des Daimler-Blogs einführen sowie einen Überblick über Erfolge und Erfahrungen geben. Geschichte und Strategie des Daimler-Blogs 6B
Das Daimler-Blog ist seit dem 16. Oktober 2007 online und war zur Zeit seiner Einführung das erste Unternehmensblog eines DAX-30-Konzerns. Ziel des Daimler-Blogs ist es, unter dem Motto „Einblicke in einen Konzern“ die Größe und Vielfalt des Unternehmens darzustellen und durch persönliche Beiträge von Mitarbeitern in Beziehung zu verschiedenen Anspruchsgruppen zu treten. Beitragen können alle Mitarbeiter, die sich zu unternehmensbezogenen Themen äußern und in einen Dialog mit der Öffentlichkeit treten möchten. Im Vordergrund steht dabei das Prinzip der Freiwilligkeit; ein Redaktionssystem oder eine langfristige Themenplanung gibt es nicht. Damit steht dieser Ansatz auch nicht im Gegensatz zur „One-Voice-Policy“ des Unternehmens, da explizit die Meinungsvielfalt im Unternehmen in Abgrenzung zur offiziellen Unternehmensposition dargestellt wird. Die Inhalte des Daimler-Blogs sind entsprechend der Hintergründe der beteiligten Mitarbeiter sehr abwechslungsreich. Einblicke in aktuelle Forschungsprojekte, Eindrücke von Veranstaltungen und Messen sowie Berichte über soziale Aktivitäten und Vorstellungen verschiedener Arbeitsumgebungen und Karrieremöglichkeiten gehören zu den größten Themenbereichen. Dabei fällt auf, dass hier Themen im Vordergrund stehen, welche nur selten oder gar nicht den Weg in die klassischen Medien finden. Erfolge des Daimler-Blogs 7B
Zum Start des Daimler-Blogs sorgte die umfassende Berichterstattung der Printmedien (u. A. Süddeutsche Zeitung, Horizont) innerhalb kurzer Zeit für Bekanntheit. Der Prozess, sich in der Blogosphäre zu etablieren, dauerte hingegen wesentlich länger. Inzwischen hat es das Blog aufgrund seiner vielfälti223
KOMMUNIKATION UND ARBEITSFORMEN
gen Inhalte und seiner Autoren geschafft, eine Stammleserschaft aufzubauen. Mit zunehmender Frequenz werden Beiträge des Daimler-Blogs auf anderen Blogs diskutiert, und die Zahl der durchschnittlichen Kommentare je Beitrag ist von anfangs unter sieben auf mittlerweile über neun gestiegen. Parallel haben sich die Zugriffszahlen mit mittlerweile über 40.000 Besuchern und 80.000 Zugriffen monatlich im Vergleich zu den Anfangsmonaten mehr als verdreifacht. Diese Entwicklung hat auch dazu geführt, dass das Daimler-Blog in verschiedenen Blog-Rankings wie Wikio (Topblogs) und Rivva (Leitmedien) inzwischen regelmäßig zu den 100 einflussreichsten deutschen Blogs gezählt wird. Das Daimler-Blog wurde im Juni 2008 mit dem Best-of-CorporatePublishing-Award ausgezeichnet, wobei die Juroren das Blog aufgrund seiner Vielfalt und Authentizität als Ausnahmeerscheinung unter den Corporate Blogs im deutschsprachigen Raum würdigten. Auch im internationalen Vergleich hat sich das Daimler-Blog Respekt verschafft und wurde beispielsweise vom Financial Times Blog Index 2009 zu den dreißig erfolgreichsten Unternehmensblogs weltweit gezählt. Erfahrungen mit dem Daimler-Blog 8B
Der Erfolg eines Unternehmensblogs ist nur bedingt steuerbar, da die Authentizität der Inhalte und das freiwillige Engagement der Mitarbeiter Schlüsselfaktoren für die Akzeptanz in der Blogosphäre sind. Allerdings gibt es darüber hinaus eine Reihe von Faktoren, die vom Unternehmen selbst konkret beeinflusst werden können – drei davon sollen hier angerissen werden. Im schnelllebigen Internetzeitalter scheitern viele Unternehmensblogs an überzogenen Erwartungen. Da Blogs aber von persönlichen Beziehungen zwischen Autoren bzw. Mitarbeitern und Lesern leben, erfordert die Einrichtung eines Blogs Geduld, um ein Lesernetzwerk entstehen zu lassen. Von Bedeutung ist dabei das Phänomen des ‚Corporate Blog Life Cycle’. Dabei sorgt die hohe mediale Aufmerksamkeit zu Beginn und die erhöhte Startmotivation der Beteiligten für einen scheinbar schnellen Erfolg bezogen auf Verlinkung und Besucherzahlen. Die Aufmerksamkeit ebbt jedoch schnell ab und es wird erst langfristig ersichtlich, ob ein Blog angenommen wird oder nicht. Abb. 2 zeigt die Entwicklung der Verlinkungspopularität des Daimler-Blogs und die darauf projizierten Phasen des Corporate Blog Life Cycle.
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140 Technorati Authority Links) Reputation (Eingehende
120 100 80 60 40 20
Hype
Korrektur
Reputation
0 1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 23 25 27 29 31 33 35 37 39 41 43 45 47 49 51 53 55 57 59 61 Woche (nach Start)
Abb. 2: Der Corporate Blog Life Cycle am Beispiel des Daimler-Blogs
Mit steigender Zahl und Bandbreite von Social-Media-Angeboten hat in den letzten Jahren die Verbindung zwischen verschiedenen Kommunikationskanälen an Bedeutung gewonnen. Die wachsende Beliebtheit des MicrobloggingDienstes Twitter, das Angebot an Publikationsplattformen für die verschiedensten Inhalte von Videos bis Powerpoint-Präsentationen und die Verfügbarkeit von offenen Schnittstellen (APIs) haben es ermöglicht, die verschiedenen Kommunikationsaktivitäten aufeinander abzustimmen und technisch zu integrieren. Unternehmen können dadurch Informationen breiter und mehrdimensionaler darstellen und stärker von Netzwerkeffekten profitieren. So resultiert beispielweise die Einbettung eines Videos in einen Beitrag in einer deutlichen Steigerung der Verweildauer. Zudem können Leser durch Videos und Bilder emotional vielfältiger angesprochen und die Botschaften so intensiver vermittelt werden. Dieser Aspekt war besonders wichtig als das Daimler-Blog zu seinem zweijährigen Bestehen ein neues Layout erhielt (siehe Abb. 3 und Abb. 4). Bei der Neugestaltung gehörte es daher zu den Prioritäten, die TwitterAktivitäten des Konzerns deutlich hervorzuheben, eine reibungslose Integration von Inhalten auf YouTube, Slideshare, Flickr und anderen Plattformen zu gewährleisten und die Interaktivität durch umfangreichere Bookmarking- und Empfehlungsfunktionen sowie ein neues Bewertungssystem und eine bessere Darstellung beliebter Blogbeiträge weiter zu erhöhen. 225
KOMMUNIKATION UND ARBEITSFORMEN
Abb. 3: Das Daimler-Blog im alten Layout
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Abb. 4: Das Daimler-Blog im neuen Layout
Ein Unternehmensblog eignet sich besonders gut, um Themen für Internetsuchen zu „besetzen“. Am Beispiel des Daimler-Blogs zeigt sich beispielsweise, dass die hohe Relevanz von Blogs für Google und andere Pulsgeber des Internets es ermöglicht, durch Karrierethemen auf dem Blog die Aufmerksamkeit potenzieller Bewerber auf sich zu ziehen. Ein Viertel der über Suchmaschinen generierten Besuche bezieht sich auf Karriereaspekte. Im Themenfeld Studium und Ausbildung ist es dem Blog zum Beispiel gelungen einige wichtige Suchbegriffe zu besetzen. Besonders prominent sind dabei Suchen rund um die Themen „KFZ-Mechatroniker“, „Berufsakademie“, „Daimler Student Partnership“ und „Assessment Center“. Angesichts eines intensiven Wettbewerbs um beispielsweise Ingenieure und Naturwissenschaftler, wird die Fähigkeit, bestimmte Begriffe und sogar Berufe im Internet mit dem eigenen Webauftritt zu verknüpfen, somit zu einem deutlichen Wettbewerbsvorteil im Wer227
KOMMUNIKATION UND ARBEITSFORMEN
ben um Nachwuchskräfte (König 2009a). Aber auch für diese strategische Nutzung stellen Freiwilligkeit und Authentizität der Beiträge wichtige Erfolgsfaktoren dar. Diese Erfahrungen sind auch auf andere Themenbereiche erweiterbar, für die sich durch gezielte Veröffentlichungen von Beiträgen ein Unternehmensblog und dadurch letztendlich das Unternehmen prominent und zielgruppenrelevant in Suchmaschinen platzieren lassen.
7. Zusammenfassung Die Einrichtung eines Unternehmensblogs ist ein komplexes und oft kräftezehrendes Unterfangen. Häufig blockieren interne Skepsis und das Festhalten an etablierten Unternehmensprozessen die schnelle und effektive Einführung von Blogs in Unternehmen. Besonders größere Unternehmen haben daher oft Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Projekten im Web 2.0, obwohl gerade sie interessante Themen, Inhalte und Anknüpfungspunkte haben. Oft wird auch der Aufwand für den Betrieb eines solchen Blogs unterschätzt. Unternehmen müssen jedoch in der sich wandelnden Medienlandschaft zunehmend beziehungsintensivierende Kommunikationskanäle für sich entwickeln, um Botschaften und Informationen bei Anspruchsgruppen zu platzieren. Dazu sind die verschiedenen Elemente von Social Media, welche auf persönlichen Kontakten und Netzwerkeffekten basieren, besonders gut geeignet. Unternehmensblogs sind dabei zwar ein oft genanntes neues Kommunikationsmittel, aber aufgrund ihrer Komplexität und der großen Einsatzbreite auch ein nur selten verstandenes. Die Daimler AG zählt in Deutschland zu den Vorreitern bei der Nutzung von Unternehmensblogs. Mit dem Daimler-Blog als eigenem Kanal in die Blogosphäre sammelt das Unternehmen seit Oktober 2007 wertvolle Erfahrungen im Umgang mit Blogs sowie den Möglichkeiten digitaler Beziehungspflege. Das Unternehmen hat erkannt dass Erfahrungen im Umgang mit den Nutzergruppen des Web 2.0 zukünftig zu den Kernkompetenzen der Unternehmenskommunikation gehören müssen und Social Media deren verfügbares Instrumentarium effektiv erweitert. Zu den wichtigsten Erkenntnissen aus den zwei Jahren Blogpraxis zählt dabei vor allem die Notwendigkeit einer 228
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langfristigen und verbindlichen Strategie. Engagement in der Blogosphäre und generell im Web 2.0 braucht einen langen Atem. Der Erfolg stellt sich nicht über Nacht ein, denn Vertrauen muss erarbeitet werden. Dabei gilt es auch zu bedenken, dass es nur beschränkte Möglichkeiten zum Ausstieg gibt. Aus Vertrauensbeziehungen zu Anspruchsgruppen kann man sich nur schwer zurückziehen. Die Einstellung eines Unternehmensblogs hätte deutliche Konsequenzen für die Online-Reputation des Unternehmens. Gleichzeitig machen aber die Möglichkeiten des Agenda-Settings und des Besetzens von Themen im Internet sowie die Erschließung neuer bzw. auf traditionellen Wegen nur noch schwer erreichbarer Zielgruppen Unternehmensblogs zu einem Instrument, welches auch in Deutschland weiter an Bedeutung für die Unternehmenskommunikation gewinnen wird. Fingerspitzengefühl im Umgang mit Bloggern und der Mut, vermehrt persönliche Beziehungen zu Anspruchsgruppen zuzulassen und somit aus der äußerlichen Anonymität der traditionellen Pressesprecher-Gatekeeper-Beziehung herauszutreten, gehören dabei zu den Erfolgsfaktoren.
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8. Literatur Fleck, M./Kirchhoff, L./Meckel, M./Standevska-Slabeva, K.(2007): Applications of Blogs in Corporate Communication. Studies in Communication Sciences, 7, 227-245. Institut für Demoskopie Allensbach 2008. Allensbacher Computer- und Technikanalyse ACTA 2008, Allensbach, Institut für Demoskopie Allensbach. König, N. (2009a). „Einblicke in einen Konzern“: Unternehmensblogs als Anlaufstelle für Bewerber am Beispiel des Daimler-Blogs. In: Hohenstein, A. & Wilbers, K. (eds.) Handbuch E-Learning. Köln: Deutscher Wirtschaftsdienst. König, N. (2009b). What makes corporate blogs successful? A cross-cultural empirical study of corporate blog characteristics. Proceedings of the COST Action 298 Conference 2009. McAffee, A. (2008). Eine Definition von Enterprise 2.0. In: Buhse, W. & Stamer, S. (eds.) Enterprise 2.0 – Die Kunst loszulassen. Berlin: Rhombos Verlag. Porter, M. E. 2001. Strategy and the Internet. Harvard Business Review, 79, 62-78. Puttenat, D. (2007). Praxishandbuch Presse- und Öffentlichkeitsarbeit – Eine Einführung in professionelle PR und Unternehmenskommunikation, Wiesbaden, Gabler. Schmidt, J. (2008). Weblogs in Unternehmen. In: HASS, B. H., WALSH, G. & KILIAN, T. (eds.) Web 2.0: Neue Perspektiven für Marketing und Medien. Berlin: Springer. Zerfass, A./Boelter, D. (2005). Die neuen Meinungsmacher: Weblogs als Herausforderung für Kampagnen, Marketing, PR und Medien, Graz, Nausner & Nausner.
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Ausblick
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19 Organisation x.0 – Leben und Arbeiten in 2020 Neue Führungsstrategien für Patchwork-Identitäten, die Generation 60/90 und Human Resources als Herz in fluiden Unternehmen
von Sven Gábor Jánszky Sven Gábor Jánszky ist derzeit einer der innovativsten Trendforscher in Deutschland und Leiter des „2b AHEAD ThinkTanks“. Auf seine Einladung treffen sich bereits seit 2003 die CEOs und Innovationschefs der deutschen Wirtschaft. Unter seiner Leitung entwerfen sie Zukunfts-Szenarien und Strategieempfehlungen für die kommenden 10 Jahre. Sein Buch „2020 – So leben wir in der Zukunft“ zeichnet ein Bild von Deutschland im Jahr 2020. Jánszky coacht Manager und Unternehmen in Prozessen des Trend- und Innovationsmanagements, führt Kreativprozesse zur Produktentwicklung und ist ein gefragter Keynotespeaker auf Strategietagungen.
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AUSBLICK
1. Organisation x.0 Es wird im Jahr 2020 exakt zehn Jahre her sein, dass die Generation der Digital Natives in unseren Unternehmen erstmals die Mehrheit stellen. Im Jahr 2010 haben sie die vorher dominierende Generation der „Baby Boomer“ vom Spitzenplatz verdrängt. Nun, zehn Jahre später, erobern die Digital Natives die Führungspositionen. Und mit ihnen verändern die Mixed Realities die Arbeitswelten des Jahres 2020. Der Begriff bezeichnet eine sich überlappende Chimäre aus Realität und digitaler Information. Dabei wird die reelle, physische Welt mit digitalen Daten bereichert („Augmented Reality“). Eines der ersten Einsatzgebiete solcher „Mixed-Reality“-Systeme sind bereits heute Datenbrillen, mit denen Ingenieure zusätzliche Informationen über Objekte in ihrem Sichtfeld erhalten. Und es überrascht Sie vermutlich auch nicht, dass die Militärs bereits seit einiger Zeit mit virtuellen Simulationen von Kampfszenarien arbeiten und in virtuellen Umgebungen die reale Zerstörungskraft ihrer neuen Waffen testen. So wie beim Militär werden mehr und mehr auch unsere Arbeitsplätze aussehen. In so genannten Virtual Decision Rooms, also virtuellen Kommandoständen, lassen sich binnen Sekunden Ersatzteile testen, Zulieferer als Berater zuschalten, Teamwork und sensible Handgriffe bei Produktion und Reparatur trainieren. Schon lange vor dem Jahr 2020 werden diese digital erweiterten Sinneswahrnehmungen den Massenmarkt erreichen. Die Miniaturisierung und der Preisverfall von Rechenleistung sorgen dafür, dass 3D-Displays und Mixed-RealityUmgebungen im Jahr 2020 fast jeden Bereich des Alltags bereichern, vor allem aber die Arbeitsplätze der Zukunft. Zugleich werden die ersten Geräte menschliche Emotionen verstehen und verarbeiten können. Insbesondere jene Geräte, die uns am Arbeitsplatz umgeben, werden über Sensoren in ihrer äußeren Hülle unsere Emotionen verstehen, vom Handy, über das Lenkrad und die Computertastatur bis zur Fernbedienung. Maschinen reagieren dann anders, wenn ihr Besitzer ruhig und gelassen ist, als wenn er hektisch agiert. Solcherart Verlängerungen realweltlicher Geschäftsmodelle sind gemeint, wenn wir prognostizieren, dass die Nutzung virtueller Welten einen deutlichen Mehrwert bieten wird.
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2. Neue Erwerbsbiografien Doch Technologie führt bekanntlich nicht zwangsläufig zu einem Wandel der Werte und Bedürfnisse der Menschen. Aus diesem Grund ist es wesentlich, zusätzlich einen zweiten Trend zu betrachten, der für die Entwicklung der kommenden Jahre prägend scheint. Es ist jene Entwicklung, die zu PatchworkIdentitäten in den Erwerbsbiografien führt. Prägend dabei sind die Projektarbeiter. Sie kennen keine 38-Stunden-Woche, keine geregelte Kaffee- und Mittagspause, keine Hausschuhe im Büro, keine Prämie oder Lohnsteigerung aufgrund langjähriger Betriebszugehörigkeit. Sie wechseln ihre Arbeitgeber oft und schnell. Sie gehören zu jener Creative Class, nach der seit Richard Floridas „The Rise of the Creative Class“ (Florida 2002) Politiker, Wirtschaftsförderer und Trendforscher suchen. Sie ist unter uns und wächst ständig. Schon heute sind wir umgeben von einem Heer an Selbstständigen, Kleinstunternehmern, Zeitarbeitern und Entrepreneuren. Dass diese Kreativarbeiter von vielen der Politiker und Wirtschaftsförderer dennoch nicht gesehen und verstanden werden, hat einen einfachen Grund: Sie suchen falsch! Welche Ressourcenverschwendung! Denn nicht ihre Kreativität charakterisiert jene neu entstehende Masse der Projektarbeiter, sondern ihre Arbeitsweise und ihr Verständnis der Arbeit als gestaltbares Element der Selbstverwirklichung in ihrer Patchwork-Biografie. Nicht nur Partner, Kinder und Wohnorte werden zu Mosaiksteinen des individuellen BiografiePatchworks sondern vor allem Jobs, Tätigkeiten und Projekte. Damit unterscheiden sich Projektarbeiter wesentlich von ihren Eltern und den Vertretern der klassischen Industrie- und Angestelltenkultur. Während es denen um den Aufstieg durch Hierarchiestufen und Lohngruppen ging, geht es den neuen Projektarbeitern um Herausforderungen, Lifetime Balance und Storys. Der zentrale Treiber ist die persönliche Herausforderung und deren Verwertbarkeit auf dem Markt der guten Geschichten. In den Trendstudien des forward2ThinkTanks der vergangenen Monate sind vor allem drei Kriterien beschrieben worden, die Unternehmen für diese Art von neuen Projektarbeitern interessant machen:
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AUSBLICK
1. Völlige Flexibilität in der Arbeitszeit. 2. Neue Herausforderung und Mitgestaltung der Zukunft. 3. Auflösung der Grenze zwischen Familien-Cocon und Company-Cocon. Die Kinder können mit in die Firma kommen. Sie gehen in die Company International School. Der zweite wesentliche Unterschied zwischen Industrie-/Angestelltenkultur und den neuen Projektarbeitern ist die Dimension der Kontinuität. Sie spielt im persönlichen Empfinden nur noch eine untergeordnete Rolle. Sie kommt immer dann zum Tragen, wenn aus Rücksicht auf Partner, Kinder und Lebensumstände Kompromisse zu schließen sind. Dann allerdings bildet das Kontinuum zwischen Abwechslung und Kontinuität ein ständig präsentes Spannungsfeld, das zu einem der zentralen Probleme des Lebens und des Alltags wird.
3. Nur noch 40 % Patchworker, 30 % Festangestellte? Im Jahr 2020 wird diese Patchwork-Kultur unter den Erwerbsbiografien zur Blüte kommen. Die Studie „Expedition 2020“ von Deutsche Bank Research beziffert den Anteil dieser Art von Projektwirtschaft an der gesamten Wertschöpfung in Deutschland im Jahr 2020 mit 15 %. Zum Vergleich: Derzeit beträgt die Projektwirtschaft gerade mal 2 % der gesamten Wertschöpfung in Deutschland. Ein Wachstum von 750 % (Hofmann 2008)! Noch dramatischer erscheint der Wandel, wenn nicht das Bruttoinlandsprodukt, sondern die Beschäftigungszahlen als Basis der Prognose dienen. Der Anteil jener Menschen, die in befristeten Verträgen arbeiten, wird bis zum Jahr 2020 rasant steigen auf bis zu 40 % der arbeitenden Bevölkerung. Die daraus entstehenden „Patchwork-Biografien“ sind diesen Projektarbeitern keineswegs aufgezwungen. Zwar handelt es sich um genau jene Zustände, die die heutige Arbeitsmarktpolitik als „prekäre Arbeitsverträge“ bezeichnet, doch prekär daran ist allenfalls, dass weder Politik noch Gewerkschaften das Bedürfnis der Menschen nach dieser Projektarbeit sehen. Die Honorarverträge 236
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dieser Projektarbeiter werden höchst individuell sein. Je nach persönlicher Lage werden die Arbeitszeiten flexibel vereinbart. Die Honorare für Projektarbeiter bestehen zum Großteil aus einem geringen Basislohn, der zum Bestreiten der nötigsten monatlichen Ausgaben ausreicht, sowie verschiedenen Erfolgsboni und Unternehmensbeteiligungen (vgl. Horx 2005).
4. Ihr Unternehmen muss Magnet für freie Radikale werden Wer den Projektwirtschafts-Trend konsequent weiter denkt, muss früher oder später unweigerlich zur Frage kommen, welche Auswirkung die PatchworkIdentitäten für die Kompetenz und das Wissensmanagement von Unternehmen haben. Deren zentrale Human-Resources-Herausforderungen werden darin bestehen, jene hoch spezialisierten Experten in das Unternehmen zu bekommen, die fachlich und hinsichtlich ihrer Management Skills in der Lage sind als Innovatoren zu wirken, Spin-Offs aufzubauen und als Unternehmer zu denken. Nichts Neues für Sie? Nun: Wenn die Prognose stimmt, dann haben diese Personen kein Interesse, sich stark an Ihr Unternehmen zu binden. Sie kommen für ein attraktives Projekt, bleiben für zwei Aufbaujahre und ziehen weiter! Hoch spezialisierte Experten werden im Jahr 2020 im Zwei-Jahres-Takt von Unternehmen zu Unternehmen springen, dort jeweils Innovationsprojekte leiten und dann weiterziehen. Sie werden zu Jobnomaden, die wissen, dass sie begehrt und teuer sind. Dies führt zu größten Herausforderungen für die Unternehmen in der Gewinnung und Bindung dieser Spezialisten, im Management des Unternehmenswissens und in der Motivation dieser Führungskräfte: Wie viel Aus- und Weiterbildungsinvestition lohnt sich für Unternehmen, wenn die Jobnomaden sowieso bald wieder weg sind? Wie behalten Unternehmen das Wissen der Projektarbeiter im Unternehmen, auch wenn diese weitergezogen sind? Und wie sorgen Unternehmen dafür, dass hervorragende Experten nach einer „Außenrunde“ wieder zurück kommen?
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AUSBLICK
Bildlich gesprochen wird es im Jahr 2020 die Aufgabe der Unternehmen sein, als Magneten für „freie Radikale“ zu wirken. Eine der wesentlichen Strategien wird sein, diese „freien Radikale“ anzuziehen und strategisch wieder abzustoßen. So ungewöhnlich das klingen mag: Das „After Employment Marketing“ wird seine besten Mitarbeiter magnetartig gezielt abstoßen. Es wird dafür sorgen, dass Jobnomaden eine neue Aufgabe außerhalb erhalten, dass sie gehen, wenn es gerade „am Schönsten“ ist. Denn damit ist die Chance der Rückkehr am wahrscheinlichsten. Die HR-Abteilungen der Zukunft werden ein neues Sensorium dafür entwickeln, wann ihre besten Projektarbeiter abgestoßen werden sollten (vgl. Janszky 2009).
5. „Jobnomaden sind kompetenter“ Aus Sicht der Trendforschung liegt dahinter jedoch noch eine weitere Frage von gesellschaftlicher Relevanz: Welche Auswirkungen auf unsere Gesellschaft wird diese Projektwirtschaft haben, in der Erwerbsbiografien als Patchwork-Biografien funktionieren, in der Mitarbeiter von Unternehmen zu Unternehmen springen? Werden die immer oberflächlicher, weil sie nichts mehr richtig können? Interessant dazu ist eine Studie der Universität Dortmund, in der untersucht wurde, welcher Typ von Mitarbeitern kompetenter ist: Langzeitangestellte die eine lange Zeit den gleichen Job verrichten oder Jobnomaden, deren Erwerbsbiografie patchworkhaft viele Sprünge aufweist. Das Ergebnis ist so klar wie erstaunlich: Jobnomaden sind kompetenter (Klatt 2008)! Woran liegt das? Es liegt daran, dass Innovation und Kompetenz an jenen „Structural Holes“ (Burt 1995) entstehen, die die Unterschiede zwischen sozialen Schichten, Milieus, Branchen, Nationalitäten usw. darstellen. Alle funktionierenden Innovationsstrategien gehen intensiv auf die Suche nach diesen „structural holes“. Sie schauen sich ihre eigenen Verantwortungsbereiche bewusst und immer wieder aus anderen Blickwinkeln an. Sie suchen das Gespräch mit ganz und gar „artfremden“ Personen, um aus deren Sicht- und Denkweise Ideen für die eigenen Probleme abzuleiten. Sie beschäftigen sich intensiv mit branchenfremden Ideen, um neue Lösungen für eigene Probleme zu finden (vgl Jánszky 2008). 238
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Eine der zentralen Herausforderungen für die HR-Abteilung der Zukunft ist es, diese „structural holes“ mit einer strukturierten Methode gezielt zu überbrücken und damit für kontinuierliche Innovation im Unternehmen zu sorgen. Genau dieses Ziel verfolgen die in einem vorangegangenen Kapitel zitierten Open-Innovation-Ansätze. Verantwortungsvolle Unternehmen des Jahres 2020 werden diese strategische Chance nutzen, indem sie zwei Dinge lernen, die die sogenannte „Enterprise 2.0“ heute bereits verstanden hat: 1. Sie nutzen nicht nur die Arbeitsleistung in der Abteilung, in der die Leute arbeiten, sondern sie führen Mitarbeiter gezielt in Bereiche, in denen sie sich nicht auskennen (Überbrücken der structural holes). 2. Sie anerkennen und belohnen Mitarbeitern gezielt dafür, an Dinge zu denken, für die sie eigentlich nicht bezahlt werden. Dafür gibt es die verschiedensten Methoden, von Google (ein Tag pro Woche zur persönlichen Verfügung) über IBM (weltweite Innovation Jams) bis CoreMedia (firmenweiter Open Space und Prozesssteuerung über Unternehmensblogs).
6. Machen Sie Langzeitangestellte zu Jobnomaden Aber was heißt das für Ihre Langzeitangestellten? Geben Sie sich mit dem Ergebnis zufrieden, dass Ihre Langzeitangestellten wesentlich inkompetenter sind als jene Jobnomaden? Eine verantwortungsbewusste HR-Abteilung muss handeln! Ihr Ziel muss sein, Ihre Langzeitangestellten zu Jobnomaden zu machen! Damit ist nicht gemeint, dass Sie in großem Stil Entlassungen planen sollen. Aber Sie müssen in den kommenden Jahren Strategien entwickeln, mit denen Sie die Kompetenz Ihrer Langzeitangestellten auf das Niveau der Jobnomaden bringen. Die Lösung klingt vertraut: Jobrotation. Nichts anderes ist das viel besprochene „Google-Prinzip“. Der Onlineriese zwingt seine Mitarbeiter regelrecht, sich an einem Tag in der Woche mit komplett anderen Dingen zu beschäftigen als eigentlich auf der to-do-Liste stehen. Ein ganzer Tag pro Woche; 20 % der Arbeitszeit werden damit „vergeudet“!? Natürlich ist diese Vergeudung in
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AUSBLICK
Wahrheit ein Gewinn, denn die Kreativität, das Engagement und der Impact auf die „eigentliche“ Arbeit steigen dadurch enorm. Um eine permanente erfolgreiche Jobrotation zu organisieren, werden HRAbteilungen im Jahr 2020 die Querkompetenzen Ihrer Mitarbeiter in Erfahrung bringen und nutzen. Sie werden Mitarbeiter dazu zwingen, an mehreren Projekten gleichzeitig zu arbeiten. Sie werden im großen Umfang Sprünge für Mitarbeiter innerhalb des Unternehmens organisieren. Und vor allem werden sie dafür sorgen, dass Innovation als Arbeitsleistung anrechenbar und sanktionierbar wird. Diese Herausforderung bringt große Unternehmen natürlich in Vorteile gegenüber kleinen und mittleren Unternehmen. Hier sind Jobrotationen aufgrund der begrenzten Anzahl von Jobs schwieriger. Die Lösung für kleine und mittlere Unternehmen liegt in neuen Coopetition-Strategien: Mitarbeiter werden in Unternehmensnetzwerken rotieren, zu denen sich verschiedene kleinere und mittlere Unternehmen einer Wertschöpfungskette zusammenschließen werden. Ein unternehmensübergreifendes Lernen wird in Partnernetzwerken aber auch unter ehemaligen Konkurrenten organisiert.
7. Die neue Generation 60/90 Jahre Doch das viel besprochene lebenslange Lernen ist auch und vor allem eine mentale Frage. Wir sind nach wie vor geprägt vom Bild der Industriegesellschaft, in dem wir eine zeitige Lernphase haben, eine Ausbildung machen und dann einen „Abschluss“! Im wahrsten Sinne des Wortes, denn danach ist Schluss! Nach wie vor sortieren sich viele Hierarchien unserer Gesellschaft nicht danach, was ein Kandidat kann, sondern welchen Abschluss er hat. Im Jahr 2020 werden wesentlich mehr Hierarchien nach dem Können der Menschen geprägt sein. Universitäten und Ausbildungsstellen werden nach erfolgreicher Beendigung Zwischenzeugnisse statt Abschlüsse ausstellen. Auch diese Institutionen werden sich bewusst werden, dass sie nur Zwischenschritte in einem lebenslangen Lernprozess sind. Und Unternehmen werden das Wissen ihrer Mitarbeiter bilanzierbar machen. Wir werden einen Zustand anstre240
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ben, in dem Mitarbeiter ihre Kompetenzen nicht nur bei der Bewerbung für einen Job, sondern auch in einer Anstellung jährlich nachweisen müssen. Denn das Wissen jedes Einzelnen geht ein in die Wissensbilanz des Unternehmens und hat direkte Auswirkungen auf dessen Börsenwert. Einer der wesentlichen Treiber dieser Entwicklung ist die neu entstehende Generation 60/90. Denn seien wir ehrlich: Die heutigen Debatten um das Renteneintrittsalter sind überkommene Rituale einer alten Zeit. Im Jahr 2020 wird unsere durchschnittliche Lebenserwartung bis auf 90 Jahre gestiegen sein.1 100. Geburtstage werden in vielen Familien zur Normalität. Zugleich wird aber unsere immobile Pflegephase am Lebensende kaum gewachsen sein. Dies bedeutet, dass die Generation der 60- bis 90-Jährigen nicht nur rasant wächst, sondern auch ein sehr aktives Leben führt. Was wird deren größtes Problem sein? Die fehlende Anerkennung! Mit dem Ausscheiden aus dem Beruf verlieren die meisten Menschen von einem Tag auf den anderen das Gefühl, gebraucht zu werden, das Gefühl, wichtig zu sein und das Gefühl, sich selbst etwas beweisen zu können. All diese Dinge sind Quell jener Anerkennung, aus der Menschen jeden Alters ihr Selbstverständnis, ihre Motivation und ihren Lebensmut ziehen – kurz ihre Identität! Denn Identität geht nicht in Pension! Die wachsende Anzahl der Menschen jenseits des Rentenalters in unserer Gesellschaft des Jahres 2020 wird nicht aufhören, nach dieser Anerkennung zu streben. Dieses Streben führt einen Teil der Alten im Jahr 2020 zur neuen Spezies der „Value Worker“. Für sie wird ein Ende des Arbeitslebens nicht vorstellbar sein. Denn sie arbeiten nicht für Geld, sondern für das Gefühl, etwas Wichtiges zu tun. Aus diesem Grund werden sie nach einem Teilzeitjob und Projektarbeiten suchen, oder im Alter zwischen 50 und 60 Jahren nochmals eine neue Firma gründen. Sie sehnen sich danach, nicht nur Projekte zu steuern, sondern mit Dingen beschäftigt zu sein, die nur sie aufgrund ihrer Erfahrungen übernehmen können. Es geht darum, vernetzt und eingebunden zu sein. Auf den ersten Blick erinnern die Lebenswelten der Alten im Jahr 2020 an die Konsumgewohnheiten und Freizeitaktivitäten der heutigen Jugendlichen. Doch während vordergründig Neugierde, Abenteuerlust und Erfahrungshunger als Trei-
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Der Anstieg der Lebenserwartung ist seit Jahren konstant bei ca. ¼ Jahr pro Jahr.
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ber dieser Entwicklung erscheinen (Zukunftsinstitut 2007), liegt der Wesenskern tiefer: Das Kontinuum von Zugehörigkeit bis Anerkennung prägt die Sehnsüchte und Lebensweise im Jahr 2020. Doch was bedeutet das für Unternehmen?
8. Suchen Sie Intrapreneure und Wissensmanager! An dieser Stelle möchte ich Sie warnen. Warnen vor einem Trend: Auffällig viele große und mittlere Unternehmen haben in den vergangenen Monaten eigene, neue Innovationsabteilungen aufgebaut. Doch Vorsicht! Eine eigene Innovationsabteilung ist noch nicht innovativ. Nicht wenige der Unternehmen geben viele Hunderttausend Euros aus, um eigene Innovationsprozesse einzurichten, die anschließend von der Innovationsabteilung „bewacht“ werden. Die Folge: Jede kreative Idee, die nicht in die eingerichteten Schubladen passt, wird verdammt. Sie wollten Innovation und haben Gedankengefängnisse bekommen, bewacht von einer Abteilung „Gedankenpolizei“. Ich möchte Sie davor warnen: Verzichten Sie bitte auf starre Prozesse! Verzichten Sie auf quälende Festlegungen von Innovationsbereichen nach Metatrends! Innovationsfähigkeit ist keine Frage von Trends, sondern eine Frage der Einstellung. Sie brauchen keine Prozesse, sie brauchen innovative Mitarbeiter. Aus diesem Grund ist die zentrale Zukunftsaufgabe für Unternehmen die Ausbildung von Wissensmanagern und „Intrapreneuren“. Dies sind jene Menschen innerhalb von Unternehmen, deren Qualifikation es ist, unternehmensintern eine Lobby für eine Innovation zu kreieren. Sie agieren wie Entrepreneure, sie kämpfen wie Start-up-Gründer auf dem Markt, sie denken in Businessplänen und Bedürfnissen der Kunden, sie können das oft träge System großer Konzerne lesen und überlisten. Den Beruf des Intrapreneurs gibt es noch nicht. Er taucht nicht in Stellenausschreibungen auf und wird nicht ausgebildet, obwohl von diesen Personen wesentlich die Innovation in den Unternehmen ausgeht: Eine zentrale Herausforderung für HR-Abteilungen.
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9. Begreifen Sie Human Resources als Herz in fluiden Unternehmen! Wer diese Zukunftstrends ernst nimmt, der muss seine HR-Abteilung schon heute auf ihre Aufgabe als strategischer Innovationskoordinator des Unternehmens vorbereiten. Doch nach wie vor ist in vielen Unternehmen die strategische Bedeutung der Human Resources unterbelichtet. Viele HR-Abteilungen sind irgendwo zwischen Recruiting Center, Personaladministrator und Gehaltsabrechner angesiedelt. Dabei führt für die Zukunft an einer integrativen Verknüpfung der HR-Abteilung mit Produktions-, Marketing-, und Innovationsabteilungen vermutlich kein Weg vorbei. Die professionelle HR-Abteilung des Jahres 2020 organisiert die neue fluide Struktur der Unternehmen. Sie steuert und koordiniert Innovationsprozesse, sie denkt als „Digital Native“. Sie zwingt Mitarbeiter, sich parallel mit unterschiedlichen Projekten zu beschäftigen und organisiert die Sprünge für Mitarbeiter innerhalb des Unternehmens. Und je stärker sich die Krise der staatlichen Schulen ausprägt, organisiert die HR-Abteilung der Zukunft in Unternehmens- und Partnernetzwerken selbst KITAs und unternehmenseigene Privatschulen nach dem Beispiel heutiger Fußballinternate. Denn die Grundwahrheit für Organisationen 2.0 heißt: Der größte Wert ist die Kompetenz des Menschen. Es wird Zeit, dass Menschen und Organisationen dies erkennen!
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AUSBLICK
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