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German Pages 256 Year 2018
Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte Band 48
Auf dem Weg in den Verfassungsstaat Preußen und Österreich im Vergleich, 1740–1947
Herausgegeben von Thomas Stamm-Kuhlmann
Duncker & Humblot · Berlin
THOMAS STAMM-KUHLMANN (Hrsg.)
Auf dem Weg in den Verfassungsstaat
Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte Begründet von Johannes Kunisch Herausgegeben im Auftrag der Preußischen Historischen Kommission, Berlin von Prof. Dr. Wolfgang Neugebauer und Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll
Band 48
Auf dem Weg in den Verfassungsstaat Preußen und Österreich im Vergleich, 1740–1947
Herausgegeben von Thomas Stamm-Kuhlmann
Duncker & Humblot · Berlin
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Internet: http://www.duncker-humblot.de
Inhaltsverzeichnis Thomas Stamm-Kuhlmann Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Lothar Höbelt Protestanten in Österreich – Katholiken in Preußen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Esther-Beate Körber Städtische Gestaltungsmöglichkeiten zur Zeit Maria Theresias und Friedrichs des Großen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Marion Koschier Zur prekären Lage der Staatsfinanzen in Preußen und Österreich rund um den Wiener Kongress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Oliver Werner Misstrauen, Kommunikation und Diplomatie. Preußen und Österreich im Gründungsprozess des Deutschen Zollvereins 1828 bis 1834 . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Giulia La Mattina Die Bewegung „Jung Österreich“ und Preußen: Aspekte eines widersprüchlichen Verhältnisses zwischen Vormärz und Revolution 1848 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Michael C. Schneider Amtliche Statistik in Preußen und Österreich im 19. Jahrhundert im Spannungsfeld zwischen staatlichen Eigeninteressen und internationaler Konvergenz
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Frank Möller Eine zweite Chance des Konstitutionalismus von 1848. Die Regierungen Auerswald und Schmerling im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Jürgen Angelow Benedek und Moltke. Parallele Biografien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Ingo Löppenberg Aus dem Dschungel um die Welt zum Nordpol – Preußens und Österreichs wissenschaftlicher Wettkampf um Prestige anhand von Forschungsexpeditionen im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
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Inhaltsverzeichnis
Christoph Stamm † Karl Renner und Otto Braun – zwei republikanische Regierungschefs aus der Arbeiterbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Kurt Düwell Preußische Seehandlung und Österreichischer Lloyd. Zwei Varianten von „Staatsnähe“ (1772 – 1947) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Thomas Stamm-Kuhlmann Preußens Untergang und Österreichs Überleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
Einleitung Von Thomas Stamm-Kuhlmann Die Schöpfung einer soliden nationalstaatlichen Identität für die Republik Österreich gehört zu den bemerkenswertesten Phänomenen der europäischen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Was zwischen den Weltkriegen nicht gelungen war, hat in den Jahrzehnten seit 1945 zu einer Erfolgsgeschichte geführt.1 Österreich ist heute eines der wohlhabendsten und stabilsten Länder der Erde. Demgegenüber ist von Preußen nichts mehr übrig außer Museen, Archiven und einer nostalgischen Traditionspflege. Warum dies so kam und welchen Anteil Preußen indirekt an Österreichs Fortexistenz hatte, ist Thema für den letzten Beitrag in diesem Band. Zuvor aber werden zwei Jahrhunderte europäischer Geschichte bearbeitet, die sowohl durch die machtpolitische Rivalität der beiden Staatswesen, als auch durch eine Systemkonkurrenz charakterisiert sind. Die machtpolitische Rivalität, der sogenannte preußisch-österreichische Dualismus, ist ausdrücklich nicht Thema dieses Bandes. Im 18. Jahrhundert, verkörpert durch Maria Theresia und Friedrich den Großen, hat diese Rivalität die Köpfe der Zeitgenossen beschäftigt, im 19. Jahrhundert wurde sie erneut militärisch ausgefochten und parallel auf dem Boden akademischer Kontroversen noch einmal ausgetragen. Wer war schuld an den Kriegen der absolutistischen Ära, fragten die Gelehrten sich, aber auch: Wer war schuld am Versagen des Heiligen Römischen Reiches gegenüber der Herausforderung Napoleons? Aus der Antwort hierauf sollte sich klären lassen, wer im 19. Jahrhundert zur Führung in Deutschland berufen sein würde. Auch nachdem diese Rivalität 1866 auf kriegerische Weise entschieden war, blieb den Historikern noch viel zu tun, denn die neuen Gebilde des kleindeutschen Kaiserreiches und der k. u. k. Doppelmonarchie bedurften der Daseinsbegründung und der Orientierung. Da nun der Dualismus uns keine Antworten mehr abverlangt, könnte man sich fragen, aus welchem anderen Grund Preußen und Österreich miteinander in Beziehung gebracht werden sollen? Darauf lässt sich entgegnen, dass die beiden Staaten auch dann, wenn sie ihren Dualismus nicht kriegerisch austrugen, in einem friedlichen Wettbewerb gestanden haben. Es ist davon auszugehen, dass die Reformen in den beteiligten Staaten auch zur Bewältigung von Niederlagen in der gegenseitigen Auseinandersetzung oder doch zumindest mit dem Seitenblick auf Entwicklungsvor1 Vgl. Peter Thaler: The Ambivalence of Identity. The Austrian Experience of NationBuilding in a Modern Society. West Lafayette 2001, 180 – 188.
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sprünge des jeweils anderen in Gang gesetzt worden sind.2 Beide Machtgebilde haben ein Beispiel dafür gegeben, wie Mitteleuropa in Repräsentation, Verwaltung, Verfassung und Wirtschaft von der Frühen Neuzeit zur Moderne gelangen konnte. Was diese beiden Führungsmächte Deutschlands verwirklicht haben, ist nicht ohne Ausstrahlung auf das „Dritte Deutschland“ geblieben. Auch hier, in den deutschen Mittelstaaten, wurde man durch die Entwicklungen in den beiden großen Reichen mitgezogen. Es war überfällig, einen vergleichenden Ansatz auf diese beiden Staaten anzuwenden. Bisher finden sich vor allem Werke – nicht überraschenderweise sind es Sammelbände –, die Deutschland (seit dem Norddeutschen Bund) und Österreich (seit dem Ausgleich) in Beziehung setzen und auch die jeweilige Sicht aufeinander thematisieren.3 Die Harvard-Dissertation von Peter J. Katzenstein untersucht die Frage, warum kulturell so homogene Länder wie Deutschland und Österreich seit 1815 immer weiter auseinander gedriftet sind statt zusammen zu finden; in diesem Buch kommt der Begriff Preußen kaum vor.4 Im Gegensatz dazu betrachtet der vorliegende Band Deutschland vorwiegend als den Boden, auf dem sich Preußen und Österreich auseinandersetzen mussten. Die Betrachtung setzt bereits 1740 ein und endet erst mit dem so spektakulär unterschiedlichen Schicksal der Republiken Preußen und Österreich im 20. Jahrhundert. Beide Staaten werden so von ihrer Bindung an die Dynastie gelöst und als Staatsgebilde, die aus sich heraus eine innere Kohäsion entwickelt hatten, ernst genommen. Wie sehr die Position beider Staaten in der Staatengemeinschaft davon abhing, welche moralische Bewertung ihr Verhalten nach innen und nach außen erfuhr, wurde allerspätestens 1945 deutlich. Um sein Dasein als selbstständiger Staat zu sichern, musste Österreich zeigen, wie wenig deutsch es war. Diesen Beweis trat es dadurch an, dass es das Deutsche mit dem Preußischen identifizierte und sich so entdeutschen konnte, indem es sich entpreußte. Dieses Manöver hatte Adolf Hitler möglich gemacht, der ganz wesentlich die Identifikation Preußens mit Deutschland – und mit sich selbst – vorangetrieben hat. Gerade damit verdammte er Preußen zum Untergang. Wie das geschah, wird im letzten Beitrag des Bandes dargestellt. Der 300. Geburtstag Friedrichs des Großen hatte den Anlass gegeben, dass die Arbeitsgemeinschaft zur preußischen Geschichte (APG) ihre Jahrestagung im Herbst 2 Daran erinnert noch einmal Michael Hochedlinger: Abschied vom Klischee. Für eine Neubewertung der Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit. In: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 1(2001), 9 – 24, hier: 13. 3 Vgl. Helmut Rumpler (Hg.): Innere Staatsbildung und gesellschaftliche Modernisierung in Österreich und Deutschland 1867 bis 1914. Historikergespräch Österreich- Bundesrepublik Deutschland 1989, Wien 1991; Michael Gehler/Rainer F. Schmidt/Harm-Hinrich Brandt/Rolf Steininger (Hgg.): Ungleiche Partner? Österreich und Deutschland in ihrer gegenseitigen Wahrnehmung. Historische Analysen und Vergleiche aus dem 19. und 20. Jahrhundert (HMRG Beiheft 15), Stuttgart 1996. 4 Peter J. Katzenstein: Disjoined Partners. Austria and Germany since 1815. Berkeley/Los Angeles/London 1976.
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2011 in Berlin-Dahlem dem Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus gewidmet hat. In der Jahrestagung 2012 hat die APG den Strang der Untersuchung durch das 19. bis ins 20. Jahrhundert fortgesetzt. Während die übrigen Aufsätze aus Vorträgen auf den beiden Jahrestagungen entstanden sind, wurde der Beitrag von Christoph Stamm zur Abrundung der Thematik nachträglich eingeworben. Die Veröffentlichung wurde durch mannigfache Pflichten des Herausgebers in der universitären Selbstverwaltung verzögert. Jeder der Autoren war in der Regel in einem der beiden Staaten zuhause und musste sich die Verhältnisse im anderen erarbeiten. Auch dies ist eine Tatsache der heutigen Forschungslandschaft: Dass es zumindest im Bereich der Neuzeit nur wenige Historiker nördlich des Inn gibt, die sich mit der Geschichte Österreichs befassen, und dass die Geschichte der Habsburger Monarchie eher im nicht-deutschsprachigen Ausland betrieben wird als im Deutschland von heute. Verschiedene Kategorien von Untersuchungen sind entstanden. Neben dem Systemvergleich, wie ihn Lothar Höbelt, Esther-Beate Körber, Marion Koschier, Michael Schneider und Kurt Düwell angestellt haben, sind Parallelbiografien in der Reminiszenz an Plutarch verfasst worden (Jürgen Angelow, Frank Möller und Christoph Stamm) und drittens lässt sich der Wettbewerb beider Staaten im ideologischen Bereich (Giulia La Mattina), auf dem gemeinsamen Boden der Zollpolitik oder im internationalen Wissenschaftssystem beobachten (Oliver Werner und Ingo Loeppenberg). Die abschließende Klärung der Schicksale beider Staaten fand zuletzt, zwischen 1938 und 1947, wieder auf dem gemeinsamen Boden eines Deutschland statt, das beinahe nicht nur Preußen, sondern auch Österreich den Garaus gemacht hätte (Thomas Stamm-Kuhlmann). Es bleibt weiterer Forschung vorbehalten, die hier eher als Beobachtung von Symptomen zusammengetragenen Hinweise auf der Ebene einer höheren Begrifflichkeit zu verdichten. Doch auch jetzt lässt sich zeigen, dass ein Phänomen, das dem österreichischen Geheimprotestantismus gleichkam, in Preußen nicht existierte (Höbelt), dass die Politik der Landesherren in Preußen wie in Österreich vor 1800 gleichermaßen darauf abzielte, die Selbstverwaltung der Städte einzuschränken (Körber), dass die durch die napoleonischen Kriege ausgelöste Finanzkrise in Preußen eine Bürokratiereform erzwang, während man in Österreich den Weg zweier Währungsschnitte einschlug (Koschier). In der Zollpolitik verstärkt sich der Eindruck, dass Österreich hier nicht in erster Linie machtpolitisch überspielt wurde, sondern dass sich die inneren Hemmnisse seiner Finanzpolitik für Österreich nachteilig ausgewirkt haben (Werner). Der Blick auf den Anderen wurde auch von den österreichischen Liberalen des Vormärz und der Revolutionszeit gepflegt. Zunächst wurde darauf verwiesen, dass man in der Modernität mit Preußen gleichziehen könne und müsse, dann aber besannen sich gerade die Großdeutschen in der Paulskirche darauf, was der Staat der Habsburger schon immer für Deutschland geleistet habe (La Mattina). Im Scheitern waren sich die beiden „altliberalen“ Regierungschefs Rudolf von Auerswald und Anton von Schmerling ähnlich, die beide zwischen konservativen Herrschern und
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machtbewussten Parlamenten zu lavieren hatten, obwohl der eine (Auerswald) schon eine Verfassung vorfand, während der andere (Schmerling) diese erst noch schaffen musste (Möller). Andererseits sieht Angelow in den zu Beginn des 19. Jahrhunderts ausgebliebenen Reformen und der mangelnden Liberalisierung der österreichischen Gesellschaft den tieferen Grund für das Scheitern Ludwigs von Benedek in der Schlacht von Königgrätz, während das Gegenüber Helmuth von Moltke in einem seinen Begabungen entsprechenden Umfeld agieren konnte. Im Modernitätswettbewerb mit Preußen setzte Österreich auch seine Wissenschaftspolitik und besonders die prestigeträchtigen Nordpolexpeditionen ein. Mit Franz-Joseph-Land konnten österreichische Forscher die größte neu entdeckte Landmasse im nördlichen Eismeer benennen (Loeppenberg). Die Revolution 1918 fegte die Monarchien hinweg und eröffnete den Sozialdemokraten den Weg zur Macht. Doch die fast gleichaltrigen Sozialdemokraten Karl Renner und Otto Braun waren charakterlich völlig verschieden. Während der preußische Ministerpräsident Braun seine Niederlage gegenüber den Nationalsozialisten als endgültig ansah und Preußen als Staat verschwand, konnte der wegen seiner zahlreichen Kehrtwendungen vielfach kritisierte Kanzler Renner sein Leben als österreichischer Bundespräsident beschließen (Stamm). In einer Betrachtung, die von der polnischen Teilung 1772 bis zur Auflösung Preußens 1947 reicht, hat Düwell nachgewiesen, dass Österreich weit erfolgreicher als Preußen darin war, eine privatwirtschaftliche Handelsschifffahrt mit globaler Ausstrahlung aufzubauen. Andererseits hat die preußische Seehandlung als Staatsbank den preußischen Staat sicher durch die Finanzkrisen geführt. Am Ende mussten alle preußischen Staatsunternehmen verkauft werden. Zu diesem Zeitpunkt war klar, dass es eine Bundesrepublik Deutschland und eine Republik Österreich geben würde, aber kein Preußen mehr. Die weltweite Unterstützung für die Unabhängigkeit Österreichs gründete sich auf die von den Nationalsozialisten behauptete, aber auch in der Weltöffentlichkeit akzeptierte Gleichsetzung des Hitlerismus mit dem Preußentum (Stamm-Kuhlmann). Dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz und seinem Direktor Prof. Dr. Jürgen Kloosterhuis ist für die Gastfreundschaft zu danken, mit der die APG aufgenommen wurde. Dr. Hedwig Richter half bei Planung und Organisation, Florian Gaube unterstützte sowohl die Abwicklung der Tagungen als auch die Herausgabe dieses Bandes. Den Beiträgern danken wir für die Geduld, mit der sie auf die Veröffentlichung gewartet haben.
Protestanten in Österreich – Katholiken in Preußen Von Lothar Höbelt, Wien I. Das Erbe der Ahnen Dem gerade in Österreich weitverbreiteten Klischee von la belle et la bête, das seinen Ausgang nimmt vom „unsittlichen Angebot“ Friedrichs II., Maria Theresia Schlesien für bloß 2 Millionen Taler abzukaufen, oder aber es sich mit Gewalt zu nehmen, steht als Kehrseite der Medaille der Kontrast gegenüber zwischen dem Freigeist Friedrich, der jeden nach seiner Façon selig werden lassen wollte, und der frommen, ja bigotten Maria Theresia. Sie beharrte als „Königin der Nacht“1 bis zuletzt auf der Monopolstellung der katholischen Kirche, zumindest in ihren Erblanden, und schreckte in Extremfällen nicht davor zurück, widerspenstige Protestanten in die entfernteren Regionen ihres Reiches zu deportieren, in die Schluchten des Balkan, das österreichische Sibirien… Bei aller Faszination des persönlichen Kolorits unserer Helden, scheint sich der tiefere Grund für den so unterschiedlichen Zugang zur Frage der konfessionellen Uniformität ihrer Staaten doch am besten durch einen Blick zurück in die Vergangenheit beider Dynastien zu erschließen, mit einer entscheidenden Weichenstellung, die in beiden Fällen im zweiten Jahrzehnt des siebzehnten Jahrhunderts anzusiedeln ist. Damals wechselte der Kurfürst von Brandenburg, Johann Sigismund, 1613 von der Religion seiner Untertanen, dem Luthertum, zum Calvinismus;2 diese Konversion, auch wenn „die politischen Motive“ dafür „als eher nachrangig anzusehen sind“,3 1 Es gibt zumindest Indizien, dass mit der Königin der Nacht in Mozarts Zauberflöte, die den Verlust ihres „Sonnenrades“ an Zarastro beklagt, auch eine Anspielung auf Maria Theresia verbunden ist; vgl. Marie-Louise von Plessen: Zur Konzeption und Visualisierung der Ausstellung. In: Zaubertöne. Mozart in Wien 1781 – 1791, Wien 1990, 19 – 26; hier 23; weniger plausibel erscheint mir die Interpretation, die Königin der Nacht verkörpere den drohenden Krieg gegen Frankreich; vgl. Gerda Lettner: Das Spannungsfeld zwischen Aufklärung und Absolutismus in der Ära Kaunitz (1749 – 1794), Ungedr. Diss. Salzburg 2010, 219. 2 Vgl. Theodor Schieder: Friedrich der Große. Ein Königtum der Widersprüche, Berlin o. J., 289 über „die Abweichung der reformierten Konfession des Herscherhauses von der Mehrheit der lutherischen Untertanen“ als „Voraussetzung einer innerprotestantischen Toleranz in Preußen.“; Anton Schindling: Friedrichs des Großen Toleranz und seine katholischen Untertanen. In: Peter Baumgart (Hg.): Kontinuität und Wandel. Schlesien zwischen Österreich und Preußen, Sigmaringen 1990, 257 – 272; hier: 258. 3 Wolfgang Neugebauer: Die Hohenzollern, Bd. 1: Anfänge, Landesstaat und monarchische Autokratie bis 1740. Stuttgart 1996, 136. Johann Sigismund hatte immerhin in Heidelberg studiert; doch die Erbansprüche – auf Kleve wie auf Ostpreußen – liefen über seine Frau Anna, eine überzeugte Lutheranerin. Nicht zu vergessen ist, dass der „große Kurfürst“,
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erfolgte im Kontext des Jülich-Klevischen Erbfolgestreits, der Brandenburg nicht bloß zum Nachbarn der Niederlande werden ließ, sondern mit Kleve auch eine mehrheitlich katholische Provinz einbrachte.4 „Von dem territorialen Zuwachs ging ein Zug zur Toleranz in die Gesamtstaatspolitik ein.“5 Sogar in der mehrheitlich protestantischen Grafschaft Ravensberg erhielt sich ein Franziskanerkloster in Bielefeld und als Unikum ein drittelparitätisches Damenstift.6 Wenige Jahre später sah sich der katholische Kaiser nach dem Prager Fenstersturz 1618 konfrontiert mit einer Rebellion seiner protestantischen Stände, die in Böhmen ihren Ausgang nahm, aber auch weite Teile der übrigen Erbländer erfasste.7 Damit beschritt Brandenburg-Preußen den „englischen Sonderweg“: Auch dort wurde der Toleranz, oder zumindest einer abgestuften Multikonfessionalität, mehrfach der Weg geebnet durch Monarchen, die sich von der etablierten Staatsreligion abwandten (wie Jakob II.) oder ihr als königliche Immigranten zumindest nicht von vornherein angehörten (wie Wilhelm von Oranien oder Georg von Hannover).8 Österreich hingegen folgte dem Beispiel des französischen Königreichs, oder rein zeitlich betrachtet: vielleicht war es Frankreich, das dem Beispiel der Habsburger folgte, als es die mit ihrem Widerstandsrecht prunkenden Hugenotten 1628 und 1685 schrittweise ihrer Sonderrechte beraubte und dann vertrieb, mit Nachwehen in den Kämpfen gegen die Camisards noch während des Spanischen Erbfolgekriegs. In Österreich, wenn man die zentraleuropäischen Territorien der Habsburger der Einfachheit halber ein wenig anachronistisch schon vor 1804 unter diesem Titel zusammenfassen will, fiel die Weichenstellung ebenfalls in das Jahr 1628, als Ferdinand II. – kurz bevor er auch für das Reich sein Restitutionsedikt erließ – seine Befugnisse als Landesherr im Rahmen des Augsburger Religionsfriedens erstmals extensiv ausschöpfte: Cuius regio, eius et religio: Danach waren alle Bewohner gezwungen, entweder zu konvertieren oder auszuwandern, auch wenn die tatsächFriedrich Wilhelm, ab 1646 selbst einige Jahre in der Schwanenburg in Kleve residierte (ebd. 150). 4 Die Rechte der Katholiken in Kleve und Mark bzw. der Protestanten in Jülich und Berg wurden nach der endgültigen Teilung der Herzogtümer im Religionsrezeß von Cölln 1672 abgesichert, der für Neuburg bzw. Brandenburg eine „Protektorenrolle“ im jeweils anderen Landesteil vorsah; vgl. Harm Klueting: Geschichte Westfalens. Das Land zwischen Rhein und Weser vom 8. bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn 1998, 143 f. 5 Anton Schindling/Manfred Rudersdorf: Kurbrandenburg. In: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hgg.): Die Territorien des Reiches im Zeitalter der Reformation und der Konfessionalisierung. Länder und Konfessionen 1500 – 1650, Bd. 2: Der Nordwesten, Münster 1990, 34 – 66; hier: 62. 6 Heribert Smolinsky: Jülich-Berg-Kleve. In: Schindling/Ziegler (Hg.), Territorien des Reiches II: Der Nordwesten 86 – 106; hier: 102. 7 Hans Sturmberger: Aufstand in Böhmen, Wien 1959; Joachim Bahlcke: Regionalismus und Staatsintegration im Widerstreit. Die Länder der böhmischen Krone im ersten Jahrhundert der habsburgischen Herrschaft, München 1994. 8 Komplexer blieb freilich das Verhältnis zu den Katholiken, nicht zuletzt auf Grund der Verhältnisse in Irland.
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liche Umsetzung dieser Bestimmungen, zumal in den böhmischen Ländern, erst nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges erfolgte, und auch dann wohl noch einige Jahrzehnte in Anspruch nahm.9 Zwar war die Krone Schweden, bemerkenswerterweise gerade die wenige Jahre später selbst zum Katholizismus konvertierende Königin Christina, anfangs durchaus bemüht, im Rahmen der Amnestiebestimmungen für ihre Verbündeten im Reich auch Glaubensfreiheit (oder ärger noch: Restitution der Rebellengüter !?) in den böhmischen Ländern durchzusetzen, doch davon blieb schließlich nur das Zugeständnis der drei großen sogenannten „Friedenskirchen“ in den schlesischen Erbfürstentümern,10 in zwei von drei Fällen erhalten gebliebene, monumentale architektonische Wunderwerke aus Holz, außerhalb der Stadtmauern, in erstaunlich kurzer Bauzeit fertiggestellt.11 Vor allem aber wurde im Westfälischen Frieden (Artikel V, § 38 des Osnabrücker Vertrages) den Mediatherrschaften, insbesondere den Piastenherzögen von Liegnitz, Brieg und Wohlau, die gut die Hälfte Niederschlesiens umfassten, die freie Religionsausübung gewährt. Wenn die Rede davon ist, dass die Bestimmungen des Westfälischen Friedens in der Folge allzu restriktiv ausgelegt wurden, so lag das vor allem daran, dass diese Herzogtümer 1675 nach dem Tod der letzten Piasten von den Habsburgern eingezogen wurden – ein Umstand, der später bei der Begründung der preußischen Ansprüche auf Schlesien durch Friedrich eine große Rolle spielte.12 Schon lange vor Friedrich nahm ein anderer „Roi-Connétable“, nämlich der schwedische König Karl XII., die Gelegenheit wahr, den Kaiser an den „wahren Verstand“ der Osnabrücker Paragraphen zu erinnern, als er 1706 mit 40.000 Mann in Sachsen auftauchte, einem Ansinnen, das Joseph I. – auf dem Höhepunkt des Spanischen Erbfolgekriegs – zu dem Stoßseufzer veranlasste, wenn der König von 9 Zu den Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Gegenreformation in Böhmen vgl. Alessandro Catalano: La Boemia e la riconqusta delle coscienze. Ernst Adalbert von Harrach (1598 – 1667) e la Contrariforma in Europa centrale, Rom 2005; zu Niederösterreich die ausgezeichnete, wenn auch leider ungedruckte Arbeit von Kurt Piringer: Ferdinands III. katholische Restauration, Phil. Diss. Wien 1950. 10 Helge Almquist: Königin Christina und die österreichische Protestantenfrage um die Zeit des westfälischen Friedens. In: Archiv für Reformationsgeschichte 36 (1939), 1 – 23; Jörg Deventer: Gegenreformation in Schlesien. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in Glogau und Schweidnitz 1526 – 1707, Köln 2003, 250 ff.; Arno Herzig: Reformatorische Bewegungen und Konfessionalisierung. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in der Grafschaft Glatz, Hamburg 1996. 11 In Schweidnitz spendeten die Grafen von Hochberg (spätere Herzöge von Pleß) 2000 Eichen für den Bau und erhielten deshalb eine Ehrenloge über dem Haupteingang zur Kirche; vgl. Aneta Augustyn: Spaziergang über den Friedensplatz, Schweidnitz 2012, 46, 51; außerdem kam es jenseits der Grenzen zum Bau von „Zufluchtskirchen“; vgl. Rainer Sörries: Von Kaisers Gnaden. Protestantische Kirchenbauten im Habsburger Reich, Wien 2008, 26 – 32, 100 – 109. Auf der anderen Seite wurden in den Erbfürstentümern, so schätzt man, an die 650 Kirchen den Protestanten weggenommen (ebd. 38). 12 Die Piasten waren mit Brandenburg durch einen Erbschaftsvertrag aus dem 16. Jahrhundert verbunden, der von den Habsburgern freilich nie anerkannt worden war.
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Schweden verlange, er selbst solle Protestant werden, so wüsste er nicht, was er antworten solle.13 Nach dem Abschluss der Altranstädter Konvention vom 1. September 1707 einigte sich der Kaiser mit den Schweden und den schlesischen Ständen im Breslauer Exekutionsrezess vom 8. Februar 1709 auf die Errichtung eines halben Dutzends zusätzlicher „Gnadenkirchen“, die jetzt auch aus Stein erbaut und mit Türmen versehen sein durften und z. B. in Hirschberg oder Landeshut bewusst nach dem Vorbild der Stockholmer Katharinenkirche erbaut wurden. Vor allem aber wurden nicht weniger als 125 Kirchen in den Mediatherrschaften restituiert; der 1702 gegründeten Breslauer Jesuitenuniversität stellte Joseph I. als Ausbildungsstätte die paritätisch geführte Liegnitzer Ritterakademie an die Seite.14 Joseph widerstand der Versuchung, die schwedische Niederlage bei Poltawa wenige Monate später, im Sommer 1709, zu einer Rücknahme seiner Konzessionen zu nützen; erst sein Bruder Karl VI. (1711 – 40) besann sich wieder auf eine äußerst restriktive Auslegung der eingegangenen Verpflichtungen, die wohl vor allem dort wirksam wurde, wo die Protestanten in der Minderheit waren: Die Zuziehung protestantischer Geistlicher von außerhalb der Gemeinde war an sogenannte „Permissionszettel“ der katholischen Pfarrer gebunden; zuweilen wurde von Evangelischen die Teilnahme an katholischen Feiern gefordert; das „Apostasie-Verbot“ belegte Übertritte zum Protestantismus mit Ausweisung; damit im engen Zusammenhang stand der Fragenkomplex der Mischehen; schließlich ging es um eine Kampagne gegen den Pietismus, der sich insbesondere in Teschen festgesetzt hatte. Es ergab sich die kuriose Situation, dass ausgerechnet der Verwalter des Freimaurers Franz Stephan von Lothringen, seit 1729 Besitzer von Teschen, durch seine rigorose Rekatholisierungspraxis, die angeblich junge Männer vor die Alternative von Zwangsrekrutierung oder Konversion stellte, 1736 einen „Bauerntumult“ hervorrief, der von Wien mit der Einsetzung einer weiteren „Reformationskommission“ beantwortet wurde.15 13 Dieter Mempel: Der schlesische Protestantismus vor und nach 1740. In: Baumgart (Hg.), Kontinuität und Wandel 287 – 306; hier: 290 f.; Charles Ingrao: In Quest and Crisis. Emperor Joseph I and the Habsburg Monarchy, West Lafayette 1979, 67; Max Lehmann: Staat und Kirche in Schlesien vor der preußischen Besitzergreifung. In: Historische Zeitschrift 50 (1883), 193 – 230; hier: 206, formulierte: „Josef I. gab, freilich erst nach schweren inneren Kämpfen, den Edelsteinen der spanischen Krone den Vorzug vor den Segenssprüchen des Papstes“ (mit dem er übrigens gerade im Krieg lag, wie zu ergänzen wäre). 14 Norbert Conrads: Die Durchführung der Altranstädter Konvention in Schlesien 1707 – 1709, Köln 1971; Frank Metasch: 300 Jahre Altranstädter Konvention. 300 Jahre schlesische Toleranz, Dresden 2007, 8 (Karte), 43 – 49, 69, 82 – 88 (Text); Sörries, Kirchenbauten 35 f. Die Teschener Gnadenkirche enthält eine kleine Ausstellung über die Stätten der Waldandachten in den Jahrzehnten zuvor. 15 Elisabeth Kovacs: Österreichische Kirchenpolitik in Schlesien 1707 bis 1790. In: Baumgart (Hg.), Kontinuität und Wandel 239 – 256, hier: 243 – 249; Lehmann, Staat und Kirche 216 ff., der erstmals „positive Zeugnisse für die Treubrüchigkeit der Habsburger“ (215) vorlegte und daraus die gewagte Schlussfolgerung ableitete: „Sollte die evangelische Lehre vor dem Untergange gerettet werden, so blieb nichts anderes übrig, als dass Schlesien den Besitzer wechselte.“ (ebd. 230).
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Neben dem schlesischen Sonderfall gab es noch einige kleinere Ausnahmen – und eine größere: Für den Ascher Zipfel, nördlich von Eger, dessen Zugehörigkeit zur böhmischen Krone die längste Zeit umstritten war, hatten der Kurfürst von Sachsen und die Herren von Zedtwitz eine Ausnahmebestimmung durchgesetzt: Der Gerichtsbezirk Asch blieb bis zum Ende der Monarchie der einzige mit lutherischer Mehrheit, die große, 1747 – 49 errichtete Dreifaltigkeitskirche fiel erst in den 1960er Jahren einer Sprengung zum Opfer.16 Innerhalb des Adels besaßen die Protestanten Niederösterreichs, die sich 1618/19 nicht der Rebellion angeschlossen, sondern Ferdinand II. gehuldigt hatten, das Privileg, mit ihren Familien – nicht aber ihren Bediensteten oder Bauern – bei ihrer Religion zu verbleiben. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts berief sich noch gut die Hälfte des niederösterreichischen Adels auf diese Bestimmung; eine Generation später (1674) war es nur noch rund ein Fünftel. Ein Jahrhundert später war dann auch der letzte unterennsische Edelmann der Existenz als marginalisiertes Kuriosum überdrüssig geworden: Ab 1764 war diese Bestimmung mangels Inanspruchnahme totes Recht geworden.17 Die große, historisch bedeutsame Ausnahme hingegen betraf das Königreich Ungarn, das nach 1683 von den Osmanen (zurück-)erobert worden war. Die Rekatholisierungspolitik der Habsburger war in Ungarn schon mehrfach auf Widerstand gestoßen. Der sogenannte Rakoczi-Aufstand ab 1703 – in dieser Beziehung eine gewisse Parallele zu den Camisards in Frankreich, aber mit anderem Ausgang18 – endete trotz der militärischen Niederlage der Rebellen 1711 mit einem Kompromiss, der sich als dauerhaft erweisen sollte, nämlich dem Frieden von Szatmár: Zum Unterschied von den böhmisch-österreichischen „Erblanden“ innerhalb der Reichsgrenzen, blieb in Ungarn die Selbstverwaltung der Komitate erhalten – und ein gewisser Freiraum für die Protestanten, wenn auch die öffentliche Religionsausübung formell auf gewisse „loca articularia“ beschränkt blieb, sprich: meist auf deutsche Lutheraner in den Städten. Der calvinische Landadel insbesondere im Osten des Landes, um Debreczen, das ungarische Genf, musste sich mit bloß zwei erlaubten Kirchen pro Komitat im Allgemeinen mit dem privaten Exerzitium begnügen. Im Zuge einer „stillen Gegenreformation“ wurden den Protestanten unter Karl VI. (in Ungarn: Karl III.) über hundert Kirchen wiederum entzogen. Völlige Gleichberechtigung – und Zugang zu Ämtern – genossen die Protestanten nur in Siebenbürgen.19 16 Karl u. Wilhelm Alberti: Reformation und Gegenreformation im Ascher Gebiet. In: Jahrbücher für Geschichte des Protestantismus in Österreich 28 (1907), 50 – 77; Sörries, Kirchenbauten 43, 91 – 95. 17 Vgl. den Klassiker: Gustav Reingrabner: Adel und Reformation. Beiträge zur Geschichte des protestantischen Adels im Lande unter der Enns, Wien 1976, 90 ff.; dazu jetzt auch die neue großangelegte Studie von Arndt Schreiber: Adeliger Habitus und konfessionelle Identität. Die protestantischen Herren und Ritter in den österreichischen Erblanden nach 1620 (MIÖG-Ergänzungsband 58), Wien 2013. 44, mit den Listen 41 – 3, 293 – 308. 18 Lothar Höbelt: The Impact of the Rakoczi Rebellion on Habsburg Strategy: Incentives and Opportunity Costs. In: War in History 13 (2006), 2 – 15. 19 Marta Fata: Ungarn, das Reich der Stephanskrone, im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung: Multiethnizität, Land und Konfession 1500 bis 1700, Münster 2000,
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Ungarn, das Reich der Stephanskrone mit seinen Nebenlanden, war freilich auch Heimat von Millionen von orthodoxen Christen, die zum Teil als Flüchtlinge vor den Türken ausdrücklich willkommen geheißen und in der sogenannten „Militärgrenze“ angesiedelt worden waren; sie waren aber auch Gegenstand von immer wiederkehrenden Versuchen, sie unter Beibehaltung ihres Ritus doch zumindest zu GriechischKatholischen zu machen, sprich: sie zur Union mit Rom zu bewegen. Diese Bestrebungen, die sich auf das Vorbild der polnischen Union von Brest 1596 berufen konnten, erfassten ab der Mitte des 17. Jahrhunderts insbesondere die Ukrainer diesseits der Karpathen, im Nordosten Ungarns (Ungvarer Union vom April 1646), ab der Jahrhundertwende (1. und 2. Diploma Leopoldinum, 1699/1701) dann auch – weit weniger nachhaltig – die Rumänen in Siebenbürgen, wo die unierte Kirche ab 1744 unter dem Einfluss charismatischer orthodoxer Mönche zusammenzubrechen begann.20 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, so schätzt man, war nicht ganz die Hälfte der Bevölkerung Ungarns katholisch, ca. 15 % calvinistisch und 8 % lutherisch, 17 % orthodox und 10 % uniert.21 II. Aufgeklärter Absolutismus? Das Zeitalter der Gegenreformation oder auch das konfessionelle Zeitalter reicht in den Handbüchern in der Regel bis 1648. Axel Gotthard hat zu Recht kritisiert, wie wenig fortschrittliche Geister für „retardierende Elemente wie den fortdauernden konfessionellen Hader“ übrig haben. Zwar war mit der Revision des Augsburger Religionsfriedens und der Einführung des Normaljahres der konfessionelle Gehalt der „hohen Politik“ rückläufig. Deshalb waren jedoch im Reich keineswegs alle Reibungsflächen auf unterer Ebene ausgeschaltet.22 Die Generation danach, mit den Kuruczenkriegen in Ungarn, der Aufhebung des Edikts von Nantes oder der Schlacht an der Boyne, liefert genügend Beispiele dafür auch außerhalb der Reichsgrenzen. Ein weiteres halbes Jahrhundert später wurde die Vertreibung der Salzburger Protestanten 1732 bereits als Kuriosum wahrgenommen, das mit dem Zeitgeist nicht mehr in Einklang zu bringen war. Auch Karl VI. kritisierte das aus „Gehässigkeit /…/ nicht reiflich genug überlegte Emigrationswerk“ des Primas Germaniae.23 Gerade deshalb ist in unserem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die Jahre um 1730 auch in der benachbarten Habsburgermonarchie von einer Verschärfung des 188; Josef Karniel: Die Toleranzpolitik Josephs II., Göttingen 1985, 42, 143, 151 ff.; Jean Bérenger: La Hongrie des Habsbourg, Bd. 1, Rennes 2010, 144 f., 203 – 8, 249 – 252; Sörries, Kirchenbauten 33 f. 20 Zsolt Trocsanyi / Ambrus Miskolczy: Siebenbürgen unter den Habsburgern. In: Bela Köpeczi (Hg.): Kurze Geschichte Siebenbürgens, Budapest 1990, 405 – 452; hier: 420 f. Um 1759 kamen dann auf eine unierte schon fünf orthodoxe Familien. 21 Höbelt: Ferdinand III. Friedenskaiser wider Willen, Graz 2008, 363; Bérenger, Hongrie 252 – 5. 22 Axel Gotthard: Das Alte Reich 1495 – 1806, Darmstadt 2003, 102. 23 Lettner, Aufklärung und Absolutismus 22 f., 216.
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konfessionellen Drucks gekennzeichnet waren, der nunmehr auch abgelegene Gegenden erfasste, die Rückzugsgebiete des Geheimprotestantismus, die laut Volksmund so hoch in den Alpen lagen, dass die kaiserlichen Dragoner bisher nicht hinauffanden. Zum Teil – wie in Kärnten oder der Obersteiermark – handelte es sich dabei sogar um die unmittelbaren Grenzlandschaften zum Erzbistum Salzburg, wobei in Kärnten das Paradoxon zu konstatieren ist, dass es gerade die Amtsträger der geistlichen Grundherrschaften waren, vielfach selbst Protestanten, welche die Religionsmandate des Landesherrn im Interesse eines reibungslosen Funktionierens ihrer Geschäfte geflissentlich ignorierten.24 In Oberösterreich setzte sich die Deportation der Landler nahtlos (nur durch die bayerische Besetzung unterbrochen) bis in die ersten Regierungsjahre Maria Theresias fort. Die allerletzte dieser Transmigrationen – schon im Kontext des Ringens um das Toleranzpatent – fand in der Obersteiermark 1774 statt.25 Doch auch in den böhmischen Ländern lassen sich ähnliche Phänomene konstatieren, so z. B. das Wirken des Jesuiten Konias, der mit seinen Bücherverbrennungen in die Weltliteratur eingegangen ist, über Alois Jiraseks Roman „Temno“ (Finsternis), der im Zeichen des nationalen Erwachens der Tschechen zum Symbol für eine ganze Periode habsburgischer Herrschaft in Böhmen geworden ist. Ein Teil der Salzburger Protestanten fand bekanntlich Zuflucht in Ostpreußen; doch auch ein Teil der drangsalierten Geheimprotestanten, auf der Herrschaft Opocno, soll sich in diesen Jahren ausdrücklich auf den König in Preußen als Schutzmacht berufen haben.26 Restriktive Regelungen für die Judengemeinden wurden erlassen, in Schlesien hob Karl VI. 1738 sein ein Vierteljahrhundert zuvor erlassenes Toleranzpatent für die Juden auf.27 Selbst in der Militärgrenze, unter den Serbisch-Orthodoxen, sorg-
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Christine Tropper: Glut unter der Asche. Der Kärntner Geheimprotestantismus und seine Bekämpfung 1731 – 1738 (Quelleneditionen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 9), Wien 2011, 83 ff. Anlass war zum Teil das Verlangen nach öffentlicher Religionsausübung, ausgelöst durch die Hoffnung auf Unterstützung im Reich im Zuge der Solidarisierungswelle mit den Salzburger Protestanten. 25 Karniel, Toleranzpolitik 182 f. 26 Eva Kalivodova: The Opocno Religious Rebellion and its Consequences in the Context of the Carolinian Counter-Reformation. In: Crossing Frontiers – Resisting Identities, Pisa 2010, 157 – 172; Heinrich Benedikt: Franz Anton Graf von Sporck (1662 – 1738). Zur Kultur der Barockzeit in Böhmen, Wien 1923, 190, 217. Nach 1740 siedelte Friedrich reformierte Tschechen in sogenannten „Hussitendörfern“ an, ganz im Gegensatz zu der tschechischen Minderheit in Oberschlesien, im 1919 abgetretenen Hultschiner Ländchen, die sich als standhafte Katholiken erwiesen – und noch in der Tschechoslowakei für die deutschen Christlichsozialen votierten, vgl. Werner Dietl: Die Deutsche Christlichsoziale Volkspartei in der Ersten Tschechoslowakischen Republik (1918 – 1929), München 1991, 283. 27 Manfred Agethen: Die Situation der jüdischen Minderheit in Schlesien unter österreichischer und unter preußischer Herrschaft. In: Baumgart (Hg.), Kontinuität und Wandel 307 – 331; hier: 316 f. Das Toleranzpatent von 1713 hatte unter anderem bezweckt, die bisher nur an die Grundherrschaften gezahlten Schutzgelder in die kaiserlichen Kassen umzulenken.
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ten Einschränkungen der vormals gewährten Privilegien für Unruhen, wie sie 1728 und 1735 in der Lika ausbrachen.28 Zwar ist der Begriff „Absolutismus“ vor einigen Jahren für geschwächt und nicht mehr kampffähig erklärt worden, durchaus zu Recht, wenn man die begrenzten Möglichkeiten frühneuzeitlicher Verwaltungen mit dem Instrumentarium moderner Staatsapparate vergleicht. Wenn wir ihn dennoch für kurze Zeit aus der Mottenkiste hervorholen, so lässt sich diese Episode der 1730er-Jahre vielleicht als ein Phänomen des Übergangs verorten, als eine Überschneidung zwischen der älteren Form des „Absolutismus“ in Österreich, der Konfession und Personal austauschte, die Strukturen aber vielfach beim alten beließ, und der jüngeren Variante, wie sie dann vollends unter Maria Theresia zum Durchbruch gelangte, nämlich dem Verwaltungsstaat, der seine Fangarme bis an die Basis der gesellschaftlichen Pyramide ausstreckte, lokale Gewalten unter Kuratel stellte und eine flächendeckende Umsetzung seiner Verordnungen anpeilte. Diese Spielart des eigentlichen Absolutismus ist gemeinhin als der aufgeklärte Absolutismus bezeichnet worden, mit Persönlichkeiten wie den beiden „Großen“, Friedrich und Katharina, in der Hauptrolle. Für Österreich wie für Frankreich ist diese Verbindung allerdings ein wenig irreführend, nicht wegen des Substantivs, sondern wegen des Adjektivs: Die Pioniere dieses aufgeklärten, sprich: schärfer zupackenden Absolutismus, in Frankreich wie in Österreich, zählten vielmehr zur prononciert katholischen Strömung. Es waren ihre Gegenspieler, die französischen Parlamente, die mit dem Jansenismus liebäugelten, oder der Hochadel, die sich auf aufklärerische Ideen beriefen; auch in Österreich handelte es sich bei Haugwitz und Daun um Politiker, die nicht von der religiösen Orthodoxie abwichen. Erst ihr Konkurrent Kaunitz, der bei aller Loyalität zu Maria Theresia den Auffassungen des Hochadels viel näher stand, gar nicht zu sprechen vom freimaurerischen Gemahl der frommen Kaiserin, mit seinen geschäftlichen Verbindungen zur böhmischen Opposition, wie z. B. den Choteks, hatten ein viel offeneres Ohr für kirchenkritische Stimmen.29 III. Ideologie oder Primat der Außenpolitik? Konnten die bisherigen Vereinheitlichungstendenzen unter dem Primat der Innenpolitik subsummiert werden, so macht sich in der Religions- und Konfessionspolitik – wie das ja auch schon, mit Altranstädt und Szatmar, für die Zeit des Spanischen Erbfolgekriegs gegolten hatte – zunehmend der Einfluss der internationalen Politik bemerkbar. Das gilt schon einmal für die ersten beiden Schlesischen Kriege, die dazu 28
Jakob Amstadt: Die k. k. Militärgrenze, Würzburg 1969, 145 ff. P. G. M. Dickson: Finance and Government under Maria Theresa 1740 – 1780, Bd. 2, Oxford 1987, 11, 43; allerdings verteidigte Franz Stephans Vertrauter Graf Rudolf Chotek zum Unterschied von seinem Neffen, dem Burggrafen der 1780er-Jahre, später noch die Jesuiten; vgl. Ivo Cerman: Chotkové. Prˇíbeˇ h úrˇednické sˇlechty, Prag 2008, 176 f., 317. 29
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angetan waren, den Kontrast zwischen Hohenzollern und Habsburg auch auf dieser Ebene zu verschärfen: Friedrich gewann mit Oberschlesien wohl über eine halbe Million Katholiken, die es zu integrieren galt, weit mehr als in den westfälischen Herzogtümern lebten, die Brandenburg 1615/66 geerbt hatte. Der katholische Bevölkerungsanteil in Preußen erhöhte sich damit von 5 – 7 % auf fast 20 %, um ab 1772 infolge der polnischen Teilungen weiter anzusteigen. Maria Theresia hingegen verlor mit Niederschlesien die letzte größere, vornehmlich von Protestanten bewohnte Landschaft innerhalb der Erbländer. (Im „Zaun“ Schlesiens, der ihr verblieb, auch wenn sie den „Garten“ verlor, übernahm Teschen mit seiner „Gnadenkirche“ die Rolle des lutherischen Vororts.) Österreich war der katholischen Uniformität gegen seinen Willen ein gehöriges Stück näher gerückt. In diesen Kontext passt vielleicht auch die von Maria Theresia angeordnete, wenn auch auf Intervention des böhmischen Adels bald zurückgenommene Vertreibung der Prager Juden, der sie Kollaboration mit den Preußen während des 2. Schlesischen Krieges 1744 vorwarf 30 – eine Maßnahme, die sich nicht zuletzt abhob von der milden Gangart gegenüber der Mehrheit der böhmischen Stände, die während des 1. Schlesischen Krieges 1741/ 42 – wie schon nach dem Weißen Berg – wiederum einem Wittelsbacher, nämlich Karl VII., gehuldigt hatten.31 Friedrich ließ in Berlin die Hedwigskathedrale bauen32 und bemühte sich, das konfessionelle Misstrauen seiner katholischen Untertanen abzubauen. Seine Konflikte mit der Kirche gingen weniger auf konfessionelle Rivalitäten als auf den Machtanspruch des Staates zurück, der bereits auf spätere Epochen verweist: So wollte er in Berlin ein „geistliches General-Vicariats-Amt“ schaffen, zur Ausübung der landesherrlichen Kontrolle über die Breslauer Kirche, bot den wohldotierten Posten aber dem Breslauer Fürstbischof Kardinal Sinzendorf an, der von Rom prompt gerügt wurde, weil er sich darüber auch nur in Verhandlungen eingelassen hatte. Den Grafen Philipp Schaffgotsch ernannte Friedrich ohne Rücksicht auf das Wahlrecht des Domkapitels oder die Zustimmung des Papstes 1743/44 zum Koadjutor Sinzendorfs. „Der Heilige Geist und ich haben zusammen beschlossen, den Prälaten Schaffgotsch zum Koadjutor von Breslau zu machen. Jene Domherren, die sich des30
Stefan Plaggenberg: Maria Theresia und die böhmischen Juden. In: Bohemia 39 (1998), 1 – 16. In Ungarn wurde der Pastor von Eperjes wegen seiner Beziehungen zu den Preußen verjagt (Bérenger, Hongrie 252). 31 Eila Hassenpflug-Elzholz: Böhmen und die böhmischen Stände in der Zeit des beginnenden Zentralismus. Eine Strukturanalyse der böhmischen Adelsnation um die Mitte des 18. Jahrhunderts, München 1982. 32 Aus heutiger Sicht zieht das Zitat besondere Aufmerksamkeit auf sich: Er würde auch eine Moschee bauen lassen, wenn er muslimische Untertanen erbte (Schindling, Toleranz 257). Ganz so weit ging Maria Theresia nicht. Freilich ist auch von ihr ein Ausspruch überliefert, mit einer für eine fromme Katholikin überraschend emotionellen Unterstützung für ihre „lieben Muselmanen“, nämlich die Osmanen, die ihr bis vor kurzem Subsidien bezahlt hatten, weshalb sie die Teilung Polens einer Amputation der Türkei vorzog. Das Zitat wurde von Arneth (Maria Theresia VIII 252 f., 353 f.) 1877 publiziert, zu einem sehr passenden Zeitpunkt, als die Wiener Öffentlichkeit während der Orientkrise ein weiteres Mal für die Osmanen und gegen Russland Stellung bezog.
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sen weigern, werden als Anhänger des kaiserlichen Hofes in Wien und des Teufels betrachtet.“33 Des Königs freundschaftliches Verhältnis zu Schaffgotsch schlug freilich abrupt ins Gegenteil um, als der Hirt nach der vorübergehenden Besetzung Breslaus vor der Schlacht bei Leuthen 1757 undankbarer Weise mit fliegenden Fahnen wiederum ins Lager der Österreicher überlief – und dafür zunächst mit Aufenthaltsverbot belegt wurde.34 Theodor Schieder zitiert den Satz Friedrichs: „Ich bin neutral zwischen Rom und Genf“, deshalb auch mit dem Zusatz: Aber Neutralität zwischen Berlin und Wien ließ er nicht zu.35 Der Ärger Friedrichs über die „undankbare“ Haltung der Katholiken schlug sich Ende 1757 in der Aufhebung des bis dahin immer noch bestehenden „Parochialzwanges“ nieder: Protestanten mussten in katholischen Pfarren keinen Zehent mehr abliefern; nach dem Frieden von Hubertusburg wurde die Bestimmung als „reciproque Exemtion“ auch auf Katholiken in protestantischen Gemeinden ausgedehnt.36 Nach dem Siebenjährigen Krieg kam es in einer religiösen Streitfrage übrigens zu einem erstaunlich parallelen Vorgehen beider Mächte, nämlich in der Behandlung des Jesuitenordens. Die Initiative für die Aufhebung des Ordens ging von den bourbonischen Höfen aus, die seit dem ,renversement des alliances’ von 1756 ja Verbündete Österreichs waren. Dementsprechend war es Staatskanzler Kaunitz, der für einen Gleichklang in dieser Frage optierte, ganz abgesehen von seinen prinzipiell kirchenkritischeren Auffassungen. Maria Theresia hingegen leistete bei der Aufhebung des Ordens 1773 „passiven Widerstand“; sie bedauerte die Maßnahme zutiefst und gab sich untröstlich, sah aber keine Alternative.37 Der Orden wurde aufgelöst, seine Mitglieder aber in ihren Stellen belassen und nicht vertrieben.
33 Joachim Köhler: Die katholische Kirche. In: Josef J. Menzel (Hg.): Geschichte Schlesiens, Bd. 3, Stuttgart 1999, 165 – 251, 610 – 635; hier: 181, 617 (17. 12. 1743); Schindling, Toleranz 264. 34 Möglicherweise löste ein Erweckungserlebnis des Freimaurers Schaffgotsch nach der wundersamen Heilung von einer Krankheit 1746 einen Gesinnungswandel aus, der seine Versöhnung mit dem Papst und die Bestätigung als Bischof 1748 erleichterte, aber seine Beziehungen zum König belastete; vielleicht sollte die Geschichte auch bloß den Rückzug des Papstes kaschieren; vgl. Joachim Köhler: Zwischen den Fronten. Anmerkungen zur Biographie der Breslauer Fürstbischöfe Sinzendorf (1732 – 1742) und Schaffgotsch (1747 – 1795). In: Baumgart (Hg.), Kontinuität und Wandel 273 – 285; hier: 283; nach 1763 musste Schaffgotsch seinen Aufenthalt in Oppeln nehmen und übersiedelte bald darauf in seine Sommerresidenz im österreichischen Johannisberg; zur Familie, die aus dem Riesengebirge stammte, vgl. Joachim Bahlcke et al. (Hgg.): Das Haus Schaffgotsch. Konfession, Politik und Gedächtnis eines schlesischen Adelsgeschlechts (Würzburg 2010). 35 Schieder, Friedrich der Große 290. 36 Mempel, Schlesischer Protestantismus 299, 303 f. 37 Die Herrscherin zeigte offen ihre Freude, als 1775 mit Pius VI. ein Anhänger der jesuitenfreundlichen Partei Rezzonico zum Papst gewählt wurde; Arneth, Maria Theresia IX 91, 97, 134.
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Genau dieses Ergebnis kam auch in Preußen zustande, wo Friedrich II. – der trotz gewisser Skepsis38 die Verdienste des Ordens im Schulwesen zu würdigen wusste – sich nach einem anfänglichen Missverständnis, das zur Belassung des Ordens führte, im Dezember 1775 schließlich entschloss, den Orden aufzulösen, seine Mitglieder – die in einer „Gesellschaft der Priester des königlichen Schuleninstitutes“ bis 1800 weiterhin ein „ordensähnliches Gemeinschaftsleben“ pflegten – aber weiter „ihr Handwerk“ treiben zu lassen.39 Diese Parallelen in der Kultus-, vor allem aber Schulpolitik wurden noch unterstrichen durch die Laufbahn des Saganer Augustiner-Chorherren-Propstes Johann Ignaz Felbiger als führendem Schulreformer Schlesiens, der für Friedrich nach 1763 ein „Land-Schul-Reglement für die Römisch-Katholischen“ ausarbeitete und 1774 an seine ehemalige Landesherrin ausgeliehen wurde, um die Einführung der allgemeinen Schulpflicht auch in Österreich organisieren zu helfen.40 Die Anpassung der Diözesangrenzen an die politischen Verwaltungseinheiten war eines der Routine-Anliegen des „aufgeklärten Absolutismus“. Doch in dieser Beziehung kam es zu einem Schulterschluss von Friedrich und Schaffgotsch gegen entsprechende österreichische Pläne zur Schaffung eines eigenen Bistums in Troppau.41 Die Position des Breslauer Fürstbischofs als Klammer beider Reiche blieb daher bis 1918 bestehen, mit Sitz im österreichischen und im preußischen Herrenhaus … Dass außenpolitische Konjunkturen mittelfristig eine Schubumkehr der österreichischen Politik bewirkten, war keineswegs von vornherein abzusehen: Denn mit der ersten Polnischen Teilung 1772 fiel sowohl Preußen als auch Österreich ein weiteres fast ausschließlich katholisches Territorium zu (im Falle Galiziens auch mit griechisch-katholischer, da ukrainischer Bevölkerung, was für die Monarchie keinen Fremdkörper darstellte). Auf den ersten Blick hätte dieser Zuwachs die Trends der Schlesischen Kriege verstärken müssen: Österreich wurde noch katholischer, Preußen immer weniger protestantisch. Doch gerade aus dem auf den ersten Blick so katholischen Polen kamen wesentliche Impulse zur Verbreitung des Toleranzgedankens. Der Ausnahmefaktor, der nach Meinung der Experten letztendlich den Stein ins Rollen brachte, war ein Gesetz, das sich Österreich ausdrücklich zu übernehmen verpflichtete, nämlich die nicht zuletzt von Katharina II. – zugunsten der Orthodoxie – angeregte Proklamation der Kultusfreiheit durch König Stanislaus Ponia-
38 Gegen die pro-österreichische Einstellung der heimischen Jesuiten holte der König französische Ordensbrüder nach Schlesien; vgl. Schindling, Toleranz 266. 39 Hermann Hofmann: Friedrich II. von Preußen und die Aufhebung der Gesellschaft Jesu, Regensburg 1969, 107, 117, 152 f.; Stefan Samerski: Päpstlicher als der Papst ? Preußen und die Jesuiten nach 1773. In: FBPG Beiheft 11, Berlin 2010, 47 – 64; Köhler, Kirche 185 f. 40 Schindling, Toleranz 267 f.; Helmut Engelbrecht: Geschichte des österreichischen Bildungswesens, Bd. 3, Wien 1984, 102. 41 Kovacs, Österreichische Kirchenpolitik 253. Im Gegenzug hätte die Grafschaft Glatz, die Prag unterstand, an die Breslauer Diözese fallen sollen, finanziell freilich immer noch ein schlechter Tausch.
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towski42 im Februar 1768 („Toleranztraktat“), auch wenn gerade diese Maßregel an der Destabilisierung der rzeczpospolita ein gehöriges Maß an Schuld traf.43 Das neuerworbene Galizien zählte wohlgemerkt nicht zu den Erblanden; es wurde – wie Mailand oder die Niederlande – von der Staatskanzlei des Fürsten Kaunitz verwaltet, der mit der Religionsfreiheit keine Probleme hatte. Doch war damit in das herrschende System eine Bresche geschlagen: Ungefähr um die gleiche Zeit – post hoc, ergo propter hoc ? – mehrten sich die Schwierigkeiten mit dem Geheimprotestantismus in den Erblanden. Ob diese Probleme jetzt auf ein rigoroseres Vorgehen des Behördenapparats zurückzuführen waren (und gerade die für Inneres zuständige Böhmisch-Österreichische Hofkanzlei unter Blümegen erwies sich in dieser Beziehung als „hardliner“), oder auf ein wachsendes Selbstbewusstsein der Evangelischen, die es im Gegensatz zu den langen Jahrzehnten zuvor an der pflichtschuldigen Diskretion vermissen ließen, ist zumindest an Hand der Sekundärliteratur nicht zu klären. Ab 1771 begannen in der Obersteiermark, um Schladming, Unruhen, die als Reaktion noch einmal die Alternative der Auswanderung aufwarfen, aber am 7. November 1774 schließlich zu der Verordnung führten, dass Transmigrationen einzustellen seien. Politisch bedeutsamer dürfte der „Aufstand“ in Mähren, im Gebiet um Wsetin, an der ungarischen (heute slowakischen) Grenze, im Frühjahr 1777 gewesen sein. Eine Verschwörungstheorie sieht hier sogar jesuitenfreundliche Kräfte innerhalb des Olmützer Domkapitels am Werk, die eine offene Abfallsbewegung unter den Geheimprotestanten provozieren wollten, um Maria Theresia zu einem Kurswechsel zu veranlassen.44 Zumindest boten die mährischen Unruhen den Anlass für den berühmten, von Alfred von Arneth in seiner vielbändigen Biographie ausführlich zitierten – und übersetzten – Briefwechsel zwischen Maria Theresia und ihrem Sohn und Mitregenten Joseph II. (denn auch die beiden Habsburger – und nicht bloß der „Alte Fritz“ – korrespondierten auf Französisch !).45 Maria Theresia bezeichnete damals „die allgemeine Toleranz“ als das „größte Unglück, welches die Monarchie jemals zu ertragen gehabt hätte“; allerdings fügte auch sie hinzu, sie rede 42 Auf Poniatowskis Vater, der auf seinen Gütern in Zaleszczyki 1750 protestantische Tuchmacher ansiedelte, ging ein Kuriosum zurück. Um dem Widerstand des Klerus auszuweichen, ließ er für sie eine Kirche jenseits des Dnjestr im damals noch osmanischen Gebiet errichten, das 1774 mit der Bukowina an Österreich fiel; Oskar Wagner: Die evangelischen Kirchen in Schlesien, Mähren, Galizien und der Bukowina in der Toleranzzeit. In: Peter Barton (Hg.): Im Zeichen der Toleranz. Aufsätze zur Toleranzgesetzgebung des 18. Jahrhunderts in den Reichen Josephs II., ihren Voraussetzungen und ihren Folgen, Wien 1981, 276 – 323; hier: 304; Sörries, Kirchenbauten 154. 43 Karniel, Toleranzpolitik, 170 – 77; Gotthold Rhode: Geschichte Polens, Darmstadt 1966, 309 f.; Richard Butterwick: The Polish Revolution and the Catholic Church, 1788 – 1792. A Political History, Oxford 2012, 29 f. Gegen Poniatowski bildete sich als Reaktion die katholisch-patriotische Konföderation von Bar, die mit französischer Unterstützung die pro-russische Orientierung der „Familie“ bekämpfte, der von den Czartoryskis geführten Gegenpartei. 44 Lettner, Aufklärung und Absolutismus 81, 84. 45 Arneth, Maria Theresia IX, 140 – 145.
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„keinem Geist der Verfolgung“ das Wort, aber „noch weniger einem der Gleichgültigkeit oder des Tolerantismus“. Joseph nahm diese Inkonsequenz aufs Korn, wenn er seiner Mutter mit einem aut-aut begegnete: „Die Dinge nur halb thun, stimmt nicht zu meinen Prinzipien; man bedarf entweder einer völligen Freiheit des Cultus, oder Sie müssen Alle aus Ihren Ländern vertreiben können, die nicht dasselbe glauben wie Sie.“ Vor diesem Hintergrund ist auch das Rückzugsgefecht Maria Theresias zu sehen, das mit einem Ringen innerhalb der Bürokratie einherging, mit Staatskanzler Kaunitz – der Gewissenszwang durch weltliche Fürsten als Profanation erklärte – auf seiten des Kaisers, der Böhmisch-Österreichischen Hofkanzlei, dem „Innenministerium“, das seine Autorität bedroht sah, auf Seiten seiner Mutter.46 Sobald man von dem kleinsten gemeinsamen Nenner, dem Konsens „gegen Verfolgung“ ausging, bot sich Kaunitz’ Vorschlag einer „diskreten Toleranz“ als via media an, wie er im Oktober 1777 von Maria Theresia bewilligt wurde: Nur Aufwiegler sollten abgestraft werden, irregeleitete Gläubige nur dann, wenn sie auch andere Gesetze übertreten hätten. Diese „österreichische Lösung“ bedurfte freilich des zumindest stillschweigenden Einverständnisses der Parteien vor Ort, wollte man die Gefahr einer Eskalation dauerhaft hintanhalten. Zumindest deutet der weitere Verlauf der Ereignisse auf derlei Widerstände an der Basis hin. Als Ergebnis wird verzeichnet, dass Maria Theresia in ihrer letzten Amtshandlung am 29. November 1780 doch die „Transmigration“ zumindest einiger der widerspenstigen mährischen AKatholiken anordnete, ein Beschluss, der nach ihrem Tod nicht mehr zur Ausführung kam.47 Joseph II. erließ bereits im folgenden Jahr, im Oktober 1781, sein Toleranzpatent, das die evangelische und orthodoxe Kirche auch formal in den Status minderprivilegierter Religionsgemeinschaften erhob. Eine solche öffentliche Proklamation war vielleicht, so wurde durchaus plausibel argumentiert, nur deshalb nötig, um den hinhaltenden Widerstand der Bürokratie – genannt wird wiederum die Hofkanzlei – gegen die stillschweigende Ausbreitung der „diskreten Toleranz“ zu brechen.48 Gruppen von hundert Familien (mit 500 Seelen gerechnet) konnten sogenannte Toleranzgemeinden anmelden: Der Geheimprotestantismus kam an die Oberfläche; das „Apostasie-Verbot“ wurde aufgehoben, allerdings bekamen katholische Geistliche die Möglichkeit eingeräumt, auf schwankende Gläubige durch „Übertrittsverhöre“ und verpflichtende Belehrungen einzuwirken, was Anlass zu gewissen Schikanen 46
Karniel, Toleranzpolitik 189 – 202; Johann Gotzlitsch: Der Staatsrat Maria Theresias und die Frage der Toleranz den Protestanten gegenüber, Phil. Diss. Wien o. J. (1925) 7. 47 Karniel, Toleranzpolitik 202, 331; Lettner, Aufklärung und Absolutismus 91 spricht von 43 Personen, die über die ungarische Grenze abgeschoben wurden, dabei aber 100 fl. Zehrgeld erhielten. 48 Karniel, Toleranzpolitik 334 – 340; Lettner, Aufklärung und Absolutismus 105 ff.; insofern relativiert sich vielleicht der Unterschied zwischen Friedrichs pragmatischem und Josephs II. systematischem Vorgehen, wie ihn Schieder (Friedrich der Große 290) konstatiert; erst 1788 zog Preußen mit dem „Wöllnerschen Religions-Edikt“ nach (Schindling, Toleranz 271).
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bieten mochte.49 Bekannt ist schließlich die Bestimmung, dass die neuerrichteten protestantischen Bethäuser über keinen Turm verfügen durften. Die erste Toleranzgemeinde zelebrierte am Weihnachtsabend 1781 ihren Gottesdienst in Wsetin, dem Schauplatz der mährischen Tumulte in den Jahren zuvor. Die vergleichsweise meisten evangelischen Gemeinden bildeten sich in Mähren und Schlesien, in den Alpenländern in Kärnten und Oberösterreich.50 Vielfach wurden mangels einheimischer Prediger von den neuen „Toleranzgemeinden“, vor allem in Mähren, ungarische Pastoren berufen. Von 1782 bis 1787 stieg die Zahl der registrierten Protestanten in den Erblanden von 74.000 auf 157.000, das waren zwischen 1 und 2 % der Gesamtbevölkerung. Ein halbes Jahrhundert danach gab es in den Erblanden etwas über 200 evangelische Pastoren, verglichen mit rd. 7000 römisch-katholischen Pfarren.51 Die volle Gleichberechtigung der A-Katholiken ließ dann noch bis 1861, bis zum Beginn der konstitutionellen Ära, auf sich warten.52 Sie schuldete auch dann, in einer Phase der Zentralisierung des Reiches (vor der „dualistischen“ Dezemberverfassung von 1867!), viel den Forderungen der Ungarn.53 Auf der anderen Seite führte der „Josephinismus“ übrigens auch zu einer Vermehrung katholischer Pfarrstellen – auf Kosten der Klöster: Der Pfarrklerus in der Habsburgermonarchie nahm von 22.000 auf 27.000 zu, allerdings vor allem in der Kategorie der minderbezahlten Kapläne und Kooperatoren. Vor allem in Ungarn, das als „Missionsgebiet“ galt, strebte man nach einer Intensivierung der Seelsorge. Die Zahl der Ordensleute hingegen fiel von 25.000 auf 11.000. Rein kontemplative Orden, insgesamt rund ein Drittel der Klöster, vor allem auch viele Nonnenklöster, wurden auf49 Peter Barton: Die Auswirkungen des Toleranzpatents auf dem Boden des heutigen Österreich. In: Ders. (Hg.), Im Zeichen der Toleranz 469 – 500; hier: 471; Amadeo Molnar: Das Toleranzpatent und die tschechischen Protestanten. In: Ebd. 324 – 329. 50 Leicht divergierende Angaben bei Wagner, Evangelische Kirchen 296; Sörries, Kirchenbauten 62, 141. 51 P. G. M. Dickson: Joseph II’s Reshaping of the Austrian Church. In: Historical Journal 36 (1993), 89 – 114; hier: 112, Anm. 46. In Ungarn waren es immerhin 2.400 Pastoren, über 6.000 Priester und fast 3.000 orthodoxe u. unierte Geistliche; in Siebenbürgen 1.600 Pastoren, 300 katholische Priester, 1.500 unierte und 1.000 orthodoxe. 52 Die Episode mit der Vertreibung der Protestanten im ehemals Salzburgischen Zillertal 1837, die sich ausnimmt wie ein eingefrorener Posthornton, betraf nur ca. 400 Personen, die von Friedrich Wilhelm III. in der Nähe seiner schlesischen Sommerresidenz angesiedelt wurden; die Initiative ging von den Tiroler Landständen aus, welche die „Glaubenseinheit“ bewahren wollten; um einem Verstoß gegen die Bundesakte auszuweichen, wurde behauptet, die Betroffenen seien keine Lutheraner, sondern Sektierer, „Inklinanten“; inkonsequenterweise stellte ihnen der Kaiser zugleich aber auch die Übersiedlung in jedes andere seiner Kronländer frei; vgl. Josef Fontana: Von der Restauration zur Revolution (1814 – 1848). In: Ders. et al. (Hgg.), Geschichte des Landes Tirol, Bd. 2, Bozen 1986, 583 – 746; hier: 625 f.; Ekkehard Sauser: Die Zillertaler Inklinanten und ihre Ausweisung im Jahre 1837, Innsbruck 1959. 53 Vgl. für die Beratungen über die Gleichstellung die Edition von Stefan von Malfer: Die Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848 – 1867, Abteilung IV: Das Ministerium Rechberg (1859 – 61), bisher 2 Bde., Wien 2003/2007.
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gelöst und mit dem Erlös ein Religionsfond gespeist, der am Ende der Regierungszeit Josephs II. immerhin rd. ein Fünftel der geistlichen Einkünfte verwaltete, fast vier von 20 Mio. fl.54 Was die Beziehung zu den dominanten Kirchen ihrer Länder betrifft, so nahm Joseph II. mit seinem Reformeifer die katholische Kirche in die Pflicht, auch wenn seine Pläne in der Praxis meist weniger radikal ausfielen; der Agnostiker Friedrich hingegen ließ seine Lutheraner auch weiterhin „nach ihrer Façon selig werden“ und erwies sich zumindest in dieser Beziehung an aufgeklärten Reformen wenig interessiert.55 IV. Ausklang Die Jahrzehnte nach der Ära Maria Theresias und Friedrichs des Großen waren insgesamt wohl weniger von Konflikten mit religiösen Dissidenten, sondern mehr von Auseinandersetzungen des Staates mit den Kirchen der Mehrheitsbevölkerung erfüllt, vom Josephinismus, der zwischen Reformkatholizismus und Staatskirchentum so manche Forderung der Französischen Revolution mit ihrer Constitution Civile vorwegnahm, bis zur preußischen Säkularisierung von 1810,56 die in vielem dem josephinischen Vorbild folgte,57 und der Zwangsvereinigung von Reformierten und Lutheranern in den diversen Landeskirchen des Vormärz, die ausgerechnet vom Reformationsjubiläum 1817 ihren Ausgang nahm.58 Erst im Zeichen des Kulturkampfes, mit Anfängen schon vor 1848, massiv dann ab den sechziger Jahren, setzte sich insbesondere in der preußischen Neo-acquisita, im Rheinland, ein konfliktträchtiges Muster durch, das im Osten durch die nationalen Spannungen mit den katholischen Polen zusätzliche Nahrung erhielt. Die reichsdeutschen Katholiken liefen deshalb
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Für die Zahlenangaben vgl. die Tabellen bei Dickson, Reshaping of the Austrian Church 98 – 101. Mit dem Abverkauf von Gütern wurde erst nach Josephs Tod begonnen. Auch Metternich erwarb in den 1820er-Jahren mit Plaß eine der reichsten Abteien Böhmens. 55 Diese Schlussfolgerung bei Christina Rathgeber: The Reception of Brandenburg-Prussia’s New Lutheran Hymnal of 1781. In: Historical Journal 36 (1993), 115 – 136. 56 Damit waren im lokalen Rahmen gewisse Verschiebungen zugunsten der Protestanten verbunden, die z. B. in Oppeln die Kirche des aufgelösten Franziskanerklosters (mit ihrer Grablege der Piastenherzöge) eingeräumt erhielten. 57 So in der Unterscheidung von kontemplativen und Schul- bzw. Pflegeorden und in der Einziehung von Kirchenvermögen gegen Besoldung des Klerus; unterschiedlich war der finanzielle Hintergrund, die Heranziehung zur Deckung der Zahlungen an Frankreich (vgl. Köhler, Kirche 188 – 190). Auch in Österreich wurde damals übrigens als (Teil-)Alternative zum Staatsbankrott von 1811 ein weiterer Zugriff auf das Kirchenvermögen zumindest erwogen; vgl. Lothar Höbelt: „Der Bankrott ist eine Steuer wie jede andere…“ Die Kriegsfinanzierung und die Währungsreform von 1811. In: Claudia Fräss-Ehrfeld (Hg.), Napoleon und seine Zeit. Kärnten – Innerösterreich – Illyrien (Klagenfurt 2009) 291 – 300; hier: 294 f.; Harm-Hinrich Brandt: Der österreichische ,Staatsbankrott‘ von 1811 – Vorgeschichte und Folgen. In: FBPG Beiheft 9 (2008), 267 – 314; hier: 286. 58 Heinrich Lutz: Zwischen Habsburg und Preußen. Deutschland 1815 – 1866, Berlin 1985, 123 f.
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nach 1871 Gefahr, als „Ultramontane“ pauschal zu Reichsfeinden erklärt zu werden, in einer Linie mit revolutionären Sozialisten und restaurationslüsternen Welfen. Hier lässt sich – wenn auch naturgemäß in ganz anderen zahlenmäßigen Dimensionen – eine gewisse Parallele sehen zu gewissen Erscheinungsformen des Protestantismus in der Habsburgermonarchie. Die „Los von Rom“-Bewegung des alldeutschen Propheten Georg von Schönerer um die Jahrhundertwende sah sich selbst nur allzu sehr in der Rolle von Reichsfeinden, von „Hochverrätern aus Größenwahn“, wie es ein Spötter einmal formulierte.59 Zwar bewegte Schönerer alles in allem nur ca. 60.000 Katholiken zum Übertritt (und erntete für seine Bemühungen den „Beifall von der falschen Seite“, von Tschechen und Juden…). Dieser politische Protestantismus, der wenig mit religiösen Impulsen zu tun hatte, prägte aber doch vielleicht das Image der Lutheraner in der Spätphase der Monarchie. Auch im Reich der Stephanskrone hieß es oft, es seien die Bezirke mit calvinischer Mehrheit, die Anhänger der sogenannten Unabhängigkeitspartei ins Budapester Parlament entsandten, die bestrebt waren, die Gemeinsamkeiten zwischen Ungarn und dem Rest der Monarchie auf ein Minimum zu reduzieren.60 Calviner war freilich auch der wohl bedeutendste Staatsmann der ausklingenden Ära Franz Joseph, Graf Istvan Tisza. (Auch in Österreich war mit Graf Erich Kielmansegg schon 1895 ein Protestant Ministerpräsident geworden.) Vor allem aber, mochten die Protestanten sich hie und da auch weiterhin zurückgesetzt fühlen, so handelte es sich bei ihnen – von den bergbäuerlichen Rückzugsgebieten abgesehen – in der Regel doch um eine bürgerliche Elite, im Laufe des 19. Jahrhunderts verstärkt um Zuwanderer aus dem norddeutschen oder angelsächsischen Bereich. Allein deshalb schon mochte das Bewusstsein, Bürger zweiter Klasse zu sein, wie es bei reichsdeutschen Katholiken zuweilen durchklang, kaum Fuß zu fassen. Einen Kulturkampf hat es auch in Österreich gegeben: Die Dichotomie von „Klerikalen“ und „Antiklerikalen“ prägte über Jahrzehnte die politische Landschaft. Im Vergleich zum Rheinland erwies sich der politische Katholizismus in Österreich freilich als gemäßigtes Phänomen: im Sinne der Wechselwirkung von „challenge and response“ war in Österreich ganz einfach die Herausforderung nicht so stark; denn letztendlich konnten sich die Katholiken immer noch darauf verlassen, dass die Dynastie dem Eifer der Liberalen rechtzeitig Einhalt gebieten würde. Bismarck hingegen trieb dem Zentrum mit seiner Polarisierungsstrategie immer neue Wähler 59 Karl R. Trauner: Die Los von Rom Bewegung. Gesellschaftspolitische und kirchliche Strömungen in der ausgehenden Habsburgermonarchie, 2. Aufl. Szentendre 2006; es war der sozialdemokratische Vorsitzende Viktor Adler, der einem Schönerianer einmal vorhielt, es sei Größenwahn, wenn er sich für einen Hochverräter halte; vgl. Lothar Höbelt: Hochverräter aus Größenwahn oder Don Quixote von der Weinstraße? Vinzenz Malik – ein „Original“ der altösterreichischen Politik. In: Zeitschrift des historischen Vereins für Steiermark 93 (2002), 255 – 277. 60 Vgl. dagegen Adalbert Toth: Parteien und Reichstagswahlen in Ungarn 1848 – 1892 (München 1973) 102 f., die Wahlbezirke der Unabhängigkeitspartei seien nicht „in dem Maße protestantisch, wie man es vermuten könnte“.
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zu, bis man schließlich schätzte, dass 90 % der deutschen Katholiken für diese Partei optierten. Von diesen Werten war man in Österreich weit entfernt, selbst als mit Karl Lueger eine großstädtische Variante des bisher meist ländlichen politischen Katholizismus aufkam. Ja, viele der Wortführer der katholischen Bewegung, von Vogelsang bis Maaß, waren „Exulanten“ aus dem Reich. Ein Fazit mag lauten: Wohldosierte Verfolgung mag für das Blühen und Gedeihen einer Religionsgemeinschaft mitunter das wirksamste, wenn auch nicht immer bekömmlichste Medikament darstellen.61
61 Lothar Höbelt: Kirche und Politik, oder: Ungeordnete Gedanken über den Sinn und Unsinn von Kulturkämpfen. In: Wolfgang Dewald/Klaus Motschmann (Hgg.): Kirche, Zeitgeist, Nation. Gewandelte Religion, verändertes Volk? Graz 2006, 60 – 69.
Städtische Gestaltungsmöglichkeiten zur Zeit Maria Theresias und Friedrichs des Großen Von Esther-Beate Körber, Berlin Städte gehören sicher nicht zu den politischen Einheiten, an die man zuerst oder gar unweigerlich denken müsste, wenn man sich die Staaten – oder zusammengesetzten Herrschaften – Maria Theresias und Friedrichs des Großen vorstellt, vielleicht mit der Ausnahme der Habsburgerresidenz Wien oder, nicht zu vergessen, der verhältnismäßig großen und wohlhabenden, wenn auch durch die Sperrung der Schelde wirtschaftlich benachteiligten Städte der damals österreichischen Niederlande. Welche politischen Gestaltungsmöglichkeiten hatten Städte unter den beiden nach allgemeinem Urteil doch recht verschiedenen Herrschern, und wie entwickelten sich diese Möglichkeiten, wenn sich überhaupt eine solche Entwicklung verfolgen lässt? Schon zu definieren, was eine Stadt im 18. Jahrhundert „war“ oder was sie ausmachte, fällt schwer.1 Das Deutsch des Alltags wie der Wissenschaft von heute unterscheidet viele verschiedene „Typen“ von Städten, von der Residenzstadt, der Handels- oder Messestadt, der Universitätsstadt bis zur Ackerbürgerstadt2, und alle diese Kategorisierungen transportieren unterschiedliche Vorstellungen von der Sozialstruktur, dem Nahrungserwerb, der Finanzkraft und den Herrschaftsverhältnissen dieser Städte. Wenn man aber versucht, von dem auszugehen, was im Deutsch des 18. Jahrhunderts „Stadt“ genannt wurde, und die Merkmale einer „Stadt“ nach diesem Verständnis auszumachen, ergibt sich erst recht kein einheitliches Bild. Es gab „Städte“ mit und ohne Stadtmauer, Wall und Graben; es gab Städte, die über eine förmliche Gründungsurkunde verfügten, und solche, die sie nicht vorweisen konnten und trotzdem als „Städte“ galten. Die städtische Qualität einer Siedlung konnte auch umstritten oder zweifelhaft sein. Den Nachlebenden bleibt nichts übrig, als pragmatisch und mit etwas postmodernem Gespür für die soziale Konstruktion von Wirklichkeit zu definieren: „Stadt“ war, was sich selber dafür hielt und von anderen dafür gehalten wurde.
1 Die allgemeinen Aussagen der folgenden Ausführungen beruhen auf den Aufsätzen aus Thomas Rudert/Hartmut Zückert (Hgg.): Gemeindeleben. Dörfer und kleine Städte im östlichen Deutschland (16 – 18. Jahrhundert), Köln/Weimar/Wien 2001, und Peter Blickle (Hg.): Landgemeinde und Stadtgemeinde in Mitteleuropa. Ein struktureller Vergleich. Redaktion André Holenstein, München 1991. 2 Zu letzterem Typ vgl. Herbert Knittler: Die europäische Stadt in der frühen Neuzeit. Institutionen, Strukturen, Entwicklungen (Querschnitte 4), Wien/München 2000, 19 f.
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Strukturelle Gemeinsamkeiten aller oder der meisten Stadtverfassungen – über das soziale Konstrukt des Selbst- und Fremdbildes hinaus – existierten nur auf einer sehr abstrakten Ebene. In einem ersten Schritt der Untersuchung sollen die wichtigsten dieser Gemeinsamkeiten dargelegt werden, weil sie sich auch auf die politischen Gestaltungsmöglichkeiten von Städten bis in den konkreten Alltag hinein auswirken konnten. Sechs Merkmale waren allen „Städten“ des 18. Jahrhunderts gemeinsam: das Marktrecht, eine Stadtherrschaft, der Stand der Bürger, die besondere städtische Verfassung, die Stadtregierung aus Bürgermeister und Rat sowie die spezifische „Freiheit“ (häufiger die „Freiheiten“ im Plural) der Stadt, die sich als Teilhaberecht(e), aber auch als Autonomie manifestieren konnte(n). Jede Stadt hatte einen Markt.3 Es gab zwar auch Dörfer, die Marktrecht hatten, die sogenannten Marktflecken, aber keine Städte ohne Markt. Der Handel konstituierte die Stadt auch als politisches Gebilde, wahrscheinlich stärker, als das für viele Städte heute der Fall ist. Kaufleute spielten in jedem Falle eine wichtige Rolle in der Stadt, meist bildeten sie gemeinsam mit einigen für besonders ehrenhaft gehaltenen Handwerkerzünften, zum Beispiel Brauern (wie in Königsberg/Preußen), die führende Schicht, die allein zur politischen Gestaltung der Stadt berechtigt war. Jede Stadt hatte einen Herrn. (Die Reichsstädte, bei denen der Kaiser unmittelbar der Stadtherr war, können hier ausgeklammert bleiben, wo es um die Städte der Habsburger als Landesherren und der preußischen Staaten geht.) Diejenigen Städte, die unmittelbar unter der Landesherrschaft standen, bei denen die Landesherrschaft also zugleich Stadtherrschaft war, hießen in Böhmen und Ungarn Königliche Städte, in den preußischen Staaten Immediatstädte; für die österreichischen Erblande muss man zusammenfassend von landesherrlichen Städten sprechen, weil die Habsburger diese Territorien unter verschiedenen Herrschaftstiteln regierten. Städte konnten aber auch unter der Herrschaft eines königlichen Amtes (Amtsstädte) oder eines Adligen (adlige Städte) stehen. Solche Städte hießen Mediatstädte. In den Habsburger Herrschaften gab es außerdem Städte unter geistlicher Herrschaft, etwa einem Bischof oder einem Kloster (dann auch „schriftsässig“ genannt). Weil jede Stadt einen Herrn hatte, war sie ihm prinzipiell zu Abgaben und Diensten verpflichtet. Abgaben konnten in Geld als Steuer verlangt werden, aber auch in Naturalien bestehen, besonders bei kleinen Städten unter adliger Herrschaft. Zu den Diensten, die eine Stadt ihrem Herrn schuldete, konnte die Verpflichtung gehören, im Kriegsfall Soldaten aufzubieten oder zu werben und auszurüsten. Im 18. Jahrhundert war persönliches militärisches Engagement von Stadtbürgern nur noch in Ausnahmefällen gefragt, da die Unterhaltung und Verteidigung einer Festung spezialisiertes Personal
3 Zum Folgenden vgl. Heidelore Böcker: Kleine Städte – „Plattform des regionalen Austauschs.“ Vorpommern/Rügen im 15./16. Jahrhundert, in: Rudert/Zückert (Hgg.), Gemeindeleben, 219.
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erforderte; Städte wurden deshalb genötigt, Garnisonen aufzunehmen.4 Adlige Stadtherren verlangten aber oft auch nur Dienste in Form von Arbeitsleistungen der Bürger, etwa den Transport von Bau- und Brennholz oder die Instandhaltung von Wegen. Jede Stadt definierte sich selbst als Verband politisch teilhabeberechtigter Personen. Die politisch voll berechtigten Mitglieder dieses Verbandes hießen Bürger. Die „Bürgerschaft“ war also die Korporation der politisch voll Berechtigten, sie war nicht identisch mit der Gesamtbevölkerung. Die besonderen Befugnisse oder Rechte der Bürger konnten von Stadt zu Stadt variieren, prinzipiell gehörte dazu das Recht, sich an der Wahl von Bürgermeister und Stadtregierung zu beteiligen. Das Bürgerrecht musste im 18. Jahrhundert in der Regel gekauft werden; nur in Ausnahmefällen erwarb man es durch Heirat oder durch die Übernahme einer Meisterstelle im Handwerk. Man konnte es auch wieder abgeben („aufsagen“) oder auf den Erwerb des Bürgerrechts verzichten. Dann war man der Stadt nicht verpflichtet, hatte aber auch keine politischen Teilhaberechte in ihr. Fürstendiener („Beamte“) erwarben in der Regel kein Bürgerrecht in Städten, weil ihre Loyalität zum Fürsten es nach Auffassung der Frühen Neuzeit nicht erlaubte, dass sie sich noch einem weiteren Herrn unterwarfen. Die Stadtverfassung soll hier als Gesamtheit der Regeln und Verfahren verstanden werden, durch die Macht in der Stadt verteilt, behauptet oder in andere Hände übergeben werden konnte. Solche Regeln konnten schriftlich fixiert sein, das war aber nicht zwingend. Gewaltenteilung existierte wie in der gesamten Frühen Neuzeit nur in Ansätzen; am ehesten gab es für die richterliche Gewalt eigene Organe, also Stadtgerichte oder Stadtrichter, meist fungierte aber der Rat zugleich als Gericht. Städte, die sich das finanziell leisten konnten, beschäftigten für ihre Gerichte im 18. Jahrhundert „studierte“ Juristen.5 Der Anteil des Stadtherrn an Macht und Rechten innerhalb der Stadt konnte ebenfalls von Stadt zu Stadt variieren, vor allem aber war sie in der gesamten Frühen Neuzeit fast immer zwischen Stadt und Stadtherrn strittig, also Ursache und Thema ständiger Verhandlungen und Auseinandersetzungen, die sich bis zu offener Gewalt steigern konnten. An der Spitze der Stadtregierung standen ein oder mehrere Bürgermeister – für dieses Amt gab es unterschiedliche Bezeichnungen. Der oder die Bürgermeister wurde(n) entweder von den Bürgern bzw. einem Ausschuss der Bürgerschaft gewählt oder vom Stadtherrn eingesetzt. Sozusagen Zwischenformen zwischen Wahl und Er4 Dazu vgl. am polnischen Beispiel Boguslav Dybas´ : Die Rolle der Fortifikationen bei der Gestaltung der Stadtlandschaft am Beispiel dreier großer Städte in Königlich-Preußen und ihrer Festungsanlagen vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, in: Roman Czaja/Carsten Jahnke: Städtelandschaften im Ostseeraum im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Torun´ 2009, 187 f. 5 Hans-Werner Hahn:„Brutöfen des Philistertums“ oder Träger des Wandels? Die deutschen Mittel- und Kleinstädte in den Modernisierungsprozessen des frühen 19. Jahrhunderts. In: Klaus Neitmann (Hg.): Das Brandenburgische Städtewesen im Übergang zur Moderne. Stadtbürgertum, kommunale Selbstverwaltung und Standortfaktoren vom preußischen Absolutismus bis zur Weimarer Republik, Berlin 2001, 28 f.
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nennung kamen häufig vor, etwa ein Recht des Stadtherrn, Bürgermeisterkandidaten vorzuschlagen, oder umgekehrt ein Recht der Stadt, dem Stadtherrn Kandidaten zu präsentieren, von denen er dann einen oder mehrere auszuwählen hatte.6 Aber auch Wahlbeeinflussung durch den Stadtherrn war möglich und wurde geübt. Dem Bürgermeister oder den Bürgermeistern zur Seite standen ein oder zwei Ratsgremien extrem unterschiedlicher Größe – von nur einigen bis zu achtundvierzig Mitgliedern (Wien7) kommt in den Stadtverfassungen des 18. Jahrhunderts fast alles vor. Aus dem Rat (auch Magistrat genannt) rekrutierten sich in der Regel die Bürgermeister. Bürgermeister und Rat bildeten gemeinsam die Regierung der Stadt und ihre politische Vertretung nach außen, auch gegenüber dem Stadtherrn.8 Im Innern der Stadt war der Rat prinzipiell für das gesamte städtische Leben verantwortlich, sofern nicht eigene Korporationen wie Zünfte, Bruderschaften, Klöster, einzelne Adlige oder Universitäten eigene, konkurrierende Rechte hatten. Der Rat konnte Recht sprechen, sofern es dafür nicht eigene Gerichte gab; er verantwortete die städtischen Finanzen und die Wirtschaftspolitik der Stadt, entschied über Verkäufe oder Verpfändung städtischen Besitzes, Besteuerung der Stadtbürger, Verleihung und Aufkündigung des Bürgerrechts und übernahm Aufgaben der öffentlichen Ordnung vom Strafvollzug bis zur Bekämpfung des Bettelns, von der Organisation der Wachdienste bis zur Abwehr unliebsamer Wirtschaftskonkurrenz vom Lande. Die Ratsmitglieder wurden von den Bürgern gewählt, in größeren Städten getrennt nach Stadtvierteln, und zwar entweder direkt oder indirekt über Wahlmänner; auch die Selbstergänzung des Rates durch Kooptation war möglich.9 Letzteres geschah in der Regel dann, wenn bei Wahl auf Lebenszeit eine Ratsstelle vakant wurde; es eröffnete den führenden Familien der Stadt viele Möglichkeiten, Verwandte oder Freunde in einflussreiche Stellungen zu bringen.10 Nach modernem Verständnis handelte es sich hierbei um ein Verfahren, das sozusagen prinzipiell von Korruption durchsetzt war. Frühneuzeitliche Städte konnten es jedoch auch als Folge und Zeichen ihrer Autonomie verstehen, da höhere Instanzen sichtlich keinen Einfluss auf die Ratswahl nehmen konnten. Bürgermeister und Rat mit ihren Zuständigkeitsbereichen verkörperten und definierten gewissermaßen den Bezirk politischer Autonomie der Stadt. In diesen Autonomiebezirk konnte jedoch der Stadtherr eingreifen, und zwar je nach geographischer Lage der Stadt und eigenen Möglichkeiten entweder in eigener Person oder mittelbar durch einen entsprechend Beauftragten. Dieser Beauftragte hieß in Preußen 6
Zu unterschiedlichen Verfahren vgl. Rolf Straubel: Zum Wechselspiel von „Wirtschaftsbürgern“, mittleren Beamten und Kommunalbehörden in den mittleren und östlichen Provinzen Preußens ausgangs des 18. Jahrhunderts. In: Neitmann, Städtewesen, 82 – 84; darin auch zum Folgenden. 7 Peter Csendes: Geschichte Wiens (Geschichte der österreichischen Bundesländer), Wien 1981, 48. 8 Evamaria Engel: Die Stadtgemeinde im brandenburgischen Gebiet. In: Blickle (Hg.): Landgemeinde und Stadtgemeinde, 342. 9 Rolf Straubel: Wechselspiel, 81 f. 10 Ebenda, 88 – 90.
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wie in Österreich der Amtmann, in Österreich war auch die Bezeichnung „Vogt“ möglich. Der Amtmann oder Vogt konnte auch mit dem Stadtrichter identisch sein.11 Eingriffsmöglichkeiten hatte der Stadtherr prinzipiell jederzeit, denn die Autonomie der Stadt galt als vom Stadtherrn gestiftet, gleichgültig, ob das ausdrücklich durch eine Stadtgründungsurkunde belegt war oder nicht. Herrschaft und städtische Autonomie hingen also untrennbar miteinander zusammen. Was in modernen Ohren paradox klingt, verstand sich für frühneuzeitliche Städte von selbst: Die städtische Freiheit war von Herrschaft garantiert, ohne Herrschaft konnte es Freiheit nicht geben. Die Autonomie der Städte war unter den Bedingungen dieses Grundverständnisses aber auch immer gefährdet, einesteils, weil Freiheit und Herrschaft im konkreten Fall auch in Spannung zueinander stehen können, wenn auch nicht müssen, und andernteils, weil gerade in der Frühen Neuzeit Herrschaft prinzipiell auf Verhandlung, aber auch auf sicht- und fühlbarer Machtdemonstration beruhte – von Seiten der Städte wie der Stadtherren. Auch deshalb hingen die politischen Gestaltungsmöglichkeiten von Städten nicht nur von ihrer „Verfassung“ und der Stellung ihres Herrn ab, sondern von vielen einzelnen Entscheidungen darüber, was die Stadt an Rechten verteidigen konnte, erwarb oder aufgab und was der Herr an Befugnissen durchsetzen wollte oder was er von Seiten der Stadt hinnahm. Wegen unzähliger Einzelentscheidungen dieser Art in der Vergangenheit hatte im 18. Jahrhundert fast jede Stadt in Mittel- und Westeuropa ihre eigene „Verfassung“ und ihr Bündel von Rechten und Privilegien, so dass sich die Lage „der“ Städte nur auf sehr abstrakter Ebene vergleichen lässt, im Konkreten kaum mehr. Wenn also nun in einem zweiten Schritt dargelegt werden soll, welche Gestaltungsmöglichkeiten „die“ Städte in den preußischen und Habsburger Territorien zur Zeit Friedrichs des Großen und Maria Theresias bzw. Josephs II. (1740 – 1790) hatten und wie sich diese Möglichkeiten im Laufe dieses Jahrfünfzigst entwickelten, so ist das wiederum nur auf einer sehr abstrakten Ebene möglich, weil schon die Ausgangspositionen städtischer Rechts-, Verfassungs-, Wirtschafts- und Politikverhältnisse sehr unterschiedlich waren. Allerdings können die allgemeinen Darlegungen am Beispiel einzelner Städte Farbe und Tiefenschärfe gewinnen. Erleichtert wird die Darstellung dadurch, dass, wie einige Einzelstudien schon ergeben haben, die Konfliktfelder zwischen Stadt und Herrschaft einerseits, Stadtobrigkeit und Bürgern andererseits in Preußen und Österreich nicht allzu verschieden waren. Die politischen Gestaltungsmöglichkeiten der Städte ergaben sich aus ihrer Struktur, ihrer politischen Situation und ihren Rechten, und zwar prinzipiell auf drei Ebenen: a) Immediat- bzw. Königliche Städte hatten das Recht, sich an Landtagen zu beteiligen und damit über Belange des gesamten Territoriums – nicht des gesamten Herrschaftsbereichs der Habsburger oder der preußischen Könige – mitzuentscheiden.
11 Sergij Vilfan: Die Land- und Stadtgemeinden in den habsburgischen Ländern. In: Blickle (Hg.): Landgemeinde, 154; 159.
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b) Jede Stadt hatte politische Gestaltungsmöglichkeiten als Korporation, und dies wiederum auf zwei Arten. Erstens insofern, als sie Autonomie und Rechte gegenüber dem Stadtherrn behaupten, erwerben und verteidigen konnte, also über politische Macht verfügte. Zweitens als Teilnehmerin am Wirtschaftsleben, auch sozusagen über den wirtschaftlichen Aktivitäten einzelner Bürger. Sie verfügte über Grund und Boden, der oft weit über das Gebiet ihrer Häuser und Mauern hinausreichte, und konnte den Ertrag dieses Bodens wirtschaftlich nutzen, z. B. Wiesen, Wälder, aber auch Mühlbäche, Häfen – z. B. durch Zollerhebung – oder Bergwerke. c) Jede Stadt hatte Gestaltungsmöglichkeiten als Obrigkeit gegenüber ihren Bürgern, das innerstädtische Leben zu gestalten. An Landtagen teilnehmen und damit in der Politik des jeweiligen Territoriums mitreden, mitberaten und mitentscheiden durften nur die Städte mit „Landstandschaft“, also die Immediat-, Königlichen oder landesherrlichen Städte. Die Landtagsfähigkeit dieser Städte wurde nie förmlich aufgehoben oder bestritten, aber sie war schon vor dem 18. Jahrhundert sowohl im preußischen als auch im habsburgischen Staatenverband in vielen Territorien inhaltsleer geworden. In den meisten preußischen Territorien gab es im 18. Jahrhundert nur noch Huldigungslandtage.12 Sie wurden zwar zur Herrschaftsbestätigung für notwendig gehalten, und die Stände durften auf ihnen auch Bitten und Beschwerden vorbringen. Der König musste aber auf diese Bitten nicht mehr eingehen, da es keine weiteren Landtage mehr gab. Die Landtagsdeputierten sämtlich, und die Städtevertreter erst recht, wurden dadurch zur reinen Staffage eines herrschaftsbestätigenden Rituals. Nachdem Schlesien 1741 an Preußen gefallen war, fanden dort keine Landtage mehr statt,13 so dass die dortigen Königlichen Städte ihre politischen Mitwirkungsmöglichkeiten auf Territorialebene verloren. Im preußischen Ostfriesland gab es nach der Besitzergreifung noch eine Zeitlang Landtage;14 im Herzogtum Kleve und der Grafschaft Mark fanden sogar noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Landtage statt, sogar in festen periodischen Abständen.15 Die Stände von Kleve und Mark und damit auch ihre Städtevertreter durften zwar Steuern nicht prinzipiell ablehnen, aber über ihre Höhe verhandeln, und auch ständische Forderungen konnten auf den Landtagen behandelt werden. 12 Zum Folgenden vgl. am ostpreußischen Beispiel Stefan Hartmann: Die ostpreußischen Stände beim Regierungsantritt Friedrichs des Großen (1740). In: Hugo Weczerka (Hg.): Stände und Landesherrschaft in Ostmitteleuropa in der frühen Neuzeit (Historische und landeskundliche Ostmitteleuropa-Studien 16), Marburg 1995, 75 – 83. 13 Norbert Conrads: Die schlesischen Stände zwischen Habsburger Monarchie und Brandenburg-Preußen: Die schlesische Ständeverfassung im Umbruch – Vom altständischen Herzogtum zur preußischen Provinz. In: Peter Baumgart (Hg.): Ständetum und Staatsbildung in Brandenburg-Preußen. Ergebnisse einer internationalen Fachtagung (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 55), Berlin u. a. 1983, 335. 14 Enno Eimers: Das Ständewesen in Ostfriesland. In: Baumgart (Hg.), Ständetum, passim. 15 Zum Folgenden vgl. Ernst Opgenoorth: Stände im Spannungsfeld zwischen Brandenburg-Preußen, Pfalz-Neuburg und den niederländischen Generalstaaten: Cleve-Mark und Jülich-Berg im Vergleich. In: Baumgart (Hg.), Ständetum, 247.
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Im Fürstentum Halberstadt wirkte noch im 18. Jahrhundert ein Ausschuss des Landtags – volle Landtagsversammlungen gab es nicht mehr – an der Verwaltung der Finanzen und Schulden des Territoriums mit.16 Ihn beschickten fünf bis sechs Städtevertreter neben 31 Vertretern von Prälaten, Domkapitel und Ritterschaft. Ein Wahlrecht von Städtevertretern gab es aber nicht mehr, der Ausschuss ergänzte sich durch Kooptation. In den österreichischen Erblanden, Böhmen und Ungarn war das landständische Leben im 18. Jahrhundert noch etwas lebhafter, denn in allen diesen Reichsteilen existierten noch Landtage, und in allen Landtagen außer dem ungarischen saßen auch Städtevertreter. Allerdings wurden sie nicht nur durch das Verhandlungsverfahren der Abstimmung nach Kurien (nach Stand unterschiedenen Gruppen) an den Rand gedrängt, sondern auch dadurch, dass ihnen der Adel schon seit dem 17. Jahrhundert wirtschaftlich den Rang abgelaufen hatte. So konnten die Städte im 18. Jahrhundert nicht mehr wie in früheren Zeiten die Steuerverweigerung als politisches Druckmittel einsetzen, und oft blieben sie dem Landtag ganz fern, weil das aufwendige Verfahren der Deputiertenwahl – einschließlich der Kosten für die Deputierten, denn Diäten gab es nicht – für die Städte in keinem vernünftigen Verhältnis zum möglichen politischen Ertrag stand. Von den 31 böhmischen Städten, die im 16. Jahrhundert landtagsfähig gewesen waren, schickte nach 1755 nur noch Prag überhaupt Deputierte auf den böhmischen Landtag.17 Im niederösterreichischen Landtag hatten die landesherrlichen Städte im 18. Jahrhundert neben Wien nur eine gemeinsame Stimme, weshalb immer weniger Städte überhaupt Deputierte zum Landtag schickten; Wien selbst reduzierte die Zahl seiner Abgeordneten von acht auf zwei.18 Auch in der Steiermark hatten die landesherrlichen Städte nur eine gemeinsame Stimme.19 Die siebenbürgischen Städte durften auf dem ungarischen Reichstag ebenfalls nur gemeinsam eine „Kuriatstimme“ abgeben.20 Weil die Städte wirtschaftlich gegenüber dem Adel zurückgefallen waren, konnten sie auf den Landtagen nichts mehr bewegen, nicht einmal etwas verhindern, und blieben weg, ohne dass ihnen ihr Recht förmlich genommen werden musste. Selbst im habsburgischen Schwaben, in dem es keine adligen Deputierten auf den Landtagen gab, besuchte im 18. Jahr-
16 Zum Folgenden vgl. Wolfgang Neugebauer: Magdeburg, Halberstadt, Minden. In: Baumgart (Hg.), Ständetum, 178. 17 Robert Joseph Kerner: Bohemia in the Eighteenth Century. A Study in Political, Economic, and Social History with special Reference to the Reign of Leopold II, 1790 – 1792, New York (1969), 73 f. 18 Andrea Pühringer: „Mitleiden“ ohne Mitsprache? Die landesfürstlichen Städte Österreichs als Vierter Stand. In: Gerhard Ammerer/William R. Godsey/Martin Scheutz/Peter Urbanitsch/Alfred Stefan Weiß (Hgg.): Bündnispartner und Konkurrenten der Landesfürsten? Die Stände in der Habsburgermonarchie (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 49), Wien/München 2007, 94 f. 19 Zum Folgenden vgl. ebenda, 95. 20 Wolfgang Kessler: Stände und Herrschaft in Ungarn und seinen Nebenländern im 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Weczerka, Stände, 184.
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hundert nur noch ein Fünftel der Berechtigten überhaupt den Landtag.21 Oberösterreich und Kärnten bildeten insofern große Ausnahmen in der gesamten kontinentaleuropäischen Ständelandschaft, als die Städte nicht nur das Recht behielten, auf den Landtagen eine Stimme pro Stadt abzugeben, sondern in Oberösterreich Städtevertreter sogar an Regierungsbehörden beteiligt sein durften. Im wahren Wortsinne entscheidende politische Bedeutung hatten die Städte noch in den (seit 1715) österreichischen Niederlanden, besonders selbstverständlich die finanzkräftigsten Städte Brüssel, Gent und Brügge.22 Da die Stände der österreichischen Niederlande nicht über ein eigenes Versammlungslokal verfügten, mussten die Landtagsdeputierten in einem städtischen Rathaus zusammenkommen, was der gastgebenden Stadt nicht nur Prestige, sondern auch Einfluss sicherte. Auch aufgrund ihrer großen Wirtschaftskraft waren die niederländischen Städte imstande, auf Landtagen ein gewichtiges Wort mitzureden. Am meisten Aufmerksamkeit in der Forschung hat die Auseinandersetzung der Städte mit ihren Stadtherren um die Rechte der Städte als Korporationen gefunden, und zwar sowohl, was die politischen, als auch, was die wirtschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten der Städte angeht. Für Preußen wie für Österreich lässt sich dabei eine eindeutige und konfliktträchtige Tendenz erkennen. Stadtherren, die sich dazu in der Lage fühlten, sei es der König oder ein adliger Herr, versuchten die politischen und wirtschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten der Stadt einzuschränken und damit ihre eigene Macht zu vergrößern. Je zäher und erbitterter die Städte ihrerseits um ihre Rechte kämpften, desto umfangreicher ist das Aktenmaterial und desto klarer sichtbar meist das Ergebnis. Einige Beispiele quer durch die preußischen und die Habsburger Staaten zeigen, um welche unterschiedlichen Materien es dabei gehen konnte und welche Mittel die Herren einsetzten, um die Autonomie der Städte zu beschneiden oder gar zu brechen. 1741: Friedrich der Große befiehlt die Zuwahl von je zwei protestantischen Ratsherren in die Ratsgremien der Städte des gerade eroberten Schlesien.23 Bald darauf wird die bisherige Wahl der Magistrate für die schlesischen Städte ganz abgeschafft, der Magistrat durch Beamte ersetzt, die von der königlichen Kammer bestimmt werden. Die Finanzverwaltung der Städte wird den jeweiligen preußischen Steuerräten 21 Franz Quarthal: Bürger und Bauern als Träger politischen Lebens im habsburgischen Schwaben. In: Peter Blickle (Hg.): Landschaften und Landstände in Oberschwaben. Bäuerliche und bürgerliche Repräsentation im Rahmen des frühen europäischen Parlamentarismus (Oberschwaben – Geschichte und Kultur 5), Tübingen 2000, 74. 22 Zum Folgenden vgl. Luc Duerloo: Discourse of Conquest, Discourse of Contract: Competing Visions on the Nature of Habsburg Rule in the Netherlands. In: Ammerer u. a., 463 f. 23 Zum Folgenden vgl. Schlesisches Städtebuch, hg. im Institut für vergleichende Städtegeschichte an der Universität Münster von Heinz Stoob und Peter Johanek, in Verbindung mit der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, bearbeitet von Waldemar Grosch unter Mitarbeit von Heinz Stoob, Maria Elisabeth Grüter und Franz-Joseph Post, Stuttgart/Berlin/Köln 1995 (Deutsches Städtebuch, Handbuch städtischer Geschichte, Neubearbeitung, Bd. 1: Schlesien), SXLIII.
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unterstellt, kleineren Städten wird ihr Stadtrecht ganz abgesprochen, sie sinken zu Marktflecken herab. 1743: Die Brandenburger Amtsstadt Fehrbellin wehrt sich gegen die neue Dienstverpflichtung zu Fuhren im Kriegsfall.24 Der Landrat bleibt hart und erklärt, die „Großbürger“ der Stadt seien reich genug, um die Fuhren zu leisten. 1745: Der adlige Stadtherr der Stadt Freyenstein in der Prignitz beklagt sich bei der Kriegs- und Domänenkammer darüber, dass die Bürger ihre Dienste nachlässig versähen.25 Daraufhin wird die Dienstpflicht präzisiert. Der neu festgesetzte rechtliche Rahmen schafft zwar einerseits Rechtssicherheit, schränkt aber den Verhandlungsspielraum bei künftigen Auseinandersetzungen ein – allerdings für beide Seiten. Mittelbar wird dadurch die landesherrliche Gewalt gegenüber Stadtherrn und Stadt gestärkt. 1745: Kaiserin Maria Theresia richtet eine Hofkommission zur Überwachung des städtischen Wirtschafts- und Steuergebarens ein.26 Sie betont damit ihre Stadtherrschaft und kündigt sozusagen an, sie durch Kontrolle in die Praxis umzusetzen und wirksam zu machen. Die Städte sollten diese Kommission finanzieren und nur noch mit Wissen der Kommission Kredite aufnehmen dürfen.27 Damit war eine eigenständige Finanzpolitik der landesherrlichen Städte unmöglich gemacht. Zugleich wurde den Städten Ober- und Niederösterreichs das Teilhaberecht an den Landtagen insgesamt entzogen, ihr Rechtsstatus als landesherrlicher Städte war also politisch nichts mehr wert. 1746: Der adlige Herr der Stadt Rhinow im Havelland, von der Hagen, plant den Bau eines Gefängnisses.28 Die Stadt fasst das als unberechtigten Eingriff in ihre Gerichtsrechte auf und klagt vor dem Kammergericht. Prozesse ziehen sich bis zum Jahr 1780 hin. Das Resultat ist ein Kompromiss, der die Rechte der Stadt zwar einerseits präzisiert, andererseits aber vielleicht auch einschränkt: Der Stadtherr darf das Gefängnis bauen, es wird ihm aber verboten, in Schuldsachen der Bürger in erster Instanz zu urteilen. Eindeutiger Gewinner des Prozesses ist die Autorität des landesherrlichen Gerichts. 24 Zum Folgenden vgl. Frank Göse: „Der Satan ist an diesem Ort recht los!“ Vergleichende Betrachtungen zu Widerständigkeit und Handlungsspielräumen in domanialen und adligen Mediatstädten der Kur- und Neumark Brandenburg (1650 – 1770). In: Rudert/ Zückert (Hgg.), Gemeindeleben, 346 f. 25 Zum Folgenden vgl. Liselott Enders: „Flecken“ zwischen Dorf und Stadt. Das Selbstbehauptungspotential adliger Städte in der Frühneuzeit, untersucht am Beispiel der Prignitz. In: Rudert/Zückert (Hgg.), Gemeindeleben, 278. 26 Reinhard Stauber: Die „Durchstaatlichung“ der Kommunen in der Österreichischen Monarchie unter Joseph II. In: Peter Blickle/Andreas Schmaucher (Hgg.): Die Mediatisierung der oberschwäbischen Reichsstädte im europäischen Kontext (Oberschwaben – Geschichte und Kultur 11), Epfendorf 2003, 244 f. 27 Zum Folgenden vgl. Pühringer, 107. 28 Zum Folgenden vgl. Göse, 332.
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1747: Die mariatheresianische Hofkommission wird bei der niederösterreichischen Regierung verstetigt;29 die Kontrolle zumindest der Städte in der unmittelbaren Umgebung Wiens soll dadurch offenbar dauerhaft – und vielleicht sogar erst wirksam – werden. 1749: Der Direktor der Kriegs- und Domänenkammer für Ostfriesland setzt auf dem Landtag mit Hilfe der kleinen Städte eine Steuerreform und die Kontrolle der Finanzwirtschaft der Stadt Emden durch.30 Dadurch werden die wirtschaftlichen Möglichkeiten dieser Stadt stark beschnitten. 1750: Maria Theresia verbietet den vorarlbergischen Städten Feldkirch, Bregenz und Bludenz, selbstständig ohne Genehmigung des Oberamts Kredite aufzunehmen oder Güter zu verpfänden.31 Damit soll die finanzielle Kontrolle der Städte, die in Ober- und Niederösterreich schon begonnen hat, auch in Vorarlberg durchgesetzt werden. 1750: Das siebzehnköpfige Ratsgremium der steirischen Hauptstadt Graz wird durch landesherrlichen Befehl auf sieben Mann verkleinert.32 Das beschneidet die Mitwirkungsrechte des städtischen Patriziats. 1768: Feldkirch in Vorarlberg bekommt eine neue Stadtverfassung mit verkleinertem Rat und strenger landesherrlicher Finanzkontrolle.33 Als sich dagegen eine Bürgerbewegung formiert, reagiert die Regierung mit Verhaftungen und der Unterstellung Feldkirchs unter ein Vogteiamt, also der Mediatisierung, was den Verlust des Rechtsstatus als landesfürstlicher Stadt bedeutete. 1779: Der preußische Staatsminister Karl Abraham Freiherr von Zedlitz proklamiert gegenüber dem Magistrat von Breslau die staatliche Oberaufsicht über das Gymnasium Elisabethanum – wofür es bis dato keine gesetzliche oder verordnungsmäßige Grundlage gab –, um mit dieser Begründung eine Schulreform nach aufklärerischen Prinzipien durchzusetzen.34 Der Magistrat wehrt sich gegen diesen Eingriff in sein Patronatsrecht wohl mangels anderer Möglichkeiten durch Verschleppung: Neun Monate bleibt der Brief des Staatsministers unbeantwortet liegen, dann antwortet der Magistrat, zur Durchführung der Reform, wie sie Zedlitz wolle, fehle das Geld für neue Lehrer, neue Bücher und Karten. Nach vier Jahren verbissenen Verhandelns macht die Regierung finanzielle Zugeständnisse, der Magistrat seinerseits ändert die 29
Stauber, Kommunen, 244 f. Eimers, Das Ständewesen in Ostfriesland, 460. 31 Alois Niederstätter: „Unterjochung“ und „Aufgeklärte Tyrannei“? Die Eingliederung der Vorarlberger Städte in den frühmodernen Staat, in: Blickle/Schmaucher (Hgg.), 262. 32 Stauber, Kommunen, 245. 33 Zum Folgenden vgl. Niederstätter, 264. 34 Zum Folgenden vgl. Anne-Margarete Brenker: Breslau und Brandenburg-Preußen zwischen 1740 und 1800: Thesen zur Kommunikation mit einer neueroberten Provinzhauptstadt. In: Ralf Pröve/Norbert Winnige (Hgg.): Wissen ist Macht. Herrschaft und Kommunikation in Brandenburg-Preußen 1600 – 1850 (Schriftenreihe des Forschungsinstituts für die Geschichte Preußens e.V. 2), Berlin 2001, 132 – 134. 30
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Lehrpläne der Schule. Sowohl Geldmangel als auch der Unwille der Lehrer, sich nach neuen Anforderungen zu richten, führen schließlich dazu, dass die Reform in praxi scheitert. 1780: Die adlige Mediatstadt Wittenberge in der Prignitz wehrt sich gegen die staatlich geforderte Vermessung ihres Waldbestandes, weil sie Eingriffe in ihre Holzrechte und ihr Vermögen befürchtet.35 Der Ausgang des Streits ist nicht dokumentiert. 1784: Rovereto in Südtirol erhält eine neue Stadtverfassung, durch die unter anderem das Recht der umliegenden Landgemeinden aufgehoben wird, Vertreter in den Magistrat der Stadt zu entsenden.36 Die Landgemeinden wehren sich, indem sie die Anordnungen des Magistrats nicht befolgen. Nach zehn Jahren offenbar zähen Widerstands (1794) wird die Reform zum Teil zurückgenommen. 1784: Die drei Teilstädte von Prag werden „verwaltungstechnisch vereinigt, die Selbstverwaltung beseitigt“.37 1786: Ein vom Hof ausgesandter Jurist setzt in Bozen mit politischem Druck und gezielten Demütigungen eine Verfassungsreform und die Wahl des von ihm favorisierten Bürgermeisterkandidaten durch. 38 Die Rechte der Städte als Korporationen wurden also sowohl auf politischem als auch auf wirtschaftlichem Gebiet beschnitten, vor allem direkt durch Einflussnahme bei der Ämterbesetzung, aber auch indirekt durch Aufsicht und Kontrolle, vor allem über das Finanzgebaren der Städte. Die Landesherren, zum Teil auch die adligen Stadtherren, versuchten auf diese Weise, die städtische Autonomie auszuhöhlen. Anders als gegenüber den Ständen, in denen der Adel das Übergewicht hatte und deren Rechte nie förmlich aufgehoben wurden, setzte die landesherrliche Gewalt sowohl in Österreich als auch in Preußen gegenüber den Städten als Korporationen stärker auf die förmliche Aberkennung von Rechten – Veränderungen der Stadtverfassung, Etablierung von Kontrollinstanzen oder direkte Verbote bis hin zur Aberkennung der Landstandschaft. An den Beispielen aus Preußen kann man sehen, dass und wie die Landesherrschaft Differenzen zwischen Mächtigen und Mindermächtigen ausnutzte, um die eigene Macht zu vergrößern: Der Direktor der ostfriesischen Kriegsund Domänenkammer spielte die kleineren Städte gegen das verhältnismäßig mächtige Emden aus; Prozesse zwischen Städten und ihren adligen Herren stärkten mittelbar die Autorität der landesherrlichen Gerichtsbarkeit. Doch diese Art des MachtAusspielens war sicher nicht auf Preußen beschränkt; und höchstwahrscheinlich gab es auch im Habsburgerreich Parallelfälle, die nur noch nicht aufgedeckt und unter35
Zum Folgenden vgl. Enders, Selbstbehauptungspotential, 274. Zum Folgenden vgl. Stauber, Kommunen, 249 – 251. 37 Jirˇi Pesˇek: Macht in der Stadtgeschichte Prags – Von der Gründung der Prager KarlsUniversität bis zur Gegenwart. In: Michael Gehler: Die Macht der Städte. Von der Antike bis zur Gegenwart, unter Mitarbeit von Imke Scharlemann, Hildesheim/Zürich/New York 2011, 485. 38 Stauber, Kommunen, 255. 36
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sucht sind. Man sieht an den genannten Beispielen auch, dass die Städte im Konfliktfall ihre Rechte nie in dem von ihnen behaupteten Umfang bewahren konnten. Dabei liefen Königliche, landesherrliche oder Immediatstädte offenbar im Konfliktfall stärker Gefahr, an ihren Rechten einzubüßen, weil der Stadtherr zugleich Landesherr war und seine Macht gerade durch die Beschneidung städtischer Autonomie zu befestigen hoffte. Mediatstädte hatten demgegenüber die Möglichkeit, in Auseinandersetzungen mit ihrem adligen Stadtherrn den Landesherrn als höhere Instanz anzurufen. Das wirkte sich als Stützung des städtischen Anliegens aus, weil der Landesherr in einem solchen Falle seine Macht gerade dadurch gestärkt sah, dass der adlige Stadtherr in seine Schranken gewiesen wurde und der Landesherr in das Verhältnis zwischen Stadt und Stadtherrn eingreifen konnte, was im Normalfall in der Frühen Neuzeit nicht möglich war. Um die dritte Ebene, das Verhältnis zwischen der städtischen Obrigkeit und den Bürgern und sonstigen Einwohnern, ging es vor allem in den Auseinandersetzungen um Gerichtsrechte. Die Befugnisse der Städte auf diesem Gebiet konnten sehr unterschiedlich sein. Einige wenige Städte verfügten über die sogenannte hohe oder Hochgerichtsbarkeit, auch „Blutbann“ genannt, weil es sich um die Befugnis handelte, über Verbrechen zu urteilen, bei denen Blut geflossen war, wie Mord, Körperverletzung und Vergewaltigung – und die Urteile bis hin zur Todesstrafe auch zu vollstrecken. Sozusagen traditionell war die Hochgerichtsbarkeit jedoch dem Stadt- oder Landesherrn vorbehalten – daher ihr Name. Die niedere Gerichtsbarkeit war meist zwischen Stadt und Stadtherrn geteilt.39 Ein weiteres wichtiges Recht, das das Verhältnis zwischen städtischer Obrigkeit und Bürgern prägte, war das Recht der Städte, von ihren Bürgern eigene Steuern zu erheben. Sowohl in die Gerichts- als auch in die Steuererhebungsrechte von Städten griffen die Stadtherren im 18. Jahrhundert zunehmend ein, Landesherren gegenüber ihren Königlichen bzw. Immediatstädten ebenso wie adlige Stadtherren gegenüber ihren Mediatstädten. Die Stadtherren sozusagen jeder Ebene suchten auf diese Weise den Stadtrat oder Magistrat ins eigene Machtgefüge einzubinden und damit stärker die eigentliche Zentrale der Macht im eigenen Herrschaftsbereich zu werden. In diesen Zusammenhang gehören die Aktivitäten der mariatheresianischen Hofkommission, die Steuererhebung in den Städten zu „ordnen“, sowie die strenge Finanzaufsicht der Kriegs- und Domänenkammern über die preußischen Städte. Auch in Gerichtsrechte griffen die Stadtherren jeden Ranges ein. Maria Theresia entzog den ungarischen Königlichen Städten das ius gladii (das ist das Recht, Todesurteile zu vollstrecken), das sie bisher besessen hatten.40 Diese Maßnahme stieß auf wenig Widerstand von Seiten der Städte – aber wahrscheinlich nicht, weil diese Verringerung ihrer Rechte nicht geschmerzt hätte, sondern deshalb, weil das ius gladii als vom König verliehen galt, so dass die Schluss39 Enders, „Flecken“, passim; unterschiedliche Grade der Verfügung über Niedergerichtsbarkeit bei kurmärkischen Städten nennt Wolfgang Radtke: Die städtische Wirtschaft der Mark Brandenburg zwischen staatlichem Merkantilismus und Gewerbefreiheit. In: Neidtmann, Städtewesen, 63. 40 Kerner, 170; 381.
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folgerung möglich war, der König könne es auch wieder zurücknehmen. Die Stadt Feldkirch verlor ihr traditionelles Begnadigungsrecht nach der Revolte gegen die verordnete Verfassungsreform.41 Mediatstädte konnten sich auch in Bezug auf Gerichtsrechte gegen ihre adligen Stadtherren bisweilen behaupten, sofern sie die Möglichkeit hatten, vor einem landesherrlichen Gericht zu klagen, wie der Fall der havelländischen Stadt Rhinow im Streit mit ihrem Stadtherrn um den Gefängnisbau zeigt. Eine verallgemeinernde Bilanz dessen, was „die“ Städte um 1790 noch an Gestaltungsmöglichkeiten hatten, wird sich kaum ziehen lassen. Zu unterschiedlich waren sowohl die Voraussetzungen als auch die Ergebnisse städtischen politischen Handelns und Leidens von Stadt zu Stadt im Einzelnen. Aufs Ganze gesehen, lassen sich dagegen keine wesentlichen Unterschiede zwischen preußischer und österreichischer landesherrlicher Politik gegenüber den Städten erkennen. Allenthalben wurde der Staatszugriff stärker. Die Mitwirkungsmöglichkeiten der Städte auf Landtagen wurden kaum jemals förmlich bestritten, sondern meist dadurch abgeschafft, dass es entweder Landtage kaum noch gab (wie in Preußen) oder die Städte keinen vernünftigen Grund mehr sahen, einen Landtag zu besuchen, der sie zu hohen finanziellen Aufwendungen verpflichtete, ohne dass sie ihrerseits hätten politischen Druck ausüben können (wie in Böhmen). Gegenüber den Ständen (und damit mittelbar den Immediat- und Königlichen Städten) griff die Landesherrschaft also eher zu informellen und indirekten Methoden, die Stände dem eigenen Machtgefüge ein- und unterzuordnen. Gegenüber den Städten als Korporationen setzten beide Landesherrschaften dagegen eher auf förmliche und direkte Zwangsmittel wie verordnete Verfassungsänderungen, Verbote und verschärfte Kontrolle vor allem auf dem Gebiet der städtischen Finanzen. Das bedeutete auch, dass landesherrliche Zentralisierungs-, Nivellierungs- und Standardisierungsprozesse für die Städte stärker fühlbar waren. Wurde das landesherrliche Vorgehen als gewaltsam oder unrechtmäßig empfunden, kam es gelegentlich zu Gegengewalt von Seiten der Bürger, nicht jedoch der Städte als Korporationen selbst. Es scheint, als hätten die Städte wie auf höherer Ebene die Stände insgesamt den stärkeren landesherrlichen Zugriff wenn nicht als notwendig oder unbedingt richtig, so doch zumindest als legitim angesehen und sich ihm deshalb nicht bis zum äußersten widersetzt. Vielleicht sahen sie aber auch nur realistisch, dass ihre Möglichkeiten zur Gegenwehr begrenzt waren. Wenigstens fällt auf, dass in den betrachteten Beispielen keine Stadt in einem Konflikt mit ihrem Stadtherrn ihre Rechte erweitern konnte. Bestenfalls gelang es ihr, den status quo zu bewahren oder eine Präzisierung ihrer Verpflichtungen zu erreichen; meist musste sie jedoch eine Einschränkung ihres bisherigen Rechts in Kauf nehmen. Königliche, landesherrliche und Immediatstädte büßten in der Auseinandersetzung mit ihrer Stadt- und Landesherrschaft immer an Rechten ein; aber dasselbe galt für die Mediatstädte, und das selbst dann, wenn sie eine Klagemöglichkeit vor einem landesherrlichen Gericht hatten. Allerdings kann diese Tendenz nicht völlig sicher behauptet werden, weil Untersuchungen über Konflikte österreichischer Mediatstädte bis jetzt noch fehlen. 41
Niederstätter, 264.
Zur prekären Lage der Staatsfinanzen in Preußen und Österreich rund um den Wiener Kongress Von Marion Koschier, Klagenfurt Sei uns willkommen, freudige Stunde, Sei uns willkommen, herrlicher Tag! Denn du vergönnst zu gestehen dem Munde, Was sonst schweigend im Herzen nur lag. Brechet die Schranken, Stille Gedanken! Und aus des Busens engendem Haus Tretet als feurige Wünsche heraus! Preiset ihn! Preiset ihn! Preiset den Mann, Der Großes will, der Großes kann! Franz Grillparzer, Kantate an den Finanzminister Graf Stadion
Mit der Einnahme von Paris am 31. März 1814 durch die alliierten Truppen und Napoleons Thronverzicht zugunsten des bourbonischen Königshauses war eine entscheidende Etappe auf dem Weg zur Befriedung des europäischen Kontinents genommen worden. Die zwei Monate später erfolgte Unterzeichnung des Pariser Friedensvertrages am 30. Mai 1814 setzte – zumindest vorläufig – einen Schlussstrich unter eine rund fünfundzwanzigjährige von Krieg geprägte Epoche, die zusätzlich durch einschneidende politische und gesellschaftliche Umwälzungen gekennzeichnet war. Trotz ursprünglich erheblich divergierender Kriegsziele1 hatten Frankreichs Gegner seit 1813 die Notwendigkeit eines geeinten Vorgehens auch außerhalb des Schlachtfeldes erkannt, wollte man letztlich zu einer stabilen Nachkriegsordnung gelangen. Anstatt einzelne Separatfrieden mit Napoleon abzuschließen, rangen sich die Alliierten auf Betreiben des britischen Außenministers Castlereagh zu einem gemeinsam getragenen Konzertfrieden durch.2 Dass diese Bündelung der Kräfte 1 Vgl. dazu Matthias Schulz: Normen und Praxis. Das Europäische Konzert der Großmächte als Sicherheitsrat 1815 – 1860 (Studien zur Internationalen Geschichte 21), München 2009, 54 f. 2 Artikel II des Vertrages von Chaumont verpflichtete die Unterzeichner, von separaten Friedensschlüssen abzusehen: „Les hautes parties contractantes s’engagent réciproquement à ne pas négocier séparément avec l’ennemi commun et à ne signer ni paix […] que d’un commun accord.“ Definitiv-Allianz von Chaumont, 10. März 1814. In: Philipp Anton Guido von Meyer (Hg.): Corpus Juris Confoederationis Germanicae oder Staatsacten für Geschichte
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„eine Schöpfung der Not und zugleich der Vernunft“3 war, ist verständlich, waren doch die materiellen Ressourcen der einzelnen Kriegsparteien erschöpft, die europäischen Volkswirtschaften zum Teil zerrüttet und die öffentlichen Finanzen vielerorts völlig aus dem Ruder gelaufen. Dieser Befund galt im Besonderen für Preußen und Österreich, die im Verlauf der militärischen Auseinandersetzungen zweifelsohne die größte Schwächung unter den alliierten Großmächten erfahren hatten. Im Unterschied zu Russland oder Großbritannien hatten diese Staaten nicht nur über Jahre hinweg immer wieder zum Kernland der Kampfeshandlungen gezählt und damit die umfassendsten Verheerungen erlitten, sondern waren unabhängig voneinander durch Napoleons imperialistische Eroberungspolitik in ihrer staatsrechtlichen Existenz bedroht gewesen.4 Diesen Tatsachen geschuldet, war den beiden „deutschen“ Mächten – die auch hinsichtlich ihrer jeweiligen militärischen Schlagkraft deutlich hinter ihren Verbündeten rangierten – innerhalb der auf dem Wiener Kongress5 ins Leben gerufenen europäischen Friedensarchitektur bewusst eine neue, gemeinsame Rolle zugedacht. Unter der Hegemonie Berlins und Wiens sollte der Deutsche Bund mit 35 Millionen Einwohnern in Nachfolge des Alten Reiches eine föderativ gestaltete, stabile Neuorganisation Mitteleuropas ermöglichen, indem er die Hohenzollern- und die Habsburgermonarchie mit den „mindermächtigen“6 deutschen Kleinund Mittelstaaten zu einem neu erstarkten Defensivbündnis zusammenschweißte. und öffentliches Recht des Deutschen Bundes, Erster Teil, Frankfurt am Main 1858, 230. Den prozesshaften Charakter der Friedensbemühungen betont auch Paul W. Schroeder: The Vienna System and Its Stability: The Problem of Stabilizing a State System in Transformation. In: Peter Krüger (Hg.): Das europäische Staatensystem im Wandel. Strukturelle Bedingungen und bewegende Kräfte seit der Frühen Neuzeit (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 35), München 1996, 107 – 122, hier 116. 3 Schulz, Normen, 54. 4 Während sich im Falle Preußens diese Bedrohung unmittelbar durch die vernichtenden Niederlagen im Oktober 1806 und deren realpolitische Folgen ausdrückte, waren es im Falle Österreichs weniger die Gebietsverluste von 1805 und 1809, denn die seit der Französischen Revolution zunehmend populäre Idee des Nationalstaates als neues europäisches Ordnungssystem, welche die politische Existenz des multiethnischen Reichsverbands in Frage stellte. 5 Das zweihundertjährige Jubiläum 2014/15 hat die Geschichtswissenschaft zu einer umfassenden, perspektivisch deutlich erweiterten Auseinandersetzung mit dem Wiener Kongress bewogen, die sich in einer Vielzahl von Neuerscheinungen wiederspiegelt, auf die an dieser Stelle nicht umfassend eingegangen werden kann. Stellvertretend seien genannt: Heinz Duchhardt: Der Wiener Kongress. Die Neugestaltung Europas 1814/15, München 2015. Wolf D. Gruner: Der Wiener Kongress 1814/15, Stuttgart 2014. Thierry Lentz: 1815. Der Wiener Kongress und die Neugründung Europas, München 2014. Brigitte Mazohl / Karin Schneider / Eva-Maria Werner: Europa in Wien. Who is Who beim Wiener Kongress 1814/15, Wien 2015. Reinhard Stauber: Der Wiener Kongress, Wien 2014. Thomas Just / Wolfgang Maderthaner / Helene Maiman (Hgg.): Der Wiener Kongress. Die Erfindung Europas, Wien 2014. Mark Jarrett: The Congress of Vienna and ist Legacy. War and Great Power Diplomacy After Napoleon, London 2014. Adam Zamoyski: 1815. Napoleons Sturz und der Wiener Kongress, München 2014. 6 Zur Begriffsdefinition vgl. Michael Hundt: Die mindermächtigen deutschen Staaten auf dem Wiener Kongress (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte 164, Abt. Universalgeschichte), Mainz 1996, bes. 101 f.
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Tabelle 1 Effektive Heeresstärke der fünf Großmächte, in Tausend Mann Großbritannien
Frankreich
Russland
Österreich
Preußen
260**
250*
600***
125*
150*
*1813/14, **1813, ***1812 Quelle: Michael Erbe: Revolutionäre Erschütterung und erneuertes Gleichgewicht. Internationale Beziehungen 1785 – 1830 (Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen), Paderborn u. a. 2004, 91.
Ab 1815 bildete der Staatenbund auf institutioneller Ebene, gleichsam als „Stabilisator der Gesamtordnung“7, neben der gegen Frankreich gerichteten Quadrupelallianz und dem Konzert der Mächte die dritte Säule des in Formierung begriffenen europäischen Friedenssystems.8 Dieser Ordnungsaufgabe konnte er jedoch nur gerecht werden, wenn seinen beiden Hegemonialmächten jeweils auch eine Rückkehr zu soliden staatspolitischen Verhältnissen gelang. Das bedeutete vor allem, den (im Falle Österreichs sogar neuerlich) drohenden Staatsbankrott abzuwenden und durch umfassende Reformen eine neue Ära der Finanzpolitik, den Anforderungen „moderner“9 Haushaltsgebarung gewachsen, einzuläuten. Welche Maßnahmen in den Jahren um den Wiener Kongress durch die Wiener und Berliner Regierungsstellen konkret getroffen wurden und welcher Erfolg ihnen beschieden war, soll skizzenhaft Gegenstand der folgenden Ausführungen sein. I. Innere Voraussetzungen und externe Faktoren der Finanzkrise(n) Schon während der Regentschaft Joseph II. war der österreichische Staatshaushalt zunehmend aus der Balance geraten. Überstürzte, zum Teil wieder revidierte Reformpläne und eine Reihe außenpolitischer Misserfolge führten dazu, dass die Rechnungsabschlüsse trotz steigender Einnahmen ein chronisches Defizit auswiesen, das
7 Wolf D. Gruner: Der Beitrag der Großmächte in der Bewährungs- und Ausbauphase des europäischen Mächtekonzerts: Österreich 1800 – 1853/56. In: Wolfram Pyta (Hg.): Das europäische Mächtekonzert. Friedens- und Sicherheitspolitik vom Wiener Kongress 1815 bis zum Krimkrieg 1853 (Stuttgarter Historische Forschungen 9), Köln/Weimar/Wien 2009, 189. 8 Schulz, Normen, 47. Zur engen Verbindung zwischen Innen- und Außenpolitik in der Phase der „Kongresspolitik“ 1814/15 – 1825 und zu den sich daraus ergebenden Problemfeldern der neuen Friedensarchitektur vgl. Reinhard A. Stauber/Florian Kerschbaumer: Revolution, Restauration und Intervention. Beobachtungen zum Politikraum Europa in der Zeit des Wiener Kongresses. In: Christoph Kampmann/Ulrich Niggemann (Hgg.): Sicherheit in der Frühen Neuzeit. Norm-Praxis-Repräsentation (Frühneuzeit-Impulse 2), Wien/Köln/Weimar 2013, 156 – 174. 9 Die Frage, wann sich hinsichtlich der Finanz- und Steuerpolitik der Übergang vom Ancien Régime zur Moderne vollzogen hat, beleuchten aus unterschiedlichen Perspektiven Hartmut Berghoff/Till van Rahden: Vom Donner der Weltgeschichte. Finanzgeschichte als Schlüssel zum Verständnis der Moderne. In: Dies. (Hgg.): Staat und Schulden. Öffentliche Finanzen in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert, Göttingen 2009, 7 – 26.
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in den Jahren von 1787 und 1790 auf durchschnittlich 20 Mio. Gulden (fl.) kletterte.10 Allein die Bedienung der Zinsen erforderte rund 30 % der staatlichen Einkünfte.11 Erstaunlich, dass es Josephs Nachfolger auf dem Thron, Leopold II., in den Jahren seiner kurzen Herrschaft gelang, das von seinem Bruder „hinterlassene innenpolitische Desaster […] fast [zu] überwinden“.12 Die negativen Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen dagegen ließen sich weit weniger rasch korrigieren. Im Gegenteil: Die mit dem Eintritt in den Krieg gegen das revolutionäre Frankreich verbundenen, stetig anwachsenden Militärausgaben ließen die ohnehin beträchtliche Staatsschuld zwischen 1793 und 1798 um beinahe 50 % ansteigen. Zur Bestreitung der immensen Aufwände war die kurzfristige Emission von Bankozetteln als das Mittel der Wahl erschienen, waren der nunmehrige Monarch Franz II. und seine Regierung doch von einer baldigen Beendigung der militärischen Auseinandersetzungen überzeugt. Doch die folgenden Jahre führten, bedingt durch wachsende Kriegskosten, territoriale Verluste und Kontributionszahlungen an die Siegermacht Frankreich zu einer weiteren Destabilisierung des Haushalts, aber auch des sozialen Friedens: Im Gefolge bisher unbekannter Teuerungswellen bei Lebensmitteln und Wohnungsmieten nahm die Zahl der spontanen, vor allem von Handwerkern und Gewerbetreibenden getragenen Aufstände in der Haupt- und Residenzstadt Wien zu. Der Papiergeldumlauf erhöhte sich im ersten Dezennium des 19. Jahrhunderts von 141 Mio. fl. auf unglaubliche 730 Mio. fl.13 Die Inflationsspirale begann sich immer schneller zu drehen. Als letzter Ausweg erschien die Entwertung der Bankozettel auf ein Fünftel, die mit dem Finanzpatent vom 20. Februar 1811 besiegelt wurde.14 Gleichzeitig wurden die Zinsen der Staatsschuld auf die Hälfte reduziert, was die Finanzwelt unmittelbar mit einem Kurssturz der Staatspapiere beantwortete. In Summe verfehlte das Patent die intendierte Wirkung einer Währungssanierung; es war den Regierungsbehörden nicht gelungen, die bevorstehende Papiergeldentwertung geheim zu halten. Wer konnte, hatte sein Vermögen längst in Sicherheit gebracht. Beinahe schwerer wog jedoch, dass „für mehrere Jahre der Kredit des Staates so gut wie vernichtet“15 war. Mangelndes Vertrauen in den Staatskredit war auch eines der zentralen finanzpolitischen Problemfelder in Preußen, das nach der verheerenden Niederlage gegen Frankreich und dem anschließenden Diktatfrieden 1807 flächen- sowie einwohnermäßig auf die Hälfte seiner ursprünglichen Ausmaße reduziert worden war. Die Be10
Adolf Beer: Die Finanzen Österreichs im 19. Jahrhundert, Nachdruck Wien 1973, 5. Josef Karl Mayr: Wien im Zeitalter Napoleons. Staatsfinanzen, Lebensverhältnisse, Beamte und Militär (Abhandlungen zur Geschichte und Quellenkunde der Stadt Wien VI), Wien 1940, 30 f. 12 Helmut Rumpler: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie (Österreichische Geschichte 1804 – 1904), Wien 1997, 21. 13 Beer, Finanzen, 8. 14 Viktor Hofmann: Die Devalvierung des österreichischen Staatspapiergeldes. Eine finanzgeschichtliche Darstellung nach archivalischen Quellen, München/Leipzig 1923, 103. 15 Rumpler, Chance, 124. 11
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setzung durch fremde Truppen, deren laufende Versorgung und die Bestreitung enormer Kontributionsleistungen sowohl in Form von Naturalleistungen als auch von Kriegssteuern verschärften die Situation zusätzlich. Handels- und Bankierskreise waren nicht bereit, dem Staat ihr Geld anzuvertrauen; die preußische Regierung sah sich mit einem bedrohlichen Liquiditätsengpass konfrontiert, dem man Ende 1808 mit der Aufnahme einer inländischen Prämienanleihe in der Höhe von 1 Mio. Reichstaler (rtl.) beikommen wollte. Die Bedingungen waren attraktiv: Neben einer 6 %igen Verzinsung lockte man potenzielle Zeichner mit dem Versprechen hoher Gewinnprämien – dennoch konnten nur rund 3/4 der Anleihe unter dem verunsicherten Publikum platziert werden.16 Zur raschen Aufbringung der dringend benötigten liquiden Mittel sah man 1809 keinen anderen Ausweg mehr als eine Zwangsanleihe von Gold-, Silber- und Juwelenbeständen. Ein Jahr später legte die Regierung eine weitere Anleihe auf – diesmal im Wert von 1,5 Mio. rtl. – gegen eine Verzinsung von 5 % und eine Annahme in Scheidemünze. Für den Fall, dass sich nicht genügend freiwillige Zeichner finden würden, ordnete man eine zwangsweise Aufnahme an; obwohl lediglich 1,4 Mio. rtl. in die Staatskassen flossen, wurde von dieser Maßnahme letztlich abgesehen.17 Trotz aller fiskalpolitischen Bemühungen gelang es Finanzminister Altenstein nicht, die im Jahr 1810 fälligen Kontributionszahlungen von monatlich 4 Mio. Francs18 an die französischen Kassen aufzubringen. Sein Vorschlag, in Abgeltung aller offenen Zahlungen die Provinz Schlesien an das bereits mit militärischen Sanktionen drohende Frankreich abzutreten, resultierte schließlich in seiner Entlassung durch König Friedrich Wilhelm III. und der anschließenden Berufung Karl August von Hardenbergs zum Staatskanzler und Finanzminister. Anders als sein Vorgänger Altenstein, der die Unberechenbarkeit Preußens außenpolitischer Situation als Hemmschuh für die Entwicklung geordneter Finanzverhältnisse anführte, war Hardenberg umgekehrt der Überzeugung, dass die außenpolitische Stellung des Landes zuallererst von der Konsolidierung der Staatsfinanzen abhängig war: „Es ist unmöglich, ein besseres Vernehmen mit Napoleon zu bewirken, ohne unsere Zahlungsverbindlichkeiten zu erfüllen. Unsere politischen Verhältnisse sind also hiervon abhängig, und dieses ist das einzige Fundament, auf das wir bauen können.“19 In Wien wie in Berlin sahen die jeweils zuständigen Finanzminister die Wiederherstellung des Vertrauens in den Staatskredit als Basis für die Sanierung des zerrütteten öffentlichen Haushaltes. Damit dies gelingen konnte, musste vor allem Trans16
Otto Friedrich Warschauer: Zur Geschichte und Entwicklung der Staatsanleihen in Preußen von 1786 – 1870, Leipzig 1882, 25. Eugen Richter: Das preussische Staatsschuldenwesen und die preussischen Staatspapiere, Berlin 1869, 20. 17 Ebd. 18 Ernst Klein: Von der Reform zur Restauration. Finanzpolitik und Reformgesetzgebung des preußischen Staatskanzlers Karl August von Hardenberg (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin bei Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin 16), Berlin 1965, 87. 19 Zit. n. Klein, Reform, 17.
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parenz geschaffen werden: Die Erstellung eines verlässlichen Budgets stand ganz oben auf der Liste der finanzpolitischen Reformpläne. So betonte der seit 1813 im Amt befindliche preußische Finanzminister Bülow in einem Immediatbericht vom 8. Mai 1816: „Besonders seit dem ersten Pariser Frieden habe ich die Überzeugung gehabt, daß das Wohl des Staates davon abhänge, sobald als möglich eine Übersicht der wirklichen Einnahmen und Ausgaben zu besitzen und nach einem regelmäßigen Plan zu administrieren.“20 Dieselbe Auffassung vertrat Österreichs Finanzminister Stadion Ende Oktober 1814 gegenüber Kaiser Franz I. und wies auf die Notwendigkeit hin, „ein nicht hypothetisches, sondern auf bewährte Data des öffentlichen Einkommens und der öffentlichen Ausgaben beruhendes Praeliminare auszuarbeiten und wo möglich in seinen Hauptsummen auf länger als das laufende Jahr berechnet vorzulegen.“21 In der Praxis erwies sich dieses Vorhaben als schwierig, da die Einnahmenverwaltung der Hofkammer lückenhaft und unübersichtlich war. So schienen etwa zweckgewidmete Einnahmen im Voranschlag gar nicht auf, während bestimmte Einkünfte aus Sonderverwaltungsfonds bereits abzüglich der Gehälter der dort beschäftigten Beamten an die Behörde gemeldet wurden.22 Mit denselben Problemen hatte auch Preußen zu kämpfen, wo das bestehende Fondssystem und die parallele Ausweisung von Brutto- und Nettoeinnahmen eine transparente Budgeterstellung ebenfalls erschwerten.23 Dennoch konnte Finanzminister Bülow für das Jahr 1817 erstmals eine Gesamtjahresrechnung vorlegen, die nicht mehr eine Ordnung nach Provinzen und Kassen, sondern nach den Grundsätzen der Verwaltungseinteilung aufgestellt war. Mit der Veröffentlichung des Staatshaushaltes für das Rechnungsjahr 1821 wurde ebenso wie mit der Separierung der Ausgaben des königlichen Hofes aus dem Staatshaushalt „ein bedeutender Schritt auf dem Weg Preußens vom absoluten zum konstitutionellen Staat“ getan.24 Wenngleich die unmittelbaren Auslöser der preußischen und der österreichischen Staatsschuldenmisere mit dem Kampf gegen Napoleon auf außenpolitischer Ebene zu suchen waren, hingen deren Verlauf und die jeweiligen Bewältigungsstrategien zu einem Gutteil von den inneren Verhältnissen der beiden Mächte ab. Dabei spielte die 20
Zit. n. Takeo Onishi: Die Entstehung des ersten preußischen Staatshaushaltsetats im Jahre 1821. In: Jürgen Schneider (Hg.): Wirtschaftskräfte und Wirtschaftswege. Festschrift für Hermann Kellenbenz, Bd. 3: Auf dem Weg zur Industrialisierung (Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte 6), Stuttgart 1978, 281 – 295, hier 281. 21 Zit. n. Hellmuth Rössler: Graf Johann Philipp Stadion. Napoleons deutscher Gegenspieler, Bd. 2: 1809 – 1824, Wien und München 1966, 191. 22 Franz Schönfellner: Die zentrale Finanzverwaltung Österreichs vom Vormärz bis zum Ausgleich 1867. In: Gottfried Mraz (Red.), Franz Grillparzer, Berwang 1991, 103 – 146, hier 112 f. Zur frühen Problematik der Budgeterstellung in der Habsburgermonarchie vgl. Martin Pontzen: Die Anfänge des Budgetwesens in Österreich (masch. Dipl.-Arbeit Frankfurt am Main 1984). 23 Alexander von Witzleben: Staatsfinanznot und sozialer Wandel (Studien zur modernen Geschichte 32), Stuttgart 1985, 147; 204. 24 Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1: Reform und Restauration, 1789 – 1830, Nachdruck d. 2. verb. Aufl. Stuttgart u. a. 1975, 216.
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Person des Monarchen und des ihn umgebenden Regierungssystems eine wesentliche Rolle. Die Habsburgermonarchie hatte die von Krisen durchsetzten Jahre seit Ausbruch der Französischen Revolution unter der Führung eines grundsätzlich reformunwilligen Herrschers bewältigen müssen, der als Träger einer „hausväterlich nüchternen Staatsauffassung“25 noch in der Tradition des Absolutismus regierte. Vor dem Hintergrund der europaweiten außenpolitischen Erschütterungen, die ihn zur Niederlegung der Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reiches gezwungen hatten, galt dem nunmehrigen Kaiser Franz I. die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung im österreichischen Kaiserstaat als höchstes Ziel.26 Zu weitreichenden innenpolitischen Veränderungen war er nicht bereit, denn die von ihm regierte Vielvölkermonarchie hatte – wie Helmut Rumpler treffend formulierte – „das spezielle Unglück, daß fast immer, wenn die wichtigen Fragen der inneren Neugestaltung zur Entscheidung anstanden, sich die noch wichtigere Frage des außenpolitischen Überlebens stellte.“27 Die längst überfällige Reform des Staatsapparates, die das Potenzial zu einer adäquaten Neustrukturierung des in Grundzügen noch aus dem 16. Jahrhundert stammenden Behördenaufbaus gehabt hätte, blieb aus.28 Daran trug allerdings nicht allein der ausgeprägte Beharrungswille des Kaisers Schuld, der sich in seinen frühen Regierungsjahren durchaus mit einer Reihe von Reformoptionen auseinandergesetzt hatte. Als Hemmschuh erwies sich auch der anhaltende Widerstand einer politisch gleichermaßen einflussreichen wie unfähigen Hofelite, die sich aus Vertretern des ständischen Adels und der Hochbürokratie zusammensetzte und nicht bereit war, sich durch die Einführung eines effizienten Verwaltungsaufbaus von den Schalthebeln der Macht entfernen zu lassen. Anstatt Aufgaben an sein Beamtenheer zu delegieren, widmete sich der als misstrauisch geltende Kaiser tagtäglich persönlich einer immer größer werdenden Flut an Aktenstücken, deren Bearbeitung für eine einzelne Person nicht zu bewältigen war. Die Folge war, dass wichtige staatspolitische Entscheidungen jahrelang verzögert wurden. Graf Franz Saurau, einer der engsten Berater des Kaisers, scheute als einer der wenigen nicht davor zurück, seine diesbezügliche Kritik offen zu äußern: „Eure Majestät haben […] nicht selten selbst zur Verzögerung der Geschäfte beigetragen. Aus edler Besorgnis […] und aus dem Gefühl, daß nicht alle Beamten mit besonders gewissenhafter Sorgfalt die Beweggründe eines Gegenstandes abwägen, haben Eure Majestät oft die Ge-
25
Selma Krasa-Florian: Die Allegorie der Austria. Die Entstehung des Gesamtstaatgedankens in der österreichisch-ungarischen Monarchie und die bildende Kunst, Wien u. a. 2007, 51. 26 Eine den Anforderungen moderner Geschichtswissenschaft entsprechende Biographie Kaiser Franz II./I. fehlt bis dato. 27 Rumpler, Chance, 76. 28 Vgl. dazu Bertrand Michael Buchmann: Die Epoche vom Ende des 18. Jahrhunderts bis um 1860. In: Peter Csendes/Ferdinand Opll (Hgg.): Wien. Geschichte einer Stadt, Bd. 3: Von 1790 bis zur Gegenwart, Wien u. a. 2006, 15 – 174, hier 87.
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schäfte unterer Behörden auf Sich genommen und sich einen Schwall von Arbeit aufgebürdet […].“29 In Preußen konnte es nach dem Zusammenbruch von 1807 hinsichtlich eines Neubaus von Staat und Gesellschaft nicht bei bloßen Lippenbekenntnissen bleiben, waren doch die politischen Entscheidungsträger vor allem „stark von fiskalischen Sachzwängen [dazu] gedrängt“,30 endlich Reformmaßnahmen in die Wege zu leiten. In krassem Gegensatz zu Österreich hatten die existenzbedrohenden Umstände des Krieges gegen Frankreich aber auch eine breite gesellschaftspolitische Dynamik in Gang gesetzt, aus der eine Reihe starker, teils miteinander im Widerstreit liegender Modernisierungsbewegungen hervorging. Selbst König Friedrich Wilhelm III., progressiven Ideen wenig zugeneigt, konnte sich der Erkenntnis nicht verschließen, dass eine Abkehr vom veralteten ständischen Gesellschaftsmodell hin zu moderner Staatlichkeit ein Gebot der Stunde war, wollte man die Steuereinnahmen künftig erhöhen und damit dem Problem der französischen Kontributionen schnellstmöglich beikommen. Vom „erzwungenen“ Reformwillen war auch das preußische Regierungssystem betroffen. Mit der Einführung des Ministerialsystems im Jahr 1808 waren die Minister nicht nur mehr bloße Befehlsempfänger, sondern agierten innerhalb ihrer Ressorts selbständig und trugen in weiterer Folge die politische Verantwortung für ihre Entscheidungen. Weit davon entfernt war das österreichische System der Gremialverhandlungen, das anstatt auf Einzelverantwortung auf kollegiale Beratungen setzte und nach langwierigen Ratssitzungen die endgültige Entscheidung letztlich an den Monarchen abgab.31 Eine diesbezügliche Ausnahme bildete – zumindest partiell – das Finanzressort. Am 18. September 1814 wurde Johann Philipp Graf von Stadion, der ehemalige Außenminister des Kaiserstaates und bekennender Gegner Napoleons, auf Empfehlung Metternichs vorläufig zum Finanzminister und Hofkammerpräsidenten ernannt.32 Obgleich Stadion in finanzpolitischen Fragestellungen weitestgehend unerfahren war und seine Berufung zunächst Erstaunen hervorgerufen haben mag, hatte sich der Kaiser ganz bewusst für den einer reichsritterschaftlichen Familie mit Sitz in Warthausen entstammenden ehemaligen Spitzendiplomaten entschieden. Im Verlauf der napoleonischen Kriege hatte Stadion in den Kabinetten Europas den Ruf eines integren und scharfsinnigen Politikers erlangt; mit seiner nunmehrigen Berufung zum Leiter des Finanzwesens wollte Franz I. vor allem gegenüber dem Ausland den Glauben an die Reorganisationsfähigkeit des zerrütteten Staatshaushaltes stärken und damit gleichzeitig die Kreditwürdigkeit der Habsburgermonarchie heben. Stadion hatte diese Aufgabe jedoch nicht übernommen, ohne konkrete Bedingungen, nämlich eine Neuorganisation der Finanzverwaltung, daran zu knüpfen. Um sich in seiner neuen Funktion mit den zentralen Agenden der Staatsfinanzen ausein29
Zit. n. Walther Tritsch: Franz von Österreich. Der Kaiser des „Gott erhalte“ (Leipzig 1937), 327. 30 Witzleben, Staatsfinanznot, 86. 31 Schönfellner, Finanzverwaltung, 112. 32 Die definitive Ernennung erfolgte auf Wunsch Stadions erst 1816. Vgl. Rössler, Stadion, 149.
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andersetzen und gleichsam vom „Tagesgeschäft“ freispielen zu können, forderte er für sein Ressort eine Trennung zwischen dem Finanzministerium als Legislativ- und der Hofkammer als Exekutivorgan. Letztere sollte unter der Leitung eines Hofkammerpräsidenten dem Ministerium unterstellt werden. Die Gesamtverantwortung gegenüber dem Kaiser sollte bei Stadion liegen.33 Dass Franz I. dem Großteil der gestellten Bedingungen tatsächlich zustimmte, zeigt, in welch hohem Ausmaß er Stadion schätzte und als richtigen Mann für die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen erachtete. Von seiner Gewohnheit, bei wichtigen Entscheidungen die Meinung seiner Kabinettsräte hinzuzuziehen – was den Arbeitsprozess oft erheblich verzögern konnte – sah der Kaiser allerdings auch im Finanzbereich nicht gänzlich ab. War es im mit Reformstau und desintegrierenden Kräften ringenden Österreich allein die Person des Kaisers, die als Bindeglied zwischen den verschiedenen politischen Interessensgruppen fungierte, konnte die preußische Monarchie auf die Verwaltung bauen, welche „die Einheit und Kontinuität des Staates verbürgte“.34 Dabei bildeten Staatskanzler Hardenberg und sein Ende 1811 eingerichtetes Staatskanzleramt „den Vereinigungspunkt der gesamten Administration“35. Hardenberg sah im Aufbau einer zentralistisch organisierten Verwaltung und der langfristigen Sanierung der Finanzen den Schlüssel zu einem Wiedererstarken Preußens; zur Durchführung dieses Vorhabens galt es jedoch, dem Amt des Staatskanzlers eine beherrschende Stellung innerhalb des politischen Machtgefüges einzuräumen, die wiederum durch die anhaltende innere und äußere Krise des preußischen Staates ihre Legitimation erfahren sollte. Mit der Verordnung vom 27. Oktober 1810 war Hardenberg als Vorsitzenden des gesamten Ministeriums „eine Machtfülle beigelegt […], wie sie weder vor noch nach ihm ein preußischer Minister jemals besessen“36 hatte. Eine bedeutende Rolle kam dabei dem Staatskanzleramt als seiner administrativen Zentralbehörde zu: Sie erlaubte ihm, die politische Lenkung eigenständig zu organisieren und Reformpläne gezielt umzusetzen, wobei die Trennung von der Ministerialbürokratie die Möglichkeit bot, Widerstände aus Kreisen der feudalen Opposition zu umgehen.37 Was das Potenzial zur kraftvollen Durchsetzung von Reformen anbelangt, zeigt sich hier ein entscheidender Unterschied zur innenpolitischen Situation in Österreich, wo das einflussreiche Amt eines Staatskanzlers seit dem Rücktritt Wenzel Antons von Kaunitz-Rietberg im Jahre 1792 offiziell nicht mehr besetzt worden 33
Schönfellner, Finanzverwaltung, 120. Vgl. dazu auch Rössler, Stadion, 154. Wolfram Siemann: Vom Staatenbund zum Nationalstaat. Deutschland 1806 – 1871 (Neue Deutsche Geschichte 7), München 1995, 70. 35 Klein, Reformen, 281. 36 Ebd., Vorwort, VI. 37 Herbert Obenaus: Anfänge des Parlamentarismus in Preußen bis 1848 (Handbuch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus), Düsseldorf 1983, 57. Hans-Ulrich Wehler sieht Hardenbergs Staatskanzleramt als Träger eines „kurzlebigen bürokratischen Absolutismus“. Vgl. dazu Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2: Von der Reformära bis zu industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ von 1815 – 1845/49, München 1987, 152. 34
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war. Erst 1821 sollte Metternich ihm in dieser Position nachfolgen, dessen Hauptaugenmerk in den Jahren nach dem Wiener Kongress jedoch mehr auf die Stabilisation der europäischen Mächtebeziehungen denn auf innenpolitische Reorganisation gerichtet war. Was dem Kaiserstaat fehlte, waren gleichermaßen mit gestalterischem Reformwillen wie mit den nötigen Befugnissen ausgestattete Persönlichkeiten; Franz I. umgab sich stattdessen weiterhin mit einer „Nebenregierung einflussreicher Kabinettsräte“38, deren primäre Absichten allerdings nicht vordergründig auf das Gesamtwohl des Staates abzielten, sondern vielmehr auf die Erhaltung der eigenen, in feudaler Tradition stehenden Privilegien. Wenn man davon ausgeht, dass Österreich im Gegensatz zu Preußen „als Sieger ohne neue Reformen aus der Napoleonischen Epoche hervorgegangen“39 ist, so muss sich dieser Umstand auch in entscheidender Weise auf den jeweiligen Verlauf und die Bekämpfung der Finanzkrise in den beiden Monarchien ausgewirkt haben. II. Währungssanierung und Staatsanleihe – Beispiele konkreter Strategien zur Bewältigung der Haushaltskrise Obwohl Franz I. schon seit dem Sommer 1814 wiederholt Vorschläge zur Sanierung der Finanzen einforderte, ließ sich Finanzminister Stadion nicht zu konkreten Schritten drängen: „Ich bin der Meinung, […] daß, so lange der Congreß der europäischen Mächte noch nicht, wenigstens in seinen Hauptbestimmungen, zu einem durch unterzeichnete Tractate und Friedensinstrumente sichergestellten Schluß gekommen ist […], es nicht möglich sein werde, irgend etwas zu der wirklichen Wiederherstellung der Finanzen […] auf eine befriedigende Art zu unternehmen.“40 Für Stadion war aber klar, dass es unmittelbar nach der politischen Neuordnung Europas, die auch Territorium und Grenzverlauf der Habsburgermonarchie noch deutlich verändern würde, dringend zu einer Währungssanierung kommen musste. Aus diesem Grund arbeitete er gemeinsam mit seinen engsten Mitarbeitern Pillersdorf und Kübeck an Plänen für die Schaffung einer vom Staat unabhängigen Notenbank, mit deren Hilfe die Währungssanierung nachhaltig gelingen sollte. Nach wie vor waren rund 684 Mio. Gulden Papiergeld im Umlauf, von denen ein nicht unwesentlicher Teil im Zuge des Wiener Kongresses gedruckt worden war, um dem Kaiserhaus Geld zur Begleichung der immensen Veranstaltungskosten zur Verfügung zu stellen.41 Dass es unter diesen Umständen bald zu einer neuerlichen Geldentwertung kommen könnte, war ein offenes Geheimnis. 38 39
28. 40
Rumpler, Chance, 72. Heinrich Lutz: Zwischen Habsburg und Preußen. Deutschland 1815 – 1866, Berlin 1985,
Zit. n. Raudnitz, Staatspapiergeld, 127. Rumpler, Chance, 146. Allein die Verpflegung der Monarchen und ihrer Gefolge schlug monatlich mit 750.000 fl. zu Buche; bis Mai 1815 beliefen sich die durch den Kongress entstandenen Kosten auf mehr als 7,3 Mio. fl. Vgl. dazu Mayr, Wien, 21. 41
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Die nach den Plänen Stadions und seines Mitarbeiterstabs am 1. Juni 1816 gegründete „Österreichische National-Zettelbank“ stand bis Mitte Januar 1818 unter der Leitung einer provisorischen Bankdirektion, in der zu Beginn mit Heinrich Ritter von Geymüller, Melchior Ritter von Steiner und Bernhard Ritter von Eskeles drei der einflussreichsten Privatbankiers des österreichischen Kaiserstaates saßen.42 Dem Institut wurde die Aufgabe übertragen, die Einlösung der Papiergeldflut zu übernehmen, was zu durchaus attraktiven Bedingungen erfolgen sollte: Für 140 Gulden der bisherigen Wiener Währung erhielt man Banknoten im Wert von 40 Gulden der neuen „Conventionswährung“, die wiederum jederzeit durch die Bank in Metall umgetauscht wurde. Zusätzlich erhielt man eine Staatsobligation im Wert von 20 Gulden mit dem Versprechen einer 1 %igen Verzinsung.43 Tatsächlich wurden die Bankschalter bereits am Eröffnungstag, dem 1. Juli, vom Publikum gestürmt, um die Wiener Währung in Conventionswährung zu tauschen.44 Nicht gerechnet hatten die Verantwortlichen aber mit dem gegenüber der staatlichen Geldpolitik nach wie vor bestehenden Misstrauen: Da die Kunden nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre auch dem neuen Papiergeld nicht trauten, kehrten sie bereits am nächsten Tag zurück, um rasch den Tausch gegen harte Metallwährung zu vollziehen. Die Bank hatte die dazu benötigten Bargeldreserven allerdings noch nicht in ausreichendem Maße verfügbar und musste bald dazu übergehen, die Transaktionen zu kontingentieren. Die Folge war ein Sturm auf die Bankschalter, der nur mehr mittels eines Polizeieinsatzes aufgelöst werden konnte. Lediglich eine rasch abgewickelte „Arrosierungsanleihe“ im Ausland konnte die Umtauschaktion mittelfristig retten.45 Es sollte aber bis zur Jahrhundertmitte dauern, ehe der letzte Rest des alten Papiergeldes aus dem Umlauf genommen werden konnte. Eine Rückkehr zum Silberstandard gelang während des gesamten Vormärz nicht.46 Von einer Papiergeldinflation, wie sie zeitgleich aus eigenem Verschulden in der Habsburgermonarchie stattfand, blieb Preußen während und auch nach den napoleonischen Kriegen verschont. Staatlichem Papiergeld wurde seit der Assignatenwirtschaft der Französischen Revolution grundsätzlich mit großem Misstrauen begegnet. Der Mangel an Zahlungsmitteln zwang die preußische Regierung zu Beginn des Jahres 1806 dennoch zur Ausgabe von Papiergeld, den sogenannten „Tresorscheinen“, die zunächst gegen Silberkurantgeld eintauschbar waren. Mit der Besetzung durch französische Truppen wurde der Annahmezwang allerdings aufgehoben, was die an der Berliner Börse notierten Tresorscheine unmittelbar zum Spekulationsobjekt werden und ihren Kurs bis Juli 1808 auf 27 % des Ausgangswertes fallen ließ. 42 1. Sitzungsprotokoll der k. k. privilegirten oesterreichischen Nationalbank, 27. 11. 1817, I/01b, Provisorische Bankdirektion: Akten und Sitzungsprotokolle, Bankhistorisches Archiv der Oesterreichischen Nationalbank, Wien. 43 Rumpler, Chance, 148 f. 44 Raudnitz, Staatspapiergeld, 155. 45 Rumpler, Chance, 150; Raudnitz, Staatspapiergeld, 149 ff. 46 Roman Sandgruber: Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart (Österreichische Geschichte), Wien 2005, 224.
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Erst Ende 1815, zwei Jahre nach Wiedereinführung des Annahmezwangs, erreichten die Banknoten wieder Paristand.47 Die Papiergeldsumme belief sich, bedingt durch staatliche Regulation, auf die im Vergleich zu Österreich geringe Summe von 10 Mio. rtl.48 Eine Verordnung legte im April 1815 fest, dass alle Abgaben an den Staat zur Hälfte in Tresorscheinen zu entrichten waren, andernfalls musste der Steuerzahler ein „Strafagio“ von zwei Groschen pro Taler abführen. Damit gelang es, eine künstliche Nachfrage nach Papiergeld zu erzeugen. Die auf diese Weise in die Staatskassen rückfließenden Banknoten gelangten vorerst nicht wieder zur Ausgabe.49 Zusätzlich wurde 1818 zur Bareinlösung ein Realisations-Comtoir in Berlin eingerichtet.50 In Folge der durch die Beschlüsse von 1815 bedingten territorialen Veränderungen Preußens zielte die staatliche Geldpolitik auf eine vereinheitlichte, stabile und in ausreichender Menge vorhandene Währung ab. Entsprechend wurde mit dem „Gesetz über die Münzverfassung in den preußischen Staaten“ im September 1821 das preußische Kleinmünzensystem vereinheitlicht. In allen Provinzen galt nun die neue Rechnungsweise 1 rtl. = 30 Silbergroschen = 360 Pfennige.51 Trotz dieser Initiative sollte es der Regierung bis in die 50er Jahre des 19. Jahrhunderts nicht gelingen, das preußische Münzwesen in quantitativer und qualitativer Hinsicht nachhaltig zu stabilisieren.52 Wenngleich Preußen im Unterschied zu Österreich auf dem Gebiet der Geld- und Währungspolitik mit weniger gravierenden Problemen zu kämpfen hatte, so war seine Finanzlage nach der Beendigung des Krieges nichtsdestotrotz äußerst angespannt. Immerhin eröffnete der Sieg über Napoleon eine neue Einnahmequelle: Frankreich hatte in Summe 158 Mio. Francs, also rund 40 Mio. rtl., Kriegsentschädigung an Preußen abzuführen.53 Gemäß der Konvention vom 20. November 1815 standen diese Summen dem Staat aber erst im Haushaltsjahr 1816 zur Verfügung. Selbst wenn die Steuerreform, auf die noch näher einzugehen sein wird, tatsächlich 47 Richard Gaettens: Geschichte der Inflationen. Vom Altertum bis zur Gegenwart, München 1982, 211 f. 48 Herbert Rittmann: Deutsche Geldgeschichte: 1484 – 1914, München 1975, 506; Gaettens, Inflationen, 212. 49 Rittmann, Geldgeschichte, 505. 50 Richter, Staatsschuldenwesen, 32. 51 Bernd Sprenger: Das Geld der Deutschen. Geldgeschichte Deutschlands von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2. Aufl. Paderborn u. a. 1995, 158. 52 Richard Tilly, Finanzielle Aspekte der preußischen Industrialisierung. In: Wolfram Fischer (Hg.), Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Probleme der frühen Industrialisierung (Berlin 1968), 477 – 491, hier 484. 53 Zur Rolle des Europäischen Konzerts und des internationalen Geld- und Kapitalmarktes bei der Aufbringung der finanziellen Mittel für die Begleichung der französischen Reparationen vgl. Marion Koschier, Der Aachener Mächtekongress von 1818 und die Frage der französischen Reparationszahlungen. In: Reinhard Stauber/Florian Kerschbaumer/Marion Koschier (Hgg.): Mächtepolitik und Friedenssicherung. Zur politischen Kultur Europas im Zeichen des Wiener Kongresses (Austria: Forschung und Wissenschaft – Geschichte, Bd. 9, Berlin/Münster u. a. 2014), 135 – 152.
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jene Geldmittel in die Kassen gespült hätte, von denen man in Berlin in der Planungsphase ausging, konnte man durch diese sukzessive Einnahmequelle dennoch nicht die in beträchtlicher Höhe anfallenden kurzfristigen Ausgaben decken. Große Summen waren auf kurze Sicht nur mit dem Mittel der Staatsanleihe aufzubringen. Die angespannte Finanzlage und die damit einhergehende fehlende Kreditwürdigkeit machte es für die preußische Regierung allerdings nicht einfach, kapitalkräftige Geldgeber zu finden. Das stand in unmittelbarem Zusammenhang mit der fehlenden Konstitutionalisierung.54 Dennoch gelang es zwischen 1815 und 1817, mit Hilfe einer Reihe kleinerer Anleihen bestehende Finanzlücken zu überbrücken. Man wird Gustav von Schmollers Urteil beipflichten müssen, wenn er bemerkt, die preußische Finanzverwaltung habe sich „bis 1817 in einem ewigen finanziellen Experimentieren bewegt, aus dem zwar wenig Dauerndes hervorging, das aber doch über die augenblickliche Nothlage hinweghalf.“55 1818 stand Preußen abermals vor dem Staatsbankrott. Der Präsident des Schatzministeriums, Karl Ferdinand Friese, fand gegenüber Christian Rother, dem Oberfinanzrat im Staatskanzleramt und späteren Präsidenten der Preußischen Seehandlung, klare Worte: „Bis gegen Mitte des Aprils können wir uns vielleicht noch halten, aber alsdann müssen wir das Buch zu machen, wenn uns keine Hilfe kommt.“56 Der Bankrott konnte letztlich nur durch eine geschickte finanztechnische Regelung abgewandt werden, für die Rother maßgeblich verantwortlich zeichnete. Nach zähen Verhandlungen mit Nathan Rothschild, der die Londoner Niederlassung des europaweit agierenden Bankhauses leitete, war es gelungen, eine Anleihe in der Höhe von 5 Mio. Pfund Sterling, also ca. 33,8 Mio. Talern, aufzulegen und die innere Staatsschuld von bisher 5 % auf 4 % zu konvertieren. Erstmalig war es damit in einem „modernen“ Staat gelungen, bei gleichbleibendem Schuldenstand die Zinslast zu verringern.57 Beinahe zeitgleich wandte sich Nathan Rothschild übrigens auch an die österreichische Regierung und machte sich erbötig, mittels einer Anleihe wie jener in Preußen zur Deckung des Haushaltsdefizits beizutragen.58 Die Transaktion kam jedoch vorläufig nicht zustande.
54 Vgl. dazu Herbert Obenaus, Finanzkrise und Verfassungsgebung. Zu den sozialen Bedingungen des frühen deutschen Konstitutionalismus. In: Barbara Vogel (Hg.), Preußische Reformen 1807 – 1820 (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 96, Königstein i. Ts. 1980), 244 – 265, bes. 257 f. 55 Gustav von Schmoller, Preussische Verfassungs-, Verwaltungs- und Finanzgeschichte (Berlin 1921), 190. 56 Zit. n. Klein, Reform, 93. 57 Karl Borchardt, Staatsverbrauch und öffentliche Investitionen in Deutschland 1780 – 1850, Diss. Göttingen 1968, 80 f. 58 Nathan Rothschild an Finanzminister Stadion, Januar 1818, Österreichisches Staatsarchiv/Haus-,Hof- und Staatsarchiv (=OeStA/HHStA) SB Stadion, Nachlass Johann Philipp Graf Stadion-Warthausen. Zu den Bemühungen der Rothschilds, als Kreditgeber der österreichischen Regierung Fuß zu fassen, siehe Egon Caesar Corti: Der Aufstieg des Hauses Rothschild, 1770 – 1830 (Leipzig 1927), bes. 185 – 192.
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Eine zentrale Rolle bei der Abwicklung staatlicher Anleihengeschäfte in Preußen spielte die 1772 gegründete Königliche Seehandlung, die durch das Finanzedikt von 1810 als Bankinstitut direkt der Finanzverwaltung unterstellt worden war, um gegen Provision Geld- und Wechseloperationen des Staates durchzuführen. Zwischenzeitlich auch dem neu geschaffenen Schatzministerium untergeordnet und mit der Verwaltung der aus Frankreich eintreffenden Kontributionsgelder betraut, wurde die Seehandlung schließlich im Zuge der gesetzlichen Regelung des Staatsschuldenwesens im Jahre 1820 neu organisiert: Unter der Führung von Rother wurde sie zu einem vom Finanzministerium nunmehr unabhängigen staatlichen Geld- und Handelsinstitut, also zur selbstständigen juristischen Person, in deren Aufgabenbereich zukünftig auch die Unterbringung von Staats- und Kriegsanleihen fallen sollte. Ein entscheidender Faktor war dabei die Unabhängigkeit der Seehandlung von eventuell zu berufenden Reichsständen, womit deren möglicher Einfluss bei der Kreditnahme zurückgedrängt werden konnte.59 III. Die Steuerreform: Vademecum der Finanzpolitik? Das zentrale Problemfeld in der Steuerverwaltung der Habsburgermonarchie war bereits 1790 mit dem Scheitern der josephinischen Grundsteuerreform eröffnet worden. Die Folge war, dass diese wichtigste direkte Steuer fortan nicht nur innerhalb eines veralteten Systems administriert wurde, sondern vor allem auf nicht aktuellem Datenmaterial basierte.60 Versuche, die Steuereinnahmen in den folgenden Kriegsjahren über eine Klassensteuer (1799), eine Personalsteuer (1803), eine Vermögenssteuer (1806/1810) sowie eine Industrial- und Erwerbssteuer (1812) zu erhöhen, blieben wenig erfolgreich. Erschwerend kam hinzu, dass Ungarn, gemessen an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Landes sowie an der Beitragshöhe der übrigen Kronländer, unverhältnismäßig niedrige Kontributionen abführte; dies geschah außerdem zum Teil in „altem“ Papiergeld. Erst 1822 wurde dieser Zustand per kaiserlichem Dekret insofern gebessert, als die ungarische Hofkammer verpflichtet wurde, ihre – in Relation nach wie vor niedrigen – Kontributionen künftig in Silbermünze abzuführen.61 In den auf dem Wiener Kongress neu hinzugewonnenen oberitalienischen Besitzungen dagegen war unter der Herrschaft Napoleons das Steuerwesen nach modernen Grundsätzen ausgebaut worden. Diese Effizienz machte sich nun auch für die österreichische Staatskasse bezahlt: Bedingt durch die modernisierte Verwaltung 59 Paul Schrader: Die Geschichte der Königlichen Seehandlung (Preußische Staatsbank), mit besonderer Berücksichtigung der neueren Zeit, aufgrund amtlicher Quellen (Berlin 1911), 7. Zur Rolle des Bankinstitutes zu Beginn der preußischen Industrialisierung vgl. auch Wolfgang Radtke: Die preußische Seehandlung zwischen Staat und Wirtschaft in der Frühphase der Industrialisierung (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 30; Publikationen zur Geschichte der Industrialisierung), Berlin 1981. 60 Sandgruber, Ökonomie und Politik, 224. 61 Beer, Finanzen, 130.
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brachte das italienische Königreich im Jahr 1822 mehr als ein Drittel der Gesamteinnahmen der Monarchie auf. Finanzminister Stadions Intention, dieses Modell auf die übrigen Provinzen der Habsburgermonarchie zu übertragen, stieß allerdings beim Kaiser wie bei den einzelnen Ländervertretungen auf vehementen Widerstand und gelangte nicht zur Umsetzung. Auch die Industrial- und Erwerbssteuer hätte in Zeiten der beginnenden Industrialisierung das Potenzial gehabt, einen wesentlichen Beitrag zu den Staatseinnahmen zu leisten, doch unterlag der Steuersatz in den einzelnen Kronländern autonomen Regelungen.62 Hofrat Kübeck beklagte in einem Schreiben an den Finanzminister das fehlende Durchgriffsrecht der Zentralbehörde: „Die directen Einnahmequellen sind dem Einfluße der Finanzverwaltung beinahe ganz entzogen. Ihre Perception, insbesondere jene der Grundsteuer ist denjenigen Personen und Behörden anvertraut, welche theils gar kein Interesse an der Einbringung haben, theils gerade dabei interessiert sind, alle möglichen Hindernisse und Schwierigkeiten in die Sache zu legen.“63 Damit rührte er an einem weiteren Kernproblem des österreichischen Steuersystems, nämlich dass die Grundsteuer nach wie vor nicht von staatlichen Behörden, sondern durch die einzelnen Grundherrschaften verwaltet wurde, die wiederum bestrebt waren, dem Prinzip der Selbstschonung zu folgen. Eine tatsächliche Steuergerechtigkeit, wie sie dem idealtypischen modernen Steuersystem des 19. Jahrhunderts entsprach, konnte nur durch eine Objektivierung, also eine genaue Landvermessung, erzielt werden. Es dauerte bis Dezember 1817, ehe der Kaiser auf Druck Stadions und trotz des massiven Protestes der Landstände schließlich ein Gesetz über die Anlegung eines „stabilen“ Katasters erließ und dem Militär die Aufgabe der Vermessung übertrug.64 Die Umsetzung des Vorhabens war allerdings langwierig und damit nicht geeignet, dem angespannten Finanzhaushalt kurzfristig Erleichterung zu verschaffen. Als erfolglos erwies sich Stadions Versuch, Ordnung in die indirekten Steuereinnahmen zu bringen. Dem Finanzminister war bewusst, dass allein das Staatsmonopol auf Salz und Tabak die Möglichkeit bot, die öffentlichen Finanzen schlagartig zu sanieren.65 Doch das Potenzial blieb ungenutzt. Ab 1817 hatte er den Kaiser wiederholt dazu gedrängt, die längst notwendige Reform bei den Gefällen einzuleiten, verstärkte seine diesbezüglichen Forderungen seit der militärischen Intervention in Neapel und deren ausufernden Kosten aber deutlich. In einer scharf formulierten Denkschrift gab Stadion seiner Überzeugung Ausdruck, dass mit dem „Umsturz der Finanzen und 62
Rössler, Stadion, 191; Rumpler, Chance, 151. Zit. n. Raudnitz, Staatspapiergeld, Anm. 1, 120. 64 Die Entwicklungsschritte der Landvermessung und deren Bedeutung für die Modernisierung des österreichischen Kaiserstaates bei Werner Drobesch: Bodenvermessung und Bodenbewertung als Teil einer Staatsmodernisierung. Theresianische Steuerrektifikation, Josephinischer Kataster und Franziszeischer Kataster, in: Reto Furter/Anne-Lise Head-Koenig/ Luigi Lorenzetti (Red.): Les migrations de retour. Rückwanderungen (Histoire des Alpes – Storia delle Alpi – Geschichte der Alpen 14/2009), 165 – 184. 65 Rumpler, Chance, 250. 63
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[…] [mit dem] der Monarchie“ zu rechnen sei, bliebe man in dieser Sache weiter untätig.66 Franz I. war aber nicht der Herrscher, der sich von seinen Ministern in die Enge treiben ließ, sondern entzog am 23. Juli 1823 Stadion kurzerhand die Gefällsverwaltung, um sie wieder in die Hände der Hofkammer zu legen. Tabelle 2 Die Anlegung des „stabilen“ Katasters in den österreichischen Kronländern – ausgesuchte Beispiele Kronland
Beginn der Kartierung
Vollendung der Schätzung
Steuerrechtliche Gültigkeit
Niederösterreich
1817
1835
1835
Oberösterreich
1822
1844
1845
Kärnten/Krain
1818
1842
1844
Dalmatien
1823
1852
1852
Quelle: Roman Sandgruber: Österreichische Agrarstatistik 1750 – 1918 (Wirtschafts- und Sozialstatistik ÖsterreichUngarns 2), München 1978, 32.
Knapp zehn Monate nach diesem kaiserlichen Misstrauensvotum verstarb Stadion. Mit seinem Ableben endete für die Habsburgermonarchie auch die kurze Zeit der finanzpolitischen Reformen im Vormärz. Der preußische Geschäftsträger in Wien berichtete: „Der Tod des Finanzministers Graf Stadion hat in Wien allgemeines Aufsehen erregt, wo man diesen Minister gleichermaßen liebte und achtete, sowohl wegen seiner Fähigkeiten, wie wegen der ihm eigenen hervorragenden Rechtlichkeit und Aufrichtigkeit.“ 67 In Preußen hatte man bereits im Rahmen der ersten finanzpolitischen Neuerungen erkannt, dass das alte Steuersystem den Herausforderungen einer neuen Wirtschaftsordnung nicht genügen würde. Demzufolge stand der Abbau steuerlicher Privilegien und die Forcierung der Steuergleichheit im Zentrum der Reformabsichten. Basierend auf dem Finanzedikt von 1810 wurde bis 1812 eine Reihe von neuen Steuern eingeführt, mittels derer es aber – ganz ähnlich wie in Österreich – nicht gelang, die angepeilten Einnahmesummen tatsächlich zu lukrieren. Auch das Urteil der Zeitgenossen war kritisch. So urteilte Johann Gottfried Hoffmann, auf dem Wiener Kongress Mitglied der Statistischen Kommission und seit 1817 Mitglied des Staatsrates, nüchtern: „Die Steuerverfassung ist mehrenteils eine Schöpfung der Not des Augenblicks.“68 Durchgreifende Reformanstrengungen, die vor allem auf eine Vereinheitlichung des Steuerwesens abzielten, wurden mit der territorialen Vergrößerung von 1815 notwendig. Die von Finanzminister Bülow zu Beginn des Jahres 1817 vorgelegten Pläne 66
Zit. n. Rössler, Stadion, 220. Zit. n. ebd., 236. 68 Gustav Schmoller: Skizze einer Finanzgeschichte von Frankreich, Oesterreich, England und Preussen (1500 – 1900). Historische Betrachtungen über Staatenbildung und Finanzentwicklung, Leipzig 1909, 48. 67
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zur Verbesserung der indirekten Besteuerung stießen zunächst vor allem im Staatsrat auf breite Ablehnung, rührten sie doch an die ständisch verfassten Privilegien.69 Erst zwischen 1818 und 1822 gelang die Umsetzung einer Reihe weitreichender Neuerungen. So wurde etwa die bisherige Akzise im Februar 1819 durch eine allgemeine Verbrauchssteuer ersetzt, die auf Branntwein, Braumalz, Weinmost und Tabakblätter erhoben wurde. Im Mai 1820 wurde anstatt der Einkommens- eine Klassensteuer eingeführt, die zu Preußens Hauptsteuer und damit zum zentralen Träger des fiskalischen Gewinns wurde, während die 1810 etablierte Gewerbesteuer drastisch reduziert und vordergründig nur noch als gewerberegulierendes Element verwendet wurde. Den Schlusspunkt der Entwicklung setzte das Abgabengesetz vom 30. Mai 1820, das gleichsam als neues „Grundgesetz der preußischen Finanzverfassung“ das Steuerwesen für Jahrzehnte regeln sollte. Das darin enthaltene Versprechen einer Grundsteuerreform wurde dagegen vorläufig nicht eingelöst, sondern musste bis 1861 auf eine Umsetzung warten. Das lag Hoffmann zu Folge einerseits am „Zutritt vieler Landesteile mit eigentümlichen Grundsteuerverfassungen“ nach 1815, aber auch „der Mangel an dem erforderlichen Personale zur Vermessung und Abschätzung“ verhinderte die Durchführung der notwendigen Katastrierungsarbeiten.70 Damit blieb die Steuerfreiheit des adeligen Großgrundbesitzes vorerst aufrecht. Vom fiskalischen Standpunkt wird man die Steuernovelle von 1820 als erfolgreich einzustufen haben, da sie eine eindeutige Vermehrung der vom Staat so dringend benötigten Steuereinnahmen mit sich brachte; ebenso wenig kann jedoch übersehen werden, dass sie den wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen des Vormärz kaum Rechnung trug.71 Tabelle 3 Das Verhältnis direkter zu indirekten Steuern in Österreich und Preußen, 1820 und 1830 im Vergleich Österreich
Preußen
Direkte Steuern
Indirekte Steuern
1820
35,1 %
59,0 %
1830
37,5 %
60,6 %
+ 2,4 %
+ 1,6 %
Direkte Steuern
Indirekte Steuern
1821
32,8 %
35,4 %
1829
36,2 %
33,3 %
+ 4,2 %
- 1,9 %
Quelle: Markus Weiß: Das Verhältnis von direkten und indirekten Steuern hinsichtlich ihrer Erträge und ihrer Bedeutung für den Staatshaushalt. Unter besonderer Berücksichtigung der Belastung der Steuerträger (1781 – 1847), Wien 1984, Anhang. 69 Takeo Onishi: Die preußische Steuerreform nach dem Wiener Kongress. In: Vogel (Hg.), Reformen, 266 – 284, hier 268 ff. 70 Johann Gottfried Hoffmann: Die Lehre von den Steuern als Anleitung zu gründlichen Urteilen über das Steuerwesen, mit besonderer Beziehung auf den preußischen Staat, Berlin 1840, 124. 71 Andreas Thier: Steuergesetzgebung und Verfassung in der konstitutionellen Monarchie (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 119, Frankfurt a. M. 1999), 49.
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Im Falle Preußens lässt sich für den Zeitraum von 1820 bis 1830 eine Verringerung von indirekten, dafür jedoch eine Zunahme der direkten Steuern von 4,2 Prozentpunkten konstatieren. Diese Entwicklung kam der Ansicht entgegen, wonach das Steuersystem sich umso mehr dem Gerechtigkeitspostulat und damit modernen Grundsätzen nähere, „je höher der Anteil der direkten Steuern an der Gesamtsumme des Aufkommens aller Steuern sei“.72 Anders verlief die Entwicklung in der Habsburgermonarchie, wo die indirekten Steuern ohnehin einen 60 %igen Anteil am Gesamtsteueraufkommen hatten, dieser zwischen 1820 und 1830 aber sogar noch um 1,6 Prozentpunkte anstieg. IV. Conclusio Im österreichischen Kaiserstaat wurde spätestens mit dem Tod des Finanzministers Stadion, des „Sisyphos der Finanz- und Wirtschaftsreform“73, der kurze Weg der Modernisierung der Finanzverwaltung im Vormärz wieder verlassen. Das lag vor allem an der Tatsache, dass die Neuorganisation des Ressorts ausschließlich durch Stadion und seine engsten Mitarbeiter vorangetrieben worden war; mit Stadions Ableben fehlte es jedoch an Kräften, die das Reformwerk fortgeführt und gegenüber dem Kaiser durchgesetzt hätten. Es ist bezeichnend, dass Stadions Nachfolger im Amt, Michael Graf Nádasdy, bereits eine deutliche Beschneidung seiner Kompetenzen als Finanzminister hinnehmen musste. 1829 erfolgte schließlich die nominelle Auflösung des Finanzministeriums, wie es Stadion konzipiert hatte.74 Franz I., der seinem Selbstverständnis als Herrscher nach seine dringlichste Aufgabe in der Bewahrung des politischen Status Quo sah, konnte nicht nachhaltig von der Notwendigkeit eines Reformpakets überzeugt werden. Stattdessen ließ er zu, dass sich das alteingesessene, an althergebrachten Privilegien festhaltende Feudalsystem gegen die dringend benötigten Modernisierungsmaßnahmen durchsetzte. Damit blieb die staatliche Finanzverwaltung schwach und die Staatseinkünfte – mit Ausnahme der Einnahmen in Lombardo-Venetien – weit hinter ihren Möglichkeiten zurück. Die einzelnen Länder dagegen hatten einmal mehr ihren semiautonomen Status verteidigt, die Interessen des grundbesitzenden Adels hatten gesiegt. Zumindest aber war es gelungen, mit der Gründung der Österreichischen Nationalbank die Währungssanierung einzuleiten und das Finanzsystem auf niedrigem Niveau zu stabilisieren. Die finanziellen Verhältnisse der Habsburgermonarchie blieben aber bis weit in die 1840er Jahre angespannt. Dass die mehr oder minder konsequente Verfolgung umfassender Reformmaßnahmen sich bezahlt machen konnte, bewies dagegen Preußen, das es sich im Gegensatz zu Österreich mit dem durch Napoleon herbeigeführten Zusammenbruch 72 Eckart Schremmer: Finanzreform und Staatshaushalt in Preußen nach 1820. In: Vogel (Hg.), Reformen, 111 – 138, hier 112. 73 Rumpler, Chance 153. 74 Vgl. Schönfellner, Finanzverwaltung, 124.
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schlichtweg nicht leisten konnte, an den bisherigen Verhältnissen festzuhalten. Das erkannte auch Friedrich Wilhelm III. Unter dem Druck der französischen Kontributionsforderungen wurde der Weg für eine Reihe von Modernisierungsbewegungen frei. Wenngleich über weite Strecken von Kompromissen getragen, ebnete der Neubau von Staat und Gesellschaft mittelfristig auch den Weg zu geordneten Staatsfinanzen. Staatskanzler Hardenberg gelang es mit Hilfe einer straff organisierten Zentralverwaltung, die Zügel des Finanzreformpaketes fest in den eigenen Händen zu halten und sich gegen Widerstände der Opposition durchzusetzen. Die Gefahr eines Staatsbankrottes, kurzfristig immer wieder durch Anleihegeschäfte der Königlichen Seehandlung abgewandt, konnte durch Maßnahmen wie die 1817 erstmals vorgelegte Gesamtjahresrechnung und die Steuernovelle von 1820 deutlich gemildert werden. Im Gegensatz zu Österreich sollte es der preußischen Regierung bis zur Jahrhundertmitte gelingen, die Staatsschuldenlast deutlich zu verringern.
Misstrauen, Kommunikation und Diplomatie. Preußen und Österreich im Gründungsprozess des Deutschen Zollvereins 1828 bis 1834 Von Oliver Werner, Hannover Die potenziellen Binde- und Sprengkräfte des 1834 gegründeten Deutschen Zollvereins für den Deutschen Bund sind bereits von den Zeitgenossen um 1830 antizipiert worden, allen voran von den maßgeblichen Politikern der deutschen Vormächte des Deutschen Bundes, dem preußischen Finanzminister Friedrich von Motz und dem österreichischen Staatskanzler Clemens von Metternich. Ihre in ausführlichen Denkschriften festgehaltenen Überlegungen – von der Befürchtung eines „Nebenbundes“ auf österreichischer Seite zur Erwartung „nationaler Einigung“ unter preußischer Führung – galten in der Geschichtswissenschaft lange als gleichsam prophetische Äußerungen, mit denen sich wahlweise die Thesen von einer preußischen „Sendung für Deutschland“ oder einer österreichischen „Intrige gegen Preußen“ untermauern ließen.1 Bemerkenswert ist an den Dokumenten indes, dass sie vor allem als Ausdruck der jeweiligen diplomatischen Konstellation und der unmittelbaren Stimmung, in der sie entstanden, sehr klare Aussagen über die verschiedenen Zugänge der deutschen Vormächte zum Problem der wirtschaftlichen Einigung des Deutschen Bundes erlauben. Zugleich belegen die Denkschriften, wie unterschiedlich die Regierungen in Berlin und Wien bereits in den späten 1820er und frühen 1830er Jahren dachten sowie diplomatisch kommunizierten und handelten. Sowohl Motz’ viel zitiertes „Memoire“ vom Juni 1829 als auch Metternichs ausführlicher Bericht an Kaiser Franz I. vom Juni 1833 sind also weniger prophetisch als vielmehr handfester Ausdruck jeweils aktueller diplomatischer Haltungen und Stile, die sich etwa im Grad des Misstrauens gegenüber anderen Bundesstaaten, in der Fähigkeit zu gleichrangiger Kommunikation mit deutschen Mittel- und Kleinstaaten, aber auch in ihrer jeweiligen Rückkopplung und Rückversicherung in Berlin und Wien unterscheiden.2 1 Vgl. Helmut Berding: Die Entstehung des Zollvereins als Problem historischer Forschung. In: Ders. u. a. (Hg.): Vom Staat des Ancien Regime zum modernen Parteienstaat. Festschrift für Theodor Schieder zu seinem 70. Geburtstag, München 1978, 225 – 237; sowie Hans-Werner Hahn: Hegemonie und Integration. Voraussetzungen und Folgen der preußischen Führungsrolle im Deutschen Zollverein. In: Helmut Berding (Hg.): Wirtschaftliche und politische Integration in Europa im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1984, 45 – 70. 2 „Memoire von Motz über die hohe Wichtigkeit der von Preußen mit Bayern, Württemberg und Großherzogtum Hessen abgeschlossenen Zoll- und Handelsverträge in kommerzi-
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Diese Unterschiede resultierten zum Teil aus einer sich wandelnden Expertise der bundespolitischen Lage im Umfeld der Julirevolution 1830, zu einem größeren Teil allerdings – so die zentrale These dieses Aufsatzes – aus den besonderen Erfahrungen, die beide Vormächte im Umgang mit den deutschen Mittel- und Kleinstaaten im Prozess der Gründung des Deutschen Zollvereins machten. Einen wesentlichen Kristallisationspunkt dieser Erfahrungen bildete der „Mitteldeutsche Handelsverein“, dessen Mitgliedsstaaten es im Sommer 1828 gelang, in der deutschen Zollpolitik eine eigene diplomatische Position aufzubauen.3 Die neue Konstellation stellte eine ernste Herausforderung für die preußische und österreichische Diplomatie dar, auf die die beiden deutsche Vormächte ganz unterschiedlich reagierten, während sich den deutschen Mittelstaaten – allen voran die Königreiche Bayern und Sachsen – neue Handlungsmöglichkeiten eröffneten. Dabei sah es 1828 zunächst ganz danach aus, als würden sich die Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes in der Frage eines einheitlichen Zollgebiets gegenseitig blockieren. I. Die handelspolitische Ausgangslage 1828 Nach dem Aufschub der auf dem Wiener Kongress 1815 in Aussicht gestellten Zollverhandlungen und mehreren vergeblichen Anläufen süddeutscher Staaten zur Bildung von Zollunionen in den 1820er-Jahren veränderte sich im Frühjahr 1828 die zollpolitische Lage im Deutschen Bund grundlegend.4 Mit dem Abschluss der Verträge über den bayerisch-württembergischen und den preußisch-darmstädtischen Zollverein im Januar bzw. Februar 1828 entstanden zwei staatenübergreifende Zollgebiete mit expansivem Anspruch. Beide Vereine verfolgten das Ziel, die übrigen Staaten Mittel- und Nordwestdeutschlands jeweils für sich als Mitglieder zu gewinnen. Die Bildung beider Vereine war nicht zuletzt deshalb möglich geworden, weil ihre jeweiligen Vormächte Preußen und Bayern die bisher angestrebte strikte Hegemonialstellung innerhalb der beabsichtigten Verbände zurückgestellt hatten. Bayern verzichtete Ende 1827 zögerlich auf Vorrechte gegenüber Württemberg, um den Eindruck „administrativer Mediatisierung des benachbarten Königreichs“ zu vermeieller, finanzieller, politischer und militärisch-strategischer Beziehung, zur Motivierung der allerhöchsten Ratifikation unterlegt“, vom Juni 1829. In: Hermann Oncken/F. E. M. Saemisch (Hgg.): Vorgeschichte und Begründung des Deutschen Zollvereins. Akten der Staaten des Deutschen Bundes und der europäischen Mächte, Bd. 3, Berlin 1934, 525 – 541; sowie der Vortrag Metternichs „Der preußische Zollverein“ vom Juni 1833. In: Richard Clemens von Metternich (Hg.): Aus Metternichs nachgelassenen Papieren, Teil 2, Bd. 3, Wien 1882, 502 – 519. 3 Vgl. zuletzt Oliver Werner: Konfrontation und Kooperation. Der Mitteldeutsche Handelsverein im Gründungsprozess des Deutschen Zollvereins 1828 bis 1834. In: Hans-Werner Hahn/Marko Kreutzmann (Hgg.): Der Deutsche Zollverein. Ökonomie und Nation im 19. Jahrhundert, Weimar/Wien 2012, 75 – 94. 4 Vgl. Hans-Werner Hahn: Geschichte des Deutschen Zollvereins, Göttingen 1984, 32 – 42.
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den,5 und Preußen zeigte sich im Vertrag mit dem Großherzogtum Hessen-Darmstadt im Februar 1828 einem kleineren Partner gegenüber zu substanziellen Konzessionen bereit.6 Die preußische Regierung verband mit ihrer diplomatischen Haltung sehr klare Erwartungen. Außenminister Christian von Bernstorff legte dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. noch vor Unterzeichnung des Vertrags mit HessenDarmstadt dar, dass die finanziellen und staatswirtschaftlichen Vorteile des Abkommens zwar auf Seiten des Großherzogtums Hessen lägen, dass dieses Beispiel indes „noch andere süd- und norddeutsche Regierungen veranlassen dürfte, solchem zu folgen“, sodass „das diesseitige indirekte Steuer- und Handelssystem an Umfang und Bedeutung gewinnen“ könnte. Zudem würde Preußen „durch einen solchen Verband das Interesse der kleineren deutschen Staaten an sich“ fesseln und „seinen Einfluss auf dieselben auf die reellste Weise zu begründen imstande“ sein.7 So sehr diese preußischen Erwartungen noch Zukunftsmusik waren, wurden sie in Wien sehr wohl wahrgenommen. Staatskanzler Clemens von Metternich legte dem österreichischen Gesandten in Berlin, Ferdinand von Trauttmansdorff, seine Ansicht der Verhältnisse dar, verbunden mit der Aufforderung, darüber „eine tiefe Stille zu beobachten“. Metternich sah den Vertrag zwischen Preußen und Hessen-Darmstadt in einem größeren Zusammenhang. Der Vertrag erzeuge im Deutschen Bund die Aufmerksamkeit der deutschen Regierungen, und von preußischer Seite geschehe alles, „um die übrigen, sowohl nördlichen als südlichen Höfe in das Netz zu verstricken: ein Unternehmen, das in der Gänze wohl ein Gelingen“ werde.8 Zugleich blieb Metternich, der sich in der orientalischen Frage gerade in Europa isoliert hatte und auf die preußische Unterstützung seiner Nicht-Intervention angewiesen war,9 sorgsam darauf bedacht, „unsere großen politischen Verhältnisse gegen den preußischen Hof nicht wegen einem wahren politischen Quark zu trüben, der sich nach vielen Bestrebungen am Ende dennoch, wie anderes, als ein elendes Fischen nach Präpotenz beweisen kann, dem kein Gedeihen blühen“ werde.10 5
Der bayerische Staatsminister Georg von Zentner an König Ludwig I. von Bayern, 30. 12. 1827. In: Oncken/Saemisch (Hgg.), Vorgeschichte, Bd. 1, 548. 6 Vgl. Lawrence J. Baack: Christian Bernstorff and Prussia. Diplomacy and Reform Conservatism 1818 – 1832, New Brunswick (New Jersey) 1980, 122 – 127. 7 Bernstorff an König Friedrich Wilhelm III., 24. 1. 1928. In: Oncken/Saemisch (Hgg.), Vorgeschichte, Bd. 2, 186. 8 Metternich an Trauttmansdorff, 18. März 1828. In: Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien (=HHStA), Staatskanzlei, Preußen 128, Bl. 187 – 190, hier Bl. 189. Vgl. hierzu Baack, Bernstorff, 126, sowie Robert D. Billinger: Metternich and the German Question. States’ Rights and Federal Duties, 1820 – 1834, Cranbury (New Jersey) u. a. 1991, 43. 9 Neben Baack, Bernstorff, 153 – 164, vgl. auch Harald Müller: Im Widerstreit von Interventionsstrategie und Anpassungszwang. Die Außenpolitik Österreichs und Preußens zwischen dem Wiener Kongress 1814/15 und der Februarrevolution 1848, Berlin (DDR) 1990, 195 – 207. 10 Metternich an Trauttmansdorff, 18. März 1828. In: HHStA Wien, Staatskanzlei, Preußen 128, Bl. 187 – 190, hier Bl. 190.
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Während Metternich in dem Konflikt zwischen Russland und dem Osmanischen Reich „jede Einwirkungsmöglichkeit aus der Hand gab“,11 blieb seine Sicht auf den Deutschen Bund von Konspirationsvermutungen geprägt, wodurch der österreichische Staatskanzler zugleich eine willkommene Projektionsfläche für preußische Verschwörungsannahmen bot. Der Widerspruch in seiner Annahme, das preußische Netz könnte einerseits erfolgreich sein, während andererseits die preußischen Bestrebungen nicht gedeihen würden, blieb unaufgelöst, wie auch die Diskrepanz zwischen den preußischen Zugeständnissen gegenüber Hessen-Darmstadt und den damit in Berlin verknüpften allzu hohen Erwartungen an eine breite Wirkung in den Deutschen Bund hinein vorerst offenblieben. Tatsächlich nahmen in dieser Situation andere deutsche Staaten das Heft des Handelns in die Hand. II. Die Anbahnung neuer Optionen Die beiden neu gebildeten Zollvereine setzten die meisten Staaten im Zentrum des Deutschen Bundes der Gefahr aus, von Zollgrenzen eingeschlossen zu werden. Das betraf etwa das Königreich Sachsen,12 aber auch Hannover und Kurhessen, die im Frühjahr 1828 eifrig von Preußen und Bayern umworben wurden, dem nord- bzw. süddeutschen Zollverbund beizutreten.13 Insbesondere bei der preußischen Initiative war aus mitteldeutscher Perspektive kaum abzuschätzen, ob sie nicht zu einer langfristigen Lähmung des deutschen Handels durch willkürliche Handelsabgaben führen würde. Die Reaktionen der betroffenen Staaten blieben dabei einem Wahrnehmungsmuster verhaftet, das sich seit 1815 verfestigt hatte und vor allem gegenüber Preußen von einem schier unüberwindbaren Misstrauen bestimmt wurde. Umgekehrt ließen die Versuche des preußischen Finanzministers Friedrich von Motz, einige Staaten zum Beitritt in den norddeutschen Verein zu überreden, eine deutliche Geringschätzung der mittleren Bundesstaaten erkennen, die es in mehreren Anläufen bisher nicht vermocht hatten, ihre Interessen aufeinander abzustimmen.14 Vor diesem Hintergrund setzte Ende Februar 1828 eine intensive Kommunikation zwischen den norddeutschen Mittel- und Kleinstaaten ein, die sich relativ schnell auf eine wechselseitige, verbindliche Versicherung konzentrierte, dem preußischen Zollsystem nicht beizutreten. Die Struktur dieser Kommunikation entsprach dabei erst 11 Oliver Schulz: Ein Sieg der zivilisierten Welt? Die Intervention der europäischen Großmächte im griechischen Unabhängigkeitskrieg (1826 – 1832), Münster 2011, 232. 12 Vgl. Olivier Podevins: Die sächsische Außenpolitik nach dem Wiener Kongress 1815 – 1828. Handlungsmöglichkeiten einer deutschen Mittelmacht im Deutschen Bund. In: Neues Archiv für sächsische Geschichte 70 (1999), 79 – 104, besonders 101 – 104. 13 Vgl. für Hannover etwa Gunhild Bartels: Preußen im Urteil Hannovers 1815 – 1851, Hildesheim 1960, 64 – 65. 14 Vgl. Hermann von Petersdorff: Friedrich von Motz. Eine Biographie, Bd. 2, Berlin 1913, 129 – 131. Petersdorff unterstellt freilich den von Preußen kontaktierten Regierungen, sie hätten nicht erkannt, „welche Wohltaten ihnen dargeboten“ worden seien; ebd., 129.
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einmal ganz den Gepflogenheiten des Deutschen Bundes: Vertreter kleinerer Staaten wandten sich an benachbarte größere Staaten und baten um Rat oder Beistand, während die größten der beteiligten Länder – die Königreiche Sachsen und Hannover – versuchten, die verschiedenen Impulse zu bündeln und ihren eigenen Interessen gemäß einzusetzen. Die sächsische Regierung konnte dabei erfolgreich ihre dynastischen und persönlichen Beziehungen in den thüringischen Raum einsetzen und bereits Ende März 1828 im sächsischen Oberschöna mit dem Großherzogtum SachsenWeimar-Eisenach vereinbaren, „keinem auswärtigen Zollsystem beizutreten“ und stattdessen einen Handelsverein zu bilden, der seinen Mitgliedern „gegenseitig einen möglichst freien und ausgebreiteten Handel“ verschaffen sollte.15 Damit hatten die mächtigsten Staaten des sächsisch-thüringischen Raumes die Federführung übernommen und den inhaltlichen Rahmen markiert. Entscheidend für ein Gelingen des Vereinsprojekts war aber die Haltung der kurhessischen Regierung, da nur mit Kurhessen eine territoriale Verbindung der interessierten Staaten möglich war.16 Im April 1828 gaben sich daher in Kassel die Gesandten der deutschen Bundesstaaten die Klinke in die Hand, um den Kurfürsten, der trotz eines durch familiäre Verwicklungen verstärkten anti-preußischen Affekts zögerlich blieb,17 für eine Beteiligung zu gewinnen. Ausschlaggebend für die Bereitschaft Kurhessens, der Vereinbarung von Oberschöna beizutreten, war offenkundig das Signal des sächsischen Bundestagsgesandten Bernhard von Lindenau, die österreichische Regierung sei bereit, einer dem hessischen Kurfürsten am Herzen liegenden Neugruppierung des Bundesheeres zuzustimmen.18 Lindenau hatte zuvor mit dem österreichischen Militärbevollmächtigten am Bundestag, Karl von Langenau, über diese Frage gesprochen und von ihm einige eher unverbindliche Zusicherungen erhalten.19 Die Gewinnung des Kurfürstentums Hessen-Kassel für eine dritte Vereinsoption hat schon die zeitgenössischen Vorstellungen von einem gleichermaßen wirksamen wie unterschwelligen Einfluss Österreichs auf die handelspolitische Entwicklung des Jahres 1828 beflügelt. Tatsächlich finden sich allerdings nur wenige Belege für eine Einflussnahme der österreichischen Diplomatie, und diese beschränken sich durchgängig auf die eindringliche Darlegung der Verhältnisse – insbesondere der unter15 Sächsisch-thüringische Punktation von Oberschöna vom 26. 3. 1828. In: Oncken/Saemisch (Hgg.), Vorgeschichte, Bd. 2, 369. 16 Vgl. Hans-Werner Hahn: Wirtschaftliche Integration im 19. Jahrhundert. Die hessischen Staaten und der Deutsche Zollverein, Göttingen 1982, 90. 17 Der hessische Kurfürst Wilhelm II. war seit 1797 mit der Schwester des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. verheiratet, die sehr unter dem Verhältnis ihres Mannes zu einer Mätresse litt. Mehrfache (erfolglose) Interventionen des preußischen Königs empfand der Kurfürst als Zumutung; vgl. Horst Wenderhold: Die Vorgeschichte des Deutschen Zollvereins. Die kurhessische Zollpolitik von 1814 bis zum Eintritt in den preußischen Zollverein 1831, maschinenschriftliches Manuskript, Marburg 1950, 67 – 68. 18 Vgl. den ausführlichen Bericht Lindenaus an den sächsischen Minister Detlef von Einsiedel vom 22. 4. 1828. In: Oncken/Saemisch (Hgg.), Vorgeschichte, Bd. 2, 411 – 419. 19 Vgl. Langenau an Metternich, 28. 4. 1828. In: HHStA Wien, Staatskanzlei Deutsche Akten Nr. 157, Bl. 244 – 245.
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stellten preußischen Motive – gegenüber hessischen Gesprächspartnern. Ende März 1828 hatte Metternich dem Präsidenten des Bundestags, Eduard von Münch-Bellinghausen, ausdrücklich Zurückhaltung vorgeschrieben. Zwar sei es im Interesse Österreichs, den sich formierenden dritten Handelsverein in der Mitte Deutschlands „zu befördern“. Indes dürfte man dabei „nicht Gefahr laufen, vor den Augen des preußischen Hofes als in der Opposition seiner Interessen stehend zu erscheinen und auf diese Weise mit demselben in irgendeine uns um so unangenehmere Komplikation zu geraten, als wir uns mit demselben in allen übrigen und besonders in den wichtigsten Fragen im besten Einverständnis befinden“.20 Die Zurückhaltung kaschierte zugleich die Abwesenheit echter Handlungsoptionen der österreichischen Regierung. Metternich war sowohl von Langenau als auch vom österreichischen Gesandten in Kassel, Eugen von Philippsberg, über die Entwicklung auf dem Laufenden gehalten worden, konnte den sich verdichtenden Ereignissen, wie die Präsentatvermerke der Schreiben belegen, allerdings nur mit einer zeitlichen Verzögerung folgen, die eine mögliche Einflussnahme Wiens entscheidend reduzierte.21 Auch wenn sich die „Bildung eines mitteldeutschen Handelsvereins […] gut in die Linie der österreichischen Politik“ fügte, „die preußischen Zollbestrebungen zu durchkreuzen“,22 beschränkte sich eine österreichische Beteiligung an der Entwicklung darauf, vor Szenarien zu warnen, die den übrigen deutschen Diplomaten wohl kaum neu vorgekommen sein dürften. So wies Metternich den kurhessischen Geheimen Finanzrat Johann von Deines darauf hin, dass Preußen „wahrscheinlich die Familienangelegenheiten zu benutzen geneigt sein möchte“, um den Kurfürsten „günstig für seine Wünsche zu stimmen und seine Zwecke durchzusetzen“. Darüber hinaus verbinde Berlin mit dem Vertrag mit Hessen-Darmstadt den „größeren politischen Zweck“, die übrigen mitteldeutschen Staaten „ebenfalls zum Anschließen an das preußische Zollsystem […] zu veranlassen und somit auch einen gewissen politischen unmittelbaren Einfluss in diesen Staaten zu erlangen“.23 Eine darüber hinausgehende Einflussnahme Österreichs auf die Bildung des Mitteldeutschen Handelsvereins „steht nicht fest“.24 Gegen sie spricht auch, dass das österreichische Interesse über die einfache Eindämmung preußischer Zollvereinspläne hinaus kein differenziertes handelspolitisches Konzept für den Deutschen Bund 20 Metternich an Münch-Bellinghausen, 24. 3. 1928. In: Oncken/Saemisch (Hgg.), Vorgeschichte, Bd. 2, 365. 21 Vergingen bis zur Vorlage der Depeschen von Philippsberg noch fünf (24.4./29. 4. 1828) bzw. siebzehn Tage (25.4./11. 5. 1828), las Metternich Langenaus Schreiben erst nach zwanzig Tagen (28.4./17. 5. 1828); vgl. die entsprechenden Präsentatvermerke in: HHStA Wien, Staatskanzlei Deutsche Akten Nr. 157, Bl. 238, 242 und 244. 22 Karl Schenk: Die Stellung der europäischen Großmächte zur Begründung des Deutschen Zollvereins, Düsseldorf 1939, 37. 23 Deines an Kurfürst Wilhelm II. von Hessen, 22. 3. 1828. In: Oncken/Saemisch (Hgg.), Vorgeschichte, Bd. 2, 354. 24 Ebd., 412, Anm. 1.
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aufweisen konnte. Österreich habe, so Metternich an Münch-Bellinghausen Ende April 1828, „bei der neuen Gestaltung der Handelsverhältnisse in Deutschland […] immerhin doch ein Interesse, […] nämlich die Begünstigung und Erleichterung des Transitohandels und die Herabsetzung der sich darauf beziehenden Zölle“. Auch wenn hier ein Anknüpfungspunkt mit „dem sogenannten neutralen Handelsverein“ bestünde, sei Österreich gegenwärtig nicht in der Lage, „in dieser Beziehung direkte Schritte bei den betreffenden Regierungen zu machen“.25 Daran sollte sich auch in den folgenden Jahren grundsätzlich nichts ändern.26 Die zollpolitische Handlungsfähigkeit Wiens wurde durch die unterschiedliche Bewertung der finanziellen und handelspolitischen Optionen, durch Metternich einerseits und die Hofkammer unter ihrem Präsidenten Michael von Nadasdy andererseits, wesentlich beschränkt. III. Preußische Befürchtungen Während Metternich aller diplomatischen Aktivität zum Trotz Zuschauer der Entwicklung blieb, zur Zurückhaltung der österreichischen Bundespolitik mahnte und die österreichische Einflussnahme sich auf die breite Auslegung einer vagen Zusage Langenaus durch Lindenau beschränkte, war die preußische Sicht auf die Dinge von der klaren Vorstellung geprägt, dass die Formierung eines dritten Handelsvereins im Deutschen Bund nur das Ergebnis eines konspirativen österreichischen Einflusses sein könnte. Bereits Ende März 1828 konstatierte der preußische Gesandte in Darmstadt, Mortimer von Maltzan, dass der „österreichische Einfluss […] in diesem Augenblick in Kassel der vorherrschende“ sei.27 Zugleich hoben die unterschiedlichen Berichterstatter auch die anti-preußische Stoßrichtung des Vereinsprojekts hervor. So sandte der in Karlsruhe tätige preußische Gesandte Friedrich von Otterstedt Mitte April 1828 einen ausführlichen Bericht „über den sogenannten neutralen Verein“ nach Berlin und verwies auf Lindenau „als die für die Bildung jenes Vereins wirksamste Person“.28 Maltzan stellte fest, dass das Projekt „vom kaiserlich österreichischen Hof auf das bestimmteste und offenste begünstigt“ werde, ohne hierfür allerdings Belege liefern zu können.29 Solche Belege waren offenbar auch nicht nötig, denn die Berichte der preußischen Gesandten bedienten die Stimmungen und Erwartungshaltungen der Regierung in Berlin. Insbesondere der preußische Finanzminister Friedrich von Motz griff den ag25
Metternich an Münch-Bellinghausen, 26. 4. 1928. In: ebd., 419 – 420. Vgl. Albert Branchart: Österreich und die Anfänge des preußisch-deutschen Zollvereins, Marburg 1930, 9 – 13. 27 Immediatbericht Maltzans an König Friedrich Wilhelm III., 28. 3. 1928. In: Oncken/ Saemisch (Hgg.), Vorgeschichte, Bd. 2, 262. 28 Bericht des preußischen Gesandten in Karlsruhe, Friedrich von Otterstedt, nach Berlin, 20. 4. 1828. In: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (=GStA PK), Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten, Nr. 3449, Bl. 8. 29 Maltzan an König Friedrich Wilhelm III., 20. 4. 1828. In: Oncken/Saemisch (Hgg.), Vorgeschichte, Bd. 3, 32. 26
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gressiven Ton der Depeschen bereitwillig auf. In mehreren Schreiben an Außenminister Christian von Bernstorff unterstrich er, dass der Handelsverein „weniger ein allgemeines Zollsystem intendiert, vielmehr hauptsächlich zur Absicht hat, einer weiteren Verbreitung unseres Zollsystems entgegenzutreten“. Werde das Projekt verwirklicht, so wäre „Preußen in der Lage, sein Zollsystem für abgeschlossen zu halten“ und sollte sich weigern, „diesen neutralen Verein seiner Absicht gemäß unter imponierenden Bedingungen aufzunehmen“.30 Der Verein, so Motz im Juni 1828, beabsichtige „nur eine Paralysierung […] der inneren Staatskraft Preußens in einem ihrer wichtigsten Zweige“. Diese „feindliche Tendenz“ müsse die preußische Regierung „zu sehr ernster Erwägung aller Mittel veranlassen, welche die innere Verwaltung uns darbietet, ihr zu begegnen und sie möglichst unschädlich zu machen“.31 Den Ansatzpunkt für eine konfrontative Gegenstrategie sah Motz in der Umlenkung des Transitverkehrs, sodass den Vereinsstaaten wichtige Zolleinnahmen entzogen würden.32 Der Finanzminister blieb in der Folge darauf bedacht, sämtliche Informationen über die Verhandlungen und Vereinbarungen der Mittelstaaten in Erfahrung zu bringen. Seine Befürchtung, der geplante Handelsverein könne auf eine Eindämmung der preußischen Zollpolitik abzielen, bestimmte dabei seine Wahrnehmung. Außenminister Bernstorff riet hingegen zu Gelassenheit und ließ sich von den dramatisierenden Schreiben des Finanzministers nicht aus der Ruhe bringen.33 Zugleich instrumentalisierte er aber die Aktivitäten des Finanzministers, indem er etwa dem hannoverschen Minister Ludwig von Ompteda gegenüber ebenso vertraulich wie unterschwellig drohend bemerkte, Motz „sei mit der Ausführung seiner Projekte oft zu rasch, verfahre dabei oft sehr willkürlich und eigenmächtig und bekümmere sich namentlich bei Verhältnissen mit Auswärtigen oft zu wenig um das auswärtige Departement“.34 Wenige Wochen später instruierte das preußische Außenministerium seine Gesandten mit einem moderaten Papier, in dem geradezu verständnisvoll „Furcht und Misstrauen“ als Ursachen der mitteldeutschen Vereinspläne genannt wurden. Der Verein wäre indes zu schwach, um der preußischen Monarchie etwas anhaben zu können.35 Der preußischen Botschaft in Wien wurde allerdings zeitgleich 30 Innenminister Friedrich von Schuckmann und Motz an das preußische Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten, 22. 5. 1828. In: ebd., 33. 31 Motz an Bernstorff, 26. 6. 1828. In: ebd., 45. 32 Vgl. Hubert Kiesewetter: Preußens Strategien gegenüber Vorläufern des Deutschen Zollvereins 1815 – 1834. In: Hans Pohl (Hg.): Die Auswirkungen von Zöllen und anderen Handelshemmnissen auf Wirtschaft und Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart 1987, 140 – 173, bes. 165 – 167. 33 Vgl. Baack, Bernstorff, 129 – 130. 34 Ompteda an den hannoverschen Kabinettsminister Friedrich von Bremer, 20. 7. 1828. In: Oncken/Saemisch (Hgg.), Vorgeschichte, Bd. 3, 42. 35 Das preußische Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten an die Gesandten zu Wien, München, Karlsruhe, Darmstadt, Brüssel, London, Kopenhagen, Hamburg und Dresden, 14. 8. 1828. In: ebd., 48.
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„das österreichische Interesse“ an dem Verein nahegelegt, da die österreichischen Diplomaten „so zusammenstimmend gewirkt und zum Teil ganz offen gehandelt“ hätten.36 Das klang weniger nach einem Zerwürfnis zwischen Motz und Bernstorff als vielmehr nach einer Doppelstrategie der preußischen Regierung. Dafür spricht auch, dass Bernstorff in der Folge seine moderate Position beibehielt, während Motz – etwa im Dezember 1828 – auf die preußischen „Erfahrungen“ verwies, nach denen „die Liebe für uns in den Bundesstaaten erst dann gewinnen dürfte, wenn sie mit Furcht und Beachtung der bestehenden Verhältnisse vereinigt“ bleibe.37 Tatsächlich sandte Berlin im Sommer und Herbst 1828 widersprüchliche Signale an die mitteldeutschen Staaten, nach denen zwar eine Kooperation prinzipiell nicht ausgeschlossen schien, die aber dennoch an die willkürliche Politik Preußens erinnerten, vor der sich die mitteldeutschen Staaten gerade schützen wollten. IV. Die Bildung des Mitteldeutschen Handelsvereins Mochte der viel beschworene anti-preußische Konsens den Fortgang der Bildung des Mitteldeutschen Handelsvereins beflügeln, unter den beteiligten Regierungen blieb die praktische Politik gegenüber dem Königreich Preußen weiter umstritten. Während kleinere Staaten Berlin nicht provozieren wollten, waren insbesondere Sachsen und einige thüringische Staaten sowie mit Einschränkungen Hannover bereit, eine Konfrontation mit den beiden Zollvereinen in Nord- und Süddeutschland zu riskieren, um die eigene Position zu verbessern. Entsprechend enthielt auch die nächste Vereinbarung, die Frankfurter Deklaration vom 21. Mai 1828, keine offen gegen Preußen gerichteten Äußerungen, sondern bekräftigte nur die abgrenzenden Bestimmungen.38 Der schwierige Konsens zwischen den Königreichen Hannover und Sachsen prägte nun den weiteren Gang der Verhandlungen. Beide Regierungen bezweckten mit dem geplanten Verein eine Herausforderung Preußens. Aber während die sächsische Regierung sich eine Stärkung der eigenen Positionen erhoffte, um in einem zweiten Schritt in ernste Verhandlungen mit Berlin eintreten zu können,39 wollte Hannover eine echte Begrenzung der preußischen Zollexpansion erreichen, um den eigenen Handel, vor allem auch die Einnahmen aus dem Transithandel, nicht zu gefährden.40 Beide Staaten wollten den Verein, aber ihre Gemeinsamkeit musste im Augenblick seiner Gründung enden. 36 Das preußische Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten an den preußischen Legationssekretär in Wien, von Brockhausen, 14. 8. 1828. In: ebd., 54. 37 Motz an Bernstorff, 19. 12. 1828. In: ebd., 69. 38 Vgl. den Entwurf einer Deklaration über den Handelsverein von Ende April 1828. In: Oncken/Saemisch (Hgg.), Vorgeschichte, Bd. 2, 422. 39 Vgl. Hubert Kiesewetter: Industrialisierung und Landwirtschaft. Sachsens Stellung im regionalen Industrialisierungsprozess Deutschlands im 19. Jahrhundert, Köln/Wien 1988, 140 – 141. 40 Vgl. Hilde Arning: Hannovers Stellung zum Zollverein, Hannover 1930, 25 – 26.
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Nicht zuletzt, weil in der Frankfurter Deklaration die implizite anti-preußische Spitze des geplanten Vereins nicht offen formuliert wurde, konnten ihr bis zum Sommer 1828 insgesamt siebzehn deutsche Staaten beitreten. Von der Nordseeküste über Hessen bis in den sächsisch-thüringischen Raum entstand damit eine lose Interessengemeinschaft, die territorial den nord- und den süddeutschen Zollverein blockieren konnte, ihre Nagelprobe aber erst noch zu bestehen hatte. Die Verhandlungen über Aufbau und Funktionsweise des Handelsvereins begannen im August, und sie wurden dadurch zu einem raschen Abschluss gebracht, dass man die Klärung von Detailfragen auf die Zeit nach der Unterzeichnung bzw. Ratifizierung des Vertrags verschob. Zentrale Fragen blieben umstritten, sodass der schließlich am 24. September 1828 unterzeichnete Kasseler Vertrag nur einen gegen die beiden anderen Zollvereine gerichteten Minimalkonsens darstellte. Die Signatarstaaten verpflichteten sich unter anderem, bis Ende 1834 „einseitig, d. h. ohne ausdrückliche Beistimmung des ganzen Vereins, mit keinem auswärtigen, in dem Vereine nicht begriffenen Staate in einen Zoll- oder Mautverband zu treten“. Handelsstraßen sollten „vorzugsweise durch die Staaten des Vereins geführt, dabei jedoch möglichst abgekürzt und die zu diesem Zweck erforderlichen neuen Bauten ohne Verzug unternommen werden“.41 Die im Herbst 1828 beginnenden Nachfolgeverhandlungen über den genauen Straßenverlauf zeigten dann auch, wie wenig ausbaufähig die Kooperation innerhalb des Handelsvereins tatsächlich war.42 Zugleich zwang die preußische Politik die Mitgliedstaaten, die eigenen Interessen und Positionen immer wieder neu zu überdenken, sodass die divergierenden Vorstellungen über den Sinn und das Ziel des Mitteldeutschen Handelsvereins in den Vordergrund traten.
V. Preußisch-bayerische Gemeinsamkeiten Nach der Bildung des Handelsvereins entwickelte die preußische Regierung rasch eine diplomatische Strategie, deren Kern die Ablehnung von Verhandlungen mit dem Verein als Ganzem bildete, während man bereit war, mit einzelnen Staaten des Handelsvereins über Detailfragen des Handels und des Straßenbaus zu verhandeln. Dieses Vorgehen hatte den unschlagbaren Vorteil, dass Berlin allein bestimmen konnte, wo und mit wem über welche Fragen verhandelt wurde, während es gleichzeitig weiterhin seine Abneigung gegen den Mitteldeutschen Handelsverein unvermindert in die diplomatische Waagschale werfen konnte. Die preußische Regierung verhandelte nun mit einzelnen thüringischen Vereinsstaaten über den Bau von Durchgangsstraßen, wobei sie an Straßenprojekte anknüpfte, die bereits vor der Gründung des Handelsvereins zwischen Preußen und einzelnen 41
Kasseler Vertrag vom 24. 9. 1828. In: Oncken/Saemisch (Hgg.), Vorgeschichte, Bd. 2, 499 – 504, Zitate, 500. 42 Vgl. Paul Thimme: Straßenbau und Straßenpolitik in Deutschland zur Zeit der Gründung des Zollvereins 1825 – 1833, Stuttgart 1931, 22 – 29.
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Staaten angestanden hatten. So bekräftigte das Berliner Außenministerium im Januar 1829 gegenüber Sachsen-Meiningen, dessen bisherige Anfragen wegen des Baus einer gemeinsamen Straße schroff abgewiesen worden waren, dass „Erschwerungen des Verkehrs überhaupt nicht in dem liberalen Handels- und Zollsysteme der preußischen Regierung“ angelegt seien. Gegenüber dem Herzogtum Sachsen-CoburgGotha wurde der gemeinsame Bau einer Straße, die dessen Landesteile durch das preußische Schleusingen verbinden würde, für den Fall gegenseitiger „Chausseegeldfreiheit“ in Aussicht gestellt.43 In Meiningen und Coburg-Gotha wurde die konziliante Haltung Berlins aufmerksam registriert. Zum ersten Mal schien Preußen auf Augenhöhe verhandeln zu wollen und die Interessen selbst der kleineren Staaten ernst zu nehmen. Dass gerade Finanzminister Motz aus seiner Zeit als Erfurter Regierungspräsident bestens mit den verwickelten territorialen Verhältnissen in Thüringen vertraut war, mochte diesen Eindruck noch unterstreichen.44 Parallel zu diesen Verhandlungen hatte der Mitteldeutsche Handelsverein wie ein Katalysator eine Annäherung zwischen dem nord- und dem süddeutschen Zollverein bewirkt. Der Verleger Friedrich von Cotta sondierte im Auftrag der bayerischen Regierung ab Herbst 1828 in Berlin die Möglichkeiten eines Handelsvertrags zwischen Preußen und Bayern.45 Diese Option war sowohl in Berlin als auch in München lange verworfen worden, aber nun wurden die Verhandlungen durch die Aussicht belebt, eine drohende Blockade der Handelsstraßen durch den Mitteldeutschen Handelsverein – die eben nicht nur Preußen, sondern auch Bayern betraf – mit einer engeren Kooperation und der Einrichtung abgabefreier Straßen durch den thüringischen Raum auszuhebeln. Ging die Idee ursprünglich vom bayerischen Finanzminister Joseph von Armansperg aus,46 erwies sich Motz hier als ein fähiger und anpassungsbereiter Politiker, der nun auch dem Königreich Bayern gegenüber einen deutlich konzilianteren Ton anschlug. Selbst die territorialen Überlegungen des bayerischen Königs Ludwig I. gefährdeten weder den Ton der Verhandlungen noch die Zielstrebigkeit der Verhandlungspartner, zu einem Ergebnis zu kommen, das alle Seiten befriedigte.47 Bereits am 27. Mai 1829 wurde zwischen dem preußisch-hessischen und dem süddeutschen Zollverein ein Handelsvertrag vereinbart, der eine Angleichung der Tarife
43
Schreiben des preußischen Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten an das meiningische sowie an das coburgische Ministerium, beide vom 8. 1. 1829. In: Oncken, Vorgeschichte, Bd. 3, 70 und 71. 44 Vgl. Petersdorff, Motz, Bd. 1, 137 – 188. 45 Vgl. noch immer Martin Doeberl: Bayern und die wirtschaftliche Einigung Deutschlands, München 1915, bes. 34 – 45. 46 Vgl. Das Neue Bayern, Staat und Politik (Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. 4/ 1), 2. Aufl., München 2003, 188. 47 Vgl. Wolf D. Gruner: Die Deutsche Politik Ludwigs I. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 49 (1986), 449 – 507, bes. 469 – 472.
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vorsah und den Zusammenschluss zu einem einheitlichen Zollgebiet anstrebte.48 Als Preußen Anfang Juli 1829 mit Sachsen-Meiningen und Sachsen-Coburg-Gotha Verträge über eine zollfreie Chausseeführung durch den thüringischen Raum abschloss, entstand eine direkte Handelsverbindung zwischen den beiden Zollvereinen, die nicht nur das Handelsabkommen mit Leben erfüllte, sondern auch das einzige handelspolitische Druckmittel des Mitteldeutschen Handelsvereins beseitigte. Die handels-, aber auch die bundespolitischen Implikationen dieser Entwicklung sind von den Regierungen in Berlin und München sehr wohl gesehen und artikuliert worden. So spielte Armansperg zwar die Bedeutung des preußisch-bayerischen Handelsvertrags vom Mai 1829 gegenüber dem britischen Gesandten in München, Lord Erskine, als „only a mere commercial arrangement for mutual advantage“ herunter. Indes sah er „very clearly the restraint it was likely to put on the influence of the Emperor of Austria, who had always thwarted […] every measure that was likely to be of advantage to the smaller German States“.49 Die handelspolitische Hinwendung Bayerns zu Preußen erscheint vor diesem Hintergrund geradezu als „Befreiungsschlag“ gegen die österreichischen Ambitionen, die kleinstaatliche Politik im Deutschen Bund detailliert festzulegen. Genau diese Vorstellung bedienten Motz bzw. sein Mitarbeiter Johann Menz in der berühmten „Memoire“ vom Juni 1829, die die möglichen Auswirkungen der Handelseinigung beschrieb und die im April 1830 auch der bayerischen Regierung bekannt gemacht wurde.50 Die Denkschrift sollte nicht nur dem weiterhin skeptischen König Friedrich Wilhelm III. die zollpolitische Zusammenarbeit mit den süddeutschen Staaten schmackhaft machen, indem betont wurde, „welch großen Wert einst Friedrich II. auf die Verbindung mit Bayern, dessen Prosperierung und Erhaltung“ gelegt habe.51 Zugleich sollten die Widerstände innerhalb der preußischen Regierung gegen eine Aufwertung der süddeutschen Staaten mit einer umfangreichen Auflistung der wirtschaftlichen, politischen und nicht zuletzt militärischen Vorteile dieser Prioritätenverschiebung entkräftet werden. Die historisch keineswegs zwingende Behauptung, dass die Einigung verschiedener Staaten „zu einem Zoll- und Handelsverbande zugleich Einigung zu einem und demselben politischen System
48
Vgl. den Text des Vertrags zwischen Preußen, Bayern, Württemberg und Hessen vom 27. Mai 1829. In: Oncken/Saemisch (Hgg.), Vorgeschichte, Bd. 3, 501 – 507. 49 Bericht des britischen Gesandten in München, Lord Erskine, an den britischen Außenminister Lord Aberdeen, 21. 11. 1829. In: Sabine Freitag/Peter Wende (Hgg.): British Envoys to Germany 1816 – 1866. Bd. 1 (1816 – 1829), Cambridge 2000, 303 – 304. 50 Vgl. Petersdorff, Motz, Bd. 2, 267 – 270, sowie Oncken/Saemisch (Hgg.), Vorgeschichte, Bd. 3, 409; dort wird die Denkschrift nach einer Abschrift aus dem Staatsarchiv München zitiert, vgl. ebd., 525. 51 Ebd., 535; vgl. Thomas Stamm-Kuhlmann: Preußen und die Gründung des Deutschen Zollvereins. Handlungsmotive und Alternativen. In: Hahn/Kreutzmann (Hgg.), Zollverein, 33 – 49, bes. 47 – 48.
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mit sich“ führe,52 spielte dabei im Reigen der verschiedensten Gründe keineswegs die zentrale Rolle, die ihr von der Geschichtswissenschaft lange zugeschrieben wurde.53 Schließlich sollte die Denkschrift den neuen Partnern in Bayern und Württemberg die Befürchtung nehmen, die neue preußische Kooperationsbereitschaft wäre nur von kurzer Dauer. Einmal mehr bestätigte die Denkschrift allerdings auch das noch immer tief verankerte konspirative Verständnis von Diplomatie an der Spitze der preußischen Regierung. Der Mitteldeutsche Handelsverein, so Motz, wäre „lediglich im Interesse der Kabinette von Wien und Paris geführt worden“. Aber was „die mit der Posaune des erfochtenen Triumphs gerühmte Opposition verhindert sollte“, das habe „sie – so gefiel es der ewigen Vorsehung – nur beschleunigt“.54 VI. Österreichische Zurückhaltung Tatsächlich beurteilten die meisten Regierungen der Mitgliedsstaaten des Mitteldeutschen Handelsvereins ihre schwindenden Möglichkeiten inzwischen ganz ähnlich. Der Erfolg der preußischen Gegeninitiativen wie auch die unerwartet rasche Annäherung der beiden Zollvereine unter Preußens und Bayerns Führung warf die einzelnen Staaten faktisch auf sich selbst zurück. Dabei erwies sich die sächsische Regierung in Dresden als ausgesprochen flexibel, indem sie ihre Fühler in ganz verschiedene Richtungen ausstreckte. Das war nicht zuletzt deshalb möglich, weil sich Preußen den Mittel- und Kleinstaaten zu öffnen begann, während die unterschiedlichen handelspolitischen Schwerpunktsetzungen in Wien und Berlin immer offensichtlicher wurden. Indes mussten solche Initiativen den anderen Staaten des Handelsvereins gegenüber verborgen werden. Lindenau registrierte aufmerksam die politischen Wirkungen des Mitteldeutschen Handelsvereins. Dieser habe „selbst größeren Mächten eine gewisse Achtung eingeflößt“ und damit insbesondere Bayern kompromissbereit werden lassen, um die eigenen zollpolitischen Interessen gemeinsam mit Preußen zur Geltung zu bringen.55 Diese neue Beweglichkeit, die für viele Diplomaten genauso überraschend war wie das Zustandekommen des Handelsvereins, bot auch Dresden die Möglichkeit, sich mit einer mehrgleisigen Politik Optionen offenzuhalten, ohne den Handelsver52
„Memoire von Motz über die hohe Wichtigkeit […]“. In: Oncken/Saemisch (Hgg.), Vorgeschichte, Bd. 3, 534. 53 Vgl. Marko Kreutzmann: Die höheren Beamten des Deutschen Zollvereins. Eine bürokratische Funktionselite zwischen einzelstaatlichen Interessen und zwischenstaatlicher Integration (1834 – 1871), Göttingen 2012, 206. 54 „Memoire von Motz über die hohe Wichtigkeit […]“. In: Oncken/Saemisch (Hgg.), Vorgeschichte, Bd. 3, 528. 55 „Kurze schriftliche Darstellung des Ganges der Unterhandlungen über Handels- und Zollvereine mit Hinsicht auf die Politik, Ende Januar 1829“. In: Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten, Nr. 5180, 8 Bl., unpaginiert, hier Bl. 3.
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ein sofort aufzugeben. Die sächsische Regierung wandte sich im Frühjahr 1829 nach Wien, um die Möglichkeit österreichischer Handelsvergünstigungen für den gesamten Handelsverein auszuloten. Dresden ging dabei durchaus geschickt vor: Das Angebot einer Zusammenarbeit konzentrierte sich zunächst auf die Senkung der Durchgangszölle, an der auch Wien ein prinzipielles Interesse haben musste.56 Die Anfrage wurde im Mai 1829 konkretisiert und inhaltlich mit dem vor dem Abschluss stehenden Handelsvertrag zwischen dem nord- und dem süddeutschen Zollverein verknüpft. Dieser Vertrag, so der sächsische Gesandte in Wien, Friedrich von der Schulenburg, habe „das sächsische Kabinett bewogen, den k.k. Hof zu ersuchen, dem mitteldeutschen Handelsverein einige Vergünstigungen zukommen zu lassen“. Neben der Ermäßigung österreichischer Zölle für Produkte der Vereinslande schlug Schulenburg vor allem eine gegenseitige Herabsetzung der Transitzölle vor.57 Metternich, der über die zeitgleich stattfindenden Verhandlungen zwischen Preußen und Bayern umfassend im Bilde war, legte die sächsische Initiative dem österreichischen Finanzminister Michael von Nadasdy mehrfach dar und verwies auf die Gefahr, dass „am Ende durch ganz Deutschland, außer Österreich, das neue preußische sogenannte Antiprohibitivsystem das herrschende geworden sein“ würde. Diese Entwicklung zwinge zu der Überlegung, wie „die Stellung Österreichs diesen größeren und geringeren Handelsgemeinschaften gegenüber sein“ werde.58 Nadasdys Antwort, einen Tag nach Unterzeichnung des preußisch-bayerischen Vertrags verfasst, fiel indes zurückhaltend aus und belegt, dass die Hofkammer nicht nur die politische Brisanz der zollpolitischen Entwicklung, sondern auch die diplomatischen und handelspolitischen Möglichkeiten der sächsischen Anfrage unterschätzte. Der Finanzminister hob die Bedeutung der Zölle als „eines der wirksamsten Mittel zur Beförderung der inländischen Industrie und des Handelsverkehrs überhaupt“ hervor, das die Regierung nicht leichtfertig aus der Hand geben sollte. Zudem sei der Antrag Sachsens zu allgemein; Österreich solle warten, bis die möglichen Verhandlungspartner „ihre Wünsche spezieller ausgesprochen“ hätten. Man könne aber das Königreich Sachsen und weitere interessierte Staaten „darauf aufmerksam […] machen, dass Österreich seit einiger Zeit von der früheren Strenge seines Prohibitivsystems merklich abgegangen sei und sich allmählich einem freieren Handelssysteme nähere“. Auch sei die österreichische Regierung gerne bereit, „die Wünsche der Nachbarstaaten in betreff von Erleichterungen im wechselseitigen Handelsverkehr zu berücksichtigen, insoweit solche ohne zu große Verletzung der Interessen der inländischen Industrie nur immer geschehen“ könnten.59 56 Vgl. Metternich an Nadasdy, 12. 3. 1829. In: Oncken/Saemisch (Hgg.), Vorgeschichte, Bd. 3, 72 – 74. 57 Schulenburg an Metternich, 8. 5. 1829. In: Österreichisches Staatsarchiv (OeStA) Wien, Finanzministerium – Präsidium, Nr. 3261 F.M. 1829, Bl. 8. 58 Metternich an Nadasdy, 11. 5. 1829. In: Oncken/Saemisch (Hgg.), Vorgeschichte, Bd. 3, 84 – 85. 59 Nadasdy an Metternich, 28. 5. 1829. In: ebd., 101 – 103.
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Das war zu vorsichtig und zu wenig substanziell, als dass sich die sächsische Regierung darauf ernsthaft verlassen konnte. Damit fiel Österreich zum zweiten Mal – nach dem April 1828 – in einer Umbruchsituation als mitgestaltende Kraft aus, und diesmal lief die Entwicklung nicht zugunsten Wiens. VII. Der Zerfall des Mitteldeutschen Handelsvereins Nach dem Scheitern der zollpolitischen Eindämmung erreichten die Mitglieder des Mitteldeutschen Handelsvereins trotz einiger Ansätze für die Vereinheitlichung von Maßen und Gewichten keine gemeinsame Handelspolitik mehr. Die im Juli 1829 fortgeführten Verhandlungen in Kassel, die ursprünglich auf den Ausbau des Vertragswerks abzielten, verliefen zäh und waren von den Vereinbarungen Meiningens und Coburg-Gothas mit Preußen eingetrübt, die von den beiden thüringischen Herzogtümern nicht offengelegt wurden. Für einige der Gesandten waren die beiden Mitgliedsstaaten damit „als abgefallen zu betrachten“.60 Der am 11. Oktober 1829 schließlich doch unterzeichnete Zusatzvertrag enthielt neben der formalen Verlängerung des Handelsvereins nur noch Ausnahmeregelungen, mit denen die ursprünglichen Vereinbarungen untergraben wurden.61 Auch in der Lähmung des Handelsvereins hofften einige Mitgliedsstaaten indes, noch immer von seiner schieren Existenz profitieren zu können. Sachsen und Hannover blieben, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, an einem einheitlichen Erscheinungsbild der mitteldeutschen „Front“ interessiert. Nur so glaubte man, sich der preußischen Regierung nähern zu können, ohne in eventuellen Verhandlungen das Gesicht zu verlieren. Im Königreich Sachsen mehrten sich die Stimmen, sich zollpolitisch dem preußischen System anzuschließen, und zugleich wurde Dresden als ein Initiator des Handelsvereins in der europäischen Diplomatie wieder als ernst zu nehmender Gesprächspartner etabliert.62 Als Kulisse blieb der Mitteldeutsche Handelsverein ein wichtiges diplomatisches Pfand der beiden mitteldeutschen Vormächte. Handelspolitisch war sein Potenzial indes erschöpft. Die sächsische Regierung zog daraus Ende 1829 den Schluss, die Option einer handelspolitischen Annäherung an Österreich noch einmal sorgfältig zu prüfen. Auch diese Initiative wurde allerdings von Nadasdy abgewiesen, diesmal vor allem mit der Befürchtung, eine ausschließliche Handelsvereinbarung mit Sachsen schüfe die Möglichkeit, dass „die den sächsischen Erzeugnissen zuzugestehenden Begünstigungen zur Einschwärzung von Fabrikaten und Produkten anderer Staaten durch Vermittlung sächsischer Zwi60 So der an den Kasseler Verhandlungen teilnehmende Bremer Bürgermeister Johann Smidt in einem Bericht vom 3. 8. 1829, in: Staatsarchiv Bremen, Bestand Zölle, 2–Ss.4.d.2.a.19., unpaginiert. 61 Der Kasseler Supplementarvertrag vom 11. 10. 1829. In: Oncken/Saemisch (Hgg.), Vorgeschichte, Bd. 3, 127 – 130. 62 Vgl. Olivier Podevins: La France et la Tierce Allemagne à l’exemple de la Saxe entre 1814 et 1866, Friedberg 2001, 110 – 116.
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schenhändler missbraucht“ würden. Außerdem biete Sachsen „unserem Handel und unserer Industrie die wenigsten Vorteile“, und angesichts des Entwicklungsstands der sächsischen Industrie sei es fraglich, „ob das Inland in der Lage ist, Konkurrenz mit den sächsischen Erzeugern halten zu können“. Nadasdy hoffte allerdings erneut, dass die bisherigen Handelserleichterungen und eventuelle weitere Sachsen daran hindern könnten, „sich an das Zollsystem eines anderen Staates“ anzuschließen.63 Das blieb ein frommer Wunsch, der in der sich entfaltenden freien Interessenabwägung der deutschen Mittelstaaten keinen Bestand hatte. Nun stellte der Schmuggel über die sächsisch-böhmische Grenze tatsächlich ein ernstes Problem dar, Nadasdys Bedenken waren also keineswegs aus der Luft gegriffen.64 Allerdings bleibt festzuhalten, dass sich die Befürchtungen der österreichischen Regierung vor allem auf die wirtschaftliche Konkurrenzsituation zu den übrigen deutschen Staaten bezogen, während die Gefahr einer bundespolitischen Ausgrenzung Österreichs nicht handlungsbestimmend wurde. Metternich sah zwar, dass am Ende der Entwicklung „Deutschland und Österreich gewissermaßen feindlich einander gegenübergestellt“ würden,65 aber er betonte zugleich, dass es für Österreich nicht möglich sei, „das Prohibitivsystem, unter dessen Schutz so viele Fabriken entstanden und die österreichische Industrie sich mächtig erhoben hat, zu verlassen oder im Grundsatze zu modifizieren“.66 Österreich hatte den deutschen Bundesstaaten außerhalb der beiden verbundenen Zollvereine und insbesondere dem Königreich Sachsen handelspolitisch noch immer nichts zu bieten. Ein letzter Vorstoß der sächsischen Regierung im Frühjahr 1830, diesmal von Lindenaus Nachfolger als Bundestagsgesandter, Heinrich von Zeschau, bestand aus einem Vorschlag im Bundestag, „ein deutsches Handelssystem im Geiste des 19. Art. der Bundesakte zu gründen“. Nach Zeschaus Vorstellung sollte ein solcher Schritt „am füglichsten von Österreich […] ausgehen“. Der sächsische Staatsminister Detlef von Einsiedel sah in einem Anschluss an den preußischen Zollverein „kein Heil für Sachsen, sondern im Gegenteil den gewissen Untergang der für dieses Land so wichtigen Messen“. Einsiedels Hoffnung, diesen Anschluss zu verhindern, gründete sich „lediglich auf die Mitwirkung Österreichs“.67 Metternich beurteilte diese Initiative als „ebenso wenig praktisch als zu unserer Mitwirkung geeignet“. Preußen und Bayern gäben ihre Systeme nicht auf, und Öster63 Nadasdy an Metternich, 31. 12. 1829. In: Oncken/Saemisch (Hgg.): Vorgeschichte, Bd. 3, 141 – 143. 64 Vgl. Martina Krocová: Kontinuität und Wandel. Die Wahrnehmung der sächsisch-böhmischen Grenze 1780 – 1850. In: Christophe Duhamelle/Andreas Kossert/Bernhard Struck (Hgg.): Grenzregionen. Ein europäischer Vergleich vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt/New York 2007, 181 – 202. 65 Metternich an Franz I., 26. 1. 1830. In: Oncken/Saemisch (Hgg.): Vorgeschichte, Bd. 3, 147. 66 Metternich an Franz I., 21. 1. 1830. In: ebd., 144. 67 Der österreichische Gesandte in Dresden, Franz von Colloredo, an Metternich, 8. 3. 1830. In: Oncken/Saemisch (Hgg.): Vorgeschichte, Bd. 3, 148 – 149.
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reichs Verhältnisse würden „es wohl nie gestatten, in der Handelsfrage irgendeine nur zu leicht kompromittierende Initiative, und zwar am wenigsten am Bundestag zu nehmen“. Im österreichischen Interesse liege es, „nur mit einzelnen, durch ihre geografische Lage und sonstigen Rücksichten hierzu geeigneten Bundesstaaten sich in kommerzieller Beziehung zu verständigen, keineswegs aber in eine allgemeine Handelsverbindung mit ganz Deutschland zu treten“.68 Damit stimmte Metternich den grundsätzlichen Einwänden der Hofkammer zu und beendete jede österreichische Initiative auf dem Gebiet der Handelspolitik exakt in der Zeit, in der sich diese Möglichkeit für Preußen fundamental erweiterte. VIII. Preußisch-sächsische Gemeinsamkeiten Kein halbes Jahr später trat mit Einsiedel einer der letzten mittelstaatlichen Protagonisten zurück, die ihre reservierte Haltung gegenüber Preußen noch mit einer aufrichtigen Hinwendung zu Österreich verbunden hatten.69 Die Unruhen infolge der Julirevolution 1830 betrafen ganz überwiegend die Mitgliedsstaaten des Handelsvereins,70 und die neuen Regierungen – im Königreich Sachsen wurde nun Bernhard von Lindenau leitender Kabinettsminister – unterzogen nicht zuletzt die jeweilige Zollpolitik einer gründlichen Revision. Ob im Falle Sachsens tatsächlich von einer „Wende“ in der Zollpolitik gesprochen werden kann, ist indes zweifelhaft.71 Tatsächlich hatte der Mitteldeutsche Handelsverein aus Lindenaus Sicht auch die sächsische Verhandlungsposition gegenüber Preußen verbessern sollen. Ein Beitritt zum preußischen System war keineswegs ausgeschlossen, und während die österreichische Option im Frühjahr 1830 für Dresden irrelevant wurde, konnte Lindenau ab dem Sommer Kontakte knüpfen, um Zollverhandlungen mit Preußen anzubahnen. Diese immer wieder offen und verdeckt abgewogene Möglichkeit, die innerhalb des Königreichs Sachsen durchaus umstritten war, verschaffte Lindenau nicht zuletzt dadurch eine politische Basis, indem er sächsische Händler und Gewerbetreibende systematisch in die politische Entscheidungsbildung einbezog.72 Nachdem ein innersächsischer Konsens erzielt war, reiste Lindenau schon im Januar 1831 nach Berlin, um Verhandlungen über einen Beitritt Sachsens zum preußischen Zollverein vorzubereiten.
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Metternich an Münch-Bellinghausen, 20. 3. 1830. In: ebd., 150. Vgl. Karl von Weber: Detlev Graf von Einsiedel. Königl. Sächsischer Cabinets-Minister. In: Archiv für die Sächsische Geschichte 1 (1862), 58 – 116 und 129 – 193, bes. 162 – 168. 70 Vgl. Hans-Werner Hahn/Helmut Berding: Reformen, Restauration und Revolution 1806 – 1848/49. Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte Bd. 14, 10. Aufl., Stuttgart 2010, 430 – 438. 71 So allerdings Kiesewetter, Industrialisierung, 154. 72 Vgl. Ingeborg Titz-Matuszak: Bernhard August von Lindenau (1779 – 1854). Eine politische Biographie, Weimar 2000, 105 – 110. 69
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Außenpolitisch begab sich die neue sächsische Regierung damit allerdings auf schwieriges Terrain. Die österreichische Regierung sah die politische Lage im benachbarten Königreich, die sich bis zum Jahreswechsel 1830/31 nur langsam beruhigte, mit großer Sorge und warnte die Regierung in Dresden davor, „sich Gesetze durch einen aufgeregten Pöbel oder durch irregeführte Bürger vorschreiben“ zu lassen.73 Der damit angedeuteten Gefahr einer von Österreich befürworteten Bundesexekution gegen das Königreich Sachsen begegnete Lindenau mit einer Doppelstrategie, in der er geschickt die zollpolitische Öffnung nach Berlin mit diplomatischen Versicherungen gegenüber Wien verband. Er profitierte davon, dass der neue sächsische Gesandte in Wien, Emil von Uechtritz, ein persönlicher Freund war, den Lindenau in Anspruch nehmen konnte, „um in Wien unser hiesiges Thun und Handeln aus dem richtigen Gesichtspunkte beurtheilen zu lassen“.74 Auch betonte Lindenau die Offenheit der sächsischen Regierung über die Verhandlungen in Berlin „über ein gemeinschaftliches Zoll und Handelssystem“, die Uechtritz, „dem Grafen Colloredo und Fürsten Metternich genau bekannt“ seien.75 Bundespolitisch erwies sich Lindenau damit als ein fähiger Diplomat, der die österreichischen und die preußischen Interessen geschickt ausbalancierte und dabei die neue Konstellation im Deutschen Bund nutzte. Während er mit demonstrativer Härte gegen die Aufständischen in den sächsischen Städten Metternichs Drängen nachgab, sicherte er sich gleichzeitig durch die Beitrittsverhandlungen in Berlin das preußische Wohlwollen, das eine Bundesexekution gegen Sachsen unmöglich machte. Die Zeitplanung bei diesem Vorgehen war entscheidend, denn im Sommer 1831 wurde absehbar, dass Kurhessen den Mitteldeutschen Handelsverein faktisch verlassen würde. Nach Absetzung des Kurfürsten war es der neuen Regierung in Kassel zum ersten Mal möglich gewesen, in vollem Umfang die vorzügliche territorialstrategische Lage des Landes diplomatisch einzusetzen.76 Die Verhandlungen mit Berlin über den Beitritt Kurhessens zum preußischen Zollsystem gingen zügig voran und mündeten im August 1831 in einen für Kassel äußerst vorteilhaften Vertrag.77 Zuvor hatte bereits das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach vertraglich den Übertritt in das Zollgebiet der östlichen preußischen Provinzen zugesagt.78 Die meisten Mitgliedstaaten des Mitteldeutschen Handelsvereins hatten bis 1831 ihre wirtschaftlichen und zollpolitischen Interessen in einem Maße in die Verhandlungen mit Preußen einfließen lassen können, wie es kaum jemand in der konfron73 Metternich an den österreichischen Gesandten in Dresden, Franz von Colloredo, 28. 9. 1830. In: Aus Metternichs nachgelassenen Papieren, Teil 2, Bd. 3, 35 – 36. 74 Lindenau an Uechtritz, 21. 3. 1831. In: Joachim Emig/Ingeborg Titz-Matuszak (Bearb.), Bernhard August von Lindenau (1779 – 1854). Reden, Schriften, Briefe, Eine Auswahl, Weimar 2001, 205. 75 Lindenau an Uechtritz, 5. 12. 1831. In: ebd., 215. 76 Vgl. Hahn, Integration, 97 – 108. 77 Vertrag zwischen Kurhessen und dem Preußisch-Hessischen Zollverein vom 25. 8. 1831. In: Oncken/Saemisch (Hgg.): Vorgeschichte, Bd. 3, 168 – 171. 78 Vertrag zwischen Preußen und Sachsen-Weimar vom 11. 2. 1831. In: ebd., 161 – 164.
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tativen Situation wenige Jahre zuvor hätte vorhersehen können. Als politisches Instrument hatte der Mitteldeutsche Handelsverein das Spektrum mittel- und kleinstaatlicher Interessenartikulation wesentlich erweitert und die deutschen Regierungen um eine entscheidende diplomatische Kooperationserfahrung reicher gemacht. Zugleich hatte er der preußischen Regierung Konzessionen abgerungen, die die Stellung Berlins gegenüber den anderen deutschen Staaten wesentlich verbesserten. IX. Preußens Werk und Österreichs Anteil Der preußische Außenminister Bernstorff resümierte 1831 die vorteilhafte Position innerhalb des Deutschen Bundes, die Preußen durch seine moderate Politik gegenüber den Mittelstaaten erlangt hatte.79 Unter Bezug auf eine Denkschrift des Ministers aus Sachsen-Coburg-Gotha, Anton von Carlowitz, der u. a. „für Deutschland ein unbedingt dringendes Bedürfniß[,] ein gemeinschaftliches Handels- und Zollsystem zu haben“,80 konstatierte, legte Bernstorff die erweiterten diplomatischen Handlungsmöglichkeiten Preußens dar. Er sah „die stete Anwendung gesetzlicher Mittel bei Verfolgung der allgemeinen und besonderen Zwecke der Regierungen“ als eine „der sichersten Bürgschaften für die Festigkeit und Zunahme eines gegenseitigen Vertrauens“. Indes seien die Einrichtungen des Deutschen Bundes für die „Schöpfung eines allgemeinen deutschen Zoll- und Handelssystems oder irgend einer andern allgemeinen und bleibenden Institution ähnlicher Natur“ nicht geeignet. Preußens errungene Stellung erlaube es allerdings, auf dem „Wege der Abschließung von Partikular Vereinigungen mit einzelnen Staaten viel Gemeinnütziges, was beim Bunde kein Glück machen würde, vorzubereiten und ins Leben zu führen“.81 Auch wenn sich Bernstorff in der Denkschrift einmal mehr als ein „essentially idealistic, peaceful, and conservative reformer“ zeigte, „who was more inclined to put faith in economic reform then in military power“,82 so dokumentieren seine Darlegungen doch das gewachsene preußische Selbstbewusstsein, allerdings deutlich nüchterner als noch in der „Memoire“ von Motz anderthalb Jahre zuvor. Diese diplomatische Kanalisierung eines ausgreifenden preußischen Führungsanspruchs war zwar eng an die Person Bernstorffs geknüpft. Aber auch nach dessen Rücktritt im April 1832, für den sich nicht zuletzt Metternich eingesetzt hatte, konnte sein Nach79
Bernstorff an König Friedrich Wilhelm III., 31. 1. 1831, zit. nach: Christian Spielmann: Regierungspräsident Karl von Ibell über die preußische Politik in den Jahren 1830 und 1831. Ein Beitrag zur diplomatischen Geschichte. In: Annalen des Vereins für Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung 28 (1896), 61 – 95, hier 66 – 76. 80 Denkschrift des sachsen-coburg-gothaischen Ministers Carlowitz, 12. 10. 1830. In: Ralf Zerback (Bearb.): Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes, Abt. II (1830 – 1848), Bd. 1: Reformpläne und Repressionspolitik 1830 – 1834, München 2003, 5 – 16, Zitat 6 – 7. 81 Bernstorff an König Friedrich Wilhelm III., 31. 1. 1831. In: Spielmann, Regierungspräsident, Zitate auf 69, 71 und 73. 82 David T. Murphy: Prussian Aims for the Zollverein. In: The Historian 53 (1991), 285 – 302, hier 299.
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folger Friedrich von Ancillon trotz einer konservativen Kehrtwende in der preußischen Außenpolitik nicht wieder hinter die Willkürlichkeit der 1820er Jahre zurück.83 Dafür waren die Möglichkeiten, die sich dadurch ergaben, dass Motz und Bernstorff die mittelstaatlichen Interessen ernst genommen hatten, nicht zuletzt von Bayern und Sachsen zu gut genutzt worden. Demgegenüber konnte Wien ab 1831 nur noch die verspielten Chancen der österreichischen Handelspolitik resümieren. Die Sorgen um die langfristigen Folgen des preußischen Erfolgs drängten nun in den Vordergrund. Das in der Forschung viel zitierte Bild eines preußisch geführten Sonderbundes innerhalb des Deutschen Bundes tauchte nicht zufällig zum ersten Mal im Sommer 1831 in Metternichs Berichten auf, also zu einem Zeitpunkt, als Österreich in seiner Bundespolitik auf „einen Höhepunkt der konservativen Politik“ zusteuerte.84 Durch die preußische Politik, so Metternich, werde „der erste Keim zu einem Bund im Bunde gegeben“, und es lasse sich nicht verkennen, „dass, wenn dieser preußisch-deutsche Handels- und Zollverein sich fortwährend vergrößert, am Ende das Resultat einer solchen Absonderung Österreichs von den deutschen Handelsinteressen kein anderes sein könnte, als dass Österreich mit seinem Zollsystem als in sich geschlossener Staat den übrigen deutschen Regierungen in der Handelsfrage feindlich gegenüberstehend und von ihnen als Ausland betrachtet“ würde.85 Abgesehen davon, dass Metternich spätestens seit dem Frühjahr 1830 keine konzeptionelle politische Strategie gegen die Obstruktion der österreichischen Finanzverwaltung mehr verfolgte, bekräftigte Nadasdys Nachfolger als Präsident der Hofkammer, Franz von Klebelsberg, dass er die von seinem Vorgänger „entwickelten Ansichten vollkommen teile“.86 Damit konnte Wien nur noch den perspektivischen Verlust von Einfluss im Deutschen Bund konstatieren, und die konspirativen Vorstellungen, die Metternichs Sicht auf die preußische Politik prägten, taugten immerhin noch als Begründung für die partielle Zurückdrängung des österreichischen Einflusses. Vor diesem Hintergrund bedeutet der berühmte Bericht Metternichs an Kaiser Franz I. vom Juni 1833 keine neue Qualität des österreichischen Selbstbildes und der bundespolitischen Expertise Wiens. Im Zentrum dieses Dokuments steht Metternichs Feststellung, dass mit dem preußischen Zollverein „die bisher bestandene Rechtsgleichheit der Bundesglieder“ aufhöre und im „großen Bundesverein […] ein kleinerer Nebenbund“ entstehe, der „nur zu bald sich daran gewöhnen“ werde, „seine Zwecke mit seinen Mitteln in erster Linie zu verfolgen und die Bundeszwecke 83
Baack, Bernstorff, 324 – 326 und 340. Michael Derndarsky: Österreich und der Deutsche Bund 1815 – 1866. Anmerkungen zur deutschen Frage zwischen dem Wiener Kongress und Königgrätz. In: Heinrich Lutz/Helmut Rumpler (Hgg.): Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert. Probleme der politisch-staatlichen und soziokulturellen Differenzierung im deutschen Mitteleuropa, Wien 1982, 92 – 116, hier 102 – 103. 85 Metternich an Kaiser Franz I., 11. 6. 1831. In: Oncken/Saemisch (Hgg.): Vorgeschichte, Bd. 3, 164 – 165. 86 Klebelsberg an Metternich, 4. 3. 1832. In: ebd., 237 – 241. 84
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und Bundesmittel nur in zweiter Linie“.87 Diese im Rückblick prophetisch anmutende Passage hat im unmittelbaren Zusammenhang keine Überzeugungskraft entwickelt, zumal sich die preußische Regierung kaum zwei Monate später bereitfand, gemeinsam mit Wien den „dringenden Uebeln“ der politischen Opposition „angemessene Mittel der Abhilfe“ entgegenzustellen.88 Metternichs halbherziger Hinweis, der Artikel 19 der Bundesakte könne noch ein „wenn auch langsames doch sicheres Mittel“ sein, „für das Erste die gefährlichen Wirkungen [des Zollvereins] zu neutralisiren und für die Folge dessen Fortbestehen selbst problematisch“ machen,89 ging an den wirtschaftlichen Interessen sämtlicher Zollvereinsmitglieder vorbei und belegt die begrenzte Fähigkeit der österreichischen Regierung, die Lage der übrigen Bundesstaaten realistisch einzuschätzen. Auf einer Sitzung des Präsidiums der Wiener Hofkammer im Dezember 1833 setzte sich diese Haltung fort, indem verschiedene mögliche Reaktionen auf den Zollverein bedacht wurden, die allesamt den Umstand ignorierten, dass die deutschen Mittel- und Kleinstaaten aus wohlabgewogenem Eigeninteresse heraus dem Deutschen Zollverein beitraten.90 Während Österreich sich also in den entscheidenden handelspolitischen Fragen der späten 1820er und frühen 1830er Jahren unflexibel gezeigt hatte, war es Preußen gelungen, die eigenen Interessen mit denen der deutschen Mittel- und Kleinstaaten abzustimmen. Höhepunkt dieses Erfolgs bildete dabei mit dem preußisch-bayerischen Handelsvertrag vom Juni 1829 ausgerechnet eine Vereinbarung, die ohne die Herausforderung durch den Mitteldeutschen Handelsverein und ohne die Anpassungsfähigkeit der bayerischen Diplomatie deutlich später oder gar nicht zustande gekommen wäre.
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Vortrag Metternichs „Der preußische Zollverein“ vom Juni 1833. In: Aus Metternichs nachgelassenen Papieren, Teil 2, Bd. 3, 509. 88 Gemeinsames Zirkularschreiben Preußens und Österreichs zur Vorbereitung der Wiener Ministerialkonferenzen von 1834. In: Elisabeth Droß (Hg.): Quellen zur Ära Metternich, Darmstadt 1999, 204 – 207, hier 204. 89 Vortrag Metternichs „Der preußische Zollverein“ vom Juni 1833. In: Aus Metternichs nachgelassenen Papieren, Teil 2, Bd. 3, 513. 90 Vortrag auf der Präsidiumssitzung, 11. 12. 1833. In: OeStA Wien, Finanzministerium – Präsidium, Nr. 6622 P.P. 1833, Bl. 1 – 30, bes. Bl. 26 – 28.
Die Bewegung „Jung Österreich“ und Preußen: Aspekte eines widersprüchlichen Verhältnisses zwischen Vormärz und Revolution 1848 Von Giulia La Mattina, Turin Dieser Aufsatz entsteht als Reflexion über die Haltung der Bewegung Jung Österreich gegenüber Preußen in der Zeit zwischen Vormärz und Revolution 1848, wobei ein besonderes Augenmerk auf konkrete Fragestellungen gelegt werden soll. Zuerst: wie wirkte sich das Muster Preußen auf die Entwicklung des Liberalismus und des kulturellen Selbstgefühls Österreichs aus, sowie auf die Haltung gegenüber den Nationalitäten des Vielvölkerreiches? Darüber hinaus: wie schätzten die Deutschösterreicher die deutsche Politik Preußens ein und inwieweit wurden sie im Hinblick auf einen nationalen Diskurs davon beeinflusst? Infolge der politischen und militärischen Auseinandersetzung mit dem napoleonischen Frankreich stand das eben neu-entstandene österreichische Kaisertum vor der Notwendigkeit, ein neues ideologisches System auszuarbeiten und seine Existenz mit neuen Voraussetzungen zu begründen. Demgegenüber, insbesondere ab den 30er Jahren – also nach der Juli-Revolution in Frankreich und dem Thronwechsel von 1835 – stand eine bunte und heterogene deutschsprachige Öffentlichkeit: das Bedürfnis nach breiteren Stätten und Formen für die geistige und politische Entwicklung wurde immer dringlicher, und die Auseinandersetzung mit den Grundsätzen des Zusammenlebens, so wie sie propagiert wurden, nahm an Bedeutung zu. Die Dialektik und die Wechselwirkungen zwischen der habsburgischen Propaganda und kulturpolitischen Anregungen der österreichischen liberalen Opposition zeigen sich deutlich besonders bei der Analyse von politischen Schriften und Briefwechseln, Memoiren und Tagebüchern der sog. „Jung Österreich“-Bewegung. Unter diesem sehr alten, aber nicht so bekannten Begriff soll hauptsächlich die literarische und politische liberalgesinnte Opposition zum Metternichschen System verstanden werden. Der Ausdruck Jung Österreich wurde schon bei den Zeitgenossen angewendet und bezeichnete die neue Generation von österreichischen Literaten, die im Einklang mit dem Jungen Deutschland von Gutzkow und Heine arbeiteten.1 Der Publizist Ludwig August Frankl war der erste, der die politische Bedeutung dieser litera1 Wie Madeleine Rietra unterstrichen hat, findet sich die erste Anwendung des Begriffes in: J. L.: Drei österreichische Dichter, Der Komet, Unterhaltungsblatt für gebildete Stände 1846, Nr. 47 – 48. Vgl. Madeleine Rietra: Jung Österreich. Dokumente und Materialien zur liberalen österreichischen Opposition 1835 – 1848, Amsterdam 1980, 33 – 34.
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rischen Opposition unterstrich.2 Der Begriff geriet dann in Vergessenheit bis 1968, als Eduard Winter in seinem Buch über den Frühliberalismus in der österreichischen Monarchie unter dem Namen Jungösterreicher die deutschsprachigen liberalen Strömungen in der Zeit von Vormärz umfasste3. Es geschah aber erst im Jahr 1980, innerhalb einer neuen Studienreihe, die zum Ziel hatte, die Verbindungen zwischen Politik und Literatur und die Rolle der Literatur in den historischen Prozessen hervorzuheben, dass die von Madeleine Rietra herausgegebene Dokumentation veröffentlicht wurde und das Konzept Jung Österreich schließlich eine historische Würde bekam.4 Die Definition Jung Österreich bezieht sich nicht auf eine feste und homogene Organisation, sondern vielmehr auf eine politisch-publizistische Bewegung, die zwischen den 30er und den 40er Jahren, innerhalb und außerhalb der Grenzen der Habsburgermonarchie, für eine radikale Erneuerung der österreichischen Staatsverhältnisse im liberalen Sinne eintrat. Es handelte sich um Dichter, Schriftsteller und Publizisten, die sozusagen als Zensurflüchtlinge nach Deutschland ausgewandert waren, um beruflich von dem breiteren und blühenderen Verlagsmarkt zu profitieren, aber auch um Literaten, die innerhalb der Grenzen der Monarchie, hauptsächlich in Wien, gegen die hemmenden und konservativen Verhältnisse des Metternichschen Systems kämpften. Eng verbunden mit dieser Gruppe von Literaten waren dann die Vertreter der ständischen Opposition; es sei zum Beispiel Viktor von Andrian Werburg erwähnt, dessen anonym erschienenes Buch „Österreich und dessen Zukunft“ der politische Bezugspunkt der liberalen Opposition im Vormärz wurde.5 Es ergibt sich also ein Gesamtbild, wo sich die literarische und politische Opposition sehr schwer unterscheiden lassen. Diese deutschsprachigen Bildungsschichten wurden von den europäischen politischen Veränderungen und von der Verbreitung nationalistischer Strömungen angeregt und fingen langsam an, sowohl in der privaten Sphäre als auch durch Artikel und Schriften, die politischen und geistigen Zustände des Vormärz in Frage zu stellen. In diesem Zusammenhang scheint der Bezug auf Preußen eine zentrale Rolle gespielt zu haben: das gilt nicht nur für die entscheidende Frage der Konstruktion und Bestimmung einer österreichischen Identität, sondern auch für die Errichtung und Vervollkommnung der österreichischen liberalen Gedankenwelt im Vormärz. Österreich wurde damals von den preußischen Bildungsschichten einerseits politisch als „negativer“ Pol und andererseits kulturell als „Schlaraffen2
Ludwig August Frank: Erinnerungen, hg. von Stephan Hock, Prag 1910, 259. Eduard Winter: Frühliberalismus in der Donaumonarchie. Religiöse, nationale und wissenschaftliche Strömungen von 1790 – 1868, Berlin 1968, 256. 4 Rietra, Jung Österreich, passim. Vgl. Hubert Lengauer: Ästhetik und liberale Opposition. Zur Rollenproblematik des Schriftstellers in der österreichischen Literatur um 1848, Wien/ Köln 1989. 5 Victor von Andrian Werburg: Österreich und dessen Zukunft, Hamburg 1843; vgl. dazu Madeleine Rietra: Wirkungsgeschichte als Kulturgeschichte. Viktor Andrian Werburgs Rezeption im Vormärz, eine Dokumentation mit Einleitung, Kommentar und einer Neuausgabe von Österreich und dessen Zukunft, Amsterdam 2001. 3
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land“ gesehen: ein Land der politischen Unmündigkeit und der katholischen Scheinheiligkeit, aber auch der europäische Kern von Gemüt und Hedonismus, was am besten beim Durchsehen der norddeutschen Reiseliteratur – wie etwa der Reiseberichte von Menzel, Laube oder Gutzkow – deutlich wird.6 Das Verhältnis der deutschsprachigen Österreicher gegenüber Preußen war dagegen von vielfältigen Faktoren erschwert, die nicht zuletzt mit der „verordneten“ Immobilität der Metternichschen Ära zusammenhängen,7 also mit jener Art von Minderwertigkeitskomplex des österreichischen Liberalismus gegenüber dem deutschen, welchen schon Robert Kann hervorgehoben hat.8 Ganz allgemein hatte die kulturelle und politische Entwicklung Preußens eine Vorbildwirkung auf die österreichischen Liberalen, welche allerdings nicht ganz frei von einer gewissen kompetitiven Haltung war. In diesem Zusammenhang stellten Bildung und Politik zwei Facetten des gleichen Fragenkomplexes dar und waren miteinander eng verbunden. Leitmotiv der Liberalen war eben die Überzeugung, dass man Österreich an Deutschland annähern sollte: Unentbehrliche Schritte in diesem Sinne waren sowohl die Erhebung und die Förderung des geistigen und wissenschaftlichen Lebens, als auch eine radikale Umgestaltung der politischen Verhältnisse des Landes.9 Die kulturelle Rückständigkeit und Geschlossenheit der Habsburgermonarchie, die Entfremdung Österreichs von den geistigen Fortschritten des Deutschen Bundes wurden nämlich als die wichtigste Ursache für die Korruption der österreichischen Identität betrachtet; die Überwindung dieser Faktoren wurde dagegen als Voraussetzung für die Wiedererlangung einer deutschen bzw. europäischen Führungsrolle Österreichs betrachtet, welche die Erinnerung von der goldenen Ära während der napoleonischen Kriege 1809 – 1813 wieder aufleben lassen könnte.10 6 Für einen Überblick siehe: Martin Stern: Literarisches Klischee und politische Wirklichkeit: Zum deutschen und schweizerischen Österreich-Bild im Vormärz und Nachmärz. In: Herbert Zeman (Hg,): Die österreichische Literatur. Ihr Profil im 19. Jahrhundert, 1830 – 1880, Graz 1982, 67 – 90 und Ders.: Die deutsche Agitationslyrik 1806 – 1848. Plädoyer für eine nüchterne Kritik. In: Reinhard Urbach (Hg.): Wien und Europa zwischen den Revolutionen, Wien/München 1978, 100 – 120. 7 Albert F. Reiterer: Demokratie und Nation: Zum Fall Österreich. Zur Frage österreichischer Identität und ihrer historisch-politischen Interpretation. In: Robert Maier (Hg.): Die Präsenz des Nationalen im (ost)mitteleuropäischen Geschichtsdiskurs, Hannover 2002, 73 – 92. 8 Robert Kann: Deutschland und das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie aus österreichischer Sicht. In: Ders. / Friedrich Prinz: Deutschland und Österreich, ein bilaterales Geschichtsbuch, Wien 1980, 237 – 263, hier 418 ff. 9 Franz Schuselka: Deutsche Worte eines Österreichers, Hamburg 1843, 190. Schuselka: Österreichs Vor- und Rückschritte, 51 ff. Anon.: Österreich im Jahre 1843, 80 ff. Anon:. Ist Österreich deutsch? Eine statistische und glossierte Beantwortung dieser Frage, Leipzig 1843, 7 – 8. Anon.: Vier Fragen eines Österreichers, Leipzig 1844, 175. Andrian Werburg, Österreich und dessen Zukunft Bd. 1, 152 – 153. 10 Über den Mythos des österreichischen Widerstands während der napoleonischen Kriege, im offenen Gegensatz zu der preußischen Haltung, siehe z. B.: Caroline Pichler: Denkwürdigkeiten aus meinem Leben. Mit einer Einl. u. zahlr. Anm. nach dem Erscheinungsdruck u. d.
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Die Kritik der liberalen Opposition am österreichischen Schul- und Universitätswesen, die heftige Debatte über die Aufhebung der Zensur sowie die Überlegungen zur Pressefreiheit und die Bedeutung der politischen Presse gewinnen in diesem Zusammenhang eine politische Dimension, wobei die mangelnde Volksbildung und die geringen Gelegenheiten für politische Diskussion und Partizipation den kulturellen Abstand zwischen Österreich und dem Deutschen Bund vergrößerten. Für alle diese Themen war Preußen deutlich ein Bezugs- und Vergleichspunkt. Es war ein Vorbild für seine Ausgrenzung der Jesuiten im Unterrichtswesen und, ganz allgemein, für die Zustände und den Handlungsspielraum der wissenschaftlichen Forschung, weshalb die preußische Universität, im starken Gegensatz zu den österreichischen Zuständen, einen wichtigen Kristallisationspunkt von kulturellen und nationalen Erneuerungsversuchen darstellte.11 Die österreichischen Anhänger des Deutschkatholizismus, worunter einige der wichtigsten Persönlichkeiten der literarischen Opposition im Vormärz waren, sahen in diesem Sinne die preußische Bildungspolitik als einen Ausgangspunkt für die Gründung einer deutschen, nationalen Kirche, welche vom römischen Einfluss befreit sein sollte.12 Was die Debatte über Literatur, freie Presse und Zensur betrifft, ist ein Zitat des Dramaturgen Eduard von Bauernfeld das beste Beispiel für die Stellung der österreichischen Liberalen. In der im Vormärz äußerst berühmten Schrift eines österreichischen Schriftstellers, „Pia Desideria“, die 1842 anonym herausgebracht wurde, behauptete Bauernfeld nämlich: „Der Österreicher darf und soll nicht schweigen, zu einer Zeit, wo Alles spricht, ja er kann nicht länger schweigen, ohne in den Verdacht zu gerathen, es fehle ihm an Gedanken in einer Zeitperiode, wo die Idee und das Wort in feurigen Zungen durch ganz Europa brausen. Wenn Preußen und die Königsstadt die Bildung von ganz Nord-Deutschland repräsentiert […] wenn Wissenschaft und Kunst aus dem erneuerten Staatsleben neuen Stoff und neuen Form schöpfen, soll Österreich und Kaiserstadt nicht in edlem Wetteifer entbrennen, es dem geistig mächtigen Nebenbuhler gleich zu thun?“.13 Bauernfeld sah nicht ein, warum Wien nicht ein Depot süddeutscher Bildung abgeben sollte, so wie Berlin längst als AusUrschrift neu hg. von Emil Kals Blümml. 2 Bde., München 1914, 5 ff und 424. Augsburger Allgemeine Zeitung, 18. Mai 1831. Charles Sealsfield: Österreich, wie es ist, oder: Skizzen von Fürstenhöfen des Kontinents. Von einem Augenzeugen, Wien 1919, 76 – 77. An den Kaiser. In: Anastasius Grün (Pseudonym von Anton Alexander Graf von Auersperg): Spaziergänge eines Wiener Poeten, Hamburg 1831, 100 – 106. Ignaz Beidtel: Die politischen Zustände der österreichischen Staaten nach dem Zustande vom 16. April 1848. Ausgegeben am 20. April, Wien 1848, 36 – 37. 11 Waltraud Heindl: Universitäten und Eliten im österreichischen Vormärz. In: Etudes Danubiennes III/2, Strasbourg 1987 pp. 117 – 127 12 Duller, Die Jesuiten, wie sie waren und wie sie sind. Dem deutschen Volk erzählt, Berlin 1845, 107. Ders.: Offener Brief eines deutschen Katholiken an die deutschen Bischöfe, Darmstadt 1845, 7. Franz Schuselka: Die neue Kirche und die Alte Politik, Leipzig 1845, 58 – 61 und 113. Ders.: Deutsche Volkspolitik, Hamburg 1846, 462. 13 Eduard von Bauernfeld: Pia desideria eines österreichischen Schriftstellers, Leipzig 1842, 78.
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druck des norddeutschen Geistes anerkannt war, und damit beweisen, dass Österreich doch zu Deutschland gehörte. Schließlich war es der galizische Aufstand im Jahr 1846, der die Lücke der österreichischen Pressepolitik deutlich machte, wie einige Artikel in der Zeitschrift „die Grenzboten“ am besten hervorhoben: Während die preußischen Zeitungen die polnischen Unruhen ausnützten, um antiösterreichische Propaganda zu verbreiten und die preußische Verantwortung zu verleugnen, fehle es Österreich an Journalisten, die das Land vor den Angriffen der ausländischen Presse in der Zeit der Gefahr verteidigen könnten.14 Der Eindruck war, dass das Königreich die letzten drei Jahrzehnte besser genutzt hatte als Österreich. Das Land verfügte nämlich über eine zahlenmäßig starke und vielfältige Presse, und die preußische Regierung wusste, wie man die geistige Entwicklung regeln sollte, ohne dass sie ihr über den Kopf wuchs. Demzufolge fiel die Suprematie in Deutschland Preußen fast von selbst zu;15 die österreichische Situation schien dagegen ziemlich prekär. Eine allgemeine Kritik der jungösterreichischen Literatur war, dass die Regierung die kulturellen Bestrebungen der verschiedenen Nationalitäten förderte, um sich ihren Zuspruch zu sichern, während die deutschsprachige Bevölkerung, also die theoretische Trägerschicht des Landes, in ihren Ausdrucksmöglichkeiten am meisten unterdrückt wurde.16 Diese Realität hatte wichtige Folgen, auch auf einer nationsbildenden Ebene. Die Österreicher nahmen nur marginal am symbolischen, rituellen und monumentalen Repertoire der deutschen Nationsbildung der 40er Jahre teil: Ich denke z. B. an alle jene Ereignisse wie die Rheinkrise, die Gutenberg- und Schillerfeste, die Gründung patriotischer Sängervereine, die Vollendung des Kölner Doms, welche die 40er Jahre zu einer goldenen Ära des deutschen Nationalgefühls und der Nationsbildung werden ließen. Die österreichische Mitwirkung in diesem Prozess wurde ganz allgemein von misslungenen Nachahmungsversuchen geprägt oder vom Willen, die zentrale Stellung Österreichs in der deutschen nationalen Bewegung neu zu behaupten: Das war z. B. der Fall des österreichischen Schillerfests im Jahr 184417 oder von Versuchen der Presse, den Deutschen Nationalkongress der Naturforscher in Graz oder die Enthüllung des Mozartdenkmals in Salzburg als Ausdruck des gemeinsamen deut-
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Die polnischen Ereignisse. Eine Stimme aus Österreich. In: Grenzboten 1846, Bd. I, 549 – 554. Politische Federn in Österreich und Was thut Österreich vor allem Noth? In: Grenzboten 1846, Bd. II, 29 – 32 und 235 – 243. Rainer, Censoren und Censur in Wien. In: Grenzboten 1846, Bd. IV, 337 – 340. 15 Bauernfeld, Sendschreiben eines Privilegierten aus Österreich. In: Stefan Hock (Hg.): Bauernfelds Gesammelte Aufsätze, Wien 1905, 28 – 53, hier 39. 16 Ebenda 41 – 43. 17 Ein Fest zu Ehren Schillers. In: Der Humorist 1844, Nr. 272. Brief von Heinrich Landesmann an Moritz Hartmann, 12. Nov.1844. In: Otto Wittner (Hg.): Briefe aus dem Vormärz. Eine Sammlung aus dem Nachlass Moritz Hartmanns (Bibliothek deutscher Schriftsteller aus Böhmen Bd. 30), Prag 1911, 279 – 281.
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schen Nationalgeists zu deuten.18 Trotzdem schien das Hauptinteresse der österreichischen Liberalen hauptsächlich den inneren Erneuerungsmöglichkeiten gewidmet. Sie waren sich dessen bewusst, dass ein Reformprozess des Staates im liberalen Sinne der erste unentbehrliche Schritt sein sollte, um den Staat den nationalen Bestrebungen des Deutschen Bundes anzunähern, den Gegensatz zwischen einem Aufgehen in Deutschland und den Nationalitätenfragen aufzulösen und die Bestrebungen der Nationalitäten zu neutralisieren.19 Die deutsche Politik Preußens sowie seine Wirtschaftspolitik stellten hauptsächlich einen Ansporn dar, um eine radikale Umgestaltung der inneren Verhältnisse des Landes zu fordern. Beispiel in diesem Sinne ist das erste politische Meeting im österreichischen Vormärz, d. h. der Besuch von Friedrich List in einem juridisch-politischen Leseverein, wobei dieses Ereignis – wie Hubert Lengauer am besten unterstrichen hat – besonders bemerkenswert ist, nicht so sehr auf Grund der nationalen Bedeutung der Vorträge und Trinksprüche, die bei dieser Gelegenheit gehalten und geäußert wurden, als vielmehr auf Grund seiner provokatorischen Rolle bzw. der Tatsache, dass zum ersten Mal und trotz des polizeilichen Systems Gespräche von politischer Bedeutung in der Öffentlichkeit stattfanden.20 Dasselbe gilt für die preußische Thronrede im April 1847, die als Ansporn verwendet wurde, um über die Verfassungsfrage in der Habsburgermonarchie zu diskutieren. Wie Anton von Andrian Werburg am besten erklärte: Österreich sollte endlich eine liberale Politik in der deutschen Sache und eine entschiedene Politik im Osten führen. Das bedeutete für Werburg, „den Präsidentenstuhl in Frankfurt im Geiste und in der Wahrheit einzunehmen, den Beschwerden des deutschen Volkes in ständischen Angelegenheiten und in denen der Presse ihr Recht widerfahren lassen, seinen Wünschen nach Einheit der Gesetzgebung und in handelspolitischer Beziehung so viel als möglich fördern entgegenzukommen.“21 Das Verhältnis zu Preußen änderte sich grundsätzlich mit der Wiener Revolution 1848. Die Rolle Preußens als Ansporn für die Entwicklung eines liberalen und nationalen Gedankens verlor jetzt an Wichtigkeit. Indem die Märztage die Pressefreiheit und die Einberufung einer Nationalversammlung gewährleisteten, hatte Österreich endlich die kulturelle und politische Lücke gefüllt, welche bisher seiner Führungsrolle in Deutschland geschadet hatte. Die Machtfrage für Deutschland stellte sich jetzt, und Preußen wandelte sich in erster Linie zu einem Feindbild. Das galt sowohl für die Demokraten und die Radikalen, die ein aktives Engagement Österreichs für die Einigungsprojekte der Frankfurter Nationalversammlung befürworteten, als auch für die Liberalen und Konservativen, die einen großösterreichischen Staatsgedanken unterstützten. Das ergibt sich ganz deutlich, wenn man die Presse, 18
Tagebuch in: Grenzboten 1842, Bd. II, 388 – 390. Albert Rimmer: Wien, Salzburg und Köln. In: Sonntagsblätter 1842, Nr. 41. Moritz von Stubenrauch: Das Mozartfest in Salzburg. In: Sonntagsblätter 1842, Nr. 37, und Augsburger Allgemeine Zeitung, 8. Sept. 1842, Nr. 251. 19 Vgl. Anon.: Vier Fragen eine Österreichers, 30. 20 Lengauer, Ästhetik und liberale Opposition, 65 – 80. 21 Werburg, Österreich und dessen Zukunft, Bd. II, 202 – 203.
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die Flugblätterproduktion und die politischen Schriften der revolutionären Ära durchliest. Die Verkündigung des preußischen Königs am 21. März, mit der er Preußen die Führungsrolle der deutschen nationalen Bewegung zuschrieb, erweckte in der österreichischen Öffentlichkeit die heftigste Kritik. Die Presse kritisierte einerseits die Legitimität solcher Ansprüche, weil sie die Souveränität der deutschen Völker und die Rolle des Frankfurter Parlaments außer Acht ließen;22 anderseits stellte sie die Aufrichtigkeit der nationalen Wende von Friedrich Wilhelm in Frage, weil er „der einzige deutsche Fürst war, der die längst zugesagte Zurückgabe der Menschenrechte erst auf den Barrikaden seiner Hauptstadt, auf die Leiche seiner besten Bürger gewährte, unfreiwillig und nicht eher als der Thron wankte.“23 Der Unterschied zum Verhalten von Kaiser Ferdinand war in diesem Sinne für die österreichische Öffentlichkeit ganz deutlich: Österreichischer Patriotismus vermischte sich in diesem Fall mit dem deutschen Patriotismus, um die Hegemonialansprüche in der deutschen Frage für Österreich zu erheben. Ich werde nicht gründlich auf die Dynamiken und die Entwicklung der deutschen Frage als Machtfrage zwischen Österreich und Preußen im Jahr 1848 eingehen, weil es eine sehr berühmte Fragestellung ist, die schon über eine breite und wertvolle Literatur verfügt. Es ist jedoch wichtig hervorzuheben, dass sich während der Wiener Revolution 1848 zum ersten Mal eine Art von Versöhnung zwischen den traditionellen Themen der habsburgischen Propaganda und der Denkweise der liberalen und sogar demokratischen Führungsschichten ergab; dank der Auseinandersetzung mit Preußen um die Führungsrolle Deutschlands, nach Jahrzehnten intensiver Konfrontation zwischen dem dynastischen und liberalen Gedanken, traten jetzt die Übereinstimmungen in den Vordergrund, und es wurde zum ersten Mal deutlich, wie stark eigentlich die habsburgische Propaganda die österreichische Gesellschaft geprägt hatte. Die Ausdauer, mit der Österreich während der napoleonischen Kriege für die Integrität Deutschlands gekämpft hatte, sowie die Erinnerung an das alte Römische Reich Deutscher Nation wurden zum Beispiel von den Demokraten als Argumente benutzt, um die Führungsrolle Österreichs in der deutschen Vereinigung zu unterstützen und ein aktiveres Engagement der österreichischen Regierung in der deutschen Sache in Frankfurt zu fordern.24 Die Identifikation mit der habsburgischen Propaganda war noch stärker in jenen liberalen Schichten, die sich um die Aufrechterhaltung der gesamten Monarchie sorgten und für eine großösterreichische Lösung der deutschen Frage eintraten. 22 Preussische Anmassung. In: Constitution Nr. 7 (29. 3. 1848) pp.58 – 61; Wollen wir Preussen werden? In: Constitution Nr. 5 (27. 3. 1848), 33 – 34. 23 Antwort der deutschen Nation an den König von Preussen. In: Wiener Zeitung n. 85 (25. 3. 1848). Vgl. Wiener Zeitung n. 83 (23. 3. 1848), 379. Der König von Preussen. In: Volksfreund n. 1 (28. 3. 1848), 3 – 4. 24 Ignaz Beidtel: Die politischen Zustände der österreichischen Staaten nach dem Zustande vom 16. April 1848. Ausgegeben am 20. April, Wien 1848, 36 – 37.
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Während des Jahres 1848 erlebte also das historische Erbe der Monarchie eine neue Blütezeit: Österreich wurde als die älteste deutsche Macht geschildert, die über die schönsten und rühmlichsten deutschen Erinnerungen verfügte.25 Die Ära von Maria Theresia und Joseph II. wurde als Symbol eines aufgeklärten und fortgeschrittenen Absolutismus erwähnt, welcher sich ganz stark der gleichzeitigen Regierung Friedrichs des Großen entgegensetzte. Der österreichische Widerstand gegen die Franzosen und besonders die ehrenvolle Haltung Österreichs während des Wiener Kongresses waren auch Faktoren, die zugunsten Österreichs sprachen: im Gegensatz zu Preußen hatte Österreich nur versucht, seine historischen Rechte wiederherzustellen, ohne territoriale Entschädigung zulasten der anderen deutschen Staaten zu bekommen.26 Mit den Erfolgen der Konterrevolution in Italien und Ungarn waren es schließlich sogar die Worte „Reaktion“ und „schwarz-gelb“, die eine semantische Neubewertung erlebten und von dämonisierten Synonymen für Rückständigkeit und Konservativismus immer mehr zu Symbolen der Verteidigung der historischen Rechte der Habsburger in der ganzen Monarchie gesehen wurden.27 Es ist in diesem Zusammenhang, dass der Habsburger Mythos, welchen Claudio Magris am treffendsten beschrieben hat, entstanden ist, und die damalige liberale Opposition des Vormärz die Identifikation von dynastischen und staatlichen Interessen neu entdeckte und anerkannte.28 In diesem Zusammenhang wird endgültig deutlich, wie stark die übernationale dynastische Propaganda, trotz der Kritik, der sie in den vorausgegangenen Jahrzehnten unterworfen worden war, die Gedankenwelt der Österreicher beeinflusst hatte. Selbst die Verfechter einer föderalen Ordnung des deutschen Raums wurden davon geprägt. Themen und Klischees des übernationalen Staatsgedanken wurden nämlich nicht selten verwendet, um die Legitimität der österreichischen Führungsrolle gegenüber den preußischen Machtansprüchen zu verteidigen: In seiner tausendjährigen Geschichte stellte nie Österreich ein Teil Deutschlands dar, sondern eher das Gegenteil. Es war nicht die Niederlegung der Krone des Heiligen Römischen Reichs, die Österreich von den deutschen Staaten getrennt hatte: es waren vielmehr die deutschen Staaten, die, im Einvernehmen mit dem französischen Feind, der ewigen Gemeinschaft mit der Habsburger Monarchie den Rücken gekehrt hatten; eine großdeutsche Lösung der deutschen Frage hätte endlich diesen Verrat rückgängig gemacht. Es ging also um eine geschichtliche Darstellung, die zwar während des Völkerfrühlings keinen breiten Widerhall fand. In einer einzigartigen Art und Weise wurde sie aber teilweise von der ersten österreichischen Geschichtsschreibung der 25
A. J. Becher: Der deutsche Kaiser, WStB (25. 3. 1848). Franz Egger: Deutschlands Wiedergeburt vom österreichischen Standpunkte. Wien im April 1848. Mit einem Anhange: Die deutsche Bundesakte vom 8. Juni 1815 und die Schlussakte der Wiener Conferenz vom 8. Juni 1820 enthaltend, Wien 1848, 4. 27 Wien, den 22 August. In: Die Presse Nr. 49 (23. 8. 1848), 193. Wien, 16 September. In: Die Presse Nr. 71 (17. 9. 1848), 281. Die Schwarzgelbe. In: Die Geissel Nr. 46 (14. 9. 1848), 185 – 186. Der schwarzgelbe Terrorismus. In: Die Geissel Nr. 51 (20. 9. 1848), 107 – 108. 28 Dynastische Interessen. In: Die Presse Nr. 26 (28. 7. 1848), 101. 26
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Zweiten Republik wieder ins Leben gerufen, um die österreichische Eigentümlichkeit gegenüber den Deutschen zu unterstreichen.29
29 Siehe zum Beispiel Friedrich Hoor: Wandlungen der österreichischen Staatsidee. Vom Heiligen Römischen Reich zur Österreichischen Nation. In: Georg Wagner (Hg.): Österreich. Von der Staatsidee zum Nationalbewusstsein, Österr. Staatsdruckerei, Wien 1982, 433 – 459, hier 434 ff.
Amtliche Statistik in Preußen und Österreich im 19. Jahrhundert im Spannungsfeld zwischen staatlichen Eigeninteressen und internationaler Konvergenz1 Von Michael C. Schneider, Düsseldorf Einleitung Seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert und bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden in einer Reihe europäischer Staaten statistische Büros, Ämter oder Zentralstellen.2 Diese Staaten, zu denen Preußen, Frankreich oder Belgien gehörten, hatten zumindest prinzipiell akzeptiert, dass eine effiziente Regierungsführung ohne detailliertes Wissen zu Stand und Bewegung der Bevölkerung, zur Entwicklung der Wirtschaft, aber auch zur Verbreitung von Krankheiten oder dem Wachstum von Städten nicht mehr möglich war. Dabei unterschieden sich die Entstehungsbedingungen und –gründe dieser statistischen Ämter deutlich voneinander: Belgien etwa institutionalisierte seine amtliche Statistik im Zusammenhang mit seiner Staatsbildung 1830,3 während andererseits in England ein enger Bezug zur entstehenden staatlichen Gesundheitspolitik festzustellen ist.4 Auch Preußen und Österreich entwickelten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts statistische Apparate. Ein Vergleich der Entstehungsgeschichte dieser beiden 1 Mein Dank gilt den studentischen Hilfskräften des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Georg-August-Universität Göttingen, Frauke Lorenz und Swenja Hoschek, Göttingen, für die Beschaffung österreichischer Quellen aus der Göttinger Universitätsbibliothek. Der Beitrag wurde im Herbst 2013 abgeschlossen; später erschienene Arbeiten konnten nicht mehr berücksichtigt werden. 2 Vgl. als Überblicksdarstellung Alain Desrosières: Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise, Berlin 2005 sowie Alexander Pinwinkler: Amtliche Statistik, Bevölkerung und staatliche Politik in Westeuropa, ca. 1850 – 1950. In: Peter Collin/ Thomas Horstmann (Hgg.): Das Wissen des Staates. Geschichte, Theorie und Praxis, BadenBaden 2004, 195 – 215. Die Epoche des späten 18. Jahrhunderts behandelt Lars Behrisch: ,Politische Zahlen‘. Statistik und die Rationalisierung der Herrschaft im späten Ancien Régime. In: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), 551 – 577. 3 Vgl. Nele Bracke: For State and Society? The production of official statistics in 19thcentury Belgium. In: Axel C. Hüntelmann/Michael C. Schneider (Hgg.): Jenseits von Humboldt. Wissenschaft und Staat 1850 – 1990, Frankfurt am Main u. a. 2010, 257 – 267. 4 Vgl. Simon Szreter: Fertility, Class and Gender in Britain, 1860 – 1940, Cambridge 1996, 85 – 93. Vgl. generell Desrosières, Die Politik der großen Zahlen, sowie den Überblick von Pinwinkler, Amtliche Statistik.
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statistischen Systeme kann einerseits die Unterschiede und Gemeinsamkeiten bei der Gründungsmotivation erhellen, kann andererseits aber auch erste Anhaltspunkte zur Beantwortung der Frage liefern, ob das, was man an Annäherungsprozessen bei den statistischen Systemen dieser beiden und anderer europäischer Staaten im Verlauf des 19. Jahrhunderts beobachten kann, Ausdruck einer globalen oder zumindest europäischen Konvergenz ist,5 oder ob demgegenüber einzelstaatliche Spezifika das jeweilige statistische System stärker prägten. Nach einer kurzen Skizze der Entwicklung beider statistischer Systeme in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts konzentriert sich der Beitrag zunächst auf die Frage, inwieweit organisatorische Veränderungen auf Tendenzen einer von internationalen Gremien induzierten Konvergenz zurückzuführen sind, und behandelt dann, in einem zweiten Teil, am Beispiel der Bevölkerungsstatistik ebenfalls die Frage nach Annäherungen der statistischen Methodik beider Staaten. Das Beispiel der Bevölkerungsstatistik habe ich gewählt, weil sich diese in ihren verschiedenen Ausprägungen sehr gut für einen solchen Vergleich eignet: Denn dieses Arbeitsgebiet stand zum einen im methodischen Zentrum der amtlichen Statistik insbesondere Preußens und kartierte zum anderen mit der Sichtbarmachung demographischer Veränderungen potentiell neue Handlungsfelder der Politik.6 Dass sich die statistischen Bureaus wechselseitig wahrgenommen haben, ist offenkundig; dieser Umstand wird z. B. im Rezensionsteil der Zeitschrift des preußischen statistischen Bureaus deutlich; zudem kannten sich die führenden Statistiker der europäischen Staaten zumeist persönlich.7 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob diese gegenseitige Beobachtung von Methoden und Ergebnissen statistischer Arbeit zu beiderseitiger Annäherung oder eher zur Abgrenzung voneinander führte? Ein zeitlicher Schwerpunkt liegt auf der Mitte des 19. Jahrhunderts, weil sich hier insbesondere in Preußen, aber auch in Österreich, 5
Vgl. zur globalhistorischen Einordnung der Entwicklung der amtlichen Statistik Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, 57 – 62. 6 Die Darstellung der Geschichte des preußischen statistischen Bureaus stützt sich wesentlich auf Michael C. Schneider: Wissensproduktion im Staat. Das königlich preußische statistische Bureau 1860 – 1914, Frankfurt am Main 2013. Dort findet sich auch weiterführende Literatur. Vgl. ferner Frank Hoffmann: „Ein den thatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild nicht zu gewinnen“. Quellenkritische Untersuchungen zur preußischen Gewerbestatistik zwischen Wiener Kongress und Reichsgründung, Stuttgart 2012. Zur österreichischen Statistik stützt sich der Beitrag auf gedruckte Quellen sowie ältere Festschriften, darunter z. B. die Denkschrift der K.K. Statistischen Zentralkommission zur Feier ihres fünfzigjährigen Bestandes, Wien 1913, sowie auf Österreichisches Statistisches Zentralamt (Hg.): Geschichte und Ergebnisse der zentralen amtlichen Statistik in Österreich 1829 – 1979, 2 Bde., Wien 1979. 7 Zu Preußen vgl. als ein Beispiel von vielen: Zeitschrift des königlich preußischen statistischen Bureaus 13 (1873), 472 – 474; Zu Österreich vgl. z. B. die Verhandlungen der K.K. Statistischen Zentralkommission 1865, Wien 1865, Sitzung vom 6. 10. 1865, 61 – 63. Von der persönlichen Bekanntschaft der Statistiker untereinander ist spätestens seit 1853, dem ersten Jahr eines internationalen statistischen Kongresses, auszugehen; diese Kongresse werden weiter unten in diesem Beitrag behandelt.
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neue Dynamiken bei der Entwicklung der statistischen Organisationssysteme beider Staaten konstatieren lassen. I. Konvergenz in Organisation und Aufbau? 1805 richtete der preußische Staat ein statistisches Bureau ein, das wegen der preußischen Niederlage in den Kriegen gegen Napoleon erst ab 1810 eine kontinuierliche Arbeit aufnehmen konnte. Geleitet wurde es seither von Johann Gottfried Hoffmann, der zugleich einer der wichtigsten Ratgeber für die preußischen Reformer war.8 In den ersten Jahrzehnten seines Bestehens erhob das statistische Bureau Daten zu verschiedenen Aspekten der Wirtschaft und der Bevölkerungsentwicklung Preußens. 1844 übernahm Friedrich Wilhelm Dieterici die Leitung des Bureaus; er ging auch bald dazu über, regelmäßig Publikationen zu den Ergebnissen der Erhebungen vorzulegen, während unter Hoffmann Publikationen noch sporadisch erfolgt waren – immerhin wurden im Unterschied zu Österreich überhaupt statistische Ergebnisse publiziert.9 Allerdings darf die Existenz des Bureaus nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich diese Einrichtung in diesen ersten Jahrzehnten schon wegen des nur wenige Mitarbeiter zählenden Personalbestands bei den meisten Erhebungen auf Zulieferungen aus den unteren Behörden verlassen musste – erst mit dem Amtsantritt Ernst Engels 1860 sind überhaupt Bestrebungen festzustellen, die Hoheit über die Erhebungen selbst zu gewinnen.10 Bis 1859 bestand zudem eine enge Verbindung zwischen dem statistischen Bureau und der universitären Wissenschaft: Die beiden Direktoren bis 1859, Hoffmann und Dieterici, hatten jeweils auch den Lehrstuhl für Staatswirtschaft bzw. Staatswissenschaft an der Berliner Universität inne. Erst mit dem Amtsantritt Engels löste sich diese Verbindung zwischen Berliner Universität und dem statistischen Bureau.11 In Preußen gab es somit seit Beginn des Jahrhunderts eine fest institutionalisierte Behörde, die für statistische Erhebungen zuständig war, insbesondere für die Volkszählungen und die gewerbestatistischen Aufnahmen. Allerdings bedeutete das nicht, dass das Bureau die alleinige Hoheit auch über zentrale Erhebungsvorgänge wie insbesondere die Volkszählungen besessen hätte: Seit 1840 wurden die „Verfügungen zur Durchführung der Volkszählungen nicht mehr vom Direktor des Statistischen Bureaus […], sondern gemeinsam vom Innen- und Finanzminister […] erlassen“.12 Und die Existenz des statistischen Bureaus bedeutete ebenfalls nicht, dass es allein für statistische Erhebungen zuständig gewesen wäre; vielmehr erhoben viele preußische 8 Vgl. Hoffmann, Bild, 118 – 133, sowie Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, München 1981, 240 – 242 und passim. 9 Vgl. Schneider, Wissensproduktion, 60; vgl. ausführlich zu Dieterici Hoffmann, Bild, 133 – 150. 10 Vgl. Hoffmann, Bild, 77; Schneider, Wissensproduktion, 46 f. 11 Vgl. Schneider, Wissensproduktion, 68 sowie Hoffmann, Bild, 89. 12 Hoffmann, Bild, 68.
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Ressorts dort Daten, wo es ihnen sinnvoll erschien,13 – und ohne dies immer mit dem Bureau abzustimmen. Nach dem plötzlichen Tod Dietericis 1859 fand nun in der Leitung des preußischen statistischen Bureaus ein personeller Wechsel statt, der in seiner langfristigen Bedeutung für die amtliche Statistik nicht nur Preußens gar nicht überschätzt werden kann: 1860 erhielt der sächsische Statistiker Ernst Engel die Leitung des preußischen statistischen Bureaus übertragen und entfaltete in dieser Position die Perspektive, die preußische Statistik in einem fundamentalen Sinne zu einer gesellschaftlichen Basiswissenschaft zu machen, einer Wissenschaft, die den preußischen Staat in die Lage versetzen sollte, alle wesentlichen Herausforderungen zu bestehen, seien sie gesundheitspolitischer, wirtschaftspolitischer oder sozialpolitischer Art.14 Ähnlich wie in Preußen waren es auch im neugegründeten „Kaisertum Österreich“ die Umwälzungen der napoleonischen Epoche, die schon 1804 einen ersten Anstoß gaben, die staatliche Statistik zu systematisieren. Ein solches Vorhaben konnte an statistische Vorarbeiten des aufgeklärten Absolutismus Mitte des 18. Jahrhunderts anknüpfen, die jedoch wieder versandet waren.15 Doch auch der erneute Anlauf zu Beginn des 19. Jahrhunderts stockte wie in Preußen während der napoleonischen Kriege, so dass die österreichische Regierung erst 1810 einen konkreten Versuch unternahm, bei der Hofkammer ein ständiges Departement einzurichten, welches regelmäßig die Zustände der Monarchie, sowohl mit Blick auf deren Bevölkerung als auch auf die Entwicklung der Wirtschaft, erfassen und der Regierung hierüber berichten sollte.16 Möglicherweise stand diese Entscheidung bereits im Zusammenhang mit den absehbaren desolaten wirtschaftlichen Verhältnissen des österreichischen Staates aufgrund der hohen Kriegskosten, die 1811 dazu führten, dass Österreich seine Schulden nicht mehr in vollem Umfang bedienen konnte.17 Allerdings war es gerade die schwierige wirtschaftliche Lage, die die eigentlich angestrebte Institutionalisierung eines statistischen Büros verhinderte, und noch 1819 verliefen Initiativen, ein statistisches Büro zu gründen, im Sande – vor allem wohl deshalb, weil die von wechselseitiger Abschottung geprägte österreichische Ministerialbürokratie nicht in der 13
Vgl. z. B. zur Herausbildung der Militärstatistik Heinrich Hartmann: Der Volkskörper bei der Musterung. Militärstatistik und Demographie in Europa vor dem Ersten Weltkrieg, Göttingen 2011. 14 Vgl. zum Programm Engels Ernst Engel: „Ueber die Organisation der amtlichen Statistik mit besonderer Beziehung auf Preußen“. In: Zeitschrift des Königlich Preußischen Statistischen Bureaus 1 (1861), 53 – 56, sowie zum Kontext Schneider, Wissensproduktion, 70 – 81. 15 Vgl. Christel Durdik: Bevölkerungs- und Sozialstatistik in Österreich im 18. und 19. Jahrhundert. In: Heimold Helczmanovszki (Hg.): Beiträge zur Bevölkerungs- und Sozialgeschichte Österreichs, München 1973, 225 – 266, hier 227 f. 16 Vgl. Wilhelm Zeller: Geschichte der zentralen amtlichen Statistik in Österreich. In: Österreichisches Statistisches Zentralamt (Hg.): Geschichte und Ergebnisse der zentralen amtlichen Statistik in Österreich 1829 – 1979, Wien 1979, 13 – 239, hier 13 f. 17 Vgl. Felix Butschek,: Österreichische Wirtschaftsgeschichte. Von der Antike bis zur Gegenwart, Wien u. a. 2011, 97 – 99.
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Lage war, die notwendigen administrativen Voraussetzungen für einen ressortübergreifenden statistischen Dienst zu schaffen.18 Erst 1829 gelang es dem Freiherrn von Baldacci, dem Präsidenten des Generalrechnungsdirektoriums, Kaiser Franz I. dazu zu bewegen, ein kleines statistisches Büro in seinem Verwaltungsbereich einzurichten, das in den folgenden Jahren tatsächlich mehrere statistische Zusammenstellungen fertig stellte.19 Allerdings standen die so entstandenen Tabellen nur dem internen Dienstgebrauch zur Verfügung und unterlagen ansonsten strikter Geheimhaltung,20 was ihren Nutzen fraglich erscheinen ließ und letztlich die Akzeptanz statistischer Erhebungen nicht beförderte – im Unterschied etwa zur preußischen amtlichen Statistik derselben Zeit. Diese Einstellung verhinderte naturgemäß auch noch bis 1840 den Austausch von Druckwerken mit anderen statistischen Ämtern Europas und überseeischer Staaten. Nachdem sich die statistischen Ämter in der ersten Jahrhunderthälfte vorwiegend über ihre Publikationen wahrnahmen – die gleich näher zu behandelnden internationalen statistischen Kongresse traten erst seit 1853 zusammen –, unternahm Österreich somit gar nicht erst den Versuch, systematisch von anderen Staaten im Hinblick auf die Statistik zu lernen. Insgesamt ist hier also eine im Vergleich zu Preußen deutlich langsamere und zurückhaltendere Entwicklung der amtlichen Statistik zu konstatieren. Dies mag auch durch den Umstand mitbedingt worden sein, dass Österreich nicht dem Zollverein angehörte. Denn der Zollverein forderte aufgrund der Verteilungsregeln der Zollvereinseinnahmen unter den Mitgliedsstaaten nach der Bevölkerungszahl Volkszählungen im dreijährigen Turnus. Hinzu kam ein gewisser Druck der Generalkonferenz des Zollvereins in Richtung einer Vereinheitlichung der Erhebungsgrundsätze.21 Zwar widersetzte sich die preußische Statistik unter der Ägide Dietericis noch diesen Vereinheitlichungsbestrebungen,22 aber zumindest musste die preußische Statistik auf diesen Druck reagieren – und ein vergleichbarer Druck fehlte in Österreich. Hier gelang erst 1840 eine festere Institutionalisierung, nachdem in diesem Jahr die „K.k. Direktion der administrativen Statistik“ gegründet wurde und mit Karl Czoernig eine neue Leitung bekam. Czoernig, 1804 geboren, war nach einer juristischen Ausbildung in die kaiserliche Verwaltung eingetreten. Allerdings hatte er sich mehr mit ökonomischen Themen befasst und war in die beginnende staatliche Tätigkeit im Rahmen der ,nachholenden Industrialisierung‘23 eingebunden gewesen. Jetzt, 18
Vgl. Zeller, Geschichte, 15 f. Vgl. Zeller, Geschichte, 16 – 27. 20 Festschrift 1913, 17. Vgl. zudem Durdik, Bevölkerungs- und Sozialstatistik, 233. 21 Vgl. z. B. die Verhandlungen der Siebenten General-Konferenz in Zollvereins-Angelegenheiten, Carlsruhe 1845, 36 – 42, sowie Hoffmann, Bild, 142 f. und Schneider, Wissensproduktion, 192. 22 Vgl. Hoffmann, Bild, 143. 23 Vgl. David F. Good: Der wirtschaftliche Aufstieg des Habsburgerreiches 1750 – 1914, Wien u. a. 1986, 63 – 89. Auf die besonders in den 1980er Jahren geführte Diskussion, welchen 19
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seit Anfang der vierziger Jahre, gelang es auch allmählich, den Kaiser von der Notwendigkeit zu überzeugen, den Geheimhaltungszwang in der amtlichen Statistik aufzuheben, was dann auch zunehmend internationalen Austausch ermöglichte. Für Österreich wurde die amtliche Statistik offenbar vor allem aus wirtschaftspolitischen Gründen wichtiger – dafür spricht auch die zeitweise Ansiedlung der Direktion der amtlichen Statistik im Handelsministerium.24 Der Umstand, dass Czoernig im Unterschied zu Engel und Dieterici, aber ähnlich wie phasenweise und deutlich früher Hoffmann25 auch intensiv in die Wirtschaftspolitik selbst eingebunden war, zumal besonders seit den 1850er Jahren in den Ausbau des Eisenbahnnetzes, führte allerdings auch dazu, dass er sich nicht voll auf die amtliche Statistik konzentrieren konnte.26 Gleichwohl betonen die verschiedenen Festschriften die großen Leistungen der österreichischen Wirtschaftsstatistik nach dem Amtsantritt von Czoernig – es erscheint allerdings fraglich, ob den in dieser Phase hergestellten Zahlen tatsächlich ein hohes Maß an Verlässlichkeit zugebilligt werden kann, war doch die wesentlich routiniertere und auf eine deutlich längere Erfassungspraxis zurückblickende preußische Wirtschaftsstatistik, wie neuere Untersuchungen gezeigt haben, zur selben Zeit in hohem Maße unzuverlässig.27 Dass Österreich eine vergleichsweise lange Zeit auf die Einrichtung einer nach zeitgenössischen Maßstäben professionellen amtlichen Statistik verzichtete, verwundert umso mehr, als es gerade diese Jahrzehnte vor der Mitte des 19. Jahrhunderts waren, in denen Europa von einer Art „statistischen Enthusiasmus’“ erfasst wurde. In vielen Ländern wurden statistische Gesellschaften gegründet, die sich das Ziel setzten, statistisches Denken in Politik und Gesellschaft zu verankern.28 Einer der wichtigsten Protagonisten dieser statistischen Begeisterung war der Belgier Adolphe Quetelet, der in den zwei Jahrzehnten vor der Mitte des 19. Jahrhunderts ein umfassendes Konzept einer „sozialen Physik“ entwickelte, mit deren Hilfe es möglich sein sollte, Bewegungen in der menschlichen Gesellschaft vorherzusagen und so für die Politik kalkulierbar zu machen.29 Allerdings hielt die Faszination für Quetelets VorCharakter der Industrialisierungsverlauf Österreichs hatte, kann hier nicht eingegangen werden; vgl. dazu die kurze Überblicksdarstellung von David F. Good: Austria-Hungary. In: Richard Sylla/Gianni Toniolo (Hgg.): Patterns of European Industrialization, London/New York 1991, 218 – 247. 24 Vgl. Denkschrift der K.K. Statistischen Zentralkommission zur Feier ihres fünfzigjährigen Bestandes, Wien 1913, 83 – 85; hier liegt eine interessante Parallele zum preußischen statistischen Bureau vor, das zwischen 1844 und 1848 ebenfalls dem Handelsamt zugeordnet war; erst danach wechselte es dauerhaft in den Zuständigkeitsbereich des Innenministeriums, vgl. Hoffmann, Bild, 69 – 71. 25 Vgl. Hoffmann, Bild, 118 – 133. 26 Denkschrift der K.K. Statistischen Zentralkommission zur Feier ihres fünfzigjährigen Bestandes, Wien 1913, 84. 27 Vgl. Hoffmann, Bild, passim. 28 Vgl. hierzu umfassend Theodore M. Porter: The Rise of Statistical Thinking 1820 – 1900, Princeton 1986, und Desrosières, Politik, 194 f. 29 Vgl. Schneider, Wissensproduktion, 204 – 207, mit weiterführender Literatur.
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stellungen auch in die preußische Statistik erst mit dem Amtsantritt Engels Einzug und damit zu einer Zeit, als die Begeisterung für Quetelet zumindest unter den deutschen Nationalökonomen schon wieder rückläufig war.30 Wie intensiv Quetelet von den österreichischen Statistikern rezipiert wurde, ist noch nicht ganz deutlich – der unverkennbare Schwerpunkt der frühen österreichischen Statistik auf der Wirtschaftsstatistik spricht eher gegen eine intensive Rezeption, richtete sich doch Quetelets Aufmerksamkeit zentral auf die Bevölkerungsstatistik und den Versuch, in der Veränderung der einschlägigen Variablen Gesetzmäßigkeiten zu erfassen. Andererseits war es zweifellos die Auffassung Quetelets von der Statistik als einer öffentlichen Angelegenheit, die Adolf Ficker31 in seinem Nekrolog anlässlich des Todes Quetelets dazu veranlasste, diesen Punkt ganz besonders hervorzuheben – wohl auch vor dem Hintergrund der noch nicht lange zurückliegenden österreichischen Tradition der Geheimhaltung statistischer Erhebungsergebnisse.32 Zu den statistischen Institutionen, die auf die Initiative Quetelets zurückgingen, gehörten die internationalen statistischen Kongresse. Erstmals fand dieser Kongress 1853 in Brüssel statt, also in der Heimat des statistischen „Innovators“ Adolphe Quetelet, danach in dreijährigem Turnus, so 1857 bereits in Wien,33 und 1863 in Berlin. Bei diesen Gelegenheiten kamen Statistiker aus aller Welt zusammen und debattierten sowohl über Probleme der amtlichen und nichtamtlichen Statistik; ferner strebten sie eine Vereinheitlichung der Erhebungs- und Auswertungsmethoden an. Häufig wird diesen Kongressen ein großer Einfluss auf die nationalen statistischen Apparate zugeschrieben: So stellt etwa Jürgen Osterhammel in seiner monumentalen Globalgeschichte des 19. Jahrhunderts fest, dass die nationalen statistischen Ämter die auf den Kongressen formulierten Qualitätsstandards auf Dauer nicht ignorieren konnten.34 Wie einflussreich diese Kongresse für die nationalen statistischen Praktiken tatsächlich waren, ist allerdings noch nicht systematisch untersucht. Soweit man es aus den veröffentlichten Protokollen etwa der österreichischen Statistischen Zentralkommission ableiten kann und soweit in der Literatur und in den preußischen ar-
30
Vgl. ebd. Ficker, geb. 1816, war seit 1853 als Ministerialsekretär in der Direktion der administrativen Statistik beschäftigt, deren Leitung er 1864 übernahm. 1873 wurde er Präsident der Statistischen Zentralkommission, vgl. Österreichisches Biographisches Lexikon 1815 – 1950, Bd. 1 (Lieferung 4, 1956), 309, online-Edition (http://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_F/Fi cker_Adolph_1816_1880.xml?frames=yes), abgerufen am 18. 11. 2013. Vgl. zum Werdegang Fickers zudem Zeller, Geschichte, 53 f. 32 Vgl. Adolf Ficker: Lambert Adolf Jakob Quetelet, in: Statistische Monatsschrift, herausgegeben vom Bureau der K. K. Statistischen Central-Commission 1 (1875), 6 – 14, hier 11. 33 Zeller, Geschichte, 38. Vgl. zu den Kongressen insgesamt Nico Randeraad: States and statistics in the nineteenth century. Europe by numbers, Manchester/New York 2010. 34 Vgl. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, 59. 31
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chivalischen Quellen dokumentierte Einzelfälle ein Urteil erlauben, ist hinsichtlich der Wirkmächtigkeit der Kongresse jedoch Skepsis angebracht: So konnte sich beispielsweise das preußische statistische Bureau unter der Leitung Dietericis diesem Druck in Richtung internationaler Vereinheitlichung recht erfolgreich bis Ende der 1850er Jahre entziehen.35 Erst mit dem Tod Dietericis und dem Leitungswechsel zu Ernst Engel 1859/60 ist eine stärkere Orientierung an der internationalen Entwicklung festzustellen, wenngleich im Folgenden die These zu prüfen ist, dass sich Engel den vorgeblichen internationalen Druck zunutze machte, um besondere preußische Probleme zu lösen. In Österreich war es Adolf Ficker, seit 1853 Mitarbeiter der Direktion der administrativen Statistik und seit 1864 Direktor der administrativen Statistik, der schon seit den 1850er Jahren und bis in die 1870er Jahre eine aktive Rolle bei den Internationalen Statistischen Kongressen einnahm;36 wie stark indes auch bei dieser engen personellen Verbindung die Impulse der internationalen Ebene auf Österreich durchschlugen, ist ebenfalls nur im Einzelfall zu prüfen. In seiner Selbstwahrnehmung gehörte Österreich immerhin zu den Staaten, die am frühesten bestrebt waren, „die Beschlüsse des Congresses im Interesse der Wissenschaft bei der Ausarbeitung ihrer Formularien thunlichst zu berücksichtigen.“37 Zu den Forderungen, die dieses Gremium immer wieder an die verschiedenen Regierungen richtete, gehörte die nach der Einrichtung einer „statistischen Zentralkommission“; diese Forderung wurde schon in Brüssel 1853 erhoben und wurde auf den folgenden Kongressen immer wieder wiederholt.38 Eine solche jeweils in den Staaten einzurichtende statistische Zentralkommission hätte demnach die Aufgabe, die Tätigkeit der amtlichen Statistik zu vereinheitlichen und vor allem zwischen den interessierten Ministerien zu koordinieren. Hier lag in der Tat ein gemeinsames Problem in vielen Staaten: Die statistische Erfassung aller möglichen sozialen und wirtschaftlichen Tatbestände wurde nicht nur in den statistischen Ämtern vorgenommen, sondern von vielen Ministerien veranlasst, im Regelfall ohne Absprache untereinander.39 Unverkennbar ist hier der Einfluss des belgischen Staates zu spüren, der unter der Leitung Adolphe Quetelets eine solche Kommission eingerichtet hatte. In Belgien wies die statistische Zentralkommission aber einen besonderen Charakter auf, insofern sie nicht nur Vertreter der verschiedenen Ministerien versammelte, sondern auch unabhängige statistische Experten und Journalisten.40 Allerdings stieß diese Forderung keineswegs überall auf Wohlwollen: In den 1850er Jahren wehrte sich der Leiter des preußischen statistischen Bureaus, Dieterici, noch ganz vehement gegen ein solches Ansinnen – ihm zufolge sollte die Aufgabe der statistischen Erfassung gerade 35
Vgl. Schneider, Wissensproduktion, 46 – 53. Vgl. Zeller, Geschichte, 53 f. 37 Verhandlungen der K.K. Statistischen Zentralkommission 1865, Wien 1865, 88. 38 Vgl. z. B. Verhandlungen der K.K. Statistischen Zentralkommission 1865, Wien 1865, 88 f. 39 Vgl. Schneider, Wissensproduktion, 115 f. 40 Vgl. Bracke, State, 258 – 261. 36
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bei den verschiedenen Ressorts verbleiben. Die Aufgabe des statistischen Bureaus erblickte Dieterici gerade in der Zusammenstellung und Sichtung des aus verschiedenen Quellen eingehenden statistischen Materials. Eine Koordination durch eine Zentralkommission oder gar die Verwaltung einer solchen Koordination durch das statistische Bureau lehnte Dieterici ab.41 Nachdem aber Ernst Engel 1860 die Leitung des Bureaus übernommen hatte, plädierte er gegenüber der preußischen Regierung nachdrücklich dafür, auch in Preußen eine solche Zentralkommission nach belgischem Vorbild einzurichten. Dies geschah auch, und bei oberflächlicher Betrachtung könnte dieser Vorgang nachgerade als ein Paradebeispiel für die Erfüllung einer Forderung eines internationalen Gremiums durch einen Mitgliedstaat dienen.42 Sieht man aber genauer hin, dann machte sich Engel zwar auf der einen Seite die Argumentation des statistischen Kongresses zu eigen, mit Hilfe der Zentralkommission statistischen ,Wildwuchs’ in den verschiedenen Ressorts eindämmen zu wollen. Auf der anderen Seite aber diente dieses Gremium Engel vor allem auch dazu, einen Ort zu schaffen, an den ein Teil des übernommenen Personalbestandes des statistischen Bureaus unauffällig abgeschoben werden konnte. Denn diesen Personalbestand betrachtete Engel in weiten Teilen als unfähig zur statistischen Arbeit, sodass die neu einzurichtende Kommission eine willkommene Gelegenheit bot, diese Personalprobleme zu lösen. Dies war aber eine spezifisch preußische Angelegenheit, die in anderen Staaten, soweit ich sehe, keine direkte Entsprechung besaß. Anders sah es in Österreich aus: Hier wurde 1863, etwas später als in Preußen, eine statistische Zentralkommission ins Leben gerufen. Auch hier griff der österreichische Staat mit der Einrichtung dieser Kommission eine Anregung des zweiten Internationalen Statistischen Kongresses auf, der 1855 in Paris stattgefunden hatte. Allerdings dauerte es noch bis zum Januar 1863, bis die Einrichtung tatsächlich vollzogen war. Präsident wurde Czoernig; die Leitung der der Zentralkommission unterstellten „Direktion der amtlichen Statistik“ hatte seit 1864 Adolf Ficker inne.43 Die Aufgabenverteilung zwischen der Zentralkommission und der „Direktion“ als ihrem „ausführende[n] Organ“ war offiziell festgeschrieben, so dass die Direktion gleichsam als Büro der Zentralkommission fungierte44 und damit funktional dem preußischen statistischen Bureau entsprach. Ähnlich wie die belgische, aber anders als die preußische statistische Zentralkommission war die österreichische Zentralkommission von ihren Statuten her offen für Vertreter aus der Wissenschaft und der Wirtschaft – neben den Vertretern der Ministerien, die in allen Kommissionen vertreten
41 Vgl. Dieterici an Westphalen (Innenminister) vom 6. 5. 1858, GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 536, Nr. 11, Bd. 3, Bl. 123 – 134. 42 Vgl. zum Nachstehenden ausführlich Schneider, Wissensproduktion, 114 – 130. 43 Vgl. Zeller, Geschichte, 40 – 43. 44 Ebd., 45.
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waren.45 Ein wesentlicher Unterschied zur preußischen Kommission lag in Österreich darin, dass hier das tatsächliche und dauerhafte Entscheidungszentrum der österreichischen Statistik lag. Dies lässt sich schon an den ganz unterschiedlichen Tagungsrhythmen erkennen: Die österreichische Zentralkommission trat wesentlich häufiger als die preußische zusammen, nämlich monatlich, so dass dieses Gremium bis zum Januar 1913 347 mal tagte.46 In Preußen sind eher unterschiedliche Konjunkturen der Sitzungstätigkeit festzustellen und zur Jahrhundertwende hin trat das Gremium nur noch selten zusammen.47 Allerdings erfuhr auch die österreichische Zentralkommission zum Ende des 19. Jahrhunderts hin einen Bedeutungsverlust: 1884 wurden die Ämter des Präsidenten der Zentralkommission und des Direktors der „Direktion“ in der Person Inama von Sterneggs vereinigt, der bereits seit 1881 die Direktion des Bureaus für administrative Statistik innehatte.48 Seit dieser Zeit entwickelte die „Direktion“ immer mehr Eigengewicht; entsprechend gewann die Zentralkommission immer mehr den Charakter eines bloßen Beratungsgremiums.49 Die praktische und konzeptionelle Arbeit der österreichischen Statistik scheint indes nicht so sehr auf der Ebene der Zentralkommission selbst stattgefunden zu haben, als vielmehr auf der Ebene untergeordneter „Special-Comités“: Die Arbeitsergebnisse dieser Gremien wurden dann vor der Zentralkommission vorgestellt und besprochen. Auch wenn der Diskussionsverlauf selbst häufig nicht erkennbar ist, so wird doch deutlich, dass sich auf der Ebene der Special-Comités allmählich ein methodisches Problembewusstsein entwickelt hat. In der Zentralkommission wurde dann darüber berichtet, notwendigerweise in kondensierter Form, und z. B. über den Zuschnitt von Formularen abschließend entschieden.50 So lässt sich als Zwischenergebnis festhalten, dass zwar in beiden Staaten statistische Zentralkommissionen bestanden, und so auf den ersten Blick tatsächlich eine Forderung der internationalen statistischen Kongresse umgesetzt worden war – sieht man aber genauer hin, dann zeigt sich, dass die jeweiligen Umstände ganz verschieden waren und diese Institutionen tatsächlich unterschiedliche Aufgaben erfüllten: Während die Zentralkommission in Österreich ihre Aufgabe sehr ernst nahm und sich intensiv mit den statistischen Problemen befasste, so tagte die preußische statis45 Vgl. Statuten der K.K. Statistischen Central-Commission, genehmigt mit der Allerhöchsten Entschliessung vom 31 Jänner 1865. In: Mittheilungen aus dem Gebiete der Statistik 10 (1864), I-III, hier § 8. Vgl. auch die Zusammensetzung der Kommission in ebd., IV. Vgl. noch Zeller, Geschichte, 43. 46 Vgl. Zeller, Geschichte, 44. 47 Vgl. Schneider, Wissensproduktion, 114 – 130. 48 Vgl. zu Theodor Inama von Sternegg Herbert Matis, „Inama von Sternegg, Theodor“. In: Neue Deutsche Biographie 10 (1974), 166 – 168 [Onlinefassung]; URL: http://www.deut sche-biographie.de/pnd118555561.html (abgerufen am 18. 11. 2013). 49 Vgl. Zeller, Geschichte, 45. 50 Vgl. A. Ficker, Bericht des Special-Comité’s für Statistik der Privat-Lehranstalten. In: Verhandlungen der K.K. Statistischen Central-Commission im Jahre 1865, Wien 1865, 25 – 28.
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tische Zentralkommission, von Phasen verdichteter Tätigkeit abgesehen, eher sporadisch und stellte ihre Arbeit zum Ende des Jahrhunderts hin zunehmend ein. II. Methodische und organisatorische Innovationen Vergleicht man die beiden statistischen Systeme unter dem Gesichtspunkt, welche methodischen Herausforderungen Mitte der 1850er Jahre erkannt worden sind und wie diese organisatorisch bearbeitet wurden, dann stößt man darauf, dass in beiden Staaten der jeweilige statistische Apparat viel zu klein war,51 um großangelegte Erhebungen wie insbesondere Volkszählungen nur mit dem eigenen Personal durchzuführen. Daher bestand von vornherein das Modell darin, dass nicht die jeweiligen statistischen Büros die Zahlen erhoben, sondern die unteren und mittleren Behörden. Sie lieferten die so zustande gekommenen Tabellen an die jeweilige statistische Zentralstelle, ohne dass diese Zentralstelle einen Einblick in die Zuverlässigkeit dieser Erhebungen und Bearbeitungen besaß. Daher bestand für Ernst Engel in Preußen nach seinem Amtsantritt 1860 ein wesentliches Ziel darin, die Verlässlichkeit der Erhebungen dadurch zu vergrößern, dass er zum einen versuchte, die Hoheit über die Auswertung des Urmaterials (also der ursprünglich ausgefüllten Fragebögen) direkt in das statistische Bureau hinein zu verlagern und auf diese Weise die Eingriffe der Unter- und Mittelbehörden in die Daten zu umgehen. Zum anderen setzte er nach einigen Jahren durch, dass die gezählte Bevölkerung die Fragebögen selbst ausfüllte, dies also nicht mehr durch die Zähler geschah – das gelang wegen der damit verbundenen Kostensteigerungen nur gegen anfängliche Widerstände der statistischen Zentralkommission; und es dauerte auch längere Zeit, bis sich diese Praxis etabliert hatte.52 Auch in Österreich bestand dieses Problem des unkontrollierbaren Eingriffs der Unterbehörden in das Urmaterial der Erhebungen. Die festere Institutionalisierung der Statistik mit der 1840 gegründeten „K.k. Direktion der administrativen Statistik“ führte noch nicht zu einer klaren Stärkung dieser statistischen Zentralstelle, da es etwa an einem „gesetzmäßig festgelegten Einfluß auf die übrigen Verwaltungsbehörden“ noch fehlte.53 Czoernig unternahm zwar bereits Anfang der 1850er Jahre erste Versuche, selbst Beamte in einzelne Provinzen zu entsenden, um Erhebungen durchführen zu lassen – es ist allerdings unklar, in welchem Ausmaß das geschah und inwiefern die Beamten tatsächlich auf der Grundlage eigener Fragebögen diese Erhebungen durchführten.54 Daher bestand eines der ersten Ziele, das die neu eingesetzte 51 Vgl. zum geringen Personalstand des preußischen statistischen Bureaus – 1870 verfügte es einschließlich des Direktors und ohne Schreibkräfte über 7 hauptberuflich tätige Beamte – Hoffmann, Bild, 110. 52 Vgl. Ernst Engel: Die Methoden der Volkszählung, mit besonderer Berücksichtigung der im preußischen Staate angewandten. In: Zeitschrift des Königlich Preußischen Statistischen Bureaus 1 (1861), 149 – 212, sowie Schneider, Wissensproduktion, 223 – 239. 53 Vgl. Durdik, Bevölkerungs- und Sozialstatistik, 240. 54 Vgl. Zeller, Geschichte, 36.
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statistische Zentralkommission Österreichs 1863 formulierte, darin, nicht mehr nur das von den anderen Behörden erlangte Material zu bearbeiten, sondern auch zunächst einmal darin, detaillierte Kenntnis darüber zu erhalten, an welchen Stellen überhaupt welche Statistiken erhoben wurden; zudem beanspruchte die Zentralkommission, auf die „Entwerfung der bezüglichen Formulare“ Einfluss zu erlangen.55 Hier ist somit ein ähnliches Zentralisierungsinteresse festzustellen, wie es in Preußen mit Ernst Engel zu konstatieren ist, ohne dass jedoch auch in Österreich Forderungen laut wurden, die Erhebungsarbeit selbst in die statistische Zentrale hinein zu verlagern. Freilich scheint es in den ersten Jahren zunächst wichtigste Aufgabe der Zentralkommission gewesen zu sein, eine Bestandsaufnahme der vielfältigen Probleme bei der statistischen Erfassung vorzunehmen – so stellte die Zentralkommission z. B. fest, dass die Provinzial-Rechnungsbehörden bei der Landwirtschaftsstatistik „oft Jahr für Jahr fast unwandelbare Ziffern lieferten“, so dass befürchtet werden musste, „dass selbst dort, wo diess nicht der Fall war, die Aenderung mehr willkürlich als grundhältig vorgenommen wurde.“56 Überhaupt wuchs innerhalb der Zentralkommission auch das Methodenbewusstsein: So wies die Volkszählung von 1857 in den Augen des zuständigen „Special-Comités“ im Rückblick von 1865 einige gravierende Mängel auf, die durch Änderungen in den Erhebungsformularen der anstehenden Volkszählung zu beseitigen wären.57 Versuche, die Zählungsprinzipien an jene des Zollvereins anzugleichen, zeigten überdies, dass noch 1865 eine Annäherung an die deutschen Staaten nicht ausgeschlossen zu sein schien.58 Dies ist nicht der einzige Hinweis darauf, dass sich die österreichische Statistik die statistischen Systeme der deutschen Staaten und insbesondere Preußens seit Mitte der 1860er Jahre zum methodischen Vorbild nahm. Auf diese preußische Vorbildfunktion deutet noch eine andere Anleihe hin, nämlich die Einrichtung eines „statistischen Seminars“: In Preußen verfolgte Ernst Engel seit 1860 nicht nur das Ziel, die amtliche Statistik methodisch zu verbessern, sondern auch, sie auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen, ja mehr noch: Sein Vorhaben bestand letztlich darin, aus der amtlichen Statistik eine Grundlagenwissenschaft der Gesellschaft zu machen. Dieses Ziel verfolgte er mit mehreren Instrumenten, zum einen der Gründung einer wissenschaftlichen Zeitschrift, der noch heute als historische Quelle wichtigen „Zeitschrift des königlich preußischen statistischen Bureaus“.59 Zum anderen versuchte er, die Nähe seines Bureaus zur wissenschaftlichen 55 Protokoll der 2. Sitzung der statistischen Central-Commission vom 14. 3. 1863. In: Mittheilungen aus dem Gebiete der Statistik 10 (1864), 2 f. 56 Ficker, Bericht des Special-Comité’s über die Regelung der statistischen Arbeiten der Staatsbuchhaltungen und der Staatsbuchhaltungs-Rechnungs-Departements. In: Verhandlungen der K.K. Statistischen Zentralkommission 1863, Wien 1864 (= Mittheilungen aus dem Gebiete der Statistik 10 (1864)), 7 – 15, Zitat 9. 57 Vgl. Verhandlungen der K.K. Statistischen Zentralkommission 1865, Wien 1865, 44 f. 58 Vgl. ebd., 47 f. 59 Vgl. Schneider, Wissensproduktion, 70 – 81.
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Welt dadurch zu unterstreichen, dass er ein „statistisches Seminar“ einrichtete.60 Denn bis das langfristige Ziel, die Hoheit über die statistischen Erhebungen ganz in das Bureau hinein zu verlagern, erreicht sein würde, bestand ja nach wie vor das Problem, dass die Bearbeitung und Lieferung der Zahlen von unteren und mittleren Behörden durch Beamte bewerkstelligt wurde, die keine statistische Ausbildung besaßen, worunter auch die Qualität der Zählungsergebnisse litt. Diesen Missstand versuchte Engel dadurch zu beheben, dass er beim statistischen Bureau regelmäßige Kurse zu verschiedenen theoretischen und praktischen Aspekten der amtlichen Statistik abhielt. Zur Zielgruppe zählten im Wesentlichen Beamte derjenigen Behörden, die direkt mit statistischen Erfassungen befasst waren und für den Kurs in Berlin ein Jahr lang beurlaubt wurden. Aber auch nicht wenige später berühmte Nationalökonomen wie Lujo Brentano oder Georg Friedrich Knapp nahmen in ihren jungen Jahren an diesen Kursen teil. Wahrscheinlich hat sich auch deswegen in Teilen der Literatur der Eindruck festgesetzt, es habe sich um ein wissenschaftliches Seminar gehandelt. Das war nicht der Fall, auch wenn Engel diesen Eindruck aktiv zu erwecken suchte; mehr noch: Engel strebte an, diese Kurse zum Zentrum einer höheren Verwaltungsausbildung zu machen. Letztlich konnte er sich mit keinem dieser Ziele gegenüber dem Innenministerium durchsetzen. Nach seiner Entlassung 1882 wurden die recht erfolgreichen Kurse in dieser Form nicht mehr weitergeführt.61 In Wien wurde die zunächst erfolgreiche Gründung dieses preußischen „statistischen Seminars“ sehr aufmerksam beobachtet, nicht zuletzt deshalb, weil man, wie erwähnt, hier bei der Erhebung statistischer Daten vor Ort vor ganz ähnlichen Problemen stand. Und in der Tat wurde 1864 in Wien ebenfalls ein statistisches Seminar gegründet, welches gleichfalls die konkrete Aufgabe besaß, untere Verwaltungsangestellte an statistische Praktiken zu gewöhnen, um so die Resultate der Erhebungen zu verbessern. Ging es doch darum, „auch den jüngeren Beamten der Central- und Landesbehörden allmählich volle Einsicht in die Wichtigkeit der statistischen Arbeiten für die Staatsverwaltung zu verschaffen, sie mit dem Organismus und der Technik der statistischen Thätigkeit bekannt zu machen und hierdurch ihre Theilnahme an derselben und an ihren Resultaten zu wecken, zu kräftigen und möglichst fruchtbringend zu gestalten.“62 Diese Gründung geschah unter expliziter Bezugnahme auf das erfolgreiche Berliner Modell.63 Wahrscheinlich weil Ficker die enge Abstimmung mit der Centralcommission suchte und weil er nicht versuchte, die „statistisch-administrativen Vorträge“ im Sinne eines Verwissenschaftlichungs-Konzepts über Ge-
60
Vgl. zum Nachstehenden detailliert Schneider, Wissensproduktion, 131 – 156. Vgl. Schneider, Wissensproduktion, 155 f. 62 Ficker, Bericht des Special-Comitè’s über die Errichtung eines statistischen Seminars. In: Verhandlungen der K.K. Statistischen Zentralkommission 1864, Wien 1865, 58 – 61, Zitat 58. 63 Vgl. ebd., 59 f. 61
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bühr zu strapazieren, scheint dieses Programm nicht strittig gewesen zu sein und auch die Rückendeckung der Regierung gehabt zu haben.64 Allerdings bedeutete die Orientierung am preußischen Vorbild keine kritiklose Übernahme; eine gewisse „Vereinfachung des Apparates“ im Vergleich zum Berliner statistischen Seminar schien angezeigt, „weil die amtliche Statistik keineswegs Selbstzweck sein kann, sondern in erster Linie eine Dienerin der Verwaltung sein muss“ – damit hatte Ficker zugleich den neuralgischen Punkt benannt, den auch das preußische Innenministerium gegenüber den Verwissenschaftlichungsbestrebungen Engels immer wieder ins Feld führte.65 III. Konvergenz in der Bevölkerungsstatistik? Die Statistik des Standes und der Bewegung der Bevölkerung stand im 19. Jahrhundert neben der Wirtschaftsstatistik im Zentrum des Interesses der statistischen Büros und Zentralstellen nicht nur in Deutschland.66 In Preußen reichten die Bestrebungen, sowohl die Zahl der Einwohner als auch die Entwicklung der Bevölkerung zu ermitteln, weit in das 18. Jahrhundert zurück. Allerdings stützten sich die frühen Erfassungen etwa des Theologen Johann Peter Süßmilch noch auf Kirchenbücher, nicht auf systematische und flächendeckende Volkszählungen. Regelmäßigere Aufnahmen der Bevölkerung kamen erst nach der Institutionalisierung des statistischen Bureaus nach 1805/10 zustande, allerdings noch auf der Grundlage von Datenangaben der preußischen Regierungen und anderer Quellen und daher mit schwankender Verlässlichkeit und Vollständigkeit.67 Das Jahr 1834 brachte hier insofern einen Einschnitt mit sich, als der neu gegründete Deutsche Zollverein die Verteilung der Zolleinnahmen unter den Mitgliedsstaaten anhand ihrer Bevölkerungsstärke verteilte. Von nun an wurde die Bevölkerung der beteiligten Staaten alle drei Jahre erhoben.68 Auf der einen Seite begründete dies zweifellos einen Zugewinn an Professionalisie64 Vgl. Ficker: Bericht über die erneuerte Abhaltung der statistisch-administrativen Vorträge. In: Verhandlungen der K.K. Statistischen Zentralkommission 1866, Wien 1867, 38 – 40; Schimmer: Bericht über den dritten Cyclus der statistisch-administrativen Vorträge. In: Verhandlungen der K.K. Statistischen Zentralkommission 1867, Wien 1868, 23 – 25, sowie Ficker: Bericht über die Abhaltung eines vierten Cyclus statistisch-administrativer Vorträge. In: Verhandlungen der K.K. Statistischen Zentralkommission 1867, Wien 1868, 56 f. 65 Ficker: Bericht des Special-Comitè’s über die Errichtung eines statistischen Seminars. In: Verhandlungen der K.K. Statistischen Zentralkommission 1864, Wien 1865, 58 – 61, Zitat 60, sowie Schneider, Wissensproduktion, bes. 143 – 147. 66 Vgl. Robert Lee: Defining Population by Statistics c.1850 – 1939: German practice within a European Context. In: Rainer Mackensen (Hg.): Bevölkerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2006, 89 – 117. 67 Vgl. Richard Boeckh: Die geschichtliche Entwickelung der amtlichen Statistik des preußischen Staates. Im Auftrage des Directors des Kgl. Statistischen Bureaus Dr. Engel dargestellt (Eine Festgabe für den Internationalen Statistischen Congress in Berlin), Berlin 1863, 36 f. 68 Vgl. Schneider, Wissensproduktion, 216 f.
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rung und Routine bei den Erhebungen, wenngleich die Erhebungen wahrscheinlich aus verschiedenen Gründen noch nicht allzu zuverlässig waren. Auf der anderen Seite ermittelten die Zähler nicht einfach die „ortsanwesende“ (also die konkret angetroffene) Bevölkerung, und auch nicht die „rechtliche“ Bevölkerung (also die „Wohnbevölkerung“, die z. B. unter Abzug von bloß Reisenden zustande kam), sondern ein wesentlich komplizierteres Gebilde: die „Zollvereinsabrechnungsbevölkerung“, ein mit vielen immer wieder veränderten Bestimmungen über die Zählweise versehenes Konstrukt. Diese Bestimmungen „über die zu rechnenden und nicht zu rechnenden Personen [waren] äußerst verwickelt und für die mit dem Vollzuge der Zählung zu betrauenden Personen, sowie für die zu zählende Bevölkerung nahezu unverständlich“.69 Immer mehr brach sich in der Leitung der preußischen Statistik die Erkenntnis Bahn, dass diese Zählungsweise die Ergebnisse deutlich verzerrte, so dass Engel nach seinem Amtsantritt auch aus diesem Grund für eine Reform der Volkszählungsmethode eintrat. Weil er eine starke Unterschätzung der preußischen Bevölkerungszahl aufgrund der hergebrachten Zählweise vermutete, begründete Engel seine Vorstöße in Richtung einer Modernisierung der Zählweise auch mit der Erwartung erheblicher Mehreinnahmen.70 So gesehen, hatte sich mit der komplizierten „Zollvereinsabrechnungsbevölkerung“ ein Reformdruck aufgestaut, der die preußische Statistik zu einer Modernisierung der Volkszählungen zwang. Da Österreich dem Zollverein nicht angehörte, fehlte hier ein entsprechender Reformdruck. In der Donaumonarchie gab es aber, ähnlich wie in Preußen, weit ins 18. Jahrhundert zurückreichende Versuche, die Bevölkerung zu zählen. Bereits 1754 wurde eine groß angelegte Volkszählung in ganz Österreich durchgeführt.71 Diese erste systematische Volkszählung war integraler Bestandteil einer gleichzeitig in Gang gesetzten merkantilistischen Wirtschaftspolitik, bei der die Bevölkerungszahl als wichtiger Gradmesser der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eines Landes diente.72 Bemerkenswert ist schon bei der Volkszählung von 1754, dass hier durch eine doppelte Zählung „durch weltliche und kirchliche Behörden“ die Zählungsergebnisse einer gewissen Kontrolle unterlagen73 – dieses Vorgehen deutet auf ein in Preußen erst deutlich später entstehendes methodisches Bewusstsein hin. Der anfängliche Schwung erlahmte dann allerdings rasch, und bald prägte das Militär mit seinen spezifischen Interessen die Volkszählungen. Dieses Interesse richtete sich nunmehr in erster Linie 69 Bericht der „Kommission zur weiteren Ausbildung der Statistik des Zollvereins in Betreff der Volkszählung“, o. D. In: GStA PK, HA I, Rep. 76, II, Sekt. 1b, Nr. 198, Bl. 175 (= 5 des Berichts). 70 Vgl. Schneider, Wissensproduktion, 217 – 239. 71 Vgl. Wolfgang Pircher: Von der Population zum Volk. Biopolitik und Volkszählung in Österreich. In: Martin Stingelin (Hg.): Biopolitik und Rassismus, Frankfurt am Main 2003, 80 – 111, hier 88 – 90. 72 Vgl. Durdik, Bevölkerungs- und Sozialstatistik, 226. Zum Merkantilismus vgl. Fritz Blaich: „Merkantilismus“. In: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Stuttgart u. a. 1980, Bd. 5, 240 – 251. 73 Durdik, Bevölkerungs- und Sozialstatistik, 227.
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auf die erwachsene männliche Bevölkerung, die wesentlich genauer als z. B. die weibliche Bevölkerung erhoben wurde. In den Jahrzehnten danach wurden immer wieder Volkszählungen durchgeführt, bis 1827 sogar jährlich, danach „in Abständen von drei Jahren“, wobei sich das Zentralinteresse der Erhebung allerdings auf die Erfassung der Rekruten richtete.74 Das bedeute, dass nicht in das militärische Interesse fallende Bevölkerungsgruppen (z. B. Frauen oder Ausländer) nur grob erfasst wurden.75 Seit den 1840er Jahren konnten einzelne Statistiker auf die bereits seit Ende der 1820er Jahre produzierten, aber noch weitgehend geheim gehaltenen Daten zur Bevölkerungsstatistik zurückgreifen und daher Werke veröffentlichen, die ein immer differenzierteres Bild der österreichischen Bevölkerungsentwicklung boten und insbesondere die zuvor übliche beschreibende Landeskunde allmählich zurückdrängten.76 Erst 1857 fand eine die ganze Monarchie umfassende Volkszählung auf der Grundlage eines eigenen Gesetzes statt. Allerdings war auch diese Volkszählung in methodischer und inhaltlicher Hinsicht noch defizitär – so wurde etwa nur die einheimische, nicht die gesamte ortsanwesende Bevölkerung gezählt, und auch die Unterscheidung der Bevölkerung nach Alter und Berufsklassen war noch wenig detailliert.77 Mitte der 1860er Jahre wurde innerhalb der statistischen Zentralkommission angesichts einer erneut anstehenden großen Volkszählung über verschiedene Fragen von Anlage und Durchführung der Zählung diskutiert. Dabei spielte auch die Frage eine Rolle, ob nicht zu viele Erhebungsmerkmale (wie Alter, Beruf etc.) bei der Volkszählung die Genauigkeit der Zählung beeinträchtigen könnten – andererseits sahen die Teilnehmer auch, dass es gerade jene Zusatzangaben waren, die einer Erhebung über die reine Bevölkerungszahl hinaus erst Aussagekraft verliehen.78 Von besonderem Interesse schien beispielsweise die Feststellung von Gebrechen wie Blindheit oder Taubheit, die Erfassung von zusammen bzw. getrennt lebenden Verheirateten sowie eine detailliertere Differenzierung der Altersklassen.79 Wichtig schien zudem die „Angabe über die Sprache, welche gewöhnlich in der Familie gesprochen wird, einer Angabe, der auch alle etwaigen Bedenken gegen Recherchen über die Nationalität nicht im Wege stehen.“80 Allerdings riet das mit dieser Frage befasste Spezialkomitee dazu, ungeachtet aller prinzipiellen Würdigung dieses 74 Kurt Klein: Die Bevölkerung Österreichs vom Beginn des 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. In: Heimold Helczmanovszki (Hg.): Beiträge zur Bevölkerungs- und Sozialgeschichte Österreichs, München 1973, 47 – 112, Zitat 98. 75 Vgl. Durdik, Bevölkerungs- und Sozialstatistik, 228. 76 Vgl. Durdik, Bevölkerungs- und Sozialstatistik, 237 f. 77 Vgl. Durdik, Bevölkerungs- und Sozialstatistik, 240 f. 78 Vgl. Verhandlungen der K.K. Statistischen Zentralkommission 1865, Wien 1865, 40 f. 79 Vgl. Verhandlungen der K.K. Statistischen Zentralkommission 1865, Wien 1865, 42. 80 Vgl. Verhandlungen der K.K. Statistischen Zentralkommission 1865, Wien 1865, 43. Vgl. zur preußischen Sprachen- und Nationalitätenstatistik, die hier nicht näher behandelt werden kann, Schneider, Wissensproduktion, 303 – 342.
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Punktes, für die anstehende Zählung 1867 noch auf diese Frage zu verzichten, da die Antwort „von dem subjectiven Standpuncte des Zählenden und des Gezählten nur allzu leicht beirrt werden kann“. Welche Spannungen das Spezialkomitee hier im Blick hatte, ist indes nicht deutlich, und auch nicht, welche Umstände in näherer Zukunft eine Entspannung bei ethnischen Differenzen erwarten ließen.81 Schließlich bestand in den Augen der statistischen Zentralkommission ein großes Defizit noch darin, dass bei der Zählung von 1857 nur die „einheimische“ (d. h. die ,Wohnbevölkerung‘), nicht aber die „factische“ Bevölkerung (d. h. die ,ortsanwesende Bevölkerung‘) gezählt wurde, so dass nur ein unzureichendes Bild der tatsächlichen Bevölkerung, die für wirtschaftspolitische Aspekte relevant war, zustande kam. Auch die Erfahrungen anderer Staaten bei der Organisation einer Volkszählung spielten eine wichtige Rolle bei den Überlegungen, wie künftige Zählungen in Österreich zu organisieren seien.82 Österreich war dabei offenkundig stark daran interessiert, angesichts einer zunehmend engeren Verknüpfung des internationalen Handels, das „Streben nach Erlangung einer in der That vergleichbaren Statistik“ zu unterstützen.83 Die amtlichen Statistiker Österreichs zielten dabei nicht nur in Richtung einer „Verähnlichung der Volkszählungs-Modalitäten“ in internationaler Perspektive, sondern mehr noch: Auch die „nationale“ Vereinheitlichung, womit die Vereinheitlichung mit den Methoden der amtlichen Statistik der deutschen Staaten gemeint war, schien Mitte der 1860er Jahre in greifbare Nähe gerückt zu sein. Aus der Perspektive der österreichischen Zentralkommission waren es eher Preußen und Mecklenburg, die sich gegen eine solche Vereinheitlichung sperrten.84 Die weiteren Entwicklungen des Jahres 1866 verschlossen diese Perspektive dann allerdings sehr rasch. Ein weiteres Gesetz von 1869 legte einen zehnjährlichen Rhythmus mit einem festen Stichtag für die weiteren Volkszählungen fest. Im Unterschied zu Preußen behielt Österreich aber zunächst eine dezentrale Aufbereitung der Daten bei; d. h. das Urmaterial wurde nach wie vor von den Unterbehörden, nicht von der statistischen Zentralkommission oder dem ihr unterstellten Büro bearbeitet85 – vermutlich mit der Folge uneinheitlicher Bearbeitungsschritte, wie sie in Preußen vor der Einführung der „centralisirten Methode“ ebenfalls allgegenwärtig waren.86 Österreich ging erst 1890 zur Zentralisierung bei der Bearbeitung des Urmaterials über, dann aber noch vor Preußen unter Rückgriff auf die modernsten technischen Möglichkeiten
81
Vgl. Verhandlungen der K.K. Statistischen Zentralkommission 1865, Wien 1865, 54 f. Vgl. Verhandlungen der K.K. Statistischen Zentralkommission 1865, Wien 1865, 40 f. 83 Vgl. Verhandlungen der K.K. Statistischen Zentralkommission 1865, Wien 1865, 41 (Hervorhebung i. O.). 84 Vgl. Verhandlungen der K.K. Statistischen Zentralkommission 1865, Wien 1865, 41. 85 Vgl. Durdik, Bevölkerungs- und Sozialstatistik, 241. 86 Vgl. zur Durchsetzung der „centralisirten Methode“ in Preußen Schneider, Wissensproduktion, 254 – 259. 82
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der Zeit, das Hollerith-Maschinensystem, das eine wesentlich schnellere und effizientere Auszählung individueller Zählkarten erlaubte.87 Fragt man in diesem Zusammenhang nochmals nach dem Einfluss des Internationalen Statistischen Kongresses, der sich auch immer wieder mit der Methodik der Volkszählungen befasste, dann wird aus den österreichischen Quellen deutlich, dass manche Vorschläge zwar aufgegriffen wurden. Insgesamt stellt sich aber der Eindruck ein, dass eher solche Vorschläge angenommen wurden, die ohne größere Umstände umsetzbar erschienen, und diejenigen nicht, bei deren Umsetzung Schwierigkeiten zu erwarten waren. Sehr deutlich kritisierte zum Beispiel das österreichische Kriegsministerium im Rahmen der statistischen Zentralkommission das Ansinnen des Statistischen Kongresses in Berlin 1863, die Rekrutierungsstatistik für das Militär auch dazu zu verwenden, den Gesundheitszustand der Bevölkerung besser zu erfassen. Hierzu wären derart detaillierte Auskünfte nötig geworden, dass diese das Rekrutierungsgeschäft selbst zu gefährden drohten. Zudem scheine, so das Kriegsministerium, dem Berliner Kongress eher ein Militär preußischen Musters vorgeschwebt zu sein, während die österreichische Militärbürokratie zu einer Bearbeitung der Fragen kaum in der Lage sei.88 Ebenso wurden verschiedene Forderungen des Internationalen Statistischen Kongresses des Jahres 1867 in Österreich nur dann aufgegriffen, wenn sie mit bereits getroffenen österreichischen Entscheidungen nicht kollidierten. Bei den Empfehlungen zur Volkszählung beispielsweise wurden manche Forderungen, wie die nach der Erhebung des Geburtsortes, als ohnehin schon lange erfüllt betont, während die statistische Zentralkommission dort auf eine Umsetzung verzichtete, wo die Forderungen des Kongresses eine zu weitgehende Detailgenauigkeit verlangten, wie z. B. bei der Ermittlung der exakten Dauer der Abwesenheit einzelner Personen vom Ort der Zählung.89 Auch in späteren Jahren wurden sowohl die Anregungen, die die Internationalen Statistischen Kongresse gaben, als auch die Praktiken verschiedener Staaten intensiv diskutiert und auf ihre Eignung zu einer Übernahme z. B. in die österreichische Volkszählung geprüft, immer jedoch auf die Eignung solcher Vorschläge für die
87 Durdik, Bevölkerungs- und Sozialstatistik, 242 f. Vgl. zur Geschichte der HollerithMaschinen noch Hartmut Petzold: Rechnende Maschinen. Eine historische Untersuchung ihrer Herstellung und Anwendung vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik, Düsseldorf 1985, 195 – 290. Vgl. auch die skeptischen Bemerkungen Hans von Scheels, des Präsidenten des Kaiserlichen Statistischen Amtes, zur Anwendung elektrotechnischer Rechenmaschinen. In: Ders., Die Berufsstatistik von Oesterreich und Ungarn. In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, dritte Folge, Bd. 9 (1895), 426 – 435, hier 435. 88 Verhandlungen der K.K. Statistischen Zentralkommission 1864, Wien 1865, 21. 89 Vgl. Verhandlungen der K.K. Statistischen Zentralkommission 1867, Wien 1868, 94 f. Diese kritischen Passagen zeigen übrigens auch sehr deutlich, wie vorsichtig man bei der Benutzung der offiziellen Festschriften sein muss: Denn etwa die Festschrift zur österreichischen Statistik von 1913 betont, wie intensiv die österreichische Statistik die Forderungen des Berliner Kongresses aufgegriffen habe, vgl. Denkschrift der K.K. Statistischen Zentralkommission zur Feier ihres fünfzigjährigen Bestandes, Wien 1913, 76.
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spezifisch österreichischen Verhältnisse geachtet.90 Abschließend verdient noch ein wichtiger Aspekt der Bevölkerungsstatistik besondere Aufmerksamkeit: Zu den traditionell wichtigen Feldern der Bevölkerungsstatistik, die sowohl in Preußen als auch in Österreich seit Anfang des 19. Jahrhunderts eine Rolle spielten, zählte der „Beruf“ einer Person. Freilich bildete sich in beiden Staaten Klarheit über die nötigen Erfassungsprinzipien und den Zweck einer Berufsstatistik erst allmählich heraus – beispielsweise musste erst entschieden werden, in welchem Verhältnis Berufsstatistik und Industriestatistik zueinander stehen sollten; nicht zuletzt auf der Grundlage von Ernst Engels Überlegungen differenzierte sich die Berufsstatistik als Teil der Bevölkerungsstatistik heraus, während sie von der Aufgabe entlastet wurde, zugleich als Grundlage für eine Industriestatistik zu dienen.91 Im preußischen Fall gab es seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts zwei Wege, die berufliche Tätigkeit der Bevölkerung zu ermitteln: Zum einen wurde fallweise im Rahmen der Volkszählungen nach dem Beruf gefragt.92 Zum anderen nahm der preußische Staat auch schon in der ersten Jahrhunderthälfte regelmäßig Gewerbezählungen vor, die indes unter zahlreichen konzeptionellen Problemen litten, welche den zeitgenössischen Statistikern vermutlich nicht einmal bewusst waren. Insbesondere unterschied die preußische Gewerbestatistik nicht zwischen einer auf die Betriebsstätten bezogenen Betriebszählung und einer auf die Personen bezogenen Berufszählung, so dass wahrscheinlich viele Doppelzählungen die Ergebnisse verfälschten.93 Eine regelrechte Berufsstatistik kam erst 1882 zustande (nachdem schon 1875 im Rahmen der Volkszählung nach den Berufen gefragt worden war, diese Daten allerdings nicht ausgewertet worden waren),94 und zwar nicht mehr auf Initiative Preußens, sondern des Reiches im Zusammenhang mit der Bismarckschen Sozialversicherungspolitik. Die in den Jahren 1882, 1895 und 1907 durchgeführten umfassenden Berufszählungen stützten sich auf die Zuarbeiten der statistischen Ämter der Einzelstaaten und wurden in Konzeption, Zuschnitt und Durchführung in enger Koordination zwischen Einzelstaaten und Reich, vertreten durch das Kaiserliche Statistische Amt, durchgeführt.95 Das preußische statistische Bureau verfügte daher nicht mehr über eine der Zeit vor der Reichsgründung vergleichbare Hoheit über 90 Vgl. Adolf Ficker: Ein weiterer Beitrag zur Organisirung der nächsten Volkszählung in Oesterreich. In: Bureau der K.K. Statistischen Central-Commission (Hg.): Statistische Monatsschrift 4 (1878), 253 – 264, hier 257. 91 Vgl. Schneider, Wissensproduktion, 347. 92 Vgl. Schneider, Wissensproduktion, 234. 93 Vgl. dazu jetzt umfassend Hoffmann, Bild, 169 – 230 und passim. 94 Vgl. Schneider, Wissensproduktion, 349. 95 Verbunden mit den Berufszählungen waren auch Betriebsstättenzählungen, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann, vgl. dazu J. Adam Tooze: Statistics and the German State, 1900 – 1945. The Making of Modern Economic Knowledge, Cambridge 2001, 40 – 75 sowie Reinhard Stockmann/Angelika Willms-Hergeta: Erwerbsstatistik in Deutschland. Die Berufs- und Arbeitsstättenzählungen seit 1875 als Datenbasis der Sozialstrukturanalyse, Frankfurt/New York 1985.
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die Erhebung. Betrachtet man alle drei Zählungen, dann sind insbesondere die in den Debatten der Reichs- und Landesstatistiker sichtbaren Lernprozesse hervorzuheben. Beispielsweise erkannten die Statistiker erst allmählich die wichtige Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenberuf: In einer Zeit des Übergangs von einer Agrar- zu einer Industriegesellschaft waren viele Beschäftigte noch in beiden Sektoren tätig, so dass eine der Realität angemessene Erfassung diesen Umstand zu berücksichtigen hatte.96 Österreichische Statistiker betrachteten diese Entwicklung in Deutschland sehr genau.97 Zwar hatte sich die österreichische Statistik schon seit dem späten 18. Jahrhundert auch für die berufliche Zusammensetzung der Bevölkerung interessiert, wenngleich aus einem Grund, der nicht direkt aus einem Interesse für die Wirtschaftsentwicklung motiviert war: Hier speiste sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, wie oben erwähnt, das Interesse an einer statistischen Erfassung der Berufe aus der Frage nach der Verwendbarkeit der (männlichen) Bevölkerung für das Militär.98 Darüber darf auch die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgenommene Erhebung verschiedener Berufsstände wie „Geistliche“, „Bürger, Gewerbeinhaber und Künstler“ u. a. nicht hinwegtäuschen: Auch diese Klassifizierung diente in erster Linie dazu, den Kreis der für den Militärdienst infrage Kommenden genauer einzugrenzen, und nicht dazu, die berufliche Zusammensetzung der Bevölkerung zu erfassen. Mehr noch: Dass eine konzeptionelle Trennung zwischen „Stand“ und „Beruf“ in der ersten Jahrhunderthälfte nicht bestand, erschwerte ebenfalls die Herausbildung einer Berufsstatistik im Sinne einer Statistik der zu Erwerbszwecken ausgeübten Tätigkeiten.99 Etwas später als in Preußen professionalisierte sich in ähnlicher Weise wie in Preußen die Berufsstatistik auch in Österreich. Hier fand die erste umfassende Berufserhebung 1890 statt, die sich durch verschiedene wichtige Innovationen auszeichnete. Im Vergleich zu den zuvor bereits 1857, 1869 und 1880 stattgefundenen Zählungen fand nun erstens eine deutliche Ausweitung der Berufskategorien statt: Insgesamt 173 „Hauptberufsarten“ wurden nun erfasst (gegenüber nur 28 Berufen noch 1880)100 – eine ähnliche Größenordnung wie im Deutschen Reich, wo es 1882 153 Berufsarten waren.101 Zweitens wurde die Berufszählung in Österreich 1890 zentralisiert vorgenommen. Das war zwar ein Unterschied zum Deutschen Reich, bei dem die Erhebungsarbeit selbst vom Kaiserlichen Statistischen Amt an die statistischen Bureaus, Zentralstellen etc. der Einzelstaaten delegiert worden 96 Auf die komplizierten Einzelfragen kann hier nicht eingegangen werden; vgl. dazu Schneider, Wissensproduktion, 351 – 421, sowie partiell auch Hoffmann, Bild, 246 – 285. 97 Vgl. die eingehende Publikation des österreichischen Statistikers Heinrich Rauchberg: Die deutsche Berufs- und Betriebszählung vom 5. Juni 1882. In: Statistische Monatsschrift 14 (1888), 569 – 603. 98 Vgl. Durdik, Bevölkerungs- und Sozialstatistik, 245 – 251. 99 Vgl. Durdik, Bevölkerungs- und Sozialstatistik, 245 f. 100 Vgl. Durdik, Bevölkerungs- und Sozialstatistik, 250. 101 Vgl. Schneider, Wissensproduktion, 405.
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war. Aber anders als in Österreich konnte sich das Kaiserliche Statistische Amt eben auch auf ein leistungsfähiges statistisches System dieser Einzelstaaten stützen, was in Österreich so nicht der Fall war. Freilich bedingte die hier wirksame föderale Struktur des Deutschen Reiches auch, dass es wahrscheinlich manche Unterschiede in den Erhebungstechniken und der Auswertung der Ergebnisse zwischen den Einzelstaaten gab – ob es vergleichbare Unterschiede in den Teilgebieten der Donaumonarchie (abgesehen von größeren methodischen Unterschieden zwischen dem österreichischen und dem ungarischen Teil der Doppelmonarchie)102 gab, bedarf noch der Untersuchung, ist aber wahrscheinlich.103 Und drittens berücksichtigte Österreich schon 1890 die zentrale Unterscheidung von „Hauptberuf“ und „Nebenberuf“, ohne die ein realistisches Bild der Erwerbsverhältnisse nicht in Aussicht stand, gerade auch vor dem Hintergrund der vielen Industriearbeiter, die partiell auch in der Landwirtschaft arbeiteten – dies hatte die deutsche Statistik, wie erwähnt, erst spät erkannt und konzeptionell umgesetzt.104 Auch in den Jahren 1900 und 1910 wurden in Österreich, im Unterschied zum Deutschen Reich in Verbindung mit den jeweiligen Volkszählungen dieser Jahre, Berufszählungen abgehalten.105 Fragt man danach, inwieweit sich die beiden statistischen Systeme bei ihren Berufszählungen beobachteten und inwieweit sie voneinander lernten, so wird schnell deutlich, dass zumindest die wechselseitige Beobachtung intensiv war: So untersuchte der österreichische Statistiker Heinrich Rauchberg, der für die Vorbereitung der Berufszählung zuständig war, intensiv die deutschen Erfahrungen bei der Organisation der ersten Berufs- und Betriebszählung des Jahres 1882.106 Umgekehrt ging der Präsident des Kaiserlichen Statistischen Amtes detailliert auf die Vorzüge und Nachteile der spezifischen Organisation der österreichischen und der ungarischen Berufszählung des Jahres 1890 ein. Bei aller ausgedrückten Wertschätzung insbesondere der ungarischen Methodik zweifelte er jedoch daran, inwieweit die dort angewandten und sinnvollen methodischen Verfahren auf die deutschen Verhältnisse anwendbar seien. Mehr als skeptisch zeigte er sich gegenüber der Anwendung elektromechanischer Zählmaschinen, die nun zwar leicht die entlegensten Merkmalskombinationen auszählen ließen. Aber das Verständnis für statistisch relevante Sachverhalte trete damit, so Scheels Befürchtung, in den Hintergrund.107 Ob aus dieser genauen wechselseitigen Beobachtung auch eine wechselseitige Einflussnahme
102 Vgl. Hans von Scheel: Die Berufsstatistik von Oesterreich und Ungarn. In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, dritte Folge, Bd. 9 (1895), 426 – 435. 103 Vgl. Durdik, Bevölkerungs- und Sozialstatistik, 249. 104 Vgl. Durdik, Bevölkerungs- und Sozialstatistik, 250; Schneider, Wissensproduktion, Kap. 4.3. 105 Vgl. Durdik, Bevölkerungs- und Sozialstatistik, 250. 106 Vgl. Heinrich Rauchberg: Die deutsche Berufs- und Betriebszählung vom 5. Juni 1882. In: Statistische Monatsschrift 14 (1888), 569 – 603. 107 Vgl. Hans von Scheel: Die Berufsstatistik von Oesterreich und Ungarn. In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, dritte Folge, Bd. 9 (1895), 426 – 435, hier 435.
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resultierte, lässt sich für den preußischen Fall verneinen und bleibt für Österreich noch zu untersuchen. IV. Schluss Preußen verfügte seit Anfang des 19. Jahrhunderts über ein zunehmend besser funktionierendes statistisches System, Österreich zog seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nach. Die statistischen Apparate beider Staaten wurden in einer Zeit ausgebaut, die der statistischen Erfassung der Bevölkerung in all ihren Facetten erhebliche Erklärungskraft in Bezug auf die (vermuteten) Gesetze menschlicher Gesellschaften zutrauten. Zugleich war dieser „statistische Enthusiasmus“ ein gesamteuropäisches Phänomen, das auch in andere Weltteile ausstrahlte und in den „Internationalen Statistischen Kongressen“ seit Mitte des 19. Jahrhunderts auch einen organisatorischen Niederschlag fand. Vor diesem Hintergrund fragte der Beitrag nach Ähnlichkeiten und Unterschieden der preußischen und österreichischen amtlichen Statistik sowie danach, inwiefern wichtige Charakteristika auf internationalen Einfluss, auf wechselseitige Beobachtung oder eher auf spezifisch preußische oder österreichische Bedingungen zurückzuführen waren. Letztlich finden sich alle diese Elemente: Ein von den Generalkonferenzen des Zollvereins ausgeübter überstaatlicher Druck, der auf eine gewisse Vereinheitlichung der Erhebungen zielte, war bereits seit den 1830er Jahren in Preußen zu spüren. Allerdings widersetzte sich noch bis Ende der 1850er Jahre die preußische amtliche Statistik mit wechselndem Erfolg sowohl diesen wie auch internationalen Vereinheitlichungsbestrebungen, die seit 1853 auch von den seither regelmäßig tagenden Internationalen Statistischen Kongressen ausgeübt wurden. Nachdem Österreich dem Zollverein nicht angehörte, fehlte zwar dieser Druck – damit aber auch ein Beweggrund, die eigene amtliche Statistik den zeitgenössischen Standards anzugleichen. Österreich griff später jedoch andere Anregungen, die von den Internationalen Statistischen Kongressen formuliert wurden, rasch auf, insbesondere mit der Einrichtung einer „statistischen Zentralkommission“, die bald zum Entscheidungszentrum der österreichischen Statistik wurde. Auch Preußen richtete Anfang der 1860er Jahre eine solche Zentralkommission ein; allerdings spielten hier innerpreußische Gründe eine mindestens ebenso wichtige Rolle wie das Bestreben, den internationalen Standards gerecht zu werden. Besonders im österreichischen Fall wird deutlich, dass Forderungen eines internationalen Gremiums dann aufgegriffen wurden, wenn sie mit den österreichischen Gegebenheiten nicht kollidierten, aber in anderen Fällen auch abgelehnt wurden, wenn dies zu große Anpassungsanstrengungen erfordert hätte. Andererseits ist gerade auf dem Feld der Berufsstatistik, die sich zuerst im Deutschen Reich, dann in Österreich-Ungarn im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts professionalisierte, eine genaue wechselseitige Beobachtung festzustellen, so dass es wahrscheinlich ist, das zumindest die zeitlich später einsetzende österreichische Berufsstatistik von den reichsdeutschen Erfahrungen gelernt hat. Insgesamt darf man daher die Adaption internationaler Empfehlungen wie auch die Rezeption der Erfahrungen anderer Staaten nicht als maßstabsgetreue
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Übernahmen verstehen, sondern als modifizierende Anverwandlungen an die jeweiligen spezifischen einzelstaatlichen Gegebenheiten.108
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Vgl. in globalhistorischer Perspektive Osterhammel, Verwandlung, 1147 – 1151.
Eine zweite Chance des Konstitutionalismus von 1848. Die Regierungen Auerswald und Schmerling im Vergleich Von Frank Möller, Greifswald Im Juni 1848, während der Revolution und letztlich auch durch die Revolution, wurden in Deutschland zwei neue, liberale Regierungen eingesetzt.1 Zum einen bildete sich in Frankfurt am Main die erste Reichsregierung der neuen provisorischen Zentralgewalt unter dem Ministerpräsidenten Karl von Leiningen. Die wirkliche Macht dieser Regierung lag bei dem Reichsinnenminister Anton von Schmerling, einem Österreicher, der nach dem Rücktritt Leiningens konsequenterweise im September 1848 selbst Ministerpräsident wurde. Zum anderen wurde in diesem Monat auch in Preußen eine neue Regierung eingesetzt, die sogenannte „Regierung der Tat“ unter dem Ministerpräsidenten Rudolf von Auerswald. Beide Regierungen endeten noch im gleichen Jahr. Schmerling musste zurücktreten, nachdem sein pro-österreichischer Kurs in der Nationalversammlung keine Mehrheit mehr fand, Auerswald scheiterte, weil seine Regierung sowohl die Unterstützung der preußischen Nationalversammlung verlor, als auch dem Kampfkurs des preußischen Königs gegen das Parlament im Weg stand. Zehn Jahre später jedoch sollten beide Politiker wieder an der Regierung sein und zwar mit dem Auftrag, das Jahrzehnt der Reaktion zu beenden. 1858 wurde Auerswald der „faktische“ Ministerpräsident der Regierung der sogenannten „Neuen Ära“ in Preußen, 1860 wurde Schmerling zum Staatsminister in Österreich ernannt.2 Die Rückkehr dieser altliberalen Politiker an die Macht – ähnliches vollzog sich übrigens auch in Baden – kann als eine zweite Chance des liberal-konstitutionellen Weges von 1848 gedeutet werden. Ein Vergleich dieser beiden Regierungen kann daher helfen, die Wege Preußens und Österreichs zu Verfassungsstaaten schärfer und in ihren Besonderheiten zu erfassen. Zudem werden die Möglichkeiten und Grenzen des Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert erkennbar. 1
Ich danke Lothar Höbelt für eine kritische Kommentierung dieses Beitrags. Beide Politiker übernahmen nicht offiziell die Regierungsspitze. Die preußische Regierung wurde von Karl-Anton von Hohenzollern-Sigmaringen als Ministerpräsident geführt, in Österreich war von 1861 – 1865 formal Erzherzog Rainer Regierungschef. Da jedoch Auerswald und Schmerling die entscheidenden Persönlichkeiten dieser Regierungen waren, wird im Folgenden im übertragenen Sinne von „ihren“ Regierungen gesprochen. 2
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Erstaunlicherweise wurde bisher ein solcher Vergleich nicht versucht. Möglicherweise liegt der Grund hierfür in der entscheidenden Einschränkung dieses Vergleichs: Auerswald und Schmerling regierten nicht zeitgleich, sondern fast nacheinander. Zudem haben nur wenige Historiker einen gleichwertigen Blick auf Preußen und Österreich.3 Der folgende Beitrag stützt sich auf edierte Quellen und Literatur. Zu den beiden zentralen Politikern gibt es keine neuere wissenschaftliche Biographie. Allerdings gibt es zu den Regierungen der Neuen Ära und Österreichs nach dem Oktoberdiplom wichtige Editionen.4 Insgesamt ist die Literaturlage zu Preußen jedoch weitaus umfangreicher als zu Österreich.5 Im Folgenden werden zuerst die beiden Hauptpersonen und ihr politischer Hintergrund betrachtet, um die konstitutionellen Vorstellungen beider Politiker zu verstehen. Danach werden die Gründe für den Regierungsantritt beschrieben, um darauf das konstitutionelle Programm ihrer Regierungszeit vorzustellen. Schließlich sollen die Probleme und das Scheitern beider Politiker analysiert werden. I. Persönlicher und politischer Hintergrund 1848 Der Preuße Rudolf von Auerswald wurde 1795 als Spross eines alten Adelsgeschlechts geboren. Da sein Vater Oberpräsident von Ostpreußen war, verlebte er seine Jugend dort. Schon in seiner Kindheit kam es zur persönlichen Freundschaft mit dem späteren König Wilhelm I., da die königliche Familie nach der Niederlage gegen Napoleon einige Zeit in Königsberg verbrachte. Nach seinem Militärdienst wurde Auerswald in Ostpreußen Landrat, dann Oberbürgermeister von Königsberg. Als Mitglied der Ritterschaft und stellvertretender Landtagsmarschall im Provinziallandtag der Provinz Preußen trat Auerswald erstmals politisch hervor. Er gehörte zu denen, die 1840 bei dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. während des Huldigungslandtages den neuen König an das Verfassungsversprechen von 1815 erinnerten und um eine Verfassung für Preußen baten. Auerswald wird deswegen zu den be-
3 Mit einem Schwerpunkt im südwestdeutschen Liberalismus und Konstitutionalismus blicke ich zumindest mit Äquidistanz auf Preußen und Österreich. 4 Zu Preußen: Rainer Paetau/Jürgen Kocka: Die Protokolle des preußischen Staatsministeriums. Bd. 5: 10. November 1858 bis 28. Dezember 1866. Hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Acta Borussica / neue Folge ; Reihe 1). Hildesheim [u. a.] 2001. Zu Österreich: Thomas Kletecka/Klaus Koch (Hgg.): Die Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848 – 1867. Abt. 5: Die Ministerien Erzherzog Rainer und Mensdorff. 7 Bde. Wien 1992; Heinrich von Srbik (Hg.): Quellen zur deutschen Politik Österreichs 1850 – 1866. Bd. 3: Januar 1863 bis März 1864. Berlin 1936. Zudem sind Schmerlings Erinnerungen ediert: Anton von Schmerling: Österreichs Weg zur konstitutionellen Monarchie. Aus der Sicht des Staatsministers Anton von Schmerling. Hg. v. Lothar Höbelt, (Rechts- und sozialwissenschaftliche Reihe; 9). Frankfurt am Main [u. a.] 1994. 5 Grundlegend Helmut Rumpler/Peter Urbanitsch (Hgg.): Die Habsburger Monarchie 1818 – 1918, bisher 9 Bde. 1973 – 2010.
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deutenden Vertretern des ostpreußischen Liberalismus gezählt. 1842 wurde er Regierungspräsident von Trier.6 Mit Beginn der Revolution von 1848 wurde Rudolf von Auerswald zum Oberpräsidenten von Ostpreußen ernannt. Nach dem Rücktritt des liberalen Ministerpräsidenten Camphausen übernahm Auerswald am 25. Juni 1848 den Posten des Ministerpräsidenten und des Außenministers in der neuen Regierung, die maßgeblich von dem rheinischen Liberalen David Hansemann beeinflusst wurde. Sich selbst als „Regierung der Tat“ stilisierend, legte die Regierung Auerswald einen Verfassungsentwurf vor, der an der belgischen Verfassung orientiert war, die als die liberalste ihrer Zeit galt. Von der eher demokratisch orientierten Nationalversammlung wurde dieser Entwurf jedoch nicht akzeptiert und ein eigener Verfassungsausschuss eingesetzt. Zwischen dem König, der zunehmend auf die Gegenrevolution setzte, und einem Parlament, das demokratische und parlamentarische Lösungen forderte, war die Regierung Auerswald-Hansemann immer deutlicher isoliert. Als am 7. September 1848 die preußische Nationalversammlung erneut die aktive Bekämpfung reaktionärer Elemente im Militär forderte, trat die Regierung Auerswald-Hansemann zum 21. September 1848 zurück, da sie den Beschluss als Misstrauensantrag begriff. Sie scheiterte letztlich an ihrer konstitutionellen Stellung zwischen demokratischem Parlament und konterrevolutionärem Monarchen. Wie es sein Kollege Hansemann ganz treffend formulierte: „Ein Ministerium, das auf der einen Seite der parlamentarischen Stütze entbehrt und auf der anderen als revolutionär angeschwärzt wird, hat nicht die […] erforderliche Autorität.“7 Der Österreicher Anton von Schmerling,8 deutlich später, nämlich 1805 geboren, gehörte ebenfalls einer alten Adelsfamilie an, allerdings war hier juristische Bildung und Tätigkeit vorherrschend.9 Auch Schmerling studierte Jura und arbeitete seit 1829 bei verschiedenen Gerichten. 1846 wurde er Appellationsrat beim Obersten Appellationsgericht in Wien. Im niederösterreichischen Landtag wurde er 1847 Vertreter der Ritterschaft und Mitglied der liberalen Oppositionsgruppe. Er gehörte der Deputation an, die am 13. März 1848 am Wiener Hof die Forderungen der Märzrevolution
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Heinz Gollwitzer: „Auerswald, Rudolf Ludwig Cäsar“. In: Neue Deutsche Biographie 1 (1953), 439 – 440 [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd116377674. html; R. von Bardeleben: „Auerswald, Rudolf von“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 1 (1875), S. 651 – 654; URL: http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/bsb00008359/images/in dex.html?id=00008359&fip=xsxssdasxseayaxdsydsdaseayafsdrfsdr&no=5&seite=667. 7 David Hansemann: Das preußische und deutsche Verfassungswerk. Mit Rücksicht auf mein politisches Wirken. Berlin 1850, 121 f. 8 Helmut Rumpler: „Schmerling, Anton Ritter von“. In: Neue Deutsche Biographie 23 (2007), 132 – 134 [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd119233460. html; Franz Ilwof: „Schmerling, Anton von“. In: ADB 54 (1908), 56 – 72; ]; URL: https:// www.deutsche-biographie.de/gnd119233460.html#adbcontent; Paul Molisch: Anton von Schmerling und der Liberalismus in Österreich. Brünn/München/Wien 1944. 9 Sein Vater war Appellationsgerichtsrat bei den niederösterreichischen Landständen, sein Großvater mütterlicherseits Rechtsprofessor an der Universität Wien.
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unterbreitete.10 Sein Bemühen war, die Reformpolitik auf einem gesetzlichen Weg zu gestalten, um eine Radikalisierung der Revolution zu verhindern.11 Als Vertreter der österreichischen Regierung wurde er Gesandter und damit Vorsitzender des Bundestages, seit Mai 1848 war er gewählter Abgeordneter der deutschen Nationalversammlung in Frankfurt. Als Mitglied der stärksten Fraktion, des Casino, wurde er am 15. Juli 1848 zum Innenminister der neuen Reichsregierung unter Karl von Leiningen ernannt. Mit dem von der Nationalversammlung abgelehnten Waffenstillstand von Malmö verlor diese Regierung die parlamentarische Unterstützung. Das Parlament gab schließlich nach, da es nicht gelang, eine andere Regierung einzusetzen, von Leiningen war jedoch bereits zurückgetreten. Schmerling wurde dadurch am 24. September 1848 Reichsministerpräsident. Er war maßgeblich für die Niederschlagung des Septemberaufstandes in Frankfurt verantwortlich, wie überhaupt die Zeit seiner Tätigkeit dadurch geprägt war, dass er versuchte zu zeigen, dass die Reichsregierung unentbehrlich für die Bekämpfung von radikalen Aufständen sei. Durch die Wende seiner eigenen Fraktion zur kleindeutschen Lösung musste er am 16. Dezember 1848 zurücktreten, da sein Ziel die Einbeziehung ganz Österreichs in Deutschland war. Auch an der Note von Kremsier, mit der am 28. Dezember 1848 der österreichische Ministerpräsident Schwarzenberg den Eintritt von ganz Österreich in den deutschen Bundestaat forderte, war er beratend beteiligt. In den folgenden Monaten war er der Bevollmächtigte Österreichs bei der Frankfurter Zentralgewalt und organisierte dort die großdeutsche Fraktion. Nach dem Ende der Nationalversammlung wurde er von der Regierung Schwarzenberg – und auch hier schon eher als liberales Feigenblatt – im Juli 1849 zum Justizminister ernannt. Er betrieb in dieser Funktion die Umsetzung der 1848 versprochenen Grundentlastung, die Ausarbeitung einer neuen Gerichtsverfassung und Strafprozessordnung und die administrative Vereinheitlichung und Anbindung von Ungarn, Galizien und Norditalien. Mit dem Wechsel zum Neoabsolutismus nahm Schmerling am 25. Januar 1851 seine Entlassung als Justizminister. „Es wäre in diesem Augenblick ein leichtes“, stellte er fest, „aus Österreich einen constitutionellen Einheitsstaat zu schaffen, mit dem Absolutismus kann man einige Jahre lang experimentieren, aber er ist nicht zu halten und man wird endlich dort wieder anfangen müssen, wo wir jetzt aufgehört haben, die inmitten liegende Zeit aber ist eine verlorene.“12 Trotz erkennbarer Unterschiede, besonders des Altersunterschiedes – Schmerling war 10 Jahre jünger als Auerswald – und unterschiedlicher Voraussetzungen als Adlige – Auerswald entstammte einer typischen, gleichzeitig im Staatsdienst und Guts10 Nach Molisch, Anton von Schmerling, 7, gehörte Schmerling selbst nicht zu denen, die den Rücktritt Metternichs forderten. 11 Molisch, Anton von Schmerling, 8 – 12, stellt Überlegungen an, ob Schmerling nicht eigentlich als „konservativ“ zu bewerten sei, zumindest habe er die Reformkraft der Bürokratie über die des Parlaments gestellt. Ob diese Einschätzung der Revolutionsdynamik gerecht wird und nicht auch zu sehr der nachträglichen Sicht der Erinnerungen Schmerlings verhaftet ist, muss hier nicht geklärt werden. 12 Zit. n. Ilwof, Schmerling, 63.
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besitz wurzelnden, preußischen Adelsfamilie, während Schmerling eher zum juristisch gebildeten Dienstadel gehörte –, sind die Gemeinsamkeiten beider Politiker doch auffallend. Sie können von ihrer gesellschaftlichen und politischen Herkunft als Vertreter eines bürokratischen Adelsliberalismus eingeordnet werden. Sie wollten ein konstitutionelles System, das durch Fortschritte in den Rechten des Bürgertums, insbesondere durch ein starkes, bürgerliches Parlament, aber eben auch eine starke Stellung des Monarchen – der besonders als Garant gegen ein Fortschreiten der Revolution gedacht wurde – vor allem die Einheit und Stärke des Staates sichern sollte. Das Ziel ihrer Politik war daher keineswegs ein demokratisches Verständnis von parlamentarischer Politik, sondern die Steigerung der staatlichen Einheit und Macht durch liberale Reformen. Bezogen auf die Deutschlandpolitik zeigen sich selbstverständlich unterschiedliche Forderungen, aber letztlich der gleiche Ausgangspunkt: Ihr Ziel ist die Steigerung der Stellung der eigenen Großmacht durch die nationale Einigung. Beide agierten vor dem Hintergrund der Situation von 1848, in der monarchische Autorität geschwächt war. Ihre Regierungstätigkeit stützte sich auf das Parlament, gleichzeitig jedoch versuchten sie es auch auszubremsen. Dass es ihren beiden Regierungen in dieser eigentlich günstigen Situation nicht gelang, erfolgreich zu agieren, zeigt wahrscheinlich schon die Schwäche des konstitutionellen Liberalismus von 1848. II. Ende der Reaktion und Regierungsantritt Die Reaktionsphase der 1850er Jahre bedeutete für beide Politiker eine Zeit des Rückzugs. Schmerling musste erleben, dass fast alle Justizreformen, die er als Minister durchgeführt hatte, zurückgenommen wurden.13 Politisch zurückgezogen, übte er jedoch als Gerichtspräsident des obersten Gerichtshofes in Wien im folgenden Jahrzehnt ein wichtiges Amt aus. Auerswald arbeitete nach seinem Rücktritt als Oberpräsident für Ostpreußen und danach für die Rheinprovinz, er war Präsident der ersten preußischen Kammer und als Vorsitzender im Staatenhaus des Erfurter Parlamentes auch weiterhin politisch tätig. Nach kritischen Äußerungen über die Reaktionspolitik der Regierung Manteuffel-Westphalen wurde er im Frühjahr 1851 als Beamter entlassen. Seit 1853 war er wieder im preußischen Landtag aktiv und dort eines der führenden Mitglieder der altliberalen Opposition, der sogenannten „Wochenblattpartei“.14 Ende der 1850er, Anfang der 1860er Jahre wurden beide an die Regierung geholt. Für Preußen ist der Hintergrund bekannt: Der politische Wechsel im Herbst 1858 begann mit der Regentschaft des Kronprinzen Wilhelm für seinen Bruder, den kranken König Friedrich Wilhelm IV., und der Entlassung des Reaktionsministeriums 13
Vgl. Georg Seiderer: Österreichs Neugestaltung. Verfassungspolitik und Verwaltungsreform im österreichischen Neoabsolutismus unter Alexander Bach 1849 – 1859. Wien 2015. 14 Michael Behnen: Das preußische Wochenblatt (1851 – 1861). Nationalkonservative Publizistik gegen Ständestaat und Polizeistaat. Göttingen/Frankfurt am Main/Zürich 1971.
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von Otto von Manteuffel.15 Dass Wilhelm, der „Kartätschenprinz“ von 1848, auf eine „Neue Ära“ mit liberalen Ministern setzte, hat sicher auch mit seiner persönlichen Entwicklung zu tun. Kurzzeitig im Exil in England, dann lange in der bürgerlichen Stadt Koblenz lebend und auch durch seine liberal-geprägte Frau beeinflusst, hatte er sich von seinem strikt konservativen Hintergrund gelöst. Schon in der Frage der Regentschaft hatte sich der Kronprinz gegen die Konservativen für ein verfassungsgemäßes Vorgehen entschieden, mit der neuen Regierung verfolgte er den „Ausgleich zwischen gemäßigt konservativem und liberalem Lager“.16 Entscheidend waren aber für Wilhelm machtstaatliche Gründe. Sein besonderes Interesse galt der preußischen Armee, hier beklagte er die 1848/49 sichtbar gewordenen Mängel und wollte Reformen durchsetzen. Deren Finanzierung schien eine breitere Zustimmung zu erfordern. Auch in der Außenpolitik wollte Wilhelm Preußen aus der durch Olmütz und die reaktionäre Politik entstandenen Abhängigkeit von Österreich befreien. Schon in dem berühmten Satz des Regierungsprogramms, das Wilhelm nach einer Vorlage von Rudolf von Auerswald in einer Ansprache vor seinen neuen Ministern vom 8. November 1858 vortrug,17 „in Deutschland muß Preußen moralische Eroberungen machen“ und zwar besonders „durch eine weise Gesetzgebung bei sich“, war der Anspruch formuliert, dass Preußen durch das Zusammenwirken mit den nationalen und liberalen Kräften seine Macht steigern müsse. Für den preußischen Liberalismus war dieser Satz die Ankündigung eines neuen liberalen und nationalen Kurses. Denn auch die preußischen Liberalen lehnten machtstaatliche Politik keineswegs ab, solange sie im nationalen Sinne erfolgte. Offizieller Ministerpräsident der neuen Regierung wurde Karl Anton Fürst von Hohenzollern-Sigmaringen. Faktisch jedoch hatte Rudolf von Auerswald, der Minister ohne Geschäftsbereich wurde, die Funktion des Ministerpräsidenten inne und bestimmte den Regierungskurs.18 Weitere wichtige liberale Minister waren der Außenminister Alexander von Schleinitz, der Kriegsminister Eduard von Bonin, der Innenminister Maximilian von Schwerin-Putzar und besonders der Finanzminister Robert von Patow. Die Hoffnung auf eine „Neue Ära“ und das Versprechen liberaler Reformen schlugen sich sogleich in einem ungeheuren Wahlerfolg der Liberalen in der Landtagswahl nieder. Die Liberalen und die reformkonservativen Mitglieder der ehemaligen Wochenblattpartei stellten eine Mehrheit von 204 Abgeordneten gegen nur noch 60 Konservative. Doch das Regierungsprogramm hatte auch deutlich gemacht, dass Wilhelm I. nicht an seiner monarchischen Macht rütteln lassen wollte. Der König betonte deutlich seinen Willen zu einer konservativen Regierung: „Von 15 Günther Grünthal: Das Ende der Ära Manteuffel. In: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 39, 1990, 179 – 219. 16 Ebd., 213. Wichtigen Einfluss auf die Entscheidung des Prinzregenten hatte als Berater Christian Friedrich von Stockmar, der mit seinen Kontakten zum englischen Königshaus bereits die Vermählung des Kronprinzen Friedrich Wilhelm mit der Tochter von Queen Victoria organisiert hatte; ebd., 211. 17 Abgedr. in Paetau/Kocka, Protokolle, Bd. 5, 38 – 40. 18 So Paetau, Einleitung. In: Paetau/Kocka, Protokolle, Bd. 5, 1 – 37, hier 25.
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einem Bruche mit der Vergangenheit [solle] nun und nimmermehr die Rede sein“; „das Wohl der Krone und des Landes [beruhe] auf gesunden, kräftigen, konservativen Grundlagen“. Am deutlichsten war die Warnung des Königs vor „der stereotypen Phrase, daß die Regierung sich fort und fort treiben lassen müsse, liberale Ideen zu entwickeln, weil sie sich sonst von selbst Bahn brächen“. Für die Altliberalen der Regierung Auerswald wie auch für die Liberalen im preußischen Landtag war daher klar, dass nur auf langsamem Wege Reformen durchgesetzt werden konnten. Zur Devise wurde die Formel: „nur nicht drängen“. Dem stimmten auch die ehemaligen Demokraten von 1848 zu. Sie schlossen sich der Anerkennung des politischen Status quo an und akzeptierten die schrittweise Fortentwicklung der Verfassung. So erklärte Johann Jacoby in einem Wahlaufruf die Ziele „aller demokratisch gesinnten Preußen: Ehrerbietung dem Könige! – Achtung der Landesverfassung! – Den Gemeinden Selbstverwaltung! – Allen Bürgern gleiche Pflichten, gleiche Rechte; Das ist verfassungsmäßige Monarchie auf der echt demokratischen Grundlage der Selbstverwaltung und Gleichberechtigung.“19 In Österreich lief das Ende des reaktionären Neo-Absolutismus wesentlich dramatischer und stärker unter Zwang ab. Die Katastrophe von Solferino und damit die Niederlage im Krieg gegen Sardinien-Piemont und Frankreich hatten das Scheitern des Neo-Absolutismus gezeigt. Die gesunkene staatliche Autorität wie vor allem der drohende Staatsbankrott erzwangen nun eine Umgestaltung des Staates.20 Die Versprechungen des Kaisers im „Laxenburger Manifest“ vom 15. Juli 1859 stellten bereits eine „zeitgemäße Verbesserung in Gesetzgebung und Verwaltung“ in Aussicht. Tatsächlich aber übernahmen nach dem Rücktritt besonders missliebiger Anhänger des Neo-Absolutismus – wie des Innenministers Bach und des Polizeiministers Kempen – jetzt altständisch-konservative Vertreter die Regierung. Insbesondere Bernhard von Rechberg aus der Schule Metternichs und der Graf Goluchowski als Vertreter des altständischen Adels waren Ausdruck dieser Richtung. Das „Oktoberdiplom“ vom 20. Oktober 1860 setzte das neue ständisch-föderalistische Konzept um. Die einzelnen Länder der Habsburger Monarchie sollten als autonome Grundlagen des Staates dienen. Ihre ständisch zusammengesetzten Landtage sollten wiederum Vertreter in den Reichsrat als dem zentralen, für die Gesetzgebung zuständigen Vertretungskörper entsenden. Einige geringe bürgerlich-liberale Zugeständnisse, wie die Gleichheit der Staatsbürger und die Religionsfreiheit, sollten auch den Liberalen die Zustimmung zur neuen Verfassungsordnung erleichtern. Tatsächlich aber wurde das ständisch-föderalistische Konzept nicht einmal bei den ungarischen Konservativen akzeptiert. Und es erreichte auch nicht sein wichtigstes Ziel: die Rückkehr des Vertrauens in den Staatskredit. Selbst nach dem Antritt der folgenden 19
Johann Jacoby in der öffentlichen Versammlung des demokratischen Vereins von Königsberg; zit. n. Parisius, Parteien, 27. 20 Einen guten Überblick über die Entwicklung gibt Stefan Malfèr, Der Kampf um eine Verfassung 1859 – 1861. In: Harm-Hinrich Brandt (Hg.): Der österreichische Neo-Absolutismus als Verfassungs- und Verwaltungsproblem. Diskussionen über einen strittigen Epochenbegriff. Wien/Köln/Weimar 2014, 425 – 433.
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Regierung musste der Finanzminister die sofortige Einberufung des Reichsrates fordern, da sonst „mit dem finanziellen auch der politische Ruin unvermeidlich“ sei.21 In dieser Situation wurde Anton von Schmerling von dem Ministerpräsidenten Bernhard von Rechberg aufgefordert, in die Regierung einzutreten, was dann auch am 13. Dezember 1860 geschah. Da in der Regierung trotz Schmerlings, des Finanzministers Ignaz von Plener und des Justizministers Joseph Lasser von Zollheim die Liberalen durch die Beibehaltung des Ministerpräsidenten Rechberg und anderer Minister keine klare Mehrheit hatten, setzte Schmerling von Beginn an auf den direkten Kontakt zum Kaiser. Gerade sein Versprechen, jetzt dürfe das Oktoberdiplom trotz aller Mängel nicht umgestoßen werden, wenn man den Kredit des Landes aufrichten wolle, scheint den Kaiser zu Beginn sehr für Schmerling eingestellt zu haben. 1861 löste dann Erzherzog Rainer als nomineller Ministerpräsident Rechberg ab, wenn dieser auch Außenminister blieb.22 Die starke Person in der Regierung war jedoch Schmerling. Sein Regierungsantritt bedeute „einen vollständigen Systemwechsel“ und sei „die letzte Karte, die wir auszuspielen haben. Der Einsatz ist Österreich“, urteilte der Deutschliberale Moritz von Kaiserfeld.23 Tatsächlich ist ein Vergleich des Regierungsantritts beider Politiker einfach: Sie wurden in einer Krisensituation von ihren Monarchen an die Macht geholt, um deutlich die Wende zur reaktionären Politik ihrer Vorgänger zu signalisieren. Durch möglichst gemäßigte Reformen sollten sie die Macht und Einheit ihres jeweiligen Staates sichern.
III. Ausbau der konstitutionellen Verfassung Die Verfassungssituation bei Antritt der Regierung der „Neuen Ära“ in Preußen 1858 und bei Antritt der Regierung Schmerling in Österreich 1860 war grundlegend verschieden. In Preußen galt die im Dezember 1848 durch den preußischen König oktroyierte Verfassung, deren ursprünglich sehr liberale Form schon durch die konservative Änderung von 1850 abgeschwächt worden war. Insbesondere aber waren zahlreiche liberale Gesetzesverheißungen und zu erlassende Ausführungsgesetze in der Reaktionszeit nicht umgesetzt worden.24 Für eine konstitutionell-liberale Regierung stellte sich also die Aufgabe, die vorhandene Verfassung durch einzelne Gesetze mit Leben zu erfüllen. Eines der wichtigen Gesetzesvorhaben war hier die Reform der Ober21 Finanzminister Plener im Ministerrat 22. 2. 1861, zit. n. Hans Peter Hye: Das politische System in der Habsburgermonarchie. Konstitutionalismus, Parlamentarismus und politische Partizipation. Praha 1998, 85. 22 Teilweise als „Ministerpräsident der Regierung Schmerling“ bezeichnet. 23 Zit. n. Ilwof, Schmerling, 64. 24 Grundlegend Günther Grünthal: Parlamentarismus in Preußen 1848/49 – 1857/58. Preußischer Konstitutionalismus, Parlament und Regierung in der Reaktionsära. Düsseldorf 1982.
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rechnungskammer in einem Ausführungsgesetz zu Artikel 104. Es handelte sich dabei, wie Rainer Paetau betont hat, „nicht allein um pure Rechnungsprüfung, sondern vielmehr um die parlamentarische Etat- und Finanzkontrolle“.25 Durch die konservativen Minister wurde der Vorschlag abgeschwächt, dann von einer Kommission des Abgeordnetenhauses ein Gegenentwurf erarbeitet, der durch das Ende der Neuen Ära nicht mehr behandelt wurde. Erfolg dagegen hatte die Grundsteuerreform, die Aufhebung der ständischen Steuerprivilegien, denn es gelang dem Finanzminister Patow, diese mit der Finanzierung des Lieblingsprojekts des Königs, der Heeresreform, zu verbinden, so dass dieser die Grundsteuerreform durch einen Pairsschub im September 1860 sogar gegen das Herrenhaus durchsetzte. In Österreich war im März 1849 ebenfalls eine Verfassung oktroyiert worden. Diese wurde jedoch schon mit dem sogenannten Silvesterpatent vom 31. Dezember 1851 durch den Kaiser aufgehoben und in den 1850er Jahren die Habsburger-Monarchie absolutistisch regiert. Eine konstitutionell-liberale Regierung musste hier erst einmal eine Verfassung einführen. Schmerling griff hierfür das erst wenige Wochen zuvor „kraft unserer Machtvollkommenheit“ erlassene Oktoberdiplom auf, formte es jedoch im liberalen Sinne um. Die Ausführung oblag dem Oberlandesgerichtsrat Hans von Perthaler, der daher – so Hans-Peter Hye – als der eigentliche „Vater der Verfassung“ zu bezeichnen sei. Durch kaiserlichen Erlass, das Februar-Patent von 1861, wurden damit Ausführungsbestimmungen erlassen, die sich selbst zur „Verfassung Unseres Reiches“ erklärten.26 Der Reichsrat wurde zur Vertretung des Reiches mit zwei Kammern – einem Herrenhaus und einer Abgeordnetenkammer – bestimmt. Das Abgeordnetenhaus bestand aus 343 Mitgliedern, die von den Landtagen der bereits durch das Oktoberdiplom wieder eingeführten Länder gewählt werden sollten. Dabei war eine Wahl nach Kurien geplant, um die Majorisierung nationaler Minderheiten – etwa der Deutschen in Böhmen – zu verhindern. Um Ungarn der zentralistischen Verfassung unterzuordnen, ging Schmerling dabei von der sogenannten „Rechtsverwirkungstheorie“ aus. Danach habe Ungarn, als sein Parlament 1849 selbst die ungarische Verfassung aufgehoben habe, um eine Republik zu schaffen, das Recht auf eine eigene Verfassung verloren.27 Der Reichsrat der neuen österreichischen Verfassung, der nicht gewählt, sondern durch die Landtage beschickt wurde, entsprach in vieler Hinsicht nicht den Vorstellungen einer parlamentarischen Volksvertretung und wird daher auch kritisch als Ausdruck eines „neoabsolut-neoständischen Systems“ begriffen. Doch Schmerlings pragmatisches Ziel war ein „funktionierender Reichstag, um auf dessen Basis die staatliche Konsolidierung und Integration zu ermöglichen“.28 Dass die zentralistisch orientierten deutschen und liberalen Stadtbürger, Unternehmer und Beamte durch 25
Paetau, Einleitung, 14. Reichs-Gesetz-Blatt für das Kaiserthum Österreich 28. 2. 1861, 69 – 89. [Online: http:// alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=rgb&datum=1861&page=99&size=45]. 27 Höbelt, Schmerling, 226. 28 Hye, Das politische System, 69. 26
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den Wahlmodus ein Übergewicht erlangen würden, war von Schmerling gewünscht und wurde bezeichnenderweise von Rechberg kritisiert, der den Verlust der Stellung des Grundbesitzes sah.29 Indem Schmerling zudem das Budgetrecht nur für neu zu bewilligende Steuern bestimmte und außerdem in § 13 der Regierung ein Notverordnungsrecht zugestand, wurden die möglichen Zentrifugalkräfte des Reichsrates schon im Vorhinein beschränkt. Zudem wurde ein sogenannter engerer Reichsrat der Cisleithanischen Länder bestimmt, womit Schmerling zahlreiche Befugnisse zentralisierte. Da jedoch Ungarn die Beschickung des Reichsrates verweigerte, denn es lehnte eine Vertretung oberhalb eines ungarischen Parlaments ab, bestand der Reichsrat die ganze Zeit eigentlich nur in der Form dieses engeren Reichsrates. Um die konstitutionell-liberalen Vorstellungen der beiden Regierungen genauer zu verstehen, ist es sinnvoll, die Stellung der Regierung genauer zu betrachten. Die Stellung der Regierung ist im Konstitutionalismus durch die doppelte Verantwortung einerseits gegenüber dem Monarchen, andererseits gegenüber dem Parlament geprägt. Ausdruck findet sie besonders in der rechtlichen Ministerverantwortlichkeit. Einerseits sind die Minister dem Parlament gegenüber für die verfassungsgemäße und rechtliche Ausübung der Regierungsgewalt verantwortlich. Ein geplantes Ausführungsgesetz hierzu scheiterte in Preußen am Widerstand des Königs, in Österreich dagegen lehnte Schmerling die rechtliche Ministerverantwortlichkeit als unnötig ab. Andererseits findet die rechtliche Ministerverantwortlichkeit einen formalen Ausdruck in der Gegenzeichnung der monarchischen Regierungsakte, mit der die Minister die Verantwortung für den unverletzlichen Monarchen übernehmen. Sie bestand in Preußen bereits durch die Verfassung von 1848, in Österreich wurde die Gegenzeichnung durch Schmerling im Juni 1861 dem Monarchen abgetrotzt und gegenüber dem Reichsrat verkündet. Das dabei angekündigte Gesetz wurde allerdings erst 1867 erlassen.30 Die parlamentarische Verantwortlichkeit, also das Verlangen, dass die Regierung politisch mit der Parlamentsmehrheit übereinstimmt, ist der konstitutionellen Monarchie fremd. Wird sie durchgesetzt, kommt es zum Übergang zur parlamentarischen Monarchie. Die parlamentarische Verantwortlichkeit lag daher sowohl Auerswald als auch Schmerling fern. Auch die betreffenden Parlamente, ganz unabhängig davon, ob einzelne Mitglieder vielleicht eine Herrschaft des Parlaments forderten, vermieden direkte Forderungen. Offen war jedoch die zentrale Frage, ob die konstitutionelle Monarchie nicht von selbst zum parlamentarischen System tendiere. Das wurde auch schon zeitgenössisch als Gefahr beschworen, so urteilte der ehemalige österreichische Minister Graf Leo Thun aus konservativer Sicht: „In dem absolutistischen Regierungssysteme liegt die Tendenz, die Minister zu bloßen Werkzeugen 29
Ebd. Stefan Malfer: Der Kostitutionalismus in der Habsburger Monarchie – siebzig Jahre Verfassungsdiskussion in Cisleithanien. In: Helmut Rumpler/Peter Urbanitsch (Hgg.): Verfassung und Parlamentarismus. Tlbd. 1: Verfassungsrecht, Verfassungswirklichkeit, zentrale Repräsentativkörperschaften (Die Habsburger Monarchie 1848 – 1918, VII). Wien 2000, 11 – 67, hier 23 f. 30
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der Regentenwillkür zu machen; in dem constitutionellen nicht minder die, sie zu gehorsamen Dienern des Parlamentes herabzuwürdigen.“31 Von daher wiederholte sich der politische Diskurs von 1848, als die Liberalen jede Überwindung des konstitutionellen Systems ablehnten, in der Praxis jedoch – unter dem Druck der Revolution – parlamentarische Herrschaft ausübten. So hatte Schmerling seine ursprüngliche Ablehnung der Ministerverantwortlichkeit parlamentarisch begründet, sie sei „müßig“, da ein Minister, der die Unterstützung des Parlamentes habe, sowieso nicht in Anklage versetzt werde. Und im Juni 1861 verkündete Schmerling im Ministerrat, er sei bereit zu erklären, „daß er, wenn die von ihm einzubringenden Gesetzesvorschläge vom Reichsrate permanent zurückgewiesen würden, genötigt wäre, von seinem Posten zurückzutreten“.32 Mit dieser Erklärung für eine parlamentarische Verantwortlichkeit griff Schmerling auf seine Erfahrung des Septembers 1848 zurück: Eine Regierung, die vom Parlament abhängig ist, kann wiederum durch eine Rücktrittsdrohung dieses Parlament zwingen, die Regierung zu unterstützen. Ob die Regierung Auerswald, als sie nach der Annahme des Antrags Hagen durch das preußische Abgeordnetenhaus den Verlust des parlamentarischen Vertrauens feststellte und daraufhin den Rücktritt anbot, sich auch schon als parlamentarische begriff, ist dagegen in der Forschung strittig.33 Neben dem Ausbau der Verfassung müssen auch die bürgerlich-liberalen Reformen genannt werden, die von beiden Regierungen betrieben wurden. Die Regierung der Neuen Ära versuchte hier, allerdings erfolglos, eine Eherechtsreform, ein allgemeines Unterrichtsgesetz, die rechtliche Gleichstellung der Juden beim Zugang zum Justizdienst und die Ausweitung der Verwaltungsgerichtsbarkeit durchzusetzen. Alle diese Vorhaben scheiterten entweder am Herrenhaus oder direkt am König und seinen konservativen Ministern.34 Erfolgreich war allerdings ein grundlegender Wandel der staatlichen Wirtschaftspolitik. Obwohl von der Heydt, der Wirtschaftsminister der Manteuffel-Regierung, auch in der Regierung der Neuen Ära sein Amt behielt, kam es zur Abwendung von strikter staatlicher Regulierung. So wurde die Verstaatlichung von Eisenbahnen beendet, was als Ausdruck eines sich durchsetzenden Wirtschaftsliberalismus gedeutet werden kann.35 Der größte Erfolg der altliberalen Regierung war dabei die Durchsetzung der Grundsteuerreform. Damit wurden die in Ostelbien gültigen Grundsteuerbefreiungen für Adlige aufgehoben, die etwa dazu geführt hatten, dass die Provinz Rheinland das Achtfache der Grundsteuern bezahlte wie die Provinz Preußen. Hier gelang es der Regierung, die Steuerreform so mit der 31
Zit. n. Malfer, Konstitutionalismus, 25. Kletecka/Koch, Protokolle des österreichischen Ministerrates, Bd. 5/2, Nr. 88/I, 153. 33 Paetau lehnt diese Einschätzung ab, da die Regierung nicht wegen des Parlaments, sondern wegen des fehlenden Vertrauens des Monarchen zurückgetreten sei. 34 Paetau, Die regierenden Altliberalen, 186 – 189. 35 James M. Brophy: The Juste Milieu: Businessmen and the Prussian State during the New Era and the Constitutional Conflict. In: Bärbel Holtz/Hartwin Spenkuch (Hgg.): Preußens Weg in die politische Moderne. Verfassung – Verwaltung – politische Kultur zwischen Reform und Reformblockade. Berlin 2001, 193 – 223. 32
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vom König gewünschten Heeresreform zu verknüpfen, dass dieser half, den Widerstand des Herrenhauses zu überwinden. Der weitergehende Versuch einer grundsätzlichen Reform des Herrenhauses misslang jedoch.36 Die Regierung Schmerling war wesentlich erfolgreicher mit der Durchsetzung liberaler Reformen. Allerdings startete sie auch von einem viel geringeren Niveau – ja, viele ihrer Gesetze schützten erstmals grundlegende bürgerliche Freiheiten, die in Preußen schon seit Einführung der Verfassung garantiert waren. Dazu gehören besonders das Protestantenpatent37 von 1861, das die relative Gleichstellung der Protestanten sicherte, und die Gesetze vom 27. Oktober 1862 zum Schutz der persönlichen Freiheit und vom 27. Oktober 1862 zur Unverletzlichkeit der Wohnung. Liberalismus im 19. Jahrhundert war immer auch Nationalismus. Auerswald und Schmerling waren 1848 für die deutsche Einigung aufgetreten, sie hatten damit aber auch jeweils die Interessen ihres Heimatstaates im Sinn gehabt. Von daher war es naheliegend, dass beide altliberalen Regierungen mit einer aktiven Deutschlandpolitik begannen. Die preußische Regierung der „Neuen Ära“ war mit dem Ziel „moralischer Eroberungen“ in Deutschland angetreten. Ihre Deutschlandpolitik scheiterte schon im italienischen Krieg von 1859. Während die deutsche Öffentlichkeit aus Angst vor einer Wiederholung der napoleonischen Kriege vehement eine militärische Unterstützung Österreichs durch Preußen forderte – was interessanterweise von den Militärs, dem Kriegsminister Bonin und dem Generalstabschef Moltke, unterstützt wurde –, vertrat der altliberale Außenminister Schleinitz das Konzept der bewaffneten Neutralität: Für ein militärisches Engagement sollte sich Preußen zuerst von Österreich die freie Hand in Deutschland versprechen lassen. Österreich verhinderte diesen Versuch Preußens durch einen schnellen Frieden mit Frankreich. Preußen stand in der nationalen Öffentlichkeit blamiert da. In der folgenden Zeit warb die preußische Regierung im dualistischen Sinne für Vorschläge zur Gleichstellung der beiden Großmächte im Deutschen Bund. So wurde ein alternierendes Präsidium und die Aufspaltung des Bundesheeres in eine süddeutsch-österreichische und eine norddeutsch-preußische Armee vorgeschlagen. Das hätte letztlich eine Zweiteilung Deutschlands in einen preußisch und einen österreichisch kontrollierten Teil mit der Main-Linie als Grenze bedeutet. Mit dem Berliner Plan von Dezember 1861 griff dann die preußische Regierung Forderungen des Nationalvereins auf. Der Vorschlag einer kleindeutschen Union unter preußischer Hegemonie unter enger Bin-
36 Wolfram Pyta: Liberale Regierungspolitik im Preußen der „Neuen Ära“ vor dem Heereskonflikt. Die preußische Grundsteuerreform von 1861. In: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, NF 2, 1992, 179 – 247; Paetau, Die regierenden Altliberalen, 183 f.; Brophy, Juste Milieu, 208 – 211. 37 Josef Kremsmair: Der Gesetzesentwurf Schmerlings aus dem Jahre 1861. Zur Regelung der interkonfessionellen Rechtsverhältnisse. In: Österreichisches Archiv für Kirchenrecht Bd. 41 (1992), 71 – 85.
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dung an Österreich entsprach dem Gagernschen Doppelbund von 1848. Alle diese Pläne wurden von Österreich und den Mittelstaaten abgelehnt.38 Die Regierung Schmerling dagegen versuchte – gerade auch nach dem deutschlandpolitischen Debakel Preußens und der Unbeliebtheit seines neuen Konfliktministerpräsidenten Bismarck – mit einem Vorstoß zur Bundesreform Terrain wiedergutzumachen.39 Die von Schmerlings Vertrautem, Biegeleben, ausgearbeiteten Entwürfe führten bekanntlich zum deutschen Fürstentag. Dass dieser allerdings nicht von Schmerling besucht und geleitet wurde, sondern von dem konservativen Außenminister Rechberg, zeigt bereits, wie wenig ernst es der österreichischen Politik mit diesem Vorgehen war. Die Zustimmung zu einer Bundesreform scheiterte dann auch am Widerstand Preußens. Die Ablehnung des österreichischen Vorschlags nach einer Delegiertenversammlung am Deutschen Bund durch Bismarck mit dem Gegenvorschlag eines aus direkten Wahlen hervorgehenden Parlaments war dabei schon die Wideraufnahme des nationalen Programms von 1848 und auch für die großdeutschen Liberalen Österreichs unannehmbar.40 Rechberg stellte im Sommer 1862 im österreichischen Ministerrat ohne Widerspruch selbst der liberalen Minister fest, dass Österreich „im Interesse der Einheit der Monarchie“ auch auf einen Sieg der großdeutschen Partei nicht eingehen könne. Hier zeigt sich der geringe Spielraum, den Österreich in der nationalen Frage hatte.41 Die Zusammenarbeit mit Preußen im Deutsch-dänischen Krieg 1864 zeigte dann aus österreichischer Sicht die Aufgabe seiner großdeutschen Deutschlandpolitik und den Wechsel zu einer konservativen Zusammenarbeit der deutschen Mächte. Ziel der österreichischen Politik war zwar, die deutsche Öffentlichkeit zu beeindrucken, konkret sollte aber gerade das nationale Prinzip ausgeschlossen werden. Auch die Zustimmung zu den Ansprüchen des Augustenburger Prinzen auf Schleswig und Holstein beruhte auf der Hoffnung, wenigstens formal den Rahmen der Legitimität zu wahren. Schmerlings Ziel war es nun nur noch, dass diese Politik wenigstens die national erregte Öffentlichkeit in Deutsch-Österreich wie im übrigen Deutschland nicht vor den Kopf stoße.42 Auch wenn im Ergebnis Schmerling durch direkte Drohung den Rücktritt von Rechberg erzwingen konnte, so wurde mit dem konservativen Grafen Alexander Mensdorff ein neuer Außenminister berufen, der ebenfalls nicht bereit war, die gescheiterte Deutschlandpolitik Schmerlings erneut aufzugreifen.43 38
Jürgen Müller: Deutscher Bund und deutsche Nation. 1848 – 1866. Göttingen 2005, 333 – 336. 39 Heinrich Lutz: Zwischen Habsburg und Preußen. Deutschland 1815 – 1866. Berlin 1985, 440 – 447. 40 Andreas Kaernbach: Bismarcks Konzepte zur Reform des Deutschen Bundes. Zur Kontinuität Bismarcks und Preußens in der deutschen Frage. Göttingen 1991, 194 – 197. 41 Lutz, Zwischen Habsburg und Preußen, 446. 42 Lothar Höbelt: Österreich und der Deutsch-Dänische Krieg. Ein Präventivkrieg besonderer Art. In: Oliver Auge/Ulrich Lappenküper (Hgg.): Der Wiener Frieden als deutsches, europäisches und globales Ereignis. Paderborn 2016, 163 – 184. 43 Lutz, Zwischen Habsburg und Preußen, 441 ff.
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Die liberalen Reformversuche der beiden Regierungen zeigen, dass sowohl die Regierung Auerswald als auch die Regierung Schmerling ernsthaft einen Ausbau ihrer Staaten als Verfassungsstaaten anstrebten. Ihre häufige Bezeichnung als liberal-konservativ ist daher unzutreffend; sowohl Auerswald als auch Schmerling wollten liberale Politik betreiben. Schmerling, der von niedrigerem Niveau aus agierte – schließlich war Österreich vorher noch neoabsolutistisch regiert worden –, war hier insgesamt erfolgreicher. Er beschränkte sich allerdings auch auf Verfassungsreformen, die in vielerlei Hinsicht hinter einem ausgebildeten Konstitutionalismus zurückblieben. Jedoch stand dem guten Willen bei beiden Regierungen eine weitgehend negative Bilanz gegenüber, die Erfolge waren gering. Auch in der Deutschlandpolitik, in der beim deutschen Dualismus beide Staaten gegeneinander agierten, kam es zu keinem Erfolg der altliberalen Politik. IV. Entscheidende Probleme und Scheitern Sowohl die Regierung Auerswald als auch die Regierung Schmerling scheiterten, ohne ihre eigentlichen Ziele umzusetzen. Betrachten wir die Problemkonstellation beider Regierungen sowie die Gründe ihres Scheiterns: Die Regierung Auerswald wurde von konservativer Seite durch zwei Kräfte gebremst. Zum einen achtete Wilhelm I. auf die Wahrung seiner monarchischen Prärogative. Schon der Einsetzung der neuen Regierung durch den Regenten folgte ein „Erschrockensein über die eigene Tat“44, da Wilhelm die liberale Begeisterung der Öffentlichkeit und die einsetzende Wahlbewegung wohl nicht so intensiv erwartet hatte. Daher bestand der König gerade bei den Bestimmungen, mit denen eine konstitutionelle oder gar parlamentarische Weiterentwicklung erreicht werden sollte, auf Abschwächungen und Einschränkungen. In dieser Blockade von Reformen wurde Wilhelm I. immer wieder von den konservativen Politikern unterstützt, die er – quasi als Maulwürfe – in die Regierung eingeschleust hatte. Zu nennen sind der Wirtschaftsminister von der Heydt und, seit der frühen Entlassung des Kriegsministers Bonin im Dezember 1859, Albrecht von Roon, sowie, seit dem Rücktritt des Außenministers Schleinitz im Oktober 1861, Albert von Bernstorff. Auch Edwin von Manteuffel, der Chef des geheimen Militärkabinetts, agierte als Vertreter der Militärpartei gegen die altliberale Regierung. Zum anderen standen wichtige Reformprojekte immer wieder vor der Hürde des konservativ dominierten Herrenhauses. So wurden fast alle angesprochenen Reformprojekte – Ministerverantwortlichkeit, Oberrechnungskammer, Umgestaltung des Herrenhauses und neues Eherecht – nicht verwirklicht. Dass wenigstens die Umsetzung der Grundsteuerreform gelang, lag nur daran, dass sie von dem Finanzminister sehr geschickt mit der Frage der Hee-
44 So der neue Ministerpräsident v. Hohenzollern-Sigmaringen an den Herzog v. SachsenCoburg 10. 12. 1858, also einen Monat nach Beginn der Neuen Ära; zit. n. Grünthal, Das Ende, 213.
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resreform verknüpft wurde und daher Wilhelm sich vehement für sie einsetzte und auch das Herrenhaus überwand. Seit 1861 eskalierten die Konflikte zwischen dem König und der Regierung. Ein Höhepunkt war etwa der Streit um die Huldigung der Stände, die Wilhelm I. zu seinem Herrschaftsantritt im Sommer 1861 wünschte. Nur unwillig stimmte er einer Krönung zu und inszenierte diese, gezielt gegen die Regierung Auerswald gerichtet, als Selbstkrönung unter Bezug auf das Gottesgnadentum.45 Monarchische Vorstellungen und liberale Prinzipien stießen dann auch im Vorfeld der Landtagswahl vom Herbst 1861 aufeinander. Wilhelm I. verlangte hier eine Erklärung des Regierungsprogramms als eines offiziellen Erlasses, da durch das Missverständnis seitens der Wähler drohe, dass eine „super-constitutionelle Kammer“46 gewählt werde. Dieser Erlass solle zudem als Zirkular an die Ober- und Regierungspräsidenten geschickt werden, um eine gezielte Wahlbeeinflussung zu ermöglichen. Das Ministerium riet mit Mehrheit dem König von diesem Schritt ab, ja, der Innenminister von Schwerin erklärte sogar, dass er es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren könne, diesen Erlass gegenzuzeichnen. Der offen ausgebrochene Konflikt wurde nur durch die Intervention des Kronprinzen oberflächlich geklärt. Man einigte sich darauf, auf dem Boden des Programms vom 8. November 1858 zu stehen, ließ dabei aber dessen politische Deutung offen.47 Entscheidend wurde schließlich die Entwicklung des Heereskonfliktes zum Verfassungskonflikt.48 Die vom König geforderte und vom Kriegsminister Roon entworfene und umgesetzte Aufrüstung Preußens wurde durchaus von der liberalen Mehrheit im Landtag unterstützt, wie etwa die Zustimmung zu den zwei Provisorien zur Finanzierung zeigte. Denn für das Ziel einer kleindeutschen, nationalen Einigung akzeptierten die preußischen Liberalen auch ein starkes preußisches Heer. Der geplante Bedeutungsverlust der bürgerlichen Landwehr und das Beharren des Königs auf einer dreijährigen Dienstzeit ließ allerding bei den Liberalen die Befürchtung wachsen, dass es gar nicht um eine starke Armee für nationale Zwecke, sondern um eine innenpolitisch zu gebrauchende Armee zum monarchischen Machterhalt gehe. Als 45 Walter Bussmann: Die Krönung Wilhelms I. am 18. Oktober 1861. Eine Demonstration des Gottesgnadentums im preußischen Verfassungsstaat. In: Dieter Albrecht/Hans-Günter Hockerts u. a. (Hgg.): Politik und Konfession. Festschrift für Konrad Repgen zum 60. Geburtstag. Berlin 1983, 189 – 212; Iselin Gundermann: Preußens Weg zur Krone. Katalog / Ausstellung des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz 1998. Berlin 1998. 46 Wilhelm I. an das Staatsministerium v. 25. 10. 1861, zit. n. Paetau, Einleitung, 132, Fn. 2. 47 Sitzung des Kronrates 5. 11. 1861; Paetau/Kocka, Protokolle des preußischen Staaatsministeriums, 133, Nr. 167. 48 Grundlegend zum Heeres- und Verfassungskonflikt: Eugene N. Anderson: The Social and Political Conflict in Prussia 1858 – 1864. Lincoln 1954; Michael Gugel: Industrieller Aufstieg und bürgerliche Herrschaft. Sozioökonomische Interessen und politische Ziele des liberalen Bürgertums in Preußen zur Zeit des Verfassungskonfliktes 1857 – 1867. Köln 1975; Dian Schefold: Verfassung als Kompromiß? Deutung und Bedeutung des preußischen Verfassungskonflikts. In: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 3, 1981, 137 – 157.
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die Liberalen darauf bestanden, dass die Heeresreform mit einer legislativen Zustimmung beider Kammern verbunden sein müsse, blockierte der König, da er eine Einschränkung seiner monarchischen Rechte befürchtete. Es war also letztlich keine Auseinandersetzung über die Frage des Heeres, sondern eine Budgetfrage, die den Konflikt auslöste. Bismarcks Ausspruch gegenüber dem König, es gehe um „königliches Regiment oder Parlamentsherrschaft“49, war konservative Polemik, traf aber letztlich die Situation, zu der der Konflikt schließlich eskaliert war. Die Unzufriedenheit des Parlaments mit der Heerespolitik und den fehlenden Erfolgen der Regierung der „Neuen Ära“ führte zu einer verstärkten Opposition des preußischen Landtags. Die Politik des „nur-nicht-drängen“ hatte zwar zu Beginn durchaus funktioniert, da auch den Parlamentariern die labile Position des Ministeriums bewusst war. „[D]as Gerücht, wenn das Abgeordnetenhaus in der gerade vorliegenden Frage nicht nachgäbe, würde das Ministerium den Wühlereien der reaktionairen Hofpartei zum Opfer fallen und das Manteuffel’sche Regiment zurückkehren – war allzeit stark genug, die Widerstandsfähigkeit der Mehrheit [des Landtags] auf ein Minimum herabzudrücken“.50 Doch jetzt setzten sich im Landtag die Liberalen durch, die durch den zurückhaltenden Kurs und die fehlenden Erfolge der Regierung frustriert waren. Die Unzufriedenheit mit der schwachen Politik der Regierung und der diese stützenden Fraktion Vincke führte schließlich zu Protesten mehrere jüngerer Abgeordneter, die sich schließlich als Fortschrittspartei konstituierten.51 Zum Auslöser wurde die Ablehnung eines Antrages auf Wunsch der Regierung, der Preußen an der Spitze des deutschen Bundesstaates sehen wollte. Der erste Wahlaufruf der Fortschrittspartei war eine Abrechnung mit der altliberalen Partei und ihrer Regierung: „Aber wir müssen daran festhalten, daß in den letzten drei Jahren nicht genug geschehen ist, um die als nothwendig erkannten Reformen in das Leben zu führen, daß der Ruf des Maaßhaltens und Nichtdrängens, welcher bei den letzten Wahlen maßgebend war, allzu lange und allzu ausschließlich befolgt worden ist, daß man allzu oft die Zwecke gewollt, aber die Mittel nicht ergriffen hat.“52 Bei den Wahlen vom 6. Dezember 1861 gewann die Fortschrittspartei eine deutliche Mehrheit. Als das Abgeordnetenhaus am 6. März 1862 dem Antrag des Abgeordneten Adolph Hermann Hagen zustimmte, Etattitel einzeln zu spezifizieren und die Ausgaben nur für den angegebenen Zweck zu genehmigen, hielt das der Finanzminister Patow zwar budgetrechtlich für gerechtfertigt, interpretierte es jedoch gleichzeitig als Ausdruck des parlamentarischen Misstrauens. Da die Regierung so49 Otto von Bismarck: Erinnerung und Gedanke, kritische Neuausgabe auf Grund des gesamten schriftlichen Nachlasses von Gerhard Ritter und Rudolf Stadelmann (Otto von Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. 15), Berlin 1932, 179. 50 Parisius, Parteien, 31 f. 51 Heinrich August Winkler: Preußischer Liberalismus und deutscher Nationalstaat. Studien zur Geschichte der deutschen Fortschrittspartei 1861 – 1864. Tübingen 1964. 52 Wahlaufruf der Fortschrittspartei 29. 9. 1861; abgedr. bei Parisius, Parteien, 45 – 47, hier 46.
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wieso das Vertrauen des Königs verloren hatte, bat sie um ihre Entlassung, die am 17./18. März 1862 genehmigt wurde. Auch die Regierung Schmerling musste mit dem Außenminister Bernhard von Rechberg einen konservativen Vertreter behalten, der in vielen Punkten den Kaiser beeinflusste und dessen besonderes Vertrauen genoss. Aus Schmerlings Sicht willkommen war, dass die konservativen ungarischen Minister Vay und Szécsen aus der Regierung wegen der Politik gegenüber Ungarn ausschieden. Denn der von Ferenc Déac geleitete ungarische Landtag lehnte das Oktoberdiplom ab, weil es Ungarn zu einer österreichischen Provinz herabdrücken würde. Auch die Entsendung von Vertretern zum Reichsrat wurde verweigert. Schmerling vertrat von seinem zentralistischen Standpunkt aus gegen diese Position die sogenannte Verwirkungstheorie. Ungarn habe mit dem Aufstand von 1849/50 seine vorher bestandenen Rechte verwirkt und sei als eine eroberte Provinz zu betrachten. Durch das Festhalten am Einheitsgedanken hoffte Schmerling die Ungarn zum Nachgeben zu bewegen und sah die Zeit für sich arbeiten: „hätte man Zeit gelassen … die Ungarn hätten sich doch dazu bequemt nach Wien zu kommen.“ Die durch Déac eröffneten Möglichkeiten zu einem Ausgleich zu kommen, lehnte Schmerling daher ab. Das Ergebnis war jedoch, dass es Schmerling mit allen Parteien verscherzte. Dem Kaiser war Schmerlings Politik zu sehr am Parlament orientiert, er kritisierte das Scheitern der Reformpolitik in Deutschland. Der deutschliberalen Linken im Reichsrat ging die Schmerlingsche Politik nicht weit genug. Seine Rücksichtnahme auf den Kaiser wurde hier abgelehnt. So kam es zu heftigen Auseinandersetzungen im Winter 1864/65 über die Frage der Ministerverantwortlichkeit, die Zuständigkeit über den Belagerungszustand in Galizien und über § 13 der Februarverfassung, der der Regierung während der Vertagung des Reichsrats die Befugnis gab, dessen Beschlüsse aufzuheben. In dieser Situation mussten die ungarischen Adligen nur dem Kaiser das richtige Angebot machen. Unter dem Ministerkollegen Moritz von Esterhazy wurde dem Kaiser versprochen, die Ungarn würden die Wiedereinführung des Absolutismus begrüßen, wenn dadurch nur die zentralistische Verfassung abgeschafft werde. Als im Juni 1865 der ungarische Hofkanzler ausgewechselt wurde, ohne dass Schmerling überhaupt informiert wurde, erkannte er, dass seine Politik gescheitert war. Am 27. Juli 1865 trat das ganze Kabinett zurück. Sein Nachfolger wurde das Grafenministerium unter Richard Belcredi, dem sogenannten Sistierungsminister, der nach nur einem Jahr durch die Niederlage von 1866 scheiterte. Von Beginn an standen die altliberalen Regierungen Auerswald und Schmerling unter der Spannung zwischen einem Monarchen, der seine Rechte sichern wollte, konservativen Kräften in Verwaltung, Militär und Adel, die jede liberale Entwicklung ablehnten – in Österreich zudem in der besonderen Situation des ungarischen konservativ-föderal orientierten Adels – und einer liberalen Parlamentsmehrheit, die eine konstitutionelle Entwicklung mit Aufwertung ihrer eigenen Rechte forderte. Dieses konfliktreiche Dreieck eskalierte in Preußen wie in Österreich. Indem die alt-
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liberalen Regierungen ihren eigenen Vorstellungen und den Forderungen ihrer Parlamente – wenn auch nur begrenzt – nachkamen, verloren sie das Vertrauen ihres Monarchen, das sie wiederum gebraucht hätten, um die konservativen Gegenkräfte zu überwinden. Gleichzeitig blieben ihre Reformen durch Rücksichtnahme auf den Monarchen und konservative Querschläge so gehemmt, dass sie auch die Unterstützung der Liberalen in den Parlamenten verloren. Diese Lähmung der altliberalen Politik führte wiederum dazu, dass auch die staatliche Machtsteigerung nicht in dem Maße gelang, wie es eigentlich die Intention der Monarchen bei ihrem Wechsel zu einer liberalen Regierung gewesen war. Auerswald und seine altliberalen Ministerkollegen konnten weder den Italienkrieg zu einem Erfolg Preußens ausnutzen, noch auf Dauer die von Wilhelm geforderte Heeresreform parlamentarisch – und damit finanziell – absichern. Schmerling konnte zwar den Staatsbankrott verhindern, die Integration Ungarns in den Staat misslang jedoch genauso wie die von ihm initiierte Deutschlandpolitik. V. Fazit Der Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts versucht den Konflikt zwischen monarchischer und Volks-Souveränität auszugleichen, indem sich beide Seiten in einer Verfassung auf eine Begrenzung ihrer Macht einigen.53 Für den konstitutionellen Liberalismus war diese Vorstellung besonders interessant, da hier Gewaltenteilung durchgesetzt werden konnte und damit vor allem auch in einem „Klassenstaat auf Zeit“54 die unkontrollierte Macht des Volkes, insbesondere der Unterschichten, verhindert werden konnte. Nach ihrem ersten revolutionären Anlauf 1848 erhielten Auerswald in Preußen und Schmerling in Österreich eine neue Chance, da der Konstitutionalismus versprach, die Krise des Neo-Absolutismus bzw. Schein-Konstitutionalismus zu beheben und staatliche Integration und Machtsteigerung sicherzustellen. Wie der Vergleich gezeigt hat, konnte jedoch der konstitutionelle Liberalismus in Preußen wie in Österreich seine zweite Chance nicht nutzen. Zwischen der Abhängigkeit von ihren Monarchen, die letztlich einen konservativen Kurs weiter steuern wollten und deswegen eher eine konstitutionelle Fassade wünschten, und einer parlamentarischen Mehrheit, die gerade durch die Rücksichtnahme auf den Monarchen ihre liberalen Reformen scheitern sah, konnte eine Vereinbarung nicht gelingen. Schmerlings Position erweist sich dabei als die schwerere. Zwar war in Österreich die – insbesondere finanzielle – Not größer, d. h. eine grundlegende Reform des Systems nötiger. Aber ihn beschränkten die Selbständigkeits- und Autonomiebestrebun53
Grundlegende Überlegungen zum Konstitutionalismus bei Martin Kirsch: Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert: der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp; Frankreich im Vergleich. Göttingen 1999. 54 Dieter Langewiesche: Republik, Konstitutionelle Monarchie und „soziale Frage“. Grundprobleme der deutschen Revolution von 1848/49. In: Ders. (Hg.): Die deutsche Revolution von 1848/49. Darmstadt 1983, 361. [zuerst HZ 230 (1980), 529 – 548].
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gen der Länder der Habsburger Monarchie, die seinen staatlichen Zentralisierungskurs nicht mittragen wollten, zudem waren die konservative Ausrichtung und die Bereitschaft zum absoluten Regieren bei der staatlichen Elite und beim Kaiser deutlich stärker ausgeprägt. Zudem musste er überhaupt erst eine Verfassung schaffen. In Preußen dagegen verfolgte die Regierung Auerswald zwar prinzipientreu ihre liberalen Vorhaben. Mit dem Scheitern der parlamentarischen Durchsetzung der Heeresreform verlor sie jedoch sofort die Unterstützung durch Wilhelm I. In der Deutschlandpolitik, einem zentralen Thema der liberalen Opposition, blieben schließlich beide Regierungen erfolglos. „Aber daß die Altliberalen ihre Regierungsunfähigkeit unwiderleglich dargetan haben, dies steht über allen Zweifel erhaben“; so urteilte rückblickend die Allgemeine Zeitung 1866 über Preußen.55 Dieses Scheitern der altliberalen Regierungen war nicht überraschend. Konstitutionalismus, wie er sich 1867 in Preußen wie Österreich durchsetzte, war nur bei einem deutlichen Vorrang des Monarchen möglich. Aus sich heraus waren die Altliberalen zu schwach, um deutliche Veränderungen zu erreichen. Wenn es in den deutschen Großmächten unter dem Ansturm der Revolution nicht gelungen war, den Konstitutionalismus durchzusetzen, dann hatte er, gestützt nur auf das kurzfristige Wohlwollen der im Grunde konservativen Monarchen, keine Chancen. Schmerling hatte Recht, wenn er in seinen Erinnerungen urteilte: „Eine jede Verfassung und alle verfassungsmäßigen Rechte bleiben immer eine Frage der Macht. Wer die Macht hat, wird sie ausüben, und für denjenigen, der die Macht nicht hat, wird sie immer bloß ein geschriebenes Blatt Papier sein.“56 Eine liberale Regierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts brauchte revolutionäre oder parlamentarische Macht im Rücken, um sich durchzusetzen.
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Interessanterweise in einer Rezension über Hermann Baumgartens Plädoyer für eine erneute Zusammenarbeit des Liberalismus mit dem konservativen Staat. Beilage zur Allgemeinen Zeitung, 28. 12. 1866; abgedruckt in: Hermann Baumgarten: Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik [1866]. Hg. v. Adolf M. Birke. Berlin 1974, 165 – 170, hier 166. Baumgarten selbst hat als Autor August Lamey angenommen. 56 Höbelt, Schmerling, 92.
Benedek und Moltke. Parallele Biografien Von Jürgen Angelow, Potsdam Ein Vergleich zwischen Preußen und Österreich rückt zwangsläufig jene Protagonisten beider Monarchien ins Licht, die an den entscheidenden Wendepunkten der Geschichte beteiligt waren und durch ihr Zutun, durch Initiative, Begabung und Gemüt, aber auch durch ihr Lassen, durch Unentschlossenheit und Unfähigkeit zum Ausgang der Geschichte beigetragen haben. Und hier wiederum fallen, gerade im 19. Jahrhundert, dem Zeitalter nationaler Emanzipationskämpfe und durch das europäische Konzert gehegter Staatenkriege, nicht nur gekrönte Häupter sowie herausragende Politiker und Diplomaten ins Gewicht, sondern auch jene, die an den militärischen Entscheidungen unmittelbar beteiligt waren und Sieg oder Niederlage zu verantworten hatten. Die historische Biografik ist stets mit dem Problem konfrontiert, menschliches Handeln in gesellschaftliche Strukturen und politische Konstellationen zurück zu binden und die Perspektive über den individuellen Horizont eines einzelnen Menschen hinaus zu öffnen. Denn auch Feldherren, wie Helmuth von Moltke der Ältere und Ludwig von Benedek, deren parallele Betrachtung Gegenstand dieses Beitrages sind, waren in die politisch-sozialen Kontexte ihrer jeweiligen Entfaltungsräume, also Preußen-Deutschlands und Österreichs, eingebunden. In ihrem Falle stellt sich die Frage, in welchem Maße die unterschiedlichen systemischen Voraussetzungen auf ihre Entwicklung Einfluss genommen haben und ob die durch das Jahr 1866 markierte Wende im Leben beider in den vorangegangenen Abschnitten ihrer Biografie schon angelegt war. Parallelgeschichte hat hier immerhin den Vorteil, eine Epoche mindestens aus zwei Perspektiven zu betrachten. Wir kennen Alan Bullocks Vergleich der beiden großen Diktatoren des 20. Jahrhunderts,1 der paradigmatisch für das Genre geworden ist, und auch Moltke und Benedek wurden – zumindest in Ansätzen – sehr bald Gegenstand paralleler Betrachtungen. Doch fiel das Urteil über den erfolgreichen Einen viel weniger kontrovers aus als das über den vom Misserfolg heimgesuchten Anderen. Haben sich, so könnte gefragt werden, Auf- und Abstieg beider Männer in ihren Biografien erkennbar angebahnt oder entschied sich beider Schicksal erst in der direkten Begegnung bei Königgrätz am 3. Juli 1866? Die Hauptschlacht dieses unpopulären deutsch-deutschen Bruderkrieges hat das Leben der beiden Feldherren grundlegend verändert: Während Moltke nach dem 1
Alan Bullock: Hitler and Stalin. Parallel Lives, London 1991.
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Sieg hoch dekoriert und mit zusätzlichen Einkünften versehen wurde, die ihm den Ankauf des schlesischen Gutes Kreisau, damit den Erwerb erblichen Landbesitzes und eine beträchtliche Vermögensbildung garantierten;2 zog es den anderen nach der Niederlage bald aus Wien nach Graz, wo er ein bescheidenes Haus bezog und bei seinem Tode nur wenige Habseligkeiten hinterließ: In der Todesfallaufnahme Benedek findet sich der folgende Eintrag, „Vermögen 125 Gulden bar, Garderobe 200 Gulden, eine goldene Uhr 15 Gulden, Summe 340 Gulden. Begräbniskosten 1183 Gulden, 60 Kreuzer“. Nicht einmal die Bestattungskosten waren gedeckt.3 Während Moltke nach den Siegen von 1866 – 71 als unfehlbar galt und in den Olymp der uniformierten Halbgötter erhoben wurde, traf den Verlierer die ganze Häme seiner Standesgenossen und die dezidierte Kritik der militärischen Fachliteratur. Die Kontroverse um Benedek begann mit dem herabsetzenden Artikel in der „Wiener Zeitung“ vom 8. Dezember 1866, von dem noch die Rede sein wird, setzte sich im Generalstabswerk der k. u. k. Armee fort und führte auf das Feld geschichtlicher und militärischer Erörterungen vor dem Ersten Weltkrieg. So hat, in Entgegnung der Schrift des deutschen Generals der Infanterie und Militärhistorikers Sigismund von Schlichting (1829 – 1909) „Moltke und Benedek“ aus dem Jahre 1900,4 der österreichisch-ungarische Generalstabsoffizier, spätere Heerführer des Ersten Weltkrieges und überzeugte Nationalsozialist Alfred Krauß (1862 – 1938) bereits 1901 beide Feldherren direkt aneinander gemessen und 1901 die Behauptung aufgestellt, dass Benedek weder Charakter noch Willensstärke und Geschick genug besessen hätte, seiner Aufgabe gerecht zu werden.5 Er sei nicht mehr als ein Nachahmer der Napoleonischen Form gewesen.6 Anders als bei Schlichting korrespondierte hier die Herabsetzung des geschlagenen Feldherren nicht nur mit einer Überhöhung dessen preußisch-deutschen Widerparts, sondern auch mit der Reinwaschung des österreichischen Kaiserhauses in Gestalt Erzherzog Albrechts, des prominenten Gegenspielers im Jahre 1866. Vergleicht man diese Darstellung, die sich im Übrigen in operativ-taktischen Details verliert, mit der vorausgegangenen Schrift des liberalen, deutschnationalen österreichischen Historikers Heinrich Friedjung (1851 – 1920) aus dem gleichen Jahr, springt das Kontroverse der Figur Benedeks vollends ins Auge. Friedjung hatte dessen Behandlung als schneidende Ungerechtigkeit und Undankbarkeit empfunden und ihn zum hilflosen Märtyrer stilisiert, dem von einer bösartigen Hofkamarilla der Eselstritt verpasst worden war.7 Damit war der Weg für jenes bürgerlich-liberale Geschichtsbild frei geworden, dem Benedek von nun an eine „ge2 Jürgen Angelow: Helmuth von Moltke der Ältere (1800 – 1891). In: Michael Fröhlich (Hg.): Das Kaiserreich. Portrait einer Epoche in Biografien, Darmstadt 2001, 27 – 40, hier 35. 3 Oskar Regele: Feldzeugmeister Benedek. Der Weg nach Königgrätz, Wien/München 1960, 548. 4 Sigismund von Schlichting: Moltke und Benedek, Berlin 1900. 5 Alfred Krauß: Moltke, Benedek und Napoleon, Wien 1901. 6 Ebd., 7. 7 Johann Christoph Allmayer-Beck: Der stumme Reiter. Erzherzog Albrecht. Der Feldherr „Gesamtösterreichs“, Graz/Wien/Köln 1997, 193.
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rechtere Beurteilung“ verdankte. In die gleiche Bresche schlugen Wilhelm Alter (1912)8 und Josef Redlich (1929), der dem Monarchen gegen Benedek „kleinlichen Zorn“ vorwarf,9 aber auch Carl Graf Lónyay (1937),10 Heinrich Ritter von Srbik (1949)11 und Oskar Regele (1960)12. Neuere Arbeiten, wie die Johann Christoph Allmayer-Becks, haben diese Vorwürfe relativiert, aber auch das Urteil über den geschlagenen Feldherrn abgemildert, da es nicht anginge, einen Einzelnen für die Gebrechen einer Armee und eines ganzen Staates schuldig zu sprechen,13 und den immerhin ehrenwerten Versuch des Erzherzogs herausgestellt, einem alten Freund, ungeachtet aller Wechselfälle des Schicksals, bleibende Achtung und Dankbarkeit zu versichern.14 Parallele Biografien suchen den Vergleich. Biografien können aber nur verglichen werden, wenn sich Zeiten, Handlungsräume und Handlungsrahmen ähneln, wenn tatsächliche Parallelen oder parallele Strukturen vorhanden sind, die im Einzelfall das Herausarbeiten allgemeiner und typischer Merkmale sinnvoll erscheinen lassen, um daraus Rückschlüsse wiederum auf das Gesamtsystem zu ziehen. Der zeitliche Rahmen scheint den Vergleich nahe zu legen. Das Leben beider Protagonisten fällt in die Zeit des 19. Jahrhunderts. Moltke wurde am 26. Oktober 1800 in Parchim geboren und er starb am 24. April 1891 in Berlin. Benedek erblickte am 14. Juli 1804 in Ödenburg das Licht der Welt und er verschied am 27. April 1881 in Graz. Auch beider Handlungsrahmen ähnelten sich. Als exponierte Vertreter des Militärstandes waren beide in die militärischen Auseinandersetzungen zur Lösung der nationalen Fragen im Europa involviert, Moltke im Rahmen der drei Reichsgründungskriege zwischen 1864 und 1871, Benedek schon viel früher, nämlich bei der Zurückweisung der italienischen, ungarischen und polnischen Nationalbestrebungen seit 1846 sowie dann auch bei der Auseinandersetzung mit Preußen um die Vorherrschaft in Deutschland. Damit existierte für beide eine vergleichbare Ausgangssituation, obwohl die politischen und sozialen Rahmenbedingungen in Preußen und Österreich deutlich voneinander abwichen. Jeder biografische Vergleich benötigt Kriterien und damit eine Entscheidung, welchen Facetten einer Biografie sinnvoller Weise Priorität eingeräumt werden kann. An dieser Stelle sollen vier Gesichtspunkte Berücksichtigung erfahren, zunächst der familiäre Hintergrund, Bildung und Sozialisation, danach Besonderheiten und Weichenstellungen des Karriereverlaufs, schließlich die Auseinandersetzung im 8
Wilhelm Alter: Feldzeugmeister Benedek und der Feldzug der k. k. Nordarmee 1866. Mit einer Biographie des Feldzeugmeisters, Berlin 1912. 9 Josef Redlich: Kaiser Franz Joseph von Österreich, Berlin 1929, S. 294. 10 Carl Lónyay: Ich will Rechenschaft ablegen! Die unbewusste Selbstbiographie des Generals Benedek, Leipzig und Wien 1937. 11 Heinrich Ritter von Srbik: Aus Österreichs Vergangenheit, Salzburg 1949. 12 Oskar Regele: Feldzeugmeister Benedek. Der Weg nach Königgrätz, Wien/München 1960. 13 Hierzu: Regele, 513 – 514. 14 Allmayer-Beck, 1997, 195.
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Schnittpunkt beider Biografien von 1866 sowie schlussendlich der Mythos um beide Feldherren und ihr Platz in der Geschichte. I. Familiärer Hintergrund und Jugend beider Feldherren deuteten nicht auf jene erfolgreichen, typisch adligen Militärkarrieren hin, die entweder aus dem Milieu des brandenburgischen Schwertadels oder des katholisch-altösterreichischen Hochadels entsprangen. Moltkes Vater gehörte dem mittellosen Militäradel an, denn das großväterliche Gut Samow hatte bereits 1785 verkauft werden müssen, um den Unterhalt der zahlreichen väterlichen Geschwister zu sichern. Nach dem finanziellen Schiffbruch des Vaters und dem Scheitern der elterlichen Ehe hatte Helmuth von Moltke seine Jugend nicht in intakten familiären Verhältnissen und erst recht nicht mit einem für seinen Stand angemessenen materiellen Auskommen verbracht.15 Der Knabe war mit 11 Jahren in die Landkadettenanstalt nach Kopenhagen gekommen, wo seine kurze, freudlose Kindheit ein Ende fand und man ihn einer harten, entbehrungsreichen Erziehung unterzog. Militärische Bildung hat er dort nicht erfahren, dafür aber umso mehr Drill. Alle täglichen Verrichtungen waren strikt reglementiert. Er hätte sich unterdrückt und fremd gefühlt, wird er später beklagen, und keine Erziehung erhalten, sondern nur Prügel. Ständige Rücksichtnahme auf andere sowie die frühe Einschränkung aller Neigungen und Eigenarten empfand er später als Defizite seiner Wesensart. Dennoch setzte er den einmal eingeschlagenen Weg fort, bestand 1818 die dänische Offiziersprüfung mit Auszeichnung und trat drei Jahre später in preußische Dienste über, wo man bald auf ihn aufmerksam wurde und ihn auf die Allgemeine Kriegsschule nach Berlin schickte. Zwar wurde die Schule vom bekannten Militär-Philosophen Carl von Clausewitz geleitet, mehr Eindruck als dieser, dessen theoretische Erörterungen Moltke fremd blieben, hinterließen allerdings praktische Unterweisungen, wie sie die Lehrer für Kriegsgeschichte Karl von Canitz und Dallwitz, ein enger Freund des Kronprinzen, der namhafte Geograf Carl Ritter, Verfasser einer 21bändigen Erdkunde und Mitbegründer der modernen wissenschaftlichen Geografie, sowie der Professor für Physik und Chemie Paul Erdmann darboten. Ohne elterliche Zulage zur eisernen Sparsamkeit gezwungen, trotzte Moltke seinem schäbigen Leutnantsgehalt eine gediegene Sprachausbildung ab, so dass er außer Dänisch und Deutsch bald auch Englisch und Französisch und später noch Russisch, Italienisch und Spanisch beherrschte. Seine Sprachkenntnisse öffneten ihm viele Türen und erlaubten ihm, seine Einkünfte durch Übersetzungen aufzubessern. 1826 beendete Moltke die Akademie mit einem sehr guten Ergebnis. Nach einigen Verwendungen als Leiter einer Divisionsschule und Militärkartograf wurde er 1833 in den preußischen Generalstab versetzt.
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Jugend und Ausbildung: Angelow, Helmuth von Moltke, 27 – 29.
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Zwar konnte die verzweigte Familie des 1804 geborenen Ludwig Benedek auf alte Wurzeln im ungarischen Adel verweisen, die bis ins Jahr 1610 zurückreichten, der Titel war aber verloren gegangen, so dass Benedek als bürgerlicher Aufsteiger galt, der erst durch die Nobilitierung durch das Ritterkreuz des Leopoldordens 1846 dem Dienstadel zugerechnet wurde.16 Das geflügelte Wort, wonach es zwar keine Ehre ist, einen Orden zu besitzen, beim Zusammenleben aber nachteilig sein kann, keinen zu haben, traf auf Benedek nur bedingt zu, denn er wurde von den aristokratischen Standesgenossen und den Wiener Militärbürokraten auch jetzt nicht ihren Kreisen zugehörig empfunden, – die soziale Durchlässigkeit der altösterreichischen Gesellschaft fand hier ihre Grenze. Benedek versuchte dieses Manko seiner Herkunft durch großen Ehrgeiz auszugleichen, aber er stilisierte es auch. Dies zeigte sich in seiner Verachtung jener hochadligen Salongeneräle, die außerhalb der Feldlager aufgestiegen waren, nur wenig Ruhm geerntet und jede Niederlage mit Leichtigkeit weggesteckt hatten. Für die berufliche Laufbahn Benedeks war die zufällige Begegnung des Knaben mit dem Grafen Radetzky maßgeblich, der sich bei seinem Vater, einem Arzt, in Behandlung befand, denn von ihm wurde Benedek der Theresianischen Wiener-Neustädter Militärakademie vermittelt. Dort wurde nicht wissenschaftlich gebildet, sondern, im konkreten Falle sogar sehr erfolgreich, zu einer „schwärmerischen Hingabe an Kaiser und Reich sowie zu stoischer Tapferkeit“ erzogen. Für Schriftgelehrte hatte man nur Spott übrig, Wert wurde vor allem auf die Bildung des Charakters, auf Griffeklopfen und Drill gelegt. Benedek hat, anders als Moltke in Berlin, auf der Theresianischen Militärakademie keine gediegene theoretische Ausbildung erhalten, stattdessen praktische Kenntnisse und Unterweisungen in den Grundlagen der Strategie, die allerdings nicht zur Führung einer großen Armee reichten. Erst später, in seiner Mailänder Zeit als Hauptmann, wird er unregelmäßig, jedoch aus eigenem Antrieb, theoretische Studien lesen und sogar ein Manuskript über die Verteidigung Österreichs verfassen, das auch Aussagen zum böhmischen Kriegsschauplatz enthält, aber unveröffentlicht bleiben und erst durch seinen Nachlass bekannt werden wird. Die frühzeitige Verwendung Benedeks, der sich seit 1825 als Leutnant im Truppendienst befand und alternierend in Galizien, Ungarn und Oberitalien eingesetzt wurde, also in den Krisenregionen einer Monarchie, deren Nationalitätenkonflikte seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts immer wieder aufflackerten, verbesserte zwar seine Sprachkenntnisse, da jeder österreichische Offizier neben Deutsch die Sprache seines Regiments beherrschen musste, vermittelte ihm auch praktische Einsichten und Geschäftskenntnisse für den späteren Generalstabsdienst und förderte ebenso Entschlossenheit und Tatendrang; verhinderte jedoch eine tiefere Bildung oder gar Weltläufigkeit, wie sie sich Moltke durch sein Berliner Studium und einen mehrjährigen Aufenthalt als Kartograph und Instruktionsoffizier im Osmanischen Reich aneignen konnte. Er selbst, 16 Zu den folgenden biografischen Details: Regele, Weg nach Königgrätz; Gerd Fesser: 1866. Königgrätz – Sadowa. Bismarcks Sieg über Österreich, Berlin 1994. Eine populäre Zusammenfassung bei: Jens-Florian Ebert: Der Löwe von San Martino. In: Militär und Geschichte, Heft 37 (2008), 28 – 33.
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so Benedek, hätte gern einen richtigen Krieg geführt, nicht „gegen Rebellen“, sondern „gegen ehrliche Soldaten“, wie er 1848 aus Ungarn seiner Frau berichtete. Diese Einsätze haben Benedek frühzeitig verbraucht. Seit 1859 suchte er regelmäßig um Pensionierung nach, die vom Kaiser genauso regelmäßig abgelehnt und mit ausgedehnter Urlaubsgewährung – bis zu zwölf Wochen ohne Unterbrechung – beantwortet wurde. Benedek war kränklich, unter anderem litt er an wiederkehrenden Lungen-, Blasen-, Nieren- und Gallenleiden. Hinzu kam ein leichter Hang zur Hypochondrie, der ihn seine Beschwerden noch schwerer ertragen ließ.17 Moltke und Benedek haben sich fast gleichzeitig vermählt. Der ältere von beiden, Moltke, heiratete 1842 als 41jähriger die 16jährige Stieftochter seiner Schwester. Die Braut, Mary (Marie) Burt, stammte aus dem englischen Landadel und verfügte über ein freundliches, unkompliziertes Wesen. Zwar blieb die Ehe kinderlos, doch sie verlief glücklich und dauerte bis 1868, dem Todesjahr Maries. Benedek trat als 39jähriger 1843 in den Stand der Ehe. Seine Frau Julie, die junge Witwe eines Großhändlers, war die Tochter des höchsten Beamten der kaiserlichen Statthalterei in Galizien, Franz Krieg von Hochfelden. Zwar hat der lange Widerstand der Brauteltern den Stolz Benedeks verletzt, doch war es eine glückliche Verbindung, wovon die Briefe Benedeks Zeugnis ablegen. Eine Förderung ihrer Karrieren konnte sich weder der eine noch der andere der beiden Protagonisten durch ihre Heirat versprechen, darauf waren sie zu diesem Zeitpunkt auch nicht mehr angewiesen. Moltke genoss die Protektion des preußischen Prinzen Carl, den er auf mehreren Reisen begleitete, und bald auch die Gunst des Kronprinzen Wilhelm. Benedek konnte sich der besonderen Zuwendung Radetzkys erfreuen, der ihn im Auge behielt, seine ersten Schritte lenkte und in Italien als sein Mentor wirkte. II. Die Karriereverläufe der beiden Feldherren unterschieden sich grundlegend. Der eine war nach seiner Rückkehr aus dem Orient wieder in den Generalstabsdienst einer Friedensarmee zurückgekehrt. – Seine „Briefe aus der Türkei“, in denen er die Schönheit der antiken Landschaften ausmalt, zahllose Abenteuer schildert sowie Geschichte, Kultur und Lebensart der Bewohner beschreibt,18 sind noch heute lesenswert. Ab und zu hatte er sich publizistisch zu Wort gemeldet und beispielsweise während der Rheinkrise 1840/41, auf französische Rheinforderungen hin, Elsass-Lothringen verlangt.19 Zwar zählte er zum Gefolge der preußischen Prinzen, wenn diese auf Reisen gingen, seine Truppenferne hatte aber dazu geführt, dass 17
Regele, 266. Helmuth von Moltke: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei. In: Gesammelte Schriften und Denkwürdigkeiten des Generalfeldmarschalls Grafen Helmuth von Moltke, 8 Bde., Berlin 1891 – 93, Bd. 8. Zusammengefasst abgedruckt in: Helmuth von Moltke: Unter dem Halbmond. Erlebnisse in der alten Türkei 1835 – 1839, Tübingen 1981. 19 Helmuth von Moltke: Die westliche Grenzfrage. In: Gesammelte Schriften, Bd. 2, 175 – 228. 18
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man ihn 1856 für eine alsbaldige Pensionierung vorschlug. Die Übertragung der Regentschaft des durch Krankheit nicht mehr regierungsfähigen Königs auf den Prinzen Wilhelm sowie der Tod des preußischen Generalstabschefs Karl von Reyher führten dann dazu, dass ihm dessen Geschäfte am 29. Oktober 1857 zumindest provisorisch übertragen wurden. Damit stand er an der Spitze jenes Apparates, der 1808 als Abteilung des Kriegsministeriums von Scharnhorst ins Leben gerufen worden war, namentlich operative Studien anzufertigen und im Falle eines Krieges dem Oberbefehlshaber beratend zur Seite zu stehen hatte. Erst nach 1871 wird sich jenes Generalstabssystem herausbilden, in dessen Folge sich der nunmehrige „Große Generalstab“ zu einer fast autarken Kaste entwickelt hat. 1883 schließlich löste sich der Chef des Generalstabs endgültig vom Kriegsminister und erhielt eine Immediatstellung. Äußerer Ehrgeiz war Moltke fremd, der stets beherrscht und nur im Krieg seltsam vitalisiert wirkte. Auch an der Ausarbeitung der Heeresreform durch Albrecht von Roon nahm er kaum Anteil, er verbrachte seine Zeit mit der Analyse der militärpolitischen Lage und dem Erstellen operativer Planungen für den Fall kriegerischer Verwicklungen. Dabei wurde ihm – welch Ironie der Geschichte – immer mehr bewusst, dass ein enges Zusammengehen mit Österreich den Schlussstein der preußischen Sicherheitspolitik bilden konnte.20 Seinen Dienstschriften vertraute er an, dass im Zusammenwirken der beiden deutschen Vormächte die größte Gewähr für den europäischen Frieden liegen würde. An dieser Vorstellung sollte er Zeit seines Lebens festhalten, ungeachtet der Auseinandersetzung von 1866. So hatte er sich im Vorfeld des österreichisch-italienischen Konfliktes von 1859 für ein festes Militärbündnis mit der Habsburgermonarchie ausgesprochen, dem sich Großbritannien hätte anschließen können. Und auch während des Konfliktes in Oberitalien war Moltke nicht untätig geblieben, die politische Führung Preußens von ihrem Neutralitätskurs abzubringen und in diesem Sinne festzulegen. Dabei hatte er einen Präventivkrieg der deutschen Staaten gegen Frankreich gefordert und die Lösung wichtiger politischer Fragen von der Strategie abhängig gemacht. Bekanntlich ist das offizielle Berlin seinen Vorschlägen nicht gefolgt, erst 1879 entstand mit dem Zweibund ein reguläres Militärbündnis zwischen beiden Monarchien, welches bis zum Ende des Ersten Weltkrieges halten sollte. Doch dem soll hier nicht weiter nachgegangen werden. Bewähren konnte sich Moltke erst im deutsch-dänischen Krieg, in dem er nach der Ablösung des bereits 80jährigen Ernst von Wrangel die unmittelbare Truppenführung unter dem preußischen Prinzen Friedrich Karl übernahm. So leitete Moltke den Übergang nach Alsen, durch den der dänische Widerstand endgültig gebrochen wurde. Dieser militärische Eingriff des Generalstabschefs hatte weitreichende Folgen. Als es 1866 zum Krieg mit Österreich und seinen deutschen Verbündeten kam, leitete er die Bewegungen der Truppen von Beginn an und zeichnete für den konzentrischen Eisenbahnaufmarsch der preußischen Armee in Böhmen verantwortlich, den er von Berlin aus per Telegraph organisieren musste, da ihm gleichzeitig die Operationen auf den Nebenkriegsschauplätzen gegen den zersplitterten Torso des 20
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Bundesheeres oblagen. Erst am 30. Juni begab sich Moltke nach Böhmen, um dort rechtzeitig am 3. Juli die Vereinigung der drei preußischen Heeressäulen auf dem Schlachtfeld von Königgrätz zu dirigieren, die zur Umfassung der österreichischsächsischen Nordarmee unter Bendek führen sollte. Letzterer hatte seine ersten militärischen Lorbeeren bei der Bekämpfung eines Bauernaufstandes in Galizien 1846 verdient, als er trotz der Energielosigkeit und Untätigkeit seiner Vorgesetzten energisch gegen den inneren Gegner vorging und bei Gdów einen wichtigen Sieg gegen die Aufständischen erfocht. Der Theresienorden blieb ihm wegen seiner Neider versagt, doch wurde er bald befördert und nach Italien versetzt. Hier bewährte sich Benedek, dessen sanguinisches Temperament und fatalistische Weltsicht ihn Risiken eingehen ließen, die andere Truppenführer vermieden. Während der Revolutionskämpfe der Jahre 1848/49 focht er als Brigadekommandeur an der Seite Radetzkys und entschied oft durch riskante Angriffe den Ausgang von Schlachten gegen die Truppen Piemonts. Mantua, Curtatone (29. Mai 1848), Mortara (21. März 1849), Novara (23. März 1849) brachten ihm höchste Auszeichnungen und, nach Novara, demonstrativ aus den Händen Erzherzog Albrechts, den Degen dessen Vaters, Erzherzog Karl, des Siegers von Aspern gegen Napoleon 1809, der bis heute einen wichtigen Platz in der österreichischen Erinnerungskultur einnimmt. Benedek hatte Fortune, er besaß Intuition und die Fähigkeit, Situationen blitzschnell beim Schopfe zu packen.21 Zum Generalmajor befördert, wurde er im April 1849 nach Ungarn geschickt, wo er ebenfalls gegen Aufständische zu kämpfen gezwungen war. Ebenso kaltblütig in der Defensive wie „schneidig“ im Angriff erwies er sich nicht nur gegen die Ungarn bei Komorn am 11. Juli 1849, sondern auch zehn Jahre später bei Solferino gegen die Armeen Frankreichs und Sardinien-Piemonts, wo er gegen die Italiener den rechten österreichischen Flügel bei San Martino sicherte und sich erst auf Befehl Kaiser Franz Josephs zurückzog. Es war dies eine Meisterleistung und gleichzeitig auch der Wendepunkt seiner militärischen Karriere. Den unglücklichen Feldzug, der durch unpassende Besetzungen und Kaltstellungen, die Unfähigkeit der obersten Generalität einschließlich des Monarchen sowie lahme operative Kompromisse verloren wurde, kommentierte Benedek in einem Privatschreiben, ,er würde die ganze Geschichte nicht verstehen, es sei auch nicht seine Sache, über Operationen zu grübeln oder gar zu kritisieren‘. Diese Auffassung Benedeks, der sich zwar als Truppenoffizier bewährte, die operativen Planungen aber anderen überließ, unterschied sich gravierend von der Moltkes, für den die operative Kunst das eigentliche Element darstellte. Denkwürdig an Solferino ist auch der Umgang des österreichischen Kaisers mit seiner eigenen Niederlage im Vergleich zur Niederlage seines fähigen Truppenführers sieben Jahre später: „Quod licet lovi, non licet bovi“. – Was Jupiter durchgeht, darf das Rindvieh noch lange nicht. Der für Österreich verlorene Krieg von 1859 gilt in vielerlei Hinsicht als das Vorspiel der Katastrophe von 1866, auch in dem Sinne, als Benedek am 20. Januar 1860 21
Regele, 274.
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unter Überspringung zahlreicher Feldmarschallleutnants zum Feldzeugmeister und zum Chef des Generalstabs der österreichischen Armee ernannt wurde. Die eklatante Fehlbesetzung mit einem Mann, dessen Eignung für ein Korpskommando feststand, nicht aber für die Leitung des österreichischen Generalstabes, war mehr als eine kaiserliche Huldbezeugung, es war auch eine machtrationale Entscheidung, besetzte doch Franz Joseph hier und auch weiter alle Schlüsselpositionen kontrovers, um unterschiedliche Gruppen gegeneinander ausspielen und angesichts divergierender Ratschläge eine Mittellinie einnehmen zu können. Dieses Verfahren erzeugte künstliche Reibungen und Benedek wurde bis zur Niederlegung des Amtes im November 1864 an eine Aufgabe gebunden, für die er sich auch selbst als ungeeignet empfand: Ihm würde jedes höhere strategische Wissen fehlen und er hätte auch keine Muße, sich hierin einzuarbeiten.22 Er sei kein Mann überlegener Arbeit gewesen. Der sonst wohlwollend urteilende Carl Graf Lónyay wird über ihn sagen: „Wo er nachdenken sollte, da fehlte es.“23 Zudem war Benedek nun der aristokratischen Militärbürokratie um die Generaladjutanten des Kaisers, Grafen Grünne und Creneville, ausgeliefert, die, zwar mit ihm befreundet, stets solche Personalentscheidungen durchsetzten, die er vehement ablehnte. Da er drei Monate später zum Chef des Generalkommandos in Ungarn und im Oktober desselben Jahres zum Kommandeur der Italienarmee berufen wurde, übernahm sein Stellvertreter und Intimfeind, Feldmarschallleutnant Ramming, die Führung des Generalstabs. In Italien widmete sich Benedek der Festigung der inneren Ordnung und Disziplin, dabei legte er nicht nur viel Wert auf Drill und Äußerlichkeiten, sondern hielt auch Feldlager ab, um im Brigadeverband taktisches Exerzieren zu üben. Immerhin wirkte er in den fünf Jahren seiner Tätigkeit in Oberitalien so erfolgreich, dass sein Nachfolger, Erzherzog Albrecht, mit der Italienarmee 1866 einen leichten Sieg erringen konnte.
III. Von Montesquieu ist der Spruch überliefert, er hätte Leute vor Kummer sterben sehen, weil man ihnen nicht Ämter gab, die sie hätten ausschlagen müssen, wenn man sie ihnen angeboten hätte. Auf Moltke traf dies nicht zu, als Chef des preußischen Generalstabes war er von Beginn des 1866er Krieges für die Bewegung aller Truppen verantwortlich. Zwar stand ihm König Wilhelm I. als nomineller Oberbefehlshaber vor, doch besaß er neben seinen Fähigkeiten als Generalstabschef die tatsächliche operative Führungskompetenz, nahm an allen operativen Besprechungen teil und durfte seine Befehle im Namen des königlichen Oberbefehlshabers geben. 1866 noch zum General der Infanterie befördert, war er den Chefs der einzelnen Armeekorps auch vom Dienstgrad gleichgestellt, um Reibungen zu vermeiden. Als entscheidend aber erwies sich die Tatsache, dass Moltke in die operative Arbeit hinein22 23
Regele, 239. Lónyay, zit. nach Regele, 264.
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gewachsen war und neben ungewöhnlichem Talent auch genug Risikobereitschaft mitbrachte. Zudem verfügte er über eine Armee, deren Friedensbestand durch die Roonsche Heeresreform gegen den Widerstand des Abgeordnetenhauses von 150.000 im Jahre 1859 auf 264.000 acht Jahre später aufgestockt, mit der Einführung des Zündnadelgewehrs und gezogener Geschütze technisch auf den neuesten Stand gebracht und durch ein modernes Ausbildungssystem mit Scheibenschießen, Schießprüfungen und Gefechtsübungen gut auf einen Konfliktfall vorbereitet worden war. Auf österreichischer Seite rückten dagegen Truppen ein, die noch nie geschossen hatten und sich mit ihren Waffen erst im Gefecht vertraut machen mussten. Die Dienstzeitverlängerung auf drei Jahre und die weitgehende Ausschaltung der Landwehr hatten aus dem preußischen Heer ein auch politisch unbedingt zuverlässiges Instrument geformt. Seine Ausrüstung war vollständig, alle Bataillons-, Regimentsund Unterabteilungskommandanten waren mit brauchbaren Karten ausgestattet. Dagegen war die Ausrüstung der österreichischen Nordarmee, vor allem des neuen Rekrutenjahrgangs und der Kavalleriereservisten, mangelhaft. Es fehlte an Uniformen und 300.000 Paar Schuhe erhielt die Armee erst wenige Tage vor der Schlacht bei Königgrätz. Karten besaßen nur die höheren Stabsoffiziere.24 Die Entwicklung des Bahnnetzes infolge des höheren Industrialisierungsgrades in Preußen gab Moltke eine Infrastruktur an die Hand, die einen schnellen konzentrischen Aufmarsch gegen Böhmen ermöglichte – immerhin standen ihm fünf Aufmarschbahnen gegen zwei österreichische zur Verfügung. Auch hatte die politische Führung in Preußen sehr bald die politischen, finanziellen und diplomatischen Weichen in den militärischen Konflikt gestellt, als sich im Frühjahr 1866 der Bruch mit Österreich andeutete. Der Verkauf von Eisenbahnaktien sicherte die Finanzierung, das befristete Angriffsbündnis mit Italien einen weiteren, entlastenden Kriegsschauplatz und die frühzeitige Mobilmachung einen deutlichen Vorsprung der eigenen Aufmarschbewegungen. Im Gegensatz zur Habsburgermonarchie, die für Mobilisierung und Aufmarsch der Nordarmee acht Wochen in Anschlag brachte, benötigte Preußen viereinhalb. Sicher barg ein militärischer Konflikt mit der Präsidialmacht des Deutschen Bundes, die über viele Ressourcen verfügte, auch Risiken in sich, er war weder populär noch alternativlos – nach Lage der Dinge aber gehörte er zum politischen Kalkül des preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck und die politisch und militärisch Verantwortlichen hatten sich gut darauf vorbereitet. Anders in Österreich: Hier war es nach der Einsetzung des Grafen-Ministeriums unter dem Grafen Richard Belcredi, der die liberale Reformperiode abbrach, zu einer weiteren Schwächung der Monarchie gekommen: Der Reichsrat war vertagt und die Verfassung sistiert worden, so dass die Bevölkerung nicht hinter der Regierung stand. Die Ungarn opponierten sogar offen gegen sie. Finanzpolitisch war Österreich am Ende. Nach langen Jahren missglückter Sanierungsexperimente hatte es 1865 seine Kreditwürdigkeit eingebüßt. Aus Kostengründen waren seit Mitte der 50er Jahre gravierende Einsparungen im Rüstungsbereich erfolgt, parallel zur preußi24
Regele, 378.
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schen Aufrüstung. Vor allem Finanzminister Ernst von Plener und einige liberale Abgeordnete hatten sich dabei hervorgetan, sie sind als so genanntes „Streichquartett“ in die Geschichte eingegangen.25 Folgt man der zeitgenössischen Heeresstatistik, dann machten die österreichischen Wehrausgaben zwischen 1862 und 1864 knapp 20 Prozent der Staatsausgaben aus, während es in Preußen 27,5 Prozent waren. 1866 betrug das österreichische Wehrbudget 18,6 Prozent, das preußische 40 Prozent.26 Während in Österreich auf 361 Einwohner ein Soldat kam, waren es in Preußen 286 Einwohner, wird die Landwehr hinzugezählt, fällt der Vergleich noch eindeutiger aus. Die Einsparungen des österreichischen Wehretats betrafen die Festungen, deren Werke verfielen, ebenso Neuanschaffungen bei Artillerie und Infanteriebewaffnung und eine Reduzierung der Truppenstärken. Durch die Streichungen vor 1866 waren 93 Kavallerie-Eskadronen und 51 Batterien der Artillerie aufgelöst worden.27 Einigen österreichischen Generälen hatte es bereits 1865 gedämmert, dass das preußische Zündnadelgewehr, dessen hohe Feuergeschwindigkeit und leichte Handhabung bekannt waren, eine gefährliche Waffe sein würde. Doch hatte die im Winter 1865/66 eingesetzte Offizierskommission nach umfangreichen Erprobungen in Preußen die bemerkenswerte Feststellung getroffen: „Die Wirkung des Gewehrs sei nicht bedenklich“, einer der Offiziere hatte hinzugefügt, „es sei für den Schützen gefährlicher als für den Feind“.28 Die anschließend vorgenommene Prüfung im Wiener Arsenal verlief angesichts der Voreingenommenheit der Prüfer ebenfalls ungünstig. Schließlich blieb man beim weitreichenden Vorderlader, denn ein Gewehr, welches „gut für die Jagd“ war, konnte nach Ansicht des Kaisers doch nicht schlecht für die Truppe sein. Kostspielige Mobilmachungen zu finanzieren, war Österreich nicht mehr in der Lage, das war spätestens 1859 klar geworden, so dass sich Ministerrat und Außenministerium die Realität nach den eigenen Wünschen einrichteten und sich viel zu spät ins Unvermeidliche fügten. Hatte Rechberg bis 1865 noch einen Krieg mit Preußen für eine Unmöglichkeit gehalten, so änderte sich die Situationsanalyse unter den Grafen Belcredi und Mensdorff. Außenminister Mensdorff, der, abgesehen davon, dass er als Schüler Metternichs galt, keinerlei Eignung für sein Amt besaß, ließ sich treiben und versäumte die Gelegenheit, auf eine Politik der Kriegsvermeidung durch Kompromisse hinzuwirken.29 Um die Situation zu entschärfen, trat er, gelenkt durch den „heimlichen Moritz“, den Grafen Esterhazy, in einem Geheimvertrag mit Napoleon III. schon im Vorfeld des möglichen Konfliktes mit Preußen Venetien ab, um sich gedeckt durch die französische Neutralität auf die deutschen Angelegenhei25
Regele, 330 – 335. Ebd., 329. 27 Peter Aumüller: Feldzeugmeister Benedek und die Schlacht bei Königgrätz. Anatomie einer Niederlage. In: Truppendienst Österreichisches Bundesheer, 43 (2004), Heft 3, 216 – 225. 28 Ebd. 29 Regele, 306. 26
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ten konzentrieren zu können. So kämpfte Österreich 1866 in Italien um eine Provinz, die es schon nicht mehr besaß. Dagegen könnte freilich eingewandt werden, dass sich in Wien wahrscheinlich niemand an den Vertrag erinnert hätte, wäre man siegreich geblieben. Die Geschichte des deutschen Krieges von 1866 und insbesondere jene der Schlacht bei Königgrätz sind oft geschildert worden, so dass hier auf eine dezidierte Darstellung verzichtet werden soll. Sowohl gegen den Torso der Bundesarmee auf dem deutschen Kriegsschauplatz als auch gegen die von Benedek geführte österreichisch-sächsische Armee in Böhmen erwiesen sich die preußischen Truppen als überlegen. Bismarcks Diplomatie garantierte das Fernbleiben der europäischen Großmächte im Anfangsstadium des Krieges und den Eintritt Italiens, durch den ein Viertel der österreichischen Armee gebunden wurde. Dadurch konnte Moltkes Strategie aufgehen, mit drei Armeen konzentrisch in Böhmen einzufallen und die Vereinigung in der Entscheidungsschlacht anzusteuern. Die überlegene Heeresorganisation, die eine reibungslose Mobilmachung ermöglicht hatte, sowie der schnellere Aufmarsch und die Entfaltung der preußischen Armee durch konsequente Nutzung der Eisenbahn sicherten der Hohenzollernmonarchie die Initiative und eine wenngleich nicht sehr bedeutende zahlenmäßige Überlegenheit. Dazu traten der bessere Ausbildungsstand der preußischen Truppen und das mit dem Zündnadelgewehr gegebene waffentechnisch-taktische Übergewicht im infanteristischen Bereich. Die österreichische Heeresleitung dagegen hatte kein Geld für einen langen Krieg, kein funktionierendes Stabssystem sowie als weiteres Handicap eine den Weisungen aus Wien verantwortliche, damit schwerfälligere und zudem nicht immer kompetente militärische Führung. Zwar gelang den Österreichern auf dem italienischen Kriegsschauplatz am 24. Juni bei Custozza ein Schlachterfolg gegen die zögernd vorgehende Armee des italienischen Königs Viktor Emanuel II., und auch im Seekrieg blieb die unterlegene österreichische Flotte unter Admiral Wilhelm von Tegetthoff gegenüber der italienischen Flotte am 20. Juli bei Lissa siegreich, am Ausgang des Krieges änderte sich dadurch nichts. Bereits am 4. Juli, einen Tag nach Königgrätz, hatte Franz Joseph I. – gemäß der geheimen Vereinbarung vom 11. Juni – Venetien an Frankreich zur Weitergabe an Italien abgetreten und Paris um Vermittlung eines Waffenstillstandes gebeten. Einen Tag später war Feldmarschall Ludwig von Gablenz im preußischen Hauptquartier als Unterhändler mit der Erklärung eingetroffen, dass die österreichische Armee widerstandsunfähig sei und Wien einen sofortigen Waffenstillstand wünsche.30 Im weiteren Verlauf der Geschichte schied Österreich aus dem entstehenden deutschen Nationalverband aus. Doch das ist bereits eine andere Geschichte. Der Versuch Benedeks, bei Königgrätz eine Defensivschlacht mit Hilfe eines Gegenstoßes zu gewinnen, endete angesichts der rückständigen Bewaffnung seiner Armee, der Eigenmächtigkeit einiger seiner Unterführer und der gelungenen preußi30 Jürgen Angelow: Von Wien nach Königgrätz. Die Sicherheitspolitik des Deutschen Bundes im europäischen Gleichgewicht, München 1996, 251 – 253.
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schen Umfassung in einem Desaster. Benedek, der zur Annahme des Oberbefehls über die Nordarmee durch Franz Joseph gezwungen worden war, obwohl er das Terrain nicht kannte und eine Armee von 215.000 Mann noch nie geführt hatte, wusste um die Risiken, die sich mit seinem Kommando verbanden. Doch der Kaiser suchte kein Bauernopfer, er traute Benedek einfach mehr zu als Erzherzog Albrecht, der das leichtere italienische Kommando antrat. Da Benedek eine Neubesetzung der Kommandeursstellen verweigert worden war, zog er gegen die Preußen nach eigenen Worten mit einer „Armee der ausgemisteten Esel“ ins Feld.31 Angesichts der im Infanteriekampf etwa fünffach höheren Verluste32 bereits in den ersten Gefechten, der drohenden Auflösung und Desorganisation seines Heeres, des in Gang befindlichen Austausches seiner operativen Berater, Alfred von Henikstein und Gideon von Krismanic, sowie der ungünstigen Position seines Heeres hatte er am 1. Juli nach Wien telegrafiert, „dringend um jeden Preis […] Frieden zu schließen, […] [da sonst eine] Katastrophe für [die] Armee unvermeidlich“ sei. Doch Franz Joseph erfasste die trostlose Situation nicht, er war von seinen Beratern in Wien nur unvollständig informiert worden. So lautete seine Antwort vom selben Tag: „Einen Frieden zu schließen unmöglich, Ich befehle wenn unausweichlich den Rückzug in größter Ordnung anzutreten. Hat eine Schlacht stattgefunden?“33 Angesichts dieses Telegramms blieb Benedek, der bereits das Gefühl hatte, dass Wien die Schuldfrage stellen würde, keine andere Wahl, als die Schlacht anzunehmen. Noch vor dem Ereignis, am 1. Juli, hatte er durchblicken lassen, er rechne mit einer kriegsgerichtlichen Untersuchung und einer Bestrafung mit Festungshaft. Nach dem Desaster, im Begriff, die Nordarmee auf das rechte Donauufer zur Verteidigung Wiens zu dirigieren, erreichte ihn die Nachricht, der Kaiser hätte eine Voruntersuchung gegen ihn angeordnet. Für die Unterlagen der Kommission hatte er einen Fragebogen auszufüllen, der führungstechnische Details behandelte, aber am Kern der Dinge vorbeiging, nämlich der strategischen und operativen Unzulänglichkeit des Feldherren und seiner Berater. Für den Kaiser stand das Ergebnis der Untersuchung freilich schon vorher fest, als er am 8. August an Prinz Alexander von Hessen schrieb, Benedek habe „unverantwortlich schlecht manövriert und gänzlich den Kopf verloren“.34 Ähnlich lautende Kritik übten auch Erzherzog Albrecht, der nach Custozza auf dem hohen Ross saß, und der vormalige Chef des Generalquartiermeisterstabes Feldmarschall Heinrich Freiherr von Heß, der Benedek 1860 hatte Platz machen müssen und zum Hauptmann der kaiserlichen Schlossgarde „aufgestiegen“ war. In dieser Situation verhielt sich Benedek wenig kooperativ, als er jede Schuld auf sich nahm und alle weiteren Aussagen verweigerte. Bereits am 13. Juli hatte er seiner Gattin geschrieben, er wolle über alles schweigen. Nur dem Kaiser selbst würde er, 31
Lónyay, 259. Regele, 373. 33 Lónyay, 314. 34 Allmayer-Beck, 191.
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falls es dazu kommen sollte, Rechenschaft ablegen. Der aber verspürte keine Neigung, mit seinem geschlagenen Feldherren eine Diskussion über den Feldzug der Nordarmee und die strukturellen Schwächen seines Reiches zu führen. Dass es zu keiner Abrechnung gekommen ist, bei der Benedek seine Urteile zu Protokoll hätte geben müssen, ist einer Weisung Erzherzog Albrechts vom 17. November 1866 zu verdanken, der sich nach Veröffentlichungen in der „Neuen Freien Presse“ zum Fall des Generals der Kavallerie Grafen Clam dahingehend geäußert hatte, dass Veröffentlichungen in der Tagespresse zur Rechtfertigung oder zum Selbstlob als mit der Soldatenehre unvereinbar anzusehen seien. Benedek, dem das Schreiben zugesandt worden war, hatte darauf impulsiv reagiert und am 19. November 1866 unaufgefordert versprochen, bis übers Grab zu schweigen und seine Schriften über den Feldzug zu vernichten. Und obwohl Kaiser Franz Joseph am 4. Dezember eine Einstellung sämtlicher Verfahren gegen alle wegen ihres Verhaltens im Krieg angeklagten Offiziere befohlen hatte, wurde dazu am 8. Dezember jenes bereits vorn erwähnte offizielle Kommuniqué in der „Wiener Zeitung“ veröffentlicht, in dem Benedek ausdrücklich „der Verlust des Vertrauens seines kaiserlichen Kriegsherrn“ und die „Vernichtung seines militärischen Rufes vor der Mit- und Nachwelt“ bescheinigt wurde.35 Dies war für einen Feldherren, der auf eine glanzvolle Karriere zurückblicken konnte und sich auf seine unbedingte Ergebenheit zum Kaiser sehr viel zugutehielt, härter als eine Bestrafung. IV. Gerade weil die Schlacht für die Entscheidung der nationalen Frage so bedeutsam war, hat Königgrätz als herausragendes Ereignis der Reichseinigungskriege eine mythische Bedeutung gewonnen und den Platz beider Feldherren in der Geschichte fest verankert. Und doch war dieses Ereignis auch Ausgangspunkt einer sinnfälligen Paradoxie. „Es geschieht“ – so Goethe – „nichts Unvernünftiges, das nicht Verstand oder Zufall wieder in die Richte brächten, nichts Vernünftiges, das Unverstand und Zufall nicht missleiten könnten“. Während Moltke und der preußisch-deutsche Generalstab durch die Reichseinigungskriege eine unangreifbare Stellung erreichten, die politischen Interventionen beinahe unzugänglich war, der Erfolg berauschend wirkte und einer militärischen Mentalität innerhalb der tonangebenden Schichten Vorschub leistete, und also der Sieg das eigentliche Verhängnis wurde, beschritt das österreichische Heer nach der Abhalfterung Benedeks nunmehr den Weg der Reform, der vor der Niederlage im Sande verlaufen war. Mit dem Wehrgesetz von 1868 und der veränderten Dislokation 1869 zeitigte diese Reform erste Erfolge. Zu ihrer Begründung hatte Erzherzog Albrecht in seiner Eigenschaft als Armeekommandant im Dezember 1867 das Beispiel von 1866 angeführt: Der Tag von Königgrätz hätte nicht nur eine für Österreich verlorene Schlacht und einen Umschwung in den Machtverhältnissen der europäischen Staaten bezeichnet, sondern den ganzen 35
Ebd., 193.
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Kontinent zu einer sehr bedeutenden Steigerung der Wehrkräfte sowie zur Neubewaffnung gezwungen.36 Dass die Gestalt Benedeks nach seiner Niederlage Dichter und Schriftsteller viel mehr zur Dramatisierung anregte, als die Moltkes, ist nahe liegend. Dichtung benötigt Tragik, Unrecht und Schuld, Intrigen und Zufälle, Spannung und Überraschung, sie kann Ereignisse und Personen erfinden und zeitlich alles neu gruppieren, so wie es die Handlung erfordert. Und so begegnen uns ungehorsame Generäle, dunkle Machenschaften am Wiener Hof und Erzherzog Albrecht als intrigierender Finsterling. Übertrieben werden die in der Figur Benedeks beispielhaft angelegten Konflikte zwischen Hochadel und Bürgertum wie zwischen den Konfessionen. Es fehlt auch nicht ein erpresstes Schweigeversprechen, das es so nie gegeben hat. Doch alle Autoren verfolgten das Ziel, den vom Unheil Heimgesuchten zu entlasten.37 Mit anderem Zungenschlag und nicht auf die Person des geschlagenen Feldherrn bezogen, sondern die Geißel des Krieges angreifend, hieß es bei Berta von Suttner: „Das verdammte Zündnadelgewehr mähte die Unseren reihenweise nieder … wie das wehrlose Schlachtvieh müssen unsere Truppen dieser mörderischen Waffe unterliegen.“ Die Geschosse allein „waren an der Niederlage schuld – ich sag’ noch, die schlugen in unsere Reihen wie ein Hagel“.38 Moltke und Benedek glichen einander sehr wenig. Sie gehörten parallelen Welten an und sammelten Erfahrungsbestände, die sich doch deutlich unterschieden. Bei ähnlicher Vorbildung fand Moltke nie Gelegenheit, sich im Krieg als tapferer Offizier hervorzutun, er war weder ein populärer Kriegsheld, wie sein Gegenspieler, noch über seinen engeren Wirkungskreis hinaus bekannt. Das änderte sich freilich 1866. Im Gegensatz zu Benedek hatte Moltke seine Bildung auch auf das nichtmilitärische Gebiet erweitert. Er war ein geschulter und scharfer Denker, ein vollendeter Stilist, der als Chef des Generalstabes und erst recht auch auf politischem Terrain viel weiter vorausblickte als sein Kollege in Wien. Als Heerführer verkörperte Moltke den moderneren Typus des Operationsleiters, der sich weitab vom Schuss befand. Benedek zählte zu jenen „Haudegen, die durch gesunden Verstand und militärischen Geist, durch Erfahrung, Kraft und Energie ersetzen, was ihnen an Wissen fehlt(e)“.39 Lenkt man den Blick auf beide Monarchien im 19. Jahrhundert, war es für beide Protagonisten durchaus nicht unwichtig, ob sie im norddeutschen Reformstaat der Hohenzollern oder in der mittel- südosteuropäischen Vielvölkermonarchie der Habsburger mit ihren vielfältigen strukturellen Belastungen agierten. Ob sie in einem Staat wirkten, der sich nach den Stein-Hardenbergschen Reformen, der Scharn36 Zit. nach: Jürgen Angelow: Zwischen Partnerschaft und Rivalität. Preußen und seine Militärmacht. Argumente österreichischer Reform- und Revanchepolitik (1866 – 1871). In: Peter Baumgart/Bernhard R. Kroener/Heinz Stübig (Hgg.): Die preußische Armee zwischen Ancien Régime und Reichsgründung, 261 – 283, hier: 272. 37 Regele, 269. 38 Ebd., 268. 39 St. Quentin, zit. nach Regele, 288 – 289, hier: 289.
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horst’schen Militärreorganisation, der Humboldt’schen Bildungsreform und einer wenngleich zögerlichen Einführung des Konstitutionalismus Zug um Zug modernisierte, dessen Staatsfinanzen saniert waren und dessen wirtschaftlich-technologische und finanzielle Ressourcen stetig wuchsen; – einem Staat, der die nationale Frage offensiv stellen und dadurch nur gewinnen konnte, wie dies in der Ära Bismarcks seit 1862 auch geschah – oder ob sie in einem Staat der gestauten Nationalitätenfrage und verhinderten Liberalisierung wirkten, durch die der Einsatz der bewaffneten Macht im Innern eine Normalität geworden war, einem Staat der gebremsten industriell-technischen Modernisierung, die mit einem geradezu reaktionären Verständnis auch der Waffentechnologie einherging, der verzögerten Elitentransformation, durch die unfähige Salongeneräle und Parteigänger des Hofes zu viel Einfluss bekamen, der permanenten Finanzkrise, die wichtige Rüstungsmaßnahmen verhinderte und den außenpolitischen Spielraum stark beschnitt, um nur die wichtigsten Unterschiede zu nennen. Beide Männer konnten diesen systemischen Bedingungen nicht entweichen, sie haben ihre Biografie mitgeprägt und sind umgekehrt durch ihr Handeln mitbestimmt worden. Die Frage, was geschehen wäre, hätten beide Feldherren ihre Rollen bei Königgrätz getauscht, lässt sich sicher nicht beantworten, sie gehört ins Reich der Spekulation. Und doch berührt sie die Abwägung zwischen den Bedingungen und Spielräumen menschlichen Handelns und jenen individuellen Tugenden, Begabungen, Temperamenten und Eigenschaften, die im Falle beider Feldherren deutlich differierten, aber eben nicht allein ausschlaggebend waren. Und daneben gab es noch Zufälle und Glücksumstände, deren Rekonstruktion die historische Forschung kaum leisten kann. Will man aber auf das Glück zurückkommen, so lässt sich folgendes sagen: Moltke hatte Glück in einem politischen und gesellschaftlichen Umfeld agieren zu können, das sein Wirken unterstützte und dem er gerecht wurde. Benedek dagegen genoss sein Soldatenglück „vor dem Feind“, solange ihm dort nur solche Schwierigkeiten entgegentraten, die er selbst mit verfügbaren Mitteln bewältigen konnte.
Aus dem Dschungel um die Welt zum Nordpol – Preußens und Österreichs wissenschaftlicher Wettkampf um Prestige anhand von Forschungsexpeditionen im 19. Jahrhundert Von Ingo Löppenberg, Osnabrück Der preußische Korvettenkapitän Werner schrieb 1866 im Rahmen der Planungen einer Ersten Deutschen Nordpolfahrt, dass Preußen nun Tatsachen schaffen sollte und rasch eine Fahrt ausrüsten müsste. Der Nordpol war ein Ziel, jeder Seemacht würdig, wie es die Engländer immer wieder gezeigt hatten. Ausdrücklich warnte Werner, dass „auch die Engländer via Spitzbergen gehen, sobald sie sehen, dass wir es nicht tun und dann ist diese schöne Gelegenheit für Preußens Ruhm auf dem Meer dahin“.1 Um diesen Ruhm zu erwerben, musste Preußens Expedition das Ziel haben „nördlicher als die Engländer zu kommen“.2 Es drohte also für Preußen eine öffentliche Demütigung seitens der anderen Seemächte und ebenfalls in der publizistischen Öffentlichkeit, wenn seine Marine keine Forschungsexpedition ausführen könnte. Ruhm war nur einer der vielen positiven Schlüsselbegriffe der Zeit, wie Ansehen, Ehre der Nation oder Ehre des Vaterlandes, welche negativen Schlüsselbegriffen wie Schande, Scham und Spott gegenüber gestellt wurden. Diese positiven Schlüsselbegriffe lassen sich sehr gut mit dem französischen Lehnwort Prestige zusammenfassen. Tatsächlich war es das Bestreben der Nationalstaaten seit dem 19. Jahrhundert, dieses immaterielle Gut zu erwerben. Wissenschaftliche Leistungen gehörten neben erfolgreichen Kriegen, Landaneignungen oder technischen Meisterleistungen zu der einträglichsten Möglichkeit des Prestigeerwerbs. Prestige musste auf einem Konfliktfeld zunächst errungen und anschließend visualisiert werden. Dazu gab es auf dem Feld der Wissenschaft im Wesentlichen drei primäre Strategien. Erstens war dies die Sammlung von Naturalien, also präparierten Tieren, ge1
Werner an Staatsministerium, Kiel 06. 01. 1866. In: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (=GStA PK) I.HA Rep 90 A, Staatsministerium jüngere Registratur, Nr. 1788, o. p. Der Aufsatz basiert auf einem Vortrag, der unter dem Titel „Preußens und Österreichs wissenschaftlicher Wettlauf im 19. Jahrhundert“ auf der Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft zur Preußischen Geschichte e.V. gehalten wurde. Für die Drucklegung wurde er um wissenschaftliche Anmerkungen ergänzt, wobei der Vortragscharakter beibehalten wurde. Für konstruktive Kritik danke ich Jens Peters und Heidi Hummel. Für finanzielle Unterstützung und die Erlaubnis zur Veröffentlichung danke ich der Gerda-Henkel-Stiftung. 2 Ebd.
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trockneten Pflanzen und aufgefundenen Mineralien. Ergänzt wurden diese gegenständlichen Sammlungen durch Zeichnungen, Fotografien und Aquarelle der erforschten Landschaften. Diese konnten dann in den Museen der Nation ausgestellt werden, wobei der Hauptstadt ein besonderer repräsentativer Rang zukam. Zweitens wurden die Sammlungen und Naturansichten in Prachtwerken und Reiseberichten veröffentlicht, deren Verbreitung durch den Buchhandel und Leih- und Tauschverkehr für eine noch größere Verbreitung des wissenschaftlichen Erfolges sorgte. Unterstützt wurde dies durch die Veröffentlichung von Auszügen der Tagebücher und Aufzeichnungen in Zeitungen und Zeitschriften. Als dritte Strategie galt die genaue Vermessung und geographische Erschließung eines bisher unentdeckten Gebietes. Die Möglichkeit und juristisch festgelegte Regel, dieses Gebiet benennen zu dürfen, bedeutete die vermeintliche Möglichkeit, den Sponsor der wissenschaftlichen Expedition auf Karten und in Atlanten zu verewigen. Gerade eine solche Entdeckung löste eine große europaweite Resonanz in der Presse aus. Erst durch die Visualisierung wurde der erfolgreiche Erwerb in das öffentliche Bewusstsein gebracht, sowohl bei der eigenen Bevölkerung als auch bei den konkurrierenden europäischen Großmächten. Der Nutzen von Prestige liegt im Wesentlichen darin, dass er der nationalen Gemeinschaft ermöglicht, ihren Rang im Verhältnis zu den anderen Großmächten zu bestimmen. Die Wirkung nach innen besteht darin, national gesinnte gesellschaftliche Gruppen an die Regierung zu binden und soziale Probleme in den Hintergrund zu drängen. Wissenschaftliche Expeditionen, welche hier in der Form der Forschungsreise thematisiert werden, waren Bestandteil einer Wissenschaftspolitik des preußischen und österreichischen Staates, deren Ziel nicht nur die wissenschaftliche Produktion von Erkenntnissen, sondern auch der Erwerb von Prestige war.3 Auch wenn noch im 19. Jahrhundert in Europa „weiße Flecken“ auf der Landkarte existierten, wie zum Beispiel in Norwegen und dem Alpenraum, so gab es doch das größere Prestige außerhalb der alten Welt in den sechs A’s (Asien, Afrika, Australien, Amerika, Arktis, Antarktis) zu erringen. Wissenschaftliche Expeditionen sind also eine sehr gute Möglichkeit, den Blick auf die preußische und österreichische Geschichte um eine welthistorische Perspektive, im Sinne einer Verflechtungsgeschichte Preußens und Österreichs mit außereuropäischen Ländern, zu erweitern.4 Hinzu kommt, dass die 3 Zu dem hier verwendeten Konzept von Wissenschaftspolitik vgl. Frank R. Pfetsch, Zur Entwicklung der Wissenschaftspolitik in Deutschland 1750 – 1914, Berlin, 1974, 26 f. Für Rüdiger vom Bruch ist damit jede Wissenschaftspolitik auch „ein Instrument auswärtiger Kulturpolitik“. Rüdiger vom Bruch: Internationale Forschung, Staatsinteresse und Parteipolitik. Die Olympia-Ausgrabungen als frühe Phase deutscher auswärtiger Kulturpolitik. In: Hans-Christopher Liess (Hg.): Rüdiger vom Bruch. Bürgerlichkeit, Staat und Kultur im Kaiserreich, Stuttgart, 2005, 290 ff., hier 291. 4 Jürgen Osterhammel: Alte und neue Zugänge zur Weltgeschichte. In: Ders. (Hg.): Weltgeschichte (Basistexte Geschichte, Bd. 4), Stuttgart, 2008, 9 ff. Auf die Möglichkeiten und Gewinne durch eine globale Betrachtung verwies in Bezug auf die Wirtschaft und die Marine bereits Michael Salewski: Die Preussische Ostasienpolitik (1859 – 1862). Motive und Mentalitäten. In: Ders.: Die Deutschen und die See. Studien zur deutschen Marinegeschichte
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Geschichtsschreibung bisher diesen Aspekten in Bezug auf Preußen und Österreich nur eine geringe Aufmerksamkeit schenkte, wenn nicht gerade ein rundes Jubiläum anstand.5 Zusammenfassend lässt sich die These folgendermaßen formulieren: Preußen und Österreich nahmen am wissenschaftlichen Wettlauf der europäischen Großmächte rund um den Globus in hohem Maße Anteil. Hauptziel war dabei zunächst der Erwerb von Prestige, um ihren Rang als Großmacht zu bestätigen und zu sichern. Österreich besaß dabei einen bis in die 1860er Jahre reichenden Vorsprung gegenüber Preußen. Beide benutzten diese „moralische[n] Eroberungen“ auch, um in der Deutschen Frage Vorteile zu erringen.6 Dieser Aufsatz thematisiert drei Aspekte des wissenschaftlichen Prestigeerwerbs. Zunächst wird auf Brasilien als Zielland von wissenschaftlichen Expeditionen eingegangen. Die dort auf einer Expedition gesammelten Naturalien und ethnographischen Gegenstände wurden in Museen ausgestellt und ihre Abbildungen in wissenschaftlichen Zeitschriften und Büchern veröffentlicht. Jede Benutzung dieser Sammlungen durch ausländische Forscher und jede Zitierung eines Aufsatzes oder Reisewerkes der Expedition wurde so zu einem Triumph der staatlichen Wissenschaftspolitik. Dies entsprach der ersten Strategie der Visualisierung des wissenschaftlichen Erfolgs und des gewonnenen Prestiges. Daran knüpft eine kurze Betrachtung zweier „Imperialer Forschungsreisen“7 an. Dieser Abschnitt zeigt einen zweiten Aspekt, in dem Wissenschaft als Deckmantel für kolonial-ökonomische Expeditionen diente, besonders wenn diese Reisen, wie im Falle von Österreich und Ungarn, scheiterten. So konnte ein misslungener Versuch des Prestigeerwerbs durch koloniale Landnahme wenigstens in einen wissenschaftlichen Erfolg umgewandelt werden. Als dritter Aspekt werden die arktischen Expeditionen nach dem Deutsch-Deutschen Krieg analysiert. Die Benennung von neuentdeckten geographischen Punkten bildete als dritte Strategie die höchste Form des Prestigeerwerbs, suggerierte doch die Benennung ein ewiges Bestehen der erfolgreichen Pioniertat in den des 19. und 20. Jahrhunderts (Historische Mitteilungen Beiheft, [Bd.] 25), Stuttgart 1998, 54 ff., hier 80. 5 Ein jüngstes Beispiel ist die folgende Publikation, die im Rahmen des 150-jährigen Gedenktags an die Eulenburg-Mission, der preußischen Expedition nach China, Japan und Siam, erschien. Sebastian Dobson/Sven Saaler (Hgg.): „Unter den Augen des Preußen-Adlers“. Lithographien, Zeichnungen und Photographien der Teilnehmer der Eulenburg-Mission in Japan 1860 – 1861, München 2012. 6 Prinzregent Wilhelm in seiner Regierungserklärung an sein Staatsministerium am 08. November 1858. Für die Teilnahme Bayerns an diesem wissenschaftlichen Wettkampf mit Forschungsexpeditionen im Rahmen der Deutschland-Frage vgl. Wolfgang J. Smolka: Wissenschaftsförderung durch Reiseförderung. Reiseunterstützungen als Mittel der Forschungsförderung am Beispiel Bayerns im 19. Jahrhundert. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 22 (1999), 125 ff. 7 Zu diesem Konzept vgl. Rob Iliffe: Science and Voyages of Discovery, in: Roy Porter (Hg.): Eighteenth-Century Science, in: The Cambridge History of Science, Bd. 4, Cambridge u. a. 2003, 618 ff.
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Landkarten. Brasilien und die Arktis sind als Beispiele außerdem deshalb geeignet, da beide Gebiete im Wesentlichen wirklich wissenschaftliche Ziele waren, ganz anders als zum Beispiel Afrika, und die ökonomischen Hoffnungen, die selbstverständlich auch vorhanden waren, maßlos übertrieben wurden. Zuletzt werden die Ergebnisse zusammengefasst und eine abschließende Bewertung der Möglichkeiten der Wissenschaftspolitik im Zusammenhang mit dem Prestigeerwerb vorgenommen.8 Aus dem Dschungel … Brasilien war zu Beginn des 19. Jahrhunderts für einen kurzen Zeitraum sehr populär. Die Reise Alexander von Humboldts hatte das Augenmerk des deutschen Publikums auf Lateinamerika gerichtet.9 Die Revolutionen in den ehemaligen spanischen Kolonien sorgten für ein anhaltendes Interesse. Doch Humboldt selbst war nicht in Brasilien gewesen. Es war also immer noch Terra Incognita. Diese Kombination aus mangelnden wissenschaftlichen Erkenntnissen und hoher Popularität, die ein europaweites Interesse an Neuigkeiten über den Gegenstand und damit eine verbreitete Rezeption verbürgte, war ein entscheidender Grund für die Entsendung einer wissenschaftlichen Expedition zum Erwerb von Prestige. Brasilien besaß überdies den Vorteil, dass es im Gegensatz zu den revolutionären Kolonien Spaniens für die konservativen Mächte Europas ein akzeptierter und annehmbarer Partner war. Mit der Flucht des portugiesischen Königshofes nach Rio de Janeiro und dem nach der Rückkehr der anderen Mitglieder in Brasilien verbliebenen Prinzregenten Dom Pedro besaß das Land zunächst Legitimität.10 8 Ein weiteres imperiales Feld des Prestigeerwerbs, deren Betrachtung hier aus Platzgründen entfällt, war die Mission. Den engen Zusammenhang zwischen Forschungsreisen, Diplomaten und Mission am Beispiel des Heiligen Landes schildert Haim Goren: „Zieht hin und erforscht das Land“. Die deutsche Palästinaforschung im 19. Jahrhundert (Schriftenreihe des Instituts für deutsche Geschichte der Universität Tel Aviv, Bd. 23), Göttingen 2003. Auf diesem Gebiet trat ebenfalls Bayern auf, vgl. Haim Goren: „Echt katholisch und gut deutsch“. Die deutschen Katholiken und Palästina 1838 – 1910, Göttingen 2009, 101 ff. Zu Afrika als ein weiteres geographisches Feld vgl. Annelore Rieke-Müller: „Der Blick über das ganze Erdenrund“. Deutsche Forschungsreisen und Forschungsreisende im 19. Jahrhundert bis zur Deutschen Afrika-Expedition 1860 – 1863. In: Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 22 (1999), 113 ff. 9 Vgl. dazu Brigitte Hoppe: Nach dem Vorbild Humboldts in Südamerika. Erweiterung der Kenntnisse und Erkenntnisse durch deutsche Naturforscher. In: Ottmar Ette/Walther L. Bernecker (Hgg.): Ansichten Amerikas. Neuere Studien zu Alexander von Humboldt (Lateinamerika-Studien, Bd. 43), Frankfurt am Main 2001, 195 ff. 10 Allgemein zu der Lateinamerika-Politik von Preußen und Österreich vgl. Harald Müller: Im Widerstreit von Interventionsstrategie und Anpassungszwang. Die Außenpolitik Österreichs und Preußens zwischen dem Wiener Kongreß 1814/15 und der Februarrevolution 1848 (Studien zur Geschichte, Bd. 12), Berlin 1990, 146 ff. Zu den bilateralen Beziehungen in politischer und ökonomischer Hinsicht vgl. Andreas Birkholz: Österreich und Brasilien 1816 – 1831, Diss. München 1970 und Wolfgang Penkwitt: Preußen und Brasilien. Zum Aufbau des preußischen Konsularwesens im unabhängigen Kaiserreich (1822 – 1850) (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 27), Wiesbaden 1983.
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Österreich wies im Gegensatz zu Preußen eine Art Tradition im Aussenden von Forschungsreisenden nach Lateinamerika im 18. Jahrhundert auf. Kurzfristig war nach den Cook‘schen Erfolgen sogar eine eigene österreichische Weltumsegelung im Gespräch.11 Das Ende der Napoleonischen Kriege und die bevorstehende Verheiratung von Leopoldine, der Tochter des Kaisers Franz I., mit Dom Pedro, dem portugiesischen Thronfolger, zur Festigung der österreichisch-portugiesischen Beziehungen ermöglichten nun eine große Expedition von mehreren Naturforschern nach Brasilien. Deren Planung begann bereits 1816 und ging von Metternich und Kaiser Franz I. aus, befriedigte aber auch die Neigungen von Leopoldine, die sich in Brasilien als Förderin der Wissenschaften besonders auszeichnete. Hochzeit und Wissenschaft sollten als Klammern der österreichisch-portugiesischen Freundschaft dienen.12 Für Österreich nahmen neben den Wissenschaftlern Johann Natterer als Zoologe, Heinrich Wilhelm Schott als Botaniker, Johann Christian Mikan für alle drei Naturreiche und Johann Emanuel Pohl als Mineraloge auch drei Handwerker und Künstler teil. Dies waren Dominik Sochor als Präparator sowie der Landschaftsmaler Thomas Enders und der Pflanzenmaler Johann Buchberger. Ihre Aufgaben waren nach der Dienstinstruktion: „[…] so viel als möglich zur Erforschung und Kenntnis dieses großen und höchst merkwürdigen Teiles unseres Planeten beizutragen und durch Aufsuchung und Einsammlung der mannigfaltigen Naturprodukte die Wissenschaft und die sie betreffenden öffentlichen Anstalten der Monarchie zu bereichern.“13 So sollte der wissenschaftliche Erfolg in Prestige umgewandelt werden, wozu die Fähigkeiten des Präparators und der Maler besonders wichtig waren. Denn eine Zerstörung der Naturalien und fehlerhafte Skizzen und Aquarelle wären mit einem Scheitern der Reise gleichzusetzen gewesen. Neben den Österreichern nahmen noch die beiden bayrischen Naturforscher Johann Baptist von Spix und Carl Friedrich Philipp von Martius teil. Der Herzog der Toskana entsandte den Botaniker Joseph Raddi.14 Die Expedition wurde ein voller Erfolg. Nachdem die Mitglieder im November 1817 Rio erreicht hatten, forschten sie zunächst in den nahen Regionen und stießen dann seit 1818 in immer tiefere Gegenden des Landes vor. Die ersten Teilnehmer verließen mit der ersten Ladung Naturalien 1818 das Land, da sie das Klima nicht ver11 Helga Hühnel: Botanische Sammelreisen nach Amerika im 18. Jahrhundert. In: Franz Wawrik/Elisabeth Zeilinger/Jan Mokre (Hgg.): Die Neue Welt. Österreich und die Erforschung Amerikas, Wien 1993, 61 ff. 12 Gabriele Mauthe: Die Österreichische Brasilienexpedition. In: Franz Wawrik/Elisabeth Zeilinger/Jan Mokre (Hgg.): Die Neue Welt. Österreich und die Erforschung Amerikas, Wien 1993, 79 ff, hier 79. 13 Zit. n. Mauthe, 79. 14 Spix und Martius trennten sich in Brasilien von der Expedition und führten für Bayern eine eigene Expedition durch. Vgl. dazu Ludwig Tiefenbacher: Die Bayrische Brasilienexpedition von J. B. Spix und C. F. Ph. Martius 1817 – 1820. In: Jörg Helbig (Hg.): Brasilianische Reise 1817 – 1820. Carl Friedrich von Martius zum 200. Geburtstag, München 1994, 28 ff.
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trugen. Außer Natterer kehrten die anderen Teilnehmer 1821 nach Wien zurück. Dort wurde das Brasilianum eröffnet, das Wiener Brasilianische Museum. Natterer kehrte erst 1836 zurück, nachdem er mehr als 50.000 Stück Naturalien nach Wien geschickt hatte. Die brasilianische Sammlung in Wien war damit die reichhaltigste Europas. Außerdem wurde ein Prachtwerk der Reise herausgegeben. Diese mehrbändigen Werke, ausgestattet mit den Zeichnungen und Malereien der begleitenden Künstler, gossen das immaterielle Prestige in erfahrbare Form. Sie beinhalteten neben dem eigentlichen Reiseverlauf auch in jeweiligen eigenen Sektionen die naturwissenschaftlichen Ergebnisse. In den Bibliotheken Europas verbreitet und von anderen Forschern verwendet, bedeutete jede Fußnote, die das Werk erwähnte, einen Sieg der österreichischen Wissenschaftspolitik. Dies spiegelten häufig die Kosten der Prachtwerke wieder, die nicht selten an die einer Expedition heranreichen konnten.15 Auch in Preußen machten sich staatliche Stellen Gedanken um eine Expedition nach Brasilien. Verschiedene Sammler wie Georg Wilhelm Freyreiss sammelten dort bereits Naturalien und ethnographische Gegenstände im Auftrag von Martin Hinrich Lichtenstein, dem Direktor der zoologischen Sammlung der Universität Berlin. Von Vorteil war, dass der Potsdamer Gärtnergeselle Friedrich Sellow seit 1814 bereits in Brasilien arbeitete. Ihm wurde nun 1817 Ignaz von Olfers zugeteilt. Den Ausschlag hatte dazu ein Brief Alexanders von Humboldt an Kultusminister Altenstein gegeben. In diesem Brief merkte Humboldt an, dass mit Sellow bereits ein Preuße und ein Kenner der Landschaft am Ort sei. Würde man ihm nun noch Olfers an die Seite stellen, so könnte die preußische Regierung von dieser Expedition bessere und günstigere Ergebnisse erwarten als die österreichische von ihren Forschern. Altenstein, der selbst auf dem Gebiet der Botanik Studien betrieb, konnte sich den Argumenten Humboldts nicht verschließen. Hier war der Wettbewerb zwischen Preußen und Österreich greifbar. Ein Wettbewerb, den Humboldt für die Wissenschaft von großem Nutzen hielt, denn durch die von diesen freigesetzten Investitionen konnten reisende Wissenschaftler ihre Expeditionen durchführen.16 Nachdem Olfers 1817 in Brasilien eingetroffen war, machten Sellow und er sich ein Jahr später auf, das Land zu erforschen. Doch sie kamen nur bis in die Provinz Minas Gerais, wo sie einige Zeit verweilen mussten. Von dort aus gingen sie Monate später in die Region um São Paulo, doch musste Olfers bereits im Mai 1819 nach Rio zurück, um bei der Gesandtschaft zu arbeiten.17 Eine neue Expedition der beiden Freunde konnte nicht mehr verwirklicht werden. Sellow wurde weiterhin von der 15 Zum Verlauf der Expedition und den Sammlungen vgl. Mauthe, 1993a, 82 f. und Dies.: Die Österreichische Brasilienexpedition. In: Elisabeth Zeilinger (Hg.): Österreich und die Neue Welt. Symposion in der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien 1993, 128 f. 16 Anita Hermannstädter: Frühe Ethnographie in Brasilien 1815 – 1831. Die Sammlung Friedrich Sellow und Ignaz von Olfers. Eine Berlin-Brandenburgische Kooperation. In: Gregor Wolff (Hg.): Die Berliner und Brandenburger Lateinamerikaforschung in Geschichte und Gegenwart. Personen und Institutionen, Berlin, 2001, 313 f. hier 318. 17 Zu Olfers vgl. Paul Ortwin Rave: Ignaz von Olfers. In: Wilhelm Steffens/Karl Zuhorn (Hgg.): Westfälische Lebensbilder Bd. 9, Münster 1962, 108 f.
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preußischen Regierung bis 1831 mit über 10.000 Talern unterstützt. Seine nach Berlin geschickten Naturalien und Ethnographica sorgten in der Hauptstadt Preußens zwar für Aufsehen unter den Bürgern und in den Zeitungen, konnten aber nicht mit denen in Wien und in München konkurrieren.18 … um die Welt … Neben dieser Investition des Staates in Ausstellungsstücke, um die jeweilige Hauptstadt als Repräsentation des Staates auszustatten, diente Wissenschaft ebenfalls häufig als Deckmantel bzw. als Legitimation für kostenintensive Expeditionen, deren eigentliches ökonomisch-koloniales Ziel nicht erreicht wurde.19 Neben Sammlungsreisen in einem begrenzten Gebiet oder einem Land waren seit den Entdeckerfahrten der Aufklärung unter Cook und Bougainville vermeintlich wissenschaftliche Weltreisen bei den Großmächten in Mode gekommen. Preußen hatte immerhin auf der dritten Weltumsegelung der „Princess Louise“ 1830 – 1832, durchgeführt von der Preußischen Seehandlung, den Forschungsreisenden Franz Julius Friedrich Meyen mitgeschickt, der darüber ausführlich und mit staatlichen Mitteln gefördert berichtete.20 Im Jahre 1850 legte die noch junge, nach Profilierung strebende Kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien einen Plan zu einer wissenschaftlichen Weltumsegelung vor. Begünstigt wurde der positive kaiserliche Erlass vom Dezember 1856 durch die ökonomischen Möglichkeiten des im Bau befindlichen Suezkanals. Dazu sollten im und am indischen Ozean Kolonien erworben werden. Ein weiteres Ziel war die Anlegung von Sträflingskolonien. Als geeignete Kolonialgebiete galten die Inselgruppe der Nikobaren und Länder an der ostafrikanischen Küste, wohin bereits Wilhelm von Tegetthoff und Theodor von Heuglin zur Rekognoszierung ausgesandt worden waren.21 18 Zu Sellow vgl. Sabine Hackethal: Friedrich Sellow (1789 – 1831). Skizzen einer unvollendeten Reise durch Südamerika. In: Fauna und Flora in Rheinland-Pfalz (Zeitschrift für Naturschutz Beiheft, [Bd.] 17), 1995, 215 f. 19 Ein weiteres Beispiel für Österreich ist die „österreichisch-ägyptische Bergwerksexpedition“. Parissa Keshavarzi/Frank Leimkugel: Theodor Kotschy und die Russegger-Expedition in den Jahren 1836 – 1838. In: Ingrid Kästner/Jürgen Kiefer (Hgg.): Beschreibung, Vermessung und Visualisierung der Welt. Beiträge der Tagung vom 6. bis 8. Mai 2011 an der Akademie der gemeinnützigen Wissenschaften zu Erfurt, Aachen 2012, 265 ff. 20 Siehe dazu im Allgemeinen Heinz Burmester: Weltumsegelung unter Preußens Flagge. Die Königlich Preußische Seehandlung und ihre Schiffe, Hamburg 1988. Speziell für den wissenschaftlichen Aspekt der Reise Meyens siehe Irmgard Müller: Botanische und zoologische Ergebnisse der Weltumsegelung Franz Julius Meyens 1830 – 1832. In: Harald Lorenzen (Hg.): Beiträge zur neueren Geschichte der Botanik in Deutschland, Stuttgart 1988, 265 ff. 21 Dazu Hermann Mückler: Utopias and Visions. Austria’s Unsuccessful Attempts at Overseas Colonisation in the Eighteenth and Nineteenth Centuries, and the Role of the Novara Expedition. In: James Braund (Hg.): Ferdinand Hochstetter and the Contribution of GermanSpeaking Scientists to New Zealand Natural History in the Nineteenth Century (Germanica
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Die Organisation der Reise dauerte nur wenige Wochen. Hauptschiff der Expedition wurde die Novara. Die Akademie der Wissenschaften in Wien stellte zwei Naturforscher ab, Georg Frauenfeld für die Zoologie und Ferdinand Hochstetter für die Geologie. Die Umrundung der Welt dauerte von 1857 bis 1859. In kolonialer Hinsicht wurde die Reise kein Erfolg, da die Ziele sich als nicht geeignet erwiesen. Wissenschaftlich hingegen war die Reise der Novara, durch die Verwendung neuer Instrumente zur Meeresforschung und durch zahlreiche Naturaliensendungen und Fotografien und Zeichnungen, ein großer Erfolg. Im offiziellen wissenschaftlichen Prachtwerk tauchten die kolonialen Ambitionen natürlich nicht auf. Scheitern war nichts zum Prahlen.22 Einen anderen Erfolg verbuchte Österreich mit dieser Expedition in der Deutschland-Politik. Dass ein „deutsches“ Kriegsschiff vor China Flagge gezeigt hatte, war vor dem Hintergrund des sogenannten „Texas-Vorfalles“, einem oldenburgischen Schiff, das von chinesischen Piraten gekapert und geplündert wurde, für die großdeutsche Presse ein wichtiges Ereignis. Auch die hanseatischen und preußischen Zeitungen berichteten darüber. Eine Blamage für Preußen, das als Oldenburgs Verbündeter anscheinend in Asien keine Macht besaß.23 Es entstanden nun Pläne, eine eigene Asienexpedition durch die preußische Marine durchzuführen. 1859 genehmigte Prinzregent Wilhelm die Expedition. Vorrangiges Ziel war offiziell der Abschluss von Handelsverträgen mit Japan, China und Siam. Inoffiziell sollte ebenfalls die Inbesitznahme der Insel Formosa für Preußen geprüft werden, ein Detail, das in der offiziellen Beschreibung der Expedition nicht auftauchte.24 Neben dem Regenten musste auch das Abgeordnetenhaus Preußens zustimmen, um die Summen für die Kosten der Expedition zu gewähren. Der Finanzminister von Patow erklärte in seiner Rede, dass neben den merkantilen Zielen auch wissenschaftPacifica, Bd. 10), Frankfurt am Main u. a. 2012, 127 f. und als klassische Studie Hans Fenske: Imperialistische Ansätze in Österreich im 19. Jahrhundert. In: Ders./Wolfgang Reinhard/Ernst Schulin (Hgg.): Historia Integra. Festschrift für Erich Hassinger zum 70. Geburtstag, Berlin 1977, 245 ff. 22 Zu dem genauen Reiseverlauf, den Naturaliensendungen und Forschungen vgl. Renate Basch-Ritter: Die Weltumsegelung der Novara 1857 – 1859. Österreich auf allen Meeren, Graz 2008 sowie David G. L. Weiss/Gerd Schilddorfer: Die Novara. Österreichs Traum von der Weltmacht, Wien 2010. 23 Cord Eberspächer: Der „Texas-Fall“ und die oldenburgische Außenpolitik. Die diplomatischen Folgen von Schiffbruch und Ausplünderung der oldenburgischen Bark „Texas“ 1857 im Chinesischen Meer. In: Oldenburger Jahrbuch Bd. 101(2001), 93 ff. Vgl. dazu RolfHarald Wippich: Piraten, Kauffahrer und Piratenabwehr. Der Kampf gegen das chinesische „Meeresgesindel“ im 19. Jahrhundert. In: Thomas Beck/Marilia dos Santos Lopes/Christian Rödel (Hgg.): Barrieren und Zugänge. Die Geschichte der europäischen Expansion. Festschrift für Eberhard Schmitt zum 65. Geburtstag. Wiesbaden 2004, 276 ff. 24 Als jüngste Übersicht auf der Basis der bisher erschienenen Literatur Bradley Naranchy: Made in China. Austro-Prussian Overseas Rivalry and the Global Unification of the German Nation. In: Australian Journal of Politics and History Bd. 56, Heft 3, 2010, 366 ff.
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liche Aufgaben gelöst werden sollten und die Expedition entsprechend ausgestattet werden sollte.25 Wissenschaftliches Ziel sollte nicht „eine hübsche Reisebeschreibung, oder allenfalls ein Bilderbuch“ werden, sondern Fakten, „welche dem Preußischen und Deutschen Vaterlande zu Ehre gereichen, und als ebenbürtig dem zur Seite gestellt werden können, was bisher von anderen Ländern ausgegangen“ war.26 Dass in den Augen der Regierung nicht Österreich gemeint war, verdeutlichte er dadurch, dass er die Einigung aller deutschen Staaten außer Österreich hervorhob.27 Also erging eine Order vom Kultusministerium an die Akademie der Wissenschaften, Instruktionen auszuarbeiten und Vorschläge für Forschungsreisende zu unterbreiten. Die Diskussionen, die sich in den Akten der Akademie darüber überliefert haben, zeigten eine deutliche Verärgerung der Akademiemitglieder. Sie monierten untereinander, dass sie quasi als Letzte von der Expedition informiert worden waren. Dennoch erarbeiteten die Wissenschaftler Reisepläne und Sammlungsinstruktionen aus und gaben Vorschläge für die Teilnehmer der Expedition ab.28 Doch wissenschaftlich betrachtet war diese Reise ein Fehlschlag. In China durften die Forscher nicht an Land, in Japan standen sie unter permanenter Beobachtung der örtlichen Behörden und in Siam hatten bereits einige Forscher die Expedition verlassen. Am Ende erschienen ein mehrbändiges Prachtwerk und verschiedene Berichte einzelner Teilnehmer. Die neuen Erkenntnisse waren zwar für die Wissenschaft gering, aber das öffentliche Interesse an ihnen rechtfertigte eine große publizistische Offensive. Dadurch schufen die Bücher doch einen wissenschaftlichen Erfolg und letztendlich einen Prestigegewinn, auch wenn man doch wieder nur bei den Bilderbüchern und Reisebeschreibungen angekommen war.29 Hinzu kam, dass es Preußen gelang, die Handelsverträge teilweise auch in Vertretung anderer norddeutscher Staaten abzuschließen. Diese Tatsache und die Erweite25 „Wie den Herren bekannt sein wird, ist die Expedition nicht bloß mit kaufmännischen Sachverständigen ausgerüstet, sondern auch mit wissenschaftlichen Kräften versehen, so daß sich auch in dieser Beziehung die Regierung einen erfreulichen Erfolg davon verspricht.“ Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Hauses der Abgeordneten, 2. Bd., von der 28. Sitzung am 19. 3. 1860 bis zur Schlußsitzung der beiden vereinigten Häuser des Landtages am 23. 5. 1860, Berlin 1860, 570. 26 Ebd. 27 „[…] das es doch in der That von großer politischer Bedeutung ist, wenn hier zum ersten Male das gesamte außerösterreichische Deutschland sich zu einem großen Unternehmen vereinigt […].“ Ebd. 28 Die Diskussion in: Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (= Arch BBAW), Verhandlungen der physikalisch-mathematischen Klasse, II-VI 53. 29 Albert Berg/Eduard von Martens: Die preußische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen, 7 Bde. Berlin 1864 – 1876. Reinhold Werner: Die preußische Expedition nach China, Japan und Siam in den Jahren 1860, 1861 und 1862. Reisebriefe, 2 Bde., Leipzig 1863. Gustav Spieß: Die preußische Expedition nach Ostasien während der Jahre 1860 – 1862. Reise-Skizzen aus Japan, China, Siam und der indischen Inselwelt, Berlin/Leipzig 1864. Johannes Kreyher: Ostasien in den Jahren 1859 – 1862. Reisebilder aus China, Japan und Siam aus dem Tagebuche, Hamburg 1862.
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rung der wissenschaftlichen Erkenntnisse waren dabei wichtiger als die wirklichen ökonomischen Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und Ost-Asien. Die Deutschland-Politik dominierte nun kurzfristig größere Expeditionen, so auch die ersten Pläne für eine Deutsche Nordfahrt. … zum Nordpol Besonders in den nördlichen Gebieten zwischen Spitzbergen und Grönland lag vermutetes, unentdecktes Land, welches die Staaten durch ihre Expeditionen nach sich selbst bzw. den Regierenden benennen konnten, die höchste Form von Prestige.30 Ihr Initiator war August Petermann, der damals die Auffassung vertrat, welche auch von vielen amerikanischen Geographen vertreten wurde, dass es im hohen Norden ein eisfreies Meer geben sollte. In einer Rede vor einer Versammlung der Freunde der Geographie im Frankfurter Hochstift im Juli 1865 stellte er seine Pläne einer gesamtdeutschen Expedition dar. Österreich und Preußen sollten zusammenarbeiten, um dieses nationale Werk zu vollziehen. Petermann stand dazu in engem Kontakt mit dem ehemaligen Teilnehmer der Novara-Expedition Hochstetter, der sich in Wien aufhielt.31 Petermann reiste im November nach Berlin, um über seine Pläne mit Ministerpräsident Bismarck und Kriegsminister Roon zu sprechen. Ein Angebot der preußischen Regierung an die Regierung Österreichs, eine gemeinsame Expedition zu prüfen, stieß dort aber nicht auf Gegenliebe und wurde höflich abgelehnt. Damit konnten aber auch Bismarck und Roon ganz gut leben, die auf Grund der Spannungen zwischen den beiden deutschen Großmächten weder eine gemeinsame Expedition als Verbrüderungsmaßnahme haben noch die kleine preußische Marine durch die Entsendung von Schiffen zum Nordpol schwächen wollten. Doch nun griff der König persönlich ein. Roon sollte auf sein Verlangen hin eine Kommission einsetzen, die eine Nordfahrt prüfen sollte. Nachdem diese die grundsätzliche Möglichkeit einer Nordfahrt bestätigt hatte, erließ Wilhelm Ende März 1866 eine Order an das Staatsministerium, die Planungen in die Wege zu leiten, unabhängig davon, ob diese Reise wirklich wissenschaftliche Ergebnisse hervorbringen könne.32 Die Mitglieder der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, die die wissenschaftliche Seite überprüfen sollten, waren erneut nicht erfreut, so spät in die Planungen 30 Vgl. allgemein zu den polaren Ambitionen des Deutschen Reichs David Thomas Murphy: German Exploration of the Polar World. A History 1870 – 1940, London 2002. 31 Zu Petermann vgl. die Biographie von Philipp Felsch: Wie August Petermann den Nordpol erfand, München 2010. Zu der geographischen Versammlung siehe Johannes Georgi: Die „Allgemeine Deutsche Versammlung von Freunden der Erdkunde“ in Frankfurt am Main 1865 und ihre Bedeutung für die Geographie. In: Petermanns Geographische Mitteilungen Bd. 112, Heft 2 (1968), 104 f. 32 Die Vorgänge im Detail bei Reinhard A. Krause: Die Gründungsphase deutscher Polarforschung 1865 – 1875 (Berichte zur Polarforschung, Bd. 114), Bremerhaven 1992, 31 ff.
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einbezogen worden zu sein. Es gab durchaus Bedenken über den Nutzen, „ein paar Grad nördlicher zu kommen“33 als bisherige Forscher. Hinzu kam, dass einige innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinde das Ziel für verfehlt hielten. So hielt Prof. Heinrich Kiepert den Nordpol für „ein geographisch […] unbedeutendes Ergebnis“ und empfahl die weitere Erforschung von Kleinasien und Afrika.34 Im Gegensatz dazu verabschiedete die Kommission für Handel und Gewerbe im Preußischen Abgeordnetenhaus eine Petition, in der die Staatsregierung aufgefordert wurde, aus wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und nationalen Interessen eine Nordpolfahrt auszurüsten und durchzuführen. Übernahm Preußen die Leitung der Expedition, „so fördert es die Ausführung und eignet sich gleichzeitig eine nationale Idee an, mit deren Durchführung oder wesentlichen Unterstützung es seinen Beruf erfüllt. Der maritimen Vormacht Deutschlands […] winkt […] ein Ehrenpreis.“35 Ausdrücklich wurde auf die Expeditionen Russlands, Schwedens und auch Österreichs hingewiesen. Da König Wilhelm wissenschaftliche Gründe als Kontra-Argumente ausgeschlossen hatte, sorgte am Ende der Krieg zwischen Preußen und Österreich 1866 dafür, dass die Nordfahrt vorerst ad acta gelegt wurde. Die kurzfristige Verstärkung der Rivalität im Zuge der Deutschland-Frage wurde nun wieder durch die reine Großmächterivalität abgelöst.36 Aber Petermann warb ab Ende des Jahres 1867 erneut für eine Nordpolfahrt und war damit überaus erfolgreich. König Wilhelm spendete 5.000 Tlr aus seinem Dispositionsfonds für die Sache, der Kaiser von Österreich hingegen nur knapp 1.200 Tlr, was dafür sorgte, dass Wilhelm in der Liste der Subskribenten mit deutlichem Abstand an oberster Stelle stand. Ein Stück weit mag dies königliche Eitelkeit gewesen sein, hauptsächlich stellte er sich mit der wissenschaftlichen Förderung in die Tradition seines Vaters und seines Bruders. Diese erste Deutsche Nordpolfahrt 1868 war recht überschaubar und stand unter der Leitung von Kapitän Koldewey. Das Schiff „Grönland“ fuhr, ohne einen Wissenschaftler an Bord, immerhin über Spitzbergen hinaus. Im Oktober desgleichen Jahres
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Arch BBAW, Verhandlungen der physikalisch-mathematischen Klasse, II-VI 58, Auszug aus dem Protokoll der außerordentlichen Sitzung der physikalisch-mathematischen Klasse vom 07. 04. 1866, o. p. 34 Arch BBAW, Verhandlungen der physikalisch-mathematischen Klasse, II-VI 58, Gutachten Kiepert, Berlin 09. 04. 1866, o. p. 35 Haus der Abgeordneten 8. Leg. Per. III. Session 1866, No.41, Berichterstatter Dr. Ziegert, Erster Bericht der Kommission für Handel und Gewerbe über eine Petition die Nordpolfahrt betreffend (Journ. II Nr. 16), 1. hier 3, in: GStA PK I. HA Rep. 120 Ministerium für Handel und Gewerbe C XIII 1 Nr. 53. 36 Für die folgenden Abschnitte mit den Angaben zur Organisation und Finanzierung s. Krause, 1992, 128 ff.
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erreichte man wieder Bremerhaven.37 Der Erfolg dieser Fahrt löste eine Welle der Begeisterung aus. Bereits im November wurde eine zweite Fahrt projektiert. Dieses Mal sollten zwei Schiffe geschickt werden: die Germania und die Hansa, deren Namen einen nationalen Anspruch ausdrückten und gleichzeitig auf die gemeinsame Geschichte verwiesen. Petermann verschickte seine Broschüren rund um die Erde, überall dorthin, wo Deutsche ausgewandert waren, und von überall her kamen Spenden: Bombay, Melbourne, Kanton, Rio, der Gesangsverein Austin Texas schickte die eingesammelten Gelder eines Benefizkonzerts. Erneut trat Wilhelm mit einer Spende von 2.000 Tlr auf und setzte sich damit an die Spitze der wissenschaftlichen Förderung dieses Unternehmens. Er hatte kurz vorher durch einen Immediatvortrag von Adolf Bastian erfahren, dass der Kaiser von Österreich ebenfalls Geld gespendet hatte. Auch ließ er es sich nicht nehmen, die Schiffe in Bremerhaven zu verabschieden, die dafür extra ihre Abreise verzögerten. Nun waren auch Wissenschaftler an Bord. Unterstützt von der Akademie der Wissenschaften und beurlaubt und bezahlt vom Kultusministerium waren dies Gustav Laube und Reinhold Buchholz auf der „Hansa“ und Karl Börgen, Ralph Copeland (ein Ire), Julius Payer (ein Österreicher) und Adolf Pansch auf der „Germania“. Die „Hansa“ hatte wenig Glück und wurde bereits im Oktober 1869 vom Eis vor Grönland zerdrückt. Die Besatzung rettete sich auf eine Eisscholle und driftete bis zu ihrer Rettung knapp 1.000 Seemeilen lang.38 Die „Germania“ erreichte die grönländische Ostküste, wo sie überwinterte. Auf mehreren Schlittenexpeditionen wurde die Umgebung erkundet. Am nördlichsten Punkt wurde die Flagge gehisst, auf den König getrunken und das Land König-Wilhelm Land getauft. Diese Tat wurde zügig in den Zeitungen und Fachzeitschriften veröffentlicht. Erneut erschien ein zweibändiger Reisebericht und eine Berliner Ausstellung zeigte Bilder über die wissenschaftliche Expedition. Diese Landnahme war die höchste Form von nationalem Prestige, bedeutete es doch ein ewiges Zeichen für die Anstrengungen aller, die diese Expedition möglich gemacht hatten.39 Während Preußen also im hohen Norden und auf den Schlachtfeldern Frankreichs große Erfolge feiern konnte, war es in Österreich-Ungarn still geworden. Es beteiligte sich nicht am beginnenden, größten wissenschaftlichen Projekt des 19. Jahrhunderts, den Beobachtungen des Venusdurchganges 1874 und 1882.40 In Preußen und 37 Vgl. dazu auch Jörg-Friedhelm Venzke: Vor 120 Jahren. Die erste deutsche NordpolarExpedition. In: Berichte zur Polarforschung, Bd. 58, Heft 1 (1988), 47 f. 38 Reinhard A. Krause: Zweihundert Tage im Packeis. Die authentischen Berichte der „Hansa“-Männer der deutschen Ostgrönland-Expedition 1869 bis 1870 (Schriften des Deutschen Schifffahrtsmuseums, Bd. 46), Bremerhaven und Hamburg 1997. 39 Die genaue Schilderung beider Schiffsexpedition in Lars Schmitz-Eggen: Verschollen im Packeis. 1869 startet die große deutsche Expedition zum Nordpol – ein monatelanger Überlebenskampf für die Wissenschaftler und Besatzungen, Norderstedt 2008. 40 Gudrun Bucher: Die Spur des Abendsterns. Die abenteuerliche Erforschung des Venustransits, Darmstadt 2011, 152 ff.
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den anderen norddeutschen Staaten, in Europa und Amerika liefen bereits die Vorbereitungen. Immerhin schickte Österreich-Ungarn 1868 eine kleine Expedition nach Aden, wo eine Sonnenfinsternis beobachtet werden sollte. Der Norddeutsche Bund und Preußen hatten für 16.000 Tlr dorthin und nach Bombay ebenfalls eine Expedition geschickt. Diese sollte in Aden astronomische Aufnahmen machen und konkurrierte mit England, dessen Expedition in Bombay Aufnahmen machen wollte. Österreich war nun kein Gegner für Preußen mehr.41 Dieses geringe Interesse am Nordpol bei den anderen europäischen Staaten, welche dieses Gebiet als wissenschaftlich uninteressant auffassten und eine von Petermann initiierte und von Weyprecht und Payer erfolgreich durchgeführte kleinere Nordfahrt im Jahre 1871, bisweilen auch Österreichs Erste Polarfahrt genannt, führten zu einer regelrechten Polarbegeisterung in Österreich-Ungarn. Hier bot sich der neu konstituierten Doppelmonarchie eine große Möglichkeit des Prestigeerwerbs, wenn ihr eine große geographische Entdeckung gelang.42 Im Gegensatz zu den preußisch-deutschen Fahrten war die Frage der Finanzierung durch das große Engagement des Adeligen Hans Graf Wilczek und des Staates in Gestalt von Kaiser, Marine und Ministerien sowie durch unzählige Kleinspenden kein Problem. Wilhelm hatte übrigens nichts gespendet. Die Summe war so groß, dass ein eigenes Schiff gebaut werden konnte, die „Tegetthoff“, zur Ehrung des kürzlich verstorbenen Seehelden. Die Fahrt bekam den offiziellen Titel: ÖsterreichischUngarische Nordpol Expedition. Da war es von Vorteil, dass ein eigenes Schiff zur Verfügung stand und nicht mehr die „Germania“ gemietet werden musste. Der Nordpol war nicht das eigentliche Ziel, sondern das Durchfahren der Nord-Ost- Passage, eine Leistung, die machbarer erschien und ebenfalls ein großer Erfolg gewesen wäre. Die Expedition brach 1873 auf und entdeckte am 31. August Kaiser Franz-Joseph Land, die größte Neuentdeckung an Land seit dem 17. Jahrhundert. Dies war ein unglaublicher Erfolg, der nur durch den Verlust der „Tegetthoff“ im Sommer 1874 etwas gedämpft wurde. Nach der anstrengenden Rückkehr wurden die Teilnehmer in Wien und auch bei ihrer Zugfahrt durch Deutschland auf zahlreichen Empfängen und in den öffentlichen Medien gefeiert.43 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Preußen und Österreich im 19. Jahrhundert sehr früh bereit waren, große finanzielle Mittel für die Ausstattung und für die Präsentation der Ergebnisse wissenschaftlicher Expeditionen in Museen und Prachtwerken auszugeben. Für die Beamten und den Kaiser bzw. König war es ein Ziel, die Darstellung der Ergebnisse in Museen für eine repräsentative Hauptstadt 41 Zur Aden-Expedition vgl. Hilmar W. Duerbeck: The beginnings of German governmental sponsorship in astronomy. The solar eclipse expeditions of 1868 as a prelude to the Venus transit expeditions of 1874 and 1882. In: Axel D. Wittmann/Gudrun Wolfschmidt/Ders. (Hgg.): Development of Solar Research. Entwicklung der Sonnenforschung (Acta Historica Astronomiae, Bd. 25), Frankfurt am Main 2005, 148 ff. 42 Ursula Rack: Sozialhistorische Studie zur Polarforschung anhand von deutschen und österreich-ungarischen Polarexpeditionen zwischen 1868 – 1939, Diss. Wien 2009, 70 f. 43 Ebd.
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in einem europäischen Wettbewerb zwischen London, Paris, St. Petersburg, Berlin und Wien auszunutzen. Dies war eine Form von Visualisierung des gewonnenen Prestiges. Daneben ermöglichte die Herausgabe wissenschaftlicher Werke, einer an sich gescheiterten ökonomisch-kolonialen Expedition eine positive Wendung zu geben und die wahren Absichten der Regierung zu verschleiern. Der dritte Punkt für die Entscheidung, eine wissenschaftliche Expedition auszusenden, war die Benennung geographischer Punkte als Höchstmaß des möglichen Prestigeerwerbs. Dies konnte sogar im Gegensatz zu den Intentionen der wissenschaftlichen Gemeinschaft stehen, die sich aber zuletzt stets kooperativ verhielt, um eine Gelegenheit für finanzielle Förderung wissenschaftlicher Forschung nicht verstreichen zu lassen. Alles in Allem waren die Expeditionen nach Brasilien, nach Ostasien und zum Nordpol Beispiele für eine erfolgreiche Wissenschaftspolitik beider Staaten. Oder doch nicht? Alle geschilderten Bemühungen verschwanden nach und nach aus dem historischen Gedächtnis. Prestige war flüchtig und der dadurch erworbene Ruhm vergänglich. Die drei Strategien der Visualisierung verloren ihren Wert, als die Naturalien und ethnographischen Gegenstände, die Aufsätze und Reisewerke, die Bilder und Fotografien nicht mehr verwendet wurden. Verstärkt wurde dies durch das nachlassende Interesse der nationalen Öffentlichkeit und durch verschiedene, unvorhergesehene Ereignisse. Friedrich Sellow ertrank 1831 auf seiner letzten Forschungsreise in Brasilien. Längst hatte er Pläne für die wissenschaftliche Auswertung seiner Sammlung in Berlin gemacht. Das Material blieb größtenteils unbearbeitet. Einzelne Stücke können aber noch heute im Naturkundemuseum in Berlin begutachtet werden.44 Das in Wien erbaute Brasilianum wurde nach dem Tod Franz I. 1836 aufgelöst und die Stücke in die übrigen Sammlungen des Hofkabinetts eingefügt. Das meiste verbrannte in den revolutionären Wirren 1848.45 Das mit dem Namen König Wilhelm Land bezeichnete Gebiet auf den Karten Grönlands wurde in Frederik VII Land umbenannt. Die Kaiser Franz Joseph Inseln hingegen blieben die größte territoriale Neuentdeckung in der Arktis des 19. Jahrhunderts. Allerdings verloren sie, wie Österreich-Ungarn selbst, ihren Kaisertitel. Petermann, bereits schwer depressiv, schoss sich 1878 eine Kugel in den Kopf, als die anhaltenden Forschungsreisen verdeutlichten, dass ein eisfreies Nordmeer nicht existierte.46 Das französische Wort Prestige kommt aus dem Lateinischen. Praestigiarum bedeutet übersetzt: Blendwerk!
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Hackethal, 1995, 221. Mauthe, 1993a, 91 f. 46 Felsch, 2010, 239 f. 45
Karl Renner und Otto Braun – zwei republikanische Regierungschefs aus der Arbeiterbewegung Von Christoph Stamm †, Bonn Der Österreicher Karl Renner (1870 – 1950) und der Preuße Otto Braun (1872 – 1955) gehörten derselben „Alterskohorte“ an, entstammten beide ärmlichen Verhältnissen, kamen noch während der Herrschaft der Monarchien um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert über die Sozialdemokratie in die Politik, übernahmen im Zusammenbruch der alten Herrschaftssysteme Verantwortung für die Schaffung einer neuen Gesellschaftsordnung, glaubten an die Verwirklichung der sozialen Demokratie auf dem Weg über das Parlament und wurden beide nicht zuletzt durch ihre Bereitschaft, die Macht zu gebrauchen, in ihren Parteien zu Außenseitern. Wenn sie sich je persönlich begegnet sind, was durchaus möglich ist,1 so hat dies bei beiden keinen besonderen Eindruck hinterlassen. Was sie trotz ihrer Gemeinsamkeiten unterscheidet, zeigt sich, wenn wir ihre Lebenswege und politischen Karrieren betrachten. Karl Matthias Renner kam am 14. Dezember 1870 als achtzehntes und letztes Kind von Matthäus und Maria Renner auf deren heruntergewirtschaftetem Bauernhof in Unter-Tannowitz (heute Dolni-Dunajovice) in Südmähren zur Welt.2 Durch die Lage des Marktfleckens im deutschsprachigen Gebiet, aber unweit der tschechischen Sprachgrenze, wurde Renner von Kindheit an mit den Sprach- und Nationalitätenproblemen der österreich-ungarischen Doppelmonarchie vertraut.3 Angesichts der bereits in der Volksschule erkennbaren Talente Karls schickte ihn sein Vater auf Zureden eines Lehrers trotz der ärmlichen finanziellen Verhältnisse auf das Piaristengymnasium in Nikolsburg. Durch ein Stipendium und die Tätigkeit als Haushaltshil1 In den Listen der Delegierten zum Außerordentlichen Internationalen Sozialistenkongress in Basel 1912 sind Renner und Braun aufgeführt, vgl. Congrès international extraordinaire, Bâle 24 – 25 Novembre 1912 – Conférence Internationale socialiste de Stockholm 1917, reprint, introd. de Georges Haupt, Genf 1980, 54 u. 55. 2 Die biographischen Einzelheiten zu Renner vgl. vor allem in Walter Rauscher: Karl Renner. Ein österreichischer Mythos, Wien 1995; ein profiliertes Bild der Persönlichkeit Renners bietet Anton Pelinka: Karl Renner zur Einführung, Hamburg 1989. Umfangreiches Quellenmaterial zu Renner ist abgedruckt in: Jacques Hannak: Karl Renner und seine Zeit. Versuch einer Biographie, Wien 1965. 3 Ab 1918 zur Tschechoslowakei gehörend, wurde Unter-Tannowitz 1938 nach dem Münchner Abkommen mit dem Sudetenland an das Deutsche Reich abgetreten, vgl. Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Dolní_Dunajovice (30. 9. 2013).
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fe und Privatlehrer finanzierte Renner schon ab seinem 13. Lebensjahr seinen eigenen Lebensunterhalt. Über die Unterrichtung von Kindern aus dem Bürgertum erhielt er Zutritt zu dieser Gesellschaftsschicht und lernte, sich dort zu bewegen und Schriftdeutsch zu sprechen. Auch seine früh erwachten dichterischen Neigungen entsprachen nicht den üblichen Interessen eines Bauernsohnes. Der wirtschaftliche Niedergang der Eltern, die schließlich ins Armenhaus ziehen mussten, hielt Renner jedoch davon ab, die Anschauungen des Bürgertums über die gesellschaftliche Ordnung zu übernehmen, vielmehr entwickelte er ein starkes Gefühl für soziale Ungerechtigkeit und entfernte sich von der katholischen Kirche. Nach der Matura rückte Renner im Herbst 1889 ein zum Einjährig-Freiwilligendienst. Wie er in seinen Memoiren beschrieb, wurde dort über die Erfahrung der Rolle des Militärs in der Gesellschaft, Diskussionen mit Kameraden aus anderen Nationalitäten über die Struktur der Monarchie und die Lektüre von August Bebels „Die Frau und der Sozialismus“ sein politisches Denken in Gang gesetzt.4 Nach Beendigung des Militärdienstes nahm Renner zum Wintersemester 1890/91 an der Universität Wien das Studium der Rechte – das klassische Studium sozialer Aufsteiger – auf, wobei er auch andere Fächer wie Philosophie und Geschichte belegte. Schon bald begegnete er seiner ebenfalls aus einfachen Verhältnissen stammenden späteren Ehefrau Luise Stoisits, mit der er in einer Art antibürgerlichem Protest mehrere Jahre unverheiratet zusammenlebte. Am 18. August 1891 kam die Tochter Leopoldine zur Welt. Als Advokatenschreiber und Nachhilfelehrer verdiente Renner Geld für seine kleine Familie und hatte Probleme, sein Studium dabei nicht zu vernachlässigen. Auch Luise musste als Stubenmädchen arbeiten und gab die Tochter in der ersten Zeit außerhalb Wiens in Pflege. In seinem noch eher naiven, unreflektierten Drang, dem Proletariat zu helfen, versuchte Renner anfangs den sogenannten „Sitzgesellen“, d. h. Heimarbeitern bei Schuhmachern, durch Vorlesungen und Wanderungen mehr Bildung zukommen zu lassen. Im Gegensatz dazu sah er sich als Besucher einer Großveranstaltung des christlich-sozialen Kommunalpolitikers Karl Lueger mit dessen demagogischen Fähigkeiten bei der Verbreitung von antikapitalistischen und antisemitischen Parolen konfrontiert. Renners endgültige Hinwendung zum Sozialismus erfolgte etwa Anfang 1893, als er zum Mitglied eines sozialdemokratischen Gesprächskreises wurde, der „Zelle“, dem bald auch Max Adler und Rudolf Hilferding angehörten. Seiner Art entsprechend verband Renner seine praktische Arbeit für die Sozialdemokratie mit einem eingehenden Studium der maßgebenden sozialistischen Autoren. Ein einschneidendes Erlebnis war sein erstes, zufälliges Zusammentreffen mit Victor Adler, der führenden Persönlichkeit der österreichischen Sozialdemokratie dieser Zeit. In dem dabei entstehenden Gespräch riet ihm Adler, sich voll auf sein Studium zu konzentrieren – der Partei sei mit verbummelten Studenten nicht gedient – , eine bürgerliche Stellung zu erringen und sich bereit zu halten, bis die Be4
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Vgl. Karl Renner: An der Wende zweier Zeiten. Lebenserinnerungen, Wien 1946, 192 –
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wegung ihn rufe.5 Renner folgte dieser Linie, beschränkte seine politische Arbeit auf universitäre Kreise und den Wanderverein „Naturfreunde“ und nahm zum 1. Dezember 1895 die Stelle eines Wissenschaftlichen Hilfsarbeiters im Archiv des Reichsrats an. Seine Vorstellung, sich als Strafverteidiger für ungerechtfertigt verfolgte Proletarier einzusetzen, gab er damit auf. Mit der Heirat 1897, der Promotion zum Doktor beider Rechte 1898 und der „Pragmatisierung“, d. h. der Übernahme ins Beamtenverhältnis als Beamter der Bibliothek des Reichsrats, fand die Etablierung Karl Renners ihren Abschluss. Politisch aktiv gegen die herrschende Ordnung durfte Renner als Beamter nicht mehr arbeiten, aber um seiner Gesinnung nicht untreu zu werden, fand er den Ausweg, unter anderen Namen verschiedene politische, juristische und gesellschaftswissenschaftliche Abhandlungen zu veröffentlichen. Grundsätzlich steht bei Renner im Unterschied zu Otto Braun das schriftstellerisch-publizistische und theoretische Werk6 gleichrangig neben dem politisch-praktischen Lebenswerk. 1899 erschien unter dem Pseudonym „Synopticus“ Renners erste Monographie „Staat und Nation“.7 Hier tauchte er tief ein in die Nationalitätenfrage, die die k. u. k. Monarchie in ihrer geltenden Verfassung immer mehr bedrohte. Er erklärte sich als Patriot und sah den österreichisch-ungarischen Staat als reformwürdig und -fähig an. Dieser sollte reorganisiert werden als föderalistischer Bundesstaat. Den territorialen Autonomieforderungen der einzelnen Nationen, die Renner angesichts der regionalen Vermischungen für undurchführbar und zerstörerisch hielt, stellte er die Idee der Gliederung der Nationen in autonome Personenverbände gegenüber. Im Hinblick auf die spätere Entwicklung sei angemerkt, dass Renner die Idee einer Angliederung der deutschsprachigen Teile Österreichs an das Deutsche Reich hier noch als Degradierung zum preußischen Hinterland bewertete. Neben der Nationalitätenfrage und der Reorganisierung des Habsburgerreichs behandelte Renner in seinen Schriften ebenso die Frage von dessen Demokratisierung. Alles sah er unter dem Aspekt der Verbesserung der Bedingungen für die Arbeiterschaft, aber „zeigte sich eher als humanistisch-demokratischer Reformer denn als marxistischer Doktrinär“8. Renner gehörte Zeit seines Lebens zum „gemäßigten“ oder „rechten“ Flügel der Partei und der Schule des Austromarxismus.9 Von Otto Bauer unterschied ihn, dass er den 5
Ebd., 268. Vgl. Karl Renner. Eine Bibliographie, hrsg. v. Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung mit Unterstützung des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung zsgst. v. Hans Schroth unter Mitarb. v. Elisabeth Spielmann, Gerhard Silvestri, Ernst K. Herlitzka, eingel. v. Karl R. Stadler, Wien/Frankfurt/Zürich 1970. Auszüge der wichtigsten Texte in: Karl Renner, Schriften, hrsg. u. mit einem Nachwort v. Anton Pelinka, Salzburg/ Wien 1994. 7 Vgl. Synopticus [d.i. Karl Renner], Staat und Nation. Staatsrechtliche Untersuchung über die möglichen Principien einer Lösung und die juristischen Voraussetzungen eines Nationalitätengesetzes, Wien 1899. 8 Vgl. Rauscher, 50. 9 Eine ausführliche Einordnung des Denkens Renners in den Zusammenhang der Schule des Austromarxismus hat Norbert Leser unternommen, vgl. ders.: Reformismus und Bol6
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Staat als Instrument des Klassenausgleichs und nicht von vornherein als Instrument der Klassenherrschaft ansah. Renner glaubte daran, dass die soziale Revolution mit den Institutionen der Demokratie im parlamentarischen Rahmen durchzusetzen sei, ohne wie die Revisionisten in der deutschen Sozialdemokratie die radikalen Grundanalysen von Karl Marx über Bord zu werfen. Dass Renner trotz seines ruhigen Lebens als Bibliotheksbeamter und Schreibstubengelehrter den Kontakt zur Politik nicht verlor, zeigte sich 1907 anlässlich der nach dem reformierten Wahlrecht ersten allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahl (für Männer) zum Abgeordnetenhaus des Reichsrats. Die Parteileitung bot ihm den niederösterreichischen Wahlkreis Neunkirchen an, den Renner im ersten Wahlgang auch gewann. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) stellte insgesamt 87 von 516 Abgeordneten, neben 50 Deutschen und 23 Tschechen auch Polen, Rumänen und Ruthenen. Nun konnte Renner praktisch daran mitwirken, wie er es formulierte, „den Staat in den Dienst der Arbeiterklasse zu stellen.“10 Im Parlament konnten die Sozialdemokraten als Oppositionelle nur in Ausschüssen und durch Reden wirken. Schon in seiner Jungfernrede am 27. Juni 1907 erwies sich Renner als hervorragender Redner und äußerte sich in den kommenden Jahren zu fast allen Themen.11 Den Dualismus zwischen den gleichberechtigten Reichsteilen Österreich und Ungarn erklärte er aus wirtschaftlichen Gründen für unhaltbar. Die zunehmenden Grabenkämpfe der einzelnen Nationalitäten machten im österreichischen Reichsteil auch vor der sozialdemokratischen Partei nicht halt. Nach der Konstituierung der „Tschechischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei“ im Mai 1911 spalteten sich die Mitglieder des Reichsratsklubs der SDAP entlang der nationalen Trennungslinien auf in einen deutschen, einen polnischen und einen „tschechoslawischen“ Klub. Die von Renner mit der großen Mehrheit der österreichischen Sozialdemokraten geteilte Auffassung, dass nationale Reformen schon im Kapitalismus und damit noch vor der sozialen Revolution möglich seien, wurde innerhalb der Sozialistischen Internationale von den russischen Linken Lenin und Stalin heftig kritisiert. Zur reformerischen Linie Renners gehörte auch sein Glaube an die Selbsthilfekräfte der Arbeiterschaft, umgesetzt durch Gewerkschaften, Genossenschaften und Bildungsorganisationen. 1911 wurde Renner zum Verbandsobmann der österreichischen Konsumgenossenschaften bestellt und rief 1912 den Kreditverband österreichischer Arbeiterorganisationen ins Leben. Trotz seines Hangs zur Pragmatik in der Tagespolitik blieb Renner ein engagierter Staatstheoretiker. Auch auf diesem Gebiet frönte er seiner Leidenschaft zur Schriftstellerei und lieferte über Jahrzehnte reschewismus. Der Austromarxismus als Theorie und Praxis, Wien [u. a.] 1968, bes. Teil 1. Vgl. auch Walter Pollak: Sozialismus in Österreich. Von der Donaumonarchie zur Ära Kreisky, Wien [u. a.] 1979, 151 – 165. 10 Zitat nach Rauscher, 59. 11 Eine Auswahl der Parlamentsreden Renners vgl. in: Karl Renner. Porträt einer Evolution, hg. von Heinz Fischer, Wien [u. a.] 1970.
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gelmäßig Beiträge für die 1907 von ihm, Otto Bauer, Max Adler und anderen gegründete wissenschaftliche Monatszeitschrift „Der Kampf“. Als 1914 trotz aller sozialistischer Warnungen und Friedensaktionen der Krieg ausbrach, verhielt sich Karl Renner wie Otto Braun: Die große Mehrheit der österreichische Sozialdemokraten glaubte sich wie die in Deutschland – oder die in Frankreich – in einem Verteidigungskrieg und unterstützte die Kriegsanstrengungen der eigenen Regierung. Renner meinte, ein Sieg im Krieg werde auch dem Proletariat nützen, denn die Unterbrechung der kapitalistischen Entwicklung des Landes durch eine Niederlage untergrabe auch die Zukunftschancen der Arbeiterbewegung. Die um sich greifende Kriegswirtschaft sah er als Chance zur zunehmenden Verstaatlichung der Wirtschaft, die auch nach dem Krieg noch anhalten müsse. In der Konsequenz dieser Anschauungen trat Renner 1915 in die Kriegsgetreide-Verkehrsanstalt und in den Approvisionierungsbeirat ein. Ab Oktober 1916 als Reservist eingezogen, übernahm Renner als Mitglied des siebenköpfigen Direktoriums des Kriegsernährungsamtes eine Begutachterfunktion. Im April 1917 kam Renner sogar zu einer Audienz beim jungen Kaiser Karl I., die jedoch für Renner enttäuschend verlief, weil Karl für seine Vorschläge zur Umgestaltung des Versorgungswesens unzugänglich blieb. Mit dem allgemeinen Nachlassen der Kriegsbegeisterung zog sich Renner innerhalb der Partei durch sein Vorgehen die zunehmende Feindschaft des erstarkenden linken Flügels zu, für den er bald als „Sozialpatriot“ und „k. u. k.– Sozialdemokrat“, also als Kollaborateur der herrschenden Klassen galt. Eine förmliche Parteispaltung wie in Deutschland konnte Victor Adler aber vermeiden. Mit der Beseitigung der Zarenherrschaft in Russland im Februar 1917 entfiel auch für Renner ein Hauptmotiv für den „Burgfrieden“ und er forderte die Wiederherstellung der staatsbürgerlichen Rechte. Der Staat müsse seine Notwendigkeit für alle Nationalitäten beweisen oder untergehen. Als in der sich steigernden Krise der Monarchie im Juni 1917 der Ministerpräsident Clam-Martinic der Sozialdemokratie mit Blick auf Renner ein Ministeramt anbot, lehnte Renner entsprechen dem Parteibeschluss dieses Amt ab und trat auch aus dem Kriegsernährungsamt aus. An der Aufrichtung einer dauerhaften parlamentarischen Ordnung und der verfassungsmäßigen Regelung der Nationalitätenfrage war er aber weiterhin bereit mitzuarbeiten. Es brauchte die einschneidenden Ereignisse der Monate bis Oktober 1918 – die Streiks und Hungerrevolten, die Einsicht in die Unreformierbarkeit der Habsburgermonarchie, den militärischen Zusammenbruch, die Unterstützung der Unabhängigkeitsbestrebungen der nichtdeutschen Völker durch die Entente und die USA, den Regierungseintritt der Sozialdemokraten in Deutschland – bis sich Renner im Verein mit der gesamten deutsch-österreichischen Sozialdemokratie auf eine neue Basis stellte. Nachdem sich die anderen Völker von Wien losgesagt hatten, beanspruchte nun die „Provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich“ das Selbstbestimmungsrecht für Deutschösterreich, übertrug die Regierungsgewalt einem Staatsrat und verkündete am 30. Oktober 1918 den Beschluss über die grundlegenden Ein-
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richtungen der Staatsgewalt. Am selben Tag ernannte der Staatsrat Karl Renner zum Leiter der Staatskanzlei. Obwohl die Sozialdemokraten weniger Abgeordnete stellten als die Christlich-Sozialen und weit weniger als das deutschnational-liberale Lager, wurde Renner von diesen Parteien offenbar zugebilligt, Parteiinteressen von Staatsgeschäften trennen zu können, und er zog durch seine Persönlichkeit und bisherige Karriere das Amt auf sich. In allem Umbruch bildete er einen Anker. Seine Einstellung, lieber auf Grundsätze zu verzichten als machtlos in der Opposition zu verharren, passte zu der gegebenen Situation. Auch der linke Parteiflügel sah keine Alternative zu Renner. Nach Ausrufung der demokratischen Republik am 12. November 1918 wuchs er schnell in die Rolle eines souveränen Staatskanzlers hinein. Er hatte allerdings einen kaum souveränen Staat zu regieren, in dem im Zerfall der alten Ordnung die notwendigste Versorgung der Bevölkerung, die Grenzkämpfe mit den neu formierten Nachbarstaaten und die Waffenstillstands- und Friedensfrage die Tage beherrschten. Aus den Wahlen am 16. Februar 1919 gingen die SDAP mit der relativen Mehrheit und Renner als Staatskanzler (und anfangs auch Innenminister) einer Großen Koalition mit der Christlich-Sozialen Partei hervor. Wie Renner waren alle Parteien und Politiker nun darin einig, dass Deutschösterreich nur als Bestandteil des seit dem 9. November 1918 sozialdemokratisch regierten Deutschen Reiches überleben könne. Innerhalb der SDAP gab Otto Bauer die Formel aus, dass der Anschluss an das nun von Sozialdemokraten geführte Deutschland den Anschluss an den Sozialismus bedeute. Als die österreichische Delegation mit Renner an der Spitze am 14. Mai 1919 zu den Friedensverhandlungen in Saint Germain eintraf, war aber schon bekannt, dass die Siegermächte einen Anschluss Deutschösterreichs an das Deutsche Reich nicht zulassen würden.12 Als Otto Bauer wegen des damit offenkundigen Scheiterns seiner Außenpolitik als Außenminister zurücktrat, übernahm Renner auch dieses Amt. Ihm blieb in Übereinstimmung mit der Nationalversammlung nichts übrig, als die schweren Friedensbedingungen zu akzeptieren. Ohne das Ziel des Anschlusses für die Zukunft aufzugeben, richtete Renner die österreichische Außenpolitik für den Rest seiner Amtszeit pragmatisch mehr auf die Entente aus. Als die Große Koalition im Juni 1920 zerbrach, blieb Renner in einer Übergangsregierung bis zu den Neuwahlen im Oktober 1920 nur noch Außenminister. Die Wahlen bescherten den Christlich-Sozialen einen Erdrutschsieg und beendeten die Regierungstätigkeit Renners für ein Vierteljahrhundert. Eine Spaltung seiner Partei wollte Renner als Preis für eine weitere Regierungsbeteiligung nicht riskieren. In Renners Regierungszeit waren die demokratisch-republikanische Verfassung gesichert, die Sozialgesetzgebung revolutioniert, ein kommunistischer Putsch verhindert, entgegen den ersten Friedensbedingungen das Burgenland für Österreich gesichert und finanzielle Erleichterungen erreicht worden. Andererseits waren Südtirol, die Untersteiermark und die Sudetengebiete verloren, der Anschluss an Deutsch12 Zur Rolle Renners als Leiter der Friedensdelegation vgl. Jamie Bulloch: Karl Renner. Austria (The Peace Conferences 1919 – 1923 and their Aftermath), London 2009.
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land unerreicht und die Wirtschaftslage katastrophal. Renner konnte gleichsam über den Parteien schweben, aber gerade das brachte ihm den Vorwurf des Opportunismus ein, der ihn bis zu seinem Lebensende begleiten sollte. In der Folgezeit unterstützte Renner seine Partei im Kampf gegen die bürgerlichen Regierungen und besonders gegen die Unterzeichnung der Genfer Protokolle durch die Regierung Seipel im Oktober 1922, die Österreichs Staatsfinanzen im Gegenzug für eine ausländische Anleihe zur Stabilisierung der Währung der Aufsicht eines Generalkommissärs des Völkerbunds unterstellten. Danach zog sich Renner – neben seinem Abgeordnetenmandat – ab 1923 auf den Posten des Vorsitzenden des Verwaltungsrats der neu entstandenen „Arbeiterbank“ zurück. Die Sozialdemokraten blieben in der Opposition. Den paramilitärischen Heimwehren stellten sie ab 1923 den „Republikanischen Schutzbund“ gegenüber. Sie fanden jedoch keinen Ausweg aus der sich stetig verschärfenden innenpolitischen Konfrontation, die 1927 erstmals in Blutvergießen mündete. Renner engagierte sich wieder in der Tagespolitik, als es 1929 darum ging, einen von den Heimwehren inspirierten Verfassungsentwurf des Bundeskanzlers Schober abzuwehren und durch zähe Verhandlungen so weit zu verändern, dass auch die SDAP schließlich zustimmen konnte. Der Bundespräsident sollte künftig direkt durch das Volk gewählt werden und seine Machtbefugnisse wurden stark erweitert. Von der Stärkung der Staatsspitze erhofften sich Renner und die SDAP auch mehr Wiederstand gegen die sich zunehmend faschisierenden Heimwehren und die auch in Österreich aufkommenden Nationalsozialisten. Zwar wurde die SDAP in den Nationalratswahlen 1930 wieder die stärkste Partei, aber die Regierungsmehrheit blieb auf der bürgerlich-konservativen Seite. Die SDAP setzte wieder verstärkt auf die Person des erfahrenen und integrierenden Karl Renner, als sie ihn am 29. April 1931 erfolgreich zur Wahl zum Ersten Nationalratspräsidenten vorschlug. Renner war sich zwei Monate später mit den anderen Spitzenpolitikern seiner Partei einig, als sie aus der aktuellen Interessenlage der Partei heraus ein Angebot der Christlich-Sozialen zu einer Großen Koalition unter Ignaz Seipel ablehnten.13 Wieder setzte die Partei auf Renner, als im Oktober 1931 der Bundespräsident erstmals nach der neuen Verfassung vom Volk gewählt werden sollte. Angesichts der angespannten innenpolitischen Lage und der Wirtschaftskatastrophe schreckten die Parteien aber kurzfristig vor einer Volkswahl zurück. Damit sanken die Chancen Renners deutlich. In der Bundesversammlung unterlag er dann gegen den christlich-sozialen Amtsinhaber Wilhelm Miklas nur einigermaßen knapp mit 93 gegen 109 Stimmen.
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Über die Frage, ob diese Entscheidung auch staatspolitisch richtig war oder hier eine Weichenstellung in Richtung des Untergangs der Demokratie vorgenommen wurde, ist in den 1980-er Jahren eine Forschungskontroverse entstanden. Literaturangaben dazu bei Ernst Hanisch: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994, 523, Anm. 45.
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Der ab Mai 1932 regierende Bundeskanzler Engelbert Dollfuß zielte auf ein christlich-soziales Ständesystem unter Ausschaltung des Parlaments. Renner leistete ihm dabei unbeabsichtigt Schützenhilfe, als er wegen eines Streits über Formalia einer Abstimmung, beklatscht von seiner Fraktion, am 4. März 1933 von seinem Amt als Nationalratspräsident zurücktrat und damit eine Handlungskette auslöste, mit der sich das Parlament selbst lähmte. Walter Rauscher schreibt, dass es fast scheint, dass Renner in den kommenden Monaten über seine Rolle als bloßer Beobachter der Szenerie gar nicht so unglücklich war.14 Er warnte davor, die Arbeiterschaft im Kampf gegen Dollfuß radikalisiert und unvorbereitet in eine nicht zu gewinnende Auseinandersetzung zu führen. Dies hat dann eine gewisse Parallele im Verhalten Otto Brauns, der, wie unten besprochen, im Sommer 1932 nach Wegen suchte, sein Amt als preußischer Ministerpräsident los zu werden und nach dem Staatsstreich des Reichskanzlers von Papen sich auf juristische Aktionen beschränkte. Als sich der Republikanische Schutzbund am 12. Februar 1934 übereilt doch zum bewaffneten Aufstand entschloss, war Renner nicht eingeweiht und der Aufstand zum Scheitern verurteilt. Im Ergebnis wurden die SDAP verboten und ihre Führung inhaftiert. Als Renner nach 100 Tagen wieder frei kam, blieb seine persönliche Bewegungsfreiheit durch das Regime eingeschränkt. Er zeigte aber wieder einmal seine Anpassungsfähigkeit an nicht zu ändernde Umstände und behielt sein unbeschwertes optimistisches Wesen bei. Illegale Untergrundarbeit hielt er nun für geboten, erklärte aber auf sich selbst bezogen, diese könne „nicht von Leuten gemacht werden, die vierzig Jahre in der Legalität ergraut sind.“ Weiter schrieb er im selben Brief an Friedrich Adler: „Gibt es etwas, wozu man mich braucht, wird man mich finden – ich sehe nichts Derartiges, jetzt nicht und nicht in absehbarer Zeit“. 15 Bis Karl Renner tatsächlich noch einmal gerufen wurde, sollte die Geschichte Österreichs noch schicksalhafte Wendungen nehmen und Renner den bis heute umstrittenen „wunden Punkt“ seiner politischen Karriere erleben. Eigentlich hatte die SDAP in Übereinstimmung mit Renner 1933, nachdem die Macht in Deutschland in die Hände der Nationalsozialisten gekommen war, den Anschluss an das Deutsche Reich als Ziel aus dem Parteiprogramm gestrichen, und Renner hatte vergeblich französische Gesprächspartner vor den Gefahren gewarnt, die von den Nationalsozialisten auch für Österreich ausgingen. Als diese im April 1938 den von ihnen bereits vollzogenen Anschluss durch eine Volksabstimmung legitimieren wollten, fühlte sich Renner veranlasst, öffentlich für ein „Ja“ einzutreten. In einem mit Zustimmung von Rudolf Hess im „Neuen Wiener Tagblatt“ vom 3. April 1938 veröffentlichten Interview16 distanzierte sich Renner zwar in einer Formulierung von den Methoden, mit denen der Anschluss „errungen“ wurde, sagte dann aber u. a.: „Als Sozialdemokrat und somit als Verfechter des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen, als erster 14
Vgl. Rauscher, 280. Renner an Friedrich Adler, 27. 7. 1937, abgedr. bei Hannak, Karl Renner, 621 f. 16 Abgedr. ebd., 650 – 652.
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Kanzler der Republik Deutsch-Österreich und als gewesener Präsident ihrer Friedensdelegation zu St-Germain werde ich mit Ja stimmen.“ Was Renner letztlich zu dieser öffentlichen Stellungnahme bewog, bleibt ungeklärt. Er betonte später mehrfach, die Erklärung völlig freiwillig abgegeben zu haben. Jedenfalls erleichterte sie die Ausreise seines jüdischen Schwiegersohnes Hans Deutsch und der Enkel nach England. Renner selbst blieb von Verfolgung durch das NS-System verschont. Sein Lebenswerk, sein Mitwirken am Aufbau eines österreichischen demokratischen und sozialen Verfassungsstaates sah er zerstört. In politischer Abstinenz verlegte er sich aufs Schreiben – zum Beispiel seiner Memoiren –, ohne veröffentlichen zu können. Dass Karl Renner nach der militärischen Niederlage des NS-Systems am 27. April 1945 im Alter von 74 Jahren noch einmal an die Spitze einer österreichischen Regierung treten konnte, beruhte vor allem auf drei Elementen: Erstens sah Renner sich persönlich berufen und befähigt, mit all seiner Erfahrung noch einmal aus einem Zusammenbruch eine österreichische Republik aufzurichten. Zweitens erkannten die neu gegründeten Parteien Sozialistische Partei Österreichs (SPÖ), Österreichische Volkspartei (ÖVP) und Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) seine Führungsautorität an. Und vor allem drittens hatte die anfangs in Wien allein herrschende sowjetische Besatzungsmacht durch Josef Stalin persönlich schon im März 1945 Renner für die Bildung einer provisorischen österreichischen Regierung vorgesehen. Im Umgang mit der Besatzungsmacht erwies sich Renner laut Walter Rauscher „als Meister der Gratwanderung zwischen unterwürfiger Dankbarkeit und eigenständigem, selbstbewussten Auftreten“. Nie zuvor habe Renners Fähigkeit, andere Meinungen anzunehmen und für das Wohl des Staates anzuwenden, sein Taktieren und bisweilen befremdliches Lavieren solche positive Auswirkungen nach sich gezogen.17 Kurz: Renner war der Mann der Stunde. Seine Fähigkeiten bewährten sich dann auch gegenüber den westlichen Besatzungsmächten, die nach anfänglichem Widerstreben die ursprünglich von den Sowjets allein eingesetzte Regierung im Oktober 1945 als für ganz Österreich zuständig anerkannten. Die Aufgaben des Staatskanzlers Renner 1945 waren mehr oder weniger dieselben wie 1919: Auseinandersetzungen mit den Siegermächten, Ringen um den Zusammenhalt des Staates, Kampf gegen Hunger und Seuchen, Inkraftsetzung einer demokratischen Verfassung. 1945 wurde Renners Kanzlerschaft aber schon nach neun Monaten beendet. Im Gefolge der Nationalratswahlen vom 25. November 1945, die der ÖVP die absolute Mehrheit bescherten, übernahm auf Druck der Besatzungsmächte eine Koalitionsregierung aus ÖVP, SPÖ und KPÖ unter Bundeskanzler Leopold Figl die Regierung. Karl Renner seinerseits wurde im Einvernehmen mit den Besatzungsmächten als Bundespräsident nominiert, von der Bundesversammlung einstimmig gewählt und trat am 20. Dezember sein höchstes Amt an.
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Vgl. Rauscher, 316.
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Renners Amtsführung ging darauf aus, die Befugnisse, die ihm die Verfassung bot, voll auszunutzen. Sein Selbstbewusstsein schien sowohl den anderen politischen Akteuren in Österreich als auch den Besatzungsmächten oft überzogen. Sein Engagement zielte vor allem auf ein möglichst baldiges Ende des Besatzungsregimes. Schließlich akzeptierte aber auch Renner, dass das längere Warten auf eine möglichst günstige Fassung eines Staatsvertrages der Gefahr einer Aufteilung des Landes in Ost und West während der Konfrontation in den ersten Jahren des Kalten Krieges vorzuziehen sei. In einer Abkehr von seinem bisherigen Deutschnationalismus befürwortete Renner nun die Entstehung einer österreichischen Nation und erklärte, im strengen Wortsinn sei der Österreicher kein deutscher Stamm, spreche aber die deutsche Sprache. Als Renner am 14. Dezember 1950 80 Jahre alt wurde, feierte ganz Österreich seinen Geburtstag. „Die neue Zeitung“, Zeitung der amerikanischen Besatzungsbehörde in Deutschland, überschrieb ihren Geburtstagartikel: „Der Mann, der Österreich ist.“18 In dieser Formulierung ist zugespitzt alles zusammengefasst, was die Position und das Ansehen Renners gegen Ende seines Lebens ausmachte. Da Karl Renner nur zehn Tage nach seinem 80. Geburtstag einen Schlaganfall erlitt und am 31. Dezember 1950 starb, gingen die Würdigungen zu seinem Jubiläum beinahe nahtlos in die Würdigungen anlässlich seines Todes über. Renner angesichts seiner zahllosen Wendungen und Anpassungen einem abschließenden und eindeutigen Urteil zu unterwerfen, ist schwierig. Dies drückt sich auch aus in Anton Pelinkas Formulierung: „Renners Komplexität verbietet jedes vordergründige Moralisieren, obwohl dies angesichts einer so ungehemmten Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit naheliegen würde“.19 Pelinka sieht Renner als „Prototyp“ des Österreichers im 20. Jahrhundert, der immer eingebettet war in den Hauptstrom österreichischer Meinung und in den wechselvollen Phasen der österreichischen Geschichte den jeweils herrschenden Zeitgeist repräsentierte.20 Renners Wendungen und Anpassungen, so wäre zu ergänzen, waren somit Voraussetzungen seines Erfolges. Wenn wir uns Otto Braun zuwenden, so finden wir in ihm auf dem Höhepunkt seines Lebens ebenfalls einen Hoffnungsträger der Sozialdemokratie, diesmal im preußisch-deutschen Rahmen, einen der „starken Männer“ oder sogar „den“ starken Mann der deutschen Politik der Weimarer Republik insgesamt.21 Spiegelbildlich war er für seine Gegner der „Rote Zar“. Mit seinem Namen verknüpft ist die Vorstellung vom stabilen demokratischen „Bollwerk Preußen“ im von politischen und sozialen Kämpfen zerrissenen Deutschen Reich. Im Gegensatz zu Renner wurde Braun aber
18 Die neue Zeitung, 14. 12. 1950 (Artikel von Hansjörg Koch; Ausschnitt in: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung [AdsD], Slg. Personalia, 8032). 19 Ebd., 8. 20 Vgl. Pelinka, Karl Renner, 103. 21 So Werner Blumenberg: Kämpfer für die Freiheit, Berlin [u. a.] 1959, 125.
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schon vor seinem Tod fast völlig vergessen und spielte im öffentlichen Bewusstsein nach 1945 keine Rolle mehr. Am 28. Januar 1872 in Königsberg/Preußen (heute Kaliningrad) geboren und als Sohn eines Eisenbahnarbeiters und einer Landarbeitertochter mit sieben Geschwistern in ärmlichen und gefühlskalten Familienverhältnissen aufgewachsen, absolvierte Otto Braun nach der Volksschule Lehren sowohl als Steindrucker als auch als Buchdrucker.22 Eine über die Volksschule deutlich hinausgehende Bildung, die von späteren Gesprächspartnern berichtet wurde, eignete er sich autodidaktisch in einem aus interessierten Arbeitern und Studenten gebildeten „Lesekreis Kant“ an, dem offenbar auch Hugo Haase und Ludwig Quessel angehörten. Der Versuch, nach Abschluss der Lehre den familiären Königsberger Verhältnissen durch die traditionelle Wanderschaft als Handwerker zu entfliehen, endete 1891 nach wenigen Monaten, als Braun wegen Erkrankung des Vaters als Ernährer der Familie zurückgerufen wurde. Schon 1888 schloss sich Braun der (bis 1890 noch illegalen) sozialdemokratischen Partei an. Anschließend durchlief er typische Stationen eines örtlichen Funktionärs und war u. a. Vorsitzender des Arbeiter-Wahlvereins Königsberg, der damaligen örtlichen Organisationsform der Partei. In innerparteilichen Auseinandersetzungen stand Braun anfangs in einem „doktrinären Extremismus“23 auf der Seite der antireformistischen „Jungen“. Auf der anderen Seite bot ihm seine Tätigkeit als Verleger, Herausgeber, Redakteur und Drucker des Parteiblatts „Volkstribüne“ (später „Königsberger Volkszeitung“) 1894 die Grundlage für einen Hausstand und für die Eheschließung mit Emilie Podzus. 1897, mit 26 Jahren, wurde Braun zum Vorsitzenden des Provinzial-Wahlkomitees für Ost- und Westpreußen gewählt und stand damit an der Spitze der Partei in den beiden Provinzen. Braun engagierte sich im noch stark von Großgrundbesitz und Junkertum geprägten Ostpreußen besonders für die Rechte der Landarbeiter. Die Gründung des Deutschen Landarbeiter-Verbandes 1909 war vor allem sein Werk. Die intensive Beschäftigung mit den Landarbeiterverhältnissen trug dazu bei, dass sich Brauns radikale Positionen langsam abschliffen. In seinen späteren Jahren sah Braun kein Problem darin, marxistisch-orthodoxe Theorie neben pragmatischem Handeln stehen zu lassen. Zur Schulung seines organisatorischen Talents trugen auch seine Wahl zum Leiter (Rendant) der neu gegründeten, selbstverwalteten Allgemeinen Ortskrankenkas22
Soweit nicht anders vermerkt beruht die Darstellung der biographischen Lebensstationen und der Charakterzüge Brauns auf der grundlegenden und umfassenden Biographie von Hagen Schulze: Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung. Eine Biographie, Frankfurt am Main u. a. 1977. Erwähnt werden muss auch die etwas ältere, weniger verbreitete und gegenüber Braun kritischere Arbeit von Eric Dave Kohler: Otto Braun, Prussia and Democracy, 1872 – 1955, Ph.D. Thesis Stanford University 1971. Zur politischen Geschichte Preußens in der Weimarer Republik und seiner Verschränkung mit der Politik des Reiches vgl. auch Horst Möller: Parlamentarismus in Preußen 1919 – 1932, Düsseldorf 1985; Dietrich Orlow: Weimar Prussia, 1918 – 1925. The Unlikely Rock of Democracy, Pittsburgh 1986; ders.: Weimar Prussia, 1925 – 1933. The Illusion of Strength, Pittsburgh 1991. 23 Schulze, 77.
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se Königsberg im Jahre 1899 – wofür er seine Funktion als Redakteur aufgab – und 1902 seine erstmalige Wahl in die Königsberger Stadtverordnetenversammlung bei. 1904 wurde gegen Braun und andere Sozialdemokraten ein Verfahren wegen Hochverrats eingeleitet, weil er zum Sturz des Zaren aufrufende Schriften nach Russland eingeführt habe. Braun wurde mangels Beweisen freigesprochen. In der Untersuchungshaft hatte man ihm vorher bei einer akuten Blinddarmentzündung medizinische Hilfe verweigert. Zum einen wurde dadurch Brauns Gesundheit dauerhaft untergraben, zum anderen vermutet Hagen Schulze in dieser Situation die Ursache für das von vielen vermerkte „Bärbeißige“ und Gequälte an Braun und dafür, dass ihn in späteren Jahren in krisenhaften Entscheidungssituationen häufig psychosomatische Krankheiten heimsuchten.24 Über den Vorsitz des SPD-Bezirks Ostpreußen und die Mitgliedschaft in der zentralen Kontrollkommission der SPD ab 1906 stieg Braun 1911 in den zentralen Parteivorstand auf. Als Kandidat der Linken besetzte er einen der Sekretärsposten. Noch 1953 verwies Braun mit Stolz darauf, dass er noch zwei Jahre gemeinsam mit August Bebel im Parteivorstand diente.25 Während die Arbeit des Parteivorstands zunehmend von der machtbewussten Person Friedrich Eberts, eines der anderen Sekretäre, bestimmt wurde, fiel Braun anstelle des erkrankten Alwin Gerisch die kommissarische Verwaltung der Parteikasse zu, bis er 1912 offiziell zum Parteikassierer gewählt wurde. Die Führung der Hauptkasse, dem hauptsächlichen Machtinstrument des Parteivorstands gegenüber den regionalen Unterorganisationen, und die damit verbundene Zuständigkeit für die parteieigenen Immobilien, Druckerei-, Zeitungs- und Verlagsbetriebe bescherten Braun ein Schlüsselamt, das seinen Neigungen und Erfahrungen entsprach. Fast zwangsläufig übernahm er nun die Sichtweise des Parteivorstands, der sich immer häufiger von den rebellischen Radikalen um Rosa Luxemburg herausgefordert und auf die Seite der Reformisten gedrängt sah. Der dauernde Zugang zu verschiedenen Publikationsorganen führte im Übrigen nicht dazu, dass Braun größeren publizistisch-schriftstellerischen Ehrgeiz entwickelte. Im Vergleich zu Renner blieb seine Veröffentlichungsliste kurz und beschränkte sich bis auf seine Memoiren im Wesentlichen auf aktuell veranlasste Zeitschriften- und Zeitungsbeiträge.26 Zwar übten Mitglieder des SPD-Parteivorstands üblicherweise Reichstagsmandate aus, doch war Braun durch seine bisherige politische Arbeit im ostpreußischen Kraftzentrum des preußischen Herrschaftssystems so vorgeprägt, dass für ihn nur eine Kandidatur für das Preußische Abgeordnetenhaus infrage kam. 1913 gelang es ihm, trotz der absurden Ungerechtigkeiten des preußischen Dreiklassenwahlrechts
24
Ebd., 118. Vgl. Brief Otto Braun an Erich Ollenhauer, 13. 2. 1953, AdsD, Slg. Personalia, Nr. 1960. 26 Eine Liste der Veröffentlichungen Brauns mit Ausnahme seiner Artikel als Redakteur der „Volksstimme“, der „Königsberger Volkszeitung“ und des „Ostpreußischen Landboten“ siehe in Schulze, 1034 – 1036. 25
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im Wahlkreis Oberbarnim-Niederbarnim bei Berlin mit Unterstützung der Freisinnigen Volkspartei in der Stichwahl ein Mandat zu erringen. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs unterstützte Braun die Burgfriedenspolitik der Mehrheits-SPD. Wenn er auch nicht auf chauvinistische Siegesfanfaren hörte, Eroberungen ablehnte und entsprechend seiner pessimistischen Grundstimmung Elend und Massensterben kommen sah, glaubte er an die gerechtfertigte Verteidigung gegen den menschenverachtenden Zarismus. Wenn bei ihm der Zerfall der Partei im Streit über die von der Mehrheit verfolgte Burgfriedenspolitik sogar körperliche Krankheitsreaktionen hervorrief, so auch deshalb, weil ihm der eingefleischte Gedanke der Arbeitersolidarität über die moralischen Bedenken der Intellektuellen wie Haase, Kautsky und Bernstein ging. Die Folgen des Krieges trafen ihn persönlich ins Herz, als sein Sohn Erich, dem er ein Medizinstudium ermöglicht hatte, als kriegsfreiwilliger Sanitätssoldat im Februar 1915 an Diphterie starb. Dieser Verlust auch des zweiten Kindes nach dem Unfalltod seiner Tochter Erna 1901 beförderte bei Braun schon vorher vorhandene Flucht- und Selbstmordgedanken. Vor dieser letzten Konsequenz zurückschrecken ließ ihn nur der Gedanke an seine kränkliche Frau, auf die sich seine Sorge nun umso stärker konzentrierte. Braun bestimmte während und nach der schrittweisen Spaltung der SPD den Kurs des Vorstands der Mehrheits-SPD mit, die den Burgfrieden schließlich aufkündigte in dem Bestreben, das sich aufstauende revolutionäre Potential unter Kontrolle zu halten. Dem diente auch der politische Kampf Brauns gegen die Interessen seiner alten Gegner, der preußischen Großagrarier, wenn es um die Ernährung der unter der britischen Blockade leidenden Bevölkerung ging. Der Verlauf der Revolution in Russland führte Braun und seinen Mitstreitern auf der anderen Seite vor, dass eine Zerschlagung des alten Regimes nicht automatisch die dauerhafte Einführung der Demokratie bedeuten musste. Eins seiner am heißesten ersehnten Ziele, die Abschaffung des preußischen Dreiklassen-Wahlrechts, wurde durch den plötzlichen Umfall der Obersten Heeresleitung im Zuge der Parlamentarisierung des Reiches im Oktober 1918 zugestanden. Der 9. November 1918 sah Otto Braun erstmals mit im Zentrum der deutschen Politik auf Reichsebene. Er stand neben Friedrich Ebert, als der letzte kaiserliche Reichskanzler Prinz Max von Baden Ebert die Regierungsgewalt übertrug, und redete diesem zu, diese Verantwortung zu übernehmen. Im revolutionären Umbruch fand sich Braun am 11. November 1918 aber schließlich doch in einem Amt auf der Ebene Preußens wieder, als er in das politische Kabinett der paritätischen Regierungschefs Paul Hirsch (MSPD) und Heinrich Ströbel (USPD) eintrat. Zusammen mit seinem USPD-Pendant Adolf Hofer hatte der Agrarexperte Braun die Geschäfte des Landwirtschaftsministers wahrzunehmen, bis die USPD-Mitglieder parallel zur Entwicklung im Rat der Volksbeauftragten am 4. Januar 1919 von ihren Ämtern zurücktraten. Auch in der am 25. März 1919, nun auf der Basis der Mehrheit der preußischen verfassunggebenden Landesversammlung aus den Parteien der „Weimarer Koalition“ SPD, Zentrum und DDP gebildeten zweiten Regierung Hirsch blieb
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Braun Landwirtschaftsminister. Er sah dabei sein Wirkungsfeld nicht nur im Bereich seines Ressorts, sondern wollte „auch auf allgemein-politischem Gebiet einen gewissen Einfluss geltend machen“.27 In seiner Amtsführung als Minister waren schon alle die Eigenschaften zu erkennen, die ihn später als Ministerpräsident auszeichneten. In seinem Ressort gab er der größtmöglichen Steigerung der Agrarproduktion zur Bekämpfung des Hungers und, damit verknüpft, der Reform und Ausweitung des ländlichen Siedlungswesens den Vorrang. Zum Teil bezog Braun dabei Positionen, die denen entgegengesetzt waren, die er während des Krieges vertreten hatte. Da die neue Reichsverfassung die Landwirtschaftspolitik aber zur Reichssache machte, die die Verwaltungen der Länder nur zu exekutieren hatten, blieben Brauns Bestrebungen weitgehend stecken. Nur in der Frage der Durchsetzung von Tarifverträgen für die Landarbeiter hatte Braun gewissen Erfolg, bot damit aber einen der Anlässe für den mit den Namen Kapp und Lüttwitz verbundenen Putsch des deutschnationalen agrar-konservativen Lagers gegen die Republik vom 13. März 1920. Nach Scheitern des Putsches übernahm Braun ab 27. März 1920 mit einem neuen Kabinett das Amt des preußischen Ministerpräsidenten, das er mit zwei kurzen Unterbrechungen bis zum Staatsstreich des Reichskanzlers Franz von Papen im Juli 1932 innehatte. Es sei erwähnt, dass Braun zuvor das Amt des Reichswehrministers abgelehnt hatte und bis April 1921 das Landwirtschaftsministerium zusätzlich behielt. Die Koalition, die Braun führte, bestand neben der SPD die längste Zeit aus Zentrum und DDP bzw. Deutscher Staatspartei. Mit dem Amt des Ministerpräsidenten hatte Braun, wenn man so will, seine Bestimmung gefunden. Hier kam seine „preußische Tugend“ voll zur Geltung. Sein ehemaliger Persönlicher Referent Herbert Weichmann, der spätere Erste Bürgermeister Hamburgs, sah sie „in seinem Pflichtbewusstsein, in der Bescheidenheit seiner Person, im Fleiß und in der Führungskraft eines Staatsmanns, in der Fähigkeit eines Mannes der Arbeiterklasse, aus dem Milieu der damaligen Umstände herauszuwachsen und einer gerechten sozialen Ordnung den Weg zu bereiten“.28 Mit ausgeprägtem organisatorischem Geschick war er bereit, Macht zu gebrauchen, und war fähig, sie handzuhaben und gegenüber der Bürokratie seinen Willen durchzusetzen. Er teilte nicht die in der SPDAnhängerschaft vorherrschende, ideologisch geprägte Einstellung, die den Weimarer Staat an dem Bild eines idealen sozialistischen Staates maß. Er konzedierte, dass die Umstellung von einer agitierenden in eine regierende Partei schwierig sei, da man von einer bequemen in eine sehr unbequeme und verantwortungsreiche Position komme. „Wir müssen die Machtpositionen, die wir nach unserer Stärke beanspruchen können, auch in Anspruch nehmen und im Interesse des Proletariats ausnut-
27
Vgl. Otto Braun: Von Weimar zu Hitler, 2. Aufl. New York 1940, 47. Vgl. Herbert Weichmann: Otto Braun: Erinnerungen an sein Wirken – Lehren für die Gegenwart. In: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz, Bd. XV (1980), 274. 28
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zen.“29 Wenn er es im Sinne der Stabilisierung der Demokratie für notwendig hielt, ging er, wie in den Jahren 1921 – 1925, auch eine Koalition mit den „Vernunftrepublikanern“ der DVP ein, der Partei, die als „Stinnes-Partei“ für die SPD die Schwerindustrie personifizierte. Braun kannte die äußersten Grenzen seiner Befugnisse genau und füllte sie gänzlich aus. Den Mitgliedern seines Kabinetts begegnete er mit einer Mischung aus Autorität und Entgegenkommen und berücksichtigte persönliche Empfindsamkeiten. Sachlich und nüchtern wie er war, fehlten ihm rhetorisches Geschick und Charisma. Trotzdem erinnerten ihn seine Gesprächspartner, nicht nur wegen seiner Körpergröße, allgemein als beeindruckende Persönlichkeit. Er dominierte im kleinen Kreis, trat in der Öffentlichkeit aber nur gehemmt auf. Es gehörte zu seinen Fähigkeiten, Mitarbeiter zu finden, die seine eigenen Defizite ausglichen, aber trotzdem seine Politik loyal verfochten. Die Frage des Verhältnisses zwischen dem deutschen Zentralstaat und dem Gliedstaat Preußen blieb auch nach der Revolution eine Schlüsselfrage. So engagierte Braun sich in der Debatte um die Verfassung der deutschen Republik 1919 gegen die starken – auch in der SPD vorhandenen – Einheitsstaatsbestrebungen für die Erhaltung eines Bundesstaates Preußen in der bisherigen Größe, der der Kern, die „republikanische Ordnungszelle“30 des neu geordneten Reiches sein sollte. Da dieses Bestreben mit dem Eigeninteresse der süddeutschen Staaten, vor allem Bayerns, zusammenfiel, war ihm Erfolg beschieden. Braun sah Preußens Aufgabe in der Bewahrung des Reiches in seinen bestehenden Grenzen und seiner Verfassung als demokratischer Volksstaat, so auch in den Krisen um Oberschlesien, Nordschleswig, das Rheinland und die Ruhrbesetzung. Während sich die Reichsregierung beispielsweise nicht zu einem Verbot der „Orgesch“ aufraffen konnte, verbot Braun in Preußen dieses undurchsichtige Geflecht von republikfeindlichen Einwohnerwehren, die die Abrüstungsbestimmungen des Versailler Vertrages mit Wissen der Reichswehr unterliefen. Dass Braun neben einem Sitz im Preußischen Landtag auch einen Sitz im Reichstag innehatte, erwies sich als zweischneidig. Einerseits konnte diese Konstruktion einer besseren Verschränkung von Reichs- und Landesinteressen dienen, andererseits kam es zu Auseinandersetzungen mit der sich an den Interessen des Reiches orientierenden SPD-Führung, die Braun bei Abstimmungen in der Reichstagsfraktion mehrfach zum Abweichler machten. Der Verzicht der SPD auf eine weitere Beteiligung an der Reichsregierung nach der Reichstagswahl 1920 wurde teilweise auch mit dem Verweis auf die starke Stellung der SPD in Preußen begründet, während umgekehrt natürlich die Bedeutung Preußens als Machtbasis für die SPD noch einmal stieg. Als im Februar 1925 Reichspräsident Friedrich Ebert starb, bot sich trotz der von Braun im Interesse Preußens geführten Konflikte mit der zentralen Parteiführung und 29
Vgl. die Äußerungen Brauns in: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitags der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands abgehalten in Görlitz vom 18. bis 24. September 1921, Nachdr. Glashütten im Taunus 1973, 192. 30 Schulze, Otto Braun, 254.
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der Reichsregierung für die SPD niemand außer ihm als Kandidat der SPD für die Nachfolge an. Braun stimmte dieser Kandidatur nur unter schwerem moralischem Druck des Parteivorstands zu, da es trotz seines Geschicks im Umgang mit der Macht nicht zu seiner Persönlichkeitsstruktur gehörte, sich aktiv um Führungsämter zu bemühen. Die Ämter, die er ausfüllte, waren ihm mehr oder weniger alle zugefallen, weil in der jeweiligen Situation er als die einzige passende Persönlichkeit dastand, oder er hatte dringlichen Appellen an sein Pflichtbewusstsein nachgegeben. Im ersten Wahlgang am 29. März 1925 erhielt Braun mit 29 % die zweithöchste Stimmenzahl nach dem gemeinsamen Kandidaten der Rechtsparteien. Für den zweiten Wahlgang zog Braun seine eigene Kandidatur zugunsten des – schließlich bekanntlich gegen Hindenburg unterlegenen – Zentrumspolitikers Wilhelm Marx zurück, sicherte sich dadurch aber in der parallel zur Reichspräsidentenwahl verlaufenden preußischen Regierungskrise die Unterstützung des Zentrums für eine erneute Wahlperiode als preußischer Ministerpräsident. Als Ministerpräsident waren Brauns wichtigste Verbündete die beiden sozialdemokratischen preußischen Innenminister Carl Severing und Albert Grzesinski. In Brauns Amtszeit gelangen unter anderem eine demokratische Reform des Schulwesens, teilweise eine Bodenreform und die kommunale Neugliederung des rheinischwestfälischen Industriebezirks und des Rhein-Main-Gebiets. Mit den staatseigenen Unternehmen versuchte Braun eine antizyklische Konjunktur- und Finanzpolitik zu betreiben, die der Deflationspolitik unter Reichskanzler Brüning diametral entgegenlief. Die Gutsbezirke, kleine, kommunal unabhängige Standesherrschaften unter der autokratischen Ägide der Gutsherren, wurden bis auf bestimmte Sonderfälle aufgelöst. Mit der römischen Kurie wurde 1929 ein Konkordat geschlossen. Preußen war auf dem Weg zu einem modernen Freistaat, der durch die Republikanisierung zumindest der Spitzen des Beamtenapparats und insbesondere der Polizei eine der Hauptstützen der ersten deutschen Demokratie bildete. Auf der anderen Seite zog sich Braun durch seine Politik die Feindschaft der Deutschnationalen, der Nationalsozialisten – er setzte u. a. ein im ganzen Reich geltendes zeitweises Verbot der SA durch – und auch der Kommunisten zu, denen die Personalpolitik den Angriffspunkt der Ämterpatronage lieferte. Hatte Braun sich 1919 auch für die Erhaltung Preußens eingesetzt, so blieb doch eine Reichsreform, die den sich als untragbar erweisenden Dualismus zwischen dem Reich und seinem größten Gliedstaat auflösen würde, während der gesamten Weimarer Republik auf der Tagesordnung. Braun strebte dabei an, dass die von ihm als nicht dauerhaft lebensfähig betrachteten, kleineren norddeutschen Länder Preußen beitraten. Dessen Schwerkraft sollte die süddeutschen Länder anziehen und die Reichsregierung in irgendeiner Form zur Fusion mit der preußischen Regierung zwingen, „um nicht als körperloser Wasserkopf neben dem Inhaber der eigentlichen Gewalt, dem preußischen Kabinett, zu vegetieren“31. Im Juni 1930 kam Braun mit entsprechenden Beschlüssen des Verfassungsausschusses der Länderkonferenz seinem Ziel einen 31
Ebd., 596.
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großen Schritt näher, aber das Scheitern des Kabinetts des SPD-Reichskanzlers Hermann Müller änderte alles. Zum einen blockierte der nur noch vom Vertrauen des Reichspräsidenten und nicht mehr von einer Parlamentsmehrheit gestützte neue Reichskanzler Heinrich Brüning vom rechten Flügel des Zentrums eine Reichsreform im Sinne Brauns, zum anderen verdüsterte das sprunghafte Ansteigen der Stimmen der NSDAP in der Reichstagswahl 1930 die Aussichten der Demokratie. Die SPD fand sich in der Zwangslage, im Reichstag als Gegenleistung für die Respektierung der Koalition und der Machtposition der SPD in Preußen die Regierung Brüning tolerieren zu müssen, um damit einen weiteren Machtzuwachs der NSDAP zu verhindern. Unter anderem über den Streit um die „Osthilfe“ für die ostelbischen Agrarier zerbrach das bisher in gewissem Maße bestehende Vertrauensverhältnis zwischen Braun und Hindenburg. Schwere gesundheitliche Probleme und Depressionen kamen hinzu, und etwa ab Herbst 1931 glitt Otto Braun in die Resignation. Er sah sein Lebenswerk verloren und suchte nach einer Möglichkeit, mit gutem Gewissen der Bürde des Amtes zu entkommen. Nach der nächsten Landtagswahl, die spätestens 1932 stattfinden musste, wollte er unabhängig von deren Ausgang zurücktreten. Schon im Herbst 1931 kaufte Braun bei Ascona im Tessin ein Grundstück. In Ascona war seine seit 1927 unheilbar erkrankte und zunehmend gelähmte Frau regelmäßig zur Erholung gewesen, und Braun hatte sie dabei so oft wie möglich besucht. Angesichts seiner negativen Zukunftserwartungen dürfte Braun auch schon an die Schweiz als eventuelles Exilland gedacht haben. Die Art und Weise des schrittweisen Ausscheidens des bis dahin so tatkräftig erscheinenden preußischen Regierungschefs aus dem Amt sind der wunde Punkt in Brauns politischer Biographie, der bis heute Anlass zu Diskussionen gibt. Dass Brauns Kräfte am Ende waren, zeigte sich, als er nach der Abschlusskundgebung im preußischen Landtagswahlkampf am 22. April 1932 mit einem Kreislaufkollaps zusammenbrach. Als die preußische Koalition in der Landtagswahl zwei Tage später ihre Mehrheit verlor, blieb sie geschäftsführend im Amt, da keine neue Regierungsmehrheit zustande kam. Braun hätte nun sogar eine Regierung aus Zentrum und NSDAP hingenommen, wenn der Ministerpräsident vom Zentrum gestellt würde. Am 4. Juni 1932 übergab er jedenfalls seinem Stellvertreter, dem Wohlfahrtsminister Heinrich Hirtsiefer vom Zentrum, die Amtsgeschäfte, ging in Urlaub und räumte sein Büro in der Absicht, nicht wiederzukehren. Die SPD hatte versucht, in ihrer „Politik des kleineren Übels“ durch die Unterstützung Hindenburgs in der Reichspräsidentenwahl vom 13. März/10. April 1932 gegen Hitler die innenpolitische Lage zu stabilisieren. Aber in der sich entwickelnden Bürgerkriegssituation32 nutzte der auch nur per Notverordnungen regierende Nachfolger Brünings als Reichskanzler, Franz von Papen, mit Deckung Hindenburgs die Gelegenheit, um der preußischen Regierung 32 Zur Bürgerkriegssituation in Deutschland im Sommer 1932 als Argument für den „Preußenschlag“ vgl. Dirk Blasius: Weimars Ende. Bürgerkrieg und Politik 1930 – 1933, Göttingen 2005, 68 f. und 108 – 122.
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am 20. Juli 1932 in einem Staatsstreich ihre Machtbefugnisse zu entziehen, das Land kommissarisch dem Reich zu unterstellen und die Problematik Reich/Preußen so auf seine Weise zu lösen.33 Braun schreckte wie die große Mehrheit der SPD-Führung davor zurück, die Republik um den Preis einer bewaffneten blutigen Auseinandersetzung zu verteidigen, in der Reichswehr und SA so gut wie sicher die Oberhand behalten würden.34 Außerdem sollte dem Reichspräsidenten und der Reichsregierung kein Vorwand geboten werden, etwa wegen einer weiteren Zuspitzung der inneren Situation die auf den 31. Juli 1932 angesetzte Reichstagswahl abzusagen.35 Es blieben nur juristische Schritte vor dem Staatsgerichtshof. Dessen Urteil vom 25. Oktober 1932 zufolge blieben die preußischen Minister zwar im Amt, ihre exekutiven Befugnisse übte aber der Reichskommissar aus. Damit war der preußischen Regierung die tatsächliche Macht genommen.36 Nachdem am 30. Januar 1933 die Reichsregierung Hitler/Papen gebildet wurde und die staatliche Verfolgung der Sozialdemokratie einsetzte, kam es zu der Reaktion bei Otto Braun, die aufgrund seiner oben geschilderten persönlichen Entwicklung im Nachhinein nicht erstaunen kann. Nach einer Warnung vor einer bevorstehenden Verhaftung und gequält von der Sorge um seine Frau fuhr Braun wieder nach Ascona, wobei er am 4. März 1933 die Schweizer Grenze überschritt. Ausdruck seines psychischen und physischen Zustands war sein Brief vom 9. März 1933 an seinen bisherigen Mitarbeiter Arnold Brecht.37 Demnach war ihm bewusst, dass seine Abreise missdeutet und zu politischen Zwecken missbraucht werden konnte, aber „ich habe es satt, ohne Rücksicht auf meine und die Gesundheit meiner Frau noch länger Sklave 33
Zur Absetzung der geschäftsführenden Regierung Preußens durch Reichskanzler von Papen am 20. 7. 1932 umfassend Heinrich August Winkler: Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930 – 1933, Berlin/Bonn 1987, 646 – 680. 34 Zur Frage, ob ein bewaffneter Widerstand gegen die Absetzung der preußischen Regierung aussichtsreich und zu verantworten gewesen wäre, vgl. zusammenfassend Thomas Alexander: Carl Severing. Sozialdemokrat aus Westfalen mit preußischen Tugenden, Bielefeld 1992, 201 – 205, und Thomas Albrecht: Für eine wehrhafte Demokratie. Albert Grzesinski und die preußische Politik in der Weimarer Republik, Bonn 1998, 319 – 323. Vgl. jetzt auch den bisher unbekannten Bericht über die Sitzung des SPD-Parteiausschusses vom 20. 9. 1932. In: Christoph Stamm: Zur politischen Lage 1932. Unbekannte Aufzeichnungen über zwei Sitzungen des Parteiausschusses der SPD. In: Archiv für Sozialgeschichte 53 (2013), 425 – 450, insbes. 443 – 446. 35 Zu diesem Argument vgl. Wolfgang Benz/Imanuel Geiss: Staatsstreich gegen Preußen, 20. Juli 1932, hrsg. vom Minister für Wissenschaft und Forschung des Landes NordrheinWestfalen – Landeszentrale für politische Bildung, Düsseldorf o. J. [1982], 28 – 30. 36 Zur juristischen Seite der Absetzung der preußischen Regierung vgl. Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI: Die Weimarer Reichsverfassung, Stuttgart u. a. 1981, 743, und Bd. VII: Ausbau, Schutz und Untergang der Weimarer Republik, Stuttgart u. a. 1984, 1120 – 1130. 37 Vgl. Arnold Brecht: Mit der Kraft des Geistes. Lebenserinnerungen Zweite Hälfte 1927 – 1967, Stuttgart 1967, 448 f.
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einer verlogenen Demagogie meiner hassverblendeten politischen Gegner zu sein.“ Der Masse der SPD-Anhänger galt die Abreise einen Tag vor der letzten Reichstagswahl vom 5. März 1933 wie Desertion, und neben dem Verhalten nach dem 20. Juli 1932 war dies der zweite Punkt, der sein Andenken verdunkelte. Dem Parteivorstand, auch dem späteren im Exil, erschien Brauns Flucht als Schlusspunkt seiner parteiinternen Eigenmächtigkeiten. Das Ehepaar lebte nun zwar in persönlicher Sicherheit, aber in großer materieller Not. Emilie Braun starb am 7. Februar 1934, und ihr Witwer vereinsamte noch mehr. Er gehörte nicht zu einer der Gruppen von Emigranten, die später innerhalb der Nachkriegs-SPD einflussreich waren. Braun empfand selbst ein starkes Rechtfertigungsbedürfnis und veröffentlichte Ende 1939 seine Memoiren. Dies tat er aber auch, um anzugehen gegen die „Gepflogenheit […], alles, was jetzt mitunter zum Entsetzen der zivilisierten Welt im öffentlichen Lebens Deutschlands geschieht, […] als spezifisch ,preußisch‘ zu bezeichnen.“38 Brauns historisches Verdienst einer „Neubegründung des preußischen Staatsgedankens unter umgekehrten Vorzeichen“ wurde von Hagen Schulze so zusammengefasst:39 „In einer nahezu revolutionären Umkehrung hatten die in der BismarckÄra geächteten Gruppen, die Sozialdemokratie, der politische Katholizismus und der Linksliberalismus ein […] Bündnis zur Übernahme der Macht in Preußen gebildet, und unter der straffen Führung durch Braun hatte diese Bündnis es vermocht, in die Rolle der ehemaligen Bedrücker […] zu schlüpfen.“ Dass dieses Werk nicht dauerhaft sein konnte, lag nach Brauns Worten an „Versailles und Moskau“40, also den Konsequenzen des Friedensvertrages und der selbstzerstörerischen, von Moskau aus gesteuerten, unversöhnlichen Feindschaft der KPD gegen die Weimarer Republik. Mit dem Krieg, der deutschen Niederlage, der endgültigen formellen Zerschlagung Preußens durch die Besatzungsmächte und der Gründung zweier neuer deutscher Staaten ging die Zeit über Otto Braun hinweg. Braun fühlte sich sogar selbst als „überständig“.41 Bezeichnend ist diese von Hagen Schulze berichtete Episode: Als sein alter Parteifreund Paul Löbe Braun 1950 bei einem Besuch im Bonner Bundestag dort herumführte, trafen sie zufällig auf den Bundestagspräsidenten Hermann Ehlers. Als Löbe diesem den „Ministerpräsidenten Braun“ vorstellte, fragte Ehlers irritiert, in welchem Land Braun denn Ministerpräsident sei.42 Für die SPD der 1950-er Jahre war Braun zu eng mit der Niederlage der ersten deutschen Demokratie verbunden, obwohl er zu deren tatkräftigsten Verteidigern gehört hatte. Braun kehrte nicht dauerhaft nach Deutschland zurück, sondern starb am 15. Dezember 1955 in Ascona. 38
Braun, Von Weimar zu Hitler, 5. Vgl. Schulze, 562 f. 40 Braun, Von Weimar zu Hitler, 5. 41 Vgl. Braun an Ollenhauer, 13. 2. 1953 (wie Anm.25). 42 Schulze, 32. 39
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Im Unterschied zu Karl Renner stand Otto Braun nicht an der Spitze eines souveränen Staates. Brauns Tätigkeitsfeld war beschränkt durch die Verfassung des Deutschen Reiches, in dem Preußen nur ein Gliedstaat war. Alle Tatkraft konnte diesen Rahmen nicht überschreiten und den Machtkonstellationen auf der Reichsebene nicht entkommen. Auch war es Braun von seiner Persönlichkeit her nicht wie Renner gegeben, widerstreitende politische und persönliche Bestrebungen zusammen zu führen und allen das Gefühl zu geben, unter widrigen und bedrohlichen Umständen auf das Bestmögliche für die Gemeinschaft zu zielen und es auch zu erreichen. Neben Friedrich Ebert und Hermann Müller gehört Otto Braun zu den großen tragischen Figuren der SPD in der Weimarer Republik und bleibt historisch unauflöslich mit dem Untergang Preußens verknüpft. Karl Renner hingegen bleibt nach seinem Tod umgeben vom Mythos des zweifachen Staatsgründers, des ersten Bundespräsidenten der Zweiten Republik, des Mannes, der Österreich in der Welt repräsentierte, und einer Integrationsfigur, die das Überleben Österreichs personifiziert.
Preußische Seehandlung und Österreichischer Lloyd. Zwei Varianten von „Staatsnähe“ (1772 – 1947) Von Kurt Düwell, Düsseldorf Vorbemerkung Öffentliche Betriebe oder Staatsunternehmen (state-owned enterprises) sind in mehrheitlichem oder vollständigem Eigentum einer Regierung, eines Staates oder einer öffentlichen Körperschaft geführte Erwerbsbetriebe. Sie dürfen nach moderner Auffassung nicht ausschließlich auf die Erzielung von wirtschaftlichem Gewinn gerichtet sein, doch hat sich diese rechtliche Einschränkung erst allmählich in einem historischen Prozess entwickelt, der in der Frühen Neuzeit noch nicht abgeschlossen war. Am Beispiel der Preußischen Seehandlung und des Österreichischen Lloyd soll diese Differenzierung im Folgenden dargestellt und erörtert werden. Die jeweils durch unterschiedliche „Staatsnähe“ und zeitweise auch durch ganz unterschiedliche technologische Entwicklungsstände zwischen 1815 und 1845 gekennzeichneten Großunternehmen Preußische Seehandlung und Österreichischer Lloyd sowie ihre Wandlungsverläufe lassen einen historischen Vergleich, abgesehen von einigen notwendigen Einschränkungen, als differenzierende Gegenüberstellung interessant erscheinen, z. T. gerade auch durch Vergleich als Kontrast. Zugleich sagt die Geschichte dieser beiden großen Unternehmen in den beiden unterschiedlichen „Landmächten“ Preußen und Österreich auch etwas über ihre verschiedenen Möglichkeiten und Grenzen, sich als Staat zu einer See- bzw. zu einer See-Handelsmacht zu entwickeln. Die Gründung beider Unternehmen fiel in die spätabsolutistische und z. T. noch nachwirkende merkantilistische Zeit der Importsubstitutionen. Ihre Entwicklung setzte sich auch unter dem technologischen Wandel des frühindustriellen Schiffsund Eisenbahnbaues nach 1845 und unter den neuen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Konstitutionalismus nach 1848 in unterschiedlicher Weise fort. Hier und ebenso in den gegensätzlichen Zollpolitiken Berlins und Wiens nach 1834 liegen Vergleichs- und Differenzierungsmöglichkeiten, die im Folgenden näher beschrieben und erörtert werden sollen. Dabei zeigen sich auch Grenzen des Vergleichs. I. Die Preußische Seehandlung Die im Oktober 1772 von Friedrich dem Großen gegründete „See-Handlungs-Gesellschaft“ (Société de commerce maritime) war, wie schon Paul Schrader vor hun-
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dert Jahren gezeigt hat, ein Versuch des Königs, nach der Ersten Teilung Polens vom Februar 1772 den preußischen Ostseehäfen und Überseehändlern, vor allem aber dem Staat selbst und seiner Handelsflotte, durch das Salzeinfuhrmonopol und durch privilegierten Einkauf von Wachs, Schiffbauholz, Getreide usw. aus Polen „einen tüchtigen Gewinn“ zu verschaffen.1 Von einer „Non-profit“-Organisation, wie sie Thomas Nipperdey einmal genannt hat,2 kann man dabei eigentlich nicht sprechen. Das Staatsunternehmen sollte Gewinn machen. Die Seehandlung stellte eine der ersten preußischen Aktiengesellschaften dar, wobei aber von ihrem Aktienkapital von anfänglich 1,2 Millionen Talern zwar 150.000 Taler oder 12,5 v.H. in privaten Händen lagen, diese Mitbesitzer jedoch auf die Führung der Geschäfte keinen Einfluss hatten. Dafür wurde ihnen eine 10prozentige Vorzugsverzinsung ihres Kapitals, ab 1794 allerdings nur noch 5 Prozent, garantiert. Eine flankierende Versicherung der Seehandlungsgeschäfte, wie etwa durch Lloyd’s in London, dort schon seit dem Ende des 17. Jahrhunderts eingeführt, ähnlich auch im österreichischen Triest schon seit 1766 bestehend, gab es in Preußen jedoch noch nicht. Während 1774 Lloyd’s of London mit den „merchants of shipping“ expandierte und zur Royal Exchange zugelassen wurde,3 zeigten sich in Preußen noch keine derartigen Ansätze. Der merkantilistische Staat blieb hier praktisch selbst der Unternehmer und Risikoträger zugleich und leitete über das Organ der „Generaldirektion der SeehandlungsSozietät“, die dem König direkt unterstellt war, die Geschäfte. Diese begannen allerdings zunächst recht ernüchternd mit einem unbeabsichtigten „non-profit“. War die Seehandlung nämlich unter dem Gründungspräsidenten Peter Nicolaus Constantin de Lattre und unter seinem Nachfolger, dem Staatsminister Julius August Friedrich von der Horst (1723 – 1791), schon in den Jahren 1772 bis 1775 nur wenig erfolgreich angelaufen,4 so geriet sie nach 1775 unter dem Geh. Etats-Minister des „Akzise-, Commerz- und Fabrikendepartements“ und Direktor der Seehandlung (noch nicht 1 „… wo sich vernünftige und sichere Aussichten zu einem tüchtigen Gewinn von Aus- und Einfuhr für Unsere Staaten vorfinden möchten“. Zit. nach Paul Schrader: Die Geschichte der Königlichen Seehandlung (Preußische Staatsbank) mit besonderer Berücksichtigung der neuen Zeit, auf Grund amtlicher Quellen bearbeitet. (Diss. Univ. Münster) Berlin 1911 und Werner Vogel: 200 Jahre Preußische Staatsbank (Seehandlung). In: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 10 (1972), 175 – 188; ferner Rita Klauschenz: Die Seehandlung, Preußische Staatsbank: Handel, Verkehr, Industrie. – Ausstellung im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin (GStA PK) 1993. Vgl. auch Dokumente bei C.O. Mylius (Continuatio), Novum Corpus Constitutionum Marchicarum (Ed. der Akad. d. Wissenschaften), Berlin 1772, 5. Teil, 1. Band, 513 ff. und Akten im GStA PK: I. HA Rep. 109 Seehandlung (Preußische Staatsbank) sowie Acta Borussica: Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens, Bd. 16, 2. Teil, bearb. von Peter Baumgart und Gerd Heinrich, Hamburg/ Berlin 1982 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Quellenwerke, Bd. 5), 1055. 2 Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte, 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1998, 183. 3 William Schaw Lindsay: History of Merchant Shipping and Ancient Commerce, 1816 – 1877 Bd. 4, London 1874, 202 ff., 247 ff. 4 Dagmar Claus: Aus der Geschichte der Seehandlung. In: Berlin von A-Z. Lexikon zur Stadt-Entwicklung. Berlin, Edition Luise, Heft 10, 1997, 12 f.
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Präsidenten, wie in der Literatur oft erwähnt wird) Friedrich Christoph von Goerne (1734 – 1817) in noch schlimmere Turbulenzen.5 Von Goerne wurde 1782 wegen Unterschleifs zu einer langjährigen Festungshaft verurteilt, weil es zu gravierenden Bilanzmanipulationen und beschönigenden Fälschungen des Geschäftsverlaufs gekommen war.6 Der Vorwurf lautete u. a., er habe mit dem Geld der Seehandlung ohne königliche Erlaubnis eine Reihe verschuldeter polnischer Landgüter gekauft und größere Kredite an polnische Gutsbesitzer und Magnaten erteilt, angeblich um selbst eine Art polnischer Kronprätendent zu werden.7 Erst 1793 wurde er begnadigt und aus der Haft entlassen. In dieser Phase waren seit 1782 zunächst FriedrichWilhelm Freiherr von der Schulenburg-Kehnert (1742 – 1815)8 und dann Karl August Struensee (1735 – 1804, 1789 nobilitiert durch Friedrich Wilhelm II.) noch von Friedrich dem Großen selbst mit der Leitung der Seehandlung betraut. Von Struensee wurde von Friedrich Wilhelm II. zusätzlich 1791 das Amt des Staatsministers und Chefs des Akzise- und Zolldepartements übertragen, das er bis zu seinem Tod 1804 innehatte. Während Struensee in der Führung der Seehandlung selbst trotz Aufgabe des Wachsprivilegs (1791) erfolgreich war, gelang ihm dagegen die spätere Leitung der preußischen Zollpolitik und -verwaltung weniger.9 Immerhin weckte die Seehandlung, wie noch darzulegen ist, in dieser Zeit auch schon in Österreich Interesse. Neben älteren merkantilistischen Einrichtungen wie z. B. dem Königlichen Lagerhaus wuchs die Seehandlung, bedingt durch das ruinöse Goernesche Intermezzo, erst allmählich zu einer wichtigen und profitableren wirtschaftlichen Staatsinstitution heran. Ihr Patent wurde 1794 bis 1808 verlängert. In dieser Zeit übernahm von 1804 bis 1807 u. a. auch der Reichsfreiherr vom und zum Stein die Geschäftsführung, nach ihm dann schon seit Sommer 1806, also z. T. wohl zeitgleich, auch der preußische Reformer Friedrich August von Staegemann (1763 – 1840).10 Es war wohl auch Staegemann, der in seinem reformerischen Engagement und aus der Einsicht heraus, 5 Hierzu die Briefe Johann Georg Hamanns, Bd. 4 (1778 – 1782), hg. von Arthur Henkel, Wiesbaden 1959, 157, 159, wo es in einem Brief an Herder vom 23. Januar 1780 heißt, von Goerne sei wegen „des schwindsüchtigen und in den letzten Zügen liegenden Handels“ (sc. der Seehandlung) zu einem Besuch nach Königsberg gekommen. 6 Günter Birtsch: Der preußische Staat unter dem Reformabsolutismus Friedrichs II. In: Friedrich der Große. Herrscher zwischen Tradition und Fortschritt. Gütersloh 1985, 131 – 138, hier 135 f. 7 Vgl. auch Thomas Loy: Preußische Seehandlung: ,Wir fördern Bescheidenheit‘. In: Der Tagesspiegel Nr. 12 vom 5. 2. 2001. 8 Paul Bailleu: Friedrich Wilhelm von der Schulenburg-Kehnert. In: ADB 34 (1892), 742 f. Vgl. Hans-Joachim Schoeps: Preußen. Geschichte eines Staates. Neuauflage Frankfurt am Main 1997, 99. 9 Vgl. Rolf Straubel: Biographisches Handbuch der preußischen Verwaltungs- und Justizbeamten 1740 – 1806/15, Berlin 2009 und Hermann von Petersdorff: Karl August von Struensee. In: ADB 36 (1893) 661 – 665, hier 664 f. 10 Hermann von Petersdorff: Friedrich August Staegemann, in: ADB 33 (1893), 383 – 389, hier 385. Vgl. demnächst NDB 25 (in Vorbereitung).
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dass der preußische Staat, nicht zuletzt wegen der schwer lastenden Kriegskontributionen an Frankreich und für seine erste, noch zaghaft geplante Neugestaltung enormer finanzieller Mittel bedürfe, nun für eine erste Neuorientierung der bis dahin überwiegend „händlerischen“ Seehandlung hin zu einem allmählich erfolgreicher werdenden Bankgeschäft sorgte. Die Seehandlung gehörte innerhalb des 1808 unter dem Reichsfreiherrn vom Stein geschaffenen Finanzministeriums zur ersten Sektion des Ministeriums, in der die Generalkassen-, Bank- und Seehandelsangelegenheiten sowie das Lotteriewesen verwaltet wurden.11 Zwar durfte sie auch zuvor schon von den Häfen Königsberg und Memel aus und nach dem Erwerb Elbings (1772) sowie nach der Zweiten Teilung Polens auch von den See- bzw. Binnenhäfen Danzig und Warschau aus nicht nur Kontore in den preußischen See- und Handelsstädten sowie im Ausland unterhalten, Schiffe bauen, Reedereien betreiben und alle kaufmännischen Geschäfte ausüben und ebenso Großhandels- und vor allem auch Wechselkreditgeschäfte tätigen. Aber erst jetzt wurde der Bereich Finanz- und Kreditwesen allmählich zu einem neuen, zunächst noch sehr vorsichtig betriebenen Geschäftsfeld. Staegemann weitete diese Kreditabteilung erstmals aus. Damit wurde die Seehandlung nicht nur das größte preußische Handelsinstitut überhaupt, sondern – über den Wechsel- und andere Formen des Kredits und z. T. nun auch erstmals der Seeversicherung – mehr und mehr zu einem zweiten großen staatlichen Bankhaus, das neben der schon 1765 gegründeten „Königlichen (Haupt-)Bank“ dem Staat Kreditlinien einräumen und später mehr und mehr auch Anleihen im Ausland vermitteln konnte. Was die Seeversicherung betraf, so nahm die Seehandlung allerdings erst spät die nach Londoner Vorbildern (Lloyd’s) geschaffenen neuen Assekuranz-Korporationen in Hamburg und Triest wahr und orientierte sich in diese neue Richtung um. Im österreichischen Triest hatten dagegen schon ältere von Italien hereinwirkende Traditionen und die Anregungen aus London 1766 zur Gründung einer ersten modernen Seeversicherung, der Compagnia di Assicurazione, geführt.12 Und auch in Hamburg war nach dem Londoner Beispiel schon 1731 ein erstes deutsches Versicherungsgesetz, die Hamburger Assekuranz- und Haverey-Ordnung, geschaffen worden. Über dieses Hamburger Rahmengesetz war es dann 1766 auch zu einem ähnlichen preußischen Versicherungsgesetz, der Assekuranz- und Havarieordnung für sämtliche königlichen preußischen Staaten, gekommen, aufgrund deren eine schon 1765 von Gian Antonio di Calzabigi angeregte Assekuranz-Compagnie in Ber-
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Ilja Mieck: Epochen der preußischen Geschichte 1807 – 1871. In: Otto Büsch (Hg.): Handbuch der Preußischen Geschichte, Bd. II, Berlin/New York 1992, 132 f. 12 Ugo Cova: Die entscheidende Rolle der Assekuranzgesellschaften und der Kaufmannschaft in Triest bei der Gründung des Österreichischen Lloyds (Lloyd Austriaco). In: Österreichische Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, Bd. 123 (1986), 162 – 174, hier 164 und Anm. 6.
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lin gegründet worden war.13 Sie erwies sich aber, nachdem Calzabigi 1772 gestorben war, nicht als sonderlich erfolgreich, so dass Friedrich Adolph Daum in Berlin 1792 die Neue Assekuranz-Compagnie gründete.14 Die maritimen Versicherungsinteressen der staatlichen Seehandlung fanden jedoch erst im Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten 1794 eine detailliertere Berücksichtigung. Dieses Recht gab die Richtung vor, in der die weitere Entwicklung des Seeversicherungswesens in Preußen erfolgte, bei der die Seehandlung ihre Transport-Risiken schließlich besser kalkulieren und ihre wirtschaftlichen Interessen, solange sie noch ein primär maritimes Handelsunternehmen war, erfolgreicher wahrnehmen konnte. Hier gibt es allerdings noch einige Unsicherheiten der Forschung. Die große Staatskrise nach Jena und Auerstädt 1806 und die Verwicklung der Seehandlung in die neuen staatlichen Finanzprobleme lenkten die Geschäftstätigkeiten vorübergehend vom Überseehandel, der durch die Kontinentalsperre Napoleons lahmgelegt war, fort und stattdessen zu ersten größeren Banktransaktionen, vor allem im staatlichen Anleihegeschäft. Nur so konnte die Seehandlung 1806 dem preußischen Staat 17,8 Mio. Taler Vorschuss gewähren, die in der Krise von 1808 zum großen Teil verlorengingen bzw. 1810 z. T. in Staatsschuldscheine umgewandelt wurden.15 Die Seehandlung war nur in der Lage, damit verbundene Verluste auszugleichen, indem sie auf Geld- und Wechselgeschäfte für den Staat eine Provision von 1 Prozent erheben durfte. Das ermöglichte ihr nach drei Jahrzehnten sogar, an die 3 Staatskasse jährlich 1 bis 1,3 Mio. Taler abzuführen, was sie erstmals dazu brachte, sich noch stärker im Anleihe- und Kreditgeschäft zu betätigen. Doch nach 1815 kam die Seehandlung noch einmal mit eigenen Schiffen wieder, so wie sich auch in Triest schon lange vor der Gründung des Österreichischen Lloyd von 1833 der Seehandel wieder stark belebt hatte, weil die napoleonischen Restriktionen in den „Illyrischen Küstenprovinzen“ weggefallen waren. Die Niederlage Napoleons und die Unabhängigkeitserklärungen der südamerikanischen Länder gegenüber Spanien machten noch einmal einen Neuaufbau der segelnden Seehandlungsflotte möglich und aussichtsreich. In anfänglicher Zusammenarbeit mit dem Bremer Handelshaus Delius steuerte die Seehandlung nun nicht nur zahlreiche südamerikanische Häfen an, sondern nahm auch ferne Überseeverbindungen nach Singapur, Indien und China auf.16 Dies war die kurze Zeit, in der die Seehandlung ihre maritimen Erkundungen zum Absatz schlesischen Leinens und anderer preußischer Erzeugnisse sogar bis in die Südsee ausdehnte,17 sich dann aber nach 1828 wegen des Ein13 Hugo Rachel/Paul Wallich: Berliner Großkaufleute und Kapitalisten. Zweiter Band: Die Zeit des Merkantilismus 1648 – 1806. (1. Aufl. Berlin 1934) Neu hg. von Johannes Schultze, Henry C. Wallich, Gerd Heinrich. Berlin 1967, 490. 14 Rachel/Wallich: Berliner Großkaufleute 2 (wie Anm. 13), 224. 15 Mieck, Epochen (wie Anm. 11), 133. 16 Vogel, Zweihundert Jahre (wie Anm. 1), 184. 17 Vgl. die Unternehmungen Wilhelm Oswalds 1822 im Auftrag der Seehandlung, die u. a. auch nach Hawaii führten, bei Wilfried Westphal: Geschichte der deutschen Kolonien, Bind-
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spruchs preußischer und hanseatischer Kaufleute und erster Verluste im Leinenhandel aus dem direkten Überseegeschäft mehr und mehr zurückzog. Schon durch die Kabinettsorder vom 17. Januar 1820 (Gesetz-Sammlung S. 25) war die Seehandlung zu einem selbstständigen Geld- und Handelsinstitut, unabhängig vom Schatzministerium, erklärt worden. Das Kreditgeschäft bedurfte aber zunächst noch eines weiteren Ausbaues. Unter dem seit 1820 bis 1848 als Handlungschef wirkenden Christian von Rother (1778 – 1849), zuletzt auch Minister, entwickelte sich die Seehandlung dann zwei Jahrzehnte hindurch auch zum Industrie- und Gewerbe-Kreditgeber für private Unternehmer und ging sogar durch Gründungen und Übernahmen ein Engagement des Staates selbst als industrieller Entrepreneur ein. Die Möglichkeiten hierzu hatte Rother bald nach seiner Ernennung durch König Friedrich Wilhelm III. 1820 geschaffen,18 als er die finanziell schlechte Lage des preußischen Staates durch eine Reihe von Staatsanleihen – vor allem durch eine Anleihe in England (30 Mio. Reichstaler) – zur Freude Friedrich Wilhelms III. nachhaltig gebessert hatte. In den späten 1820er Jahren ging die Seehandlung dann auch endlich nach mehr als 50 Jahren ihres Bestehens dazu über, für die in ihrem Transportgewerbe auftretenden Unsicherheiten und Risiken einen eigenen systematischen Versicherungsschutz zu entwickeln.19 Im Unterschied zu dem in den 1830er-Jahren gegründeten Österreichischen Lloyd in Triest, der zu einem erheblichen Teil gerade von bürgerlichen Bank- und Versicherungskaufleuten getragen wurde und damit von Anfang an das Risikogeschäft als Wirtschaftszweig mit einbezogen hatte, hat die Seehandlung diese ergänzende Sparte des Reedereigeschäfts erst relativ spät eingeführt. Das hing vielleicht auch damit zusammen, dass sie sich in dieser Phase des entstehenden Deutschen Zollvereins nach der preußischen Politik Motz’ und Maaßens richten musste, zu der sie vorerst kaum Alternativen beitragen konnte.20 Sie hatte aber auch noch ein anderes Problem: Die Handelsflotte der Preußischen Seehandlung war um 1830 noch nicht auf den neuen technischen Stand der jetzt entstehenden Dampfschifffahrt umgestellt, obwohl es ein Lieblingsgedanke Christian von Rothers war, eine dampfgetriebene Binnenschifffahrt auf der Elbe und eine neue preußische Staatsreederei für die Hochseeschifffahrt aufzubauen. Hier ergab lach 1991, 91 f. In den Akten der Seehandlung im GStA PK sind zwischen 1824 und 1849 auch Expeditionen nach Nord- und Südamerika sowie nach Kanton vermerkt. 18 GStA PK, 1. HA, Rep. 90 A Staatsministerium (Jüngere Reg.) Nr. 967. 19 Vogel, Zweihundert Jahre (wie Anm. 1), 184. Eine von Friedrich dem Großen schon Anfang 1765 geplante Assekuranz-Kammer scheint in der Folge – anders als die fast gleichzeitigen versicherungswirtschaftlichen Ansätze in Triest – keine Bedeutung erlangt zu haben. Vgl. Jahrbuch für die amtliche Statistik des preußischen Staates, 2. Jahrgang, Berlin 1867, 17. Ferner ebd., 18 – 28 auch ein gut zusammengefasster Abriss der preußischen Seehandelsgeschichte bis 1866. 20 Thomas Stamm-Kuhlmann: Preußen und die Gründung des Deutschen Zollvereins. Handlungsmotive und Alternativen. In: Hans-Werner Hahn/Marko Kreutzmann (Hg.): Der Deutsche Zollverein. Ökonomie und Nation im 19. Jahrhundert. Köln/Wien 2012, 33 – 50. Zu den späteren, auch alternativen Überlegungen Bismarcks nach Gründung des Norddeutschen Bundes vgl. unten Anm. 89.
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sich jedoch ein technisches Entwicklungshindernis und zugleich ein Investitionsproblem, beides Schwierigkeiten, die der erst in den 1830er-Jahren antretende Österreichische Lloyd unter vergleichsweise günstigeren und freieren Ausgangs- und Rahmenbedingungen (und vor allem unter den inzwischen fortgeschritteneren technischen Voraussetzungen der aufkommenden, mit Propellerschrauben betriebenen Dampfschifffahrt) leichter als zuvor die Seehandlung lösen konnte. Diese musste auch schon die Pläne zu einer erweiterten Oderschifffahrt zurückstellen.21 War unter Christian von Rother zunächst noch das Bemühen der Seehandlung zu erkennen, den preußischen Manufakturen und Fabriken mit der Handelsflotte neue Absatzmärkte in Übersee zu verschaffen, so legte es Rother bald auch darauf an, vor allem solche Fabriken durch den Staat selbst zu gründen oder solche private mit öffentlichen Mitteln zu sanieren, die sich bei ihren Produkten einer Nachfrage aus dem Ausland sicher sein konnten. In der ersten Zeit hatte er damit im Falle der großen Flachsspinnerei in Erdmannsdorf (Schlesien), mit der Gründung einer großen staatlichen Maschinenfabrik in Breslau und anderen Engagements auch Erfolg. Doch wurde diese Entwicklungs- und Industrialisierungspolitik der Seehandlung als staatliche Eigeninvestition besonders bei dem jetzt entstehenden industriellen Bürgertum kritischer gesehen.22 Immerhin hat die Industrialisierungspolitik aber unter Rothers Leitung in der Krise um 1820 und nochmals in den 1840er-Jahren dazu beigetragen, dass ein Staatsbankrott, anders als zuvor 1811 in Österreich, vermieden werden konnte. Als These ließe sich formulieren, dass der Weberaufstand von 1844 vermutlich ohne die Sozial- und Entwicklungspolitik Rothers in Schlesien sogar ein noch größeres Ausmaß erreicht hätte. Diese Politik war zeitweise eine durchaus erfolgreiche innere Entwicklungshilfepolitik von sozialpolitisch kalmierender Wirkung, ohne allerdings schließlich den Aufruhr in Schlesien verhindern zu können. Das sozialpolitische Engagement Rothers kam u. a. auch zum Ausdruck in der von ihm über die Seehandlung (mit Mitteln des Leihamts, gegr. 1834) gleichzeitig ermöglichten Gründung des „Vereins zur Erziehung sittlich verwahrloster Kinder“ („Schulstiftung“, 1834) und in der von ihm ebenfalls über das Königliche Leihamt und dessen Überschüsse 1840 verwirklichten „Stiftung zur Unterstützung armer unverheirateter Töchter von Beamten und Offizieren“ („Rotherstiftung“).23 Mit dem wirtschaftlichen
21 Ilja Mieck: Epochen (wie Anm. 11), 151 f. Vgl. Theodor Schieder: Friedrich der Große. Ein Königtum der Widersprüche. Frankfurt am Main/Berlin 1983, 330 f. 22 Vgl. Karl Wippermann: Christian von Rother. In: ADB 29 (1889), 360 f. und Bärbel Holtz: Christian von Rother. In: NDB 20 (2005), 121 f. sowie Frank-Lothar Kroll: Christian von Rother (1778 – 1849). In: Kurt G.A. Jeserich/Helmut Neuhaus (Hgg.): Persönlichkeiten der Verwaltung. Biographien zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1848 – 1945. Stuttgart 1991, 136 – 139. 23 Wolfgang Radtke: Armut in Berlin. Die sozialpolitischen Ansätze Christian von Rothers und der Königlichen Seehandlung im vormärzlichen Preußen. Berlin 1993, 133 ff. und 226. Vgl. Hansjoachim Henning: Preußische Sozialpolitik im Vormärz? Ein Beitrag zu den arbeiterfreundlichen Bestrebungen in Unternehmen der Preußischen Seehandlung unter Christian von Rother. In: VSWG 52 (1965), 485 – 539.
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Zweck der Seehandlung hatten sie aber im strengen Sinne nur mittelbar zu tun, stellten jedoch in gewissem Sinn ein Korrektiv dar. Wie kam es zum Rückzug der Seehandlung aus dem Überseegeschäft? Noch Ende der 1820er-Jahre besaß die Seehandlung auch im Mittelmeerraum quasi-konsularische Vertretungen (Kontore), auch einen Konsul in Triest,24 ohne dass dies jedoch schon als Möglichkeit einer kommenden Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Lloyd nach 1833 gewertet werden darf. Die meisten auswärtigen Kontore und Konsuln der Seehandlung befanden sich in den 1830er und bis Anfang der 1840er Jahre außer in den Orten der spanischen, portugiesischen und französischen Meersalzgewinnung noch im Ostseeraum (u. a. Riga, Kolberg, Visby, St. Petersburg), in der Karibik (Haiti, Havanna), in Nord- und besonders in Südamerika (Mexico-Stadt, Buenos Aires, Rio de Janeiro, Valparaiso, Lima) und in China (Kanton). Wie die Seehandlung schon in den 1820er/30er Jahren unter den Kapitänen Harmssen und Wendt mit der „Princess Louise“ Erdumsegelungen durchgeführt hatte, gab es solche Unternehmungen auch noch in den 1840er-Jahren mit der Korvette „Meteor“. Aber diese Fahrten dienten mehr der Ausbildung tüchtiger Seeleute als dass sie direkt den Handelsinteressen der Seehandlung zugutegekommen wären.25 Man könnte daher sagen, dass sich die Seehandlung unter der Leitung von Rothers, schon seit Ende der 1830er-Jahre beginnend, von ihrer maritimen Vergangenheit allmählich löste und stattdessen erstmals mit einem Industrialisierungs-, Straßenbau- und Infrastrukturprogramm gleichsam zu einem „Landgang“ und zum inneren Ausbau Preußens (insbes. Schlesiens) und zum Finanzgeschäft zu wandeln begonnen hatte. Diese Entwicklung spiegelt sich auch darin, dass zwischen 1824 und 1849 der Kauf fertiger Wasserfahrzeuge immer weiter zurückging. Auch der Eisenbahnbau blieb dabei, was auffällt, für die noch teilweise bestehenden maritimen Interessen der Seehandlung weitgehend als Hafenzulieferweg außer Betracht, jedenfalls sofern er eine Abstimmung zwischen Bahn- und Hafenbauplanung betroffen hätte. Das wurde nach 1836 noch dadurch verstärkt, dass von Rother gleichzeitig neben der Seehandlung auch die Leitung der Königlichen Hauptbank übernahm und damit schon vor seiner Ernennung zum Geheimen Staatsminister (1836) große Finanztransaktionen zur Landesentwicklung (bes. Straßenbau) und zur Konsolidierung der Staatsschuld eingeleitet hatte. Wolfgang Radtke hat aber, wie vor ihm auch schon Reinhart Koselleck und nach ihm nochmals Bärbel Holtz, darauf hingewiesen, dass Rother vor allem Industrialisierungsförderung als „staatliche Industrialisierungspolitik von der Basis her“, d. h. als zukunftsweisende Sozialpolitik, verstanden
24 Wolfgang Radtke: Die preußische Seehandlung zwischen Staat und Wirtschaft in der Frühphase der Industrialisierung. Berlin 1981, 255. 25 Als auf eine populäre zeitgeschichtliche Darstellung sei auch hingewiesen auf Franz Julius Ferdinand Meyen: Reise um die Erde. Ausgeführt auf dem Kgl. Preußischen Seehandlungs-Schiffe „Princess Louise“ in den Jahren 1830, 1831 und 1832. Berlin 1834/35.
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habe.26 Besonders in Schlesien, wo der Schwerpunkt seiner Arbeit lag, blieben dadurch viele Maschinenfabrik- und Textilmanufakturarbeiter in Lohn und Brot. Das galt auch für die Schaffung von Arbeitsplätzen im Straßenbau, um den sich Rother mit deutlich größerem Interesse kümmerte als z. B. um den Eisenbahnbau. Der sozialpolitische Aspekt, der für die Seehandlung auch über die Zeit der Präsidentschaft Rothers hinaus charakteristisch geblieben ist, unterschied diese preußische Unternehmung vom Österreichischen Lloyd, der eine Fürsorge für die Schwächsten seiner Mitarbeiter und deren Hinterbliebene in dieser Form erst später kannte und Härten allenfalls eher durch eine aus seinem Umfeld ermöglichte private Versicherung gegen Arbeitsunfähigkeit zu mildern suchte. Eine Ausnahme – allerdings erheblich später – bildete in Triest jedoch ein interessantes Projekt des frühen „sozialen Wohnungsbaues“, das überhaupt nicht vom Lloyd, wenn auch mit dessen moralischer Unterstützung, sondern 1902 von der städtischen Organisation ICAM für Kleinstwohnungen begründet wurde.27 Das Vorhaben kam aber wohl auch Arbeitern des Lloyd zu gute. Architekt dieser sechs großen modernen Häuserblocks an der Via Biasoletto mit jeweils vier Stockwerken (auf jedem Stock vier Zwei-Zimmer-Wohnungen schon mit eigenem WC und Bad!) war Ludovico Braidotti (1865 – 1919), ein Baumeister der österreichischen Schule, der aus Görz stammte.28 Verglichen damit war das soziale Programm der Seehandlung, das sie selbst finanzierte, besonders in der Zeit Rothers, ungleich größer. Das Warengeschäft der Seehandlung trat dagegen mit der Hinwendung zum Bankgeschäft mehr und mehr zurück. Die Maschinenfabrik der Seehandlung in Moabit wurde 1837 an den Unternehmer August Borsig übertragen.29 Und unter Rothers Nachfolger August Friedrich Bloch (1780 – 1866), der 1809 schon einmal Agent des Schatzministeriums war, wurde der Kurs hin zu einer staatlichen Großbank und Staatsanleihen-Zentrale nach 1849 endgültig durchgesetzt, wobei auch nochmals ein Teil, aber eben nur ein Teil, des industriellen Besitzes der Seehandlung abgestoßen wurde.30 Die Umstellung war z. T. auch dadurch bedingt, dass der bis in die 26 So auch Otto Büsch im Vorwort zu Wolfgang Radtke, Die preußische Seehandlung (wie Anm. 22), VI. Vgl. auch Hansjoachim Henning, Preußische Sozialpolitik im Vormärz? (wie Anm. 22), 485 – 539 und Reinhart Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution. 3. Aufl. Stuttgart 1981, 621 f. 27 ICAM = Istituto communale per le abitazione minime, Triest. Dieser Beschluss wurde nach dem Muster einer ähnlichen Wiener Stadtratsentscheidung am 17. Juli 1902 gefasst. Es fehlte auch in Triest an Arbeiterwohnungen. Die Stadt war durch die industrielle und durch die Hafenentwicklung von 24.000 Einwohnern im Jahr 1802 auf 176.000 Einwohner am Ende des Jahres 1900 gewachsen und der Wohnungsbedarf sehr groß. 28 Braidotti hat auch die 1908 fertiggestellte moderne Psychiatrische Krankenanstalt San Giovanni in Triest gebaut. Vgl. Diego Caltana: Psychiatrische Krankenanstalten in der Provinz der Monarchie: Görz und Triest. In: Psychopraxis Bd. 11 (2008), 10 – 18. Diese sozialpolitischen Aspekte, so interessant sie sind, können hier nicht weiter dargestellt werden, da der Österreichische Lloyd selbst daran nicht weiter beteiligt gewesen ist. 29 Vgl. Dieter Vorsteher: August Borsig. In: Wilhelm Treue/Wolfgang König (Hgg.): Berlinische Lebensbilder: Techniker. Berlin 1990, 85 – 97. 30 Hans Bellée: August Friedrich (früher: Abraham) Bloch. In: NDB 2 (1955), 305.
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1830er-Jahre noch wichtige Leinenabsatz der Seehandlung bis 1843 schon deutlich zurückgegangen und in eine schwere Krise geraten war. Das war ein epochaler Wandel, der energische Umstellungen nötig machte. In diesem Zusammenhang ist rückblickend interessant, dass Leopold von Ranke noch in den 1830er Jahren, als er sich in seiner „Historisch-politischen Zeitschrift“ ausnahmsweise und vorübergehend einmal mit der preußischen Handelspolitik und anderen Wirtschaftsfragen seiner Zeit (besonders mit Zollpolitik) befasste, die Seehandlung, die damals noch ein profitables Kommerz-Unternehmen war, überhaupt nicht weiter als große Handelsgesellschaft und Zoll- und Steuerquelle erwähnte, nicht einmal im Zusammenhang mit dem Elbe-Zollkommissariat in Wittenberg, das für die Hamburg-Fahrt und den Überseehandel wichtig war. Den Zeitgenossen scheint ihre Tätigkeit vorübergehend unauffällig geworden zu sein und auch für die Historiker geriet sie dadurch einige Zeit in eine wenig beachtete Nische, da in den nächsten drei Jahrzehnten die Zollvereinsfrage das dominante Wirtschaftsthema, besonders gegenüber den süddeutschen Staaten und Österreich, wurde. In den Wiener Plänen zu einem preußisch-österreichischen Zollbündnis für Mitteleuropa, wie es den Staatsmännern Felix Fürst zu Schwarzenberg und Karl Ludwig Bruck seit den 1840er Jahren vorschwebte, hatte der Österreichische Lloyd, wie noch zu beschreiben sein wird, die Rolle eines Brückenschlags nach Ostmittel- und Südosteuropa spielen sollen. Dabei hätte die Seehandlung aber als damals noch maritime Unternehmung wohl nur die Funktion eines Juniorpartners übernehmen können. In der Folgezeit wurde sie immer weniger als maritimes Staatshandelshaus, sondern immer mehr als preußische Groß- und Staatsbank ausgebaut. Das war fast ein stiller Wandel. Noch Heinrich von Treitschke hat die Seehandlung zwar im 5. Band seiner „Deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert“ (1894 erschienen, zwei Jahre vor Treitschkes Tod) zwar erwähnt und kurz beschrieben,31 ohne aber das volle Gewicht ihrer fiskalischen Bedeutung als machtvolles Kreditinstitut seit den 1850er Jahren, als sie ein Arkanum des Staates geworden war, noch berücksichtigen zu können, da Treitschkes Darstellung schon 1848 abbrach. Die Aufarbeitung dieser Dimension der Seehandlung kam erst mit den Studien Otto Büschs und Ilja Miecks in Gang.32 Die Bemühungen der preußischen Staatsregierung und der Seehandlung unter Christian von Rother, das industrielle Niveau des Landes zu heben, führten zu einer fast noch merkantilistischen Entwicklungsstrategie der Importsubstitution von Fertigwaren. Das bedeutete für die Auslastung der Handelsflotte einen Rückgang der industriellen Einfuhrtransporte (z. B. englische Maschinen) bei gleichzeitigem Rückgang des Leinenexports und verschlechterte die „Flottenbilanz“. Die Rendite der Schiffslogistik ging daher zurück und gefährdete das maritime Unternehmen. Der Österreichische Lloyd dagegen, der ausschließlich als Transportunterneh31
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Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, 5. Teil, Leipzig 1894,
32 Ilja Mieck: Preußische Gewerbepolitik in Berlin 1806 – 1844. Berlin 1965; vgl. Otto Büsch: Industrialisierung und Gewerbe im Raum Berlin/Brandenburg 1800 – 1850. Berlin 1971.
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men agierte, konnte solche Risiken vermeiden. Und dass die Seehandlung außerdem seit den 1830er-Jahren auch selbst industriellen Besitz begründet oder erworben hat, führte bei der privaten preußischen Unternehmerschaft zu den erwähnten Irritationen und immer stärkerer Kritik. Die Neuorientierung hin zu einem Finanzinstitut schien daher ein Ausweg aus den Problemen des alten staatlichen Handelshauses. Das Unternehmen machte zwischen 1842 und 1848 aber noch jährlich einen Umsatz zwischen 86,5 Mio. und fast 100 Mio. Reichstalern und war damit der größte Handelsherr des Landes, wobei aber der Meereshandel eine immer geringere Rolle spielte.33 Nach 1848 kam es auch immer mehr dazu, dass der Regierung vom preußischen Abgeordnetenhaus, besonders von den Liberalen, der Vorwurf gemacht wurde, mittels der Seehandlung und ihrer „Staatshilfe“ unterlaufe die Regierung auch das Haushaltsbewilligungsrecht des Landtags. Zentraler Kritikpunkt wurde gerade die gewerblich-industrielle Tätigkeit der Seehandlung, die von Rother eingeführt worden war. Es war wohl David Hansemann, der nach einer gut begründeten Vermutung Wolfgang Radtkes den aus einer jüdischen Familie in Teplitz stammenden (und konvertierten) August Friedrich Bloch 1848 als neuen Präsidenten der Seehandlung durchsetzte,34 nachdem zuvor kurze Zeit noch der Direktor Heinrich Carl Kayser, der Leiter des profitablen Zinkwalzwerks der Seehandlung bei Ohlau (Schlesien), das Präsidium vorübergehend innegehabt hatte.35 Radtke weist als Hintergrundquelle besonders auf eine anscheinend verlorene Denkschrift Blochs vom März 1854 hin, die allerdings bei Heinrich von Poschinger überliefert ist36 und in der es u. a. heißt, die Stellung der Seehandlung müsse künftig ein „Staats-Banquiershaus“ sein, das, „richtig aufgefasst, für das Staatsleben von entschiedener Wichtigkeit … und allein hinreichend“ sei, „fast die ganze Tätigkeit des Instituts fortgesetzt in Anspruch zu nehmen“.37 Hintergrund dieser radikalen Veränderung des Zwecks der Seehandlung war u. a. auch, dass in den 1850er-Jahren im Zuge der Stein-Hardenbergschen Bauernbefreiung die Preußische Landesrentenbank als öffentlich-rechtliches Institut zur Ablösung der Bauernverpflichtungen gegenüber den ehemaligen Gutsherren gegründet worden war. Dabei übernahm die Seehandlung die nötige Refinanzierung der Landesrentenbank, die die Darlehen der Bauern verwaltete. Dieses riesige Programm galt bis zum Ende der Ablösungen 1890 und war auch für die Seehandlung eine 33 Wilhelm Treue: Preußens Wirtschaft vom 30jährigen Krieg bis zum Nationalsozialismus. In: Otto Büsch, (Hg.): Handbuch, Bd. II (wie Anm. 11), 449 – 604, hier 512, 518. 34 Wolfgang Radtke, Seehandlung (wie Anm. 23), 344. Vgl. auch Hugo Rachel/Paul Wallich: Berliner Großkaufleute und Kapitalisten, Bd. 3: Übergangszeit zum Hochkapitalismus 1806 – 1856, neu hg., ergänzt und bibliographisch erweitert von Johannes Schultze, Henry C. Wallich und Gerd Heinrich, Berlin 1967, 267 ff. 35 Radtke, Seehandlung (wie Anm. 23), 343 Anm. 72. Zur Ernennung Blochs auch GStA PK, 1. HA, Rep. 90 A Staatsministerium (Jüngere Reg.), Nr. 967. 36 Vgl. Heinrich von Poschinger: Bankwesen und Bankpolitik in Preußen. Nach amtlichen Quellen bearbeitet, Bd. 2, Berlin 1879, 56 f. 37 V. Poschinger, hier zit. nach Radtke (wie Anm. 23), 346.
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große und finanziell lohnende Aufgabe als „Staatsbanquiershaus“. Die Seehandlung trennte sich sukzessive von ihrem Übersee- und Handelsgeschäft, u. a. nicht zuletzt auch deshalb, weil ihre größeren Schiffe durch die dänische Seeblockade von 1848 die Ozeane nicht mehr von der Ostsee her erreichen konnten. Zwar hatte Bloch schon 1848 als höherer Beamter des Finanzministeriums eine Anleihe an die Hansestadt Lübeck durchgesetzt, um einen Verbündeten zu gewinnen, der die gegenüber Dänemark gerichtete Seepolitik als Partner Preußens unterstützte, aber der Erfolg war gering. Auch der Getreidehandel mit England und der Transithandel für Luxusgüter mit Russland (Seide, französische Weine, Gewürze und Spezereien) wurden beendet. So wurde der Weg hin zum „Staats-Banquiershaus“ fortgesetzt. Die Entwicklung hin zur staatlichen Großbank fand ihre Fortsetzung auch unter Otto von Camphausen, der 1854 nach anfänglichen Bedenken Friedrich Wilhelms IV. Präsident der Seehandlung wurde. Damit war eine entscheidende Wendung eingeleitet. Die weitere Entwicklung nach 1848 ist aber auch dadurch gekennzeichnet gewesen, dass die Seehandlung nun dem Finanzministerium (zunächst 1851 Carl von Bodelschwingh, dann 1858 bis 1862 Robert von Patow) und nicht mehr unmittelbar dem König unterstellt war und sie dadurch einen Kern ihrer Sonderstellung eingebüßt hatte.38 Dabei wurde auch ein Teil des gewerblich-industriellen Besitzes jetzt dem neuen Handelsministerium zugewiesen, was später aber wieder rückgängig gemacht worden ist. Der staatliche Besitz an industriell-gewerblichen Produktionsanlagen blieb für die Seehandlung bis zu ihrem Ende charakteristisch und unterschied sie deutlich vom Österreichischen Lloyd, im Übrigen auch von den meisten Privatbanken. Dies und der Rückzug aus dem Seehandel überhaupt machen daher einen weiteren Vergleich mit dem Österreichischen Lloyd während der weiteren Entwicklung teilweise fraglich. Auch eine Zusammenarbeit zwischen beiden Unternehmen war spätestens seit den 1860er Jahren, als das mitteleuropäische Zollunionskonzept kaum noch Aussicht auf eine Realisierung hatte und die Seehandlung als maritimes Unternehmen ausschied, nicht mehr aktuell. David Hansemann, der nach der Revolution von 1848 und noch vor August Friedrich Bloch für kurze Zeit provisorisch die Leitung der Seehandlung selbst übernommen hatte, war bald am Widerstand der Konservativen gescheitert und zog sich ins Privatbankgeschäft zurück. Er gründete 1851 die Disconto-Gesellschaft, die schon nach fünf Jahren über ein Kapital von 10 Millionen Talern aus dem Kreis ihrer Kommanditisten verfügte und wegen ihrer schnell wachsenden schieren Größe zu einem wichtigen Bankpartner der staatlichen Seehandlung wurde. Eine enge wirtschaftliche Kooperation zwischen Staatsbank und Privatbank blieb insofern bestehen. Aber die Seehandlung wurde erst jetzt eine Großbank und die Disconto-Gesellschaft, die als private Bank ein beträchtliches Kapital sammeln konnte, speiste sich zu einem großen Teil aus den Gewinnen, die Hansemann zuvor aus den Versicherungsprämien 38 Vgl. Acta Borussica, N.F., 1. Reihe: Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817 – 1934, hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, bearb. von Rainer Paetau, Jürgen Kocka und Wolfgang Neugebauer (Hgg.), 12 Bde, Hildesheim 1999 – 2004, hier Bd. 5, 421.
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der von ihm in den beiden preußischen Westprovinzen und in Bayern gegründeten Versicherungskassen und Eisenbahngesellschaften hatte machen können. Dies wiederum lässt wenigstens einen partiellen Vergleich mit dem Lloyd, der mit Versicherungsgeldern gegründet wurde, sinnvoll erscheinen. Aber das Nebeneinander von Versicherungswesen, Hafen- und Eisenbahnbau, wie es dann für Triest und die dortige Gründung und für die Entwicklung des Österreichischen Lloyd durch Karl Ludwig von Bruck, Pasquale Revoltella u. a.m. noch zu skizzieren ist, erweist sich im Falle Hansemanns und des Eisenbahnbaues in Preußen und Norddeutschland doch als nicht ganz miteinander vergleichbar. Sieht man einmal vom Hafen Hamburg ab, so spielten die 13 größeren preußischen Ostseehäfen von Stralsund bis Königsberg und Memel sowie die Hansestadt Bremen in der Eisenbahnprojektierung dieser norddeutschen Großregion längst nicht eine so herausragende Rolle, wie man das für den „Solitär“ Triest und die dortige enge und notwendige Verzahnung von Hafen- und Eisenbahnbau in Österreich sagen kann. Allenfalls könnte man Hamburg im Zusammenhang mit dem Eisenbahnbau als einen für Preußen wichtigen „Exklave-Kopfbahnhof“ mit dem Beispiel Triest vergleichen. Denn durch das Wirken Hansemanns – er war gebürtiger Hamburger – wurde die Bahnlinie Berlin-Hamburg immerhin schon 1846 eröffnet, aber das fehlende Verbindungsstück im Westen von Osnabrück nach Bremen, das der Köln-Mindener Eisenbahn-Gesellschaft endlich 1868 genehmigt wurde, konnte erst 1884 eröffnet werden. Die Preußische Seehandlung hielt sich hier wie in anderen norddeutschen Bahnprojekten auch als Bank eher zurück. Selbst die relativ frühe Eröffnung der Berlin-Hamburger Eisenbahn – und erst recht der späte Anschluss Bremens – stießen vor allem auf zollpolitische Schwierigkeiten, weil beide Hansestädte zwar von Preußen umworben waren, aber erst 1888 dem Deutschen Zollverein gewonnen werden konnten. Dafür erhielten dann beide Hafenstädte als preußisches Zugeständnis einen Freihafen und die Zusage für den Bau eines Nord-Ostsee-Kanals, der sie auch zu einer „baltischen“ Seehandelsgröße machte. Aber wenn sie dadurch auch Zollvereins-Mitglieder wurden, so war doch ihr Territorium selbst noch lange Zeit nicht Zollvereinsgebiet, sondern eine Separatzone. Eine komplizierte Lösung. Dieser Kompromiss zeigte zugleich, welche Schwierigkeiten bei der Verbindung von Hafen- und Eisenbahnprojektierung in Norddeutschland noch lange Zeit bestanden. Die Seehandlung hat sich an diesen Planungen, mit einer Ausnahme im Süden (Berlin-Anhaltinische Eisenbahn), nicht mehr beteiligt, weil sie im Begriff stand, ihre Handelsflotte aufzugeben, und sie ihre Zukunft in der wachsenden Aufgabe als Staatsbank sah. Ihr maritimes Engagement wurde bald ganz beendet. Von der Disconto-Gesellschaft ging dann 1866 in Zusammenarbeit mit Otto von Camphausen der entscheidende Impuls zur Gründung des sog. Preußen-Konsortiums aus, in dem Adolph von Hansemann, der Sohn David Hansemanns, der eigentliche spiritus rector wurde. Das geschah parallel zu den durch die Gründung des Norddeutschen Bundes bewirkten Veränderungen, als die Seehandlung zur Hausbank des Norddeutschen Bundes wurde. Das Preußen-Konsortium erwies sich als ein unentbehrlicher Partner der Seehandlung bei ihren großen Transaktionen der 60er- und
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70er-Jahre, als William Barstow Günther, seit 1854 Mitglied des Generaldirektoriums der Seehandlung, 1870 ihr Präsident wurde und u. a. die Finanzierung des Deutsch-Französischen Kriegs zu regeln hatte.39 Das waren für die Seehandlung neue Aufgaben. Die Vorbehalte der Liberalen gegenüber der Seehandlung, sofern sie immer noch Gewerbe- und Industriebesitz unterhielt, schienen damit nicht behoben. Solche Kritik wurde noch im Zusammenhang mit dem Deutsch-Französischen Krieg 1871 laut, als es um die Kriegsfinanzierung ging. Andererseits blieb aber auch immer noch eine enge Bindung der Seehandlung an das königliche Haus bestehen, von dem hundert Jahre zuvor die Gründung dieser einst privilegierten preußischen Handelsgesellschaft ausgegangen war. Die direkte Staats- bzw. Thronnähe bestand nicht nur in Jahren profitabler Geschäfte, die dem Hohenzollernhaus zugutekamen, sondern auch bei finanziellen Rückschlägen, gegen die das Königshaus unter Umständen sogar helfend einsprang. Es konnte auch geschehen, dass das Königshaus sogar selbst Hilfe annehmen musste, beispielsweise in der Gründerkrise von 1873, als Rudolph von Bitter Präsident der Seehandlung geworden war und sich sowohl die Königinwitwe Elisabeth als auch des Kaisers Bruder Carl an den Terrainvorhaben des Projektentwicklers und Bankiers Heinrich Quistorp in Potsdam und Babelsberg beteiligt hatten und sie nicht unerhebliche Verluste zu tragen hatten. Es war in diesem Fall die Seehandlung, die mit Stützungsmaßnahmen für die Mitglieder des königlichen Hauses half.40 Umgekehrt findet sich aber auch noch ein Fall aus den 1880er Jahren, bei dem die Nähe zum Preußenhaus darin zum Ausdruck kam, dass angeblich die Seehandlung den in verlustreiche afrikanische Engagements verstrickten Felix Grafen BehrBandelin, den Kammerherrn des Kaisers, aus seinen Verlusten rettete, es in Wirklichkeit aber Wilhelm I. persönlich war, der hier mit seinen privaten Mitteln einsprang, während öffentlich dabei die Seehandlung als „Retter“ nur vorgeschoben wurde.41 Eine derart eng an das Herrscherhaus attachierte Staatsbank als „Liquiditätsreserve“ für die Dynastie, aber auch für den Staat, wie sie die Seehandlung darstellte, scheint es dagegen im Habsburgerstaat nicht oder doch nicht in dieser engen Anlehnung gegeben zu haben. Die Wiener Creditanstalt für Handel und Gewerbe, von der noch zu reden ist, war mit dieser Rolle nicht vergleichbar, zumal sie nicht in ein größeres Netzwerk, vergleichbar dem Preußen-Konsortium, eingebunden war.
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GStA PK, 1. HA, Rep. 90 A. Staatsministerium, Jüngere Registratur Nr. 967. Vgl. George W. F. Hallgarten: Imperialismus vor 1914. Die soziologischen Grundlagen der Außenpolitik europäischer Großmächte vor dem Ersten Weltkrieg. Band I, München 1963, 187 und Anm. 1. Zu den Erschließungsprojekten der Bauunternehmer Quistorp und Carsten vgl. Günter Richter: Zwischen Revolution und Reichsgründung (1848 – 1870). In: Wolfgang Ribbe: Geschichte Berlins, Zweiter Band, München 1987, 662. 41 Hallgarten, (wie Anm. 37), Bd. I, 353 und Anm. 1. Graf Behr-Bandelin war gemeinsam mit Carl Peters 1885 Vorsitzender der Gesellschaft für deutsche Kolonisation. Vgl. Westphal, Geschichte der deutschen Kolonien (wie Anm. 17), 80 f. und Horst Gründer: Geschichte der deutschen Kolonien, Paderborn 1985, 40. 40
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Die Seehandlung übte einen beträchtlichen Teil der Tätigkeit des sog. PreußenKonsortiums aus. Diese 1866 begründete Emissionszentrale für preußische Staatsanleihen und dann auch für größere internationale Finanztransaktionen des Staates, z. B. bei Eisenbahnprojekten in Übersee, war an die Stelle der bis dahin dominanten Rothschild-Bank getreten, wobei die Seehandlung zeitweise die nominelle Leitung des Konsortiums hatte, die operative Durchführung jedoch zeitweise beim Bankhaus Gerson Bleichröder und bei Hansemanns Disconto-Gesellschaft lag, nach einigen Jahren dann auch bei der von Georg von Siemens 1870 gegründeten und in dieses Netzwerk eingebundenen Deutschen Bank. Die Seehandlung spielte aber auch hier wieder eine absichtsvoll unauffällige Rolle. In Wirklichkeit war sie für den Staat zu einem Kreditbeschaffer ersten Ranges geworden. Sie hatte im Preußen-Konsortium eine mächtige Position und koordinierte die internationalen Anleiheprojekte, während die „D-Banken“ (Disconto-Gesellschaft, Deutsche Bank, Dresdner Bank und Darmstädter Bank) sowie andere private Bankhäuser die Zeichnungslisten für das Publikum auslegten, da die Seehandlung selbst im Inland nur wenige Filialstellen unterhielt. Ihr Arbeitsstil blieb noch, wie manche Zeitzeugen behaupteten, bis in die 1870er-/80er-Jahre von einer, wie man sagen könnte, gewissen biederen Seriosität und Geruhsamkeit geprägt. So berichtet z. B. der Bankier Max von Schinckel in seinen Lebenserinnerungen eine heitere, vielleicht typische Begebenheit, die auch noch für den Beginn der 1880er-Jahre zutreffen könnte. Denn es heißt da über Alexander Schoeller, den Geheimen Seehandlungsrat und späteren Präsidenten dieses Unternehmens, der 1879 als junger unternehmerisch eingestellter Bankier in die Seehandlung eingetreten war, er habe dort als einer der Ersten versucht, „an Stelle eines staatlichen Bureaukratismus die Arbeitsweise eines auf seine Erträgnisse angewiesenen Bankinstituts einzuführen. Man erzählt sich“, so fährt von Schinckel fort, „dass, als der Herbst herankam und die Tage kürzer wurden, der Geheimrat Schoeller dem Bureaudiener geklingelt und eine Lampe verlangt habe. Auf die Beteuerung, Lampen gebe es in der Seehandlung nicht, habe Schoeller erwidert: Ja, bei welchem Licht arbeiten denn die Herren, wenn es dunkel wird? Verständnislos habe der Bureaudiener ihn angeblickt und versichert: ‘Wenn es dunkel wird, gehen die Herren nach Hause‘!“42 Nun enthält sicher fast jede Anekdote, gewürzt durch leichte oder auch gravierende Übertreibung, ein Gran Wahrheit. Die Nähe des staatlichen Instituts Seehandlung zur staatlichen Bürokratie Preußens mag daher in der Tat im Lauf von hundert Jahren etwas auf den etatistisch-bürokratischen Geschäftsgeist des Hauses abgefärbt haben. Zumindest graduell ist dieser routinehafte Geist jedoch mit dem Einzug der modernen Dynamik in den 1880er-Jahren und durch von Bitters und besonders Schoellers Aktivitäten wohl wieder zurückgedrängt worden. In der Seehandlung hat sich diese „Idylle“ jedenfalls, wenn sie wirklich je bei ihren „Bankbeamten“ zu beobachten gewesen sein sollte, schon vor der Jahrhundertwende schnell wieder verflüchtigt, falls 42 Hier zit. nach Erich Achterberg: Berliner Hochfinanz. Kaiser, Fürsten, Millionäre um 1900. Frankfurt am Main 1965, 87, mit dem Verweis auf Max von Schinckel, Lebenserinnerungen, Hamburg 1929, 251.
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wir hier überhaupt den spöttischen und verdächtig ähnlichen Berichten der Bankiers Max von Schinckel und Carl Fürstenberg43 so aufs Wort glauben dürfen. Möglich, dass sich mit dem Übergang der Seehandlung zum staatlichen Bankgeschäft auch eine gewisse bedächtige, ja bürokratische und etwas ins „Staatsfinanzrätliche“ gehende Beamtenmentalität entwickelt hatte. Dem scheinen dann Alexander Schoeller (1879 – 1883) und die Präsidenten Max Rötger (1880 – 1886) und Emil von Burchardt (1887 – 1899), später auch Hermann Schilling (1893 – 1961), mit Erfolg entgegengesteuert zu haben. Sollte es einen dem österreichischen Lloyd ähnlichen Wandel zur Dynamisierung auch bei der „bürokratischen“ Seehandlung gegeben haben, so hing er vermutlich auch mit dem wachsenden Gewicht des Preußen-Konsortiums zusammen, in dem die Seehandlung, die inzwischen die Warenhandelsgeschäfte abgelegt hatte, sich dafür aber z. B. 1889 zusammen mit anderen Großbanken an der Gründung der Deutsch-Asiatischen Bank beteiligte, eine zentrale Stellung besaß. Ein „erweiterter Ausschuss“ des Preußen-Konsortiums, in dem auch viele private Berliner und Frankfurter Bankhäuser vertreten waren und in dem die private Disconto-Gesellschaft und die staatliche Seehandlung selbst die einflussreichste Position besaßen, musste sich dann allerdings um die Jahrhundertwende besonders mit den Problemen der sinkenden Kurse von Staatsanleihen befassen, die bis dahin als möglicher Schwachpunkt in der Seehandlung kaum bekannt gewesen waren, jetzt aber eine intensivere Kurspflege erforderlich machten.44 Bis dato hatte die Seehandlung höhere Zinsen als die Königliche Hauptbank gezahlt, die aber 1871 zur Reichsbank geworden war, so dass die Seehandlung nun die einzige Staatsbank Preußens war und sich mit den anderen Mitgliedern des Preußen-Konsortiums zur Kurspflege der Anleihepapiere intensiver abstimmen musste. Nach dem kurzen präsidialen Zwischenspiel des 1899 eingesetzten Seehandlungschefs Octavio Freiherr von Zedlitz und Neukirch, der aber wegen seiner Opposition gegen den Bau des Mittellandkanals schon nach wenigen Monaten wieder ausscheiden musste, wurde 1900 auf Vorschlag des Staatsministeriums Rudolf Havenstein (1857 – 1923) vom König zum Präsidenten der Seehandlung berufen, die bis zu diesem Zeitpunkt offiziell immer noch den Namen „Generaldirektion der Seehandlungs-Societät“ führte, aber nun in „Königliche Seehandlung (Preußische Staatsbank)“ umbenannt wurde.45 Havenstein gelang in kurzer Zeit eine Kursbefestigung der preußischen Staatsanleihen, indem die Seehandlung selbst die Pflege an der Berliner Börse übernahm. Unter dem neuen Präsidenten wurde auch der letzte und kon43 Vgl. Erich Achterberg, (wie Anm. 39), 142 – 163, hier 151 f., nach: Hans Fürstenberg, Carl Fürstenberg. Die Lebensgeschichte eines deutschen Bankiers, Berlin 1931 (Neudruck Düsseldorf 1968), 213. 44 Vgl. Morten Reitmayer: Bankiers im Kaiserreich. Sozialprofil und Habitus der deutschen Hochfinanz. (Diss Hannover) Göttingen 1999, 62 und Manfred Pohl: Konzentration im deutschen Bankwesen (1848 – 1980), Frankfurt am Main 1982, 189 f. 45 GStA PK 1. HA, Rep. 90 A (wie Anm. 36). Vgl. Erich Achterberg: „Rudolf Emil Albert Havenstein“. In: NDB 8 (1969), 137 [Onlinefassung].
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sequenteste Schritt der Seehandlung zur staatlichen Großbank getan, indem 1904 eine sehr beträchtliche Erhöhung des Bankkapitals von 35 Mio. auf 100 Mio. Mark durchgeführt wurde und, wie Erich Achterberg hervorgehoben hat,46 der Umsatz an Wechseln und unverzinslichen Schatzanweisungen von 36 Mio. (1898) auf 413 Mio. (1908) gesteigert, das Lombardgeschäft von 920 Mio. (1899) auf 1.968 Mio. Mark (1908) und der Bestand an eigenen Wertpapieren von 27 Mio. (1899) auf 79 Mio. Mark (1908) erhöht werden konnte. Nach einer von der Seehandlung vorgenommenen Auflistung über den Verkauf von Anleihen Preußens und des Reichs zwischen 1906 und 1910, auf die Morten Reitmayer hingewiesen hat, waren es in dieser Zeit hauptsächlich die vier großen „D-Banken“, deren Anteile an den Zeichnungen dieser Anleihe-Serien von zunächst ca. 33 v.H. auf 45 v.H. angestiegen waren, während ihre vertraglichen Konsortialquoten eigentlich nur ca. 22 v.H. betragen hatten.47 Sie engagierten sich also weit darüber hinaus und stärkten damit auch die Stellung der Seehandlung. In diesen Jahren kam es dann aber schon häufiger vor, dass die angesehenen höheren Beamten der Seehandlung wie z. B. Alexander Schoeller oder etwas später auch der Staatsfinanzrat Hermann Schilling in die leitenden Stellungen der großen Privatbankhäuser wechselten und dort höhere Bezüge als in der Seehandlung selbst erhielten. Ob sie auch vorher schon als Präsidenten der Seehandlung zur „Hochfinanz“ gerechnet werden konnten, der sie dem Habitus (Bourdieu) nach vielleicht zugerechnet werden durften, war vor einigen Jahren in der Forschung noch eine zwischen Erich Achterberg und Morten Reitmayer strittige Frage.48 Vielleicht standen die Präsidenten der Seehandlung dem Typus des staatlichen preußischen Finanzbeamten und seiner sparsamen Haushaltsführung letztlich doch näher, während sich der Lebensstil der privaten Eigner des Österreichischen Lloyd oft in herrschaftlichen Häusern und Palais in und um Triest oder in besonderen Stiftungen (z. B. Revoltella) zu erkennen gab.49 Die Preußische Seehandlung als Staatsbank kannte dagegen eine Art „Deckelung“ der „finanzrätlichen“ Gehälter. Für den „Gesamthabitus“ (Karl Lamprecht, Pierre Bourdieu) ihres Lebensstils gegenüber den großen Privatbankiers und Bankeigentümern machte das einen Unterschied, wie er auch in der Theorie des „Sozialkapitals“ bei Bourdieu beschrieben ist. Dennoch sollte dabei nicht übersehen werden, dass Mitglieder der Generaldirektion der Seehandlung – und erst recht auch die Präsidenten selbst – seit der zweiten Hälfte der 1870er-Jahre zu den Aufsichtsräten der im Besitz der Seehandlung befindlichen Aktiengesellschaften gehörten und ihnen dafür in vielen Fällen eine besondere Aufwandsentschädigung zukam. Die erwähnte „Deckelung“ ihrer Gehälter wurde dadurch z. T. wieder ausgeglichen, so dass eine mit der „Großfinanz“ annähernd vergleichbare Stellung erhalten blieb. 46
Erich Achterberg, Havenstein (wie Anm. 42). Morten Reitmayer, (wie Anm. 41), 62. 48 Morten Reitmayer, (wie Anm. 41), 21 und 25. 49 Zu Revoltellas Villen gehörte auch der von dem Berliner Architekten Franz Hitzig 1858/ 59 in Triest errichtete Palazzo, vgl. Zeitschrift für Bauwesen, Berlin 1863 und Mauro Covacich, Triest verkehrt (sic! Anm. K.D.), Berlin 2012, 113 f. 47
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Als 1908 Rudolf Havenstein als Präsident der Seehandlung ausschied, da er Reichsbankpräsident wurde, blieb seine Stelle in der Seehandlung zunächst noch unbesetzt. Mit der Bestallung von Adolf Dombois als neuem Präsidenten der Seehandlung im Juni 1909 war aber nochmals ein weiterer Aufstieg dieses Staatsinstituts verbunden. An der Finanzierung des Ersten Weltkriegs ist die Seehandlung weniger beteiligt gewesen, da dies primär Sache der Reichsbank geworden war, die die neun Kriegsanleihen auflegte.50 Aber auch nach dem Weltkrieg, als es durch Gesetz vom 25. Februar 1918 (Gesetz-Sammlung, S. 15) offiziell den Namen „Preußische Staatsbank (Seehandlung)“ annahm, blieb dieses Unternehmen in erster Linie finanzielles Staatsinstitut. Dombois wurde gebeten, auch über die Erreichung der Altersgrenze 1922 und während der Inflation von 1923 noch bis zum 1. April 1924 im Amt zu bleiben, da im neuen demokratischen preußischen Staatsministerium die Überzeugung bestand, dass nur er „im Stande sei, die Staatsbank vorsichtig und doch nicht bürokratisch zu leiten.“51 Das erwies sich besonders 1923/24 in der Hyperinflation als zutreffend. Die Umsätze der Preußischen Staatsbank (Seehandlung) waren in dieser Phase sogar höher als die sämtlicher Großbanken zusammen, so als suchten die übrigen Institute dort Anlehnung. Die Seehandlung wurde dann in den Jahren 1924 bis 1945 von Franz Schroeder als Präsident geleitet.52 Ihre Generaldirektion bestand nun aus dem Präsidenten und fünf Staatsfinanzräten.53 Dabei kam es am 6. Januar 1925 durch einen Beschluss des Staatsministeriums zur Einsetzung eines unter Vorsitz des Präsidenten stehenden „beirätlichen“ Ausschusses von sechzehn Personen, davon fünf aus dem Preußischen Landtag. Die gutachterliche Anhörung und die Vorschlagsrechte dieses Ausschusses, dem sogar Otto von Velsen als Generaldirektor der großen staatlichen Bergwerksgesellschaft Hibernia in Herne – einem Altbestand des industriellen Besitzes der Seehandlung – angehörte, ging relativ weit. Der Industriebesitz der Seehandlung blieb erhalten.54 Die neue Preussag, 1923 als Auffanggesellschaft des preußischen Staates zur Übernahme der staatseigenen Montanunternehmen gegründet (aber nicht identisch mit der alten Preußischen Bergwerks- und Hütten-AG [PBHAG] von 1866, die schon 1871 von der Disconto-Gesellschaft übernommen worden war), stellte also auch in der Weimarer Republik einen Staatsbesitz dar. Unter der Aufsicht der Seehandlung blieb schließlich in der Weimarer Republik auch weiterhin das Staat50
Vgl. Konrad Roesler, Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg. Berlin 1967, 166 – 171 und Hartmut Kiehling, Der Funktionsverlust der deutschen Finanzmärkte in Weltkrieg und Inflation 1914 – 1923. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1998/1, 11 – 58. 51 GStA PK, 1. HA, Rep. 90 A. (wie Anm. 36). 52 Zum 150jährigen Bestehen erschien eine Festschrift: Die Preußische Staatsbank Seehandlung, Berlin 1922. 53 Vgl. auch zum Folgenden: Handbuch über den Preußischen Staat, hrsg. vom Preußischen Staatsministerium für das Jahr 1927 (133. Jg.), 141 f. 54 Hans-Joachim Winkler: Preußen als Unternehmer 1923 – 1932. Staatliche Erwerbsunternehmen im Spannungsfeld der Politik am Beispiel der Preußag, Hibernia und Veba. Berlin 1965.
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liche Leihamt in Berlin und die „Rotherstiftung für unverheiratete arme Beamtenund Offizierstöchter“. Ihr Kuratorium stand unter dem Vorsitz des Präsidenten der Seehandlung. Die neue Preußische Staatsbank (Seehandlung) der Weimarer Republik wurde mehr und mehr mit staatsbankgeschäftlichen Aufgaben, die sich aus der preußischen und dann auch aus der Reichspolitik ergaben, befasst. Die Seehandlung gehörte z. B. zu den etwa 27 großen deutschen Bankinstituten, die seit Mitte der 1920er-Jahre in 12 Kreditkonsortien noch für einige Jahre zur wirtschaftlichen Stabilisierung der Republik beitragen konnten, indem sie die Geschäfte aus dem deutsch-russischen Handelsabkommen („Russlandgeschäfte“) von 1925 finanzierten und abwickelten.55 Das führte schließlich auch zum Missbrauch der Mittel und Möglichkeiten dieser Banken in der NS-Zeit. Im Auftrag des Reiches hatte u. a. auch die Seehandlung ab dem 3. Dezember 1938 in beträchtlichem Umfang Wertpapiere aus dem beschlagnahmten Besitz antisemitisch Verfolgter zu verwalten und zu verwerten. Wie Jutta Zwilling in ihrer gemeinsam mit Susanne Meinl vorgelegten Untersuchung „Legalisierter Raub“ schrieb, gelang es dem Reich jedoch nicht, die entzogenen Aktien und Kuxe vollständig zu verwerten: „Teilweise führten die Banken die Depots sogar noch unter dem Namen des rechtmäßigen Eigentümers“ weiter.56 Im Zusammenhang mit der Aufhebung Preußens durch den Alliierten Kontrollrat 1947 (Gesetz Nr. 46) kam es schließlich zur schrittweisen Auflösung dieser „ruhenden Altbank“ zwischen 1953 und 1983, wobei die VEBA dann vorübergehend die Gesamtleitung übernehmen musste. Den dann immer noch bestehenden industriellen Besitz der Seehandlung, aus dem sie z. T. Dividenden bezogen hatte, bildeten in der Weimarer Republik und am Ende des Zweiten Weltkriegs u. a. noch folgende Hauptbestände: – vor allem die erwähnte Bergwerksgesellschaft Hibernia in Herne, zu der insgesamt 14 Zechen, Zechenbahnen und ein Stickstoffwerk mit insgesamt einem Grundkapital von (vor der Währungsreform) 500 Mio RM gehörten, - ferner die Preußische Elektrizitäts-AG (Preag) in Hannover mit 26 ihr gehörenden Elektrizitätswerken und 18 weiteren nicht unerheblichen Beteiligungen mit einem Grundkapital von – nach der Währungsumstellung von 1948 – 112 Mio. DM. - Und nicht zuletzt gehörte zu diesem Hauptbesitz der Seehandlung auch die Preußische Bergwerks- und Hütten-AG (Preußag) in Hannover mit 19 Gesellschaften und Beteiligungen sowie einem Grundkapital von (nach der Währungsreform von 1948) 75 Mio. DM. 55
Die Leitung hatten die Deutsche Bank und die von ihr gegründete Industriefinanzierungs-AG Ost („IFAGO“). Vgl. Werner Beitel/Jürgen Nötzold: Deutsch-sowjetische Wirtschaftsbeziehungen in der Zeit der Weimarer Republik. Baden-Baden 1979, 69 f. 56 Jutta Zwilling: Die Akteure – Ihre Geschichte und Überlieferung. In: Susanne Meinl, Jutta Zwilling (Hgg.): Legalisierter Raub. Die Ausplünderung der Juden im Nationalsozialismus durch die Reichsfinanzverwaltung in Hessen. Frankfurt am Main 2004, 255 ff. und 476 ff.
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Als Dachgesellschaft von Preag und Preußag war schon 1929 die erwähnte Vereinigte Elektrizitäts- und Bergwerksgesellschaft (VEBA) gegründet worden. Es waren neben einigen anderen Führungspersönlichkeiten vor allem der schon erwähnte Bankier und ehemalige Finanzrat der Seehandlung Hermann Schilling und Hermann Kißler (1882 – 1953) aus der Weimarer Zeit, denen es gelang, einen großen Teil des riesigen Industriebesitzes der Preußischen Staatsbank (Seehandlung) allmählich zu privatisieren, nachdem der Staat Preußen durch die Alliierten aufgehoben worden war.57 Der Besitz wurde auf einzelne Länder des Bundes aufgeteilt und die VEBA-Unternehmen 1965 durch die Schaffung sog. „Volksaktien“ teilprivatisiert. Dazu gehörten u. a. auch die Chemischen Werke Hüls, VEBA-Glas und die Hugo Stinnes AG. Ein großer Teil gelangte oder blieb auch noch in Bundesbesitz. Es handelte sich inzwischen nach der Währungsumstellung insgesamt um ein Grundkapital von immerhin 825 Mio. DM, das zu einem großen Teil privatisiert wurde.58 Übrig blieb nur – nun recht „staatsfern“ – ein bescheidener Rest: die ,Stiftung Preußische Seehandlung‘ mit einem vergleichsweise geringen Kapital von 19 Mio. DM.59 Das war nur noch ein symbolischer Restbesitz, den das Ende Preußens 1946 und seine Folgen hinterlassen hatten und der überhaupt nur durch eine Reihe von Zu-Stiftungen und Zuschüssen für kulturelle Zwecke (z. B. Berliner Literaturund Theaterpreise) lebensfähig gehalten werden konnte. Immerhin hält diese Stiftung die Erinnerung an die Seehandlung, deren altes Gebäude immer noch am Gendarmenmarkt steht, noch heute aufrecht. Der alte Lloyd’s-Palast, der in Triest ebenfalls heute noch steht, ist demgegenüber Sitz eines (nun allerdings in fremdem Besitz) weiter arbeitenden Reederei-Unternehmens geblieben, so dass auch hier eine kulturelle Tradition als Überrest am Ort teilweise fortbesteht. Inwieweit lassen sich nun in der Geschichte der Preußischen Seehandlung weitere Ähnlichkeiten bzw. Differenzen mit der Geschichte des Österreichischen Lloyd ausmachen? Diese Frage ist nicht so einfach zu beantworten, da im Laufe der Jahrzehnte die vergleichbaren Ähnlichkeiten nach 1856 eher abnahmen. Der Hauptunterschied dürfte in der rechtlichen Form der Seehandlung als quasi staatliche Aktiengesellschaft gegenüber dem privatwirtschaftlich geführten Österreichischen Lloyd liegen, ferner in der unterschiedlichen Bandbreite der Geschäfte und in dem für die Seehandlung typischen Umfang des jahrzehntealten industriellen Besitzes sowie im frühen Rückzug der Seehandlung aus den maritimen Engagements seit Mitte der 1850erJahre. Auch wäre besonders die durch Rother geschaffene soziale Bindung der Seehandlung als ein Spezifikum zu nennen. Aber es gab auch noch andere Vergleichs57 Vgl. Sebastian T. Pollems: Der Bankplatz Berlin zur Nachkriegszeit. Transformation und Rekonstruktion des Ost- und Westberliner Bankwesens zwischen 1945 und 1953. Berlin 2006, 35 ff. und Frank Zschaler: Erzwungene Reorientierung im Zeichen der deutschen Teilung (1945 – 1990). In: Hans Pohl (Hg.): Geschichte der Finanzplatzes Berlin. Frankfurt am Main 2002, 215 – 252. 58 Die bei Kurt Pritzkoleit: Bosse, Banken, Börsen. Wien/München 1954, 308 ff. genannten Zahlen sind zumindest an der Stelle dieses Gesamtwerts (314) allerdings ungesichert. 59 Thomas Loy: Preußische Seehandlung. In: Der Tagesspiegel Nr. 12, 5. 2. 2001.
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und Differenzpunkte, die hier näher zu betrachten sind, wobei im österreichischen Fall und im Unterschied zur Seehandlung vor allem die frühe Nähe zur privaten Versicherungswirtschaft und dann zur staatlichen österreichischen Hafen- und Eisenbahnpolitik noch stärker zu berücksichtigen sind. Diese Sicht sei nun im Folgenden, wie es unser vergleichendes Thema verlangt, noch ergänzend bzw. kontrastierend aus der Perspektive auf den Österreichischen Lloyd eingehender betrachtet. II. Österreichischer Lloyd Der Österreichische Lloyd in Triest ging schon nach dem Ersten Weltkrieg, wie die Stadt Triest selbst, dem österreichischen Staat und seiner Gesellschaft und Wirtschaft verloren. Er war aber, wie schon gesagt, kein Staatsinstitut wie die Preußische Seehandlung und befasste sich auch von Anfang an nicht mit Warenhandelsgeschäften, mit Industrieförderung oder Infrastrukturmaßnahmen, wenn man einmal von dem hier besonders relevanten Hafen- und Werftbau und von der Bedeutung absieht, die für Triest besonders der nach 1860 beschleunigte Anschluss an das Eisenbahnnetz hatte. Es geht hier vor allem um Systemeigenschaften von Politik und Ökonomie in ihrem Verhältnis zueinander, um Differenzen und Interdependenzen, die sich für ein privates Unternehmen wie den Österreichischen Lloyd anders darstellen als für die alte, wenn auch gewandelte „Staatsholding“ Preußische Seehandlung. Der Lloyd war ein Großunternehmen der Mittelmeer-, dann auch der Ozeanschifffahrt, das sich drei Jahre nach der Gründung 1833 im Wesentlichen auf ein einziges Kerngeschäft konzentrierte und auch nicht, wie die Seehandlung, in größerem Umfang Industriebesitz erwarb und sich auch nicht zum „Staatsbanquiershaus“ entwickelte. Sein Zweck sollte es sein, die österreichischen Häfen in der nördlichen Adria durch einen schnellen maritimen Verkehr mit den Ionischen Inseln, mit Griechenland und den Inseln der Ägäis, mit den „Echellen des Orients“, wie es in den Gründungspapieren hieß, mit den Schwarzmeerhäfen, mit Konstantinopel, Smyrna, Syrien und Alexandria zu verbinden. Seine „Staatsferne“ erwies sich besonders in den ersten 15 Jahren als sehr groß.60 Der Österreichische Lloyd war in einem Land, in dem noch 70 Jahre zuvor der Merkantilist Joseph von Sonnenfels damit begonnen hatte, „Staatswirtschaft“ zu lehren, als durch und durch private Großunternehmung in der Form einer Seefahrts-Aktiengesellschaft unter mehreren Aspekten ein Novum. Diese Loslösung von der älteren staatswirtschaftlichen Tradition machte den Hauptunterschied gegenüber der Preußischen Seehandlung aus. Ein typisches Merkmal war ferner seine von Anfang an bestehende enge Zusammenarbeit mit der privaten Versicherungswirtschaft in Triest, die im Gründerkreis des Lloyd ein Übergewicht 60
Georg Pawlik/Dieter Winkler: Der Österreichische Lloyd, 1836 bis heute [sic! K.D.] Wien 1989 und Horst Friedrich Mayer/Dieter Winkler: „In allen Häfen war Österreich.“ Die Österreichisch-Ungarische Handelsmarine. Wien 1987 sowie für die späteren Jahrzehnte: Oskar Stark: Eine versunkene Welt. Die Geschichte des Österreichischen Lloyd. Fahrten und Ende seiner 62 Schiffe. Wien 1959.
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hatte. Auch ein dem späteren Preußen-Konsortium (1866) vergleichbares Gremium, in dem die Preußische Staatsbank koordinierend im Mittelpunkt stand und schon zuvor sogar Industriebesitz erworben, verwaltet und veräußert hatte, wie z. B. am Ende sogar die Flotte, gab es in Österreich bzw. dann in Österreich-Ungarn nach 1867 so nicht, jedenfalls nicht verbunden mit einer Reederei. Eine wichtige Voraussetzung für den Aufschwung der beiden maritimen Großunternehmen war aber – und darin bestand eine Gemeinsamkeit zwischen dem Berliner und dem Triester Geschäftsmodell – dass am Ende der napoleonischen Herrschaft 1814/15 sowohl im Nord- und Ostseeraum als auch in den „Illyrischen“ Küstenprovinzen an der Adria ein neuer Aufschwung der Seefahrt einsetzte. Darauf reagierte die Preußische Seehandlung sofort mit der Wiederaufnahme ihres Schiffsverkehrs, während der Österreichische Lloyd erst nach einer gewissen nachhaltigen Dauer dieser neuen Reederei-Konjunktur gegründet wurde, als sich die positiven Aussichten schon weitgehend bestätigt hatten. Der Österreichische Lloyd, der 1833 nach britischem Vorbild von mehreren privaten Seetransportversicherungen und dem Triestiner Bankier und Versicherungsgründer Pasquale Revoltella, sowie von Karl Ludwig Bruck aus dem preußischen Elberfeld und weiteren Teilhabern, vor allem dem reichen Unternehmer Francesco Taddeo Reyer, zunächst als Agentur für Seefahrtsversicherung und Marktnachrichten aus den Mittelmeerhäfen mit einem Kapital von 1 Mio. Gulden gegründet, dann aber schon 1836 mit erhöhtem Kapital (1,5 Mio. Gulden) auch als Reederei tätig wurde, war eine als privatwirtschaftliche AG geführte maritime Unternehmung mit besonderem Versicherungsrückhalt. Sie stand in dieser Hinsicht in einer anderen Tradition als die Seehandlung, die durch die ephemere preußische Assekuranz-Kammer über 1765 hinaus keine versicherungsrelevante Bedeutung erlangte. Der Lloyd hatte den Zweck, Kaufleute und Spediteure mit Informationen und den nötigen Risikosicherungen gegen Havarie, Piratentum, Schiffskollisionen, Konfiskation, Treulosigkeit von Kapitänen usw. sowie mit neuesten Seehandelsnachrichten aus den Märkten der Mittelmeerhäfen und schon bald auch aus den Häfen der ganzen Welt zu versorgen. Zuletzt hatte besonders die Piraterie der Barbareskenstaaten an der Libyschen Mittelmeerküste erheblich zugenommen, als die neue Flotte der USA schon in den Jahren 1802 bis 1806 einen regelrechten transatlantischen Fernkrieg gegen die dortigen Seeräuber und Kaperer geführt hatte und es 1815 nochmals zu einer kriegerischen Intervention der US-Flotte vor Tripolis gekommen war, bevor 1835 die Osmanen das Problem durch ihre Oberherrschaft halbwegs lösen konnten. Bis dahin waren natürlich auch der Ausbau und die Konzentration des Versicherungswesens in Triest zu einem erheblichen Teil durch die Seeräubergefahr selbst ausgelöst worden, zumal auch die Adria nicht frei von Piraten war. Nun aber schien eine Lösung gefunden, die sich nicht zuletzt auch durch eine moderne, professionelle Assekuranz auszeichnete, wie sie demgegenüber die Seehandlung bis 1815 noch nicht gekannt hatte. Der Lloyd von 1833/36 war also, wie oben schon beschrieben, allein in seiner Verflechtung mit dem Versicherungswesen eine moderne Gründung jenseits von Ka-
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meralismus und Merkantilismus. Im Gegensatz zur Preußischen Seehandlung, die den Weg von der staatlichen Handelskompanie und Staatsreederei zur Staatsbank durchlief, ohne dass im Norden die Notwendigkeit einer Sicherung der alten Flotte gegen Piraterie in dem selben Maße bestanden hätte, waren es in Triest führende private Versicherer und Bankiers wie Pasquale Revoltella, auch die Rothschild-Bank als Teilhaber und andere Fachleute der Versicherungswirtschaft unter Führung Brucks und einer langen Reihe anderer, die noch zu nennen sein werden, die seit 1831 in Triest einen Schwerpunkt ihrer Zusammenarbeit bildeten und gemeinsam – anders als die Seehandlung – den Schritt vom Finanz- zum operativen Reedereigeschäft machten. Allein bei den am Lloyd beteiligten Versicherungen dürfte es sich, wie Ugo Cova, der Leiter des Triester Staatsarchivs, 1986 schätzte, um einen Kreis von mindestens 22 Versicherungsunternehmen und Bankhäusern gehandelt haben.61 Die Gründung des Österreichischen Lloyd als Neueinsatz zu einer Großunternehmung wurde nicht nur durch den Aufschwung der europäischen Schifffahrt nach den napoleonischen Kriegen angeregt, sondern auch durch die Vollendung des Deutschen Zollvereins 1833/34, als die Gründer des Lloyd sich ausrechnen konnten, dass für die süddeutschen Zollvereinsländer, besonders für Bayern und seine neuen Verbindungen nach Griechenland, der Port an der Adria mit seinem Freihafen (,porto franco‘ seit 1717) an Bedeutung gewinnen würde. Dieser älteste Freihafen am Mittelmeer konnte als eine Art ,Sonderzone‘ mit ihren speziellen Durchgangsbedingungen die zunächst bestehende Schärfe in den Gegensätzen der beiden sehr verschiedenen Zollsysteme in Deutschland und Österreich mildern. Der Österreichische Lloyd war aber auch noch in anderer Hinsicht ein Solitär: Die Gründergruppe stellte ein kulturell erstaunliches und faszinierendes Phänomen an Vielfalt und Kreativität dar. Sie setzte sich gleich in der ersten Phase nach 1833 aus deutsch-österreichischen, italienischen, schweizerischen, slovenischen, serbo-kroatischen und illyrischen, jüdischen, griechischen und ägyptischen Teilhabern zusammen: ein überaus farbiger Gesellschaftszirkel, der dem Lloyd, dessen Kommandosprache auf den Schiffen Italienisch war, während als Geschäftssprache z. T. auch das Deutsche diente, bald ein singuläres transnational-kulturelles Flair verschaffte. Neben dem engeren Gründerkreis mit Pasquale Revoltella (1795 – 1869),62 Karl Ludwig Bruck (1798 – 1860), der 1821 als Geschäftsmann und Philhellene nach Triest gekommen war und für den Hafen ein öffentlich-rechtliches Schiffsregister durchgesetzt hatte, ferner dem eingesessenen Großkaufmann Giovanni Guglielmo von Sartorio (erster Verwaltungsrat der neuen Gesellschaft), auch dem reichen Großhandelskaufmann Francesco Taddeo 61 S. die Belege im Folgenden bei Cova. Vgl. auch Ronald E. Coons: Steamships, Statesmen, and Bureaucrats. Wiesbaden 1975, 2 – 18. 62 Revoltella, ursprünglich Holzhändler und aus Venedig stammend, war 1831 der Mitgründer der Assicurazioni Generali und 1833 auch Mitgründer des Österreichischen Lloyd. Er wurde 1867 von Kaiser Franz Joseph I. für seine Verdienste um die österreichische Wirtschaft in den Freiherrenstand erhoben. Vgl. G. Cervani: „Revoltella“. In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815 – 1950, IX. Band, Wien 1988, 102 f. und allgemein Ders.: La borghesia triestina nell’età del Risorgimento. Figure e problemi. Udine 1969, passim.
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Reyer und dem Werftbesitzer Michele Vucetich kam dieser multiethnische Charakter des Unternehmens auch darin zum Ausdruck, dass mit dem national gemischten Kreis des Vorstands und der Abteilungsdirektoren eine Leitungsgruppe vorzüglicher Kenner der Adriaschifffahrt und des Levantehandels (besonders mit Konstantinopel) zusammenkam, der den Profit des privaten Unternehmens zu mehren wusste.63 Aus diesen mentalen, multikulturellen und kosmopolitischen Wurzeln konnte der Lloyd später auch die Faszination seiner modernen, kundenfreundlichen und internationalen Kreuzfahrtprogramme entwickeln, von denen noch die Rede sein wird. Dieser multiethnische Charakter des Gründer- und Vorstandskreises im Österreichischen Lloyd war von Anfang an ein auffälliges Phänomen, vor allem weil der große Erfolg des Unternehmens gerade aus einer sehr effizienten transnationalen Zusammenarbeit dieses Zirkels und seiner Korrespondenten resultierte. Die Gesellschafter und Großaktionäre des Lloyd waren teils Griechen und kamen aus dem Nuovo Greco Banco oder aus dem Adriatico Banco di Assicurazione. Es waren vor allem Vertreter der Familien Giannichesi, Antonopoulo, Carciotti und Ralli. Andere Gesellschafter kamen z. T. aus Venedig wie Pasquale Revoltella selbst oder sie stammten aus dem benachbarten kvarnerischen Raum wie die Familien Premuda und Tripcovich bzw. von der südlich Istriens gelegenen Insel Lussin wie u. a. Grigorio Meksa, der Leiter der Società Slava. Oder es waren jüdische oder ägyptische Familien wie die Kohen, Parente, Mondolfo und Minerbi, letztere Pioniere der Schifffahrtslinie des Lloyd nach Brasilien, und die Familie Faraone aus Ägypten. Oder Schweizer, die sich ebenfalls über ihre Triester Società Elvetica di Assicurazione Marittime an der Lloyd-Reederei beteiligt hatten. Das alteingesessene Triestiner Handelshaus Giovanni Guglielmo von Sartorio, das sich über seinen Banco di Marittime Assicurazioni am Österreichischen Lloyd beteiligt hatte, besaß aber auch selbst eine Handelsniederlassung in Odessa. Nicht zuletzt wären die Deutschen Carlo Regensdorff, selbst Inhaber einer Versicherung und von der oldenburgischen Insel Wangerooge stammend, auch Johann Christoph Ritter (später Ritter von Záhony), der weltläufige Frankfurter Großkaufmann und erste Präsident der Assicurazioni Generali, und der überaus reiche Großaktionär des Lloyd, Francesco Taddeo Reyer aus dem damals zu Kärnten gehörenden Kanaltal zu nennen, der fast auf der ganzen Welt eigene Handels- und Fabrikniederlassungen für Schiffsausrüstung unterhielt. Reyer war seit 1837 mehr als 18 Jahre lang Generalvorsitzender des Österreichischen Lloyd und hat zusammen mit Karl Ludwig Bruck in dieser Zeit energisch die Ersetzung der alten Segler durch Dampfschiffe und danach auch die Einführung der ersten schnellen Schiffsschrauben-Dampfer betrieben.64
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Neben Einträgen in der Neuen Österreichischen Biographie und im Österreichischen Biographischen Lexikon sei hier besonders hingewiesen auf Ugo Cova, Die entscheidende Rolle (wie Anm. 12), 169 ff. sowie auf die autobiographische Quelle des Giovanni Guglielmo (von) Sartorio: Memorie biografiche ai suoi figli, parenti ed amici,Triest 1863, auch teilweiser Nachdruck, hg. von Giani Stuparich, Triest 1949 (mit biographischer Einleitung). 64 Ugo Cova, Die entscheidende Rolle (wie Anm. 12), 172.
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Aus den süddeutschen Staaten des Deutschen Zollvereins kamen aus Kempten im Allgäu Wolfgang Friedrich Renner, der in Triest das älteste deutsche Handelshaus (gegründet 1733) besaß, aus der benachbarten Allgäustadt Kaufbeuren Georg Jakob Heinzelmann, ebenfalls Besitzer eines Handelshauses in Triest, und aus Lindau mit den Familien Büchelin, Fels, Pfister, Rittmeyer und Weber gleich eine ganze Schar von Kaufleuten, unter denen vor allem Johann David Schnell-Griot zu nennen wäre, der seit 1818 zugleich Konsul des Königreichs Bayern in der Adriastadt war. Konsul der Freien und Reichsstadt Frankfurt am Main war in Triest ab 1836 Johann Jodocus Anton Freiherr von Brentano (1803 – 1870), der dem Verwaltungsrat der Generali angehörte und damit auch dem Lloyd nahestand. Die Brentanos in Frankfurt am Main besaßen schon seit den Zeiten des Dominik Martin Brentano (1686 – 1755) Handelsniederlassungen in Wien und Triest.65 Diese alle und noch etliche mehr trugen zum multikulturellen und kosmopolitischen Profil des Österreichischen Lloyd wesentlich bei.66 Als Indikator der wirtschaftlichen und z. T. auch der politischen Bedeutung Triests kann überhaupt gelten, dass es 1836 in dieser Stadt 27 Konsuln gab, darunter aus England und Preußen, aus den Hansestaaten Hamburg, Bremen und Lübeck, aus den Königreichen Sachsen und Württemberg und aus dem Großherzogtum Baden.67 Hierin kamen also auch die schon bald nach der Gründung des Deutschen Zollvereins bestehenden Handelsbeziehungen der Staaten des Deutschen Bundes zur Hafenstadt Triest zum Ausdruck, die auch den weiteren Aufschwung der Stadt mittrugen. Der Österreichische Lloyd hatte offensichtlich einen ungleich günstigeren Start als die Preußische Seehandlung. Dabei spielten wohl auch die größeren Erfahrungen mit Seeversicherungen eine Rolle, die in Triest schon früh entstanden waren und eine eigene Tradition begründet hatten.68 Vor allem war es aber die weniger starke geschäftliche Diversifikation des Lloyd, die dieser Privatunternehmung ein lukratives Kerngeschäft ermöglichte. Während die Seehandlung sich in mehreren Schritten nach 1845 sozusagen von einem maritimen Wesen zu einem „Landgang“ entschloss, indem sie das Überseegeschäft allmählich ablegte und sich als reine Großbank des Staates entwickelte, taten bedeutende private Banken und Versicherungen in Triest 1836 den umgekehrten Schritt und ,stachen‘ gleichsam selbst ,in See‘, indem sie gemeinsam diese eigene Großreederei gründeten, die dem weltläufigen und kosmopolitischen Geist der Gründer entsprach. Dafür stand der Name des Johann Christoph Ritter aus Frankfurt am Main, der 1832 zum ersten Präsidenten der Assicurazioni Generali gewählt wurde und neben Bruck auch für die Gründung des Lloyd als Nachrichtenstelle 1833 von großer Bedeutung war.69 65
Vgl. Wolfgang Klötzer (Hg.): Frankfurter Biographie, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1994. Maximiliane Rieder: Cosmopoliti sull’Adriatico. Mercanti ed industriali tedeschi a Venezia e Trieste. In: Quale Storia 91 (2010), 99 – 133. 67 Ibid., 118. 68 Cova, Die entscheidende Rolle (wie Anm. 12), 163 f. 69 Cova, Die entscheidende Rolle (wie Anm. 12), 170 f.: Dort Ritter, „ein Mann von großem Format“ (Cova). 66
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Der Lloyd erhielt für die vom österreichischen Staat in Anspruch genommenen Sonderleistungen (wie z. B. die Aufrechterhaltung bestimmter politisch erwünschter Seeverbindungen oder für Informations- und Nachrichtenbeschaffung, für Seepostund andere Dienste) separate und z. T. beträchtliche öffentliche Subventionen. Ob es deshalb aber schon gerechtfertigt wäre, von einem ,halbstaatlichen‘ Unternehmen zu sprechen, scheint doch fraglich, denn die Triestiner Leitung des Unternehmens wahrte weitgehend ihre Freiheit von staatlichem Dirigismus. Erst relativ spät (1906) verlegte der Österreichische Lloyd den bis dahin eher ,staatsfernen‘ Hauptsitz von der Adria nach Wien. Seine Geschäftsbasis war im Unterschied zur Preußischen Seehandlung, die einen Wandel von der Staatsreederei mit Handelsinteressen über industrielle Engagements hin zu einer reinen Staatsbank durchlaufen hat, relativ schmal, erwies sich aber innerhalb dieses Kernsegments als recht ertragsstark. Der Lloyd fuhr sozusagen auch den investierenden Versicherungen gute Gewinne ein. Er beschäftigte schon 1845 über tausend Mitarbeiter, 1853 mit der neuen eigenen Werft zusammen sogar über 8.000 und arbeitete bald auch eng mit der 1830 gegründeten Ersten Donau-Dampfschifffahrts-Gesellschaft in Wien zusammen, deren Passagiere und Güterladungen er z. B. dann in den Schwarzmeerhäfen (Braila und vor allem in Galatz, nahe der Donaumündung gelegen) mit Hochseeschiffen aufnehmen und weiter an die Schwarzmeerküsten und in die östlichen Mittelmeerländer oder auch vice versa transportieren konnte. Es wäre denkbar, dass die Verlagerung des Hauptsitzes 1906 nach Wien nicht nur mit Sicherheitserwägungen, sondern auch aus Gründen erfolgte, die mit einer besseren Abstimmung des Seeverkehrs mit der Donaudampfschifffahrt zusammenhingen. Diese Frage kann hier aber nicht weiter verfolgt werden. Der Lloyd Austriaco, wie er auch hieß, gedieh schon früh prächtig. Er baute ab 1853 mit einer festlichen Grundsteinlegung durch Erzherzog Ferdinand Maximilian das große Arsenal in Triest, ein industrielles Zentrum, in dem bald 3.000 Menschen beschäftigt waren, deren Zahl weiter wuchs. Ab 1855 erhielt er staatliche Zuschüsse für besondere Leistungen, wie die schon erwähnte Aufrechterhaltung bestimmter Südamerika- und Orientverbindungen, ferner für den Ausbau der Postlinien und für andere staatliche Aufträge. Das geschah zu einer Zeit, als in Österreich der Eisenbahnbau in den Planungen der Regierung erstmals stärker mit der mediterranen Schifffahrt Triests zur Abstimmung gebracht und mit ihr gezielt koordiniert wurde. Bis zur Jahrhundertwende hat sich der Österreichische Lloyd schnell zur größten Schifffahrtsgesellschaft des Mittelmeers entwickelt und Triest wurde nach Hamburg, Rotterdam, Marseille und Genua zeitweise zum fünftgrößten Hafen Europas, wobei der erst 1857 gegründete Norddeutsche Lloyd in Bremen seine Position allerdings schnell ausbauen und im Wettbewerb aufzuholen vermochte. Der Österreichische Lloyd konnte aber seine Stellung im Mittelmeer dadurch behaupten, dass er sich – begünstigt durch den neuen Eisenbahnbrückenkopf Triest von 1867 – mehr und mehr auch auf das Personen- und Kreuzfahrtgeschäft einstellte und in diesem Geschäftsbereich um die Jahrhundertwende kulturell sehr attraktive und zukunftsträchtige Programme (,Vergnügungsfahrten‘, ,Pleasure Cruises‘ seit 1907 mit der „Tha-
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lia“) und eine Verlagsabteilung für Öffentlichkeitsarbeit, die schon erwähnte sog. Dritte Sektion, entwickelte. Das war innovative PR und wirkte später besonders auch durch die luxuriösen Kreuzfahrten des Lloyd und die anerkannte Qualität seiner exquisiten Bordküchen und Schiffskasinos vor allem auf ein wohlhabendes internationales Publikum sehr anziehend. Was die Einhaltung der Schiffsfahrpläne des Lloyd betraf, so war diese Gesellschaft für die geradezu ,preußische Pünktlichkeit‘ ihrer Schiffe allgemein bekannt, nach der die Muezzine in der Levante angeblich bei Sicht der eintreffenden und ausgehenden Schiffe auf die Minute genau ihre Rufe von den Minaretts ertönen lassen konnten. Bei einem kurzen begrifflich vergleichenden Blick zurück scheint es so, dass die preußische Gründung Friedrichs des Großen zunächst auch in Österreich früh Interesse gefunden hat, denn schon 1783 legte Johann Michael Schweighofer seinen „Versuch über den gegenwärtigen Zustand der österreichischen Seehandlung“ vor, der anscheinend auch das Interesse Kaiser Josephs II. fand.70 Allerdings war der Begriff Seehandlung zu dieser Zeit schon ein allgemein gängiger merkantiler Begriff, der, obwohl der Firmenname inzwischen in Preußen ,fest‘ geworden war, nicht auf Preußen allein bezogen werden konnte. Aber die Entwicklung, wie sie dann in Triest eingetreten ist, war vor allem – anders als in den preußischen Ostseehäfen oder bei den über Havel und Elbe geführten Verbindungen der Seehandlung nach Hamburg – besonders durch die ausbau- und entwicklungsfähige Bedeutung des Triester Freihafens von 1719 geprägt. Norddeutschland besaß zu diesem Zeitpunkt, wenn man von dem benachbarten dänischen Altona absieht, noch keine Freihäfen, nachdem derjenige in Emden wieder aufgehoben worden war. Schweighofer wies bei der im 18. Jahrhundert eingetretenen Bedeutungszunahme der österreichischen Seefahrt besonders Kaiser Karl VI., der Triest zum Freihafen erhoben hatte, und seiner Tochter Maria Theresia große Verdienste zu.71 Karl hatte auch Ostende (habsburgische Niederlande) zu einem großen Hafen ausbauen lassen, konnte dort aber der österreichischen Handelsflotte gegen die britische Seemacht mit ihrer Navigationsakte keine feste Position verschaffen. So wurde das Schwergewicht des österreichischen Seehandels vor allem nach Triest und Fiume verlagert, wo es bessere Möglichkeiten zu geben schien. Schweighofer nannte als Zielhäfen in der Levante „die Eilande des Archipelagus, Kandia, Palästina, Ägypten und die Barbarischen Staaten“ [d.i. Barbareskenstaaten Nordafrikas, K.D.], aber darüber hinaus auch den Handel nach der Ost- und Nordsee sowie den nach dem Schwarzen Meer, den nach Ostund Westindien und den nach den gerade gegründeten Vereinigten Staaten von Amerika sowie den nach „den beiden vereinigten Königreichen Marokko und Fes“.72 Er 70 Johann Michael Schweighofer: Versuch über den gegenwärtigen Zustand der österreichischen Seehandlung, Wien 1783 und ders.: Von dem Kommerz. Wien 1785 (beide auch als elektronische Ressource zugänglich). Vgl. noch vor Gründung des Lloyd auch Joseph Marx Liechtenstern: Über Österreichs Seeküste, Seeschifffahrt und Seehandel, nach ihren gegenwärtigen Verhältnissen und daraus abgeleiteten Ansichten, bes. 6. Aufl. Altenburg 1821. 71 Schweighofer, Versuch (wie Anm. 67), 8 ff. 72 Schweighofer, Versuch (wie Anm. 67), 4 f.
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sprach 1783 davon, dass in Triest 1771 und 1779/80 ca. 600 österreichische und knapp 6.000 ausländische Schiffe Ladung aufgenommen bzw. gelöscht hatten und sah die Notwendigkeit, die eigene Flotte beschleunigt zu vermehren, denn man sehe ja „leichterdings ein, dass dies Kommerz ungleich mehr Nationalschiffe beschäftigen würde“.73 So wurde immer stärker auf den Aufschwung Triests hingearbeitet, um mit der eigenen Flotte, die zum Teil aus Schutzgründen auch bewaffnet war, noch bessere Gewinnmöglichkeiten zu erreichen. Hier lag auch das Motiv dafür, dass schließlich kapitalstarke private und moderne Triester Versicherungsunternehmen eine neue Großreederei gründen und finanzieren wollten, wie es dann mit der Schaffung des Lloyd geschah. Die Preußische Seehandlung unterhielt seit dem Ende der 1830er Jahre, wie schon erwähnt, einen Konsul in Triest, dessen Agenda dann auch Beziehungen zum neuen Österreichischen Lloyd einschloss, ohne dass darüber zum gegenwärtigen Zeitpunkt schon genauere Angaben gemacht werden könnten. Da die kommerzielle Bedeutung Triests in den folgenden Jahrzehnten ständig wuchs, darf aber wohl davon ausgegangen werden, dass auch die Tätigkeit des preußischen Konsuls der Seehandlung in der Adriastadt noch bis in die frühen 1850er-Jahre fortgesetzt und erst aufgegeben wurde, als die Seehandlung sozusagen ihren ‘Landgang‘ d. h. ihren Rückzug aus dem Reedereigeschäft endgültig abgeschlossen hatte. Für Triest, das schon das erwähnte österreichische Privileg als Freihafen besaß, bedeutete die Gründung des Lloyd 1836 eine konsequente Fortentwicklung der seehandelsstrategischen, versicherungsgeschäftlichen und logistischen Rolle dieser Hafenstadt. Triest war einer der wenigen Punkte, von dem aus die alte ,Landmacht‘ Österreich den direkten Anschluss an den modernen Seeverkehr, der sonst nur indirekt über die Donau zum Schwarzen Meer zu erreichen war, mit Aussicht auf Erfolg und in großem Stil herstellen konnte. Für den aus dem preußischen Elberfeld stammenden Kaufmann und späteren österreichischen Handels- und Finanzminister der Jahre 1848 bis 1851 und 1855 ff. Karl Ludwig von Bruck (1798 – 1860) stellten der Lloyd und schon bald auch der Ausbau des kontinentalen Eisenbahnnetzes (1854 Vollendung der Semmering-Bahn bis Graz und 1867 Verlängerung auch bis Triest durchgeführt) wichtige Elemente eines mitteleuropäischen Verkehrs-, Handels- und Zollkonzepts dar.74 Bruck hatte schon als Handelsminister mit Blick auf Triest und den Lloyd die Ausarbeitung eines See- und Handelsrechts sowie eines Schiffsregisters in Auftrag gegeben und in Triest die Seebehörde und die Börse geschaffen. Als Finanzminister hatte er sich seit 1855 besonders für den beschleunigten Ausbau des Eisenbahnnetzes eingesetzt, von dem die Stellung des Triester Hafens künftig in starkem Maße abhing. 73
Schweighofer, Versuch (wie Anm. 67), 15 Vgl. Rudolf Hoke: Karl Ludwig Freiherr von Bruck (1798 – 1860). In: Jeserich/Neuhaus (wie Anm. 10), 163 – 167 und Johann Albrecht von Reiswitz: „Karl Ludwig von Bruck“. In: NDB 2 (1955), 643 – 646. Von der älteren Literatur immer noch wichtig: Richard Charmatz: Minister Freiherr von Bruck. Der Vorkämpfer Mitteleuropas. Sein Lebensgang und seine Denkschriften. Leipzig 1916. 74
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Hätte Bruck einige Jahre länger gelebt, wäre auch die Strecke bis Triest wahrscheinlich früher fertig geworden und sein Projekt eines Mitteleuropäischen Zollvereins nach der deutschen Reichsgründung wahrscheinlich einer Verwirklichung schon wesentlich näher gekommen. Aber wenn dies ohne Bruck auch nur teilweise und mit Verzögerung gelang, so konnte der Hauptzweck, die Eisenbahn-Übersee-Verbindung von Triest aus, 1867 doch noch zu einem günstigen Zeitpunkt erreicht werden. Der Zweck des Lloyd war schon 1836, also bald nach der Gründung, noch auf das benachbarte Feld erweitert worden und sollte neben den versicherungsgeschäftlichen und marktinformatorischen Leistungen von da an in dieser ,zweiten Sektion‘ auch schon die ,Verfrachtung‘ von Gütern einbeziehen, um von Triest aus, bald schon mit Dampfbooten, Verbindungen zu den Häfen des Orients zu schaffen. Es handelte sich also zwischen 1833 und 1836 gewissermaßen um eine ,gestaffelte‘ Gründung mit neuen Zwecken, aber auf eng miteinander verbundenen Wirtschaftsfeldern. Noch in den 1820er-Jahren hatten in Triest vorwiegend griechische Reeder ihre Segelschiffe stationiert. Der Erfolg der Neugründung Brucks, Revoltellas, Johann Christoph Ritters, Francesco Taddeo Reyers75 und anderer Mit-Teilhaber war schon in den Jahren 1837 bis 1847 daran zu erkennen, dass die Zahl der modernen Dampfer, bald auch ,beflügelt‘ durch Joseph Ressels seit Ende der 1820er-Jahre in Triest erprobte Erfindung der Schiffsschraube, schnell gedieh. Deren Verbesserungen (durch die Erfinder Pierre Louis Frédéric Sauvage, Francis Smith und John Ericsson) führten zu einem Anstieg von 6 auf 20 Schiffe. Die Einnahmen der Gesellschaft hatten sich in dieser Zeit von 160.000 auf anderthalb Mio. Gulden erhöht.76 In Brucks Konzept, das er in den 50er Jahren als Minister entwarf, war Triest schon wenige Jahre später als auszubauender zentraler Tiefwasser-, Handels- und Versorgungshafen Mitteleuropas gleichsam fest verankert. Bruck selbst, zunächst aus Sympathie für den griechischen Freiheitskampf und als Versicherungskaufmann ins Triester Geschäft gelangt, war 1828 durch die Heirat mit der Tochter Marie des Triester Reeders Giovanni Buschek sehr bald auch in Kontakt mit den Hafen- und Handelsinteressen der Stadt gekommen. Darüber hinaus hat Bruck vor 1832 noch zeitweise, wie erwähnt, im preußischen Konsulat in Triest gearbeitet und dadurch auch die Triester Interessen der Preußischen Seehandlung kennengelernt. Aber im Unterschied zur Seehandlung hat der Österreichische Lloyd von Anfang an selbst keine Handelsgeschäfte betrieben, weil sich in der Versicherungs- und Reedereibranche, besonders nach Fertigstellung der Semmering-Bahn und deren Fortführung bis zur Adria und dann vor allem nach der Eröffnung des Suezkanals, für Triest und den Lloyd die erhofften sehr profitablen Entwicklungsmöglichkeiten eröffneten.77 Hinzu 75 Zu den beiden Letzteren vgl. auch Ugo Cova, Die entscheidende Rolle (wie Anm. 12), 170 ff. 76 Ferdinand Tremel, Wirtschafts- und Sozialgeschichte Österreichs. Wien 1969, 298. 77 Der Österreichische Lloyd beförderte schon 1857: 426.432 Reisende. Sein Bestand an Dampfschiffen wuchs bis 1873 auf 63 an. Vgl. Herbert Matis: Österreichs Wirtschaft 1848 – 1913. Berlin 1972, 102 und 158. Vgl. ders.: Das Haus Schenker. Wien 2002, 60 ff. Zur älteren Literatur auch Alois Brusatti: Österreichs Wirtschaftspolitik. Vom Josefinismus zum Stände-
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kam die wachsende Größe der Lloyd-Schiffe: war noch Mitte der 1860er-Jahre mit dem Bau der „Austria“ eine Größenklasse von 1.700 t erreicht, so belief sich die Größe der „Imperator“ 1886 schon auf 4.000 t, und diese Tendenz nahm bis 1912 mit der „Gablonz“ und ihrem Schwesterschiff „Marienbad“ (1913) auf 8.000 t zu. Das war eine Größenordnung, die die Seehandlung bis zur Aufgabe des Seegeschäfts in den 1850er Jahren nie planen, geschweige denn erreichen konnte. Ein starkes Motiv waren für Bruck schon früh die Eisenbahn- und Zolleinigungspläne, die Friedrich List zuletzt 1841 in seinem „Nationalen System der politischen Ökonomie“ und in Aufsätzen im ,Zollvereinsblatt‘ veröffentlicht hatte. Doch zuvor schon hatten die Gedanken Lists über künftige Eisenbahnnetze im Deutschen Bund Bruck sehr interessiert. Beide Kerngedanken, Zolleinigung und Eisenbahnbau, sind von ihm immer wieder in engem Zusammenhang gesehen worden und haben auch auf die Entwicklung des Österreichischen Lloyd und auf die Rolle Triests als Verkehrsknotenpunkt zu Lande und zu Wasser starken Einfluss gehabt, auch wenn dabei die Zollpolitik in noch stärkerem Maße als der Eisenbahnbau (bei dem bis 1877 immer wieder private und staatliche Gesellschaften wechselten) besonders etatistisch bestimmt war. Denn wesentlicher als in Preußen erwies sich für den österreichischen Überseehandel von Anfang an die Eisenbahnpolitik als von zentraler Bedeutung, weil durch den Bahnbau der Hafen Triest ein erheblich größeres Hinterland, bis hinein in das Gebiet des preußisch-deutschen Zollvereins, gewinnen und damit als logistische Basis ein ,Alleinstellungsmerkmal‘ finden konnte. Das wurde von der Wiener Regierung schon früh klar gesehen, in der Planung nach Kräften beschleunigt und dann, solange Bruck lebte, zügig verwirklicht. Als sich dagegen in Preußen die Seehandlung für den Eisenbahnbau zu interessieren begann, geschah das fast schon ohne Bezug zum Seeverkehr, von dem sie sich inzwischen entfernte. Noch 1848 hatte der künftige Seehandlungspräsident Bloch beim Eisenbahnbau vor einer ,Überspekulation‘ gewarnt. Und auch sein Vorgänger Rother hatte Eisenbahnpläne in das Thema Hafenpolitik kaum einbezogen. In Österreich dagegen verlief diese Entwicklung ganz anders, weil der Bahnbau als Bindeglied zum Anschluss der beiden Adriahäfen, vor allem Triests, als absolut vorrangig angesehen wurde. Dieses Ziel bestimmte die gesamte Politik, von der der Lloyd profitierte. Wie wirkte sich das alles auf das ,private Profil‘ des Lloyd aus? Seine Dienste bei der Errichtung von Postexpeditionsstellen in den wichtigeren Hafenstädten am Mittelmeer und seit 1842 das Recht, die österreichische Postflagge zu führen oder in Kriegszeiten (1866, 1908, 1914) mit dem Staat Verträge über eine Bereitstellung von Schiffen für die österreichische Kriegsflotte und notfalls zur Durchführung von Bevölkerungsevakuierungen, Truppen- und Materialtransporten zu schließen, machten den Lloyd zeitweise fast schon zu einer Einrichtung von „halbstaatlichem“ Charakter, wie besonders von Regierungsseite gern gesagt wurde. Eine solche Charakterisierung ist aber etwas irreführend. Denn der Lloyd wurde primär aus eigener staat. Wien 1965 und ders.: Wirtschafts- und Sozialgeschichte des industriellen Zeitalters. 3. Aufl. Graz 1979.
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Kraft zur größten Reederei des Mittelmeers. Lediglich der ,Ausgleich‘ mit Ungarn nach 1867 ergab Übergangsprobleme, da für die ungarische Reichshälfte seit 1872 ein eigener Hafen in Rijeka (Fiume) ausgebaut werden musste. Aber das wurde durch den Eisenbahnanschluss Triests, von dem noch genauer zu reden ist, mehr als ausgeglichen. Auch das Scheitern der preußisch-österreichischen Zollverhandlungen in den 1860er Jahren hat dem Lloyd kaum Schaden zugefügt. Rudolf Delbrück, dem preußischen „Gegner“ Brucks, gelang es allerdings schon in der Zollvereinskrise von 1850/53, die süddeutschen Staaten gegen die von Bruck geplante, aber zu protektionistische großdeutsch-mitteleuropäische Zollunion in Stellung zu bringen und die alten Mitglieder weiterhin im moderat liberalen System des Zollvereins zu halten. Nachdem Hannover sich schon 1851 dem neuen Zolltarif des Vereins angeschlossen hatte, blieb dies für den Erhalt des Zollvereins eine grundlegende Entscheidung auch für die süddeutschen Staaten. Den endgültigen Durchbruch brachte nach dem tragischen Tod Brucks 1860 der freihändlerische preußisch-französische Handelsvertrag von 1862, der die protektionistische österreichische Zollpolitik auch für die Mittelstaaten des Zollvereins inakzeptabel machte.78 Mit Erfolg widersetzte sich Delbrück 1864 sogar Bismarck, der eventuell bereit gewesen wäre, Wien bei künftigen Zoll- und Handelsverhandlungen bessere Aussichten zu eröffnen.79 Der preußisch-österreichische Krieg hat das aber verhindert. Doch schon die Wahlen zum Zollvereinsparlament von 1868 zeigten, dass in den süddeutschen Staaten die preußische Zollpolitik eine starke bürgerliche Opposition fand,80 die Delbrück wohl unterschätzt hatte. Für den Österreichischen Lloyd und den Freihafen Triest wäre zwar gegenüber Preußen und dem Nordwesten Europas eine neue Regelung der Transitzölle von Interesse gewesen, aber diese Durchgangszölle waren ohnehin auf beiden Seiten nur noch gering und haben den Aufstieg Triests und des Lloyd nicht aufgehalten. Eine einvernehmliche Regelung der Ein- und Ausfuhrzölle hätte allerdings die Expansion des Lloyd sogar noch stärker beschleunigen können. Dazu aber kam es vorerst nicht. Für das Verhältnis zum Staat waren in Triest andere Faktoren wichtiger. In staatlichem Auftrag übernahm der nach wie vor private Österreichische Lloyd in politischen Krisenzeiten die eilige Durchführung von Flüchtlings- und Emigrantenbeförderungen und erhielt dafür besondere staatliche Zuschüsse. Dazu gehörte beispiels78 Noch im Sommer 1859 hatte sich Bruck in einer Denkschrift für Kaiser Franz Joseph I. („Die Aufgaben Österreichs“) mit Möglichkeiten zur Lösung der Wirtschafts- und Zollprobleme befasst. 79 Vgl. Heinrich Heffter: „Rudolf Delbrück“. In: NDB Bd. 3 (1957), 579 f. Zu einer Korrespondenz der Seehandlung mit dem Bankhaus Rothschild in Zoll- und Geldangelegenheiten für die österreichische Finanzverwaltung in den Jahren 1850 bis 1871: GStA PK, I. Hauptabteilung, Rep. 109 Seehandlung (Preußische Staatsbank) Abt. A, Band 3, Nr. 18. 80 Vgl. Walter Schübelin: Das Zollparlament und die Politik von Baden, Bayern und Württemberg 1866 – 1870, Berlin 1936 (Historische Studien 262), 105 f. und Hans-Werner Hahn: Geschichte des Deutschen Zollvereins, Göttingen 1984, 184 ff. sowie Angelika Schuster-Fox: Bayern im Deutschen Zollverein. In: Hans-Werner Hahn/Marko Kreutzmann (Hgg.): Der Deutsche Zollverein. Ökonomie und Nation im 19. Jahrhundert. Köln 2012, 51 – 74.
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weise 1882 bei Unruhen in Alexandria, die die britische Besetzung Ägyptens nach sich zogen, eine Rettungsaktion des Lloyd für achttausend europäische Ausländer mit ihren Kindern, die innerhalb von wenigen Wochen in ihre Heimatstaaten zurückgebracht wurden.81 Eine noch größere, politisch heikle Aufgabe übernahm der Lloyd im Jahr 1908, als er die Beförderung von etwa 136.000 gegen den Sultan opponierenden Türken aus der europäischen (Konstantinopel, Saloniki) in die asiatische Türkei übernahm.82 Eine gewisse Ähnlichkeit mit der Preußischen Seehandlung ergab sich z. T. durch eine Annäherung des Lloyd an die von Bruck 1855 mit Hilfe des Bankhauses Salomon Meyer Rothschild gegründete ,halbstaatliche‘ Österreichische Creditanstalt für Handel und Gewerbe, die zur Überwindung der Finanzkrise von 1857 in Österreich beitrug. In Preußen war diese Krise durch die schon zuvor stabilisierte Staatsbank Preußische Seehandlung und ihre Anleihepolitik glücklich vermieden worden. Die neue Österreichische Creditanstalt ging aber einen anderen Weg, der mehr ins private Auslandsgeschäft führte. Sie war bald auch selbst, wie der Lloyd, mit Niederlassungen in Konstantinopel, Smyrna und anderen Plätzen des östlichen Mittelmeers vertreten und pflegte eine enge Zusammenarbeit mit privaten Banken. Ferner liefen von Triest aus auch vom dortigen jüdischen Bankhaus Parente, selbst Gesellschafter des Lloyd, Verbindungen zu den Wiener Rothschilds und dem jüdischen Bankhaus Torlonia in Rom.83 Doch der Lloyd, der mit diesen Privatbanken zusammenarbeitete, wurde dadurch selbst keine Bank, schon gar nicht eine staatliche wie die Seehandlung, und blieb eine davon getrennte private Unternehmung. Auch hat er im Gegensatz zur Seehandlung kaum industrielle oder infrastrukturelle Engagements übernommen, wenn man von seinen Werftgründungen, die ja mit seinem Kerngeschäft eng verbunden waren, einmal absieht. Auch Immobilien, die der Lloyd als eigene Hotelgebäude (z. B. in Ragusa/Dubrovnik) oder als Häuser im Ausland unterhielt, in denen er seine Generalagenturen (z. B. in Konstantinopel) unterbrachte, waren stets eng mit seinem Hauptgeschäftsfeld verbunden und mit dem unternehmerischen Engagement der Seehandlung, vor allem zu Gunsten von Industrie und Gewerbe, nicht zu vergleichen. Diese Homogenität verschaffte dem Lloyd gewissermaßen einen strategischen Geschäftsvorteil der ,inneren Linie‘, d. h. einen durchgehenden Strang gleichförmiger ökonomischer Grundeinheiten. Ein verstärkter etatistischer Zug führte allerdings nach dem Ersten Weltkrieg, nach großen Verlusten der Flotte und schließlich auch der Stadt Triest selbst, zum Ende des Österreichischen Lloyd bzw. zu seinem Erwerb durch die italienische Regierung (jetzt ,Lloyd Triestino‘), die das Unternehmen zeitweise auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg geleitet hat, wobei die ,Staatsnähe‘ nun im Rahmen des italieni81 Vgl. Oskar Stark: Eine versunkene Welt. Die Geschichte des Österreichischen Lloyd. Wien 1959, 18. 82 Ebd. Stark ordnet irrtümlich diesen großen, 1908 mit Zustimmung der Wiener Regierung und mit den Schiffen des Lloyd durchgeführten Transfer nach Kleinasien, bei dem es sich um Anhänger der oppositionellen jungtürkischen Massenbewegung handelte, dem Jahr 1882 zu. 83 Cova, Die entscheidende Rolle (wie Anm. 12), 169.
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schen Staatssystems viel stärker wurde. Diese spätere Phase der Entwicklung des ,Lloyd Triestino‘, also die Zeit des italienischen Besitzes, bleibt hier jedoch, wo es nur um den ,Lloyd Austriaco‘ bis 1918 geht, ausgeblendet. Sie wäre Gegenstand eines neuen Themas. Doch zunächst nochmals kurz zurück zur Situation der 1840er-/50er-Jahre: Der Aufstieg Triests und des Österreichischen Lloyd war vor allem die Frucht einer vorausschauenden, gleichsam einlinig orientierten, ja geradezu strategisch-antizipatorischen und konsequenten Seeverkehrspolitik Wiens, die man schon früh als eine geistige Vorwegnahme und materielle Ermöglichung des Suezkanals und einer damit eng verbundenen und auf dieses Ziel hin bezogenen klugen Planung des österreichischen Eisenbahnnetzes in Verbindung mit der Hafenpolitik bezeichnen kann. Triest schien als Schnittpunkt von Eisenbahn- und Seeverkehr geradezu eine ideale geoökonomische Weichenstellung, die von Bruck und seinen Mitwirkenden in der Regierung schon früh als besondere Möglichkeit erkannt wurde. Man setzte sozusagen alles auf diese Karte. Es war aber vor allem der österreichische Ingenieur Alois (gen. Luigi) Negrelli (1799 – 1858), der Erbauer der Nordbahn, der auch in der Schweiz wichtige Straßen gebaut und schon 1842 energisch für Karl von Ghegas Entwurf einer für Triest sehr wichtigen Eisenbahnverbindung über den Semmering und über Graz hinaus nach Süden (mit bis dahin ungewohnt steilen Steigungen und engen Kurven) bis zur Hafenstadt selbst eingetreten war und der nun engagiert diese Fortführung forderte.84 Daraus ergab sich eine Planungslinie, die schon 1848 von der Regierung angenommen und bis 1854 im ersten Abschnitt gebaut wurde. Dann zog sich der österreichische Staat allerdings zeitweise wieder als Unternehmer vom Eisenbahnbau zurück und überließ das Feld privaten Bahngesellschaften. Doch ergab sich durch die staatlichen Eisenbahnpläne zweifellos indirekt auch eine größere Staatsnähe des maritimen Lloyd-Ausbauprojekts für Triest, bei dessen Finanzierung der Staat selbst allerdings, im Unterschied zu den Eisenbahnvorhaben, zunächst ganz abseits blieb. Das Interesse des österreichischen Staates und erst recht sein Engagement beim Lloyd haben sich erst ganz allmählich und auch nur begrenzt entwickelt, wobei die Trennung zwischen Staatsnähe und Staatsferne dann etwas schwieriger zu bestimmen war. Das erwies sich z. T. auch als eine Folge der österreichischen Schutzzollpolitik, die mit Brucks Mitteleuropa-Konzept zusammenhing. Die überseeischen und eigentlich eher freihändlerischen Handelsinteressen des Österreichischen Lloyd, auch wenn er selbst kaum Handel trieb, differierten von dieser gouvernementalen Schutzzollpolitik, was in den Planungen z. T. zu Reibungen führte.
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Vgl. Alois Negrelli: Die Eisenbahnen mit Anwendung der gewöhnlichen Dampfwägen als bewegende Kraft über Anhöhen und Wasserscheiden sind ausführbar. Wien 1842. Zu Ghegas Projekt für die Semmeringbahn vgl. Reinhard Keimel: Carl Ritter von Ghega. In: Walter Pollak (Hg.): Tausend Jahre Österreich. Eine biographische Chronik, Bd. 2, Wien/ München 1973, 137 – 140, hier 139.
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Das machte sich auch bei dem von Wien aus schon früh betriebenen Kanalprojekt in Ägypten bemerkbar, dessentwegen der Lloyd eigentlich eher am Freihandel als an Schutzzöllen interessiert sein musste. Dieses Hindernis wurde z. T. aber durch die für Triest wichtigen niedrigen Transitzölle wieder ausgeglichen. Und das hat die österreichische Planung für einen Kanal am Isthmus östlich des Nildeltas zusätzlich beschleunigt; denn hier boten sich für die Hafenstadt enorme Chancen, da Triest, wenn erst die Eisenbahnlinie fertiggestellt war, über direktere Zugverbindungen nach Holland und England und über kürzere Seewege als fast alle anderen großen Seehäfen des Mittelmeers verfügen konnte. Allein schon der Seeweg von Gibraltar bis Suez war mehr als eineinhalbmal so lang wie der Weg von Triest nach Ägypten, ganz zu schweigen vom zusätzlichen Schiffsweg von Nordwesteuropa bis Gibraltar. Die scheinbare Randlage Triests wurde daher durch den Eisenbahnanschluss, der dem Hafen und dem Lloyd weiteres Wachstum brachte, mehr als wettgemacht.85 Es kam nun für Triest und die Wiener Regierung alles darauf an, den Kanal bald zu verwirklichen. Die Ende der 1830er Jahre von dem Franzosen Barthélémy P. Enfantin in Ägypten bei Arbeiten an der Nil-Regulierung erwogenen ersten versuchsweisen Entwürfe zu einer Wasserstraße durch die Landenge von Suez hatten erst 1846 zur Gründung der „Internationalen Studiengesellschaft für die Durchstechung des Landstreifens“ geführt. Alois Negrelli, seit 1855 Generalinspektor der österreichischen Staatseisenbahnen, wurde im Auftrag der Pforte vom Wali von Ägypten zum Generalinspektor für alle Kanalarbeiten ernannt. Erst nach Negrellis Tod am 1. Oktober 1858 wurden dann diese Pläne von Ferdinand de Lesseps, nicht ganz ohne List gegenüber Pasquale Revoltella und der Witwe Negrellis, von denen er die Übergabe wichtiger Papiere erbat, übernommen und die Arbeiten auf dieser Grundlage fortgeführt.86 Das ,geistige Urheberrecht‘ des so und nicht anders geplanten Kanals lag also eigentlich auf österreichischer Seite, ohne dass Lesseps dies je anerkannt hätte. In Wien und Triest ging man sofort an die letzten Planungen und den Bau der vom Semmering und von Graz zum Hafen führenden Triester Eisenbahnanschlüsse, um die Suez-Fahrt schon im Vorfeld rechtzeitig logistisch vorzubereiten. Die Wiener Regierung hatte also nach 1848 die neuen maritimen Möglichkeiten früh erkannt, die sich mit einer Durchstechung der Landenge von Suez nicht nur für die Mittelmeerschifffahrt, sondern auch für den hinführenden Eisenbahnanschluss von Nordwesteuropa über Graz nach Triest ergaben. Österreich nutzte dabei diesen strategischen 85
Zur geschichtlichen Linienführung der österreichischen Eisenbahnen vgl. auch Josef Breu (Hg.): Atlas der Donauländer. Wien 1989, Bd. 1, Karte 353 und Historische Entwicklung des Bahnnetzes 1: 1 000 000, Atlas der Republik Österreich, ed. Österreichische Akademie der Wissenschaft, redegit H. Bobek: Tab. X/3, Wien 1963. 86 Alfred Birk: Alois von Negrelli. 2 Bde., Wien 1915 – 1925 und, nicht ohne Grund, etwas enthusiastischer: Walter Paul Kirsch: Luigi [sic! K.D.] Negrelli. Ein Genie, seine Zeit, sein Leben und sein Wirken. Der Schöpfer des Suez-Kanals. München 1971, 192 ff. Vgl. auch Reinhard Keimel: Alois Negrelli. In: Walter Pollak (Hg.): Tausend Jahre (wie Anm. 81), 133 – 136.
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Vorteil. Vieles hing von einem schon im Vorfeld der Kanaleröffnung klar geregelten Start ab. Auch die bis dahin nachteilige mediterrane Randlage Ägyptens wurde in diesen Planspielen durch den neuen Kanal in eine globale und zentrale Durchgangslage verwandelt. Das brachte, wie Karl Ludwig von Bruck und Alois Negrelli erkannt hatten, für den Österreichischen Lloyd einen doppelten Vorteil: Die neue Süd-Eisenbahnlinie nach Triest von 1867 garantierte nicht nur ein wachsendes Passagier- und Frachtaufkommen für den Hafen und eine leichtere Zufuhr von Erz und Stahl von Leoben/ Donawitz für die wachsendeTriester Werftindustrie, sondern ebenso gewann auch der Personenverkehr jetzt durch die über den Semmering laufende und fortgeführte neue Fähr- und Eisenbahnverbindung Harwich-Vlissingen-Triest von England her eine erhebliche Beschleunigung und schnell wachsende Bedeutung. Bahnanschluss und Hafenausbau waren also nach den Plänen Brucks und Negrellis in Triest im Hinblick auf die Fertigstellung des Suez-Kanals ,just in time‘ vollendet worden. Doch haben beide diese Fertigstellung nicht mehr erlebt. Pasquale Revoltella, zugleich auch einer der Finanziers des Suezkanals, konnte jedoch vorher noch 1861/62 eine ausgedehnte Erkundungsreise ins Land am Nil unternehmen und die Bedingungen und Fortschritte des ganzen Projekts an Ort und Stelle studieren.87 Fürst Schwarzenberg und Bruck sahen also schon zwanzig Jahre zuvor, wenn sie ihre zollpolitische Mitteleuropaidee auch der preußischen Regierung schmackhaft machen wollten, mit einem gewissen Recht den Österreichischen Lloyd, auch wenn er ein privates Großunternehmen war, als ein Ass der österreichischen Wirtschaftspolitik an, das zusammen mit einem darauf abgestimmten Eisenbahnnetz und einer ostwärts strebenden österreichischen Donaudampfschifffahrt selbst dem preußisch-deutschen Zollverein noch einen neuen attraktiven Handlungsraum offerieren konnte. Die k. u. k. Monarchie wäre um dieses Zieles willen wohl auch zu einer teilweisen Abkehr von ihren Prohibitiv- und Protektionszöllen bereit gewesen. Vielleicht hätte darin, wie noch kürzlich Thomas J. Hagen darzulegen versucht hat, sogar eine Alternative zu Rudolf von Delbrücks neuer Zollvereinskonzeption von 1862 liegen können.88 Der Wert des Lloyd nahm in den folgenden Jahren jedenfalls auch für den Deutschen Zollverein noch eher zu. Bismarck scheint das schon vor seiner eigenen Abkehr vom Schutzzoll wahrgenommen zu haben, denn er schrieb damals, der Zollverein sei „offenbar nur haltbar mit Staaten von „untrennbaren Bedürfnissen und vertragsmäßig verbürgter Gemeinsamkeit der Politik“.89 Dies schien seine Strategie 87 Zu seiner auf Französisch verfassten, auch kulturgeschichtlich angelegten Ägyptenreise, die 1962 nochmals erschien, s. die Rezension von G. Cervani: Il „Voyage en Egypte“ (1861 – 1862) di Pasquale Revoltella, Trieste 1962. In: Anzeiger für die Altertumswissenschaft 45, Wien 1992, 300 f. 88 Thomas J. Hagen: Wirtschaftspolitische Bestrebungen Österreichs nach 1848. Alternative zum (Klein-) Deutschen Zollverein? In: Hans-Werner Hahn/Marko Kreutzmann (Hgg.): Der Deutsche Zollverein (wie Anm. 20), 255 – 281. 89 Vgl. Die auswärtige Politik Preußens 1857 – 1871. Diplomatische Aktenstücke. Oldenburg 1932, 2. Abteilung, Bd. 8, 277.
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zu bestimmen, als er schon vor 1879 die Hinwendung zum Schutzzoll als eine Möglichkeit der politischen und wirtschaftlichen Annäherung an Österreich-Ungarn ansah und den Zollverein zu modifizieren wünschte, um den Zweibund ökonomisch zu ermöglichen und zu festigen. Emil (von) Burchard (1836 – 1901), der schon als Direktor des neugegründeten Reichsschatzamts vor 1879 für Schutzzölle eingetreten war, hat diese Politik Bismarcks gegenüber Wien auch noch als neuer Präsident der Seehandlung 1887 entschieden vertreten.90 Die Expansion des Lloyd führte allerdings seit den 1890er Jahren wegen hoher Investitions- und Erneuerungskosten auch zu sozialen Verwerfungen, die besonders die Triestiner Schiffbauindustrie trafen und 1902 sogar einen Aufstand von fast 10.000 Hafen- und Werftarbeitern verursachten. Er wurde mit staatlicher Gewalt niedergeworfen, führte aber zu einigen sozialen Verbesserungen für die Belegschaft der Reederei. Der Sitz der Hauptverwaltung des Lloyd wurde jedoch 1906 nach Wien verlegt, bald darauf 1909 die Werft vom Hauptunternehmen abgetrennt, was beides als eine Zäsur gesehen werden kann. Die Frage, wieweit diese Verlagerung der Zentrale nach Wien außer auf die oben genannten Erwägungen auch auf eine geopolitische und technische Annäherung an den deutschen bzw. preußischen Partner zielte, kann hier leider nicht weiter untersucht werden, wäre aber eine interessante Frage für fernere Untersuchungen. Dabei wäre auch das Verhältnis des Österreichischen Lloyd zur Ersten Donau-Dampfschifffahrts-Gesellschaft (DDSG) von Interesse. Es sei nur erwähnt, dass schon lange vor der Verlagerung der Hauptverwaltung des Lloyd nach Wien immer wieder österreichische Pläne zum Bau eines Donau-Oder-Schifffahrtsweges zur Ostsee erwogen wurden. Sie sollten sowohl der 1829 gegründeten DDSG eine Verbindung nach Stettin als auch der DDSG und dem Lloyd durch diesen Kanal eine bessere Nutzung der See-Umschlaghäfen an der Donaumündung (Galatz und Braila) mit Zugang zur Schwarzmeerfahrt des Lloyd verschaffen. Besonders seit den 1890er-Jahren wurde dieses Donau-Oder-Kanalprojekt, für das ein Weg über den Donau-Nebenfluss March, in Stufen ansteigend über die Mährische Pforte, zum Oberlauf der Oder (Cosel) führen sollte, von Wien aus konkret geplant. Sogar erste Bauabschnitte wurden fertiggestellt. Aber es wurde von deutscher (preußischer) Seite nicht gefördert, auch nicht von der Preußischen Seehandlung, und fand keine Realisierung. Wieweit ein solches Vorhaben auch für die Montanindustrie Oberschlesiens vorteilhaft hätte sein können, wurde preußischerseits nicht erwogen. Den zeitweisen Schwierigkeiten des Österreichischen Lloyd seit den 1890er Jahren stand aber ein Pluspunkt gegenüber: Der 1893 fertiggestellte Schiffskanal durch den Isthmus von Korinth war fast ausschließlich ein Vorteil für den Lloyd, der sich hier seine Fahrt um die Peloponnes ganz sparen und von der Straße von Otranto aus kurz und direkt den neuen Weg optimal nutzen konnte. Und was besonders die SuezLinie des Lloyd betraf, so nahmen vor allem die nicht wenigen englischen Touristen und die nach Indien reisenden britischen Kolonialbeamten diese attraktiven Möglichkeiten einer verkürzten Schiffsreise gern wahr, indem sie von Hoek van Holland 90
Lotte Knabe: „Emil von Burchard“. In: NDB 3 (1957), 31.
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aus mit der neuen Bahnverbindung direkt nach Triest fuhren und dort das Schiff nach Suez bestiegen. Der österreichisch-ungarische Staat, der die neuen Rahmenbedingungen wesentlich mit geschaffen hatte, beeinflusste die operative Geschäftsführung der Reederei jedoch nur sehr mittelbar. Wohl ergaben sich nach 1867 zeitweise Spannungen mit Ungarn wegen der Konkurrenz zum benachbarten Hafen Rijeka (Fiume), der zur ungarischen Reichshälfte gehörte. Auch genoss die dortige ungarische Gesellschaft Adria ab 1891 durch ein vom Staat herbeigeführtes Abkommen einen gewissen Schutz vor der Konkurrenz des Österreichischen Lloyd. Aber Passagiere und Spediteure entschieden meist ganz anders. Zwischen 1860, 1889 und 1913 stieg der Hafenumschlag in der aufblühenden Stadt von 635.000 t über 1.248.000 t auf 3.440.729 t.91 Dabei wuchsen die Schiffsgrößen in immer neue Dimensionen, die der alten Preußischen Seehandlung noch gänzlich unbekannt geblieben waren. Insgesamt wurden zwischen 1837 und 1914 mit bis dahin insgesamt 220 Dampfern des Lloyd schon 37,3 Mio. t Waren umgeschlagen und 21,5 Mio. Passagiere befördert. Die Schiffstonnage der Gesellschaft stieg in der Zeit von 1848 von 24 Dampfern mit einer Tonnage von insgesamt 9.782 t auf 65 Dampfer mit insgesamt 235.000 Bruttoregistertonnen im Jahre 191492 und machte damit immerhin noch 47 v.H. der Tonnage des inzwischen rasant gewachsenen Norddeutschen Lloyd in Bremen aus, der zusammen mit der Hamburger HAPAG inzwischen zur wichtigsten Exportreederei der preußisch-deutschen Wirtschaft um 1910 geworden war. Im Jahre 1900 wurde dann im Süden Triests noch ein neuer Hafen fertiggestellt. Allerdings war 1891 – nicht zuletzt wegen einer starken nationalistischen Agitation und Forderungen Italiens für den Hafen Venedig – der Freihafen Triest aufgehoben worden. Das hat die positive Entwicklung Triests und vor allem des Lloyd aber nicht sehr gestört, da der Lloyd selbst keinen Handel trieb und dieser Freihafen nun in einer Zeit reduzierter deutsch-österreichischer Zolldifferenzen kaum mehr vermisst wurde. Die deutsch-österreichischen Zollunterschiede waren schon vor dem Ersten Weltkrieg so weit eingeebnet, dass Friedrich Naumann 1914/15 auch von deutscher Seite den Gedanken einer Mitteleuropäischen Wirtschaftsgemeinschaft neu aufgreifen konnte. Sie hätte auch dem Deutschen Reich, aber nicht zuletzt dem Österreichischen Lloyd und der Ersten Donaudampfschifffahrt-Gesellschaft schon früher von großem Nutzen sein können. Der Lloyd war zu dieser Zeit längst die größte Schifffahrtsgesellschaft des Mittelmeers geworden und, bei aller Konkurrenz mit der kleineren ungarischen Gesellschaft ,Adria‘, die beherrschende logistische Unternehmung. Schon bei der Eröffnung des Suezkanals am 16. November 1869 kam diese Stellung auch darin zum Ausdruck, dass die Einladung noch an den betagten Mitinitiator der Gründung des 91
Henry Paolucci, in: Encyclopedia Americana, vol. 27, New York 1973, p. 102, nach: Giorgio Valucci, Trieste alla scoperta dell’Africa Nuova, vol. 9 no. 50, Trieste 1962, pp. 6 – 8. 92 http://de.wikipedia.org/wiki/%C3 %96sterreichischer_Lloyd (Zugriff: 15. 02. 2012). Guter Überblick, wenn auch auf relativ schmaler Literaturbasis.
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Lloyd, Pasquale Revoltella, erging, der auch in der Gesellschaft der Compagnie Universelle du Canal maritime de Suez Vizepräsident war.93 Ein Privileg wurde aber auch darin erkennbar, dass im ersten Schiffskonvoi Kaiser Franz Joseph I. und die Lloyd-Dampfer Pluto, Vulkan und Amerika, gleich nach der französischen Kaiserin Eugénie mit ihrem Schiff, den Kanal durchfahren durften. Diese Eröffnung war der Beginn einer jahrzehntelangen erfolgreichen Linienschifffahrt des Österreichischen Lloyd, die bald schon in 3 Tagen von Triest nach Suez führte und mit Schnelldampfern innerhalb von 2 Wochen Bombay (ab 1870) und Colombo auf Ceylon, innerhalb von 3 Wochen Singapur, Hongkong (alle Strecken ab 1880) oder innerhalb von weniger als 4 Wochen Nagasaki und Yokohama (beide ab 1892) erreichen konnte. Die Fahrtzeiten wurden durch den technischen Fortschritt immer kürzer. Selbst für die Amerika-Fahrt hatten sich durch den Suez-Kanal die Verhältnisse zum Vorteil des Lloyd verändert, denn von Kalkutta an der Nordostküste Indiens war eine Fahrt durch den Indischen Ozean, den Suez-Kanal und das „hauseigene“ Mittelmeer bis zur Ostküste der USA immer noch kürzer als bei einer Fahrt Kalkutta-Singapur-Manila-Pazifik bis zur amerikanischen Westküste. Hinzu kamen nach 1895, als ein Tochterunternehmen gegründet wurde, weitere Möglichkeiten des Lloyd, eine direkte Verbindung von Triest speziell nach den Vereinigten Staaten zu schaffen. III. Resümee Was besagt nun insgesamt die unterschiedliche Entwicklung der Preußischen Seehandlung und des Österreichischen Lloyd für einen die Epochen übergreifenden Vergleich beider Unternehmen und für die in ihnen oder ihnen gegenüber zum Ausdruck kommende Haltung des Staats, also für Staatsnähe oder Staatsferne? Wieweit kann man diese beiden Unternehmen überhaupt vergleichen? Und wenn ja: was lässt ein solcher Vergleich erkennen? Ein vorläufiges Fazit sei versucht: Indem die staatliche Preußische Seehandlung sich nach etwa fünfundsechzig Jahren ihres Bestehens mehr und mehr aus dem maritimen Handels- und Logistikgeschäft zurückzog, hat sie in Emden und außerhalb Preußens in den Hansestädten Hamburg und Bremen sowie in den preußischen Ostseehäfen den Seehandel allmählich ganz den privaten Reedereien, Werftbesitzern und Überseekaufleuten überlassen, wie es das liberale Bürgertum gefordert hatte. Eine staatliche Übersee-Handelsflotte hatte schon Friedrich der Große nur sehr begrenzt angestrebt, da er es für wenig aussichtsvoll hielt, hier mit den westlichen Seemächten konkurrieren zu können. Das hatten seine Erfahrungen mit der Asiatischen Companie in Emden (gegr. 1745) schon in den Jahren 1751 bis 1756 gezeigt.94 Dabei brachte auch der 1751 in Emden eingerichtete Freihafen keine wesentlichen Verbes93 Revoltella war allerdings kurz vor der Eröffnung des Kanals am 9. September 1869 in Triest verstorben. 94 Vgl. Philipp R. Rössner: Das friderizianische Wirtschaftsleben – eine moderne Ökonomie? – In: Bernd Sösemann/Gregor Vogt-Spira (Hgg.): Friedrich der Große in Europa. Geschichte einer wechselvollen Beziehung Bd. I, Stuttgart 2012, 395 – 410, hier 400.
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serungen. Und auch der 1763 gegründeten Levantinischen Handelscompagnie Preußens war kein großer Erfolg beschieden gewesen. Aber auch auf österreichischer Seite hatte gegenüber der britischen Seeherrschaft der Ausbau des Hafens Ostende unter Karl VI. keinen Erfolg gebracht. Selbst die spätere bürgerlich-private, in den neuen preußischen Rheinlanden vom Elberfelder Kaufmann Jakob Aders gegründete Rheinisch-Westindische Handelskompanie der 1820er Jahre gelangte über die älteren Versuche der friderizianischen Zeit nicht hinaus und fand bald wieder ein Ende.95 Wieweit dabei anfänglich das auffallende Fehlen von Freihäfen in Preußen ein Grund für die wenig erfolgreichen Seeunternehmungen dieses Staates war, ist schwer zu sagen. Das Beispiel Emden kann nicht als positiver Beweis angesehen werden. Eher schon ist m. E. das noch nicht so ausgeprägte Seeversicherungswesen in Preußen mit der nicht weiter entwickelten Assekuranz-Kammer von 1765 als Ursache für einen schwächeren Start der frühen Seehandlung mit in Rechnung zu stellen. Die staatliche Seehandlung hatte zunächst anscheinend keine Probleme damit, die Schiffsrisiken selbst zu tragen. Die damaligen geringen Schiffsgrößen ließen das gerade noch zu. Allerdings zeigt das Triester Beispiel, dass Versicherungsunternehmen nicht nur für die Risikodeckung, sondern auch für die Gründung, die private Kapitalbeschaffung und Investitionspläne des Lloyd eine wichtige Rolle gespielt haben. Fest steht auch, dass die frühen österreichischen Freihäfen in Triest (1719) und dann auch in Rijeka (1723) der Adriaflotte des Habsburgerreiches in dieser Phase fruchtbare Möglichkeiten gebracht haben. Und für die spätere Zeit zeigt sich auch für die deutsche Entwicklung, dass die Freihafenzone in Bremerhaven (1827) und der späte Freihafen in Hamburg (1888) wichtige Vorteile bringen konnten. In Hamburg wurde das aber erst durch den Beitritt dieser Hansestadt zum preußisch-deutschen Zollverein und durch das preußische Zugeständnis für den Bau des Nord-Ostsee-Kanals möglich. Zu dieser Zeit hatte die Seehandlung aber eigentlich schon nichts mehr mit dem Wasser zu tun und war stattdessen sozusagen ein ,topliner‘ nicht der Seefahrt, sondern des Kreditgeschäfts geworden, der allerdings im Unterschied zum Österreichischen Lloyd noch immer eine beträchtliche ,Ladung‘ Industriebesitz mit sich führte, die er so schnell nicht hatte auflösen können oder wollen. Die preußische Handelsflotte blieb bis zum letzten Regierungsjahrzehnt Wilhelms I. noch eine relativ unbedeutende Größe, weil die Schifffahrt über Havel und Elbe nach Hamburg nur mit Schiffen mittlerer Größenklasse möglich war. Allenfalls konnte noch am ehesten in der Ostsee von einer stärkeren Präsenz der preußischen Flotte gesprochen werden. Die dänischen Sundzölle blieben aber weiterhin ein großes Hindernis. Diese Lage verbesserte sich für Preußen erst spät durch die Fertigstellung des Nord-Ostsee-Kanals 1895 und durch die damit geschaffene Umgehung Dänemarks und der Sundzölle sowie nicht zuletzt durch die Errichtung der TH Danzig 1904 und ihrer großen Schiffbaufakultät, aber auch durch den Ausbau der großen Ostseewerften (u. a. durch Schichau in Elbing und Danzig, später auch 95 Hans-Joachim Oehm: Die rheinisch-westindische Kompanie. (Diss. Köln 1967). Neustadt an der Aisch 1968.
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in Königsberg, sowie die AG Vulcan und die Oderwerke in Stettin) und den neuen und modernen Stettiner Hafen von 1900 – alles Lieblingsprojekte Wilhelms II. Was für den großen Aufschwung Triests und des Österreichischen Lloyd die Eröffnung des Suez-Kanals war, war für die preußische Handelsflotte, die nun aber ohne die Seehandlung agierte, die Fertigstellung des Nord-Ostsee-Kanals und die Aufwärtsentwicklung in den folgenden Jahren. Erst jetzt, im Jahre 1900 in Stettin, glaubte Wilhelm II. bei der Eröffnung des neuen Hafens sagen zu können: „Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser.“ Dass sich dies in der späteren Krise des Weltkriegs als ein Irrtum erweisen würde, stand auf einem anderen Blatt. Die Handelsflotten-Initiative war aber inzwischen von Preußen auf die hanseatischen Reedereien im Norden und mehr und mehr auf die beiden führenden Hansestädte an der Nordsee übergegangen, von denen Hamburg jedoch bis 1888 noch gar nicht zum Deutschen Zollverein gehörte und bis dahin seine eigene Handels- und Überseepolitik betrieben hat. Eine österreichische Konkurrenz erwuchs den norddeutschen Reedereien z. T. erst 1895 durch die Gründung eines zweiten großen privaten österreichischen Schifffahrtunternehmens in Triest, der ,Austro-Americana‘ des Speditionsunternehmers Gottfried Schenker, die den Schiffsverkehr mit Nord- und Südamerika aufnahm bzw. ihn, anknüpfend an die ältere österreichische Tradition privater Eigner fortsetzte, die mehr als achtzig Jahre zuvor von der Reederei der jüdischen Familie Minerbi begründet worden war. Es handelte sich also auch hier wieder um eine bürgerliche österreichische Gründung. Die Flotte des Lloyd erreichte bis 1914 ein jährliches Transportvolumen von über 1.100.000 t. bzw. eine Schiffstonnage von 237.036 t.96, gegenüber einer Tonnage der ebenfalls privaten ,Austro-Americana‘ von 144.704 t. Beide privaten österreichischen Gesellschaften erhielten allerdings aus Wien für spezifizierte Zwecke staatliche Zuschüsse, zuletzt 1913 der Österreichische Lloyd 10 Mio. Kronen, die ,AustroAmericana‘ 1,5 Mio. – dies vor allem zum Zwecke der Aufrechterhaltung von Seeverbindungen nach Südamerika, die die Wiener Regierung für politisch wichtig hielt. Das Gros der vom Österreichischen Lloyd beförderten Personen und Güter ermöglichte dieser privaten Gesellschaft aber – unabhängig von Staatssubsidien – einen immer noch profitablen Erlös. Das war ein wichtiger Unterschied zur staatlichen Preußischen Seehandlung von 1772, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihr Reedereigeschäft wegen mangelnder Erträge und wegen Forderungen des handeltreibenden Bürgertums ,zurückfuhr‘ und nun, nach Überwindung einer Krise, durch einen neuen Unternehmenszweck eine bessere Rendite als Staatsbank fand. Doch konnte diese ,neue‘ Seehandlung als Großbank schon sehr helfen, in der Phase der Industrialisierung, aber auch bei ökonomischen Krisen, den enormen Kapitalbedarf der privaten Wirtschaft und des Staates zu einem beträchtlichen Teil zu decken. Das verschaffte Preußen seit der zweiten Hälfte der 1850er Jahre eine wachsende Kapitalstärke, mit der man bei den fernen Kalkulationen Friedrichs des Großen ursprüng96 Vgl. Herbert Matis: Das Haus Schenker, Bd. 1: 1872 – 1931. Wien 1995, 60 ff. und Oskar Stark, Eine versunkene Welt (wie Anm. 78), 145.
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lich nicht gerechnet hatte und die als neues Arkanum auch den Historikern erst relativ spät für ihre Interpretationen der preußischen Politik und deren Möglichkeiten bewusst geworden ist. Die Stabilität Preußens in der internationalen Finanzkrise von 1857 war zum großen Teil der Seehandlung und der neuen Disconto-Gesellschaft, dann auch dem Preußenkonsortium von 1866 zuzuschreiben. Das Fazit, das der Vergleich mit der österreichischen Entwicklung ergibt, würde daher m. E. lauten können: So wie die Großmachtstellung Preußens ohne die enorme Kapitalkraft der Seehandlung als staatliche Anleihe- und Konsortialbank und als Finanzinstitut seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum vorstellbar gewesen wäre, so scheint die neue maritime Stärke der alten ,Landmacht‘ Österreich-Ungarn ohne den Österreichischen Lloyd und seinen exorbitanten Aufstieg, besonders seit der Eröffnung des Suez-Kanals 1869, ebenfalls kaum denkbar. Beide Mächte waren vorübergehend zu Seemächten geworden, wobei die Preußische Seehandlung aber, die ja später selbst kein Betreiber einer Flotte mehr war, durch ihren ‘Landgang‘ einen größeren Wandlungsprozess durchlaufen hat als der Österreichische Lloyd, der stets bei seinem Kerngeschäft geblieben ist. Es waren hier inzwischen zwei ganz verschiedene Formen der modernen Außenwirtschaft und des Zollsystems mit sehr unterschiedlichen Beziehungen zum Staat entstanden. Das Ende des Ersten Weltkriegs hat aber dann dem ,staatsfernen‘ Österreichischen Lloyd ein unerwartet schnelles Ende bereitet, während die Preußische Staatsbank (Seehandlung) erst später, bald nach der Auflösung des Staates Preußen 1947, liquidiert wurde, was sich jedoch wegen ihres teilweise noch immer – und nach der Krise von 1873 verstärkt vorhandenen – Industriebesitzes und dessen notwendiger Privatisierung als eine langwierige und schwierige Aufgabe erwies. Ein wichtiger Besitzstand konnte dadurch zwar gerettet werden, jedoch um den „Preis“ einer Privatisierung, die nun auch die Seehandlung in Staatsferne rückte. Der Österreichische Lloyd dagegen, der sich seit den 1890er-Jahren im Besitz der 1870 gegründeten Wiener Union-Bank befand, die die Versicherungen zum Teil als Eigner ablöste, wurde, nachdem am 28. November 1918 sein Verwaltungsrat kriegsbedingt die Ämter niedergelegt hatte, durch Intervention der italienischen Regierung mittels eines Regierungskommissars von der Banca Commerciale Italiana gegen einen Preis von 1.000 Lire pro Aktie gekauft, damit also jetzt zu einem ,halbstaatlichen‘ Unternehmen – nun unter dem Namen ,Lloyd Triestino‘.97 Damit war der Österreichische Lloyd ans Ende seiner faszinierenden kosmopolitischen Geschichte gekommen. Seine Schiffe waren teils durch kriegerische Kampfeinwirkungen, teils durch Beschlagnahmungen in den noch zuletzt angelaufenen ausländischen Häfen verlorengegangen. Der Eildampfer „Baron Gautsch“ war gleich am 13. August 1914 bei den Brionischen Inseln auf eine Mine gelaufen, wobei mehr als 200 Passagiere den Tod fanden, das Großschiff „Linz“ sank am 19. März 1918, wobei von fast 3.000 Menschen nur 291 überlebten, und der Lloyddampfer „Bregenz“ wurde am 13. Mai 1918 bei Durazzo durch zwei feindliche Torpedoboote versenkt, als von 1.203 Passagieren 97
Oskar Stark, Eine versunkene Welt (wie Anm. 69), 152 f.
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234 Personen ihr Leben verloren. Das waren herbe Verluste an Menschenleben und Material. Der zuvor erlebte Aufschwung der Gesellschaft erwies sich letztlich als fragil, weil sie als privates Unternehmen nicht mit dem Kriegsfall und der militärischen Gefährdung des Lloyd am neuralgischen Ausgang der Adria oder anderswo gerechnet hatte. Der Lloyd Triestino lebte allerdings als italienisches Staatsunternehmen fort (heute: Italia Marittima). Der Industriebesitz der Preußischen Staatsbank (Seehandlung) stellte dagegen auch nach beiden Weltkriegen noch einen beträchtlichen Kapitalwert dar. Die Seehandlung hat also den auf der Verlustliste von 1918 stehenden Österreichischen Lloyd zunächst überlebt und konnte noch 1922, nun freilich innerhalb einer republikanischen Staatsform, aber immer noch in preußischem Staatsbesitz, das 150. Jahr ihres Bestehens begehen. Erst im 175. Jahr ihrer Existenz ereilte auch sie 1947 das Ende. Es war aber ein etwas ungleicher Ausgang, denn wenn auch die beiden alten Wirtschaftsunternehmen ihre Tätigkeit beendet hatten, so hat doch immerhin der eine der beiden Staaten, an dem nach 1919 Staatsferne oder Staatsnähe der Unternehmen gemessen werden konnte, 1955 weiter überlebt, was man vom preußischen Staat nicht sagen konnte. Dessen hinterlassene wirtschaftliche ,Erbmasse‘ war allerdings ungleich größer als die des Lloyd und überlebte zum Teil durch Privatisierung, war also nun ein staatsferner Besitz geworden. Dabei muss die Überführung in privaten Besitz selbst als ein beträchtlicher organisatorischer und administrativer Erfolg der ursprünglich staatlichen Unternehmensleitungen gewertet werden.
Preußens Untergang und Österreichs Überleben Von Thomas Stamm-Kuhlmann, Greifswald Einleitung Das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem ist ein wunderbarer Tagungsort für Historiker. Doch verbinden sich mit seinem Namen Merkwürdigkeiten, die uns zu unserem Thema führen. „Geheimes Staatsarchiv“ klingt so, als hätten wir es mit einem Staat zu tun, dessen Regierungsarkana noch vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen werden müssten. Das geschieht in der Regel nur von Staaten, die sich noch im Staatensystem behaupten müssen. Die Akten untergegangener Staaten dagegen sind frei zugänglich, wie alle DDR-Forscher wissen. Dass auch die Akten im Geheimen Staatsarchiv in Dahlem nicht wirklich geheim sind, lässt uns der Zusatz „Preußischer Kulturbesitz“ erahnen. So spricht ein lebender Staat nicht von sich. Und tatsächlich sind die Archivalien der preußischen Monarchie einschließlich des angeschlossenen Brandenburg-Preußischen Hausarchivs seit der Revolution von 1918 ohne Auflagen für die Forschung benutzbar. Kommt man dagegen nach Wien, sehen die Dinge anders aus. Da gibt es ein Haus-, Hof- und Staatsarchiv, was für eine Republik auch seltsam klingt, aber dieses HHStA ist inkorporiert in einer größeren Behörde, die mit Gesetz vom 28. Juli 1945 als Österreichisches Staatsarchiv und nachgeordnete Dienststelle des Bundeskanzleramtes errichtet wurde. Wer früher einmal am alten Dienstsitz des HHStA geforscht hat, wusste, welche Aura einen am Minoritenplatz umwehte, denn man war ja gewärtig, dass das Archiv sich Wand an Wand mit jenem Bundeskanzleramt befand, in dem einst Metternich als Staatskanzler amtiert hatte und inzwischen für lange Zeit Sozialisten als Bundeskanzler die Geschäfte lenkten. Dagegen wurde der Amtssitz des sozialistischen Preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun, Wilhelmstraße 54, ehemals 64, im Jahre 1934 zum Dienstsitz des Stellvertreters des Führers Rudolf Hess und beherbergt heute das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.1 Das ehemalige preußische Außenministerium, das mit dem Auswärtigen Amt des neuen Reiches verschmolzen worden war, und der 1875 eingerichtete Dienstsitz des Reichskanzlers sind spurlos verschwunden. An ihrer Stelle in der Wilhelmstraße stehen Plattenbauten mit einem 1 Vgl. die von der Website des BMELV herunterzuladende PDF-Datei: Wilhelmstraße Nr. 54 – Der Berliner Dienstsitz des BMELV. Ein Haus – Mehr als 100 Jahre Geschichte.
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Chinarestaurant. Die deutschen Bundeskanzler aber zogen in ein neu errichtetes, imposantes Betongebäude an der Peripherie des historischen Berlin, das der Volksmund auch „Waschmaschine“ nennt. Am einfachsten klingt der Sachverhalt, wenn wir sagen, dass Österreich heute ein anerkanntes Völkerrechtssubjekt ist, das schon einmal den Generalsekretär der Vereinten Nationen stellen durfte, während wir Preußen heute unter den Mitgliedern der UNO vergeblich suchen. Man könnte auch sagen: Hier sind Erfolg und Misserfolg klar zu unterscheiden. Der Weg zu diesem Resultat war jedoch alles andere als geradlinig, und wir gelangen nur auf sehr verschlungenen Wegen zu ihm. I. Wir müssen mindestens bis zum März 1848 zurück. Damals ritt der preußische König mit der schwarz-rot-goldenen Kokarde durch Berlin, während das Reiterdenkmal des Kaisers Joseph II. in Wien mit schwarz-rot-goldenen Fahnen drapiert war. Man stand gewissermaßen gemeinsam auf „Null“. Dann setzte sich unter vielen Schmerzen die „kleindeutsche Lösung“ durch, die erst einmal für das Weiterbestehen Österreichs als eines selbstständigen Staatswesens sorgte. Für Preußen hingegen, so hat mancher Konservative und nicht zuletzt König Wilhelm I. beklagt, bedeutete die Bismarcksche Entscheidung den Anfang vom Ende. Preußen ging zwar zunächst nicht „in Deutschland auf“, wie die Formulierung Friedrich Wilhelms IV. gelautet hatte, doch diskutierte man bereits, dass sich der Charakter der preußischen Monarchie in einem Deutschen Reich verflüchtigen werde. In dem Maße, in dem das Reich zu „verpreußen“ schien, drohte sich die Eigenart Preußens aufzulösen.2 Ich will hier nicht diskutieren, wie weit das im Bereich der Mentalitäten der Fall war, denn hier gelangt man schnell in ideologische Minenfelder. Tatsache war, dass sämtliche Institutionen und staatlichen Gewalten Preußens erhalten blieben und dass rein quantitativ Preußen zu Beginn des 20. Jahrhunderts so groß war wie nie zuvor. Es hatte auch den prunkvollsten und teuersten Hof aufzuweisen, den es je besessen hatte.3 Es war in jenem frühen 20. Jahrhundert, als die Hauptstadt glanzvoll ausgebaut wurde und auch die Pläne zu dem Archivgebäude gemacht wurden, das heute noch genutzt wird. Abgeordnetenhaus und Herrenhaus hatten ebenfalls prächtige Neubauten bekommen.
2 Vgl. die Bedenken Kaiser Wilhelms I. im Brief an Augusta vom 18. Januar 1871. In: Erich Brandenburg (Hg.): Briefe Kaiser Wilhelms I., Leipzig 1911, 254 ff. Für den Historiker Karl Erich Born stellte der „Untergang des alten Preußen“ im neuen Reich eine Tatsache dar, vgl. ders: Preußen im deutschen Kaiserreich 1871 – 1918. In: Wolfgang Neugebauer (Hg.): Handbuch der preußischen Geschichte Bd. III, Berlin/New York 2001, 110. 3 Vgl. John C. G. Röhl: Hof und Hofgesellschaft unter Kaiser Wilhelm II. In: Ders.: Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik. 3. Aufl. München 1988, 78 – 115.
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Leider verloren Preußen und Österreich gemeinsam den nächsten Krieg. Während in Österreich vermutet werden musste, dass ein Zusammenhang zwischen dem Nationalitätenproblem, einer Demokratisierung der Monarchie und dem Zerfall der Herrschaft Österreichs über nicht deutsch sprechende Regionen bestand, ist für Preußen-Deutschland behauptet worden, es habe sich zur Vermeidung weiterer gesellschaftlicher Modernisierung in diesen Krieg gestürzt.4 Als gemeinsamer Kriegsgrund für beide Reiche ließe sich zumindest die Furcht vor Veränderung bezeichnen. Die Versuche, aus den Scherben des verlorenen Krieges zu retten, was zu retten war, hatten einschneidende Folgen. Die Monarchie als Staatsform verschwand auf Nimmerwiedersehen. Österreich wurde auf einen kleinen Nationalstaat um die riesige Hauptstadt Wien herum geschrumpft; viele hielten es nicht mehr für lebensfähig. Preußen dagegen, so plante der Architekt der neuen deutschen Reichsverfassung, der so beziehungsreich Hugo Preuß hieß, sollte ganz zerschlagen werden, also nun tatsächlich, wie schon 1848 versprochen, „in Deutschland aufgehen“. Gehorsam warteten die Preußen mit der Ausarbeitung ihrer neuen republikanischen Verfassung, bis die Reichsverfassung fertig und entschieden wäre, ob es überhaupt noch ein Preußen geben würde, über das man zu befinden hatte.5 Zur Zerschlagung Preußens kam es unter anderem deshalb nicht, weil manche paradoxerweise in diesem preußischen Staat eine Klammer des deutschen Zusammenhalts erblickten. Mit anderen Worten: die Ablösung des linken Rheinufers von Deutschland schien eher zu drohen, wenn Preußen, das die beiden Ufer des Rheins umklammerte, nicht mehr bestünde.6 Tatsächlich hat sich diese Ablösung dann auch abwenden lassen. Die Eigenständigkeit Preußens aber war trotz der stolzen Umbenennung in einen „Freistaat“, die 1920 erfolgte, dauerhaft beschädigt. Es verlor einen wesentlichen Teil seiner Finanzhoheit. Das preußische Staatsoberhaupt war nicht mehr Oberbefehlshaber des deutschen Heeres, sondern diese Funktion fiel einem neugeschaffenen Reichspräsidenten und seinem Reichswehrminister zu. Eine eigenständige preußische Armee gab es nicht mehr. Der Reichspräsident bekam das Recht, eine Armee, für die zeitweise ein württembergischer General – Wilhelm Groener – die Verantwortung trug, notfalls in Preußen einmarschieren zu lassen. Preußen war zweifellos seinem Untergang einen großen Schritt nähergekommen, und das erwies sich nun als eine Spätfolge seines Triumphes, mit dem es sich 1866 – 1871 das Reich unterworfen hatte. Die unitarischen Elemente, die 1871 noch nicht zustande gekommen waren, hatten dem Reich infolge seiner Niederlage eingezogen werden müssen und bedrohten jetzt den Bestand seines größten Gliedstaates. 4 Für Preußen-Deutschland eine klassische Formulierung der These bei Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849 – 1914. München 1995, 1292. 5 So der preußische Innenminister Carl Severing. Vgl. Stenographische Berichte der Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung, 138. Sitzung am 26. April 1920, Sp. 11002 f. 6 Vgl. Henning Köhler: Das Ende Preußens in französischer Sicht, Berlin 1982, 51.
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Eine Bedingung dafür, dass Preußen und Österreich überhaupt weiterleben durften, war es, dass sie ihre Regierungsform änderten und die bislang von der Teilhabe an der Macht ausgeschlossenen Parteien die Macht übernahmen. Nicht erst 1970, mit Bruno Kreisky, zogen Sozialisten in das Bundeskanzleramt am Ballhausplatz ein, sondern schon 1918, mit Karl Renner. Dieser Sozialist war es auch, der wie die meisten seiner Partei das Ende der österreichischen Eigenständigkeit zu seinem Programm gemacht hatte, erstrebte er doch den Anschluss seiner neugeschaffenen Republik zwar nicht an Preußen, wohl aber an eine Deutsche Republik. Allerdings, so meinte Renner im Januar 1919, sei es bedenklich, mit Deutschland eine Gemeinschaft zu schließen, wenn Preußen nicht aufgeteilt werde. Solange alles im Fluss war, hegten aber die Sozialisten nördlich des Inn große Hoffnung, das Jahr 1866 rückgängig machen zu können, wie aus der mit Pathos vorgetragenen Erklärung des Volksbeauftragten Friedrich Ebert vor der verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung in Weimar hervorgeht.7 Am Ende ist dann, auch wegen des zu erwartenden Widerstands aus der Entente, keine österreichische Delegation zur Nationalversammlung nach Weimar gereist.8 So, wie die Sozialisten Österreichs sich eine Stärkung ihrer Position und eine Linderung der ökonomischen Misere ihres geschrumpften Staates durch die Verbindung mit dem ebenfalls von Sozialisten geführten Deutschland erhofften, so sahen britische Planer darin sogar eine Förderung ihrer Ziele. Ausgehend von der Annahme, der Expansionsdrang der Deutschen sei im Preußentum begründet, schrieb das Political Intelligence Department im Foreign Office am 9. Dezember 1918: „Schließlich ist die Vereinigung von Deutschösterreich mit Deutschland von unserem Gesichtspunkt aus nicht unvorteilhaft, weil sie das Gleichgewicht zwischen dem katholischen Süden und dem protestantischen Norden wieder herstellen und dazu beitragen würde, dem Preußentum (Prussianism) in Deutschland Einhalt zu gebieten. Der Plan, den Deutschösterreichern zu verbieten, sich an Deutschland anzuschließen, selbst wenn beide Seiten es wünschen, muss daher aufgegeben werden, sowohl aus prinzipiellen Gründen wie aus denen der Zweckmäßigkeit.“9
Es kam anders, weil das geschlagene Deutschland nicht als Gewinner aus seinem verlorenen Krieg hervorgehen durfte. Der Anschlussgedanke verschwand jedoch 7 Vgl. Ebert am 6. Februar 1919 vor der Weimarer Nationalversammlung: „Jetzt hat die deutsch-österreichische Nationalversammlung erneut unter stürmischer Begeisterung uns ihren Gruß entboten und die Hoffnung ausgesprochen, daß es unserer und ihrer Nationalversammlung gelingen wird, das Band, das die Gewalt 1866 zerrissen hat, wieder neu zu knüpfen […] Unsere Stammes- und Schicksalsgenossen dürfen versichert sein, daß wir sie im neuen Reich der deutschen Nation mit offenen Armen und Herzen willkommen heißen. […] Dann wollen wir sein ein einig Volk von Brüdern.“ Das Protokoll verzeichnet hierzu „lebhaftes Bravo“ und „wiederholter Beifall“. Verhandlungen des Reichstages Bd. 326 (1919/20), 2. 8 Vgl. Walter Goldinger/Dieter A. Binder: Geschichte der Republik Österreich 1918 – 1938. Wien/München 1992, 75. 9 Francis L. Carsten: Die Erste Österreichische Republik im Spiegel zeitgenössischer Quellen. Wien/Köln/Graz 1988, 15.
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nicht. Karl Renner erklärte am 3. April 1938 in einem Zeitungsinterview, „als Sozialdemokrat und somit als Verfechter des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen, als erster Kanzler der Republik Deutschösterreich und als gewesener Präsident ihrer Friedensdelegation zu St-Germain“ werde er, Renner, bei dem von Hitler inszenierten Plebiszit über den Anschluss mit „Ja“ stimmen.10 Man hat diese Resignation mit der Erbitterung der österreichischen Arbeiterbewegung über die vier Jahre Unterdrückung durch den Ständestaat des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes zu erklären versucht.11 II. Was war inzwischen, 1938, aus Preußen geworden? Inzwischen war eingetreten, was die deutsche Reichsverfassung von 1919 als Möglichkeit an die Wand gemalt hatte. Der deutsche Reichspräsident hatte zwar nicht seine Armee in Marsch gesetzt, aber damit gedroht, und mit dieser Drohung bewaffnet hatte er am 20. Juli 1932 die preußische Staatsregierung abgesetzt. Vorausgegangen war eine Schwächung der demokratischen Legitimation eben dieser Staatsregierung, denn die letzten Landtagswahlen hatten keine regierungsfähige Mehrheit hervorgebracht und die Regierung war nur noch geschäftsführend im Amt. Da man nur noch über eine eigene Polizei, aber eben nicht mehr über eine eigene Armee verfügte, sah die immer noch zum großen Teil aus Sozialdemokraten bestehende Regierung keine andere Möglichkeit, als den Klageweg vor dem Reichsgericht zu beschreiten, wo sie eine sehr zweifelhafte Bestätigung erhielt. Zwar blieben die Minister weiter Minister, erklärte das Reichsgericht, aber es sei ebenso rechtmäßig, dass ihre Geschäfte jetzt von Reichskommissaren wahrgenommen würden. Einer von ihnen war ein Gutsbesitzer aus dem westlichen Teil Preußens, der mit den Junkern Ostelbiens und den Schwerindustriellen der Ruhr auf gutem Fuß stand, Franz von Papen. Am 6. Februar 1933 wurde der Preußische Landtag – gegen die Stimmen des Ministerpräsidenten Otto Braun und des Staatsratsvorsitzenden Konrad Adenauer – verfassungswidrig aufgelöst und am 5. März 1933, parallel zum Deutschen Reichstag,
10 „Der frühere österreichische Staatskanzler Dr. Renner stimmt am 10. April mit ,Ja‘.“ In: Kleine Volks-Zeitung, 3. April 1938. Zitiert nach: Hugo Portisch: Österreich II. Bd. 2, Der lange Weg zur Freiheit. Wien 1986, 167. 11 Vgl. Hanns Leo Mikoletzky: Österreichische Zeitgeschichte. Vom Ende der Monarchie bis zur Gegenwart. 3. Aufl. Wien 1969, 423. Dahinter steckt Renner selbst: „Vom Klerikofaschismus des Rechts und Vermögens beraubt, wendete sich die Arbeiterbewegung vom eigenen Staate resigniert ab und gelangte zu dem Entschluß, wenn schon Faschismus unvermeidlich sei, doch die deutsche antiklerikale Lesart der italienischen kirchlich orientierten vorzuziehen.“ Karl Renner: Denkschrift über die Geschichte der Unabhängigkeitserklärung Österreichs und die Einsetzung der Provisorischen Regierung der Republik. Wien 1945, 15.
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neu gewählt.12 Bei dieser nur noch eingeschränkt freien Wahl erhielt eine Koalition aus NSDAP und Deutschnationaler Volkspartei die Mehrheit. Der letzte in der Kette der preußischen Ministerpräsidenten, die 1848 begonnen hatte, wurde am 10. April 1933 Hermann Göring. Der Preußische Landtag aber schaffte sich am 18. Mai 1933 selbst ab, indem er einem preußischen Ermächtigungsgesetz zustimmte.13 Im Jahr darauf wurden Ressorts des preußischen Staatsministeriums mit solchen des Reiches verschmolzen. Göring war das gleichgültig, er strebte nach anderen Posten. Auf diese Weise gelangte das Reich, das wegen des Kulturföderalismus kein Kultusministerium gehabt hatte, zu einem Reichsministerium für Erziehung und Wissenschaft. Das preußische Ministerium der Finanzen aber blieb als den Haushalt abwickelnde Stelle weiterhin erhalten. Weder die Verfassung des Freistaats Preußen vom 30. November 1920 noch die Reichsverfassung vom 11. August 1919 sind je aufgehoben worden. Erhalten blieben auch die Provinzen Preußens mit ihren Provinziallandtagen, den Regierungs- und den Oberpräsidenten. Da aber diesen Instanzen mit den Gauleitern zusehends mächtigere Parteifunktionäre gegenüber gestellt wurden, gerieten auch diese traditionellen preußischen Verwaltungsstrukturen in Verfall. Man könnte sich also fragen, ob Preußen im Frühjahr 1938 überhaupt noch bestand, oder ob nicht beide, Preußen und Österreich, zu diesem Zeitpunkt von einem größeren, diffuseren Gebilde namens Deutsches Reich verschlungen worden waren. Dass der Anschluss jedenfalls mit der Intention vollzogen worden war, jedes österreichische Sonderbewusstsein auszulöschen, hätten auch seine vielen enthusiastischen Befürworter bald nicht mehr verleugnen können. „Österreich verlor seinen Namen, sogar die Bezeichnung ,Ostmark‘ musste verschwinden.“ Die Bundesländer Nieder- und Oberösterreich mit ihren seit dem 13. Jahrhundert bekannten Bezeichnungen wurden zu Reichsgauen gemacht, die in „Nieder-und Oberdonau“ umgetauft worden sind.14 Wien wurde, wie noch die Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 empört feststellte, „zu einer Provinzstadt“ degradiert.15 Es ist richtig, dass Adolf Hitler am 15. März 1938 auf dem Heldenplatz den „Eintritt [s]einer Heimat in das Deutsche Reich“ gemeldet hat, dabei blieb es aber. Jede Anknüpfung an die Traditionen des Habsburgerreiches wurde peinlich vermieden. Stattdessen wurde mehr und mehr Preußen in die nationalsozialistische Selbstdeutung eingebaut. Schon 1933 hatte ein Rudolf Schmidt geschrieben: 12 Vgl. Horst Möller: Preußen von 1918 bis 1947. In: Wolfgang Neugebauer (Hg.): Handbuch der Preußischen Geschichte Bd. III, Berlin 2001, 149 – 316, hier: 308 f. 13 Vgl. Horst Möller: Parlamentarismus in Preußen 1919 – 1932 (Handbuch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus), Düsseldorf 1985, 575. 14 Mikoletzky, 421. 15 Bundeskanzleramt, Rechtsinformationssystem: Bundesrecht konsolidiert: Gesamte Rechtsvorschrift für Unabhängigkeitserklärung, Fassung vom 12. 09. 2012. http:www.ris. bka.gv.at.
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„Die alte preußische Idee, in neuen Formen gegossen, von den geistigen Strömungen der Gegenwart erfaßt, erstand in vollendeter Form in dem Hirn eines Deutsch-Österreichers […] Mit dem endgültigen Durchbruch und der Berufung der neuen Regierung, die am historischen 30. Januar 1933 von dem ehrwürdigen Generalfeldmarschall und Reichspräsidenten von Hindenburg zur schicksalsschweren Verantwortung in entscheidender Stunde gerufen wurde, entstand von neuem wieder das Preußentum.“16
Das durch den Anschluss Österreichs und bald darauf auch Böhmens vergrößerte Deutsche Reich wurde gewissermaßen deaustrifiziert und gleichzeitig friderizisiert. Denn es war nicht die komplette preußische Überlieferung, die von den Nationalsozialisten angeeignet wurde, sondern nur das machtstaatlich-erobernde Element. Ein Symbol dafür, dass die Annexion des März 1938 auch als preußische Eroberung gesehen werden kann, ist vielleicht, dass schon am Abend des 11. März 1938, als die ersten Hakenkreuzfahnen in Wien zu sehen waren, im dortigen Rundfunk der Fehrbelliner Reitermarsch ausgestrahlt wurde.17 Ohnehin war auch in Deutschland die Geltung Preußens im Reich der Ideologie umgekehrt proportional zur preußischen Staatlichkeit. Je mehr die Staatlichkeit schwand, desto mehr wurde die Ideologie herbeigeredet. Es hatte damit begonnen, dass seit der Revolution von 1918 Preußen nicht mehr in den Händen jener politischen Kräfte war, die glaubten, ein Geburtsrecht auf die Herrschaft in Preußen zu haben. Schon deswegen konnte das reale Preußen, an dessen Regierung nicht nur Sozialdemokraten, sondern – horribile dictu – auch Katholiken beteiligt waren, mit seinen Kohlengruben, Chemiewerken, Knappschaftskrankenhäusern und elektrischen Straßenbahnnetzen nicht das richtige Preußen sein. Zum Preußenmythos innerhalb Deutschlands gehörten der fürsorgliche Gutsherr, der allgegenwärtige König und Friedrich, der die Kartoffel eingeführt hatte. Der Ruhrbergbau gehörte dazu kaum, obwohl aus dieser Region nach 1919 Alfred Hugenberg mit seiner Friedrichspropaganda gekommen war. Im Bewusstsein der Franzosen dagegen war das Preußen des Bismarckreiches nur dann vollständig, wenn man die Schwerindustrie Schlesiens, der Ruhr und der Saar mit dazu dachte.18 III. Es ist nur folgerichtig, dass das von seinen Beherrschern immer drastischer mit Preußen gleich gesetzte Nazireich Preußen in seinen Untergang mit hineinriss. Es 16 Rudolf Schmidt: Das neue Preußen. Berlin 1933, S. 6. Zitiert nach: Bernd Sösemann: Instrumentalisierung von historischen Analogien. Sinnstiftungen in autoritären und diktatorialen Regimen. In: Ders./Gregor Vogt-Spira (Hgg.): Friedrich der Große in Europa. Geschichte einer wechselvollen Beziehung Bd. 2, Stuttgart 2012, 345 – 383, hier: 353. 17 Vgl. Mikoletzky, 386. 18 Vgl. Köhler, 78 und die Debatte in der Assemblée Nationale Constituante vom 16. Januar 1946, in der es heißt: „Der agrarische Feudaladel im Osten Deutschlands ist verschwunden, der mit den Industriebaronen des Westens den soliden Pfeiler der wirtschaftlichen Einheit dieses Landes bildete.“ Zit. nach Köhler, 105.
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hatte damit begonnen, dass die Außenwelt die zunehmend aggressive Selbstdarstellung Deutschlands seit der Reichsgründung als Realität nahm. Wenn die borussischen Historiker nachgewiesen hatten, dass es Preußens Beruf gewesen sei, mit zynischen Machttricks und brutaler Eroberung Deutschland zu einigen und wenn die Wortführer des Kaiserreichs nun behaupteten, diese Eroberungspolitik habe jetzt im Weltmaßstab zu funktionieren, dann war man in Großbritannien nur zu bereit, sich dieses neu geschaffene Selbstbild Deutschlands zu eigen zu machen. So fielen die Analysen des Sir Eyre Crowe, die dieser während seiner Berliner Zeit aus den Schriften der preußischen Historiker gezogen hatte, auf fruchtbaren Boden, als Crowe sie von 1907 an im Londoner Foreign Office vortrug.19 Winston Churchill und Anthony Eden pflegten sodann das Bild, das Preußen als den Kern der deutschen Aggressivität sah, mit Hingabe. So erklärte Eden nach Beginn des Zweiten Weltkrieges im Unterhaus: „Hitler is not a phenomenon, he is a symptom; he is the Prussian spirit of military domination come up again. National Socialism was originally conceived in militarism, and it believes only in force.“20
Andererseits waren es Eden oder seine Mitarbeiter, die entgegen dem außerordentlich starren Verständnis des Premierministers ein paar geografische Tatsachen ins Gedächtnis riefen, als es in einem Aktenstück vom Juli 1943 hieß: „The headquarters of the Nazi Party is, after all, in Munich. Nuremberg is the centre for the tribal rites, and one of the worst German Gauleiter, Streicher, himself a South German, used to brutalise the population of Franconia.“21
Churchill hat noch auf der Konferenz von Teheran seine Idee von einer Donauföderation vorgetragen, die außer Österreich und Ungarn auch die süddeutschen Staaten umfassen sollte.22 Irgendwelche Überlegungen zur Genese des Faschismus scheint Churchill nicht angestellt zu haben. Sonst hätte ihm auffallen müssen, dass sich der Faschismus, wie Ernst-Otto Czempiel beobachtet hat, nur da durchgesetzt hat, wo vorher Metternich gesiegt hat, nämlich in Italien, Ungarn, Kroatien, Österreich und auf deutschem Boden zunächst einmal in Bayern. Man könnte Spanien hinzufügen, wenn man das Franco-Regime als faschistisch einstufen möchte. Gordon A. Craig spricht in diesem Zusammenhang von „Konfusion“, die bei Chur19 Eyre Crowe, Memorandum über den gegenwärtigen Stand der britischen Beziehungen zu Frankreich und Deutschland, 1. Januar 1907 (Auszug). In: Erwin Hölzle (Hg.): Quellen zur Entstehung des Ersten Weltkrieges: Internationale Dokumente 1901 – 1914. Darmstadt 1978, 32 – 45, besonders 35: „Es war auf einmal klar, daß auch Deutschland eine ,Weltmacht‘ werden mußte. Die Entwicklung dieser Idee und ihre Übertragung in die praktische Politik folgte mit eigenartiger Konsequenz dem Gedankengang, der die preußischen Könige bei ihren Bestrebungen beseelt hatte, Preußen groß zu machen.“ 20 Zitiert nach: Lothar Kettenacker: Preußen in der alliierten Kriegszielplanung, 1939 – 1947. In: Ders. u. a. (Hgg.): Studien zur Geschichte Englands und der deutsch-britischen Beziehungen. Festschrift für Paul Kluke, München 1981, 312 – 340, hier: 319. 21 Memorandum Anthony Edens vom 7. Juli 1943, vgl. Kettenacker, 337. 22 Vgl. Kettenacker, 325.
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chill geherrscht habe. Obwohl Churchill 1906 und 1909 Beobachter bei den Kaisermanövern des deutschen Heeres gewesen war und mit Wilhelm II. gesprochen hatte, scheinen seine Kenntnisse der deutschen Geschichte und der inneren Verhältnisse Deutschlands nicht tief gewesen zu sein.23 Die Projekte zur Zerstückelung Deutschlands, die von den alliierten Regierungschefs hin und her gewendet wurden, scheinen daher nicht sehr durchdacht gewesen zu sein. Sie stießen in London auch auf den Widerstand von Deutschlandkennern vor allem im Foreign Office, und als schließlich bei der Beratung über die Zonengrenzen in der European Advisory Commission die staatliche Einheit Deutschlands zur Ausgangslage gemacht wurde, hatten auch die sowjetischen Vertreter nichts dagegen.24 Die Lösung, auf die sich die britischen Experten schließlich versteiften, war die Lösung, die auch den „Frankfurter Dokumenten“ für die westdeutschen Ministerpräsidenten aus dem Jahr 1948 zugrunde gelegen hat. Der Zentralismus in Deutschland sollte geschwächt werden, indem man eine Art von föderaler Ordnung schuf, von der man sich sicher war, dass sie am ehesten zu den deutschen Traditionen passte, dass sie von der Bevölkerung akzeptiert werden würde und dass sie geeignet war, Demokratie einzuüben. Freilich konnte Preußen dann bereits seiner schieren Größe wegen nicht bestehen bleiben.25 So heißt es in einem Memorandum für Anthony Eden vom 9. September 1944: „It would be essential that inter se the federal states should be more or less equal in strength so that no single state should be able to dominate the Central Government. For this purpose Prussia, which is after all an entirely artificial creation of the 19th century, would have to be broken up into its component parts, each of which would become once again a federal state, e. g. Hanover, Rhineland, Westphalia, Hesse etc. If we cannot dismember Germany as a whole we certainly can and should dismember Prussia.“26
Schon zu diesem Zeitpunkt ging man auch davon aus, dass mindestens Ostpreußen abgetrennt werden würde, das auf britischer Seite als eine Hochburg des Junkertums angesehen wurde. Nahm man Ostpreußen oder gar alle Gebiete östlich der Oder den Deutschen weg, war die ökonomische Basis des Junkertums unterminiert.27 Während man im deutschen Widerstand diese britischen Pläne für einen Grenzverlauf nicht akzeptiert hätte, war eine Auflösung Preußens auch in dem Friedensplan vorgesehen, den Carl Goerdeler im Spätsommer 1943 für englische Augen entworfen hat und in dem es heißt, dass Preußen im Reich aufgehen solle, die preußischen Provinzen verschwinden und neue Länder geschaffen werden würden. Diese Länder würden sich selbst regieren und Reichsinstanzen nur mit den Gewalten aus23 Gordon A. Craig: Churchill and Germany. In: Robert Blake/Wm. Roger Louis (Hgg.): Churchill. Oxford usw. 1993, 21 – 40, hier: 21, 37. 24 Vgl. Kettenacker, 328. 25 Vgl. Kettenacker, 333. 26 Kettenacker, 332. 27 Vgl. Kettenacker, 322, 333.
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gestattet werden, die notwendig seien, um den Zusammenhalt des Reiches zu sichern. Der Plan zeigt, dass die Besorgnisse des Auslands in Deutschland durchaus verstanden wurden und erfahrene Verwaltungsfachleute hier an die schon in Deutschland geführte Diskussion über die Auflösung Preußens anknüpfen konnten.28 Als schließlich die Siegermächte ins Innere Deutschlands vorgestoßen waren, so dass sie in die Lage gerieten, deutsche Verwaltungsstellen ins Leben zu rufen, war die Abtrennung der Gebiete jenseits von Oder und Neiße und damit eines Großteils des preußischen Kernlandes bereits vollzogen. Auf den Konferenzen von Teheran, Jalta und Potsdam wurden allerdings mögliche Gebietsverluste Deutschlands östlich von Oder und Neiße überwiegend unter dem Aspekt behandelt, wie man Polen zufriedenstellen, nicht aber, wie man Preußen schaden könne.29 Nicht nur die Briten, sondern auch die Sowjets haben sodann westlich von Oder und Neiße wie selbstverständlich die preußischen Provinzeinteilungen weiter bestehen lassen, aber die Provinzen als Länder behandelt. Spätestens 1946 wurde dann auch die Abrundung dieser Provinzen durchgeführt. Hannover, um Oldenburg, Braunschweig und Schaumburg-Lippe ergänzt, wurde zu Niedersachsen, und der preußischen Provinz Sachsen musste lediglich der Zwergstaat Anhalt hinzugefügt werden. Insofern war 1945 eine weitere Stufe des preußischen Niedergangs erreicht und man könnte diese als die wesentlichste ansehen. Die Zerstückelung Preußens konnte also rein pragmatisch als ein Mittel angesehen werden, um Deutschland fortdauernd zu schwächen. Wenn von einer Aufteilung (dismemberment) Deutschlands die Rede war, war eine solche Aufteilung ohne eine Zerschlagung Preußens schwerlich zu denken. Von einem Preußen, das sowohl Ostpreußen, Pommern und Schlesien als auch das Saargebiet und das Ruhrgebiet30 verloren hatte, ging keine Bedrohung mehr aus. Doch blieb es nicht dabei, lediglich das Kriegspotential zu gewichten. Die Tendenz, den Hitlerismus als eine Krönung des preußischen Eroberungsgeistes zu betrachten, so dass man folgerichtig auch Hitler traf, wenn man Preußen schlug, war nicht nur in den Köpfen Churchills, Roosevelts oder Stalins anzutreffen. Diese Analyse war ebenso in Polen und in Frankreich weit verbreitet. Für den polnischen Historiker Zygmunt Wojciechowski war das antipolnische Programm, das Hitler verfolgt hatte, nicht nur „eine Synthese der Vorhaben aller seiner Vorläufer, von Heinrich II. bis zu Wilhelm II.“, sondern „vor allem eine vollkommene Synthese der Taten der Brandenburger und der Kreuzritter“.31 Allerdings hätten im Verhältnis zu Polen 28 Vgl. Walter Lipgens (Hg.): Documents on the History of European Integration. Vol. 1: Continental Plans for European Union 1939 – 1945, Berlin/New York 1985, 430 – 432. 29 Vgl. Gilbert-Hanno Gornig: Territoriale Entwicklung und Untergang Preußens: Eine historisch-völkerrechtliche Untersuchung (Forschungsergebnisse der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Bd. 31), Köln 2000, 211. 30 Vgl. Gornig, 207. 31 So Wojciechowski im Jahr 1945. Vgl. Andreas Lawaty: Das Ende Preußens in polnischer Sicht, Berlin 1986, 156.
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die Hohenzollern nur verwirklicht, was von den Habsburgern bereits geplant und angestrebt worden war.32 Hitlers Lebensraumtheorie, schrieb Wojciechowski am 22. Februar 1947 in der Tageszeitung Glos Wielkopolski, sei in den Praktiken der Markgrafen von Brandenburg und der preußischen Könige verwurzelt.33 Wie von polnischer Seite damals an zahlreichen Stellen ausgeführt wurde, musste Deutschland entpreußt werden, um eine gesunde nationale Identität entwickeln zu können.34 Polen, als der nächste Nachbar, könne womöglich „das Patronat über die Befreiung der deutschen Seele von der preußischen Gefangenschaft übernehmen“.35 Eine Teilung Deutschlands dagegen wurde von vielen polnischen Stimmen als ungerecht abgelehnt, sofern man nur imstande sein würde, das schädliche Gift der preußischen Eroberungsgesinnung zu isolieren.36 Auf der Konferenz der Außenminister in New York zu Ende des Jahres 1946 unterbreitete die UdSSR den Vorschlag, bei nächster Gelegenheit die Liquidation Preußens zu beschließen.37 Der polnische stellvertretende Außenminister schloss sich im Januar 1947 auf der Stellvertreterkonferenz in London diesem Vorschlag an.38 Deutschland zu entnazifizieren könne dadurch geschehen, dass Deutschland entpreußt werde, meinte auch ein sozialistischer Abgeordneter in der französischen Nationalversammlung im Jahre 1946.39 Sowohl der bürgerliche Außenminister Georges Bidault als auch die Sozialisten im Parlament vertraten im Vorfeld der Moskauer Außenministerkonferenz die Ansicht, dass eine Föderalisierung Deutschlands die französische Sicherheit gewährleisten könne, sofern man darunter auch die Befreiung Deutschlands von Preußen verstand. Denn Preußen sei stets die Kraft gewesen, die den Föderalismus habe überwinden wollen, wie dies auch Hitler angestrebt habe.40 Der Militärgouverneur Pierre Koenig meinte: „L’Allemagne enfin se tournera vers nous si l‘on casse les liens qui la relient à la Prusse.“ Die Einwohner der französischen Zone seien brave Bürger gewesen, aber Preußen habe alles kolonisiert.41 Ich glaube, man muss sich vor Augen stellen, welches Ausmaß der weltweite Konsens über die fatale Rolle Preußens und der preußischen Junker damals gehabt 32
Vgl. ebd. Vgl. ebd., 159. 34 Vgl. ebd., 213 f., 228. 35 So Edmund Osman´czyk schon 1946. Lawaty, 228. 36 Vgl. ebd., 232 – 235. Das forderte den Sarkasmus der französischen Diplomatie heraus. Der französische Repräsentant auf der Konferenz der stellvertretenden Außenminister in London 1947, Maurice Couve de Murville, fragte, „comment la Pologne pouvait tout en proclamant l’irréversibilité de l’histoire en s’opposant au démembrement de l’Allemagne, entreprendre de liquider la Prusse autour de laquelle s’est précisément fait l’unification de l’Allemagne.“ Le Monde vom 29. Januar 1947, nach: Köhler, 15. 37 Vgl. Lawaty, 104. 38 Vgl. ebd., 133. 39 Vgl. Köhler, 20. 40 Vgl. ebd., 30 f. 41 Ebd., 31. Koenig in einem Interview mit der Zeitschrift Carrefour, 12. September 1946. 33
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hat. Auch André François-Poncet, der Hitler aus seiner Berliner Botschafterzeit gut genug kannte, hat in seinem 1949 auf Deutsch veröffentlichten Buch „Von Versailles bis Potsdam“ von dem „Preußentum, das sich in Hitler am gefährlichsten verkörperte“ geschrieben.42 Ebenso müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die weitgehende Zustimmung, die wir in Westeuropa und den USA für die Oder-Neiße-Grenze antreffen, sich nicht nur aus dem Wunsch gespeist hat, Polen etwas Gutes zu tun, sondern auch aus der Überzeugung, dass dem preußischen Junkertum sein geografischer und ökonomischer Rückhalt genommen werden müsse.43 Aus einer Kombination von Polen-Sympathie, Preußenfeindlichkeit und dem Wunsch, die Verhältnisse in Europa nicht neu aufzurollen, erklärt sich wohl die Haltung des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle. Dieser nahm gleich die Gelegenheit seines ersten Treffens mit Konrad Adenauer am 14. September 1958 in Colombey-les-deux-églises wahr, um dem Deutschen zu versichern, dass er der deutschen Wiedervereinigung positiv gegenüberstehe,44 machte andererseits aber in seiner Pressekonferenz vom 25. März 1959 deutlich, dass eine deutsche Wiedervereinigung nur möglich sei, wenn die Deutschen ihre Grenzen, und dabei nannte er expressis verbis die Ostgrenze, nicht mehr in Frage stellten.45 Das in Umsetzung sowjetischer und polnischer Anträge erlassene Kontrollratsgesetz Nr. 46 vom 25. Februar 1947 kann als ein letzter Versuch angesehen werden, symbolisch Eintracht unter den Siegern des Zweiten Weltkrieges zu demonstrieren, indem man ein schon während des Krieges unter den Gegnern Hitlers entwickeltes Konzept zu Ende brachte. Ein Zweck der Liquidierung Preußens sollte es auch sein, eine Einigung über den Friedensvertrag mit Deutschland auf der für den März 1947 vorgesehenen Moskauer Außenministerkonferenz zu erleichtern46 – das heißt, die Entpreußung Deutschlands wurde zur Voraussetzung für die Rehabilitation Deutschlands als Mitglied der Völkergemeinschaft gemacht. IV. Welche Rolle spielte nun Österreich bei der Liquidierung des Hitlerismus? Zygmunt Wojciechowski konnte sogar im Anschluss Österreichs, wie er im Jahr 1938 bewerkstelligt worden war, nur ein Fernziel preußischer Politik erblicken, das die Preußen angestrebt hätten, um von zwei Brückenköpfen aus die Unterwerfung des Ostens in die Wege zu leiten.47 Wenn aber die polenfeindliche Politik ursprünglich einmal von den Habsburgern auf die Hohenzollern übergegangen war und der 42
André François-Poncet: Von Versailles bis Potsdam. Mainz-Berlin 1949, 257. Auch François-Poncet drückte die Hoffnung aus, dass „das Preußentum“ durch den Verlust seiner „territorialen Grundlage“ an geistigem Einfluss verlieren möge. Vgl. ebd. 44 Vgl. Konrad Adenauer: Erinnerungen 1955 – 1959. Stuttgart 1967, 430. 45 Vgl. Köhler, 72. 46 Vgl. Köhler, 6, 31. 47 Vgl. Lawaty, 158. 43
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Hohenzollerngeist sich leider als „preußischer Geist“, „duch pruski“,48 über Deutschland verbreitet hatte, bis er wieder nach Österreich gelangte, so könnte man schließen, dass aus der Sicht auswärtiger Beobachter sowohl Österreich enthabsburgisiert als auch Deutschland entpreußt werden mussten, um wieder in den Kreis der zivilisierten Nationen aufgenommen zu werden. Da Österreich sich bereits mit der Gründung der ersten Republik erfolgreich von der habsburgischen Tradition gelöst hatte, stand es 1945 günstiger da als Deutschland, dessen Trennung vom Preußentum erst noch vollendet werden musste. Eine logische Folgerung konnte die einfache Wiederherstellung der Unabhängigkeit Österreichs sein. Als Anthony Eden zu Ende 1941 in Moskau weilte, scheint Stalin schon hierzu entschlossen gewesen zu sein.49 Da die Rote Armee die erste der alliierten Armeen war, die nicht nur nach Berlin, sondern auch nach Wien gelangte, war es Stalin möglich, hier vollendete Tatsachen zu schaffen, was er in Deutschland, womöglich den Widerstand der Westmächte in Deutschland als größer einschätzend, nicht versucht hat. Karl Renner, in der Revolution 1918 erster Staatskanzler der Republik, gibt in seinen postum veröffentlichten Memoiren eine Erklärung dafür, warum Stalins Unternehmen einer Wiederherstellung Österreichs auf Anhieb erfolgreich war. Er erklärt dies mit der großen Abneigung der österreichischen Bevölkerung gegen die nazistische „Fremdherrschaft“.50 Durch die in die Sowjetunion geflohenen österreichischen Kommunisten seien die Sowjetorgane „über die Gliederung und wirkliche Gesinnung der Bevölkerung weitaus besser unterrichtet“ gewesen als die westlichen Militärbehörden. „Ohne etwa die Gefahren des Nazismus zu unterschätzen, wußten sie doch, daß sie der Mehrheit des Volkes in dieser Hinsicht vertrauen konnten – die anderen hatten darüber kein klares Bild und konnten sich darum schwer entschließen, die Verwaltung in österreichische Hände zu legen. Die Sowjetorgane verstanden es scheinbar, sich alle kompromittierten Nazi fernzuhalten, die Organe der Westmächte verfielen dagegen nur allzu leicht der gesellschaftlichen Anziehung der sogenannten besseren Bürger, ohne zu ahnen, daß gerade sie zumeist die Träger des Nazismus gewesen waren. Dank dieser Umstände und weiterreichenden politischen Erwägungen, auch um bei der völligen Sprachfremdheit – diese war im Westen durch die größere Verbreitung englischer und französischer Sprachkenntnisse kein so absolutes Hindernis – so rasch als möglich zu einer geordneten Verwaltung zu gelangen, entschloß sich die Sowjetführung, mit der Einrichtung einer zentralen Regierung voranzugehen.“51
Renner gab an, er habe zunächst nur vorgehabt, den untergegangenen österreichischen Nationalrat wiederzubeleben, was ihm als letztem Nationalratspräsidenten vor 48
Vgl. ebd., 164 f. Vgl. Kettenacker 322, nach: Eden Memoirs, 335. 50 Karl Renner: Österreich von der Ersten zur Zweiten Republik (Nachgelassene Werke II. Bd.), Wien 1953, 232. 51 Ebenda. 49
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der Errichtung der Dollfuß-Diktatur zugestanden hätte. Als er am 3. April 1945 zum ersten Mal einem Stab höherer sowjetischer Offiziere gegenüberstand, will er ausgeführt haben, „vom Tage des bewaffneten Einmarsches Hitlers in Österreich an sei es ihm immer klarer geworden, daß die gewaltsame Annexion des Landes, die an die Stelle eines zwischen zwei Staaten vereinbarten Vertrages getreten war, den Anschlußgedanken begraben habe und daß Österreich bei irgendwelcher kommenden Konstellation seine Unabhängigkeit fordern und wiedergewinnen werde.“52
Keine Rede mehr also davon, dass Renner sich exakt sieben Jahre vorher, am 3. April 1938, noch dafür ausgesprochen hatte, den Anschluss durch das Plebiszit zu legalisieren. Mit Zustimmung der in Wien vertretenen Parteien ließ sich Renner von der Sowjetunion zum Kanzler einer gesamtösterreichischen Regierung einsetzen, obwohl ihm klar war, dass die Amtsgewalt dieser Regierung sich vorläufig nur auf die Sowjetische Besatzungszone Österreichs und die Hauptstadt Wien erstreckte.53 Renner verstand Österreich als befreites, nicht als besiegtes Land, weshalb er auch der sowjetischen Rechtsauffassung widersprach, österreichisches Eigentum sei wie deutsches zu behandeln.54 Als sich die Vorstände der Sozialisten, der Christlich-Sozialen und der Kommunisten in Wien versammelten, um in einer feierlichen Unabhängigkeitserklärung die „demokratische Republik Österreich“ als „wiederhergestellt“ und „im Geiste der Verfassung von 1920 einzurichten“ zu proklamieren – es war der 27. April 1945 – konnten sie sich auf eine Willenserklärung der Außenminister Hull, Eden und Molotow, Moskau im Oktober 1943, berufen. Um dieses wiederhergestellte Österreich sozusagen auszudeutschen, musste die Geschichtsschreibung einen möglichst großen Abstand zwischen Deutschland und Österreich legen, was leichter war, wenn man ganz Deutschland als verpreußt hinstellen konnte. 1947 erschien in Wien die Arbeit „Österreich und Preußen im Spiegel österreichischer Geschichtsauffassung“ von Walther Heydendorff. Dort wurde die Hoffnung geäußert, dass durch das Kontrollratsgesetz über die Auflösung Preußens ein Deutschland entstehen könne, welches von allen „friderizianischen Gewalttaten“55 gereinigt sei und in dem das Prinzip „Wer die Gewalt besitzt, hat auch das Recht zu ihrer schrankenlosen Anwendung“, keine Geltung mehr haben müsse.56 Mit anderen Worten: Die von den Nationalsozialisten vorgenommene Legitimation ihres „Dritten Reiches“ als Erbe Friedrichs des Großen hat es Österreich erleichtert, sich von diesem Hitlerreich wieder loszusagen. Je preußischer Deutschland er52
Renner, Denkschrift, 7. Vgl. ebd., 234. 54 Vgl. ebd., 236. 55 Walther Heydendorff: Österreich und Preußen im Spiegel österreichischer Geschichtsauffassung. Wien 1947, 13. 56 Ebenda, 9. 53
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schien, umso einfacher konnte Österreich sich distanzieren. So erklärte der ehemalige christlich-soziale Bundeskanzler Otto Ender im Juni 1945 gegenüber einem Mitarbeiter des amerikanischen Geheimdienstes OSS, unter Preußen verstehe er alle Norddeutschen mit Ausnahme der Rheinländer. Mit diesen Preußen wolle Österreich fortan nichts mehr zu tun haben.57 Auf jeden Fall lässt sich erkennen, weshalb der Sieg über das Nazireich so unterschiedliche Auswirkungen für Preußen und für Österreich gehabt hat. Es waren eben nicht nur die Nationalsozialisten selbst, die sich als die Erben des Preußentums hinstellten. Diese Einschätzung der Zusammenhänge ist in großen Teilen der Welt geteilt worden. Während Preußen als die Triebkraft der Hitlerschen Eroberungspolitik angesehen wurde, galt Österreich als deren Opfer. Es sei bestenfalls eine „Ironie der Geschichte“, dass Hitler überhaupt in Österreich geboren sei, hat dazu der Pole Edmund Osmanczyk am 3. August 1947 im Tygodnik Powszechny, dem Allgemeinen Wochenblatt des Erzbistums Krakau, geschrieben.58 Die Gründe dafür, dass nach zehnjährigen Verhandlungen und beträchtlichen materiellen Leistungen, die Österreich an die Sowjetunion bringen musste, der Staatsvertrag zustande kam, sind sicherlich einmal in dem erfolgreichen Manöver der Österreicher zu sehen, sich eine außerdeutsche Identität zu geben, zum anderen aber in den Konstellationen des Kalten Krieges, die es ermöglichten, Flankenstaaten Deutschlands das zu gewähren, was Deutschland nicht gewährt wurde. Doch auch Deutschland betreffend sind Vereinigung und Neutralisierung auf den Sitzungen des Rates der Außenminister (CFM) diskutiert worden; am prominentesten wurde dann das Angebot in der sowjetischen Note vom 10. März 1952. Der österreichische Staatsvertrag vom 15. Mai 1955 hat in seiner Präambel die Annexionsthese aus der Unabhängigkeitserklärung aufgegriffen und festgestellt, „daß als ein Ergebnis des alliierten Sieges Österreich von der Gewaltherrschaft Hitler-Deutschlands befreit wurde“ und hat dann in Artikel 1 festgelegt, „daß Österreich als ein souveräner, unabhängiger und demokratischer Staat wiederhergestellt ist“. Dass hinzu ein Anschlussverbot kommt, ist nach den Erfahrungen von 1919 alles andere als verwunderlich.59 Entsprechend setzte Österreich in den fünfziger Jahren den Kurs der Distanzierung von Deutschland fort. In einer Regierungserklärung vom 4. Juli 1956 hat Bundeskanzler Raab erklärt, Österreich sei durch drei gleichberechtigt nebeneinander wirksame Einflüsse geschaffen worden, nämlich einen deutschen, einen romani-
57 Paul R. Sweet (OSS): Political Views of Dr. Otto Ender, Former Austrian Bundeskanzler. In: Oliver Rathkolb (Hg.): Gesellschaft und Politik am Beginn der Zweiten Republik. Vertrauliche Berichte der US-Militäradministration aus Österreich 1945 in englischer Originalfassung. Wien/Köln/Graz 1985, 135. 58 Vgl. Lawaty, 190. 59 Auszugsweiser Text des Staatsvertrages u. a. in: Hanns Leo Mikoletzky: Österreichische Zeitgeschichte. Vom Ende der Monarchie bis zur Gegenwart. 3. Aufl. Wien 1969, 481 – 485.
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schen und einen slawischen. Infolgedessen sei es seine Aufgabe, „ausgleichender Faktor“ im Schnittpunkt der drei großen Kulturräume zu sein.60 Der österreichische Historiker Hanns Leo Mikoletzky hat in einer 1962 zum ersten Mal erschienenen, 1969 in dritter Auflage vorgelegten Darstellung der österreichischen Geschichte des 20. Jahrhunderts hervorgehoben: „Es ging ja Österreich nie darum, zu beherrschen oder zu unterwerfen: Die Habsburger haben kaum jemals Eroberungskriege geführt.“61 Es ist unterdessen ein eigenes Thema der österreichischen Zeitgeschichtsschreibung geworden, sich mit der von Renner und anderen in die Welt gesetzten These von Österreich als der befreiten Nation auseinander zu setzen. Wer die Österreichische Historische Bibliographie mustert, erkennt, wie sich in den Jahrzehnten seit 1945 die Titel der Arbeiten gewandelt haben: Von einer Erforschung des Widerstandes und der Verfolgung hin zu einer Erforschung des Mitläufertums und der Systemstützung im Nationalsozialismus, ganz ähnlich, wie auch die Forschung sich in Deutschland entwickelt hat. Im Übrigen bleibt offen, ob es siebzig Jahre nach der Wiederherstellung der österreichischen Unabhängigkeit noch des preußischen Sündenbocks bedarf.
60 61
Zitiert nach Mikoletzky, 489. Ebenda.
Verzeichnis der Autoren Jürgen Angelow, Dr. phil., ist apl. Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam und Lehrbeauftragter an der Freien Universität Berlin. Kurt Düwell, Dr. phil., war bis zu seiner Emeritierung Professor für Neueste Geschichte und Landesgeschichte an der Universität Düsseldorf. Lothar Höbelt, Dr. phil., ist ao. Professor für neuere Geschichte an der Universität Wien. Esther-Beate Körber, Dr. phil., ist apl. Professorin für frühneuzeitliche Geschichte an der Freien Universität Berlin und arbeitet zurzeit an einem Forschungsprojekt zur internationalen Presse des 18. Jahrhunderts am Institut für Niederlande-Studien, Münster. Marion Koschier ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des FWF-Projektes „Österreichische Kultur und Literatur der 20er Jahre – transdisziplinär“ am Institut für Germanistik der AlpenAdria-Universität Klagenfurt. Giulia La Mattina, Dr. phil, ist freie Wissenschaftlerin an der Universität Turin. Ingo Löppenberg ist ehemaliger Gerda-Henkel-Stipendiat und war Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut der Universität Köln (Jean Monnet Lehrstuhl für Europäische Geschichte – Professur für Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der Europäischen Integration und Didaktik der Geschichte). Frank Möller, PD Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Michael C. Schneider, Dr. phil., ist seit 2013 (bis Oktober 2018) Universitätsprofessor auf Zeit für Wirtschafts-und Sozialgeschichte im Institut für Geschichtswissenschaften der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf. Christoph Stamm †, Dr. phil., war bis zu seinem Ruhestand wissenschaftlicher Referent im Archiv der sozialen Demokratie in Bonn. Thomas Stamm-Kuhlmann, Dr. phil. habil., ist Professor für Allgemeine Geschichte der Neuesten Zeit an der Universität Greifswald. Oliver Werner, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Didaktik der Demokratie der Leibniz Universität Hannover.
Personenverzeichnis Abdülhamid II., Sultan des osmanischen Reiches und Kalif der Muslime 220 Achterberg, Erich 205 Adenauer, Konrad 235, 242 Aders, Jakob 227 Adler, Friedrich 176 Adler, Max 170, 173 Adler, Victor 26, 170, 173 Albrecht Friedrich Rudolf, Erzherzog von Österreich, Herzog von Teschen 140 f., 146 f., 151 ff. Alexander Ludwig Georg Friedrich Emil, Prinz von Hessen und bei Rhein 151 Allmayer-Beck, Johann Christoph 141 Altenstein, Karl Sigmund Franz Freiherr von Stein zum 47, 160 Alter, Wilhelm 141 Ancillon, Jean Pierre Frédéric 82 Andrian-Werburg, Victor Franz Freiherr von 86, 90 Antonopoulo (Familie) 212 Armansperg, Joseph Ludwig Franz Xavier Graf von 73 f Arneth, Alfred von 19, 22 Auerswald, Hans Jakob von 120 Auerswald, Rudolf von 9 f., 119 – 125, 129 f., 130, 132 f., 135 ff. Augusta Marie Luise Katharina, Königin von Preußen, Deutsche Kaiserin 124
Bach, Alexander von 125 Baldacci, Anton Maximilian Freiherr von 99 Bastian, Adolf 166 Bauer, Otto 171, 173 f. Bauernfeld, Eduard von 88 Baumgarten, Hermann 137 Bebel, August 170, 180 Behr-Bandelin, Felix Graf von 202 Belcredi, Richard 135, 148 f. Benedek, Julie von 144, 151
Benedek, Ludwig von 10, 139 – 144, 146 ff., 150 – 154 Benedikt XIV., Papst 19 f. Bernstein, Eduard 181 Bernstorff, Albert von 132 Bernstorff, Christian von 65, 70 f., 81 f. Bidault, Georges 241 Biegeleben, Ludwig von 131 Bismarck, Otto von 26, 113, 131, 134, 148, 150, 154, 164, 219, 223 f., 232, 237 Bitter, Rudolph von 202 f. Bleichröder, Gerson 203 Bloch, August Friedrich 197, 199 f., 218 Blümegen, Heinrich Kajetan Freiherr von 22 Bodelschwingh, Carl von 200 Bonaparte, Louis Napoléon, als Napoleon III. Kaiser der Franzosen 149 Bonaparte, Napoleon, als Napoleon I. Kaiser der Franzosen 7, 9, 43 f., 47 f., 50, 52 ff., 56, 61, 85, 87, 91, 97 f., 120, 130, 140, 146, 159, 193, 210 Bonin, Eduard von 124, 130, 132 Börgen, Karl 166 Borsig, August 197 Bougainville, Louis Antoine de 161 Braidotti, Ludovico 197 Braun, Erich 181 Braun, Erna 181 Braun, Otto 10, 169, 171, 173, 176, 178 – 188, 231, 235 Brecht, Arnold 186 Bremer, Friedrich von 70 Brentano, Johann Jodocus Anton Freiherr von 213 Brentano, Lujo 107 Brentano, Martin Dominik 213 Bruck, Karl Ludwig 198, 201, 210 – 213, 216 – 221, 223 Brüning, Heinrich 184 f. Buchberger, Johann 159 f. Büchelein (Familie) 213
250
Personenverzeichnis
Buchholz, Reinhold 166 Bullock, Alan 139 Bülow, Hans Graf von 48, 58 Burchhardt, Emil von 204, 224 Burt, Mary (Marie) 144 Büsch, Otto 198 Buschek, Giovanni 217 Buschek, Marie 217 Calzabigi, Gian Antonio di 192 f. Camphausen, Gottfried Ludolf 121 Camphausen, Otto von 200 f. Canitz, Karl von 142 Carciotti (Familie) 212 Carl Friedrich Alexander, Prinz von Preußen 144, 202 Carl Ludwig Johann Joseph Laurentius, Erzherzog von Österreich, Herzog von Teschen 146 Carlowitz, Anton von 81 Castlereagh siehe Stewart Christina, Königin von Schweden 13 Churchill, Winston 238 ff. Clam-Gallas, Eduard Graf 152 Clam-Martinic, Heinrich Karl Maria 173 Clausewitz, Carl von 142 Colloredo, Franz von 80 Cook, Thomas 159, 161 Copeland, Ralph 166 Cotta, Friedrich von 73 Couve de Murville, Maurice 241 Cova, Ugo 211 Craig, Gordon A. 238 Crenneville, Franz Maria Johann Graf Folliot von 147 Crowe, Eyre 238 Czempiel, Ernst-Otto 238 Czoernig, Karl 99 f., 103, 105 Dallwitz, Karl von 142 Daum, Friedrich Adolph 193 Daun, Leopold Joseph Graf von 18 Deac, Ferenc 135 Deines, Johann von 68 Delbrück, Rudolf 219, 223 Delius (Handelshaus) 193 Deutsch, Hans 177 Dieterici, Friedrich Wilhelm 97 – 100, 102 f.
d’Olivet, Anna Charlotte 142 Dollfuß, Engelbert 176, 235, 244 Dombois, Adolf 206 Ebert, Friedrich 180 f., 183, 188, 234 Eden, Anthony 238 f., 243 f. Ehlers, Hermann 187 Einsiedel, Detlef von 67, 78 f. Elisabeth Ludovika, Prinzessin von Bayern, Königin von Preußen 202 Ender, Otto 245 Enders, Thomas 159 f. Enfantin, Barthelemy 222 Engel, Ernst 97 f., 100 – 103, 105 ff., 109, 113 Erdmann, Paul 142 Ericsson, John 217 Erskine, David Montagu 2. Baron of 74 Eskeles, Bernhard Ritter von 52 Esterhazy, Moritz von 135, 149 Eugénie, Kaiserin der Franzosen 226 Faraone (Familie) 212 Felbiger, Johann Ignaz 21 Fels (Familie) 213 Ferdinand I., Kaiser von Österreich, König von Böhmen und Ungarn 24, 91, 100 Ferdinand II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 12 f., 15 Ferdinand III., Joseph Johann Baptist, Erzherzog von Österreich, Großherzog der Toskana 159 Ferdinand Maximilian, Erzherzog von Österreich, als Maximilian I. Kaiser von Mexico 213 Ficker, Adolf 101 ff., 107 f. Figl, Leopold 177 Franco, Francisco 238 François-Poncet, André 242 Frankl, Ludwig August 85 Franz Joseph I., Kaiser von Österreich, König von Böhmen und Ungarn 10, 26, 125 ff., 135, 137, 141, 144, 146 f., 150 ff., 165 – 168., 211, 226 Franz I., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 14 Franz II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, als Franz I. Kaiser von Österreich 46, 48 – 52, 57 f., 60, 63, 82, 99, 159, 168
Personenverzeichnis Franz II. Rakoczi, Fürst von Siebenbürgen 15 Frauenfeld, Georg 162 Freyreiss, Georg Wilhelm 160 Friedjung, Heinrich 140 Friedrich II. der Große, König von Preußen 7 f., 11, 13, 17 – 22, 25, 29, 33, 36, 74, 92, 189 ff., 215, 226, 228, 237, 244 f. Friedrich III., König von Preußen, Deutscher Kaiser 124, 133 Friedrich VII. Karl Christian, König von Dänemark 168 Friedrich Karl Nikolaus, Prinz von Preußen 145 Friedrich Wilhelm, Kurfürst von Brandenburg 11 f. Friedrich Wilhelm II., König von Preußen 191 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 24, 47, 50, 61, 65, 67, 69, 74, 165, 194 Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen 91, 120 f., 123, 126, 128 ff., 142, 145, 165, 200, 232 Friese, Karl Ferdinand 55 Fürstenberg, Carl von 204
Gablenz, Ludwig von 150 Gagern, Heinrich von 131 Gaulle, Charles de 242 Georg I., König von Großbritannien und Irland 12 Gerisch, Alwin 180 Geymüller, Heinrich Ritter von 52 Ghegas, Karl von 221 Giannichesi (Familie) 212 Goerdeler, Carl 239 Goerne, Friedrich Christoph von 190 f. Goethe, Johann Wolfgang von 152 Goluchowski, Agneor von (der Ältere) 125 Göring, Hermann 236 Gotthard, Axel 16 Grillparzer, Franz .43 Groener, Wilhelm 233 Grünne, Karl Ludwig, Graf von Pinchard 147 Grzesinski, Albert 184 Günther, William Barstow 202 Gutenberg, Johannes 89 Gutzkow, Karl Ferdinand 85, 87
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Haase, Hugo 179, 181 Hagen, Adolph Hermann 129, 134 Hagen, Thomas J. 223 Hagen, von der, Stadtherr von Rhinow 37 Hansemann, Adolph von 201 f. Hansemann, David 121, 199 ff. Hardenberg, Karl August Fürst von 47, 51, 61, 153, 199 Harmssen, J. H. 196 Haugwitz, Friedrich Wilhelm von 18 Havenstein, Rudolf 204, 206 Heine, Heinrich 85 Heinrich II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 240 Heinzelmann, Georg Jakob 213 Henikstein, Alfred von 151 Heß, Heinrich Freiherr von 151 Hess, Rudolf 176, 231 Heuglin, Theodor von 161 Heydendorff, Walther 244 Heydt, August Freiherr von der 129, 132 Hilferding, Rudolf 170 Hindenburg, Paul von 184 ff., 235, 237 Hirsch, Paul 181 Hirtsiefer, Heinrich 185 Hitler, Adolf 8, 139, 185 f., 231, 235 – 238, 240 ff., 244 f. Hochedlinger, Michael 8 Hochfelden, Franz Krieg von 144 Hochstetter, Ferdinand 162, 164 Hofer, Adolf 181 Hoffmann, Johann Gottfried 58 f., 97, 100 Hohenzollern-Sigmaringen, Karl Anton Fürst von 119, 124 Hollerith, Herman 112 Holtz, Bärbel 196 Horst, Julius August Friedrich von der 190 Hugenberg, Alfred 237 Hull, Cordell 244 Humboldt, Alexander von 158, 160 Humboldt, Wilhelm von 154
Jacoby, Johann 125 Jakob II., König von England und Irland, als Jakob VII. König von Schottland 12 Jirasek, Alois 17 Johann Georg I., Kurfürst von Sachsen 15
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Personenverzeichnis
Johann Sigismund, Kurfürst von Brandenburg 11 Joseph I., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 13 f. Joseph II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 22 – 25, 33, 45 f., 56, 92, 215, 232 Kaiserfeld, Moritz von 126 Kann, Robert 87 Kant, Immanuel 179 Kapp, Wolfgang 182 Karl I., Kaiser von Österreich, als Karl IV. König von Ungarn und Kroatien, als Karl III. König von Böhmen 173 Karl VI., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, als Karl III. König von Ungarn und Kroatien 14 – 17, 215, 227 Karl VII., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, als Karl I. Kurfürst und Herzog von Bayern, als Karl III. kurzzeitig König von Böhmen 19 Karl XII., König von Schweden 13 f. Katharina II. die Große, Kaiserin von Russland 18, 21 Katzenstein, Peter J. 8 Kaunitz(-Rietberg), Wenzel Anton Graf 18, 20, 22 f., 51 Kautsky, Karl Johann 181 Kayser, Heinrich Carl 199 Kempen, Johann Franz 125 Kielmansegg, Erich Graf 26 Kiepert, Heinrich 165 Kießler, Hermann 208 Klebelsberg, Franz von 82 Knapp, Georg Friedrich 107 Koenig, Pierre 241 Kohen (Familie) 212 Koldewey, Carl 165 Koniásˇ, Antonín 17 Koselleck, Reinhart 196 Krauß, Alfred von 140 Kreisky, Bruno 234 Krismanic, Gideon von 151 Kübeck von Kübau, Karl Friedrich Freiherr 52, 57, 60 Langenau, Karl von 67 f. Lasser, Joseph 126
Lattre, Peter Nicolaus Constantin de 190 Laube, Heinrich 87 Laube, Gustav 166 Lehmann, Max 14 Leiningen, Karl Emich Fürst von 119, 122 Lengauer, Hubert 90 Lenin, Wladimir Iljitsch 172 Leopold II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, König von Böhmen, Kroatien und Ungarn, Erzherzog von Österreich 46 Leopoldine Marie Josepha Caroline, Erzherzogin von Österreich, Kaiserin von Brasilien und Königin von Portugal 159 Lesseps, Ferdinand de 222 Lichtenstein, Martin Hinrich 160 Lindenau, Bernhard von 67, 69, 75, 78 ff. List, Friedrich 90, 218 Löbe, Paul 187 Lónyay, Carl Graf von 147 Ludwig I., König von Bayern 65, 73 Lueger, Karl 27, 170 Lüttwitz, Walther Freiherr von 182 Luxemburg, Rosa 180 Maaßen, Karl Georg 194 Magris, Claudio 92 Maltzan, Mortimer von 69 Manteuffel, Edwin von 132 Manteuffel, Otto Theodor Freiherr von 123 f., 129, 134 Maria Theresia, Königin von Ungarn und Böhmen, Erbherzogin von Österreich 7, 11, 17 – 20, 22 f., 25, 29, 33, 37 f., 40, 92, 215 Martius, Carl Friedrich Philipp von 159 Marx, Karl 172 Marx, Wilhelm 184 Matthias, Kaiser des Heiligen Römischen Reichs 12 Maximilian, Prinz von Baden 181 Meksa, Grigorio 212 Mensdorff, Alexander 131, 149 Menz, Johann 74 Menzel, Wolfgang 87 Metternich, Klemens Wenzel Lothar Fürst von 50 f., 63, 65 f., 68 f., 76, 78 – 87, 125, 149, 159, 231, 238 Meyen, Franz Julius Friedrich 161
Personenverzeichnis Mieck, lja 198 Mikan, Johann Christian 159 Miklas, Wilhelm 175 Mikoletzky, Leo 246 Minerbi (Familie) 212, 228 Molotow, Wjatscheslaw Michailowitsch 244 Moltke, Friedrich von 142 Moltke, Helmuth von (der Ältere) 10, 130, 139 – 148, 150, 152 ff. Mondolfo (Familie) 212 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat Baron de 147 Motz, Friedrich von 63, 66, 69 – 75, 81 f., 194 Mozart, Wolfgang Amadeus 11, 89 Müller, Hermann 185, 188 Münch-Bellinghausen, Eduard von 68 f. Nadasdy, Michael Graf 60, 69, 76 ff., 82 Natterer, Johann 159 f. Naumann, Friedrich 225 Negrelli von Moldelbe, Alois (gen. Luigi) 221 ff. Nikolaus II., Kaiser von Russland 180 Nipperdey, Thomas 190 Olfers, Ignaz von 160 Ompteda, Ludwig von 70 Osmanczyk, Edmund 245 Osterhammel, Jürgen 101 Oswald, Wilhelm 193 Otterstedt, Friedrich von 69 Paetau, Rainer 127, 129 Pansch, Adolf 166 Papen, Franz von 176, 182, 185 f., 235 Parente (Familie) 212, 220 Patow, Robert von 124, 127, 134, 162, 200 Payer, Julius 166 f. Perthaler, Hans von 127 Peter I., Prinzregent, als Dom Pedro I. Kaiser von Brasilien, König von Portugal 158 f. Petermann, August 164 – 168 Pfister (Familie) 213 Philippsberg, Eugen von 68 Pillersdorf, Franz Xaver (III.) Freiherr von 52, 60 Pius VI., Papst 20 Plener, Ernst von 149
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Plener, Ignaz von 126 Plutarch 9 Podzius, Emilie 179, 181, 185 ff. Pohl, Johann Emanuel 159 Poniatowski, Stanislaus 22 Poschinger, Heinrich von 199 Premuda (Familie) 212 Preuß, Hugo 233 Quessel, Ludwig 179 Quetelet, Adolphe 100 ff. Quistorp, Heinrich 202 Raab, Julius 246 Raddi, Joseph 159 Radetz, Josef Wenzel Anton Franz Karl Graf Radetzky von 143 f., 146 Radtke, Wolfgang 196, 199 Rainer Ferdinand Maria Johann Evangelist Franz Ignaz, Erzherzog von Österreich 119, 126 Ralli (Familie) 212 Ranke, Leopold von 198 Rauchberg, Heinrich 115 Rechberg, Bernhard von 125 f., 128, 131, 135, 149 Redlich, Josef 141 Regele, Oskar 141 Regensdorff, Carlo 212 Reitmayer, Morton 205 Renner, Karl 10, 169 – 178, 180, 188, 234 f., 243 f., 246 Renner, Leopoldine 170 Renner, Maria 169 f. Renner, Matthäus 169 f. Renner, Wolfgang Friedrich 213 Ressels, Joseph 217 Revoltella, Pasquale 201, 205, 210 ff., 217, 222 f., 226 Reyer, Francesco Taddeo 210 ff., 217 Reyher, Karl von 145 Riedkirchen, Wilhelm Freiherr Ramming von 147 Rietra, Madeleine 85 f. Ritter, Carl von 142 Ritter, Johann Christoph 212 f., 217 Rittmeyer (Familie) 213 Roon, Albrecht von 132 f., 145, 164
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Personenverzeichnis
Roosevelt, Franklin D. 240 Rötger, Max 204 Rother, Christian von 55 f., 194 – 199, 208, 218 Rothschild (Bankhaus) 203, 211 Rothschild, Nathan 55 Rothschild, Salomon Meyer 220 Rumpler, Helmut 49 Sartorio, Giovanni Guglielmo von 211 f. Saurau, Franz Graf von 49 Sauvage, Pierre Louis Frédéric 217 Schaffgotsch, Philipp Gotthard Graf von 19 ff. Scharnhorst, Gerhard Johann David von 145, 153 f. Scheel, Hans von 115 Schenker, Gottfried 228 Schieder, Theodor 20 Schiller, Friedrich von 89 Schilling, Hermann 204 f., 208 Schinckel, Max von 203 f. Schleinitz, Alexander von 124, 130, 132 Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg, Friedrich Emil August Herzog von 131 Schlichting, Sigismund von 140 Schmerling, Anton von 9 f., 119 – 132, 135 ff. Schmidt, Rudolf 236 Schmoller, Gustav von 55 Schnell-Griot, Johann David 213 Schober, Johann 175 Schoeller, Alexander 203 ff. Schönerer, Georg von 26 Schott, Heinrich Wilhelm 159 Schrader, Paul 189 Schroeder, Franz 206 Schuckmann, Friedrich von 70 Schulenburg, Friedrich von 76 Schulenburg-Kehnert, Friedrich-Wilhelm Freiherr von der 191 Schulze, Hagen 180, 187 Schuschnigg, Kurt 235 Schwarzenberg, Felix Prinz (Fürst) zu 122, 198, 223 Schweighofer, Johann Michael 215 Schwerin-Putzar, Maximilian von 124, 133 Seipel, Ignaz 175
Sellow, Friedrich 160 f., 168 Severing, Carl 184 Siemens, Georg von 203 Sinzendorf, Philipp Ludwig Fürstbischof Kardinal von 19 Smith, Francis 217 Sochor, Dominik 159 f. Sonnenfels, Joseph von 209 Spix, Johann Baptist von 159 Srbik, Heinrich Ritter von 141 Stadion, Johann Philipp Graf 43, 48, 50 ff., 55, 57 ff., 60 Staegemann, Friedrich August von 191 f. Stalin, Josef Wissarionowitsch 139, 172, 177, 240, 243 Stanislaus Antoni Poniatowski, als Stanislaus II. August König von Polen und Großfürst von Litauen 21 f. Stark, Oskar 220 Starkenfels, Caroline Weiss von 222 Stein, Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum 153, 191 f., 199 Steiner, Melchior Ritter von 52 Sterneggs, Inama von 104 Stewart, Robert (Viscount Castlereagh), 2. Marquess of Londonderry 43 Stinnes, Hugo 183, 208 Stockmar, Christian Friedrich von 124 Stoisits, Luise 170 Streicher, Julius 238 Ströbel, Heinrich 181 Struensee, Karl August 191 Süßmilch, Johann Peter 108 Suttner, Berta von 153 Szécsen von Temerin, Anton Graf 135 Tegetthoff, Wilhelm von 150, 161, 167 Thun, Leo Graf von 128 Tisza, Istvan Graf 26 Torlonia (Bankhaus) 220 Trauttmansdorff, Ferdinand von 65 Treitschke, Heinrich von 198 Tripcovich (Familie) 212 Uechritz, Emil von 80 Vay de Vaja, Miklos Baron 135 Velsen, Otto von 206
Personenverzeichnis Victoria, Kaiserin von Indien und Königin von Großbritannien und Irland 124 Victoria, Prinzessin von Großbritannien, Königin von Preußen, Deutsche Kaiserin 124 Viktor Emanuel II., König von Italien 150 Vincke, Georg Freiherr von 134 Vucetich, Michele 212 Waldheim, Kurt 232 Weber (Familie) 213 Wehler, Hans-Ulrich 51 Weichmann, Herbert 182 Wendt, Johann Wilhelm 196 Westphalen, Ferdinand Otto Wilhelm Henning von 123 Weyprecht, Carl 167 Wilczek, Hans Graf 167 Wilhelm I., Prinzregent, König von Preußen, Deutscher Kaiser 120, 123 ff., 132 – 137,
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144 f., 147, 162, 164 – 168, 202, 222, 227, 232 Wilhelm II., König von Preußen, Deutscher Kaiser 204, 228, 239 f. Wilhelm II. (Hessen-Kassel), Kurfürst von Hessen 67 f., 80 Wilhelm III. (Oranien), König von England und Irland, als Wilhelm II. König von Schottland, Statthalter von Holland, Zeeland und Utrecht 12 Winter, Eduard 86 Wojciechowski, Zygmunt 240 ff. Wrangel, Ernst von 145 Zedlitz, Karl Abraham Freiherr von 38 Zedlitz und Neukirch, Octavio Freiherr von 204 Zentner, Georg von 64 f. Zeschau, Heinrich von 78