Atopien im Politischen: Politische Bildung nach dem Ende der Zukunft 9783839452011

Wir sind im Begriff, unsere Welt zu verlieren. Nicht nur die Umwelt als ökologisch empfindsamer Kreislauf steht auf dem

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German Pages 254 [248] Year 2021

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Atopien im Politischen: Politische Bildung nach dem Ende der Zukunft
 9783839452011

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Werner Friedrichs (Hg.) Atopien im Politischen

Bildungsforschung | Band 6

Werner Friedrichs (Dr. phil.), geb. 1967, verantwortet die Lehreinheit zur politischen Bildung an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in der Entwicklung einer Philosophie der politischen Bildung an der Schnittstelle von Ästhetik und Politik.

Werner Friedrichs (Hg.)

Atopien im Politischen Politische Bildung nach dem Ende der Zukunft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabildung: Werner Friedrichs/JAJAJA Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5201-7 PDF-ISBN 978-3-8394-5201-1 https://doi.org/10.14361/9783839452011 Buchreihen-ISSN: 2699-7681 Buchreihen-eISSN: 2747-3864 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

I. Hinführendes Kommende politische Bildungen Über das Zukünftigen nach der Zukunft Werner Friedrichs ............................................................ 11

Wo kommen wir her? Wo sind wir danach? Politische Bildungen nach dem Ende der Zukunft Werner Friedrichs ........................................................... 27

II. Orientierungen im Atopischen Arrangement – Affizierung – Artikulation Politische Bildung in Gefühls(-verwirrungs-)szenerien Florian Weber-Stein ......................................................... 67

The experiment is gescheitert…!? Topischer Utopismus als atopische politische Bildung Paul Sörensen............................................................... 85

Von Menschen und anderen Tieren im Berliner Tiergarten Ingo Juchler ................................................................105

»Wenn Bildung Spaß machen würde, wäre sie vermutlich verbreiteter.« Über Widerständigkeit Sven Rößler ................................................................ 133

Spiel, Muße und Entscheidungen Reflexionen eines Experiments Josepha Zastrow ............................................................159

III. Fluchtlinien atopischer Bildung*en Atopische Politische Bildung*en | Wie wir Werden Mit einem Vorwort von Werner Friedrichs G. Maria Soltro .............................................................. 179

Widerständige Gespenster Mareike Gebhardt ........................................................... 191

Another Possible is Possible Fiona Schrading............................................................. 197

Relevante Praktiken der Gegenwart mit lückenhafter Infrastruktur Ein Kommentar zu G. Maria Soltros Atopischem Manifest Petra Sabisch .............................................................. 205

Unterwegs. Ein Mailgespräch Berlin – Bangkok Luisa Anna Pazzini, Karl-Josef Pazzini ....................................... 211

Bilder als Allianzen für gegenspekulative Gegenwartsbewältigung Konstanze Schütze .......................................................... 221

Das Verhängnis des Topos Politische Bildungen im Spannungsfeld des UnMöglichen? Max Barnewitz ............................................................. 229

Wir alle simulieren Zukunft nur noch Ein Kommentar zu G. Maria Soltros »Atopische politische Bildung*en« Tonio Oeftering ............................................................ 235

Nicht planen – ausprobieren Dominik Klein .............................................................. 239

Kommentar zu »Atopische politische Bildung« Fritz Reheis ................................................................ 243

Autor*innenverzeichnis ............................................. 247

Kommende politische Bildungen Über das Zukünftigen nach der Zukunft Werner Friedrichs

Kann am Beginn des 3. Jahrtausends noch über die Zukunft nachgedacht werden? Darüber, wie wir uns als Gesellschaft auf sie – mittels einer gelingenden Bildung – vorbereiten? Oder läuft nicht jegliche Agenda der politischen Bildung in die Leere einer fehlenden Zukunft? Denn: Ökologische, ökonomische und soziale Verwerfungen haben ein vollkommen neues Maß erreicht. Müssen wir uns möglicherweise komplett neu entwerfen? Uns selbst nicht mehr als autonome Subjekte auf der Bühne der Welt gerieren, sondern uns als verwickelte Bildungen von Subjektivität, als politische Bildungen nach der Zukunft verwirklichen – weil die Zukunft ohnehin längst verloren ist? Ähnliche Überlegungen zu politischen Bildungen nach der Zukunft, die sich mit einer gewissen Zukunftslosigkeit der Gegenwart beschäftigen, drohen ins Trübe zu führen. Kraftraubend, enervierend und sinnlos. Denn jegliche, aufkommende Gedanken über Nichtzukünftiges werden von Anbeginn an vom Sog der Bedeutungslosigkeit erfasst. Für engagierte, politische Bildner*innen, die in den Weltlauf so eingreifen wollen, dass er sich zum Guten wendet, mutet ein solches Denken zunächst wenig attraktiv an. Lust daran können höchstens Kassandrarufer*innen oder Apokalyptiker*innen haben, die noch zynisch das kommende Ende herbeidenken und sich dabei depressiven Stimmungen oder gar einem lustvollen Todestrieb hingegeben. Solche Haltungen invertieren ein nach Sinnerfüllung strebendes, menschliches Dasein: Das ist in der Regel auf das Glücksversprechen der Zukunft ausgerichtet. Selbst im Angesicht der unumstößlichen Gewissheit des eigenen Seins zum Tode (vgl. Hei-

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degger 1967, 263f.) ist es das Zukünftige, das Weiterexistieren der eigenen Spuren über den Tod hinaus, das in dunklen Momenten Trost zu spenden in der Lage ist: Erinnerungsfotos, Kunstwerke, Geschriebenes, weitergebener Schmuck, Sammlungen von seltenen Dingen oder die eigenen Kinder (als Sinngebungsmaschinen) bewahren ein Andenken an die dann faktisch erloschene, eigene Existenz. Eine Zukunftslosigkeit geht damit noch über den individuellen Tod hinaus. Ohne Zukunft wird man nie gewesen sein. Der Verlust der Zukunft scheint somit denkbar hoffnungslos. Und doch! Und doch könnte im Aufgeben einer bestimmten Denkfigur der Zukunft eine Antwort auf die derzeitige »Metakrise« (Leggewie/Welzer 2011, 20) liegen. Denn die Hoffnung auf die planbare, die mögliche Zukunft – die sich gerne als Kraftquelle jeglichen Engagements empfiehlt – entpuppt sich zunehmend als Hemmschuh. Zwar stellt sich in den Zeitdiagnosen inzwischen ein realistischerer Unterton ein. Was noch vor wenigen Jahren/Jahrzehnten als dystopisches Schreckensszenario ausgewiesener Schwarzseher*innen etikettiert wurde, erweist sich längst als ernsthaft anzunehmender, wahrscheinlicher Weltlauf. Bilder von entflammten Meeren (Juli 2021, Golf von Mexiko), brennenden Landstrichen mit hunderten Millionen verkohlter Tierkadaver (Februar 2020, Australien), plötzlich aufklaffenden Erdkratern (seit Anfang 2020, Sibirien) oder von durch Sturzfluten hinweggerissenen Menschen, Gebäuden, Brücken und PKWs (August 2021, Deutschland) sind längst nicht mehr allein Bestandteile eines hollywoodesk produzierten, lüsternen Horrorspektakels. Der dort imaginierte Weltsplatter überholt längst die lebensweltlichen Realitätserwartungen. Täglich. Wir sind entsprechenden Bildsequenzen im Stakkato regelmäßiger Nachrichten ausgesetzt und fangen mühsam an, sie in ihrer realen Dramatik zu erfassen. Noch aber orientieren sich die unzähligen, tapferen Forderungen an der Zukunft. Wenn Greta Thunberg sie als gestohlen meldet, dann sicher auch, um die Herausgabe des Diebesgutes zu fordern. Denn der jungen Generation, sagt sie, gehöre die Zukunft. Sie dürfe nicht zu Ende sein. Niemand wolle ohne Zukunft leben.

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Dieses nostalgische Festhalten an liebgewonnenen Orientierungsmarken kann aber über die jüngsten Entwicklungen nicht hinwegtäuschen. Wir müssen eher das Sterben lernen als das Leben zu gestalten (vgl. Scranton 2015), uns eher in der zerstörten Welt einrichten als auf ihre Reparatur zu hoffen (vgl. Bubandt u. a. 2017). Ergo: Die Zukunft ist schal geworden. Sie scheint gerade noch als Opium für die Engagierten zu taugen oder als ein die toxischen Folgen »imperialer Lebensweisen« (Brand/Wissen 2017) in die Ferne verbannender Entsorgungshof. Lassen Sie uns darüber nachdenken, wie wir in Zukunft (nicht jetzt!) damit umgehen wollen! Wenn wir aber im Angesicht existentieller, umfassender Herausforderungen im Anthropozän nicht nur nach neuen Agenden suchen, sondern das In-der-Welt-Sein mit einem Male selbst in Frage steht (vgl. Horn 2017); wenn der Frage In welcher Welt leben? (Danowski/Viveiros de Castro 2019) ein gewisser Ernst gegeben werden soll: Muss dann die gestohlene, leergelaufene Zukunft wirklich zurückgefordert werden? Wollen wir die überhaupt noch haben? Insbesondere jene vergangene Zukunft, die die Entwicklung der westlichen Gesellschaften in den letzten Dekaden maßgeblich getaktet hat. Jene Zukunft als Versprechen des Besseren, als Vorausschau auf ein Ziel, als Einlösung lang gehegter, aufgeschobener Wünsche. Jene Zukunft, die auf chronometrischen Gleisen durch eine Landschaft namens Szenario erreichbar ist (vgl. Buchholtz 2019). Eine Zukunft, auf die man (sic!) vorausschauen kann, für die man Karten anfertigen kann. Eine Zukunft, die zu bewältigende Probleme bereithält. Eine als Utopie wünschbare, gestaltbare und sogar skalierbare Zukunft: »Mehr Zukunft wagen!« (Jaeger 2019). Mit dieser Planbarkeitszukunft verbunden ist jener eigenschaftslose, vorwärtsgerichtete Vektor, der auf sie vorausweist und häufig plakativ mit der Worthülse Fortschritt überschrieben wird (vgl. dazu Jörg 2020). Der die Zukunft affiziert, sie als attraktives Ziel markiert, sie mit seinen Suggestionen kontaminiert: Es ginge immer irgendwie voran. Sei bereit für die Zukunft! Die Zukunft antizipieren und gestalten! Das diffuse Unbehagen, das solche implodierend-formelhaften Imperative erzeugen, rührt nicht von ihren Aufforderungen zum Tätigsein her. Es ist eher das Bild des automatisch herbeikommenden Zukünftigen. Der Lauf

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der Zeit, der Lauf der Dinge. Diese sich hartnäckig haltende Vorstellung wird genährt von den Imaginationen von der (kommenden) Zukunft. In dieser Schematisierung der Zeit haben sich in den letzten Jahrzehnten alte Bruchlinien verstärkt. An drei solcher Perforationen sei kurz erinnert: •



Erstens: Die Vorstellung einer im Rücken der Akteure – schicksalhaft, unabwendbar – ablaufenden Zeit steht in den Sozialwissenschaften schon länger in der Kritik. So ist spätestens mit Luhmanns Ausarbeitung einer operativ gewendeten Theorie sozialer Systeme deutlich geworden, dass soziale Strukturen Zeit höchst selbst erzeugen und nicht in der Zeit entstehen (vgl. etwa Luhmann 1984, 377ff.). Zeit ist demnach keine unabhängige, transzendente oder transzendentale Größe, die Zeit-Räume vorgibt, in denen gehandelt werden kann. Zeit ist operativ. Sie entsteht erst in und mit empirischen, sozialen Praxen, einzelnen Handlungen oder orchestrierten Abläufen. Das heißt etwa, dass die Beschleunigung von Abläufen tatsächlich beschleunigt – und eben nicht (!) Prozesse in der Zeit schneller laufen lässt (vgl. Avanessian 2013). Zweitens: Die Vorstellung einer physikalisch ablaufenden Zeit ist buchstäblich sinnlos. Der Unterschied zwischen heute und morgen, gestern und übermorgen oder vergangenen und zukünftigen Jahrestagen kann nicht einfach als Differenz gemessen werden. Allen Atom-, Sonnen- und Stoppuhren zum Trotz. Sie mögen Gesellschaften ein Stück weit chronometrisiert haben, aber die Differenz zwischen 14.00 Uhr und 15.00 Uhr MEZ kann nicht ohne ein entscheidendes »Supplement« (Derrida 1983, 244ff.), ein Vorausgehendes, technisch erfasst werden. Der Unterschied zwischen den Differenzen von blau und schwarz, Haus und Auto oder morgens und abends ist nämlich nur über wirksame Differenzen zugänglich. Im Gegensatz zu Verschiedenheiten in der Sache ist zeitlichen Differenzen eine sinnhafte »Temporisation«, eine »différance« (Derrida 1988, 35) eingeschrieben. Zeit kann nicht anders als sinnförmig gegeben sein.

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Drittens: Zuletzt ist es die Annahme einer Idealität der Zeit, die neueren Forschungen, insbesondere Erkenntnissen aus der Quantenphysik (vgl. Barad 2007), nicht mehr standhalten kann. Wirkmächtig hatte Kant der Moderne ein Denkbild vererbt, wonach die Zeit Ermöglichungsbedingung für das Entstehen von Zusammenhängen ist. Im vorliegenden Zusammenhang ist weniger interessant, dass die Zeit damit in die Ideenwelt verlagert wurde. Entscheidender ist, dass Zeit unabhängig von den Dingen gedacht wurde, dass die Zeit die (äußere) Bedingung der Möglichkeit sei. Dieser kantischen Schematisierung nach zerfallen Dinge in der Zeit, verwesen, lösen sich auf. Einem solchen ontologischen Reservat für die Zeit wird inzwischen die Daseinsberechtigung abgesprochen. Im Anthropozän, einer immanentisierten Welt der Vernetzungen, Verwicklungen, Überschneidungen und Verschränkungen wird vielmehr deutlich, dass Raum und Zeit von materialen Zerfallsprozessen, Verteilungen und Verdichtungen erzeugt werden. Statt von Raum und Zeit und den darin befindlichen Materien auszugehen, erfasst die Denkfigur eines »ongoing […] space-timematterings« (ebd., 448) trefflicher die gleichzeitige Entstehung von Raum, Zeit und Materie. Neue technische Entwicklungen (wie etwa die Atombombe (vgl. Barad 2017)) zeigen, dass Zeit und Materie in einem engen, wechselseitigen Bedingungszusammenhang stehen. Zeit ist materiell.

Wenn sich die Zeit somit als eine operativ erzeugte, sinnhaft-materielle Größe erweist, bekommt die Frage danach, ob wir die Zukunft zurückhaben wollen, eine neue Wendung. Denn ohne das Phantasma der Zukunft, die auf einem unabhängigen, taktgebenden, separierten Zeitstrahl herannaht, werden die Gegenwartspraxen als Zeit generierende, materiell-sinnhafte Konstellationen beschreibbar. Sie zu-künftigen. Es zeigt sich dann umso deutlicher, dass die Zukunft als kommende, unbekannte Größe die alltägliche, demokratische Existenzweise in ein Sicherheitsdelirium versetzt: zwar haben alle Handlungen Auswirkungen auf die Zukunft, aber auf eine Zukunft, die erst noch kommt und die überdies unbekannt ist. Der kleine Spalt, der sich hier zwischen

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dem produktiven, aktiven Zukünftigen der Praxen und der Zukunft (die automatisiert auf uns zukommt) auftut, unterbricht den Zukunftsvektor. Es ist ein Unterschied, ob mensch sich dem Phantasma hingibt, sein soeben getätigter Flug könnte zwar durch die dadurch erzeugten CO2 Emissionen negative Auswirkungen in der Zukunft haben – müsste er aber nicht. Oder ob mensch mit dem unausweichlichen Faktum leben muss, durch eben diesen Flug die Zeit verändert zu haben. Die Treibhausgase, die sich unwiederbringlich in das materiale Gewebe des Systems Gaia (vgl. zum Begriff »Gaia« Latour 2017) einschreiben und es faktisch in seinen zeitgenerierenden Prozessen verändern. Schnellere Zerfallsprozesse, stärkere Unwetter, rascher untergehende Inseln, kürzere Lebensspannen unzähliger Lebewesen usw. Ein solches Zeitverständnis ermöglicht ein genaueres Verständnis verwickelter und verschränkter Abläufe: Die Zukunft modalisiert die Handlung in einem Möglichkeitsraum und virtualisiert damit ihre Folgen. Das Zukünftigen verwirklicht dagegen die Temporisation der Existenzweise. Die Zukunft erweist sich auf dieser Folie als faule, ungedeckte Ausfallsbürgschaft. Wer allein sie zur Grundlage macht, missachtet die zeiterzeugende Dimension der alltäglichen Existenzweise. Man kann so über sie befinden, für sie planen, sich auf sie vorbereiten. Man nimmt mit seinen Planungsunterlagen Platz in der Kanzel, die einen Ausblick auf Kommendes verspricht. Man kartiert Möglichkeiten. Gerade in der Frage des demokratischen Zusammenlebens, der Frage danach, wie wir zusammenleben wollen, schien dieses Vorgehen bisher plausibel. Niemand wollte sich ohne Zukunftsprogramm dem demokratischen Wettbewerb aussetzen. Vor dem Hintergrund eines veränderten, materialisierten Raum- und Zeitverständnisses erweisen sich diese Aussichten auf die Zukunft dagegen als zentrale Bestandteile einer weltabgewandten Lebenspraxis. Die Zukunft fungiert als Label für eine »Vertagung« (Derrida 1992). Aus dem Blick gerät, dass es einen »Schub des Aufschubs« (Derrida 2006, 61) gibt, ein space-time-mattering im Vollzug der Existenz. Das Klammern an der Zukunft verdeckt dieses Zukünftigen jedes gegenwärtigen Existierens. Wenn politische, demokratische Bildungen der menschlichen Existenzweise dienlich sein sollen, müssen sie auf diesen Schub, dieses

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mattering zugespitzt werden. Zukünftigende Demokrat*innen können nicht in Zukunftswerkstätten eingesperrt, in vorausschauenden Zeigeordnungen dressiert werden, in Planspielen über Mögliches und Unmögliches räsonieren oder in Szenariotechniken mit illusionären Future-Stewardship-Mentalitäten versorgt werden. Ebenso kann nicht jetzt festgelegt oder gemessen werden, welche Zukunftskompetenzen mensch braucht. Zukünftigende Bildungen werden erst im Rückblick wirksam gewesen sein. Sie sind ein »stetiges Freilegen von Zukunft als Verwirklichungsprozess des Menschen« (Heydorn 1980, 285). Solche politischen Bildungen bereiten nicht auf etwas Kommendes vor, sondern sind das Kommen selbst oder frei nach Derrida: Politische Bildungen à venir.1   Es geht los!   Damit geht es um das Auffinden und Freilegen zukünftigender Praktiken politischer Bildungen, die nach der Verabschiedung der Zukunft denkbar sind. Es geht um neue Weltverhältnisse. Nicht von Utopien als möglichen Zukünften zu schwärmen, sondern in Atopien Verortungen und Verzeitlichungen vorzunehmen. Es ist eine Reihe ineinander verschachtelter Verlaufslinien und Begegnungen, die zu diesem Band geführt haben. Der Anstoß erfolgte

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Politische Bildungen werden hier als Verwirklichung der Demokratie gedacht. Mensch lernt nicht über Demokratie, sondern Demokratie verwirklicht sich in den demokratischen Subjektivierungsweisen, in demokratischen/politischen Bildungen (vgl. dazu auch Friedrichs 2020a; Friedrichs 2020b). Im Angesichte der Zu-künftigkeit der Demokratie befinden sich auch die demokratischen Bildungen im Kommen (à venir): »Denn die Demokratie bleibt künftig, bleibt im Kommen, bleibt, indem sie kommt, das ist ihr Wesen, sofern sie bleibt: Sie wird nicht allein unbegrenzt vervollkommnungsfähig, also stets unzulänglich und zukünftig sein; der Zeit des Versprechens angehörend, wird sie vielmehr stets, in jeder ihrer künftigen Zeiten, künftig und im Kommen bleiben: Selbst wenn es die Demokratie gibt – sie existiert nicht, sie ist nie gegenwärtig, sie bleibt das Thema eines nicht darstellbaren und nicht zur Anwesenheit zu bringenden Begriffs.« (Derrida 2000, 409)

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aus dem raumlosen Cybernet. Eine Rundmail aus einer Verteilerliste (buttclub) auf nadir.org erreichte am 17.05.2018 meinen Posteingang.2 2025 Kunst und Kultur e.V. lud ein: »Künstler/innen von 2025 werden vom Ausstellungsraum zu einer atopischen [Herv. von mir, W. F.] Reise zu und ins Jahr 2025 aufbrechen. 2025 e.V. und Besucher reisen mit dem 3-er Bus Richtung Westen. Stewards führen in den Geist der Aktion ein. Der Bus wird immer wieder verlassen. Die Orte sind Arenen. Sie sind bühnentauglich für Veräußerungen. Ihre Wände bilden Showrooms. Die Hymne des 2025 findet ein Echo im Genre-Mix der Jukebox. Die Bewohner scheuen nicht. Für das leibliche Wohl wird gesorgt. Erinnerungen treffen auf Visionen und diese auf statistische Fakten, Text, Bild, Musik und Tanz. Beim Passieren des Teilchenbeschleunigers kann es selbstverständlich zu RaumZeitVerschiebungen kommen.« (E-Mail vom 17. Mai 2018 um 03:45 Uhr MEZ)3 Was für ein Versprechen. Eine Zeitmaschine im öffentlichen Raum. Meine Neugier war geweckt. Am Folgetag fand sich um 18.55 Uhr in der Ruhrstraße in Hamburg eine Reisegruppe zusammen. Angeleitet wurde sie durch Iris Minich und Arvild Baud, die zusammen das Performer*innenduo JAJAJA bilden. Es ging, so hieß es, um eine Reise ins Atopische. Mit Kopfhörern in einen immersiven Raum versetzt, bewegten wir uns mit dem Bus und zu Fuß durch die Straßen, in Billardcafés, in Ausstellungen, entlang von Baustellen, in Treppenhäusern, auf der Trabrennbahn Bahrenfeld oder in einer Boxkampftrainingsstätte. Über die Kopfhörer wurden wir mit Sounds, Erzählungen, Spekulationen

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Genaugenommen durchlief die E-Mail noch eine Zeitschleife über das Postfach von Elke Spanner, die mir diese Einladung dankenswerterweise weitergeleitet hat. Ausgesprochen wurde die Einladung im Namen der Beteiligten: JAJAJA (Iris Minich & Arvild J.Baud), CAS & Ingmar Böschen, Claudia Hinsch, Gloria Brillowska, Lukasz Chrobok aka Mc Oylae, Trainer David, Gecko, Günter Reznicek, Isabell Kamp, Roland Doil, Sophia Lund, Alexander Raymond, Philippa Jasper, Kunst & Sportverein Osdorf, Gerd Finke, Gunnar Gerlach.

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versorgt.4 Der Bildungswert des Formats bestand aber nicht darin, dass uns Versionen möglicher Zukünfte präsentiert wurden. Wirksam wurde die atopische Reise vor allem dadurch, dass wir unsere Handlungsund Bewegungsformen änderten. Wir gingen an einem gemeinsamen Seil. Vorwärts. Rückwarts. Schnell. Langsam. Wir stimmten gemeinsame Töne an. Tanzten. Alle. Wir nahmen Spendengaben einer Bettlerin entgegen. Änderten Umgangsformen des Miteinanders. Auf unserer Reise haben wir in Choreographien performativ darüber spekuliert, wie wir uns geändert haben werden, wenn wir unsere Praxisformen ändern (vgl. dazu auch Sabisch 2011). Es ging nicht um den Ausblick auf die ferne Zukunft in möglichen Utopien, sondern das operativ wirksame Zukünftigen in der Gegenwart – um das in sich selbst eindringende Topische, das A–topische. Es hieß: »Willkommen in Atopia« (JAJAJA). Diese dichte, intensive Mischung zwischen artistic research und einer öffentlichen, interaktiven Performance erzeugte bei mir einige Resonanz. Was für eine spannende Strategie, in die »Aufteilung des Sinnlichen« (Rancière 2008) – die Politik – einzudringen. Sie jenseits kalter, kognitiver Reflexionsarbeit greifbar zu machen. Es war nicht die Methode (= der Weg), der zwischen den Geländern von Zeige- und Erklärungsordnungen von A nach B führen sollte. Es war eine Strategie, die ihre Wirksamkeit aus der Veränderung von Situationen und inkorporierten, sozialen Skripten entfaltete (vgl. Jullien 1999). Keine Irritation im herkömmlichen (schulpädagogischen) Sinne, kein erfahrungspädagogisches Setting, das die Sinnlichkeit zusätzlich zum Rationalen ansprechen sollte. Radikaler. Immanenter. Durch das immersive Format wurde eine gänzliche Umschrift der je subjektiven Sensibilität erreicht. Die Reise glich einer »Wunschmaschine« (Deleuze/Guattari 1977), einer experimentellen »Maschinerie zur Herstellung von Zukunft« (Rheinberger 2006, 25). Sie gewährte das Eintauchen in eine verschobene OntoEpistemologie. Was für eine Gelegenheit für demokratische Bildungen!

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Vgl. die ausschnittsweise Dokumentation unter: https://www.youtube.com/wa tch?v=pWR2xXokfRQ&t=1s [zuletzt: 20.08.2021].

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Ich wollte dieses bildsame Momentum zirkulieren lassen. Zunächst versuchte ich zusammen mit einem Mitarbeiter der Universität Bamberg ein solches Format für die politische Bildung zu rekonstruieren. Wir scheiterten kläglich. Insbesondere die fehlende künstlerische Expertise ließ unsere Gehversuche schon in einem frühen Stadium aussichtslos erscheinen. Also knüpfte ich Kontakt zu Arvild Baud und Iris Minich von JAJAJA. Wir trafen uns zunächst im August 2018 im wunderschönen Café Gnosa in der Langen Reihe, Hamburg. Aus dem Kennenlernen bei Kaffee und Kuchen wurden regelmäßige Treffen, in denen wir an Ideen für ein gemeinsames Format feilten. Mit dem gemeinsam entwickelten Konzept zur Erprobung demokratischer Existenzweisen konnten wir schließlich die Bundeszentrale für politische Bildung als Födererin gewinnen, was uns die Durchführung eines öffentlichen Experiments in Bamberg ermöglichte.5 Am 11. und 12. Juli 2019 begaben wir uns schließlich unter dem Titel »A-Topische Politische Bildungen« auf einen immersiven Soundwalk durch Bamberg. Der Einladung zu der interaktiven Performance folgten 22 Wissenschaftler*innen und Multiplikator*innen aus dem Bereich der politischen Bildung und benachbarter Fächer. An der Vorbereitung des etwa sechsstündigen Kernexperiments beteiligten sich zahlreiche Student*innen und Aktivist*innen aus dem Raum Bamberg, aus öffentlichen Einrichtungen und Unternehmen.6 Innerhalb des Experiments haben wir unterschiedliche Bewegungsformen im öffentlichen Raum ausprobiert, Konfrontationen entfaltet, eine Fährfahrt invertiert, mit Dingen gesprochen, uns von Dingen ansprechen lassen, 5

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Es sei an dieser Stelle der Bundeszentrale für politische Bildung, namentlich den Ansprechpartner*innen Sabine Dengel, Linda Kelch und Thomas Krüger, für die gewährte Unterstützung ausdrücklich gedankt. Ohne die Förderung, die immer auch (über die konkrete finanzielle Förderung hinaus) eine Ermutigung darstellt, wäre das Experiment in der so durchgeführten Form nie zustande gekommen. Besonderer Dank geht an: Max Barnewitz, Jan Baur, Kilian Birner, Louis Coward, Tizian Dück, Elif Güzel, Bastian Hennig, Matthias Kolb, Verena Männer, Paul Marx, Marla Menzel, Ibrahim Mohamed, Riccardo Schreck, Atiree Gudeta Seboka, Vincent Weickart.

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auf Straßen getanzt, uns als fremde Organismen wahrgenommen, unsere Körper deterritorialisiert, mit Tieren Freundschaften geschlossen oder der Welt Begriffe geschenkt.7 Der vorliegende Band ist aus dem Experiment heraus entstanden.8 Er beansprucht ein Stück weit, einen das Experiment ergänzenden, diskursiven Raum zu eröffnen. Der erste Beitrag Wo kommen wir her? Wo sind wir danach? Politische Bildungen nach dem Ende der Zukunft ist eine erweiterte schriftliche Fassung meines einleitenden Vortrages vom 11. Juli 2019. Die weiteren Beiträge aus dem ersten Abschnitt von Florian Weber-Stein, Paul Sörensen, Ingo Juchler, Sven Rößler und Josepha Zastrow verarbeiten die Eindrücke des Walks und beziehen sich in der einen oder anderen Weise darauf, wie kommende politische Bildungen denkbar sein könnten. Im Übergang zum zweiten Abschnitt des Bandes findet sich ein kurzer Text von G. Maria Soltro. Die manifestartig verdichteten Gedanken versuchen, sich dem Kern eines Atopischen, eines Nach-Zukünftigen, anzunähern. Dazu beziehen neun Autor*innen in unterschiedlichster Art und Weise Stellung. Das Spektrum reicht von unmittelbaren Anschlüssen (Mareike Gebhard, Fiona Schrading und Petra Sabisch) über Weiterführungen (Luisa Anna Pazzini/Karl-Josef Pazzini, Konstanze Schütze und Max Barnewitz) und kritischen Auseinandersetzungen (Tonio Oeftering, Dominik Klein) bis zu einer Flaschenpost aus der vergangenen Zukunft (Fritz Reheis). Mit diesem Band verschränkt sich etwas, das ich kaum noch Hoffnung nennen mag. Eher der unbedingte Wille, auf das zukünftigende Momentum hinzuweisen, auf die Herausforderung, Strategien zu finden, anthropozäne Verwicklungen greifbar zu machen und neue, kommende Weltbeziehungen auch didaktisch zu kuratieren (etwa im Sinne von Adamczak 2017; Redecker 2020). Die Didaktik der politischen und sozialwissenschaftlichen Bildung sollte endlich aus ihrer Nische herauskommen und sich den Mut zusprechen, nicht nur die Welt, das

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Vgl. die ausschnittsweise Dokumentation unter: https://www.youtube.com/wa tch?v=ysVzG0_Tnm0&t=1s [zuletzt: 20.08.2021]. Für wertvolle Mithilfe bei seiner Herstellung danke ich Karolina Kohlmann und Jessica Schottorf.

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Kommende zu vermitteln, sondern in Kontakt zu treten mit Raum und Zeit generierenden Praxen, dem Welten (vgl. dazu Friedrichs 2020b). Sie muss sich sehr viel engagierter als »Kulturwissenschaft der Weltverhältnisse« (Friedrichs 2021) entfalten und damit den ihr zustehenden Platz in der Transformation der Gesellschaft einnehmen.

Literatur Adamczak, Bini (2017): Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende. Berlin. Avanessian, Armen (Hg.) (2013): #Akzeleration. Berlin. Barad, Karen (2007): Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning. Durham. Barad, Karen (2017): No Small Matter: Mushroom clouds, Ecologies of Nothingness, and Strange Topologies of Spacetimemattering. In: Nils Bubandt/Elaine Gan/Heather Swanson/Anna Tsing (Hg.): Arts of Living on a Damaged Planet. Ghosts of the Anthropocene. Minneapolis, S. 103-120. Brand, Ulrich/Wissen, Markus (2017): Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. München. Bubandt, Nils/Gan, Elaine/Swanson, Heather/Tsing, Anna (Hg.) (2017): Arts of Living on a Damaged Planet. Monsters of the Anthropocene. Minneapolis. Buchholtz, Jules (2019): Wem gehört die Zukunft? Wissen und Wahrheit im Szenario. Berlin. Danowski, Deborah/Viveiros de Castro, Eduardo (2019): In welcher Welt leben? Berlin. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1977): Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt a. M. Derrida, Jacques (1983): Grammatologie. Frankfurt a. M. Derrida, Jacques (1988): Die différance. In: ders. (Hg.): Randgänge der Philosophie. Wien, S. 29-52.

Kommende politische Bildungen

Derrida, Jacques (1992): Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa. Frankfurt a. M. Derrida, Jacques (2000): Politik der Freundschaft. Frankfurt a. M. Derrida, Jacques (2006): Schurken. Zwei Essays über die Vernunft. Frankfurt a. M. Friedrichs, Werner (2020a): Demokratie ist Politische Bildung. In: Moritz Peter Haarmann/Steve Kenner/Dirk Lange (Hg.): Demokratie, Demokratisierung und das Demokratische. Aufgaben und Zugänge der Politischen Bildung. Wiesbaden, S. 9-30. Friedrichs, Werner (2020b): Politische Bildungen in der critical zone: Versammeltes zu einem didaktischen Kompositionsprinzip. In: ders./Sebastian Hamm (Hg.): Zurück zu den Dingen. Politische Bildung im Medium gesellschaftlicher Materialität. Baden-Baden, S. 169-216. Friedrichs, Werner (2021): Radikale Demokratiebildung. In: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 97/H4, (i.E.) Heidegger, Martin (1967): Sein und Zeit. Tübingen. Heydorn, Heinz J. (1980): Überleben durch Bildung. Umriß einer Aussicht. In: ders. (Hg.): Ungleichheit für alle. Zur Neufassung des Bildungsbegriffs (Bildungstheoretische Schriften 3). Frankfurt a. M., S. 282-302. Horn, Eva. (2017): Jenseits der Kindeskinder. Nachhaltigkeit im Anthropozän. In: Merkur, H. 814, S. 5-17. Jaeger, Lars (2019): Mehr Zukunft wagen! Wie wir alle vom Fortschritt profitieren. Gütersloh. Jörg, Kilian (2020): Backlash. Essay zur Resilienz der Moderne. Hamburg. Jullien, François (1999): Über die Wirksamkeit. Berlin. Latour, Bruno (2017): Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das neue Klimaregime. Berlin. Leggewie, Claus/Welzer, Harald (2011): Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie. Frankfurt a. M. Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a .M.

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Rancière, Jacques (2008): Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Berlin. Redecker, Eva von (2020): Revolution für das Leben. Frankfurt a. M. Rheinberger, Hans-Jörg (2006): Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Frankfurt a. M. Sabisch, Petra (2011): Choreographing Relations. Practical Philosophy and Contemporary Choreography. München. Scranton, Roy (2015): Learning to Die in the Anthoropocene. Reflections on the End of a Civilization. San Francisco.

 

Wo kommen wir her? Wo sind wir danach? Politische Bildungen nach dem Ende der Zukunft Werner Friedrichs

1.

Wo soll’s denn hingehen? Zukunft im Anthropozän

Es ist noch nicht so lange her, dass die Fantastischen Vier die Frage, »Wo gehen wir hin, wo kommen wir her?« (aus: Geboren, 2004), erfolgreich im glatten popkulturellen Sound stellen konnten. Die Leichtfüßigkeit der musikalischen Interpretation trifft längst nicht mehr die gegenwärtige Stimmungslage. Derzeit werden Zukunftsfragen nicht mehr im Vorbeigehen gestellt. Inzwischen gibt es eine Coverversion der sonst eher für schrille Töne bekannten Formation Knorkator (2011). Der zeitgenössische, eher düstere Unterton von Zukunftsfragen wird hier durch die musikalisch-künstlerische Umsetzung trefflicher zum Ausdruck gebracht. Auf einen solchen Zeitgeist treffen wir nicht das erste Mal. Die Zukunft wurde immer wieder als »Katastrophe« (vgl. z. B. Horn 2014, Distelmeyer 2013) gefürchtet. Es wird auch nicht zum ersten Mal Dringlichkeit angemahnt. Der Kampf um die Zukunft! Die Zukunft steht auf dem Spiel! Diesmal wirklich! – schaurig vertraute Denkgesten. Und dennoch lässt man sich erneut einnehmen von der vermeintlichen Aktualität – dass es jetzt vielmehr als in bisherigen Krisen ums Ganze ginge. Auch die folgenden Überlegungen haben sich von dieser No-futureX.0-Strömung anstecken lassen. Es sollen allerdings nicht Warnungen erneuert, Zukunftsängste reanimiert oder gar einer allgemeinen »Collapsology« (Servigne/Stevens 2020, 125ff.) das Wort geredet werden. Vielmehr wird ein verändertes Weltverständnis nachgezeichnet, das sich subkutan in den For-Future-Ismen abzeichnet. Eine solche Rekon-

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struktion kann möglicherweise helfen, die gegenwärtige Situation nicht nur mit dystopischen Untergangsphantasien zu unterlegen (vgl. dazu auch Danowski/Viveiros de Castro 2019), sondern nach abweichenden Handlungs- und hier vor allem Bildungsfeldern Ausschau zu halten. Was ist anders an der aktuellen Erneuerung der Zukunftsfrage? Schlagwortartige Antworten finden sich schnell. Es ginge eben nicht mehr um die Form der Zukunft, also die Frage, wie wir zukünftig leben wollten, sondern darum, ob es überhaupt noch eine Zukunft gäbe. »Our future was stolen from us every time you said that ›the sky was the limit‹, and that ›you only live once‹« twittert Greta Thunberg am 23. April 2019. Wir lebten nicht mehr vor der Apokalypse, sondern »in der Apokalypse« (Latour zit. n. Eisenmann 2020). Solche formelhaften Zuspitzungen bleiben zu allgemein, um daraus konkrete Perspektiven ableiten zu können. Deshalb muss genauer gefragt werden, auf welcher Grundlage sich der Blick auf die Zukunft gerade verändert, um Konsequenzen greifbarer zu machen. Die veränderte Gegenwart wird seit einiger Zeit mit dem Begriff »Anthropozän« beschrieben, als Bezeichnung für eine »vom Menschen geprägte geologische Epoche« (Crutzen 2019, 171). Auch wenn über genaue historische Ausgangspunkte gestritten wird (für Übersichten vgl. etwa Renn/Scherer 2015, Ellis 2018 oder Horn/Bergthaller 2019), herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass das zentrale Merkmal des Anthropozäns in der Eskalation der Effekte menschlichen Handelns auf die Welt besteht – in einer great acceleration (Steffen u. a. 2015). Das ist keineswegs neu. Spätestens seit dem Malthusian nightmare (vgl. Malthus 1798), einem Alptraum, in dem die Gefahr von Versorgungsproblemen einer exponentiell wachsenden Bevölkerung imaginiert und bereits 1798 (!) durch den britischen Ökonomen Thomas Robert Malthus beschrieben wurde, ist deutlich, dass Wachstum problematisch werden kann. Mögliche Folgen reichen von Ressourcenknappheit bis zu psychischen Entfremdungsprozessen (vgl. Rosa 2013). In der Diagnose des Anthropozäns wird diese Perspektive zugespitzt. Demnach erweisen sich die bisherigen Umgangsstrategien mit Wachstumskrisen als nicht mehr angemessen. Sie bestanden

Wo kommen wir her? Wo sind wir danach?

bislang darin, einerseits exponentielle Wachstumsprozesse zu »normalisieren«, indem sie zum Standard (z. B. Wachstumsziele, erwartete Steigerungsraten, Durchschnittswachstum usw.) erklärt wurden (vgl. dazu Link 2013) und andererseits einen Fluchtpunkt »relativer Stabilität« (Renn/Scherer 2015, 13) auszuweisen. An dieser Strategie orientierten sich auch wachstumskritische Positionen, wie etwa der 1972 vom Club of Rome vorgelegte Bericht über Die Grenzen des Wachstums (Meadows u. a. 1972). Etwa fünfzig Jahre später sind die sogenannten tipping points längst überschritten, sodass die Möglichkeit eines dynamischen Gleichgewichts zwischen Mensch und Welt nicht nur in weite Ferne gerückt ist. Es stellt sich sogar heraus, dass es niemals erreichbar war. Mit der Ausweisung des Anthropozäns wird somit keine Klage über verpasste Chancen geführt. Vielmehr wird darauf hingewiesen, dass die utopischen Potentiale der Figuren des Gleichgewichts, des Ausgleichens und der Stabilität erschöpft sind – dass es nicht mehr um die Kontrolle des Wachstums geht, sondern dass das Mensch-Welt-Verhältnis neu gedacht werden muss. »Indem er den Menschen als prägende Spezies einer Erdepoche ins Zentrum rückt, verweist der Begriff des Anthropozäns ganz fundamental auf den materiellen Ort dieses Wesens im Gefüge der Natur. Dabei geht es nicht so sehr um bestimmte politische Agenden, sondern viel eher um eine andere Art des In-der-Welt-Seins.« (Horn 2017, 9) Im Anthropozän steht nicht mehr die Stabilisierung der Lebensgrundlagen des Menschen in der Welt im Zentrum, sondern die Frage, wie das Mensch-Welt-Verhältnis, das In-der-Welt-Sein zu denken ist. Denn die Welt zeigt sich störrisch. Vermutete, imaginäre Stabilitäten werden von der Realität der great acceleration erschüttert. Es wird immer deutlicher, dass wir in die Welt verwickelt sind (en-earthed: muddy (Klingan u. a. 2014, 13)) und ihr nicht gegenüberstehen – ihr wahrscheinlich nie gegenübergestanden haben (vgl. dazu Latour 2008). Welche Konsequenzen ein solcher Perspektivwechsel (vielleicht besser: Ortswechsel) hat, wie er genau gedacht werden kann, soll am Gegenstand der politischen Bildung veranschaulicht werden. Dieses Vorgehen mag

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auf den ersten Blick überraschen – darf aber Plausibilität für sich beanspruchen. Denn in den Konzeptionen politischer Bildung finden sich ausdrückliche (politische) Anordnungen spezifischer Mensch-WeltVerhältnisse. Das Wie des gemeinsamen In-der-Welt-Seins, dessen Selbstverständlichkeit vom Anthropozän auf die Probe gestellt wird, erhält in den Konzeptionen eine explizite Programmatik. In dieser wird der Rahmen dafür festgelegt, wie wir gemeinsam in die Zukunft schauen sollten. In der folgenden Rekonstruktion geht es damit nicht um vordergründige Zukunftsagenden für die Politische Bildung (etwa Bildungsziele, Kompetenzen, Aufgaben usw.), sondern um die jeweils zugrunde liegenden Mensch-Politik-Weltverständnisse. Zwei solcher Grundverständnisse, die sich in der Zeit nach 1945 herausgebildet haben, werden holzschnittartig rekonstruiert (Abschnitt 2). Im Spiegel dieser beiden Konzeptionen kann dann genauer herausgearbeitet werden, wie sich das Welt-Selbst-Verhältnis im Anthropozän verschiebt, auf welcher Grundlage sich der utopische in einen atopischen Blick wandeln kann (Abschnitt 3 und 4). Daran anschließend wird ein Rahmen für die Verwirklichung atopisch-politischer Bildungen im Anthropozän skizziert (Abschnitt 5 und 6). Bemerkungen zu einem berechtigten Einwand sind Gegenstand einer Nachbetrachtung (Abschnitt 7).

2.

Wo kommen wir her? Über zwei angestammte Mensch-Welt-Politik-Verhältnisse

Im Bemühen um eine Konzeption politischer Bildung beziehungsweise um die Gestaltung eines gemeinsamen Selbst-Welt-Verhältnisses lassen sich in der deutschsprachigen Debatte zwei markante Verdichtungen ausmachen. In den 1950er Jahren wurde die politische Bildung auf der Grundlage einer Teil-Ganzes-Beziehung entworfen (a), die dann in den 1970er Jahren von einer Logik der Gegenüberstellung (b) abgelöst wurde1 . 1

Natürlich stilisiere ich hier zu heuristischen Zwecken eine Entwicklung in idealisierte, separate Abschnitte. Dem Grunde nach handelt sich um Verdichtun-

Wo kommen wir her? Wo sind wir danach?

(a)

Mensch, Politik, Welt in einer Teil-Ganzes-Beziehung

Die gesellschaftliche Situation nach dem zweiten Weltkrieg wird häufig als Stunde Null bezeichnet – »der Alptraum eines physisch, moralisch und politisch ruinierten Deutschlands« (Arendt zit. n. Rößler 2019, 135). Die politische Bildung stand, vielen äußeren Umständen ausgesetzt, vor einem »unsicheren Neubeginn« (Sander 2004, 113). Die verbreitete Unsicherheit äußerte sich in den Augen zeitgenössischer Beobachter*innen unter anderem im Rückzug auf partikulare Interessen – wahrscheinlich weniger als Folge von Verdrossenheiten und mehr im Zuge eines kollektiven Verdrängungsprozesses. Diese Orientierung an standortgebundenen, persönlichen Interessen trübe das politische Bewusstsein: »Oft bilden die Abhängigkeiten, in denen er [der Mensch, W.F.] sich praktisch befindet, ein Hindernis für die Entfaltung seines politischen Sinns. Die Zufälligkeit seiner Umgebung, seine soziale oder gesinnungsgemäße Zugehörigkeit, seine Interessenlage erhalten durch die Umstände des Lebens oder auch durch den Verbandswillen meist eine zu große Bedeutung für sein Urteil.« (Bergstraesser 1961, 335)

gen von Mensch-Welt-Politik-Verhältnissen, die hier zwar in bestimmen Zeitabschnitten auftreten, wohl aber eher als unterschiedliche Formate des grundlegenden Verhältnisses zu verstehen sind (vgl. dazu auch die skizzenhaften Einordnungen in Abschnitt 5). In der politischen Ideengeschichte wird auf ähnliche Weise zwischen einem »ontologisch-normativen« und einem »dialektischhistorischen« Ansatz unterschieden (vgl. klassisch Narr 1969, 41ff.). In der gesamthistorischen Einordnung müsste außerdem darauf hingewiesen werden, dass die Umstellung auf die Teil-Ganzes-Beziehung schon von Hobbes mit der Umstellung von der multitudo (mit ihren zahllosen amorphen Verwicklungen) auf das Volk vollzogen wurde (vgl. dazu u. a. Saar 2013, Virno 2019). Die sinnhafte Logik der Gegenüberstellung/Repräsentation ist ebenfalls bereits fester Bestandteil der Entstehung der Moderne (vgl. vor allem Latour 2008, 2014). Beide Sinnformate werden als Schematisierung der Weltverhältnisse aber erst deutlich später expliziert bzw. in Anspruch genommen. Das ließe sich als historischer Prozess fortgesetzter Reflexion beschreiben, wenn mensch sich dadurch nicht wieder kontaminiertes Vokabular einhandelte.

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Eine Ausrichtung an der individuellen Situation verstelle den Blick fürs Allgemeine. »Stattdessen sollte von der jeweils besonderen Situation aus jenes, das Ganze umfassende, für das Ganze denkende Verhalten möglich werden, das für ein gesundes Urteil über Staat, Gesellschaft und Politik unentbehrlich ist.« (Ebd.) Politik müsse folglich in ihrer existentiellen Bedeutung – jenseits partikularer Interessen – einsichtig gemacht werden, um nachhaltig eine demokratische Gesellschaft wieder aufbauen zu können. Die Grundlagen seien in der »Ordnung des Daseins« (ebd., 341) zu suchen (für eine systematische Entfaltung vgl. dazu auch Voegelin 2004). Entsprechend habe sich das Gemeinwesen nicht an einer bereichsspezifischen, öffentlichen Ordnung zu orientieren. Vielmehr geht es »im Bezug […] auf die menschliche Daseinsführung« um einen den »Sinn verwirklichenden Gesamtvorgang« (Bergstraesser 1961, 342). Im Gemeinwesen verwirkliche sich das ideale Zusammenleben der Menschen, mithin die Vervollkommnung des Einzelnen. Der Politik bleibt damit eine holistische (durchaus transzendente) Grammatik eingeschrieben, die sich schon bei Schiller, Goethe oder Hegel nachweisen lässt (vgl. dazu auch Bergstraesser 1967)2 . Der Mensch müsse sich wieder als Teil eines Ganzen begreifen. Schließlich war diese Verortung des Politik-Mensch-Welt-Verhältnisses durch den faschistischen Exzess in eine fundamentale Krise geraten. Den politisch zu bildenden Menschen fehlte in der Stunde Null das Vertrauen, sie hatten Schwierigkeiten, Loyalität zum politischen Ganzen zu entwickeln. In den Konzeptionen politischer Bildung gerieten zwei unterschiedliche Figurationen des Teil-Ganzes-Verhältnisses in den Fokus, in denen sich politisches Weltvertrauen (Bejahung)3 wieder entwickeln sollte: Staat und

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3

In der neomarxistischen Variante wird das Teil-Ganzes-Schema mit den Bewegungsgesetzen der Geschichte unterlegt. Im Horizont erscheint eine »säkularisierte Heilserwartung« (Abendroth 1967, 363), die im harmonisierenden Schema einer klassenlosen Gesellschaft Mensch, Politik und Welt zu sich kommen lässt (vgl. ebd., passim). »Bejahung« war schon zu Zeiten der Weimarer Republik Orientierungspunkt politischer Bildung (vgl. dazu Kuhn/Massing 1990, 53ff.).

Wo kommen wir her? Wo sind wir danach?

Partnerschaft. Vor allem Theodor Litt hat eine Orientierung am »Geist des Staatswesens« (Litt 1964, 46) konturiert. Politische Bildung nehme Maß »an der Anbahnung des Kommenden« (ebd.), in der »Lebensbemeisterung« und »Staatsgesinnung« in »strenger Korrespondenz« stehen (ebd. 44ff.). Diese geläuterte demokratische Staatlichkeit wird von der verzerrten Teil-Ganzes-Beziehung im totalitären Staat abgegrenzt (vgl. ebd., 45 und passim). Im Gegenbild der Partnerschaft sollte der Entleerung der politischen Gemeinschaft in einem »Bloßstaatlichen« (Oetinger 1953, 85) vorgebeugt werden. In der Demokratie als »Lebensform« könnten sich »das Politische und das Menschliche […] finden und sich wechselseitig durchdringen« (ebd.). Die »Substanz« (ebd.) der Politik bestehe schlussendlich in der Bestimmung des Menschen. In beiden Figurationen – Staat und Partnerschaft – werden Mensch, Politik und Welt in einer Teil-Ganzes-Beziehung verortet. Mangelndes Vertrauen soll entweder durch »echte Einsicht« (Litt 1964, 45) in das Ganze (und nicht durch bloße »Betriebsamkeit« (ebd.)) oder durch eine »partnerschaftliche Haltung« (Oetinger 1953, 85) zum umfassenden Gemeinwesen (und nicht durch staatsbürgerlich kleinschrittige Sittlichkeit) zurückgewonnen werden. Vernehmbar wirken hier die humanistischen Ideale der Vervollkommnung des Menschen in einem sich perfektionierenden, politischen Ganzen fort. Zukunft wird als konvergierende Erlösung gedacht. Die dazugehörigen Sozialutopien schließen in diesem Schema des Mensch-Welt-Verhältnisses an eine Idee »gesellschaftlicher Harmonie« an, in der tendenziell ein »Primat des ›Ganzen‹ gegenüber dem ›Besonderen‹« (Saage 1995, 241) herrscht.

(b)

Die Wiedergeburt der Opposition – Mensch, Politik, Welt in ihrer Gegenüberstellung

Dieses Denken der Zukunft wurde im Laufe der 1960er Jahre problematisiert. Es verbreitete sich das Gefühl, dass die notwendige Transformation der Gesellschaft nach 1945 nicht im ausreichenden Maße stattgefunden hatte. Insbesondere im Aufrechterhalten des Holismus der Teil-Ganzes-Perspektive wurden Kontinuitäten ausgemacht.

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An Stelle eines klaren Bruchs mit vermeintlich transzendenten Bestimmungen des (deutschen) Menschen, die u. a. Grundlage nationalsozialistischer Phantasien waren, konnte eine verbreitete »Fortdauer des Theologisch-Politischen« (Lefort 1999) ausgemacht werden. Unter der Oberfläche der Restitution einer demokratischen Gesellschaft überlebten Ganzheitsphantasien in Gestalt einer Fortdauer des Wir. (vgl. dazu Rößler 2019, 135ff.) Die Versuche, einen Bruch herbeizuführen – etwa in den Utopien und Praxen des Marxismus – zeigten, dass das Beibehalten einer holistischen Perspektive in neue Totalitarismen zu führen droht. (vgl. dazu z. B. Oppelt/Sörensen 2015)

Die Idee linearer, gesellschaftlicher Entwicklung in Richtung eines historischen Telos sei durch dialektische Bruchlinien zu ersetzen. Im Selbstverständnis einer erstarkenden Kritik kommt die Aufklärung erst in einer Dialektik der Aufklärung (Adorno/Horkheimer 1988) zu sich. Beim Herauslösen des Menschen aus dem Bann eines mythologischen Gesamtzusammenhangs müsse der Gefahr entgangen werden, Subjektivität erneut in eine moderne Eschatologie einzuspannen – diesmal in einen humanistisch, rational-technologischen Naturbeherrschungsmythos. Mythologische Naturverfallenheit und rationale Naturbeherrschung stünden vielmehr in einem dialektischen Spannungsverhältnis (vgl. ebd.). Unter anderem Habermas konkretisierte diese ideengeschichtliche Denkfigur wirkmächtig, indem er System und Lebenswelt als unversöhnliche Pole gegenübergestellt hat (vgl. insb. Habermas 1981, Bd. 2, 137ff.). Politik wird nun nicht mehr als übergeordnete, ganzheitliche Ordnung schematisiert, in der sich der Mensch verwirklicht, sondern als eigenes, besonderes System, dem die Menschen gegenüberstehen (vgl. für eine entlang des Interessenbegriffs

Wo kommen wir her? Wo sind wir danach?

entwickelte für/gegen-Stiliserung z. B. Giesecke 1976, 127f.).4 Privatsphäre, Soziales und Politik werden stärker voneinander getrennt. Es kommt in dieser Perspektive darauf an, wie der Mensch dem politischen System entgegentritt. Das politische System habe die Funktion, allgemein verbindliche Entscheidungen für die Gesellschaft herbeizuführen. Um an diesen Entscheidungsprozessen mitzuwirken, brauchen die Individuen entsprechendes Wissen. Dabei erhält eine »Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung« (Schmiederer 1971, 41) bzw. »individuelle Freiheit« (Grosser u. a. 1976, 14) Vorrang vor dem Gesamtzusammenhang. Die Privatsphäre soll vor staatlichen Regelungen geschützt werden (vgl. ebd.). Das in den 1950er Jahren im Fokus stehende Vertrauen wird jetzt zum Problem, denn »als Vertrauende verzichten wir darauf, mehr über andere in Erfahrung zu bringen« (Hartmann 2011, 9). Humanistische Ganzheitsvorstellungen werden entsprechend – ausgehend von individueller Selbstverwirklichung bzw. kritisch-rationalen Lebensplänen – durch Engagement ersetzt. Eine solche Teilhabe kann sich am Format einer grundsätzlich systembejahenden Affirmation orientieren oder an einer kritisch-emanzipativen Haltung (vgl. z. B. Schmiederer 1972). In beiden Fällen geht es um das Herausprägen einer subjektiven Handlungsfähigkeit, die in einen kritischen oder affirmativen Habitus münden kann. Die Zukunft wird damit weniger als

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Das Denken in dem Teil-Ganzes-Schema wird jetzt sogar als »unpolitisch« wahrgenommen. In einer viel beachteten ersten Studie aus dem Jahre 1966 zu den Vorstellungen von Politiklehrer*innen der Max-Traeger-Stiftung kommt man zum Schluss, dass Lehrer*innen überwiegend unpolitisch dächten. Diesem Urteil liegt ganz offensichtlich eine neue Mensch-Politik-Welt-Vermessung zugrunde, in deren Perspektive ein holistisch angelegtes Konvergenzdenken von Mensch und Politik als mangelndes Politikverständnis durchfällt: »An die Stelle eines angemessenen Begriffs von der Gesellschaft treten abstrakte Erwägungen über ›Gemeinschaft‹ und die ›Natur des Menschen‹. Bruchstücke tradierter mittelständischer Ideologien, kaum reflektierte Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit und mangelndes Verständnis der gegenwärtigen sozialen und politischen Realität mischen sich vielfältig und widerspruchslos. Kaum verdienen die Vorstellungen über unsere Gesellschaft die Bezeichnung ›Gesellschaftsbild‹.« (Sozialforschung 1966, 127)

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harmonisierende Vollendung einer geschichtlichen Bewegung imaginiert, sondern als Möglichkeit entworfen (vgl. statt vieler Bloch 1959, 258ff. und passim)5 . Die Utopieforschung als Suche nach möglichen Zukunftsszenarien erhält ihren vielleicht größten Schub in der Nachkriegsgeschichte (vgl. statt vieler Voßkamp 1985). Utopien stellen den Horizont für demokratisches Leben, »sie öffnen den Blick auf eine vernünftig organisierte Welt und ein gerechtes Gemeinwesen« und werden als »politischer Möglichkeitssinn« (Negt 2012, 13) wirksam. Sie bieten eine kritische Folie, auf deren Grundlage bestehende Verhältnisse hinterfragt werden und zielen auf rational organisierte, utopische Szenarien (vgl. auch Neupert-Doppler 2015, 93ff.). Letztere nehmen unter anderem Maß an Vorstellungen von Versöhnung, Ausgleich und Gleichgewicht. Diese Schreibweise kritisch-rationalen Denkens gerät spätestens im Übergang zum dritten Jahrtausend in eine fundamentale Krise.

3.

Zukunftsdämmerung: Von der entfesselten Kritik zum Elend der Kritik

Schon Adorno hatte mit seiner Negativen Dialektik (Adorno 1975) dem kritisch-rationalen Denken ein Vermächtnis hinterlassen. Er hat gezeigt, dass sich eine Befreiungsbewegung aus übergeordneten Hierarchieansprüchen (die sich aus Teil-Ganzes-Schemata ergeben) am Ende gegen sich selbst wenden muss. Denn jede kritische Position werde im Zuge dialektischer Fortbewegung zwangsläufig selbst zum Gegenstand der Kritik, weil sie durch ihr Insistieren notwendig selbst Hierarchieansprüche geltend mache. Damit löse die Dialektik den eigenen Anspruch nur im Moment ihres eigenen Zerfalls ein, wenn sie die Idee eines übergeordneten Gesichtspunktes (im Zweifel: den eigenen Standpunkt) aufgäbe (vgl. insb. ebd., 354ff.). Erst dann würde sie glaubhaft holistischen

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Aus der Perspektive eines Denkens, das sich dem Ganzen verpflichtet sieht, wird diese Modalisierung der Zukunft als Verfallsgeschichte eingestuft. »Im Prozess der Neuzeit gerät die Politik zunehmend unter die Utopie der Machbarkeit und vergisst darüber die rechte Praxis.« (Mehring 1992, 150)

Wo kommen wir her? Wo sind wir danach?

Ganzheitsphantasien entsagen, gegen die sie sich mit Gründen wende. Am Ende müsse Dialektik negativ werden. Genau diese Schreibweise modernen Denkens ermöglichte »der Heraufkunft des Postmodernismus Freiräume« (Jameson 1991, 304). In der Folge verdichtete sich spätestens in den 1980er Jahren in unterschiedlichen, theoretischen Denkbewegungen die Frage, was überhaupt noch begründet bzw. kritisiert werden kann, »wenn alle einheitlichen Fundamente der Begründung preisgegeben werden müssen. […] Für diese Erfahrung steht der Begriff ›Postmoderne‹, der am Ende der achtziger Jahre dominant wird, aber längst vorher die unterschwellige Theorieentwicklung bestimmt hat.« (Oelkers 1987, 237). Die Postmoderne war einer der prominentesten Begriffe aus einer Reihe von »Neologismen, New-Ismen, Post-Ismen« (Derrida 1997), durch die die Kritik an metaphysischen Restbeständen, hegemonialen Aneignungen oder machtvollen Fundamentalismen (in Teil-Ganzes-Schemata) noch einmal zugespitzt wurde. So sei es nicht mehr möglich, einfach von der Existenz eines Subjekts auszugehen, vielmehr ginge letzteres aus vielfältigen gesellschaftlichen Praktiken hervor (vgl. z. B. Foucault 1974, 1994). Entsprechend sei die Idee einer fortgesetzten Emanzipation des Subjekts aus bestehenden Herrschaftslogiken nicht mehr als eine große Erzählung (Lyotard 1994). Im Allgemeinen ließen sich im postfundamentalen Zeitalter keine unhinterfragbaren Universalismen mehr begründen, ohne gleichzeitig hegemoniale Logiken einzusetzen (vgl. statt vieler Marchart 2010). Das vorschnelle Einzwängen dieser vielschichtigen theoretischen Strömung in das Prokrustesbett der Fortsetzung des Projekts kritischrationaler Aufklärung führte zu Lesarten, die geradewegs in eine Sackgasse mündeten. So wurde sie zunächst mehrfach unter einen antimodernistischen Irrationalismus-Verdacht gestellt (vgl. z. B. Frank 1983, Neumeister 2000, 81ff.) oder eines ästhetisierenden Konservatismus bezichtigt (vgl. statt vieler Kurz 1999). Im Verlaufe der weiteren Diskussion setzte sich dann eine Interpretation durch, nach der die PostIsmen letztlich als eine Radikalisierung dialektisch-ambivalenter Strömungen des modernen Projektes der Aufklärung zu verstehen seien (vgl. etwa Tepe 1992, Zima 1997, Bürger 2000). Wenn allerdings die New-

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Ismen als Überhöhung des modernen descartesschen Zweifels an der (Nicht-)Gegebenheit der Realität verstanden werden, bereitet eine solchermaßen entfesselte Kritik den Weg für ihr eigenes Elend (vgl. Latour 2007c). Denn das zugrundeliegende Modell der Unerkennbarkeit der Welt nährt die Vorstellung einer »radikalen Pluralität als Grundverfassung der Gesellschaften« (Welsch 1987, 5). Es sprießen radikale Konstruktivismen und Pluralismen, Dekonstruktionen und Simulationen. »Fortan stehen Wahrheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit im Plural.« (Ebd.) Zu Recht wird einem solchen Ansatz verspielte Beliebigkeit und mangelnde Wissenschaftlichkeit vorgeworfen (vgl. prominent Sokal/Bricmont 1998). Außerdem verwickele er sich in einen performativen Widerspruch: Von welchem Ausgangspunkt könnte sicher begründet werden, dass es keine sicheren Begründungen mehr gibt? (vgl. Frank 1988) Inzwischen ist geradezu im globalen Maßstab zu beobachten, wie das anything goes der Post-Ismen im Gewande von Begriffen wie Fake-News, Lügenpresse, Klimaskeptizismus oder zuletzt in der rasanten Zunahme von Verschwörungsmythen zu einem ernsthaften Problem herangewachsen ist. Vulgärskeptizistische Haltungen verbreiten allerorts ihre Blüten und: ihren Schrecken.

4.

What is new about the New-Isms?

In der Interpretation der New-Ismen als radikale Fortsetzung des modernen Projekts der Aufklärung – insbesondere als Zuspitzung der in ihr enthaltenen Ambivalenzen – wird aber die in den New-Ismen enthaltene Verschiebung der Weltbeziehung verkannt. Es ging nicht darum, die Unfassbarkeit der Welt an sich zu radikalisieren und damit den Graben zwischen Subjekt und Welt zu vertiefen. Vielmehr ging und geht es bis heute darum, die Gegebenheit der Gegenüberstellung von Subjekt und Welt zu dekonstruieren. Das Schema, nach dem das Subjekt der Welt gegenüberstehe, beschreibt keine natürliche Erfahrungshaltung, sondern ist das Ergebnis einer gesellschaftlichen Praxis. Die New-Ismen stellen einen »Rahmenirrtum« (Dreyfus/Taylor 2016, 12) heraus, der darin besteht, dass die von Descartes getroffene, »scharfe Unterscheidung zwi-

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schen dem Bild, das wir uns von den Dingen machen, und ihrem wirklichen Sosein« (ebd., 191) nicht als methodische Unterscheidung weitergeführt, sondern ontologisiert wird. Es werden Separees für ein Subjekt auf der einen Seite und die (Um-)Welt auf der anderen Seite eingerichtet und zu unhintergehbaren Ausgangspunkten erklärt. Damit wird die descartessche Methode in einen Glaubenssatz umgewandelt. Diese Verschiebung steht im Zentrum der Kritik. Wir standen der äußeren Welt nie mit einem inneren (selbstpräsenten) Bewusstsein gegenüber (vgl. dazu nach wie vor Derrida 1983), sondern waren schon immer in die Welt verwickelt, mit ihr verschränkt (vgl. Latour 2008). Die Welt ist das untilgbare (materiale) Supplement unseres Daseins. Unsere Existenz ereignet sich faktisch in der Form des »Sinns der Welt« (vgl. Nancy 2014). Der Mensch führt keine theologisch begründbare, extramundane Existenz – er ist nicht zu Höherem berufen, sondern in der Welt. Unser modernes Weltbild hat diesen Umstand verdeckt (vgl. dazu Heidegger 1994, Franke 2013). An der Grenze zum dritten Jahrtausend, im Anthropozän, streben jene – durch die fortgesetzte Erzählung von der Sonderstellung des Menschen (Anthropodizee) – verdrängten Verwicklungen wieder an die Oberfläche (durch Viren, Übergriffe, technologische Transformationen, Klimaveränderungen usw.). Es ergibt vor diesem Hintergrund keinen Sinn mehr, an angestammten Dualismen so festzuhalten, als handelte es sich um unterschiedliche Formen des Soseins: Natur und Kultur (Descola 2013, 2014), Mensch und Technik (Simondon 2012), Mensch und Tier (Haraway 2018), Belebtes und Unbelebtes (Braidotti 2002), Körper und Geist (Varela u. a. 2016, Johnson 2007). Solche Unterscheidungen sind als (materiale) Einrichtungen/Konstruktionen der Welt zu verstehen. Wenn die methodisch getrennten Sphären/Seiten zu unterschiedlichen Seinsweisen verklärt werden, werden sie einer Beherrschungslogik dienlich. Dann kann Mensch Tiere essen, Natur benutzen, Dinge wegschmeißen, Indigene vertreiben, Flüsse begradigen, Kohle verbrennen, Moore renaturieren usw., weil dies oder das ja anders ist. Die Newismen verweisen dagegen auf Verschränkungen, Interferenzen, Diffraktionen und Verwicklungen (vgl. statt vieler Barad 2013) – oder kurz: sie bestreiten, dass der Repräsentationalismus eine ontologische Grundlage

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hat, nach der der Mensch der (Um-)Welt (natürlich) gegenüberstünde. Stattdessen gehen sie von einer Immanentisierung der Welt aus – unter anderem angetrieben durch: •







Das fortgesetzte »Verschwinden des Außen« (Diederichsen/Franke 2013), im Zuge dessen extraterristische Refugien für Seelen, Geister und Götter dem explorativen Expansionsdrang zum Opfer fallen; gleichermaßen angetrieben durch die Erkundung des Weltraums wie durch Austreibung der Seele mittels Hirnforschung. Die Weltwerdung der Welt (vgl. Nancy 2003), die durch eine exzessive Globalisierung vorangetrieben wird. Unbekanntes, Geheimnisvolles, Indigenes bzw. alle Formen der Fremdheit werden in die Maschinerie eines globalen »Empire« (Hardt/Negri 2002) eingefügt, sodass alles immer und überall verfügbar ist. Das Durchleuchten einer zuvor dunklen Vergangenheit und die ingeniösen Planungen zur Abschaffung der Ungewissheit der Zukunft (vgl. z. B. Bostrom 2018). Sie versprechen die »ewige Gegenwart des Hyperkonsums, der grenzenlosen Produktion und der politischen Vereinigung der Welt« (Garcés 2019, 34). Die vorantreibenden technologischen Verschränkungen von Mensch und Technik und die biotechnologischen Einverleibungen der Natur (vgl. Haraway 1995).

Von einem solchen – fast aufgezwungenen – Standpunkt des Immanentismus an der Schwelle zum dritten Jahrtausend erkennt man den paradoxen Effekt des aufklärerischen Projekts: Durch die Austreibung von finsteren Mächten und mythischen Geistern, die aus dem Jenseits wirken, durch eine Vergegenständlichung der Welt im Diesseits entfremdet sich der Mensch von der Welt. Die Welt wird im genauen Sinne verdinglicht (Honneth 2015). Die Materialität der Welt, ihr Sein wird im geradezu epochalen Ding an sich (Kant) verkapselt. Der rationale und gleichzeitig materialistische Anspruch, die Menschheit aus dem »dogmatischen Schlummer« (Kant 1993, 6) zu erwecken, führte geradewegs in einen »ideellen Materialismus« (Latour 2007a): Welt und Menschen werden im Dispositiv der Aufklärung gegenübergestellt – einander

Wo kommen wir her? Wo sind wir danach?

fremd. In das Subjekt wird ein Geist oder ein angestammtes Bedürfnis hineingeheimnisst und in die gegenüberliegende Welt Gleichgewichte oder Kreisläufe. Solche neometaphysischen Setzungen überzeugen aber im Angesichte des medialen, bio- und klimatechnischen Auflösens imaginierter Grenzlinien nicht mehr. Im Immanentismus verflüssigen sich Abgrenzungen und Gegenüberstellungen. Vor diesem Hintergrund ist die klassische Entfremdungshypothese, die in einem strukturellen Übergriff des Systems auf die Lebenswelt besteht, durch eine Neue Entfremdung zu ersetzen (für aktuelle Reformulierungen vgl. auch Jaeggi 2016, Sörensen 2016). Sie stellt sich nicht im kulturindustriellen »Stahlbad« (Adorno/Horkheimer 1988, 149) durch eine systemischmachtvolle Verhärtung lebensweltlich intuitiver Weltzugänge ein, sondern gerade durch die Orientierung an vermeintlich evidenten – lebensweltlichen – Gegenüberstellungen. Das heißt nicht, dass es nichts Tatsächliches, nichts Greifbares gibt. Im Gegenteil: in unserer existenziellen Lebenspraxis berühren wir die Welt fortwährend. Alle Beschaffenheiten, Materialitäten, Unterscheidungen, Erscheinungen und Dinge sind Teil und Ergebnis einer sozialen Praxis. Einer sozialen Praxis, in der sich kein herausgehobener oder isolierbarer Punkt ausweisen lässt, von dem aus man zur Welt auf Abstand gehen könnte. In der sozialen Praxis sind Materialität, Denken, Wahrnehmen, Sprache, Affekte und Imaginationen ineinander verwoben. Sie lässt sich als »flache« (Schatzki 2016), »vertikale« (Johnson 2007, 14) Ontologie beschreiben. In einer solchen Metrik ist es nicht sinnvoll, die Politik als gegenüberstehendes System zu begreifen. Sie lässt sich eher als Einrichtung dieser Praxis verstehen. Als »sensus communis« (Lyotard 1989), als »Aufteilung des Sinnlichen« (Rancière 2008). Durch die Politik entscheidet sich, welche Praxen fortgesetzt werden und damit, was vernehmbar ist und was nicht. Wer oder was gesehen wird. Wie Sachverhalte bewertet werden, welchen Stand sie in der Gesellschaft haben. Welche Abgrenzungen normal sind, was als dazugehörig wahrgenommen wird, was nicht. Die Grenzen und Brüche dieser epistemologischen Einrichtung der Politik lassen sich als das Politische bezeichnen. In Ereignissen, Inkonsistenzen, Widerständigem usw., die sich als Grenzkämpfe, Unterbre-

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chungen oder Erschütterungen der praktischen Einrichtung der Gesellschaft zeigen (vgl. statt vieler Bröckling/Feustel 2010, Bedorf/Röttgers 2010). Wenn Geschlechter sich vermehren. Das Außen ein Innensein beansprucht. Wenn sich Unorthodoxes verbreitet. Wenn Maßverhältnisse nicht mehr funktionieren. Die Omnipräsenz des Bezahlens durch Unbezahlbares unterbrochen wird. Zuordnungen versagen. Die Politik und das Politische lassen sich weder mit klaren Abgrenzungen gegenüberstellen, noch lässt sich ihr Verhältnis in einem TeilGanzes-Schema abbilden. Vielmehr sind Politik und Politisches in der Praxis vernäht. Die Leitfrage für die politische Bildung am Anfang des dritten Jahrtausends lautet entsprechend, wie man der Politik und dem Politischen habhaft werden kann. Wie ein Zugang zur weltschaffenden Praxis gelingt. Dabei geht es darum, nicht auf der Oberfläche von (hegemonialen) Einrichtungen der Politik zu schwimmen, sondern die Unterscheidungen in ihrer bedeutungsvollen Sinnhaftigkeit begreiflich, ihre Materialität zugänglich zu machen. Den Sinn für die Eingebundenheit schärfen und sich nicht im Spiegelkabinett der reflektierenden Gegenüberstellungen verlieren. Es lassen sich zwei Richtungen ausmachen, die derzeit als Grundlage für eine Orientierung in immanenten Weltverhältnissen (der digitalisierten Technosphäre, dem globalisierten Empire und dem entgrenzten Klimaregime) dienen. Zum einen ein vermittlungstheoretischer Ansatz, der sich weiterhin im Fahrwasser des klassischen descartesschen Repräsentationalismus bewegt und zum anderen ein kontakttheoretischer Ansatz, der sich auf der Grundlage eines Immanentismus entfaltet. »Während eine Vermittlungstheorie nach Erkenntnis strebt, so dass wir nur vermittels einer Zwischeninstanz – Abbildung oder Kategorie – erkennend mit dem Realen in Verbindung kommen, liefern Kontakttheorien eine Erklärung, wonach Erkenntnis darin besteht, dass wir mit der erkannten Wirklichkeit unmittelbar in Kontakt treten.« (Dreyfus/Taylor 2016, 38). Im Repräsentationalismus wird vermittels einschlägiger Kategorien – in der politischen Bildung: Basisund Fachkonzepte – Wissen über die Welt ausgemacht, sie reflektiert. Im Immanentismus erscheint genau diese Konstellation als eine Praxis, in der die Welt auf Abstand gebracht wird, indem man ein Auf-

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sie-Zeigen oder Über-sie-Wissen einrichtet. Kriterien für die Validität in diesen eingerichteten Relationen sind Richtigkeit und/oder Wahrheit. In den Kontakttheorien »ist es das verwirklichte Wissen, das mit seinem Gegenstand eins wird« (ebd., 40). Reflektierende Distanznahme zur Welt auf der einen, »Immersion, Materialität, Intensität« (Grizelj u. a. 2014b) in der Welt auf der anderen Seite.

5.

Die Entmessung der Welt – Atopisch werden

Beiden Schematisierungen geht es letztlich darum, kritisches Denken und »radikalisierte Aufklärung auf das dritte Jahrtausend einzustellen« (Braidotti 2014, 89). Dabei halten die vermittlungstheoretischen Ansätze auch in immanenten Weltverhältnissen an einer Gegenüberstellung fest und nutzen weiterhin die optische Metaphorik der Reflexion, um sich der Welt in komplexer werdenden Konstruktionen zu versichern (für einen von vielen elaborierten Versuchen und seine Diskussion vgl. Müller 2020). Dagegen versuchen Kontakttheorien, die »Selbstimmunisierung der Theorie«, die sich durch postdescartessche Gegenüberstellungen ergibt, »auszuhebeln und nach dem vortheoretischen Status von Immersion, Materialität und Intensität zu fragen« (Grizelj u. a. 2014a, 12). In ihnen geht es darum, Kontakt herzustellen zum Vortheoretischen, zum Politischen. »Das Undenkbare und Unbeobachtbare, das Unsagbare und Inkommunikable, das Bild- und Formlose sind als vortheoretische Momente monströs, weil sie unverfügbar und undarstellbar sind. Es sind defigurierte und atopische [Herv. W.F.] Momente ohne Körper, ohne Raum, ohne Ort, und es stellt sich die Frage, ob und wie eine ›Versinnlichung des Unsinnlichen‹ denkbar ist.« (Ebd.) Somit macht vor allem der kontakttheoretische Ansatz mit den immanenten Weltverhältnissen ernst. Insbesondere, indem er ontologisierte Gegenüberstellungen konsequenter vermeidet, als dies der vermittlungstheoretische Ansatz – gemäß seiner Anlage – überhaupt zu tun vermag. Ausarbeitungen finden sich in mehreren aktuellen theoretischen Strömungen, in denen der häufig missverstandene Einsatz der Newismen klarere Konturen gewinnt:

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In immanenten Weltverhältnissen muss nach Zugängen gesucht werden, Welteinrichtungen als materiale Effekte einer gesellschaftlichen Praxis zu erfassen. Solche Welteinrichtungen sind eben nicht allein als Produkte einer diskursiven Praxis, einer »gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit« (Berger/Luckmann 1980) zu verstehen, die einer Realität gegenübersteht. Die meisten Spielarten des (sozialen) Konstruktivismus verlängern in einem solchen Verständnis die descartessche Gegenüberstellung von Mensch und Welt: das konstruierende Subjekt wird aus den Weltverhältnissen herausgenommen (vgl. dazu Hacking 1999, Wiesing 2015). Sie verkennen so die Beteiligung der Dinge, der Materialität an der Konstruktion der Weltverhältnisse (für eine einschlägige Zuspitzung vgl. Barad 2007, 46ff.). Statt von diskret getrennten Sphären monadenhafter Subjektivität auf der einen und der (Um-)Welt auf der anderen Seite ist von Netzwerken auszugehen, in denen Weltkonstruktionen aus der Interaktion mit Dingen entstehen (vgl. z. B. Latour 2007b, 2010). Die Welt ist nicht mehr (als Umwelt) Hintergrundkulisse für subjektives Handeln, sondern die Welt zeigt sich in der Gegenwart als »morphologisches Feld« (Braidotti 2002), aus der materialisierte, reale Selbst-Weltverhältnisse hervorgehen.6 Entsprechend können Zugänge nicht die Form punktierten Wissens über die Welt annehmen, sondern finden sich in Sinnzusammenhänge stiftenden Spekulationen (vgl. dazu Stengers 2008, 2011), Geschichten (vgl. z. B. Tsing 2015) oder Choreographien (vgl. Sabisch 2011).

6

Die Diskussion um diesen Zugang nimmt inzwischen unter unterschiedlichen Begriffen wie »Neuer Materialismus« (Coole/Frost 2010, Witzgall/Stakemeier 2014), »Spekulativer Materialimus« (Diefenbach 2018), »Materialität« (Kalthoffm u. a. 2016), »Agentieller Realismus« (Barad 2012) oder »Neuer Realismus« (Avanessian 2013) breiten Raum ein. Er ist für die vorstehenden Ausführungen eine wesentliche theoretische Referenz, die aber hier nicht weiter ausgeführt werden kann. Erste Versuche die Konsequenzen im Feld politischer Bildung auszuloten, liegen inzwischen vor (vgl. die Beiträge in Friedrichs/Hamm 2020).

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In immanenten Weltverhältnissen wird die bisherige Lesart eines Bewusstseins über die Welt fragwürdig. Sie bestand bisher in einer »bestimmten Topologie von Geist und Welt« – dem klassischen, vermittlungstheoretischen Ansatz: »Die Wirklichkeit, die ich erkennen will, befindet sich außerhalb des Geistes; meine Erkenntnis dieser Realität ist im Inneren. Diese Erkenntnis besteht in geistigen Zuständen, die den Anspruch erheben, genau das, was draußen ist, darzustellen. Erkenntnis findet dann statt, wenn diese Zustände die Realität tatsächlich und in richtiger und zuverlässiger Form wiedergeben. Zur Erkenntnis der Dinge gelange ich durch Vermittlungsleistung dieser inneren Zustände, die wir als ›Ideen‹ bezeichnen.« (Dreyfus/Taylor 2016, 12f.) Eine solche Trennung von Geistigem und Physischem war schon immer rätselhaft und konnte nur durch die Hinzunahme von extramundanen Größen wie Geist, Seele oder Wille aufrechterhalten werden. Vor dem Hintergrund einer säkularisierten und immanentisierten Welt verlieren solche Modelle aber ihre Überzeugungskraft. Plausibler scheint hingegen, dass Erkenntnisse, Bewusstseinszustände oder affektive Zustände Effekte einer Verwirklichung (vgl. ebd., S. 40ff.) sind. Der Prozess der Bedeutungsstiftung, des Erfassens von Welt und die darauf aufbauenden Bewusstseinsprozesse finden auf fundamentale Weise in der Welt statt (vgl. für eine klassische Ausarbeitung nach wie vor Merleau-Ponty 1986). Sie sind Ergebnis einer Verkörperung innerhalb einer sozialen Praxis. Das Modell der angestammten Kognitionstheorie, die von »meat-slap brains« (Noë 2009, 159) ausgeht, in denen symbolische Rechenprozesse ausgeführt werden, wird somit ersetzt durch eine verkörperte Wahrnehmung (für einen Überblick vgl. Fingerhut u. a. 2017), in der davon ausgegangen wird, dass sich Zugänge und Bewusstseinsinhalte nur in der Welt ergeben.7

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Wie schon im Falle des Neuen Materialismus [vgl. Fn. 3] bildet auch die Diskussion um die verkörperte Wahrnehmung eine wichtige Referenz für die hier angestellten Überlegungen. Ungeachtet der reichhaltigen philosophischen Vorläufer – die von Lukrez über Spinoza bis zu Dewey, Husserl und Heidegger reichen – verdichtet sich der Diskurs um verkörperte Wahrnehmung einerseits im

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In immanenten, materiell-verkörperten Weltverhältnissen stellt sich die Frage nach der Subjektwerdung, d. h. der Bildung, neu. Die klassischen Antworten des Humanismus, die die menschliche Vervollkommnung in einer Teil-Ganzes-Beziehung denken (vgl. für eine idealtypische Version nach wie vor Schiller 1965), tendieren dazu, weltliche Verhältnisse zu transzendieren. Sie führen durch »Versprechungen des Ästhetischen« (Ehrenspeck 1998) weg von konkret materiell-verkörperten Bildungsprozessen. In der Gegenposition des Antihumanismus tritt das Subjekt der Welt (kritisch-)reflektierend und handlungskompetent gegenüber. Die Frage nach den materiellen Bildungsprozessen von Subjektivität in der Welt wird so auf ein (reflektiertes) Lernen über die Welt zurückgestuft. Es kommt zu einer »Verdinglichung des Materiellen« (Dreyfus/Taylor 2016, 33). Beide Ansätze werden einem materiellAnschluss an Merleau-Pontys Arbeiten (insb. Merleau-Ponty 1966, 1986, Todes 2001) sowie Überlegungen aus dem Bereich der systematischen Kognitionsbiologie (vgl. z. B. Gibson 1966, Gibson 2015, Varela u. a. 2016). Andererseits wird an Überlegungen zur Einsetzung bzw. praktischen Situierung des Sehens und Erkennens (vgl. etwa Schürmann 2008, Crary 2002, Damisch 2010) ebenso angeschlossen wie an medientheoretisch inspirierte Überlegungen, wonach Denken nicht in eine isolierte Schädelkammer verbannt werden kann (Hörl 2016, 2018). Insgesamt hat sich inzwischen die Rede von einer »4-E Cognition« (Newen u. a. 2018) eingebürgert. Derzufolge muss der klassischen »I-conception of mind that is methodologically and metaphysically committed to individualism, intellectualism and internalism« (Hutto/Myin 2018, 96) ein »E-approach to the mind« (ebd., 95) gegenüber gestellt werden – »those that focus on embodied, enactive, extended, embedded, and ecological aspects of mind« (ebd.) (vgl. dazu auch Shapiro 2014, 2019). Dass die Kognitionsforschung dieses Feld erst jetzt erschließt wird u. a. einer naheliegenden, fast natürlich erscheinenden Täuschung zugerechnet: dass die bedingenden Umstände einer Wahrnehmung – Körper, sozial-materielle Situationen, begleitende Praxen – im Moment der Fokussierung eines Gegenstandes verschwinden (vgl. dazu Leder 1990). Für die politische Bildung ist dies hochrelevant, weil es umgekehrt darum gehen muss, diese unsichtbaren, aber die Sichtbarkeit bedingenden Umstände wieder sichtbar zu machen. Es lassen sich dann die »Aufteilung des Sinnlichen« (Rancière 2008), die »Skopischen Ordnungen« (Jay 1992) im genauen Sinne greifbar machen.

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immanenten In-der-Welt-Sein nicht gerecht. Es gilt diesseits eines humanistischen Telos und »jenseits der Fiktion eines ersten Anfangs« zu denken: Subjektivität ist nicht gegeben. Bildungen von Subjektivität müssen »in einer Weise [gedacht werden, W. F.], die völlig immanent ist [Herv., W. F.] und den prozessualen Charakter der Erfahrung nicht verrät – zugleich ihre mögliche Neuartigkeit erkennen lässt.« (Jullien 2019, 9). Die Bildungsprozesse des Subjekts müssen jenseits einer pseudosouveränen Stellung aufgespürt werden. Die Bildungen des Selbst-Welt-Verhältnisses müssen dazu »deterritorialisiert« (vgl. Deleuze/Guattari 1993, 703 und passim) werden, indem sie sich von idealisierten Ganzheitsfiktionen lösen (vgl. dazu Žižek 2005). Sie ergeben sich aus den materiellen Einbindungen (Friedrichs 2020b) – etwa aus Verbindungen mit Dingen (Nohl/Christoph 2013), dem Technischen (Simondon 2012) oder dem Tierischen (Haraway 2018). Solche Bildungen zielen nicht auf eine isolierte, humanistische Vervollkommnung, sondern sie verlaufen auf posthumanistischen Fluchtlinien: »Die Zeit [verlangt] nicht nach nostalgischer Rückbesinnung auf die humanistische Vergangenheit […], sondern auch nach vorausschauenden Experimenten mit neuen Formen von Subjektivität.« (Braidotti 2014, 50, vgl. dazu auch Wimmer 2014, 2019)

6.

Was also tun?

Im Anschluss an diese Zuspitzungen wird es im Anthropozän darum gehen, das In-der-Welt-Sein zu verwirklichen. Der in der Moderne installierte vermeintliche Abstand zur Welt, der uns den enthemmten Umgang mit der Welt ermöglicht (vgl. Fressoz 2012), muss als verheerende Illusion entlarvt werden. Der Streit darum, wieviel Anteil die Menschheit an der Klimaerwärmung hat, welche Grenzwerte wann erreicht sein werden, mit welcher Wahrscheinlichkeit Extremereignisse auf menschliches Verhalten zurückzuführen sind, ist müßig und kon-

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traproduktiv.8 Er ist spekulativ in einem schlechten Sinne: Welche Zukunftsszenarien sind möglich, zu befürchten oder zu erhoffen. In einem solchen Streit über die Zukunft als Möglichkeit absentiert man sich aus der Welt, in dem man (!) sich vor sie setzt, sie beobachtet und fabuliert. Dabei glaubt man, mit Gründen über die Sache richtig zu sprechen. Auf diese Weise entstehen radikal unterschiedliche Einschätzungen über die ferne Welt an sich und die daraus möglicherweise (!) zu ziehenden Konsequenzen. Entsprechend konträre Positionen zur Planung der Zukunft führen geradezu auf demokratiegefährdende Konstellationen, Radikalisierungen, Unversöhnlichkeiten, Glaubwürdigkeitsverluste von Wissenschaft und öffentlichen Medien usw. (zu diesem Zusammenhang vgl. auch Latour 2018). Um dieser Situation didaktisch zu begegnen, muss die für die Moderne typische Verbindung von Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn (wie er in Der Mann ohne Eigenschaften paradigmatisch beschrieben wurde – vgl. Musil 1997, 16ff.) aufgebrochen werden. Dieser in Zukunftswerkstätten und Planspielen gepflegte Konnex setzt die verwickelten Akteur*innen im schlimmsten Fall in die Position distanzierter Ingenieur*innen, die nach dem perfekten Plan suchen, im besten Fall in den Stand engagierter Pfleger*innen, die sich um die Erde kümmern. Genau eine solche von der Welt getrennte agency ist in der Welt aufzulösen. Mensch kann nichts über die Welt lernen. Er kann nicht für sie planen, ihr zusehen. Vielmehr muss in einer Praxis des »Con-Stellare« (Mersch 2015, 131ff.) von Situationen in die Welt eingetaucht werden. Eine gemeinsame Existenz verwirklichen. Situated Learning (vgl. Lave/Wenger 1991), situated cognition (vgl. Robbins/Aydede 2009) müssen in ein situated becoming, in situierte Bildungen münden. In der didaktisch-methodischen Umsetzung geht es um das Kuratieren (vgl. dazu Meyer 2018) alltäglicher Situationen. Dabei muss

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Was nicht bedeutet, dass nicht über unterschiedliche Anteile an der Verursachung des Klimawandels gestritten werden kann: Weltweit gibt es immer drastischere Ungleichverteilungen zwischen den Nutznießer*innen der Globalisierung und denjenigen, die mit den Folgen konfrontiert sind. Darüber muss es weiterhin Streit geben.

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eine Abgrenzung zur pädagogisch-unterweisenden Geste des Zeigens (vgl. Prange 2012) und zur »Ordnung des Erklärens« (Rancière 2007, 14ff.) gefunden werden. D. h. insbesondere, dass konstellierte Situationen nicht als Fallbeispiel für etwas anderes stehen. Situationen werden vielmehr als immersives Format aufbereitet (Krüger 2019). Es wird Verbindungen, Kreuzungen, Überlappungen, Übergängen, Ausrichtungen, Rhythmen, Verteilungen, Ordnungen, Ausstattungen, Merkmalen, Oberflächen, Unterbrechungen oder Abschlüssen nachgegangen. Gerüche, Gehörtes, Geräusche, Geschwindigkeiten, Geschmäcker, Gesagtes werden aufgespürt. Welche Gesichtspunkte werden präfiguriert oder »gefaltet« (Deleuze 1996), welche Perspektiven reproduziert (vgl. Crary 1990) und welche politischen Bildungen wiederholt? Durch didaktisch-künstlerische Neuanordnung von Materialien, Sounds, Bewegungsformen und Praxen kann eine »De-Koinsistenz« (Jullien 2019) erzeugt werden, die die Aufteilung des Sinnlichen greifbar macht. D. h. es geht nicht darum, sich gegen die Ordnung der Dinge auszusprechen – etwa im Namen einer anderen Zukunft. Der Einsatz einer politisch-ästhetischen Praxis besteht darin, in die Örtlichkeit des Ortes einzudringen. Nomadisch zu denken (Braidotti 2011). Nischen und Heterotopien aufzuspüren (Foucault 2005). Die Verortung jedes Ortes aufzuweisen, das Utopische der Utopie. Nicht mehr auf ein Zu-Kommendes, auf eine Zu(-)Kunft warten. Nicht die Kunft erhoffen, erwarten, planen. Vielmehr gilt es das Künftige aus der Ferne seines Versprechens zu lösen und in ein Zu-Sein (vgl. Nancy 2014, passim) zu verwandeln. Atopisch werden heißt Konnektivitäten in der Welt zu bilden (vgl. erneut dazu Friedrichs 2020b). Politische Bildungen nach dem Ende der Zukunft verwirklichen.

7.

Paralipomenon

Zwei Einwände zu den vorstehenden Überlegungen sind während des Projektes, das Ausgangspunkt für diesen Band ist, aufgetaucht. Zum einen die Frage, ob der Begriff der Politik (wie er u. a. von Rancière übernommen wurde) nicht viel zu weit gefasst ist. Ob in einer solchen Lesart

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nicht alles und damit gleichzeitig nichts politisch ist, weil »sämtliche Strukturierungsprozesse als politisch zu klassifizieren wären« (Sörensen 2016, 42). Zum anderen die damit unmittelbar zusammenhängende Frage, die ich Florian Weber-Stein (vgl. auch seinen Beitrag in diesem Band) verdanke: Inwieweit handelt es sich bei den hier anvisierten Bildungsprozessen um politische Bildungsprozesse? Zielen die vorausgegangenen Überlegungen nicht vielleicht ganz allgemein auf Bildungsoder sogar Werdensprozesse? Die Antwort auf diese Fragen ergeben sich aus unterschiedlichen Schreibweisen von Demokratie, in denen ein je eigenes Verständnis der Realisierung von Gleichheit und Freiheit – einer »Gleichfreiheit« (Balibar 2012) vorgelegt wird. Demokratie lässt sich als Daseinsform beschreiben, in der zwischen »Herrschaftsform, Gesellschaftsform und Lebensform« (Himmelmann 2007) unterschieden wird. Gleichheit und Freiheit haben hier den Status von Grundprinzipien, deren Bestehen in einem staatlichen Gebilde bzw. einer Gemeinschaft aktualisiert werden muss. Nach einem weiteren, sehr geläufigen Verständnis ist Demokratie als ein politisches System bzw. institutionelles Gefüge zu verstehen, das vermittels der Unterscheidung zwischen Polity, Policy oder Politics analysiert werden kann (vgl. statt vieler Kost u. a. 2020). Freiheit und Gleichheit erscheinen hier vor allem als normative Geltungsansprüche, die bei der Ausgestaltung demokratischer Institutionen angewandt werden müssen. Von diesen beiden Zugriffen lässt sich eine Perspektive unterscheiden, die den Kern einer Demokratie in der Verwirklichung demokratischer Subjektivität ausmacht. Eine solche Demokratie bestünde in der »unendlichen Aufgabe« (Heil/Hetzel 2006), politische Bildungen zu ermöglichen (vgl. dazu auch Friedrichs 2020a)9 . An eine solche bildungstheoretische Lesart von Demokratie anschließend, kann man

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Bildung wird hier nicht vornehmlich als Prozess der Wissensvermittlung verstanden. Vielmehr ist Bildung als Subjektwerdung zu verstehen (vgl. z. B. Ingold 2018). Politische Bildung ist in einem solchen Verständnis der Konstitution einer Demokratie weder nachgeordnet noch ihr dienlich. Ohne politische Bildungen von Subjektivität keine Demokratie.

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zwischen einem demokratischen Sein, einem demokratischen Leben und einer demokratischen Existenz unterscheiden. In der Perspektive demokratischen Seins ginge es um verallgemeinerbare Grundprinzipien. Freiheit und Gleichheit geraten hier als zu aktualisierende Prinzipien in den Blick: als Universalien, Imperative, Verpflichtungen und Rechte. Im demokratischen Leben ginge es um die prozessuale, mithin institutionelle Umsetzung von Gleichheit und Freiheit. Gleichfreiheit wird zum Gegenstand anhaltender Kontroversen um die Angemessenheit eingerichteter Institutionen. Hier geht es vor allem um die Gewinnung individueller Handlungsmacht und Teilhabemöglichkeiten in demokratischen Entscheidungsprozessen. In der Dimension demokratischer Existenz kommt zum Vorschein, dass Freiheit und Gleichheit tief in das In-der-Welt-Sein eingeschrieben sein müssen, damit sie nicht als entfremdete Spielmarken ihre Wirkkraft verlieren (Friedrichs 2018). Es geht um die Verwirklichung des Zusammenhangs von Selbstbildung (Selbstsein), Freiheit und Gleichheit. Die vorliegenden Überlegungen sind von der Überzeugung getragen, dass eine Demokratie nur dauerhaft verwirklicht werden kann, wenn in politischen Bildungen auch diese Ebene demokratischer Existenz berücksichtigt wird. Letztere mag aus der Perspektive der anderen beiden Lesarten unpolitisch erscheinen. Sie ist aber die vornehmlichste Ebene, in der politischen Entfremdungsprozessen begegnet werden kann und aus der die Demokratie Kraft schöpft.    

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Abb. 1: Mensch-Welt-Politikverhältnisse

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Arrangement – Affizierung – Artikulation Politische Bildung in Gefühls(-verwirrungs-) szenerien Florian Weber-Stein

»Es ist interessant und faszinierend zumal, aber doch sehr abstrakt – ich würde gerne einmal sehen, wie er didaktisch mit seinen Student*innen arbeitet!« Diese Worte raunte Sibylle Reinhardt mir während eines Vortrags von Werner Friedrichs über »Sprache als Experiment« (Friedrichs 2020) auf einer Tagung in Potsdam1 im Frühjahr 2019 zu. Frau Reinhardt brachte damit eine Oszillation zwischen Faszination und Enttäuschung über ein uneingelöstes Versprechen zum Ausdruck, die ich selbst auch schon bei früheren Vorträgen Friedrichs gespürt hatte – und die mir typisch zu sein scheint für die Begegnung mit seinem Versuch, politische Bildung aus der Warte »postfundamentalistischer« (Marchart 2013) Demokratietheoretiker*innen zu reperspektivieren. Die von Friedrichs in Zusammenarbeit mit der PerformanceKünstlergruppe JAJAJA (Hamburg) konzipierte und mit einer Gruppe Studierender der Uni Bamberg sowie Vertreter*innen der akademischen und außerschulischen Politischen Bildung durchgeführte immersive Silent-Walk-Performance in Bamberg am 12. Juli 2019 verstehe ich als einen Schritt in die von Frau Reinhardt geforderte Richtung zu mehr Konkretion und Anschaulichkeit. Die folgenden Überlegungen

1

Die Tagung des Arbeitskreises Hermeneutische Politikdidaktik in der GPJE wurde von Ingo Juchler ausgerichtet und fand zum Thema »Sprache und Politik – Handlungsfelder politischer Bildung« am 05./06. April 2019 in Potsdam statt.

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Florian Weber-Stein

sind der Versuch, die höchst subjektiven (aber vielleicht nicht beliebigen) Erfahrungen und Effekte des Silent-Walk zu rekonstruieren. Dazu sind zwei vorbereitende Schritte notwendig: In einem ersten – theoretischen – Schritt werde ich (im Anschluss an Werner Friedrichs) sehr knapp Überlegungen zu einer politischen Bildungsarbeit vorstellen, die die Einsichten der neueren, um die »politische Differenz« (Marchart 2010) zentrierten Demokratietheorien politikdidaktisch ausmünzen will (1.). In einem zweiten – konzeptuell-methodologischen – Schritt schlage ich vor, die Erfahrungsgehalte einer solchen Bildungsarbeit mit einem Fokus auf ihre affektiven Wirkungen zu analysieren, d. h. mit Blick auf die Konstitution von Stimmungen bzw. Atmosphären, die affektiven Resonanzen zwischen den Teilnehmer*innen sowie die Verunsicherung subjektiver Gefühlslagen (2.). Auf dieser Grundlage stellt der dritte – wenn man so will: empirische – Abschnitt anhand von Vignetten aus meinen field notes exemplarisch zwei Ereignisse bzw. didaktische Arrangements des Silent-Walk vor und versucht deren Bildungsgehalte affekttheoretisch zu rekonstruieren (3.). Abschließend möchte ich den kritischen Einwand diskutieren, ob die skizzierten Erlebnisepisoden als Bildungserfahrungen zu werten sind und ob eine solche Bildung als politische qualifiziert werden kann (4.).

1.

Politische Bildung vor dem Hintergrund der »politischen Differenz«

Auch wenn die Debatte um die Leitdifferenz zwischen Politik (als dem »ontischen« Bereich der institutionalisierten Willensbildungs- und Entscheidungsverfahren) und Politischem (als dem »ontologischen« Bereich der sozialen Verfasstheit von gesellschaftlicher Ordnung)2 bislang vorwiegend innerhalb der Politischen Philosophie und der normativ orientierten Demokratietheorie geführt worden ist, haben insbesondere 2

Die Unterscheidung zwischen »ontischer« und »ontologischer« Ebene stammt von Mouffe (2007); zu den verschiedenen Ausprägungen der keineswegs einheitlich gebrauchten Begriffe vgl. Bedorf/Röttgers (2010).

Arrangement – Affizierung – Artikulation

sog. kritische Ansätze der Politischen Bildung das Potential dieser Unterscheidung für die Analyse der Bedarfe und Möglichkeit von politischer Bildung unter Bedingungen der postdemokratischen Krise erkannt (statt anderer Lösch/Thimmel 2010; Eis/Salomon 2014). Insbesondere drei Thesen aus dem demokratietheoretischen Diskurs sind für die Konzeption von Ansatzpunkten für politische Bildungsprozesse unmittelbar von Bedeutung: •





die rationalismuskritische These, dass auch demokratische Ordnungen immer hegemoniale Ordnungen seien, die auf Ausschlüssen beruhten; die aufklärungskritische These, dass eine Kritik dieser Ausschlüsse im Modus rationaler Begründung (die rational nur relativ zu einem hegemonialen Ordnungsmodell sei) nicht weiterführe und Kritik sich auf das Sichtbarmachen der Ausschlusslogiken und -praxen verlegen müsse; schließlich die autonomiekritische These, dass Subjektivität bis in die scheinbar privatesten Regungen hinein gesellschaftlich geformt und das Subjekt somit im Kern politisch sei.

Alle drei Thesen setzen das gängige Vorverständnis politischer Bildungsarbeit als auf Mündigkeit zielende rationale Aufklärungsarbeit unter Druck. »Statt von einem gegebenen, autonomen, lernenden Subjekt auszugehen, ist eine Konstellation Ausgangspunkt, in der die demokratische Konstitution der Gesellschaft und die Bildung des Subjekts verwoben sind« (Friedrichs 2018a, 126f.). Dieser Aspekt scheint mir für ein Verständnis des Silent-Walk als Form der politischen Bildungsarbeit wichtig zu sein; nicht zufällig bildet ein Textauszug aus Rancières »Die Aufteilung des Sinnlichen« (Rancière 2008) – den Friedrichs (2017) überdies an anderer Stelle als Theoretiker der politischen Bildung in Stellung gebracht hat – einen der theoretischen Kontexte, der, über die Kopfhörer quasi im Hörbuchformat eingespielt, zur Ausdeutung der Eindrücke und Erfahrungen angesonnen wird. Indem Rancière die politische Ordnung als »Ordnung des Sinnlichen« charakterisiert, verdeutlicht er, dass es sich nicht nur

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um eine institutionelle Ordnung von Verfahren der Willensbildung und Entscheidungsfindung handelt (die das Repertoire der mir möglichen politischen Handlungen vorstrukturieren), sondern diese Ordnung eine »epistemologische An(-)ordnung der Gesellschaft als solche[r]« (Friedrichs 2017, 315) vornimmt (die festlegt, was sicht- und was unsichtbar, was sag- und was unsagbar ist). Im Hinblick auf die Konzeption des Silent-Walk als eine Verkettung didaktischer Arrangements scheinen mir drei Konsequenzen aus diesem Gedanken einer politischen Ordnung des Sinnlichen bedeutend: Erstens verändert sich der Gegenstand politischer Bildung, der nicht länger Politik als »institutionelles Gefüge […], sondern als Einrichtung der Welt« (Friedrichs 2018b, 19) zum Thema hat. Zweitens wird die Begegnung mit dem Politischen gewissermaßen verinnerlicht und als Fluchtlinie einer durch Irritation ausgelösten Selbstreflexion verstanden. Diese soll angestoßen werden durch das momenthafte Aufscheinen der Kontingenz der politisch-sinnlichen Ordnung, die verbunden ist mit einem Gewahrwerden ihrer normierenden und normalisierenden Kraft auf die eigene Subjektivität. Drittens wird der Bildungsprozess demokratisiert, indem die pädagogischen Gesten des Zeigens bzw. Erklärens als bevormundende Akte delegitimiert werden, weil sie »Ungleichheit installier[en]« (Friedrichs 2017, 312). Die didaktische Rahmung politischer Bildungsprozesse schrumpft zusammen zu einer »experimentellen Anordnung« (Einladungs-E-Mail Friedrichs vom 26. Juni 2019), zu einem didaktischen ›Arrangement‹, von dem erhofft werden kann, dass es die epistemologische Ordnung unterbricht.

2.

Von der epistemologischen zur affekttheoretischen Lesart

Ein Grund für das von Sibylle Reinhardt ausgedrückte Unbehagen, die zentralen Konzeptionen der postfundamentalistischen Demokratietheorien seien abstrakt und nur schwer an anschauliche Alltagerfahrungen zurückzubinden, liegt in der Entstehung dieser Theorierichtung aus dem stark philosophisch geprägten Poststrukturalismus begrün-

Arrangement – Affizierung – Artikulation

det. Mit der »Figur des Politischen« nahm diese Denktradition zwar »in den [19]80er Jahren eine explizit sozialtheoretische Wendung« (Seyd 2015, 117), ohne allerdings die primär philosophische Orientierung aufzugeben. Rancières Begriff der »Ordnung des Sinnlichen« legt eine epistemologische Leitmetaphorik nahe, die zwar geeignet erscheint, den grundlegenden Charakter der politischen Konstitution von Ordnung zu akzentuieren, indem basale (und vermeintlich ›natürlich‹ gegebene) Akte der sinnlichen Wahrnehmung wie Sehen und Hören als Produkte einer vorgängigen politischen Zurichtung entlarvt werden – zugleich erschwert diese Verortung politischer Erfahrungen im epistemologischen Feld jedoch den subjektiven Nachvollzug dieses Konstitutionszusammenhangs: Es fällt mir auch nach der Teilnahme am Silent-Walk schwer, anschaulich zu unterfüttern, was es bedeuten könnte, »politische Epistemologien [zu] zer(-)zeigen«, »Akustemologien [zu] ent(-)hören« oder »Unvernommenes [zu] vernehmen« (Einladungsflyer). Anstelle der epistemologischen scheint mir eine (in vielen Schriften als Subtext mitlaufende) affekttheoretische Lesart anschlussfähiger zu sein – und zwar sowohl für die subjektive Ausdeutung politischer Bildungserfahrungen als auch für deren politikdidaktische Theoretisierung. Bezüglich der subjektiven Ausdeutung möchte ich die These vertreten, dass die Verschränkungen von normativer Regulation (›Regiertwerden‹) und Möglichkeiten subjektiver Artikulation (›Widerstandspotentialen‹), die dem Politikbegriff eingeschrieben sind, im Feld des Affektiven leichter an lebensweltliche Alltagswahrnehmungen anschließen können: Jeder hat schon den sozialen Druck verspürt, in bestimmten Situationen auf eine bestimmte Weise fühlen zu sollen (bspw. in der Fankurve eines Fußballstadions oder auf einer Beerdigung usw.) und kennt auch die Mühe, die es kosten kann, das als angemessene Reaktion erwartete Gefühl (hier: Euphorie bzw. Trauer) darzustellen oder tatsächlich in sich zu provozieren. Die Soziologin Hochschild (2006) hat dafür die Komplementärbegriffe »Gefühlsregel/Gefühlsarbeit« geprägt (Weber 2016a, 91-104). Doch neben dieser regulierenden Seite der Emotionalität können affektive Regungen auch Impulse des Widerstandes gegen Formen der Unterdrückung werden, Anstöße für Infragestel-

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lung von Ordnungsstrukturen und deren Transformation (z. B. über eine Umdefinition geltender Gefühlsregeln). Wenn man diese Spur verfolgt, ist es hilfreich zwischen zwei ›Aggregatzuständen‹ von Gefühlsregungen zu unterscheiden, zwischen ›Affekten‹ und ›Emotionen‹, weil diese Unterscheidung auf die Differenz Politisches/Politik abgebildet werden kann (Bedorf 2015; Seyd 2015). Emotionen bezeichnen institutionalisierte und kanalisierte Formen von gefühlsmäßigen Reaktionsweisen, die durch semantische Emotionsbegriffe (Scham, Wut, Zorn, Mitleid usw.) vorgeformt und durch Gefühlsregeln normiert werden (vgl. Weber 2016b). Affekte hingegen werden als unregulierte und noch nicht kategorisierte, stärker körpergebundene Reaktionsimpulse verstanden: »Das Politische muss affektiv, Politik muss emotional gedacht werden« (Seyd 2015, 132). Diese affekttheoretische Lesart wird – neben der epistemologischen, die auf das Vermögen der Einbildungskraft als zu bildendes Vermögen zielt (Friedrichs 2018a, 2019) – auch von Friedrichs verfolgt, wenn er formuliert: »Affekte entfalten sich im Raum des Politischen, markieren eine Unpassendheit, eine Kontingenz« (Friedrichs 2018b, 22), um daraus als Ansatzpunkt für die Politische Bildung abzuleiten: »Die politischen Hervorbringungsmechanismen von subjektiven Gefühlen sind für Lernende sichtbar und lesbar zu machen.« (ebd., 22) Diese Linie soll bei der Interpretation der Wirkungen des Silent-Walk weiterverfolgt werden. Ein zweiter Vorteil der affekttheoretischen Lesart ist die Möglichkeit einer – auch empirisch anschlussfähigen – Theoretisierung, weil sie auf ein reichhaltiges konzeptionelles und methodologisches Repertoire der sozial- und kulturwissenschaftlichen Emotions- und Affektforschung zurückgreifen kann. Für die Ebene der Emotionen sind die schon genannten Konzepte Gefühlsregel/Gefühlsarbeit (Hochschild 2006) einschlägig; auf der Ebene der Affekte möchte ich im Anschluss an die (Begriffs-)Arbeit des Sonderforschungsbereichs »Affective Societies: Dynamiken des Zusammenlebens in bewegten Welten« der FU Berlin (Slaby/von Scheve 2019) das Begriffspaar affektive Praktik/affektives Arrangement (vgl. Slaby/Röttger-Rössler 2018) übernehmen. Beide Konzepte akzentuieren komplementäre Aspekte der für Affektdynamiken

Arrangement – Affizierung – Artikulation

grundsätzlich charakteristischen Relationalität (Mühlhoff 2015). Während »affektive Praktiken«3 den interpersonalen Aspekt von affektiven Wirkdynamiken betonen und das »unstrukturierte Zusammenspiel von Sprechakten und deren expressiven Variationen, Körperhaltungen, Mimik, Gestik« (Slaby 2018, 68f.) bezeichnen, fokussiert der Begriff des »affektiven Arrangements« das Moment der materialen Einflussfaktoren wie bspw. Artefakten sowie von diskursiven und institutionellen Zusammenhängen.

3.

Arrangement, Affizierung und Artikulation – Versuch einer Interpretation zweier Szenen des Bamberger Silent-Walk

Als Grundstruktur der exemplarischen Deutung von zwei ›Szenen‹ dient die Trias von didaktischem Arrangement, bewirkter Affizierung und sinnsuchender Artikulation in der nachfolgenden Reflexion.

Vignette 1: Nach dem Aufstieg durch gartenartiges Gelände haben wir ein Plateau mit Aussicht über die Stadt Bamberg erreicht und begeben uns nun in ein tempelartiges Gebäude. Wir stehen dicht, einige sitzen an die Steinmauer gelehnt. Wir nehmen die Kopfhörer ab und sollen in das sonore »Aaaahhh«, angestimmt durch Willy und Beganza, einstimmen. Es ist laut. Die Höhen und Tiefen gleichen sich an, jetzt ist es EIN Ton. Die Fenster werden verdunkelt. Das Vibrieren ist im Kehlkopf spürbar, im Kopf, in den Händen. Werfen die Steinmauern die Schwingungen zurück? Das Energieniveau steigt, bis der einstimmige Ton aus vielen Kehlen allmählich versiegt. – Wir sollen die »Beute«, die auf einer goldenen Decke in der Mitte ausgebreitet ist, »rituell« und »angemessen« untereinander aufteilen. Willy und Beganza beginnen 3

Zum Begriff der Praktiken grundlegend Reckwitz (2003) sowie zu affektiven Praktiken Wiesse (2019).

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um die »Beute« zu kreisen, Willy rappt in Fantasiesprache, Beganza klatscht. Der Rhythmus beginnt sich selbst zu tragen, neue Geräusche – kehlige Laute, Schreie, Basstöne – fügen sich ein. Der Aufteilungsritus beginnt. Der Rhythmus erfasst die Körper, tänzelnd in der exponierten Mitte, wippend und klatschend im umstehenden Ring. Das didaktische Arrangement der Szene zeichnet sich einerseits durch die Wahl eines abgesonderten, gleichwohl inmitten der Stadt gelegenen Ortes aus, dessen Historizität die Atmosphäre prägt (raue Steinmauern, gewölbeartige Decke usw.), die durch Verdunkelung noch einmal akzentuiert wird. Zugleich ›zwingt‹ der begrenzte Raum zu einer Anordnung der Körper, die deren physische ›Resonanz‹ begünstigt, indem er die entstehenden, auditiv und taktil wahrnehmbaren Schwingungsbewegungen intensiviert und zurückwirft. Neben den räumlich-materiellen Bedingungen strukturieren die sparsamen sprachlichen Impulse der Guides – »Stimmt mit ein in den Ton!«; »Teilt die Beute angemessen auf!« – das Arrangement, das als ein didaktisches durch einen Überschuss an theoretischen Deutungskontexten qualifizierbar ist. Zwei solcher Kontexte drängen sich unmittelbar auf: Einerseits Durkheims Ritualtheorie, die die Bildung gesellschaftlichen Zusammenhalts und kollektiver Identität aus der Performanz von Ritualen erklärt. In seiner Schrift Die elementaren Formen des religiösen Lebens (Durkheim 2007) sucht Durkheim nach einer Antwort auf die Frage wie moderne, sozial differenzierte Gesellschaften angesichts des fortschreitenden Individualisierungsprozesses sozial integriert werden können. Etwas vereinfacht lautet die Antwort: Über die ›Erschaffung‹ gemeinsamer Werte, deren Bindekräfte fortlaufend aktualisiert werden müssen. Der Prozess, der Werte erschafft und fortleben lässt, ist das Ritual – also eine ursprünglich religiös eingebettete soziale Praktik, die als Kategorie aber auch in säkularisierten Zusammenhängen analytische Kraft besitzt. Denn Durkheim versteht Religion aus einer pragmatischen Perspektive als ein »System von Überzeugungen und Praktiken, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft […] alle vereinen« (Durkheim 2007, 76). Die Heiligkeit des Heiligen – oder säkular gewendet: die Werthaftigkeit eines Vollzugs oder eines Sym-

Arrangement – Affizierung – Artikulation

bols – wird nach Durkheim durch eine bestimmte Form von Praktiken erzeugt, die sich durch eine kollektive affektive Erregung (bis hin zur Ekstase) auszeichnen: »Sind die Individuen einmal versammelt, so entlädt sich aufgrund dieses Tatbestands eine Art Elektrizität, die sie rasch in einen Zustand außerordentlicher Erregung versetzt. Jedes ausgedrückte Gefühl hallt ohne Widerstand in dem Bewusstsein eines jeden wider, das den äußeren Eindrücken weit geöffnet ist. Jedes Bewusstsein findet sein Echo in dem anderen. Der erste Anstoß vergrößert sich auf solche Weise immer mehr, wie eine Lawine anwächst, je weiter sie läuft.« (Durkheim 2007, 320) Um es auf eine einfache Formel zu bringen: In der Praktik des Rituals kann durch Resonanz ein solches Quantum an affektiver Intensität erreicht werden, dass diese in Qualität umschlägt: in ein neues Gemeinschaftsgefühl – das allerdings flüchtig und unbeständig ist, wenn es nicht beständig wiederholt und aktualisiert wird. Ein zweiter Deutungskontext sind Mauss’ Beobachtungen über die anthropologische Bedeutung der »Gabe« als Kernelement einer Gesellschaft stiftenden Ökonomie des Austauschs. Mauss (2013) akzentuiert anders als Durkheim nicht die bloße Form des Rituals (gleich welchen Inhalts), sondern Rituale, die durch die Trias von Geben, Nehmen und Erwidern (also Wieder-Gabe) gekennzeichnet sind und sich demgemäß selbst stabilisieren. Durch die ihnen eingeschriebene Repetitivität stiften sie über Differenzen und Entfernungen hinweg ein gesellschaftliches Band, das »pazifizierend« wirkt (vgl. Moebius 2008, 190ff.). In welcher Weise sind die Deutungskontexte erhellend für die Interpretation der in Vignette 1 beschriebene Szene? – Wie in Durkheims Beschreibung des totemistischen Rituals findet auch hier eine wechselseitige Affizierung statt, die sich unter Rekurs auf die affekttheoretische Terminologie als eine ›Resonanzerfahrung‹ beschreiben lässt, die über das Phänomen der wahrnehmbaren Schwingungen sogar an die physikalische Kernbedeutung von Resonanz anschließen kann. Ob sich die Wahrnehmung eines ›Gesamtkörpers‹, die Durkheim im Ritual beobachtet, einstellt (oder angesichts der Kürze der Szene überhaupt

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einstellen kann), sei einmal dahingestellt; spürbar sind aber Dynamiken der Einstimmung (tuning) basal-körperlicher Vollzüge (Prosodie, Timing der Laute, Rhythmik des Klatschens und Wippens usw.). Die Mehrzahl dieser Prozesse nimmt uns vor- oder halbbewusst in Besitz, sie werden nicht als solche wahrgenommen, sondern über eine Veränderung der Affektlage registriert, bspw. als erhebende Stimmung, die aber nicht zu spezifischen positiven Emotionen wie Freude, Stolz, Erleichterung o. ä. verdichtet ist. Neben der (positiven oder negativen) Tonalität besitzt die Affektlage als zweite Wahrnehmungsdimension eine Intensität, man könnte auch von einem ›Energieniveau‹ sprechen. Die Erhöhung des Energieniveaus wird spürbar in der ›Elektrifizierung‹ (siehe Durkheim-Zitat) der Atmosphäre, die zur Entladung in körperlichen Bewegungen geradezu drängt. Der Versuch einer Artikulation des Bildungsgehalts der rekonstruierten Erfahrung wird durch die Tatsache unterstützt, dass affektive Resonanzerfahrungen uns aus verschiedensten Lebenskontexten (in der Fankurve, auf Raves, bei Demonstrationen usw.) bekannt sind. Es handelt sich um Situationen, die auf der Grundlage rhythmisch synchronisierter Verhaltensabläufe euphorisierende Wirkung haben, oftmals aber zugleich ein Unbehagen auslösen, sich einem solchen nicht mehr vollständig kontrollierbaren Sog auszusetzen (bis hin zur konsequenten Vermeidung solcher Situationen). Auf der Interpretationsfolie postfundamentalistischer Demokratietheorien erscheinen mir zwei Erfahrungen als Ritualteilnehmer*in von Bedeutung zu sein: Zum einen eine transformierte Selbstbeschreibung als ›affizierter Körper‹ (statt als souveränes Subjekt). Dem könnte man entgegenhalten, dass affektive Resonanzerfahrungen in der ›Erlebnisgesellschaft‹ die Form einer hedonistischen Suche nach dem ›Kick‹ annehmen können und dann alles andere als transformative Kraft entfalten und überdies gänzlich unpolitisch bleiben. Im Kontext des Silent-Walk erscheint eine privatisierende, rein erlebnisorientierte Deutung jedoch wenig plausibel. Das Ritual des »Beute«-Aufteilens ist durch die Mauss’sche Trias von Geben, Nehmen und Erwidern geprägt, es stiftet somit ein »soziales Band« (hierzu Bedorf/Hermann 2016), das überdies in materieller Form – als ein von allen Teilnehmer*innen während des gesamten Rundgangs gehaltener

Arrangement – Affizierung – Artikulation

Strick – ein die Situation überdauerndes Symbol bildet, das den gesamten Silent-Walk in nicht-individualistischer Weise rahmt. Ein zweiter demokratietheoretisch interessanter Aspekt besteht in der wahrnehmbaren Erhöhung des affektiven Energieniveaus, das in der körperlichen Aktivität (z. B. Tanzen) nur teilweise ausagiert wird und ein überschießendes Potential offenlegt, dass sich in gemeinsamem Handeln ›entladen‹ könnte; zu denken wäre hier an spontan-kreative oder performative Praktiken, wie sie bspw. im Kontext sozialer Protestbewegungen beschrieben worden sind (Butler 2016). Eine verfestigte kollektive Identität, wie Durkheim sie als Produkt rituellen Handelns unterstellt, muss dazu nicht vorausgesetzt werden. Vielmehr genügen performativ hervorgebrachte, transitorische Identitäten, die durch einen geteilten Fokus konstituiert und durch die Verwendung gemeinsamer Symbole als »Speicher« der erzeugten »emotionalen Energie« (Collins 2004, 102ff.) stabilisiert werden können.

Vignette 2: Wir überqueren eine Straße in der Bamberger Innenstadt. Am ›blauen Band‹ wie Perlen auf einer Schnur aufgereiht, dauert das eine Weile. Ein Auto wartet bereits. Jetzt bleibt Willy auch noch stehen: »Tanzt Euch frei!«. Willy und Beganza beginnen auf der Straße zur Musik auf den Ohren zu tanzen, einige machen sofort mit. Ich lasse den Blick unsicher schweifen: Ingo tanzt und lächelt dabei, Werner steht etwas abseits und bewegt sich dezent, Sven steht am Rand – zum Glück! – und tanzt nicht. Ich bin nicht der einzige Stoffel hier.– Boah, dauert das lange! Der Druck wird größer – warum eigentlich? Keiner der in einer Schlange wartenden Autofahrer hupt. Der Druck wird noch größer: Wo ist meine goldene Decke, unter der ich mich verstecken kann? Das didaktische Arrangement ist hier subtiler als im ersten Beispiel, da es sich zunächst weder örtlich noch atmosphärisch (Betreten des verdunkelten Tempels) von der Kontexthandlung des geführten Stadtrundgangs abgrenzen lässt. Dennoch handelt es sich um eine Unterbrechung bzw. Subversion des ›geführten Stadtrundgangs‹ als eine

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»soziale Praktik«, die sich durch »know-how-abhängige und von einem praktischen ›Verstehen‹ zusammengehaltene Verhaltensroutine« beschreiben lässt und »regelmäßig die Form von routinisierten Beziehungen zwischen Subjekten und von ihnen ›verwendeten‹ materialen Artefakten« annimmt (Reckwitz 2003, 289). Die nicht-kodifizierten, inkorporierten Regeln der Praktik ›geführter Stadtrundgang‹ werden durch die Aufforderung zum Tanz auf der Straße gebrochen bzw. erweiternd uminterpretiert. Die Affizierung erfolgt in dieser Szene nicht im Selbstverhältnis der Gruppe, sondern durch die Konfrontation zwischen der in-group und den fremden Blicken der wartenden Autofahrer sowie der Passanten, die den Regelbruch ebenso als einen solchen wahrnehmen. Trotz ausbleibender Sanktionen (Hupen, Beschwerden o. ä.) wird der Regelbruch über die neugierigen fremden Blicke markiert; affektiv zeigt er sich bei mir in einem starken Unbehagen, das nicht in Einklang mit dem bestehenden Selbstkonzept (Ich bin kein Stoffel – warum sollte mir diese arrangierte, harmlos-spielerische Form der Exponiertheit unangenehm sein?) zu bringen ist und dennoch weiter ansteigt und schließlich beinahe unerträglich wird. Der Versuch einer Artikulation kann bei der Deutung ansetzen, dass die Ordnung des Alltäglichen in ihrer Institutionalität erfahrbar wird, sobald – wie harmlos und folgenlos auch immer – die Normalitätserwartungen unterlaufen und die verschwommenen Grenzen der sozialen Praktiken in ihrer Überschreitung greifbar werden. Als Folge der wahrgenommenen Ordnungsverletzung stellte sich bei mir die Emotion der Scham ein, die mit dem Eindruck assoziiert ist, »im Zentrum missbilligender oder höhnischer Blicke zu stehen« und mit dem Gefühl einer Lähmung oder »Blockade« verbunden sein kann (Demmerling/Landwehr 2007, 220). Dass die affektive Reaktion sich der distinkten Reaktion der Scham zuordnen lässt, kann als Hinweis verstanden werden, dass es sich um eine gewissermaßen archetypische Situation handelt, ein emotionales »paradigm scenario« (de Sousa 1980), bei dem die emotionsevozierenden Situationsmerkmale (Bruch normativer Regeln) relativ klar definiert und über aus dem Sozialisationsprozess hervorgehende szenische Typisierungen (z. B. elterliche Ermahnungen, Straßen

Arrangement – Affizierung – Artikulation

nur an Überwegen zu kreuzen) direkt mit emotionalen Reaktionsweisen inkl. der assoziierten Expressionen (Scham, ggf. Erröten, Wunsch unsichtbar zu sein usw.) vermittelt werden. Im Hinblick auf den politischen Bildungsgehalt erscheint mir bedeutsam, dass – so harmlos die Konfrontation mit der Verkehrsordnung der Bamberger Innenstadt auch sein mag – über die Schamemotion prinzipiell ein affektiver Bezug zur (mikro-)politischen Ordnung des Alltäglichen explizit werden kann: In der Scham wird die infrage gestellte Ordnung als autoritative erfahren und in ihrer Normgeltung gestärkt. Praktiken der Beschämung (zu denen schon die ›markierenden‹ Blicke der umstehenden Passanten zählen) können als Herrschaftstechniken dechiffriert werden, die über die »Schamangst« als »psychische[s] Warnsystem antizipierter Beschämung« (Neckel 1991, 204) in den devianten Akteuren subjektiviert wird. Auf diese Weise kann in der Reflexion auf das Schamgefühl die Aufdeckung der informellen Sanktionsmechanismen, mit denen normative Ordnungsstrukturen fortgeschrieben werden, zu einer Selbstbefragung führen, durch welche Ordnungszumutungen ich wie regiert werden will. Hier kann ein Impuls zum Widerstand liegen, der in seiner praktischen Wirksamkeit jedoch nicht überschätzt werden sollte. Denn Widerstand setzt weit mehr als Einsicht und Entscheidung voraus: nämlich mühevolle und langwierige ›Praktiken der Entschämung‹ – »shaming out« (Flam 2005, 30) –, die in kollektiver »Gefühlsarbeit« (Hochschild) den Code der emotionalen Reaktionsmuster umzuschreiben versuchen.4

4

Als Beispiele für solche Praktiken nennt Flam rituell-expressive Lebensformen im Kontext sozialer Bewegungen: »Now what new social movements attempt to do, is to re-socialize their (potential) members and the larger public. They teach their members to work on emotions directed towards themselves and their opponents. Movements attempt to suppress self-defeating feelings which came with the socialization process and instead propose new, assertive emotions as appropriate for their members and the general public – they thus propose new ›feeling rules‹ […]. These feeling rules parallel an ›alternative ideological account‹ which shifts blame from the individual to the system and its moral stand- ards.« (Flam 2005, 24; Herv. i. O.)

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4.

Wie politisch ist atopische Bildung?

Abschließend möchte ich zwei naheliegende Einwände diskutieren und einen Vorschlag machen, den politischen Bildungsgehalt des didaktischen Arrangements noch zu stärken: 1. Handelt es sich bei den skizzierten Szenen um politische Bildungsanlässe? – Die Beantwortung hängt offensichtlich davon ab, ob man bereit ist, sich auf den postfundamentalistischen Politikbegriff einzulassen. Wird Politik im Sinne der klassischen Trias polity-politics-policy verstanden, so liegt eine Differenzierung zwischen sozialem und politischem Lernen (und die Zuordnung der atopischen Lerngelegenheiten zu ersterem) nahe. Politik im Sinne Rancières als Einrichtung der Welt unterläuft hingegen diese Unterscheidung und rückt »politisch-ästhetische Subjektivierungsprozesse« in den Fokus, in denen »im Spiegel anderer möglicher Ordnungen die Politizität der gegebenen Ordnung sichtbar wird« (Friedrichs 2017, 319). Ziel der in diesem Sinne politischen Lernprozesse ist es, »die Einheit des Gegebenen und die Offensichtlichkeit des Sichtbaren zu spalten, um eine neue Topografie des Möglichen zu zeichnen« (Rancière 2009, 61, zit. n. Friedrichs 2017, 319). Ob eine solchermaßen verstandene Politische Bildung sich als Domäne von anderen Disziplinen abgrenzen lässt oder nicht vielmehr Bildung generell einen politischen Zug erhalten müsste, möchte ich als offene Frage stehen lassen. 2. Können die anvisierten transformativen Bildungsprozesse durch eine didaktische Inszenierung angestoßen werden? – Es ist klar, dass atopische politische Bildung auf transformative Bildungsprozesse zielt, in denen sich Selbst- und Weltverhältnisse in ihrer konstitutiven Verschränkung wandeln. Die grundlegende Schwierigkeit bei der didaktischen Rahmung solcher nicht planbaren und notwendig offenen Prozesse besteht nach Rancière darin, dass sie sich in dem Moment als undemokratisch disqualifizieren, in dem sie auf ein vom Lehrer/Arrangeur vorhergesehenes Ziel zulaufen und als eine heteronome Inszenierung erkennbar werden. Auch die Rahmenbe-

Arrangement – Affizierung – Artikulation

dingungen des Silent-Walk sind auf dieser Verdachtsfolie sicherlich nicht unproblematisch: Die immersive Form der permanenten Beschallung über Kopfhörer, die eindringlich vorgetragenen und in ihrer Komplexität überfordernden – gleichwohl auf das »Pharmakon« (Derrida 1995) der Schrift verzichtende – Theoriekontexte, die vorgegebene und durchlaufende Metaphorik des gemeinsamen ›sozialen Bandes‹ usw. – all dies sind zumutungsreiche und zurichtende Weichenstellungen. Sie erscheinen mir aber gerechtfertigt, weil sie in der Gesamtkonstellation der sukzessiven einzelnen szenischen Arrangements unterbrochen, ironisiert, dadurch selbst problematisiert und zum Gegenstand einer Reperspektivierung von Selbstund Gemeinschaftserfahrungen werden können, z. B. wenn das gemeinsame Band sich zur ›Fessel‹ wandelt, das an einer Distanzierung beim Tanz auf der Straße hindert oder der meditative und auf die Wahrnehmung des gegebenen Möglichkeitsraums fokussierte Achtsamkeitssprech in der finalen Schwimmbadszene subversiv gewendet wird in der Formel: »Spreize deine Zähne!«. Abschließend möchte ich vorschlagen, dass der politische Lernprozess womöglich noch nachhaltiger gewesen wäre, wenn die programmatische ›Stille‹ des Silent-Walk am Ende gebrochen worden wäre und ein gemeinsamer öffentlicher Erfahrungsaustausch stattgefunden hätte. Ich vermute, dass die Besorgnis vor einer paternalistischen Überformung der individuellen Erfahrungen der Grund für die Entscheidung war, den Silent-Walk still zu beschließen. Dies halte ich für eine vertane Chance. Die aus dem didaktischen Arrangement hervorgehende gemeinsame sozial-relationale Affizierung hätte auch einer öffentlichen Artikulation bedurft. ›Artikulation‹ ist dabei nicht gleichbedeutend mit »kognitiver Übersetzung« (Bedorf 2015, 263) des Affektiven, sondern durchsetzt mit Formen hegemonialer und gegenhegemonialer symbolischer Kämpfe um die richtige Beschreibung und Interpretation der Eindrücke in all ihrer Pluralität. Die Pointe des Postfundamentalismus, dass die Subjektivität zutiefst politisch ist, ist m.E. noch nicht vollständig ausgeschöpft, wenn die politische Textur des Subjektiven im vermeint-

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lich intimen und authentischen Wahrnehmen und fühl- und sichtbar (gemacht) wird – und somit quasi bei subjektiver Politizität als Imprimatur der Herrschaft stehen bleibt. Politisch, d. h. nicht sinnvoll als private Akte denkbar, sind auch die Prozesse des gemeinsamen Entdeckens, Deutens, tentativen Verbalisierens und Interpretierens – also jene Kette von Akten, die zur kontroversen Artikulation dieser Erfahrung einer politischen Imprimatur des Subjektiven gehören und diese ein Stück distanzieren.

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The experiment is gescheitert…!? Topischer Utopismus als atopische politische Bildung Paul Sörensen

Analepse I: »Keine Experimente«! Mit diesem Slogan zog die CDU 1957 in den Bundestagswahlkampf. Vor allem gegen die vermeintliche politische Agenda der SPD gerichtet, sollte er nahelegen, dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung nur durch ein striktes Festhalten am bisherigen Regierungshandeln bewahrt werden könne. Der gesicherten, stabilen Regierungstechnik wurde eine Vorstellung von Experimentalpolitik gegenübergestellt, der nominell schon der ungewisse Ausgang und mithin das Scheitern mit möglicherweise katastrophalen Folgen eingeschrieben ist. Experimentalismus erscheint hier als verantwortungsloses oder zumindest fahrlässiges Vabanquespiel politischer Hasardeure.

Analepse II: »Mehr Experimente wagen«! Am 12. Juli 2019 fand auf Initiative des Politikdidaktikers Werner Friedrichs im beschaulichen Bamberg »NoRoomPolitics. A-topische politische BildungEn« statt, ein Modellprojekt politischer Bildungsarbeit, das explizit als Experiment ausgeflaggt war. Dem Experiment kann hierbei ein doppelter Bedeutungsgehalt attestiert werden. In einem schwächeren Sinn handelte es sich bei

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dem Vorhaben um ein Experiment in Sachen politischer Bildung. In einem stärkeren Sinn wird davon ausgegangen, dass gelingende – demokratische – politische Bildung stets selbst ein Experiment ist, experimentell verfahren muss und im Experimentellen zu sich selbst kommt. * * * Aus christdemokratischer Perspektive der späten 1950er-Jahre muss Friedrichs’ Ansinnen geradezu als staats- und demokratiezersetzend, wenn nicht sogar jugendverderbend gelten. Ein solcher Vorwurf, der schon Sokrates zu Ruhm gereichte (den Platon in Symposion übrigens als άτοπος bezeichnete), lässt sich aus der Perspektive einer in zeitgenössischer Demokratietheorie einigermaßen bewanderten Beobachterin freilich nicht per se erheben. Vielmehr, so wäre zu konstatieren, haben wir es mit konkurrierenden Vorstellungen von Demokratie und Politik bzw. dem Politischen zu tun. Der Experimentfeindlichkeit entspricht, arg verkürzend gesagt, ein Verständnis von Politik, das »vergißt, daß es keine Elemente oder Elementarstrukturen, keine Wesenheiten (Klassen oder Klassensegmente), keine gesellschaftlichen Beziehungen, keine ökonomische oder technische Bestimmung, keine Dimensionen des gesellschaftlichen Raums gibt, die ›vor‹ ihrer Formgebung existierten« (Lefort 1990, 284) – oder dies absichtsvoll zu verschleiern versucht. Die Konzeptualisierungen Friedrichs’ hingegen sind der Auffassung einer zumindest analytischen Differenz von Politik und Politischem verpflichtet, womit die umfassende Grundlosigkeit des Sozialen ins Zentrum rückt und ein postfundamentalistisches bzw. radikales Verständnis von Demokratie evoziert wird. Demokratie ist demzufolge kein eindeutig identifizierbares Institutionensetting oder sozialtechnologisches Verfahren nach vorab festgelegten Plänen, sondern eine sich dynamisch stabilisierende Lebensform, die notwendigerweise daran scheitern muss, mit sich selbst identisch zu werden. Die Demokratie als Lebensform ist somit als genuin experimentell und fragil verfasst zu begreifen. Und »[g]erade weil die Gefahr des Scheiterns konstitutiv mit der Idee der Demokratie verbunden ist, muss

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die radikale Demokratietheorie den Experimentalcharakter kollektiven Handelns und demokratischer Erfahrungen aufnehmen« (Süß 2019, 805). Entsprechend ergeben sich Implikationen für Überlegungen zu einer radikaldemokratischen bzw. radikaldemokratietheoretisch inspirierten politischen Bildung, worunter ich in nennenswerten Anteilen auch Friedrichs’ bisherige Arbeiten rubrizieren würde (z. B. Friedrichs 2017, 2021a, 2021b). Sein didaktisch-methodischer ›Griff‹ zum Experiment erscheint insofern folgerichtig. Vor diesem eilends skizzierten Hintergrund möchte ich im Folgenden zunächst den aporetischen Charakter einer jeden sich radikaldemokratisch verstehenden, politischen Bildungsaspiration herausarbeiten. Entweder nämlich wird eine radikaldemokratische Erziehung dem ihr eigenen Anspruch der Abbildung von Grundlosigkeit nicht gerecht, oder sie ist durch Einsicht in dieses Problem gezwungen, die Frage der Bildung radikaldemokratischer Subjekte dem Zufall zu überantworten (1.; 2.). Daran anschließend möchte ich in knapper Form einen radikaldemokratisch ›unsauberen‹ Ausweg anbieten (3.) und vor diesem Hintergrund den Blick nochmals auf Werner Friedrichs’ Überlegungen richten (4.).1

1.

Kontingenz und Kontingenzvermittlung – eine radikaldemokratische Aporie

Auch für die radikale Demokratie gilt, was Walter Gagel schon vor einiger Zeit ganz grundsätzlich festgehalten hat: Jede »Demokratievorstellung enthält in der Regel eine Aussage über wünschenswerte, grundsätzliche Ziele und Wertorientierungen des politischen Handelns« (Gagel 1979, 18). Für die radikale Demokratie, verstanden als System radikaler dynamischer Stabilisierung, gilt demzufolge – sehr verdichtet und formalisiert ausgedrückt –, dass sie zu ihrer Hervorbringung und zu ihrem Erhalt radikaldemokratischer Subjekte bedarf, die sie beständig dynamisch stabilisieren – ohne dabei einer ›totalitären Versuchung‹ zu 1

In den Abschnitten 1., 2. und 3. greife ich auf Überlegungen aus Sörensen (2020) zurück.

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verfallen. Genau damit ist jedoch der wunde Punkt kontingenzbasierter Theorien radikaler Demokratie benannt. Einerseits erscheint es zwar ohne weiteres möglich, Überlegungen zu den idealen Eigenschaften radikaldemokratischer Bürger*innen anzustellen. Andererseits aber kann es natürlich nicht nur um wünschenswerte ›Produkte‹ gehen, sondern es sind damit stets auch Fragen des Bildungs- und Erziehungsvorgangs verbunden. Diese aber stellen für die Theoriefamilie radikaler Demokratietheorie eine besondere, womöglich unlösbare Herausforderung dar. Die Problematik gründet meines Erachtens in erster Linie in der theoriearchitektonischen Zentralstellung der als absolut postulierten Kontingenzannahme (dazu Flügel-Martinsen 2020, Kap. 2). Ein radikaldemokratisches Bildungsprojekt müsste ganz wesentlich Kontingenzakzeptanz und -sensibilität vermitteln und dürfte dabei unweigerlich auf die Frage nach dem kontingenten Status der Kontingenzannahme stoßen, was wiederum die Frage nach der autoritativen Vermittelbarkeit dieser Annahme aufwirft. Die Problematik ist weder neu noch unbekannt, stellt sich aber mit Blick auf das pädagogische Szenario in spezifischer Form dar. Die spezifisch radikaldemokratische Problematik besteht freilich vor dem Hintergrund eines grundsätzlichen Dilemmas, mit dem zunächst einmal alle freiheitlich gesinnten Theorien konfrontiert sind und das sich im Feld der Pädagogik als das »Strukturproblem moderner Erziehung« (Drerup 2012, 640) schlechthin manifestiert. Diesem Dilemma wird häufig so begegnet, dass eine erzieherische, zwangsbewehrte Asymmetrie mit Verweis auf die anvisierte Realisation eines höheren, letztbegründeten Wertes – eben der Freiheit – legitimiert wird. Dem radikaldemokratischen Denken steht eine solchermaßen ›inkonsistente‹ Ausflucht nicht zur Verfügung, operiert diese doch angesichts des Rekurses auf den höheren Wert Freiheit auf dem Terrain eines letzten Grundes. Ein Kontingenzerziehungsprojekt kann sich auf eine derartige Position nicht zurückziehen – außer es gibt sich seinerseits einem ›Kontingenzfundamentalismus‹ hin und stellt das Kontingenzpostulat nicht selbst unter einen Kontingenzvorbehalt. Ein Kontingenzfundamentalismus aber stellt eine Antinomie dar und auch die Kontingenz lehrende Lehrperson ist in sich antinomisch. In dieser Antinomie, so meine ich, gründet nachvollziehbarer Weise die

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pädagogische Zwickmühle des radikaldemokratietheoretischen Diskurses. In paradigmatischer Weise lässt sich dies an Jacque Rancières Behandlung pädagogischer Fragen zeigen, der in dieser Hinsicht der expliziteste und konsequenteste Vertreter dieses Theoriezusammenhangs ist.

2.

Zufällig emanzipatorisch: Rancières ›politische Pädagogik‹

Rancière ist meines Wissens der einzige Autor aus dem radikaldemokratischen Gesprächsfeld, der pädagogische Fragen explizit adressiert. Da er diese jedoch radikaldemokratietheoretisch konsistent adressiert, muss er dafür den Preis zahlen – und ist ihn zu zahlen bereit –, letztlich jeglicher Form von Bildung und Erziehung eine Absage zu erteilen. Als Ansatzpunkt einer Auseinandersetzung mit Rancières Überlegungen bietet sich sein dezidiert mit Fragen der Pädagogik befasstes Werk Der unwissende Lehrmeister an. Mit dieser 1987 veröffentlichten Schrift intervenierte Rancière hintergründig auch in die Debatten um die Bildungsreformen der Mitterand-Regierung, an denen auch Pierre Bourdieu als Berater mitwirkte. Vor allem gegen Bourdieu richtete sich bereits Rancières 1983 unter dem Titel Der Philosoph und seine Armen veröffentliche Fundamentalkritik an den Sozialwissenschaften, in der er Bourdieu als modernen Platon und Soziologenkönig verunglimpfte (Rancière 2010a, 225ff.). Rancières Kritik der Pädagogik ist in Analogie zur dort explizierten Kritik der Sozialwissenschaften zu verstehen. Beide eine ein erkenntnistheoretischer Überlegenheitsanspruch, der sich in der Logik des Erklärens manifestiere. Das Erklären der Pädagogik – auch der vorgeblich anti-autoritären –, wie auch das Erklären der Soziologie – auch der vorgeblich herrschaftskritischen – verkörpern eine herrschaftliche, soziale Logik, insofern sich die bestehende soziale Ordnung in und durch Erklärung vergegenwärtigt und reproduziert, jene diese dadurch perpetuiert und stärkt (vgl. Rancière 2010b, 6). »[D]ie Erklärung«, schreibt Rancière, ist »nicht nur die verdummende Waffe der Pädagogen, sondern auch das zusammenhaltende Band der gesellschaftlichen Ordnung selbst. […] Die alltägliche Erklärarbeit ist nur das Derivat der herrschenden Erklärung, die eine Gesellschaft charakterisiert.« (Ran-

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cière 2007, 137) Die herrschende Erklärung einer Gesellschaft materialisiert sich Rancière zufolge sodann auch in Institutionen, gerade auch den Bildungsinstitutionen der jeweiligen Gesellschaft: »Jede Institution ist eine Erklärung der Gesellschaft« (ebd., 123). Dem Erklären ist für Rancière per se Ungleichheit eingeschrieben, und entgegen anderslautender Behauptungen sei durch Erklären auch nie ein Zustand der Gleichheit erreichbar. Denn dem Akt des Erklärens wohne eine selbsttätige und unaufhebbare, ungleichheitsreproduzierende Dynamik infiniten Regresses inne: »Die Logik der Erklärung beinhaltet […] das Prinzip eines unendlichen Regresses. […] Was die Regression beendet und dem System seine Grundlage gibt, ist ganz einfach, dass der Erklärende als Einziger darüber entscheidet, an welchem Punkt die Erklärung selbst erklärt ist.« (ebd., 14) Wenngleich sich Rancière in erster Linie wegen der Ungleichheit voraussetzenden Herangehensweise und der diese produzierenden und reproduzierenden Wirkung gegen jegliche Art des Erklärens ausspricht, so ist die Zurückweisung zugleich auch als kontingenztheoretisch grundierte zu verstehen, da das Erklären Kontingenz negiere beziehungsweise unterdrücke, insofern es eine feststehende Ordnung und damit auch die fixierte »Verteilung der Ränge« (ebd., 137) der gesellschaftlichen Ordnung behaupte. Für die Frage nach den Möglichkeiten einer radikaldemokratischen Bildung ist das folgenreich, denn hierin tritt die oben umrissene aporetische Konstellation deutlich zutage: Zu erklären, dass die soziale Verfasstheit kontingent ist, ist ein herrschaftlicher, kontingenznegierender, polizeilicher Akt. Das Verdikt gegen das Erklären richtet sich notwendigerweise auch gegen ein Erklären oder Aufklären der kontingenten Grundlagen des Sozialen. Auch die société démocratique (Lefort), kann – oder besser: darf – sich nicht selbst erklären, will sie sich nicht einer grundlegenden Grundlosigkeit entziehen und herrschaftsförmig, polizeilich werden. Insofern jede Bildung oder Erziehung mit dem Erklären scheinbar auf einer polizeilichen, kontingenznegierenden Operation basiert, ist sie etwas, das aus radikaldemokratischer, die Grund-

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losigkeit zum Grund erklärenden Perspektive per se nicht konsistent als radikaldemokratisch gedacht werden kann.2 Und doch lässt es Rancière dabei nicht bewenden. Auf Grundlage einer womöglich etwas idealisierenden Auseinandersetzung mit den Erlebnissen des französischen Gelehrten Jean Joseph Jacotot und dessen Methode des ›Universellen Unterrichts‹ stellt Rancière der ›klassischen‹ Pädagogik eine Art gelingenden, angeblich emanzipatorischen Unterricht entgegen. Für die hier interessierende Frage ist eine knappe Darstellung des Szenarios ausreichend: um 1820 gelingt es dem nach Löwen emigrierten Jacotot, der kein Flämisch spricht, mithilfe einer zweisprachigen Ausgabe des Jugendbuches Telemach von François Fénelon, seinen flämischen Schülern, die zu Beginn kein Wort Französisch sprechen, die französische Sprache beizubringen – oder besser: sie bringen es sich selber bei. Für Rancière widerlegt dieses Beispiel die These von der Erforderlichkeit der Erklärung für Bildung und steht für einen radikalen pädagogischen Zugang, der seinen Ausgangspunkt – anders als die ›klassische‹ Pädagogik – nicht in der Ungleichheit habe (vgl. dazu Rancière 2010b, 11, sowie insg. ders. 2007). Man könnte nun denken, dass darin doch noch die Möglichkeit einer radikaldemokratischen Bildung aufscheint. Aber nimmt man Rancières Überlegung ernst und denkt sie radikal zu Ende, dann wäre die Rolle und Funktion der Lehrperson letztlich derart reduziert, dass im Grunde nicht einmal mehr die Auswahl der Gegenstände des Unterrichts zulässig ist. Auch vermittels eines universellen Unterrichts à la Jacotot kann es dementsprechend also keine RadikaldemokratieErziehung geben, schlichtweg deshalb, weil die Vermeidung des Erklärens – auch des Für-bedeutsam-Erklärens – eine absolute inhaltliche Enthaltsamkeit in jeglicher Hinsicht erzwingt. Insofern ist es nur folgerichtig, dass Rancière selbst festhält, dass sich der universelle

2

Auch Sternfeld verweist darauf, dass es für Rancière »keine politische Pädagogik geben [könne], denn diese wäre bereits wieder Unterweisung, Anleitung, Autorität« (Sternfeld 2009, 41). Aus diesem Grund halte ich auch die Einschätzung von Wånggren und Sellberg (2012, 548) für falsch, bei Rancière lasse sich eine politische Pädagogik des Dissenses finden.

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Unterricht nicht »auf die Herstellung einer bestimmten Kategorie von gesellschaftlichen Akteuren spezialisieren« (Rancière 2007, 121) kann. Auch und gerade die Herausbildung radikaldemokratischer Subjekte, so wird hier nochmal aus anderer Perspektive ersichtlich, kann dadurch nicht bewirkt werden. Rancières Perspektive zeigt in aller Radikalität auf, inwiefern eine auf dem Paradigma der dynamisch stabilisierenden Selbstentgrenzung basierende radikale Demokratie an ihre Grenzen kommt. Wenn man am Erhalt, der Verstetigung oder gar dem Florieren radikaler Demokratie als System dynamischer Stabilisierung interessiert ist, muss man sich entweder um die erzieherische Herausbildung radikaldemokratischer Subjekte bemühen, oder aber hoffen, dass die Bürger*innen immer schon als Radikaldemokrat*innen geboren werden. Beide Zugänge stellen sich aus radikaldemokratietheoretischer Perspektive als dilemmatisch dar. Der erste Weg ist einem sich selbst ›rein‹ haltenden radikaldemokratischen Zugang verbaut, denn theoretisch konsistent kann die Vorstellung einer radikaldemokratischen Bildung nur zurückgewiesen werden. Der zweite Weg ist hingegen in politischer Hinsicht nicht überzeugend und letztlich apolitisch: die radikale Demokratie ist zwar zu ihrem Erhalt und ihrer Vertiefung auf radikaldemokratische Subjekte angewiesen, kann deren Existenz aber nur dem Zufall überlassen.3 Rancière selbst gesteht das implizit ein, wenn er im Unwissenden Lehrmeister die den universellen Unterricht orientierende »Methode der Gleichheit« mit einer »Methode des Zufalls« (ebd., 22) gleichsetzt. Insofern aber das von Rancière ersehnte, emanzipatorische Zerbrechen der Aufteilung des Sinnlichen (z. B. Rancière 2002, 41) eines Wissens um deren Nicht-Notwendigkeit, ihrer Kontingenz bedarf, dieses aber nicht vermittelt werden kann bzw. darf, wird auch die radikale Demokratie dem Zufall überlassen.

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Zu Recht unterstellt Sonderegger daher bei Rancière einen »somewhat naive optimism with regard to the subjects of resistance […] Rancière’s hero seems to be born as master of radical disagreement« (Sonderegger 2012, 256f.).

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3.

Umrisse einer ›unreinen‹ radikaldemokratischen Bildung

Ist radikaldemokratische Erziehung somit grundsätzlich unmöglich? Wenn man dem Rigorismus Rancières folgt, ist das zutreffend – aber womöglich steht Rigorismus einem Projekt radikaler Demokratie ja gar nicht so gut zu Gesicht, und es könnte sich lohnen, der Frage nach einer Ausgestaltung radikaldemokratisch motivierter Bildungsverhältnisse noch einmal nachzugehen. Ich möchte daher einige Gedanken skizzieren, wie ein solches Verhältnis anzubahnen, wie also diese – mit den Worten Sigmund Freuds – unmögliche Aufgabe anzugehen wäre. Kontigenzvermittlung macht offenbar eine in gewisser Weise paradoxe pädagogische Intervention erforderlich, insofern diese – in Rancières Begrifflichkeit – eine polizeiliche Operation sein müsste, die auf die Transgression von Polizeilichkeit selbst zielt. Anders aber als es in liberalen Erziehungsprojekten häufig der Fall ist, sollten dabei die Zwecke nicht alle Mittel rechtfertigen, sondern – wie es Gustav Landauer einmal formulierte – »das Mittel schon in der Farbe des Ziels gefärbt« (2009 [1901], 276) sein. Emanzipatorische Pädagogik ist dann nicht ausgeschlossen, sondern von einer bestimmten Modalität. Häufig in Anschluss an Landauer findet zuletzt in bewegungspolitischen Kontexten unter der Bezeichnung der Präfiguration eine Form politischen Handelns Aufmerksamkeit, die ein derartiges Unterfangen orientieren könnte.4 Als Präfiguration oder präfigurative Politik werden Praktiken verstanden, die im Jetzt und Hier experimentell und im Wissen um die eigene Imperfektibilität Beziehungsformen erproben, die einen als ideal imaginierten Zustand vorwegzunehmen und sich ihm dadurch auch reflexiv korrigierend anzunähern gedenken (vgl. z. B. mit Bildungsbezug Suissa 2009). Für Fragen des Vollzugs von Bildung im radikaldemokratischen Kontext hieße das, dass Kontingenz nicht nur vorrangiger Inhalt (Lernziel) ist, sondern auch in der Modalität des Bildungsvorgangs (Methode und Prozess) bestmöglich zur Geltung zu 4

Sehr vereinzelt findet die Begrifflichkeit auch im zeitgenössischen bildungswissenschaftlichen Diskurs Eingang, z. B. bei Fielding (2007), McCowan (2010), Amsler (2015).

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bringen wäre. Es gälte dann, Räume der Ermöglichung des Lernens und (Sich-)Bildens zu schaffen, in denen die Möglichkeit des personalen Wissens und auch des Wissensvorsprungs als Ausgangspunkt nicht – ebenso wenig wie die Wissensvermittlung – kategorial abgelehnt, Wissen aber auch nicht als unhinterfragbar, und Wissensvorsprünge nicht als ewige Gegebenheit hypostasiert werden.5 Derridas Sentenz von der kommenden Demokratie ernst nehmend, wäre eine radikaldemokratische Erziehungspraxis zudem eine Praxis, die beständig im Präfigurativen verbleibt6 – das aber nicht als Makel begreift. Gegen Rancières von Sonderegger (2012; vgl. Fn 3) identifizierte naiv-optimistische Einschätzung wäre mit Aletta Norval (2007, 139) zu formulieren, dass Radikaldemokrat*innen immer wieder aufs Neue Radikaldemokrat*innen werden müssen. Dieses Credo gilt wohlgemerkt für ›Schüler‹ wie ›Lehrerinnen‹ gleichermaßen. Eine beiläufige Notiz Antonio Gramscis aus den Gefängnisheften könnte zur Orientierung dienen, wie deren Beziehungsverhältnis in einem radikaldemokratischen Setting beschaffen zu sein hätte: »[D]as Lehrer-Schüler-Verhältnis«, schreibt Gramsci, sollte »ein aktives Verhältnis wechselseitiger Beziehungen [sein], [in dem] jeder Lehrer immer auch Schüler und jeder Schüler Lehrer ist.« (Gramsci 1994, 1335)7 Eine radikaldemokratische, postfundamentalistische Lehrperson wäre dann perspektivisch nicht 5 6

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In diese Richtung weisen auch die Überlegungen zu einer Kontingenzpädagogik von Ricken (1999). Auch deshalb handelt es sich um eine unmögliche – weil unvollendbare – Aufgabe. Einer radikaldemokratischen Zugangsweise zufolge kommt eine Gesellschaft nie endgültig ›zu sich selbst‹, ist stets ein unmögliches Objekt (vgl. Marchart 2013) und kann daher auch nicht auf die präfigurative Herausbildung eines konkreten, substantiell gestalteten Bürger*innenmodells setzen. Interessant ist wohlgemerkt auch der daran anschließende Satz Gramscis: »Aber das pädagogische Verhältnis kann nicht auf die spezifisch ›schulischen‹ Beziehungen eingegrenzt werden.« (Gramsci 1994, 1335) Damit verweist er darauf, dass eine entsprechende Konzeptualisierung sich auch dahingehend zu öffnen hätte, nicht nur über andere Modi, sondern auch über andere Orte des Erziehens nachzudenken. Diese Verschiebung heißt gleichwohl nicht, dass nicht auch klassisch-staatliche Schulen Orte einer präfigurativ-experimentellen, radikaldemokratischen Bildung sein könnten (vgl. z. B. Fielding 2007).

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so sehr ein unwissender – in Wahrheit: ignoranter – Lehrmeister im Sinne Rancières, sondern eine sich selbst und ihr eigenes Wissen zur Disposition stellende Person in einem auf Oszillation basierenden pädagogischen Verhältnis. Eine solche Lehrperson ergeht sich nicht in ignoranter Indifferenz, sie verweigert nicht, mit Arendt gesprochen, die Übernahme einer »Verantwortung für die Welt« (Arendt 1994, 271). Diese Verantwortungsübernahme mündet jedoch nicht in eine doktrinär-autoritäre Vermittlungsarbeit, die Lehrperson verordnet keinen Kontingenzfundamentalismus – vielmehr wird die Zielsetzung in die Modalität des Unterrichts hineingezogen und Kontingenz damit erfahrbar gemacht. Durch die Brille des so umrissenen ›Auswegs‹ möchte ich mich nun den Überlegungen Friedrichs’ zuwenden und fragen, wie und wo sie sich im Rahmen eines radikaldemokratischen Bildungsdiskurses verorten lassen.

4.

Kein Entkommen! Atopische An-Ordnungen

Friedrichs hat bereits an zahlreichen Stellen Tastbewegungen zur Erkundung einer radikaldemokratischen politischen Bildungspraxis unternommen, mitunter explizit auch in Anschluss an und Auseinandersetzung mit Rancière. Seine Überlegungen richten sich dabei gegen kognitivistisch verkürzte Vorstellungen von politischer Bildung, die deren Aufgabe ausschließlich in der belehrenden Vermittlung feststehender Inhalte sowie entsprechender Kompetenzen erkennt und auf eine »Unterweisung künftiger Demokrat(inn)en nach den durch die Politikwissenschaft diagnostizierten Erfordernissen des Systems« (Friedrichs 2020, 14) gerichtet ist. Grundlage derartiger Modellierungen politischer Bildung ist eine »positivistische Fassung des Lerngegenstandes« (ebd., 18), was Friedrichs aus radikaldemokratischer Perspektive zu Recht als völlig unhaltbar zurückweist, wird damit doch der Verbleib in einem ein für allemal fixierten Rahmen zum Ziel gemacht und der Rahmen selbst naturalisiert. Dem kognitiv-lernenden Format politischer Bildung, das somit auf Einpassung in eine bestehende Ordnung zielt, stellt Friedrichs ein ästhetisch-bildendes an die Seite und mitunter auch gegenüber (vgl. Friedrichs 2020c; 2021a). Ein solcher Ansatz, so könnte

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man sagen, zielt darauf, das Politische in der politischen Bildung ernst – oder überhaupt erst in sie auf - – zu nehmen, weshalb sie nicht in einem status-quo-verhafteten Lernen aufgehen kann. Die »Dimension des Politischen«, so postuliert Friedrichs, entzieht »sich einem wissensbasierten Zugriff« (Friedrichs 2021a, i. E.), weshalb er konsequenterweise folgert, dass eine ästhetisch-bildende politische Bildung »nicht im Medium Wissen statt[finden]« (Friedrichs 2020, 23) kann.8 Wie nun diese ästhetisch-bildende, politische Bildungspraxis aussehen könnte, stellt sodann die zentrale Herausforderung dar, kann doch ein radikaldemokratisch bildendes Unterfangen nicht auf die autoritative Vermittlung des Lernziels Kontingenzakzeptanz setzen. Anders als andere erkennt und benennt Friedrichs die Aporie radikaldemokratischer politischer Bildung (z. B. Friedrichs 2017, 316f.; eine weitere Ausnahme ist Snir 2017) und konstatiert darüber reflektierend: »Auswege können sich nur ergeben, wenn Räume dies- bzw. jenseits der sinnlichen Ordnung Geltung erlangen, wenn die sinnliche Ordnung ausgesetzt, unterbrochen wird« (ebd., 316f.) und in diesen Räumen eine »Vermittlung […] ohne den Vermittler« (ebd., 318) erfolgt. Bildungsgeschichtlich nicht völlig überraschend sieht Friedrichs eine Bündnispart-

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Während mich Friedrichs Überlegungen an vielen anderen Stellen absolut überzeugen, so finde ich dieses Urteil zu weitgehend, insofern durchaus auch ein Wissen um das Politische der Politik bestehen kann und – wie zahlreiche politiktheoretische Schriften der vergangenen Jahre belegen – auch besteht. Damit hängt vermutlich auch zusammen, dass ich anders als Friedrichs den Kompetenzbegriff nicht rundum abschreiben würde, sondern mir auch ein in sich stimmiges Konzept von Kontingenzkompetenz vorstellen könnte. Wenn auch die Bezeichnung in meinen Augen unglücklich gewählt ist (vgl. Sörensen 2017, 339, 418), so wäre dabei an eine Art Ethik der Selbstentfremdung (Marchart 2010) zu denken. Friedrichs Ablehnung des Kompetenzbegriffs resultiert vermutlich aus der im pädagogischen Diskurs gewiss dominierenden Verwendung von Kompetenz als ordnungsimmanenter, auf im bestehenden Getriebe zu Passförmigkeit befähigender Fertigkeit. Wie aber bspw. Oskar Negts Identifikation emanzipatorischer, »extra-funktionaler« Kompetenzen zeigt, ist eine ordnungsaffirmative und -reproduzierende Fassung keineswegs alternativlos (Negt 2004, 204).

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nerin für ein solches Unterfangen in der Kunst und verweist auf die heterotope Potenzialität ästhetischer Verfahren. Innovativ und verdienstvoll ist dabei vor allem auch, dass es Friedrichs nicht bei Lippenbekenntnissen zur ästhetischen Erziehung belässt und mit NoRoomPolitics das Wagnis einer auf ästhetische Verfahren setzenden politischen Bildungspraxis eingeht und dieses Wagnis nicht nur nominell als Experiment bezeichnet, sondern – soweit das in seinen Händen lag – als genuin experimentell anlegte. Wenn nämlich, wie eingangs angedeutet, die Lebensform Demokratie ihrerseits adäquat nur als ein Experimentalsystem zu begreifen ist, dann ist eine experimentelle politische Bildung nicht nur nicht jugendverderbend, sondern explizit demokratieförderlich und in gewisser Weise in sich demokratisch bzw. demokratisierend. Politische Bildungspraxis als Experiment zu modellieren ist dann absolut folgerichtig, wenn auch nicht im Sinne des nach wie vor dominanten naturwissenschaftlichen Verständnisses von Experimenten, sondern – wie Friedrichs mit dem Wissenschaftshistoriker Rheinberger sagt – als Maschinen zur Herstellung von Zukunft. Als solche sind sie nicht auf ein Dasein als »Ratifizierungsapparate für vorher festgelegte Grundsätze« (vgl. Friedrichs 2021c) beschränkt, sondern geben der Unterbrechung von Sinnordnungen Raum, machen diese subjektiv erfahrbar und können so zu Irritation und Umbildung von Welt- und Selbstverhältnissen führen.9 Soweit könnte all dies durchaus als Entsprechung zu den von mir skizzierten Umrissen einer ›unsauberen‹ radikalen Bildungspraxis in präfigurativ-präsentischen Utopien gelesen werden (dazu Sörensen 2018). Entzieht sich Friedrichs’ Modellierung darüber hinaus womöglich auch der Aporie radikaldemokratischer Bildung? Wenngleich sie in vielerlei Hinsicht radikaldemokratischen Ansprüchen zu genügen

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Ob, wie und mit welchen Konsequenzen behaftet etwaige Wahrnehmungen einer Unterbrechung der Sinnordnung bei den Teilnehmer*innen von NoRoomPolitics zu verzeichnen waren, kann ich an dieser Stelle nicht sinnvoll beurteilen, könnte jedoch mittels geeigneter empirischer Erhebungen zutage gefördert werden – erste Aufschlüsse mögen die hier im dritten Teil des Bandes versammelten Eindrücke einiger Beteiligten geben.

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scheint, gelingt m. E. auch der experimentell-atopischen Modellierung kein Entkommen. Denn auch diese anderen Räume müssen von irgendwem autoritativ eingerichtet, gestaltet sowie mit Sinn versehen werden – und sei es ›nur‹ der Sinn, ein Ort der Erfahrbarkeit von Kontingenz zu sein. Zwar mag es sein, dass experimentintern – als Zufallsgeschehen – Kontingenzerfahrungen gemacht werden, sich Selbst- und Weltverhältnistransformationen ereignen. Friedrichs irrt aber, wenn er dadurch die Rolle des Vermittlers als komplett ausgeschaltet erachtet. Das Dilemma, dem auch er nicht entkommt, lässt sich anhand der Ausführungen Rheinbergers zu den Charakteristika von Experimenten zeigen, auf den Friedrichs seinerseits ja rekurriert: »Experimentalsysteme«, so Rheinberger, »sind äußerst trickreiche Anlagen, man muss sie als Orte der Emergenz ansehen, als Strukturen, die von der Forschung erzeugt werden, um nicht Ausdenkbares sich materialisieren zu lassen« (Rheinberger 2013, 267). Der Verweis auf die Materialisation des nicht Ausdenkbaren, des immanent Unvordenklichen, ist aus radikaldemokratischer Perspektive durchaus attraktiv. Gleichwohl verweist bereits das Verb ›erzeugen‹ darauf, dass der Vermittler – hier der Experimentator – eben nicht völlig annulliert ist, auch wenn ihm das experimentinterne Geschehen nach Initiation womöglich vollkommen unverfügbar ist. Er verfügt – im Sinne von an-ordnen – aber zumindest, dass ein Raum entsteht, in dem sich Unvordenkliches ereignen kann, ja geradezu soll. In dieser Hinsicht ist es also keineswegs radikal zufällig, wenn jemand innerhalb einer friedrichs’schen Heterotopie eine Kontingenzerfahrung macht. Um es mit Rheinberger noch zuzuspitzen: Experimentalstrukturen sind Strukturen, »die es erlauben, Zufälle produktiv zu verarbeiten, ja vielleicht überhaupt erst jene Formen von Zufällen zu generieren, die sich produktiv verarbeiten lassen« (ebd., 272). Sie selbst aber, die Experimentalstrukturen, so ist ergänzend zu betonen, sind – in der Biologie ebenso wenig wie in der politischen Bildung(spraxis) – nicht zufällig, sondern werden planvoll und mit einer Zielsetzung angelegt.

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Prolepse I: An rancière’schen Maßstäben gemessen wäre der Ansatz von Friedrichs somit für unzureichend zu erklären, denn auch hier gelingt es nicht radikal, den Bildungsvorgang ohne den Vermittler zu konzipieren.10 Diese Einsicht muss einen aber nicht paralysieren und könnte das auch nur, wenn man unbedingt an der Utopie einer aporetischen Erziehung der Unbedingtheit festhalten möchte. Werden die Maßgaben bescheidener gefasst und im Sinne einer ›unsauberen‹ radikaldemokratischen Bildungspraxis ausbuchstabiert, könnte der friedrichs’sche Ansatz eine wesentliche Komponente darstellen. Dieser vorrangig auf das Selbst(verhältnis) bezogenen Komponente müssten m.E. zwei weitere zur Seite treten, deren Aufmerksamkeit vorrangig der ›Welt‹ gilt, in die ein jedes Selbst immer schon gestellt ist. Zum einen wäre dies die Komponente eines politischen »Wirklichkeitsunterrichts« (dazu Buchstein 2004), die zwingend um die eines konkret-utopistischen »Unwirklichkeitsunterrichts« oder »Noch-Nicht-Unterrichts« zu ergänzen wäre.11 Mit einer solchen 3-Komponenten-Praxis wäre zumindest konzeptuell vermutlich auch einer Sorge begegnet, die Andreas Gruschka vor einiger Zeit artikulierte und die sich auch gegen die in der ersten Komponente beinhalteten heterotopen Experimente richten würde: »Bei aller Sympathie für die Zukunftslabore in der Pädagogik, sie stellen nicht selten Fluchtversuche aus der Gesellschaft dar und bewegen sich egozentrisch und hermetisch in ihrer Welt.« (Gruschka 2015, 41)

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Friedrichs befindet sich damit wohlgemerkt in guter Gesellschaft, denn auch der von Rancière idealisierte Jacotot entkommt – von Rancière unerkannt – dem Dilemma nicht (vgl. Sörensen 2020, 27). In diese Richtung gehen Amslers (2015) Überlegungen. Für eine Politikwissenschaft als Wirklichkeits- und Möglichkeitswissenschaft, die hierbei Orientierung bieten könnte, plädiert Jörke (2012).

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Prolepse II: Ich möchte schließen mit zwei flankierenden Aspekten: (1) Entgegen Rancières kontingenztheoretischer Absage an jeglichen organisierten Unterricht müsste eine radikal demokratische politische Bildung zudem auch dort gegen den Zufall gerichtet sein, wo es um die Zugänge zu und Vollzüge von (radikaldemokratischer) Subjektbildung geht. Rancière begrüßt es zwar, wenn Arbeiter*innen des Nachts lesen und dichten, aber wenn sie es nicht tun, dann ist das – polemisch formuliert – auch egal und bestenfalls bedauerlich. Die radikal nicht bevormunden wollende Haltung ist respektabel, bedeutet aber auch, dass ein jeder selbst seiner radikaldemokratischen Subjektivierung Schmied ist – mit all den erwartbaren Selektivitäten, die eine von (diversen Formen von) Ungleichheit gekennzeichnete Gesellschaft in dieser Hinsicht zwangläufig mit sich bringt. Eine umfassende Absage an Bildungsinstitutionen ist zwar radikal, nicht aber demokratisch. Um auch dieses Gütesiegel zu erhalten, wäre ein radikal-egalitärer Zugang zu Orten radikaldemokratischer Bildung zu gewährleisten und mitunter auch autoritativ zu ›erzwingen‹. (2) Geradezu selbstverständlich dürfte zudem sein, dass die Gütekriterien und Gelingensmaßstäbe, mithin die Frage des Erfolgs, einer solchermaßen radikaldemokratisch inspirierten politischen Bildungspraxis anders zu bestimmen wäre, als dies im hegemonialen Strang der kognitiv-lernenden Modellierungen von Bildung der Fall ist. Nicht (nur) das erlernte und abfragbare Wissen stünde im Fokus des Interesses, sondern (gerade auch) die kontinuierliche praktische Bereitschaft – frei nach Adorno –, sich selbst und allen anderen zu gestatten, immer wieder aufs Neue angstfrei verschieden zu sein, und an den gesellschaftlichen Ermöglichungsbedingungen dieser Zielperspektive mitzuwirken, die Utopie der Herrschaftsfreiheit beständig zu konkretisieren. Ein solch radikaldemokratischer Habitus dürfte quantitativ kaum sinnvoll erhebbar sein, müsste sich vielmehr vermutlich performativ unter Beweis stellen. Für den Fortbestand demokratische Gesellschaften ist Letzteres im Zweifelsfall wichtiger.

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Von Menschen und anderen Tieren im Berliner Tiergarten Ingo Juchler »Die Idee des Menschen in der europäischen Geschichte drückt sich in der Unterscheidung vom Tier aus.« (Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung)

1.

»A-Topische politische Bildungen(en)« in Bamberg

»NoRoomPolitics: A-Topische politische Bildungen(en)« – der Titel der Veranstaltung, die Werner Friedrichs an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg organisierte, machte mich neugierig. Auch weil ich mir keinen Reim darauf machen konnte, was in Bamberg im Sommer 2019 vorgesehen war: Worum handelt es sich bei »NoRoomPolitics«?: Und was meint »A-Topische politische Bildungen(en)«? Meine Assoziationen drehten sich um (politische) Räume und Örtlichkeiten, die nicht vorhanden sind, A-Topoi – Ortlosigkeiten. Die Veranstaltung reizte mich erst recht, da außerschulische politische Lernorte eines meiner Forschungsgebiete ausmachen. Umso gespannter war ich auf »NoRoomPolitics«, die ›Silent-Walk-Performance‹ durch Bamberg mit dem LiveArt-Künstlerduo JAJAJA. Arvild Baud und Iris Minich arrangierten ihre »Silent-Walk-Performance« gänzlich anders, als ich dies von herkömmlichen Stadtführungen kenne. Ein wesentlicher Unterschied bestand darin, dass wir über den gesamten ›Gang‹ mit einem physischen Seil, das alle im Abstand von etwa einem Meter hielten, und über Kopfhö-

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rer mit den beiden Gestalter*innen verbunden waren. So entstand ein Gefühl der Gemeinschaft und Verbundenheit mit den anderen Teilnehmer*innen, wobei aber doch jede und jeder auch ganz bei sich sein konnte. Eindrückliche filmische Auszüge über die in Bamberg umherschweifende Gruppe sind im Internet dokumentiert (JAJAJA 2019). Auf dem Streifzug wurden auch Kontakte zu Tieren aufgenommen: Vom Hotel Residenzschloss Bamberg, einem am Ufer der Regnitz gelegenen barocken Gebäude, führte unser Weg zu einer Wiese am Hang des Michaelsbergs, der vor der Säkularisation 1802 zum Benediktinerkloster St. Michael gehörte. Geistig angeregt wurden wir dabei zunächst durch einen Text, der stark an Donna Haraway angelehnt ist: »Unruhig bleiben und uns artenübergreifend verwandt machen kann als menschliches Bestreben eine Wandlung und eine Zukunft ermöglichen, in der jegliches Lebendige – also Erde, Mineralien, Rohstoffe, Pflanzen, Insekten, Tiere, Menschen – nebeneinander in gegenseitiger Achtung existieren kann. Die derzeitigen Veränderungen unserer Lebensbedingungen mit Klimakatastrophen, Überbevölkerung, Artensterben, Kriegen können mit bewussten Verwandtschaften langfristig so gestaltet werden, dass ein Leben auf der Erde mit seiner Artenvielfalt sich weiter entwickeln kann. Ein neues Zeitalter beginnt.« (JAJAJA 2019). Auf der Wiese am Michaelsberg forderte Arvild Baud die Teilnehmer*innen daraufhin auf: »Wir versuchen jetzt, ein Insekt zu finden, das Seil loszulassen. Versucht ein Insekt zu finden, und versucht mit diesem Insekt, wenn ihr eins findet, eine Verbindung einzugehen, vielleicht dem Insekt einen Namen geben und Freundschaft schließen.« Jede und jeder unserer menschlichen Gemeinschaft öffnete sich auf diese Weise für nichtmenschliche Wesen und hob damit die Mensch-Tier-Distanz für Momente spielerisch auf. Sich »artenübergreifend verwandt machen«: diese Szene der Tour durch Bamberg regte mich dazu an, intensiver über die menschliche Entfremdung von der Natur und unsere speziesistische Dominanz gegenüber nichtmenschlichen Tieren (im Folgenden kurz Tiere) nachzudenken. Der Mensch erschien in unseren Breiten im Holozän. Doch

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verfügte der Homo sapiens bereits seit etwa 400.000 Jahren über ein einzigartiges Werkzeug, das ihn ermächtigte, die ihn umgebende Natur zu bändigen und zu domestizieren: »Das Feuer war der Schlüssel für die wachsende Macht der Menschheit über die natürliche Welt – das weltweite Monopol und die Trumpfkarte unserer Spezies. […] Das Feuer erklärt weitgehend unseren Reproduktionserfolg als weltweit erfolgreichste ›invasive‹ Spezies.« (Scott 2019, 53 und 56) Die frühen Menschen waren vor der neolithischen Revolution mit ihrer natürlichen Umgebung und deren Kreislauf eng verbunden gewesen. Heute haben wir eine ungefähre Vorstellung von deren nomadischer Lebensweise, von ihrem Sammeln und Jagen, ihren Unterschlüpfen und Feuerstellen, ihrem Zusammenleben in relativ egalitären Gruppen und ihren Riten. Weitaus die längste Zeit seiner Stammesgeschichte verbrachte der Mensch umherschweifend mit Sammeln und Jagen. Nach der letzten Eiszeit begann unsere Spezies jedoch sesshaft zu werden und die bislang ungezähmte Natur einem rational kalkulierten Handeln zu unterwerfen. Homo sapiens versuchte zusehends, Flora und Fauna nach seinen Bedürfnissen zu gestalten. Die Herrschaft über die Natur begründeten die Vertreter*innen unserer Spezies mit ihrer jeweiligen Religion, Weltanschauung und Philosophie. Dabei wird dem Menschen stets der herausgehobene Platz über den Tieren zugewiesen und moralisch gerechtfertigt. Exemplarisch sei an die alttestamentarische Schöpfungsgeschichte erinnert, wo es in Genesis 1,28 heißt: »Seid fruchtbar und mehret euch und fülltet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht.« Der Mensch hat sich entfremdet von seinem eigenen Herkommen wie vom Kreislauf der Natur. Doch blieb das von der Stoa und dem Christentum vertretene Weltbild nicht gänzlich unhinterfragt. So stellte etwa Michel de Montaigne in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts fest: »Läßt sich etwas Lächerlicheres vorstellen als diese armselige und erbärmliche Kreatur, die, nicht einmal Herrin ihrer selbst und von allen Seiten größten Gefahren ausgesetzt, sich zur Herrin und Beherr-

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scherin des Weltalls aufwirft, von dem auch nur den kleinsten Teil zu durchschauen, geschweige darüber zu gebieten sich ihrer Macht entzieht? Und was das Vorrecht angeht, das der Mensch sich beimißt, in diesem riesigen Gebäude der einzige zu sein, der die Fähigkeit habe, die Schönheit des Ganzen und seiner Teile zu erkenn, der einzige, der dem Baumeister dafür zu danken und über Soll und Haben der Welt Buch zu führen wisse – wer hat es ihm verbrieft und gesiegelt? Er weise uns gefälligst das Beglaubigungsschreiben für diese großartige Bestallung vor!« (Montaigne 2016, 222f.) Die unbedingte Höherstellung des Menschen zeitigt bis heute fatale Folgen für alle anderen Tiere: Der anthropozentrische Blick auf die Fauna ermöglicht eine moralische Differenzierung zwischen Mensch und Tier, die es unserer Spezies erlaubt, Tiere in jedweder Form zu unterwerfen, zu zähmen, zu fesseln, zu opfern, zu essen, zu foltern, zu quälen, auszustellen, lebendig und unbetäubt für Versuche zu nutzen – die Liste ließe sich fortsetzen. Hierzulande prägt nach wie vor die Auffassung der christlichen Religion das weithin bestimmende Verständnis zu Tieren, auch wenn dies nicht explizit reflektiert wird: Nach christlichem Glauben verfügen Tiere im Unterschied zum Menschen über keine Vernunftseele, sind deshalb von der Unsterblichkeit ausgeschlossen und moralisch bedeutungslos. Vor diesem Hintergrund stand für Augustinus die »mitleidlose Tötung der Tiere […] im völligen Einklang mit ihrem gottgefälligen Gebrauch« (Baranzke/Ingensiep 2019, 29) – die Lehrmeinung des bedeutendsten Kirchenvaters der Spätantike, an der sich bis heute cum grano salis nichts geändert hat. Freilich ist diese Auffassung des Mensch-Tier-Verhältnisses nicht auf die christliche Lehre beschränkt: »Alle monotheistischen Religionen des Nahen Ostens werten das Tier gegenüber dem Menschen ab bis zur Bedeutungslosigkeit. Das christliche Unverständnis gegenüber der Natur steht damit nicht allein auf weiter Flur.« (Precht 2018, 187) Im Folgenden wollen wir uns nicht wie in Bamberg bei der »SilentWalk-Performance« mit JAJAJA auf einen a-topischen Stadtrundgang begeben, sondern auf eine ortsgebundene topographische Wanderung durch Berlin, genauer durch den Tiergarten, um dort auf Menschen

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und andere Tiere zu treffen. Tiergarten – das Kompositum lässt an einen Raum denken, in dem sich Tiere aufhalten, um sich zu vergnügen. Oder aber, und das entspricht ›natürlich‹ der Realität, an Menschen, die hier Tiere zu ihrem Vergnügen halten. Der heutige Große Tiergarten trägt seinen Namen aufgrund eines eingezäunten Wildgeheges, das die Markgrafen und Kurfürsten von Brandenburg zur Jagd nutzten. Die Verbindung von Tieren und Verlustierung von Menschen kommt bereits in der ersten urkundlichen Erwähnung des »Thier- und Lustgartens« im Jahre 1527 zum Ausdruck. An diesem Ort überlagern sich menschliche und tierliche Geschichten, manchmal miteinander verbunden, oft auch getrennt. Straßen-, Brücken- und Wegenamen im Tiergarten weisen bisweilen noch auf diese Geschichten hin: Hofjägerallee, Fasanerieallee, Bettina-von-Arnim-Ufer, Zeltenplatz, Lichtensteinbrücke, RosaLuxemburg-Steg, John-Foster-Dulles-Allee (aber kein Hinweis auf Eleanor Dulles…).

2.

Vom Tiergarten zur »Hauptstadt der Tiere«

Im Gebiet der Mark Brandenburg und des späteren Königreichs Preußen konnte sich nach der Reformation zwar weitgehend der Protestantismus durchsetzen. Doch das von der römisch-katholischen Kirche geprägte Verständnis des Mensch-Tier-Verhältnisses blieb davon unberührt. Entsprechend gestaltete sich denn auch das Anliegen von König Friedrich II., die Natur zu zähmen und das Land für Menschen urbar zu machen. Für das Projekt der Landgewinnung ließ er einen veritablen Krieg gegen zahlreiche Tiere führen: »Es war das Ausmerzen oder Ausrotten von Tieren, die den Menschen bedrohten, da sie seine Ressourcen vernichteten. Diese Arten, die nicht zu zähmen waren und in der großen Seinskette einen ziemlich niederen Rang einnahmen, galten als Schädlinge oder Räuber. Die Liste war lang. Auf ihr fanden sich natürlich Ratten, Mäuse und Füchse, aber auch Maulwürfe, Wiesel, Iltisse und Biber sowie eine Vielfalt von Vögeln und Insekten, die eine Bedrohung für das Vieh, Obstbäume

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und Feldfrüchte darstellten. […] Wildschweine wurden im gesamten Gebiet zwischen Litauen und Berlin gejagt. Nichts reichte jedoch an die Zahl der getöteten Spatzen heran. […] Die Spatzen wurden nicht ausgerottet, andere Arten dagegen wohl, in Preußen ebenso wie im gesamten deutschsprachigen Mitteleuropa. Besonders dramatisch war die Bejagung bis zur Ausrottung von Bär, Luchs und Wolf, die sich während der Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs stark vermehrt hatten.« (Blackbourn 2007, 60f.) In Berlin ließ Friedrich II. kurz nach Antritt seiner Regentschaft den Plankenzaun um den Tiergarten abreißen. Bislang war der Ort nur einem sehr kleinen Kreis von Privilegierten vorbehalten gewesen: »Berlin […] hat auch ein Wäldlein 500 Schritt groß […]; dienet dem Churfürsten zur Ergötzlichkeit, gestalten viel Wild darinnen unterhalten werden, da dann der Churfürst zum öfteren nur mit wenig Personen jaget.« (zitiert nach Tomisch et al. 2005, 42) Nun wurde das einstige Jagdrevier der Hohenzollern für die Bevölkerung zugänglich und Architekt Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff mit der Umgestaltung zu einem »Lustpark« beauftragt. 1745 erlaubte Friedrich II. ehemals hugenottischen Flüchtlingen die Errichtung von Zelten für den Ausschank von Getränken im Sommer. Im Verlauf der Jahre wurden aus den Zelten feste Häuser, die entlang der Straße In den Zelten gebaut wurden. Sie sollten für die Herausbildung einer demokratischen Bewegung in der Preußenmetropole 1848 von zentraler Bedeutung werden. Auch wenn nun keine Rehe, Wildschweine etc. mehr für den jagdbegeisterten Adel im Tiergarten gehalten wurden, so entwickelte sich dort doch die Keimzelle für die »Hauptstadt der Tiere« (Maier-Wolthausen 2019): Friedrich II. veranlasste im südwestlichen Teil des Tiergartens die Errichtung einer Fasanerie, auf deren Gelände 1844 mit dem Zoologischen Garten der erste deutsche Zoo eröffnet wurde. Hierzu hatte in besonderem Maße das beharrliche Engagement des Mediziners und Professors für Zoologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität, Hinrich Lichtenstein, beigetragen. Lichtenstein seinerseits war von der Tiersammlung der Zoological Society of London im Regent´s Park inspiriert. Der Direktor der königlich-preußischen Gärten Peter Joseph Len-

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né hatte das einstige Jagdgelände der Hohenzollern zu einer Gartenanlage gestaltet. Die ersten Tiere wurden dem Zoologischen Garten von König Friedrich Wilhelm IV. aus dessen Menagerie von der Pfaueninsel überlassen. 1845 verfügte der Zoo über weniger als 100, zum größten Teil einheimische Tierarten. Nach und nach kamen jedoch auch exotischere Tiere in den Zoologischen Garten, die in eigens für sie angelegten Gehegen und Häusern untergebracht wurden – im Raubtierhaus, Bärenzwinger, Antilopenhaus, in der Elefantenpagode, im Flusspferdhaus, Vogelhaus und Straußenhaus.

Abb. 1: Straußenhaus vor 1934.

Archiv der Zoologischen Gärten Berlin.

Ende des 19. Jahrhunderts wurde im Zoologischen Garten ein Gelände eingerichtet, das nicht für Tiere, sondern für Menschen bestimmt war: Auf dem Sonderschaugelände sollten künftig »Völkerschauen« präsentiert werden. Bereits seit 1878 wurden im Berliner Zoo indigene Menschen wie Inuit, Nubier und Sami den Besucher*innen vorgeführt. Diese »Völkerschauen« fanden im Kontext vorgeblich wissenschaftlicher Begleitung statt:

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»Anfängliche Bedenken, neben Tieren nun auch Menschen zu präsentieren, wurden dadurch zerstreut, dass der damals bedeutendste deutsche Mediziner und Pathologe Rudolf Virchow und die von ihm mitbegründete ›Berliner Anthropologische Gesellschaft‹ dieser und nachfolgenden Schauen die hohen Weihen der Wissenschaft verliehen. Die Anthropologen unternahmen an den Menschen Körpermessungen und versuchten dabei, anhand physischer Merkmale einen vermeintlich ›hohen‹ oder ›niedrigen‹ Entwicklungsstand der jeweiligen ›Rasse‹ festzustellen. Die Betroffenen empfanden die Untersuchungen sicher oft als erniedrigend. Das interessierte die beteiligten Wissenschaftler allerdings wenig.« (Maier-Wolthausen 2019, 64) Die dafür in Anspruch genommenen indigenen Menschengruppen wurden oftmals auf einer großen Tour durch Europa geführt, wo sie in Zoos und anderen Schaueinrichtungen präsentiert wurden. 1880 kam die Inuit-Familie von Abraham Ulrikabs zusammen mit einer weiteren Familie für eine »Völkerschau« in den Zoologischen Garten. Beide Familien verstarben bei einer darauffolgenden Tour an Pocken, gegen die sie nicht geimpft waren.

3.

Demokratische Aufbrüche, Widerstand und ein ›Fest der Liebe‹

Wenige Jahre nach der Eröffnung des Zoologischen Gartens geriet der Tiergarten in den politischen Fokus. Von 1847 bis zu ihrem Tode bewohnte Bettina von Arnim das Haus In den Zelten 5 und führte dort einen bedeutenden Salon – das Bettina-von-Arnim-Ufer unweit des Zeltenplatzes erinnert heute daran. Bereits 1843 hatte sie die Schrift Dies Buch gehört dem König (Arnim 1843) verfasst, die sich an Friedrich Wilhelm IV. richtete und in der sie soziale Missstände in Preußen beschrieb. Wie viele andere sozial und liberal Gesinnte setzte die Schriftstellerin ihre Hoffnungen auf politische Reformen in den Monarchen, der 1840 den Thron bestiegen hatte.

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Abb. 2: Labrador-Inuit-Familie Ulrikabs, um 1880.

Archiv der Zoologischen Gärten Berlin.

Nach der Februarrevolution 1848 in Paris wurde In den Zelten zu einem zentralen Schauplatz für die revolutionäre Entwicklung in Berlin: Die hier ansässigen Gaststätten waren von dem in der Stadt geltenden Versammlungsverbot nicht betroffen und boten deshalb den öffentlichen Raum für politische Debatten und zum Verfassen einer Petition an den König: In der »Adresse der Jugend« wurden Presse-, Rede- und Versammlungsfreiheit, die Amnestie für politische Gefangene sowie eine allgemeine deutsche Volksvertretung gefordert (Braß 1848, 10). Auch nach den Barrikadenkämpfen vom 18./19. März blieb In den Zelten ein wichtiger Versammlungsort für unterschiedliche revolutionäre Grup-

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pierungen, bis im Zuge der Restauration des Ancien Régimes Ende April 1848 die Versammlungsfreiheit wieder maßgeblich eingeschränkt wurde. Der Platz vor dem Brandenburger Tor in Richtung Tiergarten erinnert im Namen an die Barrikadenkämpfe vom 18. März 1848 – und an die letzte und zugleich erste freie Wahl zur Volkskammer am 18. März 1990. Während der deutschen Revolution 1918/19 wurde der Tiergarten zu einem düsteren Schauplatz: Nachdem es Anfang Januar 1919 zu bewaffneten Auseinandersetzungen der radikalen Linken mit Freikorpstruppen der sozialdemokratischen Regierung gekommen war, wurden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 15. Januar von einer Wilmersdorfer Bürgerwehr verhaftet und in das Eden-Hotel gebracht, das vor dem heutigen Aquarium des Zoologischen Gartens lag. Hier hatte Waldemar Pabst das Stabsquartier der Garde-Kavallerie-Schützen-Division eingerichtet, der den Befehl zur Ermordung der beiden Revolutionär*innen erteilte. Daraufhin wurde zunächst Karl Liebknecht über einen Nebenausgang aus dem Hotel verschleppt und im nahe gelegenen Tiergarten am Neuen See ermordet. Daran erinnert heute ein Denkmal am Ort seines Todes.

Abb. 3: Denkmal für Karl Liebknecht am Neuen See von Ralf Schüler und Ursulina Schüler-Witte.

Foto: Ingo Juchler.

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Nach Liebknecht zerrten Angehörige der Garde-KavallerieSchützen-Division Rosa Luxemburg in ein Auto, schossen ihr eine Kugel in den Kopf und warfen den leblosen Körper der Revolutionärin in den Landwehrkanal. Sebastian Haffner gelangt als Chronist der Deutschen Revolution 1918/19 zur Würdigung von Rosa Luxemburg: »In den großen nationalen und internationalen Kontroversen des Jahrhundertanfangs gehörte sie stets zu den Vorkämpfern. Sie war die ebenbürtige Verbündete oder Gegnerin Bebels und Kautskys, Lenins und Trotzkis, Jaurès´ und Pilsudskis. Eine unübersehbare, eine große Frau, wohl immer noch die größte des Jahrhunderts.« (Haffner 2015, 171) An der Lichtensteinbrücke, wo die Soldaten der Garde-KavallerieSchützen-Division Rosa Luxemburg in den Landwehrkanal warfen, befindet sich heute ein Denkmal. Der nahe gelegene öffentliche Steg über den Landwehrkanal trägt ihren Namen. In jüngster Zeit erinnern die Einstürzenden Neubauten in ihrem Song Am Landwehrkanal an die Sozialdemokratin und Mitbegründerin der KPD: »Das trübe Gewässer fließt langsam vorbei Schwarz und behäbig und nicht allzu tief Behäbig und schwarz, nur einen Menschen tief Ich sitze allein’ am Landwehrkanal Wir trafen uns manchmal, auch manchmal bei Nacht Berlins dunkler Himmel gab uns ein Dach Wir hatten 1000 Ideen, und alle war’n gut Ich war nicht dabei, damals bei Rosa Nicht im Eden-Hotel und auch nicht danach An der Lichtensteinbrücke nach Mitternacht Ich sitze allein‘ am Landwehrkanal« (Einstürzende Neubauten 2020) Zwanzig Jahre später wurde der weiträumige Tiergarten zu einem Ort, wo sich während der nationalsozialistischen Diktatur Angehörige der Widerstandsgruppe Rote Kapelle treffen, spazieren gehen und unterhalten konnten, ohne belauscht zu werden. Bereits kurz nach der Machtübernahme von Adolf Hitler am 30. Januar 1933 hatte sich um das Ehepaar Mildred und Arvid Harnack ein Kreis von Freunden gebildet,

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Abb. 4: Denkmal für Rosa Luxemburg am Landwehrkanal, Rosa-LuxemburgSteg (links) und Lichtensteinbrücke von Ralf Schüler und Ursulina SchülerWitte.

Foto: Ingo Juchler.

der gegen die Nazis opponierte. Dazu zählten der Schriftsteller Adam Kuckhoff und seine Frau Greta, der frühere preußische Kultusminister Adolf Grimme sowie Karl Behrens und Bodo Schlösinger, Schüler von Mildred Harnack am Berliner Abendgymnasium. Im Verlaufe der Zeit erweiterte sich der Kreis um Mildred und Arvid Harnack: Sie kamen mit Libertas und Harro Schulze-Boysen und deren Freundeskreis in Kontakt. Der Oppositionszirkel umfasste bis zu seiner Zerschlagung durch die Nationalsozialisten etwa 150 Personen verschiedenster Berufsgruppen, unterschiedlicher parteipolitischer Einstellungen und Konfessionen. Die Gruppe fertigte oppositionelle Flugblätter und lieferte Informationen an die amerikanische Botschaft sowie an die Sowjetunion. So warnten etwa Harnack und Schulze-Boysen den sowjetischen Botschaftssekretär Alexander Korotkow vor dem bevorstehenden Angriff auf die Sowjetunion (›Unternehmen Barbarossa‹). Doch Josef Stalins Geheimdienstchef Lawrentij Berija nahm diese Warnung nicht ernst. Aufgrund von Funkkontakten des Netzwerkes zur Sowjetunion wurde die Gruppe von den Nationalsozialisten Rote

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Kapelle genannt – rot bezog sich auf deren linke Haltung und mit Kapelle wurden Funker assoziiert, die wie Pianisten in einer Kapelle spielen. Nachdem es der Gestapo im August 1942 gelungen war, einen Funkspruch zu dechiffrieren, wurden zahlreiche Personen des Netzwerkes verhaftet. Im Hausgefängnis der Gestapo-Zentrale (Prinz-AlbrechtStraße 8, heute Topographie des Terrors) wurden sie zum Teil unter Folter verhört. Zusammen mit anderen Mitgliedern der Roten Kapelle wurde Mildred und Arvid Harnack vor dem am Lietzensee gelegenen Reichskriegsgericht der Prozess gemacht: Arvid Harnack, Harro Schulze-Boysen und andere wurden zum Tode verurteilt und am 22. Dezember 1942 im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee hingerichtet. Mildred Harnack erhielt eine Zuchthausstraße über 6 Jahre. Doch Hitler ließ das Urteil durch eine weitere Verhandlung aufheben, so dass schließlich auch sie zum Tode verurteilt wurde. Am 16. Februar 1943 wurde Mildred Harnack in Plötzensee guillotiniert. Insgesamt wurden über 50 Angehörige der Roten Kapelle ermordet. Nach der nationalsozialistischen Diktatur sollte im Tiergarten wieder an die freiheitlich-demokratische Tradition des Vormärz angeknüpft werden: Auf dem einstigen Gelände von In den Zelten, wo 1848 Volksversammlungen durchgeführt wurden, errichtete man die Kongresshalle (heute Haus der Kulturen der Welt). Treibende Kraft des Projekts war Eleanor Dulles, Mitarbeiterin des US-amerikanischen Außenministeriums. Damaliger US-Außenminister war John Foster Dulles, weshalb die Allee bei der Kongresshalle nach ihm benannt ist – und nicht nach seiner Schwester, der eigentlichen Verfechterin des Vorhabens. Der Bau sollte die freiheitliche Position des Westens in der Frontstadt verkörpern und architektonisch eine Antwort auf die im sowjetischen ›Zuckerbäckerstil‹ errichtete Ost-Berliner Stalinallee geben. Die Funktion als Kongresshalle verdeutlichte die politische Intention des Gebäudes als Ort, an dem die freie Rede praktiziert werden konnte. Hugh Stubbins entwarf die Kongresshalle in moderner Gestalt mit einem geschwungenen Dach, was ihr bei den Berlinern schon bald den Namen ›schwangere Auster‹ eintrug. Am 7. November 1968 geschah etwas Unerhörtes in der Berliner Kongresshalle: Die 29-

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jährige, deutsch-französische Journalistin Beate Klarsfeld schlug mit dem Handrücken beim CDU-Parteitag dem deutschen Bundeskanzler mit den Worten »Nazi, Nazi, Nazi« ins Gesicht. Zuvor hatte sie bereits am 2. April dem Bundeskanzler während seiner Rede im Bundestag von der Zuschauerempore aus zugerufen: »Nazi-Kiesinger, abtreten!« Kurt Georg Kiesinger, seit 1966 Kanzler der Großen Koalition, war 1933 in die NSDAP eingetreten und von 1940 an im Auswärtigen Amt tätig gewesen. Die Ohrfeige von Beate Klarsfeld stand im weiteren Zusammenhang der Auseinandersetzung der Studentenbewegung und der Außerparlamentarischen Opposition mit der nationalsozialistischen Vergangenheit der Elterngeneration. Klarsfeld wurde noch am Tag ihrer Ohrfeige in einem beschleunigten Gerichtsverfahren zu einem Jahr Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt. Sie musste ihre Strafe, die später zur Bewährung ausgesetzt wurde, nicht antreten. Heinrich Böll schickte Beate Klarsfeld einen Strauß Rosen nach Paris. Später fanden im Tiergarten weitere Aktionen der sich auflösenden 1968er-Bewegung statt: Der Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen hatte unweit des Zoologischen Gartens zu einem ersten Smoke-in aufgerufen. Die Gruppenbezeichnung war zur ironischen Abgrenzung gegenüber dem damals in Berlin um sich greifenden Gründungsfieber der maoistisch orientierten K-Gruppen gewählt worden. Zu ihrem Selbstverständnis erklärten die Haschrebellen, dass sie sich als militanten Kern der Berliner Subkultur begriffen. Die Haschrebellen lehnten Privatbesitz ab, konsumierten intensiv illegale Drogen und propagierten einen militanten Aktionismus. Zu dem Smoke-in hinter dem Zoologischen Garten im Juli 1969 kamen mehrere Hundert junge Leute, die Musik machten und illegale Drogen konsumierten. Anfang der 1970er-Jahre entwickelte sich aus dem harten Kern dieser Szene die Bewegung 2. Juni, das Pendant zur RAF in West-Berlin. Dreißig Jahre nach dem ersten Smoke-in hinter dem Zoologischen Garten fand eine Bewegung im Tiergarten ihren Höhepunkt, die zehn Jahre zuvor mit etwa 150 Personen auf dem Kurfürstendamm ihren subkulturellen Anfang genommen hatte: Auf der Straße des 17. Juni und rund um den Großen Stern feierten am 10. Juli 1999 anderthalb Millionen Techno-Fans unter dem Motto Music Is The Key eine ekstatische

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Party der Masse – die Loveparade. WestBam, der bei den Loveparades als DJ aufgelegt hatte, ordnet das Musikereignis gesellschaftspolitisch ein: »Welches Land hat so einen Segen erfahren durch eine Musikveranstaltung? Das Land, das als das fürchterlichste galt. Nur stumpf, nur hart, nur brutal, nur unmusikalisch. Dieses Land hatte plötzlich irgendwas, was für die Jugend der Welt das sexieste, geilste und tollste war. Jeder hatte davon gehört, jeder wollte dahin, jeder fand das das coolste, was es gab. Das waren die Momente, ja, wo ich sag´, da ging eigentlich der Zweite Weltkrieg erst wirklich zu Ende.« (Scholl 2019) Im Juli 1999 machten sich hunderttausende Techno-Begeisterte auf den Weg zur größten Party der Welt in den Tiergarten – »Loveparade ’99: Wer ist die Schönste im ganzen Land, wer der Schönste? Berlins Tiergarten wird zum Catwalk, magisch angezogen vom Klang wie dereinst die 130 Kinder von Hameln. Eineinhalb Millionen Leiber verschmelzen zu einer sozialen Skulptur, vereint unter einem Beat. Ein Fest der Liebe. Die größte Party aller Zeiten. Ein Tanz mit der Masse. Ein Verschmelzen. Eins sein. Darum geht’s.« (Scholl 2019) Da es sich bei der Loveparade um eine bei den Behörden angemeldete Demonstration handelte, gab es bei der Siegessäule auch eine Abschlusskundgebung. Dr. Motte, DJ und Mitinitiator der Loveparade, sprach dort zu den feiernden Massen: »Hier in diesem Augenblick sind anderthalb Millionen Menschen versammelt. Und warum? Weil wir miteinander tanzen wollen und unsere Musik hören wollen. Alle vertretenen Nationen sind hier als die größte Demonstration des Friedens vereint. Unsere Musik fördert die Verbindung mit der uns eigenen Liebe, Kraft und Weisheit. Musik kennt keine Grenzen. Unsere Botschaft heißt tanzen und nicht Krieg. Music Is The Key!« (Scholl 2019)

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Doch ganz so friedlich und harmonisch ging diese größte Party der Welt nicht zu Ende: Am Rande der Loveparade kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen zwei Männern. Ein dritter junger Mann aus Brandenburg wollte schlichten, ging dazwischen und wurde mit einem Messer tödlich verletzt. Die Loveparade geriet in der Folge aber aus anderen Gründen in die Schlagzeilen. Zusehends wurde die gigantische Menge an Müll, Abfall und Fäkalien kritisiert, die von der riesigen Menschenmasse produziert und im Tiergarten hinterlassen wurde. Margarethe Pape, Sprecherin der Bürgerinitiative Rettet den Großen Tiergarten vor der Loveparade, führt dazu aus: »Der Tiergarten verheerend, wie eine Müllhalde stinkend nach Fäkalien und Urin und vor allen Dingen gar keine Lebensgrundlage mehr für Tiere und Pflanzen. Das traurigste Bild, was man erlebt hatte, war ja auch wirklich so ein Teich, wo ein einsames Entenküken herumschwamm, völlig versifft und der Teich versifft und vermutlich alle Enten tot. Das ist einfach ein hässliches Bild, ein widerliches Ekelbild. Diese Parade, die wirklich nur Werbung war für das zynische ›Wir pissen auf euch, wir scheißen auf euch, ihr seid der letzte Dreck. Wir sind die Richtigen, wir tragen die richtigen Klamotten aus den richtigen Materialien, wir trinken Luft und Liebe, wir sind diejenigen, die weiß ich nicht, die Vorficker oder was auch immer.‹ Das ist zynisch, das ist ekelhaft, ich weiß nicht, wo das hinpasst und für Berlin passt es auf gar keinen Fall.« (Scholl 2019) Neben der Naturzerstörung gerieten auch die hohen Kosten in den Fokus, die für die Sicherheit der Techno-Fans und die Müllbeseitigung von der Allgemeinheit aufgebracht werden mussten – der Bund der Steuerzahler Berlin bezifferte allein die Kosten zur Beseitigung der Flurschäden der Loveparade 1999 auf 340.000 Euro. Die Angelegenheit landete vor den Gerichten, und 2001 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die Loveparade keine Demonstration sei. Deshalb sollten fortan für die Sicherheit der Feierenden und die Müllbeseitigung die Veranstalter finanziell aufkommen. Daraufhin gaben die alten Macher der Loveparade auf, ein Fitnesstrainer übernahm das Management. 2010

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kam dann das endgültige Aus: Die Loveparade in Duisburg endete im Desaster, 21 Menschen starben auf dem Weg zur Party im Gedränge.

4.

Zoologischer Garten – mit Bildungsanspruch

Und wie steht es heute um die Tiere im Tiergarten? Auf der 210 ha großen Parkanlage sind zahlreiche Tierarten zuhause – es wohnen hier Waschbären, Marder, Wiesel, Füchse, Frettchen, Nachtigallen, Stadttauben, Bussarde, Zwergfledermäuse, Gelbspötter, Gartengrasmücken, Bachstelzen, Habichte, Falken, Amseln, Sperlinge, Stockenten, Teichhühner, Mönchsgrasmücken, Buchfinken, Buntspechte, Rotkehlchen, Nebelkrähen, Zaunkönige, Kolkraben, Teichrohrsänger, Stieglitze, Mäuse Kaninchen, Feldhasen und ausgesetzte Schildkröten. Darüber hinaus leben am südwestlichen Rand des Tiergartens auf dem 32 ha großen Gelände des Zoologischen Gartens 19.459 Tiere in 1.185 verschiedene Arten (2019). Damit ist der Zoologische Garten der meistbesuchte Zoo in Europa und im Hinblick auf den Tierbestand der artenreichste weltweit. Der Zoologische Garten kommt dabei seit seiner Gründung auch einem didaktischen Anliegen nach: Bereits Gründungsdirektor Hinrich Lichtenstein, der die Sammlung der Menagerie auf der Pfaueninsel wissenschaftlich betreut hatte, beabsichtigte mit der Errichtung des Zoologischen Gartens einen »streng wissenschaftlichen Zweck« mit einer »belehrenden Unterhaltung« zu verbinden (vgl. Maier-Wolthausen 2019, 30). Im Kern wird dieser Anspruch heute noch als Ziel der öffentlichen Einrichtung formuliert: Voraussetzung für eine Mitgliedschaft im Verband der Zoologischen Gärten ist, dass der Zoo wissenschaftlich geführt wird. Als wesentliche Handlungsfelder ihrer Tätigkeit gelten für wissenschaftlich geführte Zoos vier Bereiche: »Zum einen wollen sie ihren Gästen Erholung und Entspannung bieten. Denn Zoos sind für Besucherinnen und Besucher da. Zum Zweiten wollen sie einen Beitrag zur Erforschung der gehaltenen Arten leisten. Vieles von dem, was wir über Tiere und ihr Verhalten wissen, geht auf Beobachtungen in menschlicher Obhut zurück. Des Weiteren sehen

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Zoos eine hervorragende Aufgabe in der Erhaltung und Zucht insbesondere bedrohter Arten. Zahlreiche Tierarten wären für immer von der Erde verschwunden, wenn sie nicht in Zoos erhalten worden wären. […] Eine wichtige Aufgabe des Zoos ist zudem die Bildung. Die vielen Millionen Zoobesucherinnen und -besucher haben die Chance, mehr über die gezeigten Tiere und ihre wild lebenden Verwandten zu erfahren. […] Somit besteht kein Zweifel, dass angesichts der wachsenden Entfremdung der Menschen von der Natur und der dramatischen Bedrohung von Arten und Lebensräumen die Bedeutung der Zoos in Zukunft weiter zunehmen wird.« (Niekisch 2019, 291f.) Als wissenschaftlich geführte Institution ist der Berliner Zoo Mitglied des Verbands der Zoologischen Gärten und kommt dem Anspruch auf Erholung für die Besucher*innen, der Forschung, Bildung und des Artenschutzes nach. Gleichwohl gilt er Kritiker*innen, die Zoos generell ablehnen, als Einrichtung, die abzuschaffen ist: »Auch wenn viele Menschen den Besuch eines Zoos als Freizeitvergnügen und Erholung empfinden, ist die lebenslange Gefangenschaft leidensfähiger Individuen damit nicht zu rechtfertigen (ebenso wenig wie Parforcejagden, Stierkämpfe oder Rodeos damit zu rechtfertigen sind, dass es immer noch Menschen gibt, die Vergnügen an derlei Tierqualveranstaltungen haben).« (Goldner 2015, 440) Neben dieser grundsätzlichen Ablehnung der Haltung von Tieren in Zoos wird in Frage gestellt, dass wissenschaftlich geführte Zoos ihrem eigenen Anspruch nach Erholung, Forschung, Bildung und Artenschutz gerecht werden. So moniert etwa der Anthropologe und Primatologe Volker Sommer im Hinblick auf den Bildungsanspruch von Zoos, Kinder würden hier nicht zur Verantwortung für Tiere sensibilisiert, sondern würden im Gegenteil »systematisch desensibilisiert, weil Gitter, Panzerglas, Kunstfelsen und Wassergräben die traditionelle Separierung von Mensch und Tier zementieren. Das fördert nicht die Achtung anderer Kreaturen, sondern konditioniert, Zerrbilder als ›Natur‹ und Tiere als Unterhaltungsobjekte aufzufassen sowie den markanten Widersinn auszublenden, dass ›wilde‹ Tiere gefangen gehalten werden.« (Sommer 2019, 298)

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Diese Feststellung mag für zahlreiche nicht wissenschaftlich geführte Zoos zutreffen. Im Zoologischen Garten Berlin sucht man jedoch der möglichst artgerechten Haltung der Tiere und dem selbst gesetzten Bildungsanspruch explizit nachzukommen. So werden etwa bei der kommentierten Fütterung der Seelöwen »neben Namen und Alter der einzelnen Zoobewohner und der einen oder anderen Anekdote viele Informationen über die Tiere selbst, ihren Lebensraum und die Bedrohungen durch Menschen weitergegeben. Das Ziel ist es, insbesondere auch jüngere Besucher für die Schutzbedürftigkeit der Ökosysteme zahlreicher in Zoo-Obhut gehaltener Arten zu sensibilisieren.« (Maier-Wolthausen 2019, 238f.) Dazu trägt insbesondere die Zooschule bei. Diese bietet als außerschulischer Lernort eine Vielzahl von didaktischen Angeboten, die sich an Schulen, Kitas und Horte richten. Darüber hinaus werden auch Touren für Erwachsene, Veranstaltungen für Firmen und Führungen für internationale Besucher*innen in Englisch, Französisch, Spanisch und Italienisch angeboten. Eine Art, die im Zoologischen Garten gehalten wird und deren Lebensraum durch die Erderhitzung massiv bedroht wird, ist der Eisbär. Die Ökosysteme in der Arktis sind vom Klimawandel in besonderer Weise betroffen. Für den Eisbären bringt dies dramatische Folgen mit sich, wie der World Wide Fund for Nature (WWF) feststellt: »Das Ökosystem der Eisbären verändert sich derart schnell, dass den Tieren kaum Zeit bleibt, sich anzupassen. Eisbären verbringen die langen Winter und das Frühjahr auf dem Packeis. In dieser Zeit jagen sie Robben und fressen sich große Fettreserven an. Das Eis geht aber seit Jahren immer schneller, immer weiter zurück. Den Bären fehlt damit die Plattform zum Robbenjagen. Das macht das Überleben, insbesondere für Jungtiere, immer schwieriger. Vor allem Eisbären der südlicheren Populationen können dem raschen Rückzug des Eises oft nicht folgen und ›stranden‹ schließlich auf dem Festland. Dort finden sie deutlich weniger Beute – die Eisbären fasten und zehren von ihren Fettreserven.« (WWF 2020) Im Zoologischen Garten wurde im Dezember 2006 ein Botschafter für den Erhalt des Lebensraumes der wild lebenden Eisbären geboren: Eis-

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bärin Tosca gebar Knut, sorgte sich jedoch nicht weiter um den Nachwuchs, weshalb das Eisbärenbaby von Tierpfleger Thomas Dörflein mit der Flasche aufgezogen wurde. Der niedliche Jungbär erregte schnell die öffentliche Aufmerksamkeit und wurde zu einem Botschafter für den Artenschutz. So übernahm der damalige Bundesumweltminister Sigmar Gabriel die Futterpatenschaft für Knut und führte in öffentlichen Debatten um die Erderhitzung aus, dass der Eisbär dieses Problem konkret veranschauliche, da er die Gefühle der Menschen anspreche. Knut sei im Stande Menschen für den Klimaschutz zu gewinnen, wie es Politik und Wissenschaft nicht könnten. Der Eisbär-Botschafter starb unerwartet im März 2011 an einer Hirnerkrankung. Sein Pfleger Thomas Dörflein war bereits drei Jahre zuvor an einem Herzinfarkt gestorben. Im Zoologischen Garten erinnert heute eine kleine BronzeSkulptur in der Nähe seines ehemaligen Geheges am Bärenfelsen an Knut.

Abb. 5: Thomas Dörflein und Knut.

Foto: Bröseke; Archiv der Zoologischen Gärten Berlin

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5.

Tierrechte und Aktivismus

Ein Besuch im Zoologischen Garten kann durchaus dazu anregen, über unser heutiges Verhältnis von Menschen und Tieren nachzudenken. Hilfreich können dabei auch die Reflektionen sein, die etwa Michel de Montaigne zu diesem Verhältnis anstellte: »Die Anmaßung ist unsere naturgegebne Erbkrankheit. Das unglückseligste und gebrechlichste aller Geschöpfe ist der Mensch, gleichzeitig jedoch das hochmütigste. […] Aus ebendieser hohlen Einbildung stellt er sich gar mit Gott gleich, maßt sich göttliche Eigenschaften an, sondert sich als vermeintlich Auserwählter von all den anderen Geschöpfen ab, schneidert den Tieren, seinen Gefährten und Mitbrüdern, ihr Teil zurecht und weist ihnen soviel Fähigkeiten und Kräfte zu, wie er für angemessen hält. Wie aber will er durch die Bemühung seines Verstands die inneren und geheimen Regungen der Tiere erkennen können? Durch welchen Vergleich zwischen ihnen und uns schließt er denn auf den Unverstand, den er ihnen unterstellt?« Der Jurist und Philosoph kommt deshalb zu dem Schluss: »Unsere Aufmerksamkeit sollten wir daher auf die Gleichheit zwischen Mensch und Tier richten.« (Montaigne 2016, 223f.) Die 450 Jahre alte Zukunftsvision Montaignes kann auch gegenwärtig noch Geltung beanspruchen, sind wir doch von einem Verständnis der Gleichheit von Mensch und Tier so weit entfernt wie ehedem. Allerdings tritt eine zusehends breitere Bewegung für die Etablierung von Tierrechten ein, was in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen reflektiert wird u. a. in der politischen Philosophie: »Tierrechte sind schon deshalb ein Thema für die politische Philosophie, weil das Unrecht, das wir Tieren heute antun und für das sich unsere Nachfahren einmal schämen werden, zur Grundordnung unserer Gesellschaften gehört.« (Ladwig 2020, 7) Während die Sklaverei inzwischen weitgehend als abgeschafft gilt, die Gleichberechtigung von Frauen und LGBTIQ-Menschen auf dem Weg ist und rassistische Diskriminierung zusehends bekämpft und geächtet wird, stellt der Speziesismus – die Benachteiligung und Herabwürdigung von nichtmenschlichen

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Lebewesen aufgrund ihrer Artzugehörigkeit – die gängige menschliche Umgangsform mit Tieren dar. Deshalb kann der Speziesismus »als eine Art Interspezies-Rassismus angesehen werden«. (Kompatscher/Spannring/Schachinger 2017, 35) Im Berliner Tiergarten finden sich heute allenthalben Monumente, die vom speziesistischen Selbstverständnis des Menschen gegenüber Tieren beredt Zeugnis ablegen. So ließ der König von Preußen und Deutsche Kaiser Wilhelm II. als Erinnerung an die ehemalige kurfürstliche Jagddomäne in der Fasanerieallee 1904 bronzene Skulpturen errichten, die Jagdszenen verschiedener Jahrhunderte darstellen: von der ›altgermanischen Wisentjagd‹ von Fritz Schaper über die ›Eberjagd um 1500‹ von Carl Begas und die ›Hasenhetze um 1750‹ von Max Baumbach bis zur ›Fuchsjagd um 1900‹ von Wilhelm Haverkamp.

Abb. 6: Imaginierte Jagdszene aus Urzeiten: Ein Germane kämpft mit seinen beiden Hunden und Speer gegen ein Wisent von Fritz Schaper.

Foto: Ingo Juchler.

Die im neobarocken Stil gefertigten Jagdszenen bieten durchaus Anlass, sich mit der Aussage dieser Figurengruppen im Hinblick auf das Mensch-Tier-Verhältnis zu beschäftigen. Allerdings sollte der Umgang mit diesen nicht so ausfallen, wie die Auseinandersetzung vorgeblich antirassistischer Aktivisten mit dem 1901 eingeweihten Denkmal für

Von Menschen und anderen Tieren im Berliner Tiergarten

Reichskanzler Otto von Bismarck von Reinhold Begas bei der Siegessäule: Im Kontext der Black Lives Matter-Bewegung war auch in Deutschland im Sommer 2020 eine Debatte um die koloniale Vergangenheit und Erinnerungskultur des Landes entbrannt. Vor diesem Hintergrund überschütteten Unbekannte das Nationaldenkmal für Otto von Bismarck mit Farbe und hinterließen die Aufschrift Decolonize Berlin. Das gleichnamige Bündnis distanzierte sich jedoch von dieser Aktion.

Abb. 7: Das besprühte Bismarck-Nationaldenkmal: Zu Füßen des einstigen Reichskanzlers kniet der kräftige Atlas mit der Weltkugel, während Sybille, an eine Sphinx gelehnt, die Weisheit des Staates verkörpert, dessen Stärke eine Frau demonstriert, die ihren Fuß auf den Nacken eines Panthers setzt.

Foto: Ingo Juchler.

Ähnliche illegale Handlungen zum Protest gegen Speziesismus sind bislang im Tiergarten nicht vorgenommen worden. Sie wären auch abzulehnen: »Tierrechte und tierliche Mitgliedschaft sind Ideen, die die vorherrschenden Vorstellungen und Gefühle stark strapazieren. Den nötigen tiefgehenden Wandel werden wir ohne Rückgriff auch auf unkonventionelle Protestformen wohl nicht herbeiführen können. Umso wichtiger ist, dass wir auf Selbstgerechtigkeit verzichten und Andersdenkende nicht dämonisieren. Dies gebietet erstens die Achtung, die wir

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ihnen prinzipiell schulden, und es ist zweitens ein Gebot politischer Klugheit. Wir sollten für die Rechte und den Mitgliedschaftsstatus von Tieren in einer Form und mit Inhalten streiten, die ernsthaft nachdenkenden Mitbürgern weder respektlos noch sektiererisch vorkommen.« (Ladwig 2020, 398f.)

Abb. 8: Siegfried schmiedet sein Schwert an der Rückseite des Nationaldenkmals für Otto von Bismarck, der bereits von seinen Zeitgenoss*innen als »Reichsschmied« tituliert wurde.

Foto: Ingo Juchler.

Von Menschen und anderen Tieren im Berliner Tiergarten

Allerdings verweist die Aktion am Bismarck-Nationaldenkmal auf die Diskriminierung und Ungleichbehandlung von Menschen gegenüber anderen Menschen – auf Unterdrückungsverhältnisse, seien sie aufgrund von Ethnizität, Klasse oder Geschlecht. Unterdrückungsverhältnisse lassen sich unschwer auch bei Mensch-Tier-Beziehungen ausmachen. Dass die Unterdrückungsverhältnisse oftmals miteinander verwoben sind, zeigte beispielhaft der SARS-CoV-2-Ausbruch unter Arbeitern beim Tönnies-Schlachtunternehmen im nordrhein-westfälischen Rheda-Wiedenbrück im Sommer 2020: Während das Leiden der 20.000 bis 25.000 Schweine, die dort täglich getötet und »verarbeitet« wurden, weitgehend unbeachtet blieb, gerieten während des SARS-CoV-2Ausbruchs unter den meist aus Osteuropa stammenden Arbeitern deren Arbeitsbedingungen sowie die schlechten Hygienebedingungen ihrer Sammelunterkünfte in die Kritik. Dabei lassen sich das Leid und die Ausbeutung der Tiere schlechterdings nicht auseinanderdividieren von der sozialen Not der Arbeiter, die sie töten: »Social justice movements can’t be too cavalier in dismissing the animals rights movement, because in doing so, they’re arguing that humans are inherently a superior species and thus have moral dominion over the earth. That mindset actually harms the fight for racial, gender, and other social equalities. At least 10 peer-reviewed sociology and psychology studies show that belief in species hierarchy is ›consistently associated with greater dehumanization of disadvantaged or marginalized human groups,‹ Kymlicka said. ›It exacerbates racism, sexism, homophobia, and reduces support for fair wages for workers.‹ He added, ›Although these studies are looking at different age groups in different countries using different methods, the finding is always the same: Species hierarchy is bad for social justice movements‹.« (Atkin 2019) Das Engagement für Tierrechte erfordert sicherlich unterschiedliche Aktionsformen, konventionelle und ungewöhnliche, wenn die jetzige Mensch-Tier-Beziehung stärker in den Fokus der politischen Öffentlichkeit geraten soll. Dazu wäre ein Bruch mit den althergebrachten

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Vorstellungen dieser Beziehung vonnöten. Diese sind allerdings in unserem Denken fest verankert: »Die Idee des Menschen in der europäischen Geschichte drückt sich in der Unterscheidung vom Tier aus. Mit seiner Unvernunft beweisen sie die Menschenwürde. Mit solcher Beharrlichkeit und Einstimmigkeit ist der Gegensatz von allen Vorvorderen des bürgerlichen Denkens, den alten Juden, Stoikern und Kirchenvätern, dann durch Mittelalter und die Neuzeit hergebetet worden, dass er wie wenige Ideen zum Grundbestand der westlichen Anthropologie gehört. Auch heute ist er anerkannt.« (Horkheimer/Adorno 1988, 262) Dem Menschen müsste seine Entfremdung von anderen Tieren bewusstwerden. Und er sollte erkennen, dass es für die hochmütige traditionelle Minderbewertung von Tieren keinen Grund gibt: »Die Frage ist nicht: Können sie denken?, noch: Können sie sprechen? Sondern: Können sie leiden?« (Bentham 2015, 65) Durch die Vergegenwärtigung der naturgeschichtlichen Einheit von Mensch und Tier im Denken und das entsprechende Handeln unserer Spezies kann sich perspektivisch ein anderes, gleichberechtigteres Verhältnis zwischen Menschen und anderen Tieren entwickeln.

Literatur Arnim, Bettina von (1843): Dies Buch gehört dem König. Berlin. Atkin, Emily: Why Animal Rights Is the Next Frontier for the Left. In: The New Republic, 14.3.2019; https://newrepublic.com/article/15330 2/animal-rights-next-frontier-left; [zuletzt: 25.6.2020]. Baranzke, Heike/Ingensiep, Hans Werner (2019): Was ist gerecht im Verhältnis von Mensch und Tier? Religion und Philosophie von den europäischen Anfängen bis zum 18. Jahrhundert. In: Diehl, Elke/Tuider, Jens (Hg.): Haben Tiere Rechte? Aspekte und Dimensionen der Mensch-Tier-Beziehung. Bonn, S. 24-38. Bentham, Jeremy (2015): Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung. In: Borgards, Roland/Köhring, Es-

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ther/Kling, Alexander (Hg.): Texte zur Tiertheorie. Stuttgart, S. 6365. Blackbourn, David (2007): Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft. München. Braß, August (1848): Berlin´s Barrikaden. Ihre Entstehung, ihre Vertheidigung und ihre Folgen. Eine Geschichte der März-Revolution. Berlin. Einstürzende Neubauten (2020): Am Landwehrkanal. In: Einstürzende Neubauten: Alles in Allem (Album). Goldner, Colin (2015): Zoo. In: Ferrari, Arianna/Petrus, Klaus (Hg.): Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen. Bielefeld, S. 438-440. Sebastian Haffner (4 2015): Die deutsche Revolution 1918/19. Reinbek. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1988): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. JAJAJA: ATOPIC_POLITICS @OTTO-FRIEDRICH-UNIVERSITÄT Bamberg 12.Juli 2019. In: http://jajaja.in/; [zuletzt: 26. April 2020]. Kompatscher, Gabriela/Spannring, Reingard/Schachinger, Karin (2017): Human-Animal Studies. Eine Einführung für Studierende und Lehrende. Münster. Ladwig, Bernd (2020): Politische Philosophie der Tierrechte. Berlin. Maier-Wolthausen, Clemens (2019): Hauptstadt der Tiere. Die Geschichte des ältesten deutschen Zoos. Herausgegeben von Andreas Knieriem. Berlin. Montaigne, Michel de (9 2016): Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett. Berlin. Niekisch, Manfred (2019): Gute Zoos – eine moderne Notwendigkeit. In: Diehl, Elke/Tuider, Jens (Hg.): Haben Tiere Rechte? Aspekte und Dimensionen der Mensch-Tier-Beziehung. Bonn, S. 291-295. Precht, Richard David (2018): Tiere denken. Vom Recht der Tiere und den Grenzen der Menschen. München. Scholl, Peter (2019): Loveparade – Als die Liebe tanzen lernte. Dokumentarfilm von Peter Scholl. Eine Produktion der solo:film GmbH im Auftrag des Rundfunk Berlin-Brandenburg. Scott, James C. (2019): Die Mühlen der Zivilisation. Eine Tiefengeschichte der frühesten Staaten. Berlin.

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Sommer, Volker (2019): Warum Zoos sich weitgehend abschaffen sollten. In: Diehl, Elke/Tuider, Jens (Hg.): Haben Tiere Rechte? Aspekte und Dimensionen der Mensch-Tier-Beziehung. Bonn, S. 296-301. Tomisch, Jürgen et al. (2005): Denkmale in Berlin. Bezirk Mitte, Ortsteile Moabit, Hansaviertel und Tiergarten. Petersberg. WWF: Eisbären: Die Lebensgrundlage schmilzt. In: https://www.wwf. de/themen-projekte/bedrohte-tier-und-pflanzenarten/eisbaeren/; [zuletzt: 27. 06. 2020].

»Wenn Bildung Spaß machen würde, wäre sie vermutlich verbreiteter.«1 Über Widerständigkeit Sven Rößler

»I.  Ich bin und fühle mich im Zustand der , der frevelhaftesten Sicherheit über Göttern und Menschen[.]   II.  Ich kam zu fremden Völkern, die mich nicht ehren, und sehe, daß mein Wesen auch ohne geehrt zu werden bleibt.   III.   Ich sehe es sich bewähren, endlich geht es in die Breite und materialisiert sich im Irdischen, anstatt steil zu steigen. Dieses geschah durch sinnliche Widerstände.«2

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So der schlagende Hinweis von Andreas Poenitsch am 13. Januar 2020 in der sich an seinen Gast-Vortrag zu »Bildungstheorien und Bildung in der Gegenwart« in der Ringvorlesung des »Studium Generale« an der Pädagogischen Hochschule Weingarten anschließenden und fast unvermeidlich vom Unverständnis des Publikums seiner tatsächlich »kritischen Bestandsaufnahme« zeugenden Diskussion. Nahezu unvermeidlich ist dieses Unverständnis, ist doch die »Krise in der Erziehung« – also auch eine in der (fach-)didaktischen Theoriebildung – eben auch nur ein Ausdruck »der allgemeinen Krise, in welche die moderne Welt überall und auf nahezu allen Lebensbereichen geraten ist«. (Arendt 20002 , 255) Benjamin 1978, 51.

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Widerstände und Bildung »Durch jede Festlegung«, so habe ich einmal gelesen, »wird eine Form der Umfangs- oder Basislogik installiert, die notwendig einen Ausschluss des Anderen zur Konsequenz hat […]. Im Gegensatz dazu fordert eine ›postmoderne Ethik‹, den Widerstreit zu bezeugen.« (Friedrichs 2011, 11) Wenn es also durchaus in diesem Sinne des Widerstreitenden im Folgenden nun um ›Widerstände‹ gehen soll, dann ist – dies sei vorangestellt, handelt es sich doch um einen Beitrag, der sich selbst in der Didaktik der Politischen Bildung verortet – damit in erster Linie nicht jener ›Widerstand‹ gemeint, der – und zwar mit allem Recht (!), wenngleich in seiner Praxis zumeist liberal eingehegt und materiell entkernt – zum Wesenskern des Faches gehört, in welchem die Lernenden eben »auch die Fähigkeit zu Kritik, Widerspruch und Widerstand entwickeln« soll(t)en, weshalb »Mündigkeit fördernder Unterricht Alternativen [thematisiert], statt das Bestehende nur zu bestätigen.« (Autorengruppe Fachdidaktik 2015, 21) Auch soll hier nicht so sehr von der – grundsympathischen, aber mitunter ein bisschen naiven – Vorstellung einer Bildung selbst immanenten Widerständigkeit (vgl. Reheis 2014, 29) gehandelt werden, sondern vielmehr von jener, wie ich es einmal genannt habe, »authentische[n] Krisenerfahrung, die zunächst Widerstände auch im ›kritischen‹ Subjekt provoziert, durch das die gesellschaftlichen Verhältnisse ja ebenso hindurchgehen.« (Rößler 2013, 226) Also günstigenfalls das – hier im Wortsinne zu verstehende3 – ›transistorische‹ Moment von Bildungsgängen, insofern also tatsächlich »Widerstände gegen Bildung, die, wie schon Platon zeigte, in der Natur der Sache liegen, über Bildung selbst entscheiden.« (Frost 2012, 13) Diese Widerstände sind wesentlich kulturelle – seien sie gegenkulturell,

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Die Bezeichnung des Verstärker-Bauteils eines ›Transistoren‹ wird im 20. Jahrhundert fachsprachlich aus ›transfer‹ und ›resistor‹ neu gebildet. (Vgl. Art. ›Transistor‹ 200224 , 925)

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wie in Paul Willis’ Learning to Labour 4 , oder auch bereits durch reflexive Hochschuldidaktik intentional funktionalisiert, in der Traditionslinie einer Selbstreflexion der Lerngruppe auf ihr eigenes Verhalten als didaktische Kategorie der politischen Bildung (Haller/Wolf 1972): »Das Seminar wird nach wie vor als Diskursgemeinschaft verstanden, die ein gemeinsames Bildungsinteresse eint. Mit der Teilnahme von Studierenden an Lehrveranstaltungen wird die Erwartung an eine aktive Beteiligung verknüpft. Fragen und Probleme der Studierenden, aber auch ihre Widerstände gegenüber den Deutungsangeboten der Lehrenden, werden als wesentliche Elemente einer Seminarkultur in Abgrenzung zur Vorlesung verstanden. Das Seminar als Diskursgemeinschaft bedient sich in der Regel des Prinzips ›Lernen durch Lehren‹. Studierende sollen zu Mitgestalter_innen des Seminars werden, indem sie durch eigene Beiträge (Referate, Präsentation, Begründung von Thesen usw.) das Lerngeschehen beeinflussen können.« (Heitz 2014, 232)5 Im Versuch, der eingangs zitierten Forderung der ›postmodernen Ethik‹ zu entsprechen, will ich es mit dem als Motto oben vorangestellten Benjamin als stets verlässlichen Gewährsmann halten: »Ich rette mich nicht – ich steige nicht auf, sondern ich siege auf diesem Boden.« (Benjamin 1978, 51) – Und das sieht dann so aus:

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»Irgendwie enthält geistige Arbeit künftig stets die drohende Forderung von Gehorsam und Kontrolle. Widerstand gegen geistige Arbeit wird zum Widerstand gegen Autorität, wie er in der Schule gelernt wird.« (Willis 2013, 168) Wenngleich mit zunehmend abnehmendem Erfolg: »Tatsächlich wird dieses Angebot aber wenig angenommen. Seminarräume füllen sich immer häufiger von hinten, der Diskurs beschränkt sich auf kleine Gruppen Studierender. Der Teilnahme Weniger steht eine vermutete Teilnahmslosigkeit Vieler gegenüber, die sich kaum in das Seminargeschehen einbringen. Das Studierverhalten im Bachelor-Studium folgt offenbar (durchaus nachvollziehbaren) ökonomischpragmatischen Gesichtspunkten der individuellen Studienorganisation. Diese Situation ist nicht neu, hat sich aber seit der Strukturreform an der Hochschule verschärft und erzeugt bisweilen Ratlosigkeit und Frustration bei Lehrenden wie auch Studierenden.« (Heitz 2014, 232f.)

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2019 Da kommt Anfang des Jahres diese Einladung, zunächst für eine »kleine Ein-Tages-Tagung um eine Performance des KünstlerDuos JAJAJA (www.jajaja.in)« in Bamberg. Die Bundeszentrale für politische Bildung und die Kulturförderung der Sparkasse sponsern die Veranstaltung und es gibt nur ein begrenztes Kontingent. Ich freue mich daher, dass man dabei an mich gedacht hat – zumal die Stadt pittoresk ist und solch eine Tagung ja auch immer einen schönen Rahmen für kollegiale Geselligkeit bietet. Im Juni dann lässt mich die Präzisierung des Formates schon unruhiger werden: »Wir begeben uns gemeinsam als ErkunderInnen in eine Konstellation künstlerischer Forschung.« Hui! Sofort setzt die retraumatisierende Erinnerung an eine einmal im Studium mehr oder weniger aus Versehen – bzw. dem auch damals bereits durch strukturelle Unterfinanzierung grassierenden Mangel an Alternativen – belegte Lehrveranstaltung zum ›Szenischen Spiel‹ (vgl. Scheller 20199 ) ein: Schau-Spielen im heiligen Unernst und Sichin-einer-Rolle-Ausprobieren; na schönen Dank auch, ich will Bücher lesen und darüber sprechen und dann vielleicht auch eines schreiben. Der Moment ist da: ich reise an – und zwar jetzt zu einem »immersive[n] Silent-Walk im öffentlichen Raum am 11./12. Juli in Bamberg« (JAJAJA 2019). Aller Mut ist verflogen, die Einsicht ist unabwendbar: Künstler*innen machen mir – dem sozialen Bildungsaufsteiger – Angst. Andererseits, pah!, Künstler*innen: »Die Gedankenfreiheit der sogenannten Kreativen bleibt stets Narrenfreiheit – ist doch auch ihnen die Reflexion auf die gesellschaftliche Bestimmung ihrer Tätigkeit wie ihres Produkts verboten. Sonst würden sie kaum den sich krank langweilenden Mittelstand mit Urbanität, Ästhetik, Kommunikation und anderen Spielarten der neuen Lebensqualität beglücken wollen, ihm auch keine Kreativität und neue Sensibilität einreden, auf deren vermeintlichen Besitz er am Ende gar noch stolz ist, um sich desto behaglicher in seinem Alltag voller kleiner Schandtaten einzurichten…« (Pohrt 2019, 71f.)

»Wenn Bildung Spaß machen würde, wäre sie vermutlich verbreiteter.«

Und, um es vorwegzunehmen, eigentlich ist es auch genau so gekommen… also: naja… fast. Es begann im Garten-Pavillon eines hübsch gestalteten Wohnheims in attraktiver Innen- und exklusiver Altstadtlage für Stipendiat*innen aus der Kreativ-Wirtschaft und wir wurden – wie auf einem Schulausflug – beim Durchschreiten der Flure auf dem Weg dorthin von der Hausleitung völlig anlasslos mit der Mahnung begrüßt, aus gebührendem Respekt für diese noblen Menschen sich gaaanz leise verhalten zu müssen (ich weiß bis heute nicht, ob das nun Teil der Inszenierung war). An der ersten Station angekommen, gaben wir uns neue Namen und erhielten ein Päckchen mit diversen Utensilien, die im Laufe des Tages bedeutsam werden würden. Von herausragender Bedeutung für mich wurde vor allem eine Rettungsdecke, unter die sich zu begeben – ähnlich dem Codewort im BDSM – das Zeichen dafür war, dass man nicht Teil der diversen Aktivitäten sein möchte. Über ein Tau auf dem Weg zwischen den Stationen als Gruppe verbunden, wurden wir mit Klang- und Textauszügen über Kopfhörer sensorisch von unserer Umwelt depriviert und überwältigt. Und ja: Das war schon eine heftige Erfahrung der Erschütterung des Welt- und Selbstbezuges – eine Folter, der sich die jungen Leute und solche, die es gerne wären (und tatsächlich auch ich seit diesem Tag!), im öffentlichen Raum als eine krude Form des Genusses alltäglich freiwillig unterziehen (wenn auch – so mein Verdacht – weniger, um theoretische Exzerpte zu rezipieren). Die von Studierenden im Seminarkontext mit JAJAJA spürbar intensiv erarbeiteten Stationen waren zum Teil aufwendige Konstellationen, die den nicht informierten Teilnehmenden (wie mir) übergangslos widerfuhren, spielten oft mit Konventionsverletzungen und provozierten Rollenverstößen, fokussierten bestimmte Sinne. Das war manchmal ein interessantes Befremden, bis hin zur verstörenden Neuvermessung genuin leiblicher Erfahrung (Wacquant 2010) – und zwar genau dann, wenn es sich eben nicht um milieukulturell überraschungsarme, lineare Ableitungen gesellschaftspolitisch einschlägiger Topoi (dabei war es doch NoRoom!) von als distinktiver dann doch auch populärer ›Kritik‹ handelte – wie der an ›Konsum‹. An solchen Stellen wirkte es mitunter durchschaubar und aufgesetzt (oder schlicht bekannt: wie die Nachbildung

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von Schlingensiefs Migranten-Lotterie – an welcher sich aber, zur Ehrenrettung, auch nur die wenigsten Teilnehmenden beteiligten). Hier wurde aus dem ›(Ver-)Suchen‹ dann doch rasch nur ein ›Experiment‹ im neuzeitlichen Sinne des überdeterminiert-kontrollierten, auf Wiederholbarkeit angelegten ›Versuches‹ im (Pädagogik-)Labor. Und weil umgekehrt all das von mir hier an diesem ›Silent-Walk‹ Kritisierte auch nahezu in gleicher Weise gegen diesen Text genauso zutreffend vorgebracht werden könnte (ey, Mann, Rößler: nicht schon wieder Arendt, Benjamin, Willis und Wacquant…) – und es eben dort auch die anderen Momente für mich gab; die für andere vermutlich auch wieder ganz andere gewesen sind, spricht absolut nichts davon gegen das Format selbst oder mindert gar die Relevanz und Eignung als Beitrag zur ersten Phase der Lehrer*innen-Bildung – bildsamer als das 387. Seminar zur ›Projektmethode‹ war es bereits, bevor es überhaupt begann. Aufgrund der Vielzahl an Impressionen abschließend nur noch einige Schlaglichter auf das Event, die allein aufgrund der Tatsache, dass sie mir – anders als mancher Titel der ›Politikdidaktik‹ direkt nach der Lektüre – nach einem Jahr immer noch erinnerlich sind, den Erfolg der Veranstaltung bereits hinreichend ausweisen: •





Die Gruppe blödelt irgendwie mit Ballons auf dem Gehsteig herum, die Polizei hält an und fragt, was los sei – nachdem sie informiert wurde, dass es ›Kunst‹ und ›wissenschaftlich‹ (also »von der Uni«) sei, wägen sie kurz ab und entschließen sich dann, lieber nicht einzuschreiten… (und später, beim eher albernen ›Wir tanzen richtig frech auf der Straße, bis die Autos zu hupen beginnen‹, lassen sie sich gar nicht mehr blicken). Großartig fühlte sich die Begehung der Lobby des Fünf-SterneHotels an, nicht zuletzt durch die Irritation der Gäste, die als Herr*innen der Welt (zumindest der Bamberger…) es nun einmal nicht gewohnt waren, in etwas ihnen zudem Unverständliches passiv involviert zu werden. Zur Überbrückung einer längeren Wegstrecke waren die Teilnehmenden ernsthaft aufgefordert, den anderen über ein umhergehen-

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des Mikrofon bedeutungsschwangere und gefühlige Impulse in Frageform an die Kopfhörer zu senden – der sich umgehend einstellende Überbietungswettbewerb, wer denn wohl der vom allgemeinen Elend Allerbetroffendste oder die Empathischste und ihre eigenen Privilegien am schonungslosesten Reflektierende sei, konnte nicht anders als durch klamaukige Interventionen zum Selbstschutz auf die Dauer ertragen werden. Hier raunte doch, für meinen Geschmack, allzu sehr »der permanent Leerformeln repetierende Mittelstand, aus dem sich Bildungsreformer und Lehrer rekrutieren.« (Pohrt 2019, 75f.) Die Begehung des Lost Space eines geschlossenen Schwimmbades aus der ›Bonner Republik‹ hatte einen weit größeren Reiz als die am Ende obszöne, sich mehr oder weniger urwüchsig einstellende stellvertretende Inszenierung von Flüchtlingsschicksalen im (leeren) Becken dort.

Der einprägsamste und langanhaltendste Moment aber – und hierfür bin ich ehrlich dankbar – war die in aller Konsequenz vorgegebene und durchgehaltene Unschuldigkeit eines sachlichen Interviews, die diesen intellektuell völlig überfordernde Konfrontation eines Kiosk-Betreibers, der sein Schaufenster nachgerade ikonisch als kitschiges Sammelsurium kleinbürgerlich-faschistischer Ästhetik ausgestaltet hat6 , mit seiner ›Verantwortung als Künstler‹. In der Situation selbst war es – auch körperlich zu erleiden – eine ans Unerträgliche gehende Pein-lichkeit der Fremdscham gerade in der souveränen Vorführung der Hilflosigkeit dieses Menschen. Im Nachgang aber wurde mir an diesem Tag einsichtig wie nie zuvor (und die weitere Entwicklung bekräftigt diese Einsicht seitdem immer wieder), dass die reale Gewalt, die von solcher Dummheit ausgeht, die Verrohung und die Vergiftung und Zerstörung des ohnehin bislang allgemein nur bescheiden verwirklichten

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Die in Inhalt wie Form vollendet den eigenen Selbsthass als Menschenfeindlichkeit externalisiert: Spott, Häme und Verachtung für Merkel, Migrant*innen und Akademiker*innen.

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zivilen Umganges – und zwar: selbst ohne Not und bar jeden Mitgefühls –, wohlgemerkt: im Rahmen eines Dialoges, als dem essentiellen Modus eines demokratischen Gemeinwesens (und als materiellen Ausdrucks wirklicher Humanität), jeden Anspruch auf Schonung aus letztlich selbst- und weltzerstörerischem, also selber dummen schlechten Gewissen (eine Folge der mentalen Verheerungen gegenwärtig grassierender, vermeintlich ›emanzipatorischer‹ Identitätspolitik) verwirkt: Sie, die Humanität als Schwäche verachten, zugleich ständig sich selbst zum Opfer erklären, sollten die Härte, die sie vergöttern und anderen leichtfertig antun, auch spüren. Und diese Einsicht führt direkt in die Gegenwart (als dem Zeitpunkt der Abfassung dieses Textes):

2020 Ich schreibe diesen Text, wie es sich für einen ökologisch sensiblen Angehörigen der Weltkultur- und Funktionselite gehört, im Zug, d. h. also unter einer Maske – der sogenannten Mund-Nase-Bedeckung. Sie sollte mich daran erinnern, dass in weiten Teilen der Welt das Sterben erst losgeht – aber ich sitze im Zug und komme von der Klausuraufsicht in einer Welt, der Welt der bundesdeutschen Hochschulen7 , in der ohnehin schon privilegierte junge Leute ihren gehobenen Berufsqualifikationswünschen als Einkommensaspirationen weiter nachgehen können, als wäre nichts geschehen, und in der gefälligst die Prüfungsformate auch noch die gleichen bleiben sollen, die sie ›schon immer‹ waren. Die allgemeine, in der gesamten Bevölkerung zu beobachtende Infantilität, einfach wieder, Epidemie hin, Pandemie her, zu einem ›normalen‹ und das meint wesentlich: das ›alte‹ Leben zurückkehren zu wollen – welches, genau genommen, schon immer sich über »die alltägliche Gewalt, die wir an uns selbst verüben müssen, um diese Wirklichkeit als Normalität ansehen zu können« (Rößler 2014, 92), hinweg getäuscht hat, 7

Diese konkreten Situationen stehen hier stellvertretend für Verallgemeinerbares, Typisches, eben nicht Besonderes und wären als solches auch gar nicht von Belang.

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erinnert mich dabei irgendwie an die verstörende Beobachtung Arendts 1950 bei einem Besuch der gerade gegründeten Bundesrepublik: »Überall fällt einem auf, daß es keine Reaktion auf das Geschehene gibt, aber es ist schwer zu sagen, ob es sich dabei um eine irgendwie absichtliche Weigerung zu trauern oder um den Ausdruck einer echten Gefühlsunfähigkeit handelt. Inmitten der Ruinen schreiben die Deutschen einander Ansichtskarten von den Kirchen und Marktplätzen, den öffentlichen Gebäuden und Brücken, die es gar nicht mehr gibt. Und die Gleichgültigkeit, mit der sie sich durch die Trümmer bewegen, findet ihre genaue Entsprechung darin, daß niemand um die Toten trauert« (Arendt 1999, 44). Nach einem plötzlich digitalen Semester, das sich erstaunlich rasch in der Tat ›normal‹ angefühlt hat, als vollziehe die Hochschuldidaktik nun nur noch nach und offenbart darin, dass die Nische der universitas und ihres genuinen Ethos bereits seit Langem implodiert und seit Bologna schon tot, aber huhnhaft-kopflos bis in die Gegenwart weitergestolpert ist…8 Das Digitale – auf einmal, wo die Voraussetzungen gegeben sind, also in den urbanen Angestelltenkulturen, alles cool mit VideoKonferenz und Homeoffice, wo nicht, in den Wohnfabriken und auf dem Land, nur bedingt… –, funktioniert auch deshalb, weil es in Wirklichkeit auch gar nicht darum geht, ›sich‹ zu ›begegnen‹9 , und das, was 8

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Ein rapider Bedeutungs- und Statusverlust, der sich in der gleichen Zeit auch ganz konkret und materiell zunächst in einer signifikanten unmittelbaren (und, aufgrund seiner strukturell kaum streikfähigen Geltungsbereiche, auch dauerhaften – wie auch die aktuelle Situation zeigt, macht es erstmal überhaupt keinen Unterschied, ob Universität stattfindet oder nicht) Schlechterstellung im Entgelt wissenschaftlicher Angestellter nach Abspaltung des Tarifvertrages der Länder von jenem für den öffentlichen Dienst, also den Bund und die Kommunen, in der Nachfolge des BAT zeigte, und nun mit einer faktischen Verdopplung des Lehrdeputats des neu geschaffenen und sich im Stellentableau langsam ›normalisierenden‹ und bestimmend werdenden Stellentypus von Hochdeputatsstellen noch einmal drastisch verschärft. Im vorgenannten Sinne eines nur vermeintlich ›normalen‹ Zuvor war aber auch die Redeweise von der ›echten Begegnung‹ ohnehin immer je schon ideologisch: »Gerade deshalb aber wird Begegnung angepriesen, organisierte Kon-

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man sich eh nicht zu sagen hat, auch gut in Hemd und Pyjama-Hose erzählt werden kann. Die sich im Ausnahmezustand unter der Hand einvernehmlich und endgültig einstellende und als Zugewinn an Einarbeitungszeit für die neuen Lehrformate begrüßte Freistellung von den Lästigkeiten der ohnehin nur noch rudimentären akademischen Selbstverwaltung und ihrem Klein-Klein zeigt nur den Verbreitungsgrad dessen an den Hochschulen (wie auch in der Gesellschaft), was etymologisch der ›Idiot‹ (Art. ›Idiot‹ 200224 ) und das ›Private‹ (Art. ›privat‹ 200224 ) einmal gemeinsam als Vorwurf gegenüber ›der der Mitwirkung an den öffentlichen Angelegenheiten beraubten Einzelperson‹ gemeint haben. Von den Personalvertretungen und in den Betrieben wird die direktive Krisenbewältigung vermutlich konflikthafter begleitet werden – aber auch nur, weil die Konsequenzen auch existenzieller sind und daher durch höheres Erpressungspotenzial im Sinne des Beschäftigungsschutzes für die Belegschaften gekennzeichnet. Ich schreibe jetzt (und zwar auf dem allerletzten Drücker) diesen Text im Zug mit Maske, weil ich vor fast genau einem Jahr am ›NoRoomPolitics‹-Experiment in Bamberg teilgenommen und einen Beitrag im zugehörigen Band zugesagt und dabei auf die ›blitzhafte Erkenntnis‹ vertraut habe, die sich bisher stets beim Verfassen von Artikeln unmittelbar eingestellt hat. Bisher, denn stattdessen finde ich mich nun aber seit März diesen Jahres intellektuell in einer Art pandemischer Schockstarre10 , drücke staunend über das, was ›Exponentialität‹

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takte von der Sprache mit Leuchtfarbe beschmiert, weil das Licht erlosch. […] Der Überschuß im Wort Begegnung, die Suggestion, es ereigne sich bereits etwas Wesenhaftes, wenn Hinbestellte sich unterhalten, hat ebenso jene Täuschung zum Kern wie die Spekulation auf Hilfe im Wort Anliegen. […] Auf den Begegnungen, wo der Jargon schwatzt und von denen er schwatzt, ergreift er Partei für das, was er mit dem Wort Begegnung verklagt, die verwaltete Welt.« (Adorno 19705 , 67f.) Die Dinge – bzw. der Umgang damit – sind in der Regel zeitgeschichtlich ja selten ohne Vorbild, jedenfalls nicht immer wirklich ›so neu‹, als welche sie den Zeitgenoss*innen, denen die Superlative schnell zur Hand sind, erscheinen und in der Medienlogik auch müssen – ich frage mich (ernsthaft, weil ich

»Wenn Bildung Spaß machen würde, wäre sie vermutlich verbreiteter.«

wirklich bedeutet, regelmäßig die F5-Taste in den in Browserfenstern geöffneten Dashboards des RKI (tagesaktuell) und der Johns-HopkinsUniversität (realtime) und bin auf einmal selbst in voller Konsequenz mit der Ambivalenz jener »Ereignishaftigkeit menschlicher Angelegenheiten« konfrontiert, die sich persönlich so unbetroffen wie folgenlos den Anderen angesichts von 9/11 (2001), globaler Banken- und Finanzkrise (2007) und bis in die Metropolen vordringende Fluchtmigrationen (2015) mit Leichtigkeit ins Poesiealbum politischen Denkens schrieben ließ – gegen den Machbarkeitsgestus der Moderne und allerlei Identitätsfiktionen eines ›Wir‹ und von ›Gemeinschaft‹ (und zwar mit Recht, wie allein diese willkürliche Auswahl von Daten belegt). Fiktionen, wie sie auch im – im Wortsinne – billigen Applaudieren auf Balkonen in den provinziellen Nischen der Suburbs und Einfamilienhausidyllen gepflegt werden. Wie belastbar die Inszenierungen von Solidarität wirklich sind, wird vermutlich erst der Anstieg der Infektionen im Herbst in der Fläche zeigen – nämlich gar nicht: Betrauert werden immer nur die ersten Toten, bevor das Sterben ›normal‹ wird (siehe oben) und sich jede*r selbst die oder der nächste. Ich schreibe jetzt von mir, weil ich mich auf das cogito ergo sum zurückgeworfen sehe, wenn ich für den vorliegenden Band (aber auch durch den anscheinend unaufhaltsam-zwingenden Lauf der Dinge: Hashtag ›Klimawandel‹) eine Zukunft ohne Welt zu denken aufgefordert bin – wobei es mir syntaktisch leichter fällt als intellektuell. Ich schreibe auch deshalb von mir – und finde es so problematisch wie eben darum die Möglichkeiten kultureller als politischer Bildung überhaupt ihre subjektkonstituierende Reichweite und politische Grenze zugleich in jener gläsernen Decke der Introspektion haben. Zwar gilt: »Bildung ist nichts anderes als Kultur nach der Seite ihrer subjektiven Zueignung.« (Adorno 2003, 94) Dennoch hat Kultur »Doppelcharakter.

es eben nicht weiß, und auf die Gefahr hin, dass es ein dummer Gedanke ist), ob es mit dem Aufkommen des HI-Virus, inklusive hässlicher (menschenfeindliche Ausschlüsse propagierender) Volkskörperhygienediskurse, nicht vielleicht nicht ganz unähnlich war?

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Er weist auf die Gesellschaft zurück und vermittelt zwischen dieser und der Halbbildung.« (Ebd., 94) Es ist zum Irrewerden: Man nimmt an einem Experiment teil – und plötzlich verändert sich die Welt. Politische Bildung als Teilchenbeschleuniger? Eher nicht. Wobei sich die konventionelle Politische Bildung durchaus vortrefflich auf die Herstellung Schwarzer Löcher versteht; jedenfalls besser als auf die Bildung eines emphatischen Begriffes von ›Mündigkeit‹; jenseits des üblichen Clichés vom zu oft implizit neoliberal gewendeten, dem »erschöpften Selbst« (Ehrenberg 20116 ) im Angesicht seiner realen gesellschaftlichen Ohnmacht jetzt auch noch aufgebürdeten »Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit« (Kant 200413 ). Da ist sie nun also, die andere, hässliche Seite der Ereignishaftigkeit des Politischen: ›Brennglas Corona‹ – vielleicht noch in einem viel radikaleren Sinn als der offensichtlichsten Verschärfung der gesellschaftlichen Widersprüche und Ungleichheiten (die gleichwohl im Gestus des Überrascht-Seins in den Verlautbarungsorganen der ›bürgerlichen Mitte‹ mediatisiert wird). Kommt jetzt vielleicht erst Webers zu Beginn des 20. Jahrhunderts formulierte »Entzauberung der Welt« (vgl. Weber 2002, 19) zum Tragen, der Furor der Moderne, wie er im Kommunistischen Manifest im 19. Jahrhundert beschrieben ist? »Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.« (Marx/Engels 1956ff., 465) – Setzt sich heute mit dem ›Ende der Geschichte‹ also die eine der beiden koinzidenten Revolutionen, welche am frühen Anfang jenes 19. Jahrhunderts stehen (vgl. Hobsbawm 2017), endgültig durch? Was, wenn nicht Social-Distancing, ist schon immer Gebot der erfolgreichen (d. h. zunehmend: überhaupt nur noch existenzsichernden) Existenz im verabsolutierten Tauschverhältnis gewesen?

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»Fun ist ein Stahlbad«11 – Dumm und Dümmer 2020. Das Jahr, zu dessen Beginn in Hanau neun Menschen aufgrund allein eines unterstellten ›Migrationshintergrundes‹ ermordet werden. Zu einer Zeit, in welcher der live gestreamte Anschlagsversuch auf die Synagoge in Halle mit zwei Toten sowie der Mord am Regierungspräsident Walter Lübcke gerichtlich aufgearbeitet werden. Das Jahr, in welchem das sich auch innerhalb der Bundeswehr verselbstständigte ›Kommando Spezialkräfte‹ (KSK) wegen ›rechtsextremistischer Umtriebe‹ in Verbindung mit der Unterschlagung von Waffen und Munition von einer CDU-Verteidigungsministerin (!) aufgelöst bzw. ›reformiert‹ wird und die Meldungen zu irgendwelchen sich militant organisierenden Bürgerkriegsphantast*innen samt ›Feindeslisten‹ und mittlerweile unzähligen Adressat*innen – wobei sich tatsächlich auch ein dezidiert frauenhassender Schwerpunkt abzeichnet – gewaltgeil (und rechtschreibschwach) genüsslich ausgestalteter Drohmails und -briefen beinahe alltäglich sind. (Und dies sind nur Vorgänge, die beim Verfassen dieser daher notwendig unabgeschlossenen Aufzählung unmittelbar in Erinnerung gekommen sind.) Das Jahr, in welchem nach ersten ›Achtungserfolgen‹ querfrontlerischer ›Mahnwachen für den Frieden‹ (vgl. Wöhr 2015) und dem Durchbruch mit PEGIDA in ›Mitteldeutschland‹ seit 2014 die Verschwörungsmythen der Feinde eines zivilen öffentlichen Umgangs ›endlich‹ im Verbund mit der Globuli-Fraktion des (Klein-)Bürgertums mit Hilfe notwendig diffuser ›Hygiene-Demos‹ einen Weg gefunden haben, den täglichen Wahnsinn des Internets mit erschreckendem Mobilisierungspotenzial auf die Straße zu tragen (und trotzdem der himmelschreiende Unfug einer Rede des ›Die-Sorgen-der-Bürger-Ernstnehmens‹ nicht abklingt). Die mangelnde Verallgemeinerbarkeit von Vernunft besteht eben auch darin, dass bis heute in einem stabilen zweistelligen Prozentanteil der Bevölkerung mindestens antidemokratisch-autoritäre, zum Teil

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auch offen faschistische Einstellungen vertreten werden, im Falle eines nur schlecht als ›Israelkritik‹ getarnten Antisemitismus auch ein deutlich höherer (vgl. Hagemann 2016, 37) – zudem sozialchauvinistische und frauenverachtende bis weit in die sogenannte ›bürgerliche Mitte‹ hinein, wie beispielsweise die Studien zur ›Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit‹ um Wilhelm Heitmeyer (vgl. 2011) belegen. Unbeschadet der Notwendigkeit aller Vernunftkritik ist die Leugnung des Zwingenden der Vernunft also das Gegenteil von Befreiung. Hier zeigt sich tendenziell abermals ein historisch aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bereits hinreichend bekanntes Bündnis von Mob und Elite (vgl. Arendt 20007 , 702ff.), welches schon einmal in der Lage war, in einem verheerenden Vernichtungskrieg einen ganzen Kontinent, eine ganze Welt in Brand zu setzen und in Schutt und Asche zu legen und durch einen industriellen Massenmord ein beispielloses Verbrechen gegen die Menschheit, nicht bloß die Menschlichkeit, zu begehen. Es muss schlicht festgehalten werden, dass sich in der politischen Kultur der Bundesrepublik bis heute noch der Umstand auswirkt, dass die demokratische Verfasstheit unserer Gesellschaft in erster Linie das Ergebnis einer von der deutschen Bevölkerung durchaus nicht gewollten und wesentlich nur militärischen Niederlage des Nationalsozialismus ist. Etwas überspitzt ließe sich sogar sagen, dass zumindest in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik die staatlichen Institutionen im Ganzen mitunter eher im Einklang mit und auf der Wertegrundlage des Grundgesetzes gehandelt haben als nicht geringe Teile der Bevölkerung. Wobei dieses ›mitunter‹ auch nur relational und nicht absolut eher etwas über die demokratische Verfasstheit der bundesdeutschen Bevölkerung als über das Selbstverständnis der staatlichen Akteur*innen (die ja oft genug auch nur deren Abbild sind) aussagt: Mitten im Sommer dieses Jahres beispielsweise gelingt der Gewerkschaft der Polizei in Heft 7 ihrer Mitgliederzeitschrift ›Deutsche Polizei‹ das Kunststück, im Kommentar ihres stellvertretenden Bundesvorsitzenden unter der

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Abb. 1: Völlig unironisch gemeintes Titelbild

Heft 7/2020 der DP – Deutsche Polizei

Überschrift »Pauschalitäten vermeiden – Konstruktiv [sic!] reflektieren« festzustellen, dass »[n]ur eine sachliche und konstruktive Debatte im Miteinander über vermeintliche Ursachen oder mutmaßliche Entwicklungen […] zielführend sein« (Schilff 2020, 2) kann; dann nämlich, wenn der durch den gewaltsamen Tod von George Floyd in den USA auch in der Bundesrepublik wieder ins öffentliche Bewusstsein gekommene strukturelle Rassismus der Repressionsorgane thematisiert

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wird. Im selben Heft aber werden unter dem offenbar völlig unironisch gemeinten Titel »Linksextremismus – Brutal. Zynisch. Arrogant« im Leitartikel weiterhin tradierte Feindbilder (wie die Hufeisentheorie) gepflegt und die »Erben der RAF« zur Freude der einfachen Schutzfrau und des einfachen Schutzmannes mit einem »Gestatten: Elite« vorgestellt. (Vgl. Dienstbühl 2020) Das ist es dann wohl, was man gemeinhin die Unfähigkeit, politisch zu denken, nennt. Oder in anderen Worten: »Die Vernunft ist so obsolet geworden, daß man sie nur in Archiven und Bibliotheken findet. Sie ist nicht die herrschende.« (Pohrt 2019, 315f.)

Aus der (sozialen) Distanz: Tentatives zum Verhältnis von ›Theorie‹ und ›Erfahrung‹ Es lässt sich über andere Dinge eigentlich gar anders als eben anders sprechen. Jeder Versuch eines anderen Sprechens – im Sinne einer probehandelnden Auslotung – muss aber, um dennoch verständlich zu bleiben und nicht mehr oder weniger bewusst – oder durchs Ressentiment! – von vorneherein disqualifiziert zu werden, vor allem durch vielfältige und -fache Abgrenzungen und raumgreifende Bestimmungen, wie man es nicht meint, erst diskursfähig werden und bleibt in dieser Relationalität insofern doch auch wieder konstitutiv auf jenen Diskurs, von welchem sich zu unterscheiden der Ausgangpunkt war, bezogen. Ausgehend vom elaborierten Anspruch an »Politische Bildungen nach dem Ende der Zukunft« (siehe die Eröffnung für diesen Band von Werner Friedrichs) dokumentiert der vorliegende Beitrag nun den aufrichtigen Versuch, sich gewissermaßen auf eine »kontakttheoretische« (ebd.) Spurensuche nach den eigenen und ›leibhaftigen‹ Widerständen innerhalb des ›Bamberger Experimentes‹ von 2019 zu begeben – und zwar für den Verfasser wie vermutlich auch die Lesenden durchaus quälend, auch ein bisschen peinlich, immerhin mit dem Anspruch, diese Erfahrung nicht umgehend zu zertheoretisieren. Diesem Impetus nachspürend folgt daraufhin – wohlwollend ließe sich sagen: mit der schonungslosen Ehrlichkeit neuzeitlicher Tagebuchschreiber kokettierend – zunächst das Ein-

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geständnis der eigenen Ratlosigkeit angesichts eines fundamentalen Betroffen-Seins, das in 2020 tatsächlich plötzlich den kontrollierten Rahmen eines experimentellen Settings verlässt und dessen Prämissen, die eben nicht die eigenen sind/bisher waren, im eigenen Selbst- und Weltverhältnis als Erfahrung einer Zäsur, also über das rein Kognitive hinaus, wirksam werden lassen. Aufs Beunruhigendste beruhigend zeigte sich daraufhin (im Abschnitt »Fun ist ein Stahlbad« – Dumm und Dümmer) – oder ist dies doch nur die ›Selbst‹-Täuschung, die es vielmehr hofft? Eine Resouveränisierungsfiktion? –, dass die eigenen theoretischen Gewissheiten dennoch politisch immer noch gültigen Orientierungswert haben, respektive zu haben scheinen. Und also auch die eigenen Widerstände ihre Berechtigung? Die Reflexion auf Gesellschaft »beginnt, wenn der naturwüchsige Verband sich darstellt als einer, der auch anders sein könnte. Dies ist der Fall, wenn ein anderer naturwüchsiger Verband anders ist. […]. Aus der Auflösung ursprünglich unmittelbarer Identität von Gesellschaft und Natur wiederum gehen die Individuen hervor – von nun an wird Geschichte überhaupt erst dialektisch: Als von Natur verschiedene ist die gesellschaftliche Bestimmung von den Menschen verschieden, die unabänderlich Naturwesen bleiben. Als von Gesellschaft verschiedene ist die Natur von den Menschen verschieden, die niemals reine Natur sind, sondern stets historisch und gesellschaftlich modifizierte. Solche Lösung der Personen aus ihrer ursprünglichen unmittelbaren Identität mit dem Gemeinwesen und mit der Natur wiederum ist Voraussetzung, zwischen den beiden letzteren zu unterscheiden.« (Pohrt 2019, 113) »Was tun?« Diese, unter anderem von Lenin, dem das politische immer auch als ein pädagogisches Verhältnis galt – und umgekehrt – (vgl. Lenin 1970), und sich auch historisch-konkret stets mit Notwendigkeit politisch stellende Frage – zumindest, solange es noch darauf »ankömmt«, »die Welt zu verändern« (Marx 1956ff., 7), und wann tut es das nicht? – ist auch der Titel der Neuerscheinung eines erst 2018 veröffentlichten Textes von Louis Althusser von 1978, in welchem er (s)einen Begriff von Theorie bestimmt jenseits einer »absolute[n] Philosophie, die alles weiß, die absolut alles von vornherein weiß, weil sie nach einer treffenden Formulierung des Aristoteles die ›Wissenschaft von den ers-

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ten und letzten Prinzipien‹ ist« (Althusser 2020, 52f.), die aber zugleich sich ebenso abgrenzt von einem ›absoluten Empirismus‹ in der Manier Gramscis und von daher mitten in das vom Bamberger Experiment als eines von ›Theorie‹ und ›ästhetischer Erfahrung‹ aufgeworfene und daher hier interessierende Spannungsfeld zielt. Es kann – wie immer: es ist im Grunde die alte Kontroverse um den Pragmatismus – sowohl für wie gegen ästhetische Versuche sprechen, Politische Bildung unter den epochalen Imperativen des Antipolitischen zu betreiben, dass das »›Zufallsspiel der Erfahrung‹ meist nichts anderes ist als die Form, welche die Ideologien annehmen, um sich einem gesellschaftlichen Individuum aufzuzwingen. […] Die Ideologien sind nicht schlicht und einfach ›Ideen‹ (etwas, das so gar nicht existiert): Weil sie immer auf die Praxis bezogen sind, weil sie immer ein bestimmtes System von praktischen Urteilen und Haltungen inspirieren, muss man sie vielmehr in ihrem Körper, als körperliche Aktivität und als in den Körpern begreifen.« (Ebd., 34) Insofern kann überhaupt auch nur ein experienteller (also erfahrungsbezogener) Zugang es leisten, die konkrete Praktiken gewordenen Ideologien durch andere Praktiken und darum andere Ideologien ansichtig und in ihrer subjektkonstituierenden Funktion auch grundsätzlich vorstellbar zu machen. Subjekte »wissen immer viel mehr (oder viel weniger) als sie wissen. Und dieses viel mehr sagen sie nicht, denn sie wissen nicht, dass sie es wissen. Und dieses viel weniger wird von dem verdeckt, was sie zu wissen glauben« (ebd., 14) – hier zeigt sich aber auch der Prüfstein, der jeweils den Unterschied ums Ganze macht, denn wenn diese andere Praxis sich der anderen Ideologie, die sie verkörpert (bzw. oft noch nicht einmal das) nicht als solche bewusst wird, dann halten ästhetische und Politische Bildner*innen »das Selbstbewusstsein für das Wissen, doch ihr Selbstbewusstsein steht

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ihrem Wissen im Weg.« (Ebd., 37)12 Und für beides hat das Bamberger Experiment wohl Beispiele geliefert. Die vermeintlich ›andere‹ Ideologie, die faktisch aber ›dieselbe‹ ist, ist die künstlerische Praxis als einer überlegenen – in welcher kritische Theorien der Gesellschaft antiintellektualistisch gewendet plötzlich als ästhetische begegnen, die das ›Verkopfte‹ durch bloß inszenierte Unkonventionalität aufbrechen wollen. Es ist dann so, »als würde man ein Fußballspiel ›analysieren‹, indem man die Zusammensetzung der Mannschaften und nicht ihr Aufeinandertreffen analysiert, ohne das es auf der ganzen Welt keine Fußballmannschaft gäbe« (ebd., 11), anstelle »den Antagonismus als das zu begreifen, was seine beiden Seiten konstituiert« (ebd., 15) – den gesellschaftlichen Antagonismus, notabene, der sonst im illusorischen Gestus der Kritik einfach nur weiter prozessiert wird. »Wenn die Menschen sich der materialistischen Lehre zufolge im praktischen Umgang mit den Dingen bilden, dann sind reich und vielfältig entwickelte Individuen nichts anderes als die reiche Mannigfaltigkeit und Brauchbarkeit der gegenständlichen Welt als Subjekt. Fehlt solcher Umgang mit den Dingen, und ist die gegenständliche Welt eintönig und unbrauchbar geworden, dann ist die Verkümmerung und Verwahrlosung der Individuen eine zwangsläufige Konsequenz.« Es irrt der Glaube, »auf pädagogischem Wege den selbst nicht pädagogischen, sondern sehr realen Grund für die Regression des Sprachvermögens kompensieren zu können: Die Armut und Nichtigkeit des Lebens verkrüppelter

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»[…], dass ebenjener Arbeiter mehr wissen kann, als er zu wissen glaubt, und dass er ebenso […] weniger wissen kann, als er zu wissen glaubt. Und paradoxerweise weiß er nicht automatisch dann mehr, als er zu wissen glaubt, wenn er am ›bewusstesten‹ ist. Er kann dann wie geblendet sein von den ersten Wahrheiten des ›Bewusstseins‹, das er erlangt hat: Das lässt sich bei den Aktivisten beobachten, für die das Einmaleins des Bewusstseins eine Art absolutes Wissen wird, das sie blind macht, für einen Teil ihrer eigenen Lage und nicht zuletzt für die Lage ihrer Genossen.« (Althusser 2020, 37)

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Menschen in einer unbrauchbar gewordenen gegenständlichen Welt, in dem nichts passiert, was erzählenswert oder auch nur erwähnenswert wäre. […] [Es] folgt aus dem Umstand, daß die Sprache entbehrlich geworden ist, das Kapital aber entbehrlich Gewordenes nicht gelten läßt: Entweder die Menschheit schafft das Kapital ab oder das Kapital die Gattung Mensch. Vielleicht ist das schon längst passiert, nur hat es noch keiner gemerkt.« (Pohrt 2019, 73, 74, 77) Alle Hoffnungen auf eine andere, gar bessere Welt nach der Pandemie sind unbegründet. Die Freiheitsgrade der Nischen, die sich in der allgemeinen Überforderung und einer daraus resultierenden hohen Fehlertoleranz derzeit auftun, besorgen zwar eine höhere Bereitschaft, tradierte Welt- und Selbst-Verhältnisse insbesondere in Bezug auf die internalisierte gesellschaftliche Organisation von Produktion und Reproduktion infrage zu stellen, ihr ambivalentes bloßes ›Erleben‹ allein aber, das als durchaus positives eben jene Bereitschaft zur Einstellungsänderung besorgt, kann – über die Realisierung als Erfahrung hinaus – nur in einer informierten und reflektierten Denkbewegung (und das ist tatsächlich weiterhin die Anstrengung von ›Theorie‹ als Bildung – und vielleicht ist es genau diese Unbestimmtheit des Bildungsbegriffes, die ihn heute letztlich unvermittelbar macht) nur auch die faktisch potenzierten und mittelfristig unvermeidbar zu erwartenden Kontrollmöglichkeiten jener wesentlich technisch vermittelten ›Freiheiten‹ antizipieren und — wenn auch historisch nur mit geringer Aussicht auf Wirksamkeit, aber was bleibt sonst übrig? — gegebenenfalls politische Gegenstrategien entwickeln, die, wollen sie überhaupt erfolgreich sein, vermutlich eben keine (rein) ästhetischen sein werden.

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Abb. 2: City Action, alles dabei für die »sachliche und konstruktive Debatte« im Rahmen der Aufstandsbekämpfung – Cop-Culture als gesellschaftliche Praxis im Kinderzimmer

© Playmobil, 2012, ausverkauft

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für den Frieden‹ und ›Pegida‹. Bachelorarbeit. Carl von Ossietzky Universität.

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Spiel, Muße und Entscheidungen Reflexionen eines Experiments Josepha Zastrow

»What I’ve felt, what I’ve known, never shined through in what I’ve shown. Never be, never see. Won’t see what might have been. What I’ve felt, what I’ve known, Never shined through in what I’ve shown. Never free, Never me. So I dub thee unforgiven«. (Hetfield u. a. 1991).

1.

Einleitung

Ausgehend von meinen eigenen Erfahrungen im atopischen Experiment, beschäftige ich mich mit den Spannungsverhältnissen von Individuum und Gesellschaft, Entscheidung und Freiheit. Kein Individuum fällt seine Entscheidungen in einem gesellschaftsfreien Raum, sondern immer in einem dialektischen Spannungsverhältnis: Dieselbe Gesellschaft, die dem Individuum überhaupt Freiheit ermöglicht, schränkt seine Freiheit gleichermaßen ein. Um meine Doppelrolle als Teilnehmerin und Philosophin produktiv zu machen, nutze ich die essayisti-

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sche Form. Mein Ziel dabei ist der erkenntnistheoretische Zugriff auf gesellschaftliche Strukturen. Die Strukturen, die dem Individuum Freiheit verunmöglichen, werden deutlich gemacht und es wird diskutiert, ob und wie das Experiment, als Form von Spiel und Kunst, eine geeignete Methode für die politische Bildungsarbeit sein kann. Und somit dem Individuum zu mehr Freiheit innerhalb der Gesellschaft verhelfen kann. Den Fokus des Textes lege ich dementsprechend auf dem Zusammenhang von Erfahrung und Mündigkeit.

2.

Beobachtungen und Wahrnehmungen

12. Juli 2019 in Bamberg… Euphorisiert und melancholisch, zutiefst entspannt und gleichermaßen aufgeregt – so habe ich meinen Gefühlszustand in meinem Tagebuch am 12. Juli 2019 beschrieben. Und dass ich mir solche Erfahrungen im Leben öfter wünsche. Ich erlebte das Experiment wie einen Rausch, in den sich ein mulmiges Gefühl mischte: Einerseits fühlte ich mich frei und lebte den Moment, andererseits vermittelte das Experiment über politische Themen eine inhaltliche Schwere. Der Input gesellschaftsrelevanter Fragen hielt meine innere »Gedankenmaschine« am Laufen. Viele Fragen erschienen in meinen Gedanken: Darf man das? Was ist Gerechtigkeit? Wie leben wir? Wie wollen wir leben? Eine Szene hat mich nachhaltig beeindruckt: Kurz nach der Mittagspause kamen wir in einem Dachboden zusammen, wurden dazu aufgefordert unsere Kopfhörer abzunehmen und mit einer Situation konfrontiert, die an eine Casting-Show oder eine populistische Wahl erinnerte. Ein Teilnehmer bekam ein Mikrofon und teilte mit, dass er bei seiner Arbeit mit Geflüchteten in Bamberg immer wieder auf Probleme stoße. Mit anderen organisiere er wöchentliche Mahnwachen, um so Probleme in der bayrischen Integrations- und Asylpolitik öffentlich zu machen. Iris, ein Teil der künstlerischen Leitung, erklärte, dass wir »als Gemeinschaft die Möglichkeit hätten, einen Geflüchteten mit ins Boot zu holen« (Baud/Minich 2019, ab Minute 9:00), denn es gebe

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noch ein Kopfhörerpaar. Dann wurden zwei Bewerbungsvideos nacheinander abgespielt. Atna und Ibo betonten in kurzen Statements ihre Motivation und ihre Eignung für die Teilnahme am Experiment. Während Atna besonders seine Identifikation mit Bamberg und Deutschland hervorhob, betonte Ibo seinen lebensfrohen und charismatischen Charakter: Mit ihm sei der Spaß garantiert. Die Abstimmung fand per Online-Tool statt.

Die Entscheidung Aus der WhatsApp Gruppe, Hans Dampf um 12:58 Uhr: »Warum gibt es nicht für beide einen Kopfhörer? Warum muss man sich entscheiden?« Das Ergebnis der Auszählung: Atna bekam sieben und Ibo eine Stimme. Doch ein Blick in die WhatsApp-Gruppe zeigte, dass von 22 Wahlberechtigten1 nur acht ihre Stimme nutzten. Ohne an dieser Stelle über den Sinn von Wahlverweigerung zu diskutieren, kann die Entscheidung, mitzumachen, identifiziert werden: Entweder man stimmte ab, oder man stimmte nicht ab. Kaum eine*r erhob die Stimme und verweigerte sich der Situation. In diesem Moment der Entscheidung fühlte ich mich sehr unwohl. Metaphorisch wurde darüber entschieden, wer in der Gesellschaft leben darf und wer nicht. Eine Entscheidung, die unbedingt getroffen werden sollte, und bedingt getroffen wurde. Bewerbungsvideos und die Fähigkeit, sich selbst zu inszenieren, sollten nicht mit beeinflussen, ob jemand Teil der Gesellschaft sein darf oder nicht. Mein Herz begann schneller zu schlagen, meine Hände wurden schwitzig, und ich rang mit dem Gedanken, das Vorstellungs- und Abstimmungsgeschehen lautstark zu unterbrechen. Ich sagte mir selbst, dass es bestimmt viel effektiver für die gesamte Gruppe sei, wenn erst die Abstimmung

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Die Künstler*innen, die das Experiment anleiteten, habe ich aus dieser Rechnung rausgelassen.

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abgeschlossen, ihre Auswirkungen aber annulliert werden würden. Damit jede*r sehen könne, dass es nicht in Ordnung sei, so abzustimmen. Doch ich habe es nicht gewagt!

Ein Experiment im Experiment? In der Überzeugung, im Moment der Entscheidung das Geschehen mit den Worten »Ich muss dazu jetzt etwas sagen…« zu unterbrechen, hörte ich, wie ein anderer Teilnehmer sich einschaltete: Er teilte mit, dass er lieber auf seine Kopfhörer verzichten würde, als dass jemand nicht beim Experiment mitmachen dürfe. Mit seiner Entscheidung setzte er sich über die Auswahlmöglichkeiten hinweg, die es im ersten Moment zu geben schien: Abzustimmen oder nicht abzustimmen. Er hat nicht nur gegebene Strukturen verneint, sondern einen nicht vorgesehenen, dritten Weg gewählt: Er wäre für jemand anderen selbst aus dem Experiment ausgeschieden. Es stellte sich allerdings heraus, dass es doch genug Kopfhörer gab: Für alle drei. Es war nur ein Experiment im Experiment.

3.

Erste Deutungen

Entscheidung und Gesetze – Wer ist gestorben? In dieser Szene des Experiments ging es um nichts weniger als um Leben und Tod. Nicht zufällig wählte Iris die Boot-Metapher, um die Abstimmung einzuleiten: Sie ist nicht nur die allgemein geläufige, deutsche Rhetorik der politischen Auseinandersetzungen über Geflüchtete und deren Platz in unseren westeuropäischen Gesellschaften. Auch der existenzielle Charakter dieser Äußerung ist evident: Wenn jemand keinen Platz mehr in dem Boot hat, kann er*sie nicht überleben. Jemand, der*die in einer Silent-Walk-Performance keine Kopfhörer bekommt, kann an dieser weder passiv noch aktiv teilnehmen, höchstens von außen zusehen. Dieser Mensch ist für den Kontext des Experimentes gestorben. Und zwar faktisch in dem Sinne, dass er*sie keinen Platz mehr

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unter den ›Lebenden‹ einnehmen kann, diese ihn*sie auch nicht mehr hören oder sehen können, wie ein Gespenst. Ohne vorheriges Verhandeln oder Begegnen verbannt in eine Parallelwelt. Der Mensch, der aus dem Experiment ausscheidet, der aufgrund einer gemeinsamen Entscheidung im Kontext des Experiments stirbt, stirbt metaphorisch für alle Menschen, die auf der Flucht sterben. Der Ausgeschiedene kann aber auch für die Menschen stehen, die aufgrund von Armut oder Bildung nicht ausreichend an der Gesellschaft teilhaben. In dem Fall ist die Nicht-Teilnahme an dem Experiment metaphorisch als wesentlich unterprivilegierte Möglichkeit der Teilhabe an unserer Gesellschaft zu begreifen. Denn wer nicht gehört wird und nicht sprechen kann, aber faktisch am Leben ist, ist eklatant benachteiligt in der gesellschaftlichen Teilhabe. So entledigt sich die entscheidungsfähige Gesellschaft der Möglichkeit der Vielfalt. Wenn die gesellschaftlichen Umstände dem Menschen kein Leben im Sinne einer Entfaltung ermöglichen, kann nicht von einer gerechten Gesellschaft gesprochen werden.

Der Tod als Erfahrung Hier möchte ich zunächst die Erfahrung des Todes in den Fokus stellen: Der Tod kann, wie alle Überlegungen über ihn, nur von einem lebendigen Standpunkt aus gedacht werden (Berger 2020). Lebendig wird diese Erfahrung angesichts der Bedrohung des Lebens. Bei dem vernunftbegabten Wesen Mensch ist die Erfahrung der Lebendigkeit zugleich eine »intellektuelle Erfahrung« (ebd.). Ironischerweise funktioniert sogar die Redewendung »xy ist für mich gestorben« nur, wenn xy noch am Leben ist. Im Gegensatz zu einer tatsächlich gestorbenen Person, deren Verlust die Zurückgebliebenen mit dem Gefühl der Ohnmacht konfrontiert und nichts die Person wieder lebendig machen kann, drückt sich in der Redewendung aber eine Entscheidung aus: Es wurde die Entscheidung getroffen, dass xy für jemand anderen wie tot ist. Dieser Vergleich »wie tot« kann nur von einem lebendigen Bewusstsein vollzogen werden. Berger beschreibt den Prozess, den das Individuum dabei durchläuft, als einen in hegelscher Terminologie gefassten Pro-

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zess vom Bewusstsein zum Selbstbewusstsein: Der Mensch durchlebt in einer, wie oben beschrieben, lebensbedrohenden Situation einen Bewusstwerdungsprozess darüber, dass sein Körper und Geist getrennt sind. Der Körper lebt unmittelbar, doch der Geist hat die Freiheit, darüber zu räsonieren (vgl. ebd.).

4.

Philosophische Reflexionen

Erfahrung, Selbstbewusstsein und Verzweiflung Mit dem Begriff von Selbstbewusstsein wird ein Prozess der Erkenntnis beschrieben. Der Erkenntnisprozess ist ein wesentlicher Aspekt des Experiments. Und zwar genauer: der Prozess um das selbstreflexive Wissen, also das Wissen als Erfahrung. Was damit gemeint ist, will ich mit Hegel philosophisch reflektieren. Er beschäftigt sich in der Phänomenologie des Geistes (2011) mit der Frage nach dem absoluten Wissen. Dazu führt er den »Weg der Verzweiflung« (ebd., 61) als den methodischen Weg des Bewusstseins an, Wissen zu erlangen. Dieser Weg des Bewusstseins kann »als der Weg des natürlichen Bewusstseins, das zum wahren Wissen dringt, genommen werden; oder als der Weg der Seele […], indem sie durch die vollständige Erfahrung ihrer selbst zur Kenntnis desjenigen gelangt, was sie an sich selbst ist« (ebd., 60). Auch die Teilnehmer*innen am Experiment können über ihre Verzweiflung, an der Abstimmung im Experiment teilnehmen zu müssen, Erkenntnis darüber erlangen, dass die Entscheidung an sich schon moralisch fraglich ist. Selbstbewusstsein ist für Hegel ein Teil dieses Weges zur Erkenntnis. Eine Bewegung des Wissens. Dieses Wissen weiß von sich selbst und seinem Unterschied. Insofern hat das Selbstbewusstsein einen gedoppelten Gegenstand: Es weiß »das Wissen von sich selbst, im Verhältnisse zu dem Vorhergehenden, dem Wissen von einem Andern« (ebd., 121). Mit dieser reflexiven Bewegung wird die zentrale Rolle von Erfahrungen in Erkenntnisprozessen deutlich. Eine Erkenntnis, die in Bezug

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auf das Experiment und seine Eignung als Methode politischer Bildung besonders aufschlussreich ist. Ein weiterer zentraler Gedanke ist, dass Erkenntnis nichts ist, dass dem Prozess der Erkenntnis äußerlich ist. Der »Weg zur Wissenschaft ist dabei selbst schon W i s s e n s c h a f t , u n d n a c h i h r e m Inhalte Wissenschaft der Erfahrung des Bew u s s t s e i n s« (ebd., 68). Das Bewusstsein macht Erfahrungen, und darin liegt die Wissenschaft. Wahrheit2 wird daran gemessen, ob sich Begriff und Gegenstand entsprechen. Auch dieser Prozess ist eine Bewegung des Wissens (vgl. ebd., 62). Dem Bewusstsein bleibt dieser Bewegung des Wissens gegenüber »nur das reine Zusehen« (ebd., 65). Doch schon das Bewusstsein ist für Hegel eine Wissensbewegung, es ist etwas, das sich auf etwas bezieht und sich aber gleichzeitig davon unterscheidet (vgl. ebd., 64). Hier drückt sich sein erfahrungsbasierter Wissensbegriff aus. Das oben beschriebene Selbstbewusstsein ist bei Hegel eine Stufe über der des Bewusstseins: ein sich selbstreflexiv auf sich beziehendes Bewusstsein. Genau diese Bewegung des selbstreflexiven Bewusstseins spielt für die Teilnehmer*innen des Experiments eine zentrale Rolle. Sie beziehen sich fortlaufend auf die Ereignisse des Experimentes und auf sich selbst als Teilnehmer*innen. Und werden moralische Absichten artikuliert, wie im Falle der oben geschilderten Abstimmung, dann überprüfen die Teilnehmer*innen, ob das, was als moralisch behauptet wird, auch dem Gegenstand der Moral entspricht. Ob also tatsächlich moralisch gehandelt wird.

2

Hegel definiert Wahrheit dabei wie folgt: »Nennen wir das Wissen den Begriff, das Wesen oder das Wahre aber das Seiende oder den Gegenstand, so besteht die Prüfung darin, zuzusehen, ob der Begriff dem Gegenstand entspricht. Nennen wir aber das Wesen oder das an sich des G e g e n s t a n d e s den B e g r i f f, und verstehen dagegen unter dem G e g e n s t a n d e, ihn als G e g e n s t a n d, nämlich wie er für ein anderes ist, so besteht die Prüfung darin, daß wir zusehen, ob der Gegenstand seinem Begriff entspricht« (ebd., 65).

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Wissen und Entscheidung – eine Tragödie? Es geht um Wissen und Entscheidung. Ein Blick in die Menschheitsgeschichte zeigt, Entscheidungen und deren Tragweiten gehören zu den Themen, mit denen sich die Menschheit schon seit langer Zeit beschäftigt. In der griechischen Mythologie wird unter anderem in Antigone über das Verhältnis von Wissen und Entscheidungen verhandelt. Auch Hegel thematisiert Antigone in der Phänomenologie, da er in der Geschichte eine bestimmte Wissenskonzeption sieht (Bertram 2017, 181). An den Mythos von Antigone, Kreon und Polyneikes musste ich schon als Teilnehmerin während des Experiments denken, denn Antigone trifft eine Entscheidung, die mit den vorgegebenen Gesetzen ihrer Umgebung kollidiert: Obwohl es König Kreon nicht gestattet, entscheidet sie sich. Sie widersetzt sich damit dem weltlichen Gesetz und handelt, um ihrem Gesetz, dem göttlichen Gesetz, zu entsprechen. Indem Antigone ihrem eigenen Gesetz folgt, muss sie notwendigerweise das andere Gesetz brechen. Es kommt zu einer »Kollision zwischen Pflicht und Pflicht« (Hegel 2011, 305). Mit ›Gesetz‹ sind keine Gesetzestexte im judikativem Sinn gemeint, sondern die Vermittlung von Individuum und Gesellschaft auf struktureller Ebene. Ihren jeweiligen Gesetzen folgend, kollidieren Antigone und Kreon also nicht als Individuen, sondern als Figuren des jeweiligen Gesetzes, denn die gesellschaftliche Struktur ermöglicht noch kein Selbstbewusstsein der Individualität (ebd., 304ff.). Diese Struktur hat mich an das Experiment erinnert, da wir auch hier die Möglichkeit, als Individuum zu entscheiden, teilweise an die äußere Struktur abgaben. Dies war notwendiger Bestandteil der Spielregeln3 .

Entscheidung und Schuld Die beiden sich widersprechenden Gesetze in Theben können nur vor Antigones Tat nebeneinander existieren. Aber Antigone selbst kann vor 3

Auf die Bedeutung des Spielcharakters des Experimentes komme ich später explizit zu sprechen.

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der Tat nicht mehr existieren, denn: »[e]s ist noch keine Tat begangen; die Tat aber ist das w i r k l i c h e S e l b s t« (ebd., 304). Aber mit der Tat kommt auch die Schuld. Ein Verbrechen am anderen Gesetz ist dabei unausweichlich (ebd., 308). Die Schuld liegt dabei nicht beim Einzelnen, sondern verweist auf gesellschaftliche Strukturen oder Strukturen des Geistes, in denen sich die Individuen nicht verwirklichen können. »Unschuldig ist daher nur das Nichtstun, wie das Sein eines Steines, nicht einmal eines Kindes.« (ebd., 308) Kommt es zum Clash dieser Strukturen, so müssen beide untergehen (ebd., 310). Antigone kann nach der Entscheidung, ihren Bruder Polyneikes zu beerdigen, nicht mehr in Theben leben. Kreon verurteilt sie zum Tod durch Aushungern in einer Höhle. In der Höhle hat sie ihren Platz in der Gesellschaft bereits verloren, sie ist »[n]icht lebendig bei den Menschen. Noch bei den Toten ein Toter« (Sophokles 2000, 39). Hilft uns der Mythos von Antigone also für das Verständnis der Abstimmung über Ibo und Atna weiter? Um diese Frage zu beantworten, will ich zunächst eine andere Frage vorziehen: Was war eigentlich das (pädagogische) Ziel der Abstimmung? Ging es tatsächlich nur darum, dass die Teilnehmer*innen entweder abstimmen oder sich verweigern? Oder war es sogar vorgesehen, die Abstimmung subjektiv zu bewerten und gegebenenfalls abzubrechen? Dann wäre das Experiment eine Projektionsfläche für die Teilnehmer*innen, eine Möglichkeit der Reflexion. Sie sollten entscheiden. Doch wie? Ist auch hier das Nichtstun unschuldig? Ist die*der unschuldig, die*der nicht abstimmt? Leider nein, denn ein Verweigern der Stimme gibt zwar Aufschluss über die Stimmung in der Gruppe, aber verhindert keine lebensbedrohliche Situation. Wenn die Abstimmung an sich moralisch fraglich ist, weil eine geflüchtete Person nicht aufgrund des Ge- oder Missfallens ihres Bewerbungsvideo Zuflucht finden darf oder nicht, dann ist womöglich auch die Tat mit Schuld behaftet. Auch in unserem Experiment wäre eine Person durch ihr Handeln schuldig geworden und ›gestorben‹, jede*r Teilnehmer*in, die*der die Abstimmung unterbrochen hätte, wäre selbst ausgeschieden. Sicherlich: Die Geschichte von Antigone ist nicht die unseres Experimentes. Trotzdem bringt die weitere Diskussion Erkenntnisse über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft.

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Individuen in Gesellschaft In beiden Szenarien enden Entscheidungen in einer lebensbedrohlichen Situation für eine (im moralischen Sinn) unschuldige Person beziehungsweise für die durch die Tat schuldig gewordene Person. Bleibt nur die Schlussfolgerung, dass die Strukturen ungerecht sind. Klar ist hier auf gesellschaftlicher Ebene von völlig unterschiedlichen Strukturen die Rede. Doch abseits von Entwicklung der Menschenrechte soll hier die Vermittlung von Individuum und Gesellschaft als generelles Verhältnis betrachtet werden. Hegel stellt fest, dass bei Antigone vom normativen Standpunkt aus betrachtet, beide Seiten untergehen müssen. Nur dann, so schreibt er in der Phänomenologie, wird »das absolute Recht vollbracht« (ebd., 311). Denn das hier bestehende Gemeinwesen charakterisiert sich dadurch, dass es »[…] sich an dem [erzeugt], was es unterdrückt und was ihm zugleich wesentlich ist« (ebd., 314). Mit Hegel drückt sich hier »die ewige Ironie des Gemeinwesens« (ebd., 314) als gesellschaftliches Prinzip, in dem Individuum und Gesellschaft nicht gelungen miteinander vermittelt sind, aus. Auch in der Abstimmung des Experiments ist diese Vermittlung nicht geglückt. Wenn alle, die Teilnehmer*innen sowie Atna und Ibo, leben sollen, dann muss auch das Experiment als Struktur ›untergehen‹. Über die Erkenntnis der gesellschaftlichen Ungerechtigkeit wird, vermittelt, auch die Freiheit der Menschen erkennbar. Mit Kant (1974, 34f.) kann man formulieren, dass Freiheit Seinsgrund der Tragödie ist – ohne Freiheit gäbe es keine Tragödie. Freiheit kann aber als solche, in abstrakter Gestalt nicht erkannt werden. Dafür werden Wissenschaften gebraucht, die Freiheit vermitteln können. Dazu gehört neben der Philosophie die Kunst oder das Spiel (s.u.). Die Teilnehmer*innen im Experiment konnten zum Beispiel auch erkennen, dass sie die Freiheit hatten, zu handeln. Allen ist bewusst gewesen, dass die Abstimmung nur inszeniert war und sie also hätte abgebrochen werden können. Dadurch hatten sie wiederrum die Möglichkeit, die Konstruiertheit menschlicher Regelungen bezüglich des Rechts auf Flucht zu betrachten. Sie konnten erkennen, dass wir Menschen die Freiheit haben,

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darüber zu entscheiden, ob Menschen flüchten dürfen oder nicht4 . Die griechische Tragödie ist eine Kunstform. Genauso verstehe ich das Experiment auch als Kunstform, in deren Gestalt sich Freiheit erkennen lässt; genauer: als eine Mischung aus Spiel und Kunst, doch das führe ich weiter unten aus.

Was ist Kunst und was kann sie? Das Kunstwerk »[…] ist noch nicht reiner Gedanke, aber seiner Sinnlichkeit zum Trotz auch nicht mehr bloßes materielles Dasein, wie Steine, Pflanzen und organisches Leben, sondern das Sinnliche im Kunstwerk ist selbst ein ideelles, das aber, als nicht das Ideelle des Gedankens zugleich als Ding noch vorhanden ist […] In dieser Weise ist das Sinnliche in der Kunst vergeistigt, da das Geistige in ihr versinnlicht erscheint« (Hegel 1970 I, 60f.). Kunst kann geistigen Inhalt in eine sinnlich erfahrbare Gestalt verpacken (vgl. Hegel 1970 I, 103). So entsteht die Transferleistung der Kunst, die ein wesentlicher Aspekt in Hegels Ästhetischer Theorie ist. Diese Transferleistung ermöglicht eine Erkenntnis über Erfahrung. Kunst macht sich auf die Suche nach dem Absoluten, und wie in der Philosophie oder der Religion kann es auch durch sie erkannt werden (vgl. Jaeschke 2016, 386). Die Gestalt der Kunst entsteht durch ein Verhältnis von Form und Idee, wobei »die Kunst [als Bestandteil des absoluten Geistes; Anm. J. Z.] die Aufgabe hat, die Idee für die unmittelbare Anschauung in sinnlicher Gestalt und nicht in Form des Denkens und der reinen Geistigkeit überhaupt darzustellen« (Hegel 1970 I, 103).5 Kunst 4 5

Im Gegensatz zum oft geprägten Narrativ vom ›vollen Boot‹, das suggeriert, es gäbe nicht genug Platz in sicheren Ländern. Form und Inhalt der Kunst strukturieren sich den historischen Epochen unterschiedlich, wenn sich Inhalt und Gestalt beider Seiten im Sinne einer Einheit entsprechen, ist dabei das Ideal der Kunst erfüllt. (Hegel 1970 I, 103). Bei der Vermittlung von Idee und Form unterscheidet Hegel zwischen »symbolischer« (ebd., 107), »klassischer« (ebd., 109) und »romantischer« (ebd., 111) Kunst. Das Verhältnis von Kunst und Form ist ein verwickeltes, es stellen sich auch Fra-

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soll also nach Hegel erfahrbar sein und nicht in erster Linie ein Prozess des Denkens. Diesen Prozess der sinnlichen Erfahrbarkeit haben auch die Teilnehmer*innen des Experiments erlebt: In der Inszenierung der Abstimmung ging es nicht um das Abwägen verschiedener Argumente in einer Diskussion, hier wurde der absolute Gehalt der Moral sinnlich erfahrbar. Hegel zählt die griechische Tragödie zur klassischen Kunstform. Diese Kunstform kann nach Hegel nur aus einem freien Geist 6 entspringen (vgl. Hegel 1970 II, 23). Inhalt, Bedeutung und Gestalt sind untrennbar eins geworden. Als Modus der Reflexion birgt Kunst Potenzial für Erkenntnis: Das setzt voraus, dass sich Form und Inhalt der klassischen Kunst in »[freier] Totalität« (ebd., 13) entsprechen. Denn erst hier ist die Selbstständigkeit des geistigen Inhalts zu erkennen, der sich nun selbst zum Inhalt des Kunstwerks macht (ebd., 13). Genauso wie der freie Geist Grundlage dieser Kunstform ist, genauso kann er erkannt werden. Hier kommen also wieder der Seinsgrund und der Erkenntnisgrund der Freiheit zum Tragen. Die Erkenntnis in Anschauung der Kunst ist ein Modus von Reflexion (Hegel 1070 I, 79). Diese frei(-willig) vollzogene Reflexion des Inhalts der Kunst kann nach Hegel auch zu einer Reinigung der Leidenschaften und Bildung der eigenen Moral führen. Bei den Betrachter*innen erfordert dies reflexive Vorgänge und ist damit auch seelisch und kognitiv anspruchsvoll. Denn der Prozess der Reflexion ist ein autonomer Prozess (vgl. ebd., 75ff.). Damit sind recht hohe individuelle Voraussetzungen für diesen reflexiven Effekt der Kunst artikuliert. Auf das Experiment bezogen bleibt zu fragen, welche gesellschaftlich bedingten (Bildungs-)Privilegien dieses

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gen danach, was die Form voraussetzt. Letztendlich stellt er aber heraus, dass sich die Idee als bestimmte Idee, als konkrete Idee in der Form darstellen muss, heißt, die Idee muss sich als Idee wissen (vgl. ebd., 104f.). Wobei ich an dieser Stelle die Frage, inwiefern ein Geist dieser und bisheriger menschlicher Gesellschaften im absoluten Sinne frei sein kann, als Diskussion hintenanstelle. Um ohne den diskutierten Begriff arbeiten zu können, soll die Freiheit des Geistes hier vorerst in einem graduellen Sinne begriffen werden: Ein Geist muss frei genug für Kunst sein.

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als Instrument der politischen Bildung voraussetzt. Denn das vorausgesetzte Potenzial der Selbstreflexion ist, insbesondere unter den herrschenden, gesellschaftlichen Bedingungen, einerseits schwer für Individuen zu realisieren und korrespondiert andererseits mit Privilegien, die gesellschaftliche Ungerechtigkeiten manifestieren. In der Bildungsarbeit bestünde die Gefahr, dass Privilegien und damit Ungerechtigkeiten verschärft würden – wobei diese Gefahr in der politischen Bildungsarbeit generell besteht und daher reflektiert werden muss.

Spielende Erkenntnis? Doch das Experiment war nicht einfach ein Kunstwerk, das wir betrachteten. Es glich einem Spiel: Für einen gewissen Zeitraum tauchten wir in eine fiktive Welt ein. ›Spielregeln‹ erklärten, wie sich die Teilnehmer*innen in dieser Welt verhalten können. So war auch die erkenntnisbringende Erfahrung eine spielerische. Doch was ist eigentlich Spielen? Der Psychoanalytiker Donald Winnicott hält fest, dass keineswegs nur Kinder spielen, auch für Erwachsene ist das Spiel alltäglich (1973, 50). Spiel halte sie sogar gesund (ebd., 52). Das Spiel ist mit besonders viel Fantasie verbunden, da es zwischen der inneren Welt der Psyche und der äußeren Realität changiert: »Es ereignet sich nicht im Innern, und zwar in keinem Sinne des Wortes […]; jedoch auch nicht außen, es ist also auch nicht Teil des ›Nicht-ich‹, […] der Welt außerhalb magischer Kontrolle. Um das zu kontrollieren, was außen ist, hat man zu handeln, da es nicht ausreicht, zu denken oder zu wünschen. Handeln braucht Zeit. Spielen ist Handeln [Hervorhebungen im Original]« (ebd., 52). Jetzt ist klar, Spielen ist nichts, das einfach so passiert: es muss – wie auch das Experiment – initiiert und getätigt werden. Winnicott ist der festen Überzeugung, dass Spielen eine heilende Wirkung hat, da sich Ich-Stärke ausbauen kann. Es setzt Vertrauen voraus, bezieht körperliches Erleben mit ein, setzt Konzentration voraus, aber findet weder allein in der äußeren Wirklichkeit noch in einer inneren Realität statt (vgl. ebd., 62ff.). Außerdem ist Spielen als Erfahrung »stets eine

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schöpferische Erfahrung […], eine Erfahrung im Kontinuum von Raum und Zeit, eine Grundform von Leben« und ein »Wagnis« (ebd., 62). Als Wagnis ist das Spiel aber auch immer mit Ungewissheit verbunden, die beängstigend auf die Spielenden wirken kann. So sind laut Winnicott Spielregeln als Versuch zu verstehen, dieser Beängstigung zuvorzukommen (vgl. ebd., 62). Als Erfahrung ist Spielen eine schöpferische, die zwischen dem Innen und dem Außen stattfindet. Es ist »eine Erfahrung im Kontinuum von Raum und Zeit, eine Grundform von Leben« (ebd.). Sie ermöglicht dem*der Spielenden Lust und Befriedigung, auch wenn das Spiel mit Angst verbunden ist. Wird diese Angst jedoch unerträglich, ist das Spiel bedroht (vgl. ebd., 64).

Heilende Funktion des Spiels Überwiegt das positive Wagnis, hat das Spiel sogar vielmehr eine selbstheilende Funktion. Diese heilende Wirkung schildert Winnicott in mehreren Fallbeispielen. Zusammenfassend scheint die Erfahrung von Vertrauen in Beziehung, Fantasie und ein Spannungsfeld zwischen Wagnis und Kontrolle ausschlaggebend. Dabei ist das Spiel an sich heilend, und nicht erst im Kontext von Therapie (vgl. ebd., 62). Alle diese Erfahrungen spielten auch in der lustvollen Teilnahme am Experiment eine zentrale Rolle, sowie abseits von dieser sehr experimentellen Form politischer Bildung das Spielen auch in anderen Bildungsformaten eine wichtige Rolle spielt. Damit nun die positiven Effekte des Spiels (ob in der Analyse oder in der Bildungsarbeit) möglich sind, darf es auf gar keinen Fall »angepasst oder gefügig« sein (ebd., 63).

Mit Muße kommt die Erkenntnis Das Spielen so gut für die Seele ist, liegt meiner Meinung nach auch an der Muße. Spielen ermöglicht Muße und setzt sie gleichermaßen voraus. Und Muße ermöglicht, wie auch die Kunst, geistigen Inhalt in sinnlich erfahrbarer Form zu transportieren. Dadurch erfahren die Spielenden Erkenntnis und Lust. Wie das Spiel setzt die Muße eine eigene Chronologie gegen die Logik der mußefeindlichen Gesellschaft

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(vgl. Soeffner 2014, 44). Auch das Initiieren des Experimentes entwirft, wie auch die Muße, eine der Realität entgegengesetzte Logik. Dieser Raum schafft das Potenzial für andere »menschliche Wahrnehmung und Empfindung, für das Zusammenspiel aller Sinne […][,] die Chance für erlebbare, ›befreite‹ Synästhesie« (Soeffner 2014, 44). Muße ist eine Tätigkeit, und zwar eine selbstbestimmte, selbstzweckhafte, geistige Tätigkeit. In der mußefeindlichen Gesellschaft kann die Erfahrung von Muße Erkenntnis über die gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten ermöglichen. Damit kann sie nicht nur ein Instrument der Gesellschaftskritik, sondern als Maßstab der Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse begriffen werden (Zastrow 2019, 102). Sie ist aber nicht nur etwas, das als ›Bonus‹ im Spiel entstehen kann, sondern absolut notwendig für den Menschen ist. Als anthropologisches Potenzial suchen die Menschen nach Muße, aber sie ist mehr als freie Zeit, in der man sich finden kann, sie eine Form von Freiheit. Ich definiere Muße als Form und Bedingung geistiger Tätigkeit, die das Subjekt selbstbestimmt initiiert und die sich selbst zum Zweck hat (vgl. ebd., 15f.). Als Form von Freiheit ist Muße als grundsätzliches Bedürfnis der menschlichen Existenz zu begreifen, kann aber durch die Bedingungen der Gesellschaft behindert werden. Außerdem setzt Muße starke individuelle Fähigkeiten voraus und korrespondiert ungerechterweise mit gesellschaftlichen Privilegien (vgl. ebd., 21; Soeffner 2014, 37-38). Dieser elitäre Charakter der Muße ist ein gesellschaftlich gewordenes Problem und damit nicht per se als elitär zu verurteilen. Vielmehr ist die Gesellschaft dafür zu verurteilen, dass sie Ungerechtigkeiten reproduziert. Das Experiment als Spiel kann den Teilnehmer*innen Muße ermöglichen. Diese wiederrum hat eine Schlüsselaufgabe in der erfahrungsbasierten Erkenntnis. Muße als Tätigkeit erfordert Handeln der Teilnehmer*innen und ermöglicht kreatives Handeln. So geht es beim Spielen im Wesentlichen um das Handeln in einem eigens dafür geschaffenen Raum. Wie beschrieben, verortet Winnicott Spiel dabei zwischen dem inneren Subjektivem und der äußeren Realität. Spielen beschreibt er dabei als etwas, dass sich durch gleichzeitige Nähe und Konzentration auszeichnet. Mit Soeffner lässt sich Spiel und die damit verbundene Muße als »offener Wahrnehmungs- und Erlebnishorizont«

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(2014, 46) begreifen. Dieser Raum muss auch im Spiel der Erwachsenen durch spezifische Spielrahmungen geschaffen werden und ermöglicht so »Enklaven« des »Außeralltäglichen«, die ein zwangsreduziertes und fantasievolles Erleben ermöglichen (vgl. Soeffner 1973, 49).

What to take away? In meiner Auseinandersetzung zeigt sich die Abstimmung und das gesamte Experiment als Brennglas für das Verhältnis von Individuum, Gesellschaft und Entscheidung. Den Teilnehmer*innen offenbart sich Freiheit im Experiment. Ohne Freiheit wäre weder Kunst noch Spiel oder eine moralisch relevante Entscheidung denkbar. Damit wäre die Mischung aus Kunst, Spiel und politischer Bildung, die die Teilnehmer*innen erlebten, sowieso hinfällig. Dieser besondere Kontext ermöglichte Erfahrungen, die später für Mündigkeit fruchtbar gemacht werden können. Dadurch wird dem Individuum ein Bewusstseinswerdungsprozess möglich, der wie beschrieben mit dem Zugewinn an Wissen einhergeht. In der Abstimmung wird die Auseinandersetzung auf die philosophische Qualität einer gerechten Gesellschaft gehoben: Plötzlich stand die Frage im Raum, wie eine Gesellschaft gestaltet sein muss, in der alle leben können und jedes Individuum (unabhängig von Staatsbürgerschaft) die Möglichkeit zur Mitgestaltung bekommt. Damit zeigte sich auch, dass das Wissen über sein dialektisches Verbunden-Sein mit der Gesellschaft für das mündige Individuum besonders wichtig ist. Hier lässt sich die lustvolle Erfahrung der Muße im Experiment, die aber über diesen Rahmen nicht hinausgeht, als Maßstab der Kritik verstehen: Verbleibt Muße in der Enklave des Experiments, zeigt sich die Unzulänglichkeit der gesellschaftlichen Wirklichkeit als mußefeindlich. Hegels Weg der Verzweiflung oder der Weg der Negation erfordern den Schluss, dass die Erfahrung der Muße aus der Enklave befreit werden muss. Solange die Mußefeindlichkeit der Gesellschaft verhindert, dass Muße umfassend zugänglich ist, ist hierfür eine umfassende Gesellschaftskritik notwendig. Innerhalb dieser Gesellschaft sind die Enklaven der Muße oft denjenigen zugänglich, die sowieso gesellschaftlich privilegiert

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sind. Das hat auch die Auseinandersetzung mit dem Experiment gezeigt. So stehen auch die Möglichkeiten, solche Experimente für die Bildungsarbeit zu nutzen, im Spannungsfeld zu den Privilegien, die sie voraussetzen. Dieser elitäre Charakter sollte nur noch mehr Anlass zur Gesellschaftskritik sein. Der elitäre Charakter der Muße ist Resultat gesellschaftlich reproduzierter Ungerechtigkeiten. Oder wie der Volksmund sagt: Dont hate the player, hate the game.

Literaturverzeichnis Baud, Arvild J./Minich, Iris (2019): ATOPIC_POLITICS. online: https://j ajaja.in/ [zuletzt: 26.08.2020]. Berger, Maxi (2020): Der Tod und das Selbstbewusstsein. Anmerkungen zu einer Negation, online: https://www.extrablatt-online.net/a rchiv/ausgabe-8/maxi-berger-der-tod-und-das-selbstbewusstsein. html [zuletzt: 26.08.2020]. Bertram, Georg W. (2017): Hegels »Phänomenologie des Geistes«. Eins systematischer Kommentar. Stuttgart. Hegel, Georg Wilhelm (1970 I): Vorlesungen über die Ästhetik I. In: Moldenhauer, Eva/Michel, Karl Markus (Hg.): G. W. F. Hegel. Werke in 20 Bänden. Frankfurt a. M. Hegel, Georg Wilhelm (1970 II): Vorlesungen über die Ästhetik II. In Moldenhauer, Eva und Michel, Karl Markus (Hg.): G. W. F. Hegel. Werke in 20 Bänden. Frankfurt a. M. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (2011): Phänomenologie des Geistes. Hamburg. Hetfield, James u. a. (1991): The Unforgiven. In: Metallica (Hg.): Metallica. Jaeschke, Walter (2016): Hegel Handbuch. Leben -Werk – Schule. Stuttgart. Kant, Immanuel (1974): Kritik der praktischen Vernunft. Hamburg. Soeffner, Hans-Georg (2014): Muße – Absichtsvolle Absichtslosigkeit. In: Hasebrink, Burkhard/Riedl, Peter Philipp (Hg.): Muße im kulturellen Wandel. Berlin/Boston, S. 34-35.

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Josepha Zastrow

Sophokles (2000): Antigone. Stuttgart. Winnicott, Donald W. (1973): Spielen – eine theoretische Darstellung. In: ders.: Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart, S. 49-64. Zastrow, Josepha (2019): Inwiefern findet Muße unter den Bedingungen der Kulturindustrie statt? Die gesellschaftlich bedingte Möglichkeit von Freiheit in der Form von Muße: Notwendige Resignation oder Gesellschaftskritik? (unveröffentlichte Masterarbeit). Oldenburg.

Atopische Politische Bildung*en | Wie wir Werden G. Maria Soltro

Vorwort von Werner Friedrichs Allenthalben wird ein Kampf um die Zukunft beschworen. Nicht weniger als die Zukunft der Menschheit stünde auf dem Spiel. Eine derartige Aufgeregtheit, wie sie sich in der Gegenwart Raum nimmt, war in Deutschland wohl zuletzt in den 1960er Jahren zu verzeichnen. Anlässe, um die Zukunft zu kämpfen, gibt es im Angesichte weltweiter Probleme genug: Klimaerwärmung, Artensterben, Bevölkerungswachstum, wachsenden Risiken durch neue Krankheiten, Waffenproliferation auf Rekordniveau, erstarkenden Populismen und zunehmender Ungleichverteilung, Versteppung ganzer Landstriche, Vermüllung der Weltmeere, rücksichtloser Rohstoffausbeutung oder Verrohung der Gesellschaft. Und doch hat mensch das Gefühl, sobald er die Arenen betritt, in denen Zukunft gestaltet werden soll – Zukunftswerkstätten, Planspiele oder Simulationen –, dass es keinen Kampf um die Zukunft gibt, sondern nur Varianten des Ist-Zustandes. In den Geländern von Sachzwängen und Alternativlosigkeiten erscheint die Zukunftsgestaltung im genauen Sinne ausweglos. In einer solchen Situation kündigen sich scharfe Dualismen an, es zeichnen sich deutliche Bruchlinien ab. Die Konjunktur einer möglichen Praxis der Rebellion (etwa Extinction Rebellion) sowie der philosophischen Wiederentdeckung des Themas Revolution (so Thomas Assheuer in DIE ZEIT vom 5. Juni 2019) scheint dem Rechnung zu tragen. Weitere Versionen oder Varianten von Planungs- und Gestaltungshorizonten überzeugen nicht mehr. In der aktuellen Situation ist offensichtlich eine komplette Umschrift des Gegebenen angezeigt. Darin müssen offenbar auch die Ideen von Zukunft (Utopie/Dystopie) transformiert werden – insbesondere für aussichtsreiche politische Bildungen, die neuen Welten bzw. neuen Weltverhältnissen Rechnung tragen können. In diesem Sinne sucht G. Maria Soltro in Atopische Politische Bildung*en nach einer neuen Vermessung für politische Bildungen, jenseits von Auf klärungen, Reflektionen oder Projekten. Atopische Bildung*en sollen den Schauplatz des Kampfes um die Zukunft verändern  – sie sollen Zukunftswerkstätten, Planspiele oder Szenariotechniken ersetzen. Vielleicht ist es tatsächlich an der Zeit, eine Philosophie atopischer Bildung*en zu entwerfen.

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G. Maria Soltro

Worin wird Zukunft bestanden haben? Wir werden in Häusern gelebt haben. Wir werden die Regelhaftigkeit einer vergangenen sozialen Ordnung schmerzlich vermissen. Vielleicht aber auch ihre beruhigende Verteilung in der Rückschau als Ursache für den Weltlauf anklagen. Wir werden die Mahnung »Beruhige Dich!« durch ein nomadisches »Beunruhige Dich!« (frei nach Haraway 2018) ersetzen müssen. Das Ausdehnen von Verwandtschaftsbeziehungen (kins) wird so ein Einbruch der Unruhe gewesen sein. Verwandtschaften werden nicht mehr eine Ansammlung von wurzelförmigen Abstammungsverweisen sein. Sie werden nicht mehr den Anblick einer kuratierten Ahnengalerie bieten. Das tradierte Bild eines nachvollziehbaren Verwandtschaftsnetzes wird zerrissen sein. Über das Phantasma einer Ab(-)Stammung werden sich zukünftige Organismen noch lange wundern. In der Ahnengalerie der Zukunft werden sich Verwandtschaften durch »rhizomatische« (Deleuze 1993) Wurzelgef lechte ohne Ausgangspunkt, ohne neutrales Element (n – 1), beständig neu bilden, erweitern und wiederholen. Ihre Kraft beziehen sie aus ihrer Unruhe. Aus der Bewegung. Dem immer neuen Niederlassen und Weiterziehen. Wir werden mit dem neuen Nomadentum, das über Jahrzehnte in den Industriegesellschaften auf Urlaubsaktivitäten begrenzt war, hadern. Wir werden uns an Passagen, Transformationen,

Gegen den Strom

»Jedes weitertreibende Nachdenken über den afrikanischen Kontinent muss dem Anspruch einer absoluten intellektuellen Souveränität genügen. Es geht darum, dieses in Bewegung befindliche Afrika ohne die gängigen Worthülsen wie ›Entwicklung‹, ›wirtschaftlicher Durchbruch‹, ›Milleniums-Entwicklungsziele‹, … zu denken, die bisher dazu gedient haben, Afrika zu beschreiben, vor allem aber, die Mythen des Westens auf die Entwicklungsverläufe afrikanischer Gesellschaften zu projizieren. […] Daraus ergibt sich die Frage nach der Bewertung des gesellschaftlichen Lebens und seiner Entwicklung anhand der gewohnten Kategorien, also der sozioökonomischen und soziopolitischen Indikatoren. Eines der Kriterien, von denen häufig Gebrauch gemacht wird, ist das

Atopische Politische Bildung*en | Wie wir Werden

Verschiebungen, Verstrickungen, Diffraktionen und Interferenzen gewöhnen müssen. Es wird dabei aber nicht mehr darum gehen, irgendwo anzukommen. Es lassen sich keine Ziele mehr projizieren, zu denen Mensch sich auf den Weg [Weg ≈ Methode → im Werden ≈ atopische Strategien] machen könnte. Die Zeit liegt nicht mehr dem Machen voraus (»bedingende Form«), sondern sie wird gemacht (»bedingte Form«) (Danowski 2019).

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des nationalen Wohlstands, ermittelt durch das Bruttosozialprodukt eines Landes oder auch anhand des ›Index der menschlichen Entwicklung‹. Solch addierte Indikatoren begnügen sich allerdings nicht damit, einen Schwellenwert des ›Wohlstands‹ oder der ›Verwirklichungschan-

Wohin orientieren? Eignen sich Utopien dazu, dem Leben eine Orientierung zu geben? Waren sie dazu je geeignet? Der Utopie haftete seit Morus‘ Utopia das Ausgeschlossene, Inselhafte, Fremde und Unmögliche an. Un(-)Örtlichkeiten. Und doch war dem Utopischen die Hoffnung als Prinzip eingeschrieben (Bloch 1959). Idealzustände wurden zum Horizont politischer Orientierung. Pläne und Versprechen verdichteten sich. Aus der Sehnsucht utopischer Erfüllung entwickelten sich mitunter sogar Zwangsversprechen. Sie fingen an, Denken zu beherrschen – insbesondere, wenn sie an ihrer konkreten Umsetzbarkeit gemessen wurden – sie mussten dann wieder Regeln entsprechen können (Seel 2001). Durch die Anforderung, die zukünftige Vermessung eines Ortes (seine kommende Topologie) in seiner Realisierbarkeit zu spiegeln, wurde jeder Utopie eine Kippfigur injiziert. Denn ein reines Utopisches, als irreales Unmögliches, drohe

cen‹ anzugeben, den zu erreichen im Hinblick auf das Wohlergehen der Individuen und der Bevölkerung wünschenswert sei, sondern sie klassifizieren auch die Nationen und erstellen eine Rangordnung, mit Klassenbesten und Klassenschlechtesten. Abgesehen von ihren statistischen Schwächen sagen diese Indikatoren, die auf die Lebensbedingungen der Menschen abzielen, nichts über das Leben selbst aus, also über die Qualität der gesellschaftlichen Beziehungen, ihre Intensität und Fruchtbarkeit, den Grad der Entfremdung, den Charakter des Beziehungslebens,

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folgenlos zu bleiben. Ein Gedankenspiel. Umgekehrt aber verliere ein reales Utopisches, eine einlösbare Version, seine Inschrift des Versprechens. Das Utopische wandele sich zum Topischen, der Traum zum Plan.

Membrane zwischen dem Topischen und dem U-Topischen Zwischen der Utopie und dem Topos, der Logik des Unortes und der Logik des Ortes, liegt eine durchlässige Membrane. Sobald die Utopie in ihre Nähe kommt, sie realisierbar erscheint, droht sie, im Topischen zudiffundieren. Auch dann, wenn sie noch nicht verwirklicht ist. Sie ist dann nie ein utopisches Nichtörtliches gewesen. Sie wird schon immer eine zukünftige Topologie gewesen sein. Was einst unmöglich erschien, wird jetzt nur noch-nicht-möglich gewesen sein. Wenn sich eine bestehende Topologie einer gesellschaftlichen Einrichtung dieser Zone nähert, wenn sie anfängt, utopisch zu erscheinen, gerät sie in den Sog ihrer eigenen Unmöglichkeit. Sie fängt an, nur noch als das zu erscheinen, was sie eigentlich zu sein behauptet. Reales wird irreal; Da-Seiendes zur Fassade. Sozialistischen Experimenten ist dieser Verlauf häufig widerfahren. D. h. die Trennung des Utopischen vom Topischen erfolgt auf der Grundlage einer Modalisierung der Realität: Auf der Grundlage einer Wahrscheinlichkeitstheorie wird das Reale vom Fiktiven ge-

des kulturellen und spirituellen Lebens usw. Alles, was unsere Existenz ausmacht, worin ihr Inhalt, ihr Sinn besteht, kurzum die Gründe, weshalb es sich überhaupt lohnt zu leben: All das fällt durch das grobmaschige Netz der Wohlstandsindikatoren hindurch.« (Felwine Sarr, Afrotopia [2019])

#fragen?

#hast du schon mal gespürt, wie deine haare langsam aus dem kopf wachsen? #machen die haare nicht geräusche, wenn sie sich langsam durch die enge der hautlöcher schieben? #könntest du dir vorstellen, dass das nicht einen tosenden lärm abgeben müsste? #könnte es nicht sein, dass es für die zellen nahe der kopfhaut eine große belastung darstellt, in der nähe des haarwerdens angesiedelt zu sein?

Atopische Politische Bildung*en | Wie wir Werden

trennt (Esposito 2007). Wobei das Reale nicht notwendigerweise der Ankerpunkt sein muss – diesen Part kann auch das Fiktive unternehmen (Baudrillard 1978). Das Utopische wird vom Topischen nach dem Grad der Un|Möglichkeit seines Eintretens geschieden. Dass das Zukünftige mit seiner Möglichkeit verbunden wird, hat Folgen.

Utopische Möglichkeitsregime Das Differential des Möglichen und Unmöglichen gibt dem Utopischen eine spezifische Operativität. Es ermöglicht ein Dispositiv des Un|Möglichen, durch das eine Gegenwart generiert wird. Im Brennpunkt eines utopischen Hohlspiegels entsteht eine Zone der Jetztzeit, die dann vor der Utopie gewesen sein wird. Eine Zone des Komforts. Des Rückzugs. Des Rückzugs mitten in einen Jetztzeitpunkt, von dem aus sich die Zukunft als mögliche Utopie|Dystopie zu sehen gibt. Es kann über sie spekuliert werden. Sie kann geplant, verhindert, vorhergesehen, gefürchtet, erhofft, erwartet werden, weil sie nur noch mehr oder weniger wahrscheinlich ist. Die Rückkehr an den Ausgangspunkt ist nicht die Ankunft im Leben, wie es manch esoterisch-theologischer Ratgeber glauben machen will, sie ist die Einkapselung des Werdens im Utopisch-Möglichen. Erst der durch die Möglichkeit geschaffene Abstand zur Zukunft erlaubt ludische Gedankenexperimente über die Gefahren von Hungerkatastrophen, Be-

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#warum stellst du dir diese fragen nicht? #was stellst du dir überhaupt für fragen? #fragst du dich sehr häufig, wie die zukunft aussehen wird? #was aus dir wird? #welche menschen du in einem jahr lieben wirst? #welche ziele sich in naher oder ferner zukunft verwirklichen lassen? #wo du zu einem späteren zeitpunkt sein wirst? #welche deiner träume in erfüllung gehen könnten? #welche träume realistisch sind? #was machen solche fragen mit dir? #machen sie dir angst? #lassen sie dich hoffen? #in welche position wirst du in dem moment gebracht, in dem du solche fragen stellst? #wirst du zum/zur beobachter*in deiner eigenen zukunft, die schon erfüllt oder eben nicht erfüllt sein wird?

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völkerungsexplosionen, die wachsenden Migrationsbewegungen, steigende Meeresspiegel, die sich verknappenden Wasservorräte, die Ausbreitung von Epidemien, die sich verschärfenden globalen Ungleichverteilungen, das Artensterben, die Klimaerwärmung, steigende Rüstungsexporte, ökologische Verwüstungen ganzer Landstriche. Oder aber in einer optimistischeren Variante über die Perspektiven durch Entwicklungen neuer Technologien, den weiteren Vormarsch der Auf klärung, die Verbesserung medizinischer Möglichkeiten, die Etablierung von höheren Schutzstandards in den Menschenrechten, d. h. im Allgemeinen über den Fortschritt zivilisatorischer Entwicklung.

Das kommende Werden | Jenseits der Utopie Stetes Wechselspiel: Utopien haben an Anziehungskraft verloren – Utopien feiern eine Renaissance. Wir erleben seit Jahrzehnten wiederkehrende Konjunkturen in der Einschätzung der Bedeutung utopischer Entwürfe (vgl. statt vieler: Neupert-Doppler 2015).Sie korrelieren mit dem jeweiligen Möglichkeitssinn. Als am Ende der 1980er Jahre das Ende der Geschichte ausgerufen wurde, schien auch für einige das »Ende des utopischen Zeitalters« (Fest 1991) gekommen. Vom desillusionierenden Effekt einer solchen Proklamation des Endes der Utopien aufgeschreckt werden sie von anderen als un-

Angelus Novus

»Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unauf-

Atopische Politische Bildung*en | Wie wir Werden

verbrüchliche »Kraftquelle « (Negt 2012, 12) für politisches Denken angerufen. Für die Verteidiger*innen utopischen Denkens erscheint es mitunter eine Schicksalsfrage, ob utopische Potentiale für die Menschheit erhalten bleiben können. Dabei ist zunehmend unklar, ob die Zukunft mitder Frage nach ihrem utopischen Potential verbunden werden kann. Es mehren sich die Anzeichen dafür, dass wir Zeugen des Wechsels von einer utopischen in eine atopische Schreibweise der Zukunft werden. Unser Selbst-Welt-Verhältnis und unsere Gesellschaftsstrukturen entsprechen einer Grammatik der Moderne, die durch eine Vielzahl von Merkmalen gekennzeichnet ist. Einige davon sind: die Unterstellung einer grundsätzlichen Kontingenz (statt vieler: Makropoulos 1997), die damit zusammenhängendeAkzeptanz von neutralen Elementen (Null, Perspektivität oder Giralgeld) (statt vieler: Rotmann 2000) oder die Annahme einer transzendentalen Subjektivität (statt vieler: Reckwitz 2008). Diese Grammatik lässt sich repräsentationalistisch (oder mit Meillassoux (2018): korrelationistisch) nennen. Sie geht von einer aufgetrennten Existenzweise aus (Mensch|Welt), nimmt immer Abstand, ref lektiert, setzt auf Entsprechungsverhältnisse, Repräsentationen, Abbildungen, Berechnungen, Vorhersagen usw. Hier bricht eine Götzen-Dämmerung an. Die Merkmale verlieren ihre Eigenschaft als gegebene, gefundene oder entdeckte Vermessung der Welt, und zeigen sich zunehmend als Ergebnisse von Prak-

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haltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.« (Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte [1940])

Anzestralität

»Die Anzestralität zu denken, heißt, eine Welt ohne Denken zu denken – eine Welt ohne Gebung der Welt. Wir sind also genötigt, mit dem ontologischen Requisit der Modernen zu brechen, demzufolge sein heißt: ein Korrelat sein. Wir müssen im Gegenteil versuchen zu verstehen, wie das Denken das Nicht-Korrelierende erreichen kann – eine Welt, die fähig ist zu bestehen, ohne gegeben zu sein. Dies zu sagen läuft nun aber darauf hinaus, dass wir begreifen müssen, wie das Denken zum Absoluten gelangen

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tiken und Arrangements (Schatzki 2002). So erzeugen juristische Praktiken intentionale Subjekte (Foucault 1994), optische Praktiken Blicke (Crary 1990) oder wissenschaftliche Praktiken gereinigtes Denken (Latour 2002). Das aus diesen Praxen erwachsene Imaginäre einer Gegenüberstellung von Mensch und Welt lässt sich nicht mehr als angestammtes Verhältnis fortschreiben. Der Abstand schwindet. Dinge kommen dem Menschen entgegen. Etwa in der Klimaerwärmung, den Entwicklungen technisch selbstständiger Objekte, Kollateralschäden oder dem Artensterben. Eine unplanbare Welt zeigt sich (Mersch 2002). Nahbar in Situationen (Jullien 1999) oder Gelegenheiten (Weber 2006) durch Zaudern (Vogl 2007), Unterbrechungen (Rancière 2008) oder Akzeleration (Avanessian 2013).

kann: zu einem Sein, das so sehr ungebunden (Grundbedeutung von absolutus), so sehr getrennt vom Denken ist, dass es sich uns als nicht-relativ zu uns zeigt – fähig zu existieren, ob wir existieren oder nicht.« (Meillassoux, Nach der Endlichkeit [2018])

Drahtlose Vorstellungskraft

»Unter drahtloser Vorstellungskraft verstehe ich die absolute Freiheit der Bilder oder Analogien, die durch unverbundene Wörter, ohne syntaktischen

Entmöglicht Euch! Werdet Atopisten!

Leitfaden und ohne jedwede Zei-

Die Zukunft ist möglich. Die Zukunft ist unmöglich. Alles ist möglich. Nichts ist unmöglich. Die Ausdehnung des Möglichkeitsregimes ist geradezu grenzenlos. Es bereitet einen komfortablen Zuschauer* innenplatz, von dem aus über Wahrscheinlichkeiten spekuliert werden kann. Ein Schauplatz der Optionen, dessen Fluchtpunkt in der Produktion eines entscheidenden Subjekts besteht. Das Möglichkeitsregime lässt das entscheidende Subjekt entstehen. Es werden die Mittel zum Umgang mit dem Möglichen bereit-

[…] Die drahtlose Vorstellungs-

chensetzung ausgedrückt wird. kraft und die befreiten Wörter werden uns in das Wesen der Materien einführen. Indem wir neuen Analogien zwischen weit entfernten und scheinbar einander entgegengesetzten Gegenständen entdecken, können wir sie in ihrem Innersten immer

Atopische Politische Bildung*en | Wie wir Werden

gestellt: Abwägen, Berechnen, Ref lektieren, Messen, Beurteilen, Spiegeln, Kategorisieren, Projizieren, usw. Unter dem Regime des Möglichen wird das Subjekt zum Projekt (Han 2014). Es entsteht das »man müsste... «, »man sollte...«, das »eskönnte-sein«, das »betrifft mich wahrscheinlich nicht« usw. Es entstehen die Dispositive der Arbeitskraft (Bröckling 2007), der Kreativität (Reckwitz 2012) und der Individualisierung (Reckwitz 2017). Es gilt, ein solches Möglichkeitsregime zu durchbrechen. Es geht um die Aufhebung des distanzierenden Modus der Kontingenz. Die Befreiung von den Einschränkungen des Möglichkeitsraumes. Im Atopischen werden wir an mehreren Orten gleichzeitig sein. Sich nicht in einer Logik des Ortes (Topologie) niederlassen, sondern der »topologische Überschuss« sein (Badiou 2014). Wir – in einem umfassenden Sinn – sein. Möglichkeit wird gegen »Werdsamkeit« (Friedrichs 2008, passim) ausgetauscht – nicht im ruhigen Medium der Vitalität, sondern in der Unruhe des Unterbrechens und Zusammenfügens. Das Prinzip der Potentialität gegen das Prinzip der Konnektivität tauschen. Möglichkeit und Unmöglichkeit stürzen sich in die Tiefe der Immanenz. Es entsteht eine präsentische Maschine des Werdens. Topologische Methoden der Ref lexion weichen den Strategien der Atopisten: Freundschaften mit Dingen schließen, uns mit ihnen unterhalten. Dinge sein. Körper transformieren. Stimmen modulieren. Kompossibilitäten ge-

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besser begreifen. Statt Tiere, Pflanzen, Minerale (überkommenes System) zu vermenschlichen, werden wir den Stil tierisch, pflanzlich, mineralisch, elektrisch oder flüssig machen und ihn auf diese Weise am Leben teilhaben lassen. Mit den befreiten Wörtern erreichen wir: VERDICHTETE METAPHERN – TELEGRAFISCHE BILDER – SUMME DER VIBRATIONEN – KNOTEN DES GEDANKENS – ANALOGIEVERKÜRZUNGEN – FARBBILANZEN – DIMENSIONEN, GEWICHTE, MASSE UND DIE GESCHWINDIGKEIT DER EMPFINDUNGEN – DEN SPRUNG DES WESENTLICHEN WORTES IN DAS WASSER DER WAHRNEHMUNG, OHNE DIE KONZENTRISCHEN KREISE, DIE DAS WORT HERVORRUFT – RUHEPAUSEN DER INTUITION – BEWEGUNGEN IM ZWEI-, DREI-, VIERTELUND FÜNFTELTAKT

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nerieren. Sprachen erfinden. Neue Dinge essen. Mit Tieren Verwandtschaften eingehen. Räume erfinden. Zeiten dichten. Farben riechen. Töne schmecken. Gemeinsam gemeinsam sein. Verbindungen nähen. Subjektivitäten ein- und entfalten. Klatschen. Empfindungen singen. Organen zuhören. Ihnen Namen geben. Sie loben. Verteilungen tanzen. Entnetzen. Karunken kacheln. Steine repräsentieren. Schaufeln schieben. Rätzkis auftürmen. Atmen. Liegen. Lieben. Naffalle risseln. Anwassen passeln. Wir werden Werden! Atopisch!

– ANALYTISCH ERKLÄRENDE MASTEN, DIE DAS BÜNDEL DER INTUITIONSDRÄHTE ZUSAMMENHALTEN.« (Filippo T. Marinetti, Zerstörung der Syntax, Drahtlose Vorstellungskraft, Befreite Wörter [1913])

Atopische Politische Bildung*en | Wie wir Werden

#Kompliz*innen Avanessian, Armen. 2013. #Akzeleration. Berlin. Badiou, Alain. 2014. Theorie des Subjekts. Zürich-Berlin. Baudrillard, Jean. 1978. Agonie des Realen. Berlin. Bloch, Ernst. 1959. Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt am Main. Bröckling, Ulrich. 2007. Das unternehmerische Selbst. Frankfurt am Main. Crary, Jonathan. 1990. Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert.Zürich. Danowski, Deborah / Viveiros de Castro, Eduardo. 2019. In welcher Welt leben? Berlin. Deleuze, Gilles / Guattari, Félix. 1993. Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie.Berlin. Esposito, Elena. 2007. Die Fiktion einer wahrscheinlichen Realität. Frankfurt am Main. Fest, Joachim C. 1991. Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters. München. Foucault, Michel. 1994. Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main. Friedrichs, Werner. 2008. Passagen der Pädagogik. Zur Fassung des pädagogischen Moments im Anschluss an Niklas Luhmann und Gilles Deleuze. Bielefeld. Han, Byung-Chul. 2014. Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. Frankfurt am Main. Haraway, Donna J. 2018. Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Frankfurt am Main. Jullien, François. 1999. Über die Wirksamkeit. Berlin. Latour, Bruno. 2002. Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Frankfurt am Main. Makropoulos, Michael. 1997. Modernität und Kontingenz. München. Meillassoux, Quentin. 2018. Nach der Endlichkeit. Zürich-Berlin. München. Mersch, Dieter. 2002. Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. Negt, Oskar. 2012. Nur noch Utopien sind realistisch. Politische Interventionen. Göttingen. Neupert-Doppler, Alexander. 2015. Utopie. Vom Roman zur Denkfigur. Stuttgart. Rancière, Jacques. 2008. Zehn Thesen zur Politik. Zürich-Berlin.

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Reckwitz, Andreas. 2008. Subjekt. Bielefeld. Reckwitz, Andreas. 2012. Die Erfindung der Kreativität - Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Berlin. Reckwitz, Andreas. 2017. Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin. Rotmann, Brian. 2000. Die Null und das Nichts. Eine Semiotik des Nullpunkts. Berlin. Schatzki, Theodore R. 2002. The Site of The Social. A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change. Pennsylvania. Seel, Martin. 2001. "Drei Regeln für Utopisten." Merkur 55 (9/10):747-755. Vogl, Josef. 2014. Über das Zaudern. Zürich. Weber, Samuel. 2016. Gelegenheitsziele. Zur Militarisierung des Denkens. Berlin.

Widerständige Gespenster Mareike Gebhardt

Wir werden Widerstand geleistet haben Oder werden wir die gewesen sein, die wir nie werden wollten – Weltenzerstörer*innen, Rassist*innen, Sexist*innen, Verwaltungsbeamt*innen. Nein. Wir werden Widerstand geleistet haben. Daran möchte ich mich festhalten. Doch ich weiß, es kann kein Festhalten geben, will ich nicht so gewesen sein, wie ich nie werden wollte. Ich muss also loslassen. Wir müssen loslassen. Um-Ordnen. Un-Ordnen. Die »Aufteilung des Sinnlichen« (Rancière 2002) von ihrer polizeilichen Logik trennen, sie hinterfragen, unterbrechen, sabotieren. Wir müssen loslassen, uns in Bewegung setzen, bewegen, bewegt werden. Werden. Gemeinsam. Leben werden in eine Hierarchie der »Betrauerbarkeit« (Butler 2016) eingeschrieben und die, die nicht zu betrauern sind, dadurch auch entwertet. Ihr Sterben wird nur, wenn überhaupt, als Hintergrundgeräusch wahrgenommen. Im Angesicht dieser rasanten Prekarisierung von Leben heißt es, den »Tigersprung« – frei nach Walter Benjamin – ins Gemeinsame zu wagen; gegen das nekropolitische Regime (Mbembe 2003) zu kämpfen. Ein grundlegendes Nein verlauten zu lassen. Nicht übereinstimmen. Keine Große Koalition. Keine Allianz der Willigen. Wir werden die Un-Willigen gewesen sein. Die, die NEIN gesagt haben werden. Wir werden uns beunruhigt haben lassen von den leblosen Körpern, die auf der Oberfläche des Mittelmeers dahintreiben, von den toten Migrant*innen, die in den unwirtlichen Wüstenregionen des Südens der USA unidentifiziert bleiben, von den

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Mareike Gebhardt

Inseln im pazifischen Ozean, die verschwunden sein werden – und mit ihnen deren nicht-menschliche und menschliche Bewohner*innen –, wenn der Meeresspiegel steigt. Holocaust der Schlachthöfe, leergefischte Ozeane, vergewaltigte Urwälder, Menschen, die in kongolesischen Minen die Rohstoffe für die Mobilfunkindustrie unter Lebensgefahr ›gewinnen‹; als ›schwarz‹, ›farbig‹ oder ›arabisch‹ markierte Männer*, die durch autoritäre Diskurspraktiken vielschichtigen Rassismen ausgesetzt sind, da ihre vermeintliche Hypersexualität die aufgeklärte Geschlechterpolitik des globalen Nordens bedroht. Frauen*, die danach gefragt werden, was sie trugen und wie sie sich verhalten hatten, bevor sie sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren … Rassismus tötet; (Ethno-)Sexismus auch (Dietze 2017). »I can’t breathe«: die letzten Worte Eric Garners – bevor er am 17. Juli 2014 aufgrund einer übermäßig brutalen Anwendung physischer Gewalt durch Polizeibeamt*innen starb – hallen in den Protestpraktiken von #blacklivesmatter gespenstisch wider. »Refugees Welcome«: die Sprache und das Symbol einer globalen Bewegung gegen die Kriminalisierung migratorischer Bewegung, die jedoch immer auch in (post-)koloniale Muster verstrickt sind. »Ni Una Menos«: die Parole einer transnationalen Bewegung gegen Femizide und Gewalt gegen (trans-)Frauen*, die sich von Argentinien über Chile bis nach Spanien und Italien spannt. NI – UNA – MENOS. Keine Mehr. Nie Mehr.

Wir werden nur gemeinsam gewesen sein Wir werden nur gemeinsam Widerstand geleistet haben: Jenseits des »utopischen Möglichkeitsregimes« (G. Maria Soltro). Jenseits der gouvernementalen Maschinerie, die Menschen, Tiere, nicht-menschliche Leben, posthumane Existenzen zuerst in biopolitischen Matrizen zu disziplinieren suchte, um sie unter der Ägide eines neoliberalen Zeitregimes bis zur Unkenntlichkeit zu beschleunigen. In einer verhängnisvollen Verschwisterung von Teleologie und Ontologie verschiebt dieses spatio-temporale Management das Sein immer an den Horizont des zukünftigen Jetzt und transformiert damit das Sub-jekt zum Pro-jekt,

Widerständige Gespenster

(Han 2014) zu einem Projektil der eigenen Selbstoptimierung. Als Heilmittel gegen diese Verschiebung in die Zukunft – immer ist etwas zu tun, immer muss etwas erledigt werden, nie endet die »to-do-Liste« – bietet das neoliberale Zeitdispositiv eine fundamentalistische Rückkehr zum ›Ursprung‹ an. Die Verheißungen lauten: Erkenne Dich selbst! Werde Du selbst! Verwirkliche Dich! Es gilt, mich und uns über eine quasi-metaphysische Präsenz wiederzufinden. Als gäbe es einen inneren Kern, ein So-Sein, das ich/wir verloren hätten in der Hektik des Da-Seins, das es gilt, über Meditationstechniken und Achtsamkeitsübungen wiederzufinden. Doch die notwendige Suche nach dem authentischen Sein ist ein Taschenspielertrick der self-help-Industrie, ein gekonnter Schachzug des psychopolitischen Regimes in seiner spätkapitalistischen Spielart, die so viel subtiler das anwendet, was der schnöde Industriekapitalismus der klassischen Moderne versprochen hatte: Privatautonomie. Authentizität ist jedoch ein Fetisch/ismus, den es in seiner Camouflage als Selbstverwirklichungsnarrativ zu demaskieren gilt. Wir sind nie ganz bei uns selbst (Kristeva 2016 [1988]; Derrida 1992). Wir werden nie ganz bei uns selbst gewesen sein. Wir werden uns nicht finden können, denn es gibt UNS nicht. Nicht an sich. Nicht wahrhaftwahnhaft authentisch. Wir sind uns immer schon selbst fremd, bleiben uns fremd, und müssen uns fremd bleiben, wollen wir nicht den ethno-nationalistischen Phantasmen des Identitären anheimfallen und mit uns selbst eins werden – eine schrecklich-schaurige Vorstellung, aber auch großer Quatsch! Gemeinsam un-eins werden. Immer bleibt eine Spur der Nicht-Identität. Wie Füße im Sand. Wie der Spuk um Mitternacht. Wenn es nicht nur 5 vor 12 ist, sondern bereits 12 geworden sein wird.

Wir werden Gespenster gewesen sein Wir werden in den hegemonialen Strukturen des Spätkapitalismus, seinen neo-kolonialen Formationen und (ethno-)sexistischen Fantasien selbst zu einem Phantasma, einem Phantom werden: Ein Gespenst geht um in Europa … und der Welt. Wir werden sie nicht in Ruhe

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gelassen haben. Wir werden in ihnen gespukt haben. Wir werden ihre Welt aus den Fugen geraten haben lassen. Wir werden Un-Fug getrieben haben. Wir werden ihre Ordnungen verunglimpft, umgekrempelt haben. Wir werden mit den Zombies, den lebenden Toten, solidarische Allianzen geschmiedet haben. Sie vegetieren ungehört und unsichtbar im Jenseits, jenseits jeder fixierten Zeiträumlichkeit: an einem Un-Ort, der die Grenze zur Subalternität klar und doch uneindeutig markiert. Wir werden diese räumliche Ordnung gründlich durcheinandergebracht, unsere Privilegien aufgegeben und sie endlich geteilt haben. Wir werden gemeinsam spuken und dabei unendlichen Schrecken und unendliche Freude bereitet haben. Wir werden ihnen Angst eingejagt haben. Wir sind viele. Wir werden gegen ihre Re-Aktion, gegen ihren regressiven backlash, angekämpft haben und siegreich hervorgegangen sein. Wir werden die Orte und Ordnungen irritieren und dabei andere, neue Orte jenseits einer örtlichen Ordnung, einer ordnenden Ortung in Erscheinung treten lassen: A-Topien geschaffen haben! Das A-Topische und das An-Archische werden die Ordnungen des Raumes, die räumlichen Ordnungen gründlich umwälzen. Wir werden die spatio-temporale Protokollierung und Parzellierung des Sinnlichen beendet und unendliche Vielfalt »nomadisch« (Braidotti 1994) gelebt haben. In mäandernden, scheinbar ziellosen Wanderungen werden wir, die Flanierenden, daran scheitern, eine Ordnung erneut zu etablieren. Wir werden scheitern, eine Weltanschauung zu vertreten, eine Politik durchzusetzen, eine Gesellschaft zu erbauen und nur eine Geschichte in den Büchern festzuhalten.

Wir werden nicht nur eine Geschichte erzählt haben Wir werden die Gefahr singulärer Erzählung gebannt haben (Adichie 2009). Wir werden multitudines von hi/stories erzählt haben und multiperspektivisch, von verschiedenen Positionen aus, aber in »Gleichfreiheit« (Balibar 2012), das Gemeinsame gedacht und umgesetzt haben. Wir werden Theorie und Praxis miteinander versöhnt haben, aber nicht um harmonisch – in machtdurchtränktem Konsens und übersättigter

Widerständige Gespenster

Langeweile – zu leben, sondern in Disharmonie. Wir werden uns disharmonisiert haben. Wir werden uns ent-identifiziert haben. Wir werden die Kakophonie der Vielstimmigkeit gefeiert haben. Wie werden getanzt haben. Wir werden laut gewesen sein. Unbeugsam. Starrköpfig. Mutig. Wir werden Widerstand geleistet haben.

Kompliz*innen Adichie, Chimamanda Ngozi (2009): The Danger of a Single Story. TED Talk. online: https://www.ted.com/talks/chimamanda_ngozi_adich ie_the_danger_of_a_single_story#t-16446 [zuletzt: 06.03.2020]. Balibar, Étienne (2012): Gleichfreiheit. Politische Essays. Berlin. Benjamin, Walter (1980 [1940]): Über den Begriff der Geschichte. In: Walter, Benjamin: Gesammelte Schriften Bd. I-2. Frankfurt a. M. S. 691-704. BlackLivesMatter. online: https://blacklivesmatter.com/ [zuletzt: 06.03. 2020]. Braidotti, Rosie (1994): Nomadics Subjects. Embodiment and Sexual Difference in Contemporary Feminist Theory. New York. Butler, Judith (2016): Frames of War. When Is Life Grievable? London u. a. Derrida, Jacques (2004 [1993]): Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Frankfurt a. M. Derrida, Jacques (1992): Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa. Frankfurt a. M. Dietze, Gabriele (2017): Sexualpolitik. Verflechtungen von Race und Gender. Frankfurt a. M. Han, Byung-Chul (2014): Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. Frankfurt a. M. Kristeva, Julia (2016 [1988]): Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt a. M. Mbembe, Achille (2003): ›Necropolitics.‹ In: Public Culture 15 (1), S. 1140. Ni Una Menos. online: http://niunamenos.org.ar/ [zuletzt: 06.03.2020].

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Mareike Gebhardt

Rancière, Jacques (2002): Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt a. M.

Another Possible is Possible1 Fiona Schrading

Wie ist es möglich, in katastrophischen Zeiten »lebbare Welten« (Haraway 2017, 244) zu erfinden, zu praktizieren, zu experimentieren? Was kann es heißen, sich in den Ruinen des Anthropozäns um mögliche Zukünfte zu sorgen, inmitten andauernder Zerstörung und Ausbeutung von Lebensweisen, den verschränkten Spuren von nicht-vergangenen Vergangenheiten und Zukünften »that sprout from the graves of a violently uneven modernity« (Tsing u. a. 2017, G3)? Gibt es eine Zukunft für die Zukunft? Die Debatte um das Anthropozän verfestigt ein Narrativ des ›Menschen‹ als »geologic world-maker/destroyer of worlds« (Yussoff 2016, 5), der die Zukunft der Erde Kraft seines Intellekts und seiner Kreativität zu schaffen habe. ›Zukunft‹ wird hier als ›gemeinsames Projekt des Menschen‹ inszeniert, das auf dem Rücken all jener menschlichen und nichtmenschlichen Anderen errichtet wird, die an diesem ›Projekt Zukunft‹ nicht teilnehmen können oder wollen bzw. sich gar nicht erst als Teilnehmer*innen qualifizieren. Die Debatte reproduziert so eine hegemoniale Form von Zukunft, die zugleich eine universelle Gültigkeit ›für alle‹ behauptet, eine universelle Zeit und Geschichte für die Menschen, das Leben, die Erde und sogar zukünftige Existenzweisen formuliert. Die Zukunft, so verspricht es uns die ›Metaphysik des Fortschritts‹, ist ein Reservoir des Möglichen, das wir im Voranschreiten verwirklichen, während wir die Vergangenheit als abgeschlossen und ein für alle Mal

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Den Satz »Another possible is possible« prägt Arturo Escobar in Escobar 2020, er dient ihm auch als Titel der spanischen Ausgabe des Buchs.

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Fiona Schrading

überwunden hinter uns lassen. Wie ist es möglich, entgegen dieser hegemonialen Form von Zukunft auf dem Öffnen von Möglichkeiten für ›lebbare Welten‹ zu insistieren? Dafür ist es notwendig, ›Zukunft‹ zu entnaturalisieren und sie stattdessen als Angelegenheit ontoepistemologischer Praktiken2 zu verstehen. In einem neomaterialistischen Sinne von der Nicht-Gegebenheit von Zeit, von Vergangenheit und Zukunft auszugehen, bedeutet, dass Prozesse des Hervorgehens von Welt/en, die »ontological performance of the world« (Barad 2008, 330) nicht ›in‹ einem vorgegebenen Zeitraum geschehen, sondern vielmehr Raum und Zeit mithervorbringen. Das heißt, dass der eine universelle Zeitpfeil, den der ›Globale Westen‹3 auf unterschiedliche Weise in Kraft setzt, gerade keine zugrundeliegende, (natur)gegebene Konstante ist, die durch unterschiedliche epistemologische Zugänge nur jeweils anders ›repräsentiert‹ würde (unterschiedliche ›kulturelle Perspektiven‹ auf dieselbe zugrundliegende ›Natur‹), sondern vielmehr eine wirkmächtige ontoepistemologische Praxis des ›Tuns von Zeit‹ darstellt: »there is nothing outside practice« (Law 2011, 4). Die Wirkmacht der ›Zukunft‹ als anthropozentrischer Attraktor des ›Globalen Westens‹ besteht nun gerade darin, dass sie sich als Einzige und universell gültige setzt und damit eine hegemoniale »Monokultur der linearen Zeit« (Sousa Santos 2012, 38) schafft, die andere Realitäten, Zeitpraktiken und Zukünfte aktiv als nicht-existente verwirft. Angelehnt an John Laws Begriff der »One-World World«4 lässt sich die ›universelle Zeit‹, die der ›Globale Westen‹ in Kraft setzt, als ›One-Time Time‹ bezeichnen, die eine »ontologische Vereinnahmung« (Escobar 2015, 337) von zeitkonstitutiven 2

3 4

Den Begriff der »Ontoepistemologie« entnehme ich der Physikerin und neomaterialistischen, feministischen Theoretikerin Karen Barad, die damit die Verschränktheit epistemischer und ontologischer Prozesse bezeichnet. Den Ausdruck »global west« verwendet Isabelle Stengers in Stengers 2018, 85. Mit der »one-world metaphysics« (2011, 2) beschreibt Law die ›Monoontologie‹ als spezifischen materiell-semiotischen Apparat des modernen ›Globalen Nordens‹, der darauf abzielt, eine einzige, global gültige ›Realität‹ oder ›Natur‹ hervorzubringen und zu stabilisieren. Dabei übt sie ontologische und epistemische Gewalt gegenüber jenen aus, deren Wissenspraktiken und Weisen des WeltErzeugens ihr nicht entsprechen.

Another Possible is Possible

Praktiken in eine allumfassende, universalisierte Zeit, eine »total colonization of spacetime« (Barad 2018, 209) unternimmt. Die ›One-Time Time‹ lässt sich mit Jacques Derrida als von einer »Metaphysik der Präsenz« (Derrida 2020, 425) geprägt beschreiben: So, wie die ›Eine-Welt Welt‹ von einer zugrundliegenden Natur oder Realität ausgeht, auf die es lediglich unterschiedliche Repräsentationen oder Perspektiven gebe, wird die ›One-Time Time‹ als zugleich universelle Zeit, die alle möglichen Gegenwarten umfasst, in Kraft gesetzt, wie auch als das Prinzip, dass immer nur eine einzige Gegenwart die Gültigkeit des Wirklichen und Realen beanspruchen kann, »that only one moment exists at a time« (Barad 2018, 207). Die ›One-Time Time‹ implementiert so eine binäre Opposition zwischen Realem und Möglichem, »der wirklichen Anwesenheit und ihrem anderen« (Derrida 2016, 62) und eine Abfolge von aufeinanderfolgenden, mit-sich-selbst identischen Gegenwarten, die durch die Opposition zwischen »der aktuellen oder präsenten Realität der Gegenwart, und allem, was man ihr gegenüberstellen kann: die Abwesenheit, die Nicht Präsenz, die Unwirklichkeit, die Inaktualität, die Virtualität« (ebd., 61-62) organisiert ist. Zeit schreitet fort im Modus der ›Verwirklichung‹, die eine »ontological transition« (Schrader 2012, 122) zwischen Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit bewirkt: ›Zukunft‹ fungiert hier als leeres Feld des Möglichen, als Zu-Verwirklichendes, während die Vergangenheit als nicht-mehrwirkliche, unwiderruflich abgeschlossene hervorgebracht wird. Die Gewalt der ›One-Time Time‹ liegt darin, dass sie auch die Begriffe des Möglichen und des Zukünftigen besetzt und eine gewaltsame, scheinbare Alternative erzwingt: außerhalb dieses Möglichen und dieser Form von Zukunft werdet ihr keine Zukunft haben! Aber, wie es Arturo Escobar (2020), Marisol de la Cadena und Mario Blaser (2018) und viele andere zeigen, geschehen unablässig andere Welt- und Zeiterzeugungen5 , die sich nicht im binären Begriffspaar von einem Rea-

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Zahlreiche Analysen der Gender- und Queer Studies, der Black Studies sowie des post- und dekolonialen Denkens haben das gewaltvolle Erbe der monolinearen Zeit der Moderne bereits angegriffen, erschüttert und durchkreuzt, die unter dem Deckmantel eines emanzipatorischen Projekts einer ›Zukunft

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len/einem Möglichen fassen lassen, die vielfältige, nicht-reproduktive Verwandtschaften, multiple Vergangenheiten und Zukünfte und heterogene Zeitlichkeiten hervorbringen. Ein anderes Mögliches ist möglich, so Escobar (2020), wenn wir das hegemoniale Mögliche der ›oneworld world‹ aktiv verlernen und uns auf ein Pluriversum vielfältiger Welten und Ontologien einlassen, die nicht in einer gemeinsamen Welt oder Raumzeit konvergieren. Das Pluriversum hat keine ›gemeinsame Zukunft‹ im Sinne eines Konvergenzpunkts unvereinbarer Welten, sondern es produziert divergierende, wuchernde, verschränkte Welten-imWerden. Das Pluriversum als »world of many worlds« (De la Cadena /Blaser 2018) formt sich nicht zu einer ›gemeinsamen Welt‹, noch meint es ein schlichtes, toleriertes Nebeneinander von Welten im Sinne eines »discreet, well-behaved cosmopolitism« (Stengers 2018, 85). Das Pluriversum erfordert vielmehr mit Isabelle Stengers eine Kosmopolitik, die die Verschränkungen von divergierenden, einander ungleichzeitigen Welterzeugungen anerkennt, von »worlding practices that come together around dissimilar interests in common« (De la Cadena /Blaser 2018, 6). Von »worlding practices« auszugehen heißt, weder eine gemeinsame Welt noch eine gemeinsame Zukunft als gegeben anzunehmen, vielmehr sind mögliche Zukünfte und Welten nicht außerhalb von den situierten Praktiken zu denken, in denen sie verhandelt, fabuliert, erprobt, gelebt werden. Das erfordert einen anderen Sinn des Möglichen: Stengers folgend lässt sich das Mögliche nicht mehr als Reservoir oder Ressource verstehen, das den Verwirklichungen souveräner Subjekte zur Verfügung steht und gemäß einer binären Opposition der ›Metaphysik der Präsenz‹ dem Realen gegenübersteht, sondern als Mögliches, das in den Zwischenräumen und Virtualitäten einer Situation insistiert und die Autorität der Gegenwart unterläuft. Einen Sinn für das Mögliche zu entwickeln hieße so, für andere Weisen des Denkens, Fühlens und Handelns sensibel zu werden, eine Öffnung darauf, »what, in this

für Alle‹ die gewaltvollen Ausschlüsse eines andauernden »heteropatriarchal and racist colonial capitalism« (Escobar 2020, xiii) weiterführt.

Another Possible is Possible

situation, might be of importance« (Stengers/Debaise 2017, 18-19). Anstatt auf ein Noch-nicht-Wirkliches im Imaginations-, Planungs- und Denkraum ›des Menschen‹ reduziert zu werden ist das Mögliche real und zugleich nicht außerhalb von der Situation zu denken, in der es wirksam wird: »the sense of the possible to be activated always lies in the interstices of a situation« (ebd., 12). Stengers situiertes Mögliches lässt sich vielleicht mit Stefano Harneys und Valentina Desideris Begriff der »fate work« (Harney /Desideri 2013) zusammenbringen, mit dem sie die kollaborative Praxis beschreiben, vielfältige Schicksale und Zukünfte wuchern zu lassen, sodass ›die Zukunft‹ ihre Autorität verliert. Fate work bedeutet gerade nicht die strategische Erarbeitung von ›Zukunft‹ durch ein selbstbestimmtes Subjekt, sondern es sind umgekehrt die ›fates‹, die das souveräne Subjekt unterminieren, es in unerwartete Werdensprozesse mitreißen – nicht das Subjekt besitzt ›eine Zukunft‹, sondern die Zukünfte, die nicht (nur) die seinen sind, ergreifen vielmehr Besitz von ihm, ent-setzen es, lassen es ungleichzeitig mit sich selbst werden: »the presence of the other in the fate of the one means the one is already not one, the self is not self to itself« (ebd., 166). Mit fate work wird das Mögliche zur Angelegenheit einer »Practice of complicity« (ebd., 164), einem Wuchern von disjunktiven, nichtübereinstimmenden »different fates, different futures« (ebd., 163), die der Sorge bedürfen. Dass weder Zukunft noch Vergangenheit gegeben sind, dass sie in materiell-semiotischen Praktiken hervorgebracht werden, nimmt der ›One-Time Time‹ nichts von ihrer realen Wirkmacht, auf die Un/Möglichkeit von Lebensweisen einzuwirken und ›die Zukunft‹ für ein bestimmtes, wertvolles Leben abzusichern unter dem Ausschluss jener nicht/menschlichen anderen, deren Leben nicht zählt oder die gar nicht erst als Leben anerkannt werden. Umso mehr sind ›wir‹ dazu aufgerufen, Verantwortung dafür zu übernehmen, an welchen Vergangenheiten und Zukünften wir mitwirken und unablässig eine »Umarbeitung von Un/Möglichkeit« (Barad 2015, 110) zu unternehmen. Ebenso wichtig wie die Verabschiedung vom modernistischen Möglichkeitsregime, die Soltro fordert, ist vielleicht die Sorge um ein anderes Mögliches: mit nicht/menschlichen Kompliz*innen fate work zu betreiben und sich um

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Möglichkeiten »lebbarer Welten« zu sorgen, in einer nicht-unschuldigen »experimental togetherness« (Stengers 2005, 195) vielfältiger Welten.

Literatur Barad, Karen (2008): Queer Causation and the Ethics of Mattering. In: Giffney, Noreen/Hird, Myra J. (Hg.): Queering the Non/Human. Aldershot u. a., S. 311-338. Barad, Karen (2015): Verschränkungen. Berlin. Barad, Karen (2018): Troubling Time/s and Ecologies of Nothingness: Re-turning, Re-membering, and Facing the Incalculable. In: Fritsch, Matthias/Lynes, Philippe/Wood, David (Hg.): Eco-Deconstruction. Derrida and Environmental Philosophy. New York, S. 206-248. De la Cadena, Marisol/Blaser, Mario (2018): Pluriverse. Proposals for a World of Many Worlds. In: dies. (Hg.): A World of Many Worlds. Durham u. a., S. 1-22. Derrida, Jacques (2016): Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Frankfurt a. M. Derrida, Jacques (2020): Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a. M. Escobar, Arturo (2015): Commons im Pluriversum. In: Helfrich, Silke/Bollier, David/Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Die Welt der Commons. Muster gemeinsamen Handelns. Bielefeld, S. 334-345. Escobar, Arturo (2020): Pluriversal Politics. The Real and the Possible. Durham u. a. Haraway, Donna (2017): Monströse Versprechen. Hamburg. Harney, Stefano/Desideri, Valentina (2013): Fate Work: A Conversation. In: Ephemera: Theory and Politics in Organization. H. 1/2013, S. 159176. Law, John (2011): What’s Wrong with a One-World World. In: heterogeneities.net, online: https://www.heterogeneities.net/publ ications/Law2011WhatsWrongWithAOneWorldWorld.pdf [zuletzt: 10.11.2020].

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Schrader, Astrid (2012): Haunted Measurements: Demonic Work and Time in Experimentation. In: Differences. H. 3/2012, S. 119-160. Sousa Santos, Boaventura de (2012): Die Soziologie der Abwesenheit und die Soziologie der Emergenzen: Für eine Ökologie der Wissensformen. In: Lanwer, Willehad/Jantzen, Wolfgang (Hg.): Jahrbuch der Luria-Gesellschaft 2012. Berlin, S. 29-46. Stengers, Isabelle (2005): Introductory Notes on an Ecology of Practices. In: Cultural Studies Review. H. 1/2005, S. 183-196. Stengers, Isabelle/Debaise, Didier (2017): The Insistence of Possibles: Towards a Speculative Pragmatism. In: Parse. H. 7/2017, S. 13-19. Stengers, Isabelle (2018): The Challenge of Ontological Politics. In: De la Cadena, Marisol/Blaser, Mario (Hg.): A World of Many Worlds. Durham u. a., S. 83-111. Tsing, Anna/Swanson, Heather/Gan, Elaine/Bubandt, Nils (2017): Haunted Landscapes of the Anthropocene. In: dies. (Hrsg): Arts of Living on a Damaged Planet. Ghosts of the Anthropocene. Minneapolis, S. 1-14. Yusoff, Kathryn (2016): Anthropogenesis: Origins and Endings in the Anthropocene. In: Theory, Culture & Society. H.2/2016, S. 3-28.

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Relevante Praktiken der Gegenwart mit lückenhafter Infrastruktur Ein Kommentar zu G. Maria Soltros Atopischem Manifest Petra Sabisch

1.

Die Zukunft ist antastbar

Das Versprechen einer besseren oder überhaupt planbaren Zukunft, das dem Anthropozän als Antrieb für seine vielfältigen Gestaltungen und Verwüstungen diente, scheint passé zu sein. Der »Zeitvektor«, so der Intendant des Hauses der Kulturen der Welt in einem Statement zur aktuellen Corona-Pandemie, habe sich durch die von Menschen geschaffenen Strukturen verkehrt, so dass die Zukunft hinter uns liege, »und die Vergangenheit vor uns« (Scherer, 2020). In Bezug auf den Klimawandel hatte Greta Thunberg den unverfrorenen Raub der Zukunft bereits Ende 2018 treffend zum Ausdruck gebracht: »Now we probably don’t even have a future any more. Because that future was sold so that a small number of people could make unimaginable amounts of money. It was stolen from us […]« (Thunberg 2018). So ungleich der Kampf gegen den Klimawandel und der gegen die derzeitige Corona-Pandemie auch ist, stimmen beide Perspektiven in der Diagnose einer schwindenden Zukunft überein, die viel zu lange als antastbar vorausgesetzt wurde. In der Eröffnung des Atopischen Manifests knüpft G. Maria Soltro mit der Frage »Worin wird Zukunft bestanden haben?« an genau dieses Abhandenkommen einer projizierbaren Zukunft an. Die Zeitform der vollendeten Zukunft spiegelt in der nüchternen Bestandsaufnahme

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»Wir werden in Häusern gelebt haben« (#2) die zeitgenössische Retrospektive auf eine abgeschlossene Zukunft als ein nicht mehr erreichbares und irreversibles Davor. # Ein verunsicherter Engel Was passiert angesichts dieser entwendeten Zukunft nun mit Klees »Angelus Novus« und Benjamins Engel der Geschichte? Wohin wendet er sein Antlitz, wenn sich der Zeitvektor verkehrt hat und die Vergangenheit jetzt vor UND hinter ihm liegt? Wer verfolgt seine Not im unaufhaltsamen Kampf für die Würde und gegen das Vergessen?

2.

Atopie als Kritik der uninvolvierten Distanz

Nicht nur vor dem Hintergrund der Corona-Krise entpuppt sich Soltros Atopisches Manifest als aktuell. Wer kann in Zeiten des Physical Distancing nicht die Aussage bestätigen, dass wir »die Regelhaftigkeit einer vergangenen sozialen Ordnung schmerzlich vermissen« werden? (#2) Die Frage nach der Zukunft insistiert. Wenn Ziele heute kaum mehr projizierbar seien, weil das »Werden« seine Offenheit verliert, kämen, so Soltro, atopische Strategien ins Spiel. Worin bestehen diese genau? Können sie Prozesse des Werdens vielleicht doch noch gestaltbar machen? Interessanterweise wird das Atopische von Soltro zunächst eher als Leerstelle eingeführt, und zwar vor allem in Abgrenzung zur »spezifischen Operativität« des Utopischen im »Differential des Möglichen und Unmöglichen« (#2). Es zeigt sich als eine Art Paradigmenwechsel von einer Unterscheidung des sich gegenseitig befeuernden Utopischen und des Topischen zu einer noch zu denkenden, nicht-verortbaren Zukünftigkeit ohne Offenheit. Atopisch bezeichnet wörtlich das, was sich nicht an der dafür vorgesehenen Stelle befindet, was ohne Ort, was ver-rückt ist sowie das, was sich nicht in den verortbaren Bahnen, also unkonventionell zeigt. Aus Sicht der von Soltro für die Gegenwart detektierten »atopische[n] Schreibweise der Zukunft« (#4) scheint es gerade die im

Relevante Praktiken der Gegenwart mit lückenhafter Infrastruktur

Utopischen vollzogene Auslagerung des Möglichkeitsraums zu sein, die wesentlich für den »komfortablen Zuschauer*innenplatz« sei, den Soltro als »Schauplatz der Optionen« kritisiert. Insofern zeichne gerade das Möglichkeitsregime verantwortlich für jenen »distanzierenden Modus der Kontingenz« (#5), den es aufzuheben gelte. Gegenstand von Soltros Kritik ist entsprechend nicht etwa die fehlerhafte oder unausgeschöpfte Realisierung der Utopien, sondern vielmehr das epistemische Regime der »reflexive[n] Distanz (#2). Im Unterschied zum Utopischen verringere sich im Atopischen diese Distanz zum Gegenstand der Betrachtung, also jener Abstand zu gelernten Ordnungen der Dinge, zur objektiven Wissenschaftssprache sowie zur zitierten Literatur, deren Funktion sich entsprechend vom sachlichen Nachweis hin zur Begleitung von Kompliz*innen verlagert. Erst am Ende des Textes buchstabiert Soltro ihr Verständnis der atopischen Strategien aus: »Freundschaften mit Dingen schließen, uns mit ihnen unterhalten. Dinge sein. Körper transformieren. Stimmen modulieren. Kompossibilitäten generieren. Sprachen erfinden […]« (#5). An dieser Stelle lohnt es sich, einzuhaken. Wäre für Soltro das epistemische Regime der Praxis ein geeigneterer Denk- und Handlungsrahmen, um die schwindende Zukunft atopisch zu gestalten? Ist das Möglichkeitsregime wirklich das Haupthindernis für ein sinnstiftendes Handeln? Oder ist das nicht vielmehr eine Frage der Perspektive? Schließlich verfügen schon heute die meisten keineswegs über eine komfortable Distanz: Rojava, Moria, Halle… Vielleicht spielt der seltsam vereindeutigte Appell »Entmöglicht euch!« genau auf diesen Wunsch nach einer Immanenz der Auseinandersetzung an, in der das NichtInvolviertsein keine Option mehr darstellt. i_frastr_kt_r #165 Eine systemrelevante Biene surrt durchs Bild.

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i_fr_______ #14 Ein anderes Bild assoziert sich, keine Allegorie, sehr wohl verortbar. Ein 2400 Quadratkilometer großer Heuschreckenschwarm zerstört an einem Tag die Nahrung von 35.000 Menschen in Ostafrika. Keine Utopie in Sicht.

3.

Dringliche, relevante Praktiken

Wenn man den Kampf um die Zukunft nicht als bereits verlorenen aufgibt, so erscheint die Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Praktiken, die sich diesem Kampf stellen, als dringend erforderlich. Denn im Unterschied zu den kritisierten Möglichkeitsregimen sind Praktiken situiert, materiell verfasst, und sie verbinden Handlungsweisen mit einer konkreten, empirisch ausgerichteten Theoriebildung (Schmidt 2012, 24). Soltro weist selbst auf solche Praktiken hin, die die Grammatik der Moderne in ihrem Gemachtsein hinterfragt hätten (#4). In diesem Sinne entsprechen Praktiken einer atopischen Zurückweisung der epistemischen Distanz zu den Dingen, hin zu einer erkenntniskritischen Transparenz der eigenen Involviertheit. Interessanterweise tauchte gerade im Kampf um Zukunftsgerechtigkeit Thunbergs dezidierte Aufforderung auf, die politische Agenda nicht mehr von dem politisch Möglichen bestimmen zu lassen, sondern von dem, »what needs to be done« (Thunberg, 2019). Damit gab die Fridays for Future-Bewegung den wesentlichen Anstoß für eine quer zu den vorherrschenden politischen Praktiken liegende Agenda der Dringlichkeit und Relevanz. Wie eine solche Agenda der Dringlichkeit in der Corona-Krise plötzlich die Rituale des politisch Möglichen in Frage stellt, wird derzeit besonders im Vergleich zur Klimakrise schmerzlich deutlich. Während die grundsätzliche Frage der Relevanz in der Corona-Krise überraschend erlaubte, den politischen Alltag anders zu gestalten und damit die Mär der Selbstregulierung des Marktes für kurze Zeit auszusetzen, zeigt sich in der bis dato politisch inadäquaten Antwort auf die Klimakri-

Relevante Praktiken der Gegenwart mit lückenhafter Infrastruktur

se eher die zynisch administrierte Bilanzierung eines vorausgesetzten Möglichkeitsraums der Zukunft. infrastrukt__#42 (Anonym, 2017, 23)  

Dieses Gedicht wurde bereits nach der ersten Strophe  

    

abgesetzt. Erst blieben die Leser und Leserinnen aus, dann die Werbekunden und Werbekundinnen. Einige   besonders treue Fans sammelten im Internet Geld für eine zweite Strophe. Allerdings blieb diese weit unter den Erwartungen. Mitten in den Arbeiten zur dritten   Strophe war dann endgültig

4.

Das Ende der Zukunft beginnt in der Gegenwart

Auch in einer atopischen Welt, in der die Zeit ihre Richtung verloren zu haben scheint und heterogene Räume gleichzeitig nebeneinander existieren, gibt es mannigfaltige Praktiken. Praktiken, die einen Unterschied machen, indem sie neue Verwandtschaften und Dynamiken eingehen, ungerechte Regime anfechten, vielfältige Perspektiven einbeziehen, Spielräume nutzen… Genau in der Differenz ihres Wie, Wer, Warum und Womit liegt ihr u- und dystopisches Moment. Es ist ihnen so immanent wie ihre Gleichzeitigkeit. Zeitgleich verlaufen jene Praktiken, die um eine Zukunft für alle ringen, jene, die nur auf die eigene Zukunft setzen und jene, die schon jetzt ohne Zukunft auskommen müssen…

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Gerade, weil das Ende der Zukunft zwangsläufig in der Gegenwart beginnt, gilt es, die Gleichzeitigkeit dieser Praktiken UND die ihrer fehlenden Möglichkeitsräume bzw. ihrer lückenhaften Infrastrukturen zu konfrontieren. Die Topologien dieser gesellschaftlichen Praktiken aufzuzeichnen und ihre Unterbrechungen wissenschaftlich zu untersuchen, ist dann kein logischer Widerspruch mehr, sondern vielmehr die Bedingung für Bildung*en im weiteren, nicht nur anthropozänen Sinne. Diese unendlich ungleiche Gleichzeitigkeit ist das Atopische.

Literatur Anonym (2017): Dieses Buch trägt diesen Titel. Herausgegeben von sich selbst. roughbook 044, Wuppertal. Sabisch, Petra (2017): »For a Topology of Practices. A Study on the Situation of Contemporary and Experimental Dance, Choreography and Performance in Europe (1990-2013)«. In: Brauneck, Manfred/ITI Germany (Hg.): Independent Theatre in Contemporary Europe. Structures – Aesthetics – Cultural Policy. Bielefeld, S. 43-184. Scherer, Bernd (2020): »SARS-COV-2 oder die Begegnung mit uns selbst«, https://www.hkw.de/de/hkw/mag/bernd_scherer_sars_cov 2_or_the_encounter_with_ourselves.php [zuletzt: 14.5.2020]. Schmidt, Robert (2012): Soziologie der Praktiken. Berlin. Thunberg, Greta (2019): «,You did not act in time‹: Greta Thunberg’s full speech to MPs«. In: The Guardian. 23.04.2019. Online: https://www .theguardian.com/profile/greta-thunberg [zuletzt: 24.5.2020]. Thunberg, Greta (2018): »Greta’s speech 2018-12-13 at COP in Katowice, Poland.« Online: https://www.massa-critica.it/2018/12/speciale-co p24-katowice-il-discorso-della-15enne-greta-thunberg-la-nostra-b iosfera-viene-sacrificata-per-far-si-che-le-persone-ricche-possan o-vivere-nel-lusso/ [zuletzt: 27.5.2020].

Unterwegs. Ein Mailgespräch Berlin – Bangkok Luisa Anna Pazzini, Karl-Josef Pazzini

KJP Das dauernde Unterwegssein im wörtlichen Sinne ist schon aus energie- und verkehrspolitischen Überlegungen problematisch. – Unterwegs nach Atopia ist als Heraus(!)forderung interessant. »Wann wir schreiten Seit‹ an Seit‹«1 , heraus »Aus grauer Städte Mauern«2 und aus »dem Idiotismus des Landlebens« (Marx/Engels 1847, 466) oder lieber mit Marinetti: »Bis heute hat die Literatur die gedankenschwere Unbeweglichkeit, die Ekstase und den Schlaf gepriesen. Wir wollen preisen die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag.« (Marinetti 1909).3 Für den dauernden Einfall, dass das, was sich für Zukunft wünschen lässt, dass das, was gefunden werden soll, nie so sein wird, wie wir es uns vorstellen können, dass etwas leer, frei, unbestimmt gehalten

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Lied aus der Jugendbewegung, Text Matthias Claudius [1913], Melodie: Michael Englert [1915]; auch zur SPD-Hymne geworden. Online: http://hermann-claudi us.de/index.php?menuid=42 [zuletzt 23.02.2021]. Lied aus der Jugendbewegung [etwa 1920] (Text von Hermann Löns und Hans Riedel). Online: https://de.wikipedia.org/wiki/Aus_grauer_Städte_Mauern [zuletzt 23.02.2021]. Zitiert nach Harrison/Wood 2003, 185. Der ebenfalls von G. Maria Soltro zitierte Marinetti wurde auch von italienischen Faschisten genutzt, er hatte schon früh Kontakt zu Mussolini.

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werden muss, ist die Idee einer Atopie ganz wichtig. Das ist Bildung oder Kultur. Konkret braucht Atopie Stützen, Fiktionen, ästhetische Vergewisserung, um andere und sich und die Umgebung spüren, fühlen zu können, ein jeweils heimatliches Moment. LAP Der Begriff Atopie beschreibt auch einen Zustand, eine Allergie oder eine Überempfindlichkeit, die für die Mehrheit der Menschen jedoch keine Gefahr darstellt. KJP An diese Begriffsverwendung hatte ich noch nicht gedacht. Die trifft etwas Wichtiges. Die medizinische Atopie ist ein Leiden des Einzelnen, stellt jedoch indirekt eine Gefahr dar; denn der Einzelne ist immer auch verbunden mit Anderen. Gereiztheit und Ungeduld können schon politische Effekte haben. Jacques Lacan konstatiert: »[…] ich sage nicht einmal, dass die Politik das Unbewusste ist, sondern einfach: Das Unbewusste ist die Politik.« (Lacan 1967, séance du 10 mai) – Ein weites Feld. LAP Eine Atopie, die ich als grenzenlosen Zukunftsraum beschreibe, braucht deshalb Stützen, die auf den Erfahrungen unserer Vergangenheit beruhen. Hier und jetzt brauchen wir konkrete Stellungnahmen zu den allgegenwärtigen Schieflagen unserer Gesellschaft, – um uns überhaupt eine nähere Zukunft vorzustellen zu können, die nicht so enden wird wie diese Vision einer möglichen Zukunft von José Eduardo Agzalus: »Als die Welt untergegangen war, sind wir in den Himmel gegangen. Die Katastrophe – die Überschwemmung – ist mehr als dreißig Jahre her. Das Meer stieg und hatte die Erde verschluckt. Die Temperatur an der Oberfläche war nicht mehr auszuhalten gewesen. Innerhalb weniger Monate hatte man Hunderte riesige Luftschiffe gebaut.« (Agzalus 2013, 11). Schauen wir uns die Klimakrise an, erkennen wir, dass die Menschen viel zu lang versucht haben, die Umwelt ohne Zusammenhangsden-

Unterwegs. Ein Mailgespräch

ken umzuformen oder zu kolonialisieren. Dies beginnt mit der Aufklärung, mit einer dualistischen Weltanschauung, Früchte zu tragen. Der Mensch wurde zu lange getrennt von der Natur betrachtet. Dabei ist er selbst Natur. Innen das Denken und draußen die Objekte. Egal, wo wir hinschauen, finden wir heute immer noch binäre Unterscheidungen Mensch – Natur, Nord – Süd, Afrika – Europa, Entwickelt – Unterentwickelt, Gleich – Ungleich, Subjekt – Objekt usw. … »Ein Prozent der Menschheit schaffte es so, in den Himmel zu kommen, fort aus der Hölle da unten. Sechs Millionen vielleicht auf der Flucht. Doch die meisten der Flöße hielten nicht lang, stürzten ab und versanken im Meer.« (Ebd., 11) KJP Wohl eine Utopie, die nie eintreten soll. Am Rande: Als Psychoanalytiker könnte ich auch befürchten, dass darin ein Genuss am Untergang liegt. LAP Ja, so kann die Zukunft aussehen, wenn wir Menschen weiterhin so leben, wie wir leben. Vor allem nicht nachhaltig. Und vor allem ungleich. So wie Agzalus beschreibt, werden Menschen auch noch nach dem Weltuntergang nicht die gleichen Chancen auf ein sicheres Leben haben. Gründe für die Ungleichverteilung lassen sich im Kolonialismus und mit der Einführung der neoliberalen Reformen finden. Eine Folge des Neoliberalismus ist die ausgeprägte Konzentration auf Einkommen und Kapital, was eine soziale Polarisierung zu Folge hat, zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden. Aufgrund der vielen Ungleichheiten, die Individuen verspüren, kann das zu sozialen Ängsten führen und ebenfalls nationalistische Tendenzen mit sich bringen. KJP Atopie ist eine Form von Verneinung, einer Wegnahme, ein Zustand ohne Ort. In dieser Verneinung klingt noch nach, dass man eigentlich einen identifizierbaren Ort, einen Grund für Leiden zu finden wünscht. In einem mittlerweile veralteten naturwissenschaftlichen Denken, das in der gegenwärtigen Physik selber kaum mehr vorzufinden ist. Selbst Freud hatte schon früh gemerkt, dass das nicht weiterführt (schon im

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vorletzten Jahrhundert) (vgl. Freud/Breuer 1985, 227). Es braucht ein multirelationales Denken, das auch die Beziehungen selber denkt. Das macht eine starre Trennung von Subjekt und Objekt unmöglich. Er nennt das Übertragung, ein Zwischenzeitort, der niemandem gehört – wie die Liebe. LAP Der Terroranschlag von heute (20.02.2020) will auch gewaltsam zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Gutem und Bösem unterscheiden. Es ist der zweitgrößte, rechte Terroranschlag nach der deutschen Wiedervereinigung. Es wird sichtbar, dass rechter Terror nicht für alle gleichermaßen eine Gefahr darstellt, sondern besonders einer bestimmten Zielgruppe gilt: die Zielgruppe, die als »the other«4 (die Anderen) dargestellt wird. Würde die Gefahr alle Menschen betreffen und betroffen machen, so sähe die Reaktion der Menschen in Deutschland sowie der deutschen Politik anders aus (siehe hier auch den oben erwähnten Begriff der medizinischen Atopie, der sehr gut dazu passt). KJP Die alte Denkweise, heute muss man Denkersparnis sagen, ist extrem beunruhigend. Denn es kann zu Gewalt führen, wenn keine direkten Ursachen für das eigene Unwohlsein ausfindig gemacht werden können. Die Ursachen werden dann z. B. mit topisch, ohne jedes u- oder a-, zielenden Waffen illusionär produziert und ebenso illusionär ausgelöscht. Aber dieser Attentäter, ohne dass ich schon Näheres weiß, muss etwas geahnt haben davon, dass sein Problem so nicht aus der Welt zu schaffen ist. Er tötete in einem Reflex seine »Ursache«, seine Mutter und sich selbst. Das ist die Inszenierung eines veralteten, gewalttätigen, verrückten Ursache-Wirkungs-Denkens, das sich im Kreis bewegt. Das passiert, wenn Bildung nicht ausreicht, die produktive Spannung aus Ambiguität, Ambivalenz und Paradoxie zu halten. Denken und Wahrnehmen werden verrückt. Das gilt natürlich ebenso

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Diese Art des Denkens spiegelt die eurozentristisch geprägte Weltansicht wider, andere Kulturen, die nicht westlichen entsprechen, als »unterentwickelt« darzustellen (vgl. dazu auch Hall 1992).

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für die politischen Einflüsterer besonders in der AFD, der CDU und der FDP, die Stimmung machen – das Gleitmittel für solche Taten. LAP Ich denke, dass die nähere Betrachtung eines einzelnen Attentäters und seiner psychischen Probleme nicht weiterführt. Es besteht nämlich die Gefahr, wenn wir uns zu sehr auf die psychologischen Ursachen eines einzelnen Rechtsradikalen fixieren, dass wir den Terroranschlag nur auf die psychische Krankheit des Täters reduzieren. Vielmehr macht es Sinn, sich die Komplexität der Gedanken vieler Menschen gleichzeitig anzuschauen. Gründe für die Gewaltbereitschaft von Menschen in unserer Gesellschaft sind besonders auf soziale Ängste und Unsicherheiten zurückzuführen. Unsicherheiten, die geprägt sind durch die immer weiter zunehmende Spannung zwischen Globalisierung und Identität. Durch Globalisierungsprozesse wie kulturelle Hybridisierung, vermehrte Bewegung und Austausch von Menschen auf den sieben Kontinenten der Welt verspüren Individuen Angst und fürchten den Verlust ihrer eigenen kulturellen Identität. Daraus resultiert, dass vermehrt Menschen nach festen Orientierungspunkten suchen und sich von anderen Kulturen abgrenzen wollen (vgl. Meyer/Geschiere 1999, 602). Um ihre eigene kulturelle Identität zu bewahren und auch zu beschützen, glauben Menschen Sicherheit in der Zugehörigkeit zu nationalistischen, rechten Gruppierungen zu finden. Es werden Naturtatsachen wie z. B. Volk oder Deutscher phantasiert, die dann durch Gewalt, quasi im Rückstoß, erst produziert werden. Identität wird so durch Abgrenzung und Ausgrenzung definiert. Immer wieder entsteht das veraltete Konzept des Nationalismus als Konsequenz des Kosmopolitismus (vgl. Hyslop 2008, 4). KJP Du lebst, ja viel globaler oder internationaler als ich. Welche Bezeichnung würdest Du bevorzugen? Kannst Du neue Formen eines utopischen Lebens konturieren? Gibt es für Dich eine Idee für die Loslösung von der Nation? In welche Richtung könnte Politik arbeiten, wie kann das mit Kunst, Wissenschaft und Bildung angegangen werden? Ist Dir da etwas begegnet?

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LAP Meinst Du ich lebe gerade globaler wegen meines Studiums? Oder generell, heute in unserer Gesellschaft? Ich würde auf jeden Fall bei beidem sagen, dass ich in einer globalen Gesellschaft lebe, da der ökonomische Austausch beispielsweise mehrere Kontinente umfasst, und »global« diesen größeren Umfang an Verbindungen zwischen Ländern besser bezeichnet. International bezeichnet ein kleineres Spektrum von Verbindungen zwischen zwei oder drei Ländern. KJP Steckt darin Utopie oder Atopie? LAP Wenn ich mir eine Utopie ausmalen könnte, dann wäre das eine Gesellschaft ohne weiße Vorherrschaft, ohne patriarchale Strukturen und Neoliberalismus. Eine Gesellschaft, in der Individuen nicht als einzelne Einheit betrachtet werden, sondern als einer Gemeinschaft zugehörig. Eine vorgestellte Gesellschaft, die nicht nach universellen, westlichen Theorien weißer Männer handelt, die ihren Diskurs anderen Menschen aufzwingt. Sondern wir brauchen eine Welt, wo »pluriverse« Ideen, Gedanken und Theorien akzeptiert werden. »The pluriverse can be described as a world where many worlds fit.« (Escobar 2011, 139) Oder: »Imagine living in a world where there is no domination, where females and males are not alike or even always equal, but where a vision of mutuality is the ethos shaping our interaction.« (Hooks 2000, X) Das ist natürlich eine sehr traumhafte Vorstellung, konkrete Lösungsansätze fallen mir noch nicht ein. »Pluriversality as a universal project is aimed not at changing the world (ontology) but at changing the beliefs and the understanding of the world (gnoseology), which would lead to changing our (all) praxis of living in the world. Renouncing the conviction that the world must be conceived as a unified totality (Christian, Liberal, or Marxist, with their respective neos) in order for it to make sense, and viewing the world as an interconnected diversity instead, sets us free to inhabit the pluriverse rather than the universe. And it sets us free to think decolonially about. The pluriversality of the world rather than its universality.« (Mignolo 2018, X)

Unterwegs. Ein Mailgespräch

KJP Träumen ist ja schon mal was. Im Mai 1968 hieß es in Paris: »Unterm Pflaster liegt der Strand.« Wenn wir auch keine Fortschrittsgläubigen mehr sein können, so geht es doch um die Dimension einer Zukunft, eben ein Unterwegssein auf ein Ziel hin (Utopie), das wir so, wie wir es uns vorstellen, nie erreichen werden (Atopie). Demokratie ist ohne klar konturierte Versionen von Zukünften, die im Wettstreit miteinander stehen, nicht existenzfähig. Das sieht man an der weitgehend utopiefreien Politik der letzten großen Koalitionen mit der Exponenten Angela Merkel und ihrem Vorläufer Helmut Schmidt mit seiner Rede, dass der, der Visionen habe, zum Psychiater gehen solle. Zur wichtigen Dimension der Zukunft habe ich etwas von Timothy Snyder gelesen: »Denn wenn wir glauben, dass unsere Stimme zählt, wenn wir glauben, dass unsere politische Partizipation zählt, wenn wir glauben, dass selbst die kleinen Dinge, die wir tun, etwas bewirken, dann erschaffen wir die Zukunft – in unseren Köpfen und sogar in Politik und Gesellschaft. Also gibt es eine Wechselwirkung zwischen der Demokratie und unserer Vorstellung von der Zukunft. Ich möchte Ihnen heute den folgenden Vorschlag machen: Wenn wir unsere Demokratie wiederhaben wollen, wenn wir wollen, dass sie funktioniert, dann müssen wir beginnen, nachzudenken: über die Zukunft, über unseren Weg in die Zukunft und darüber, wie wir die Zukunft wieder zurück in die Politik bringen.« (Metzger 2020). Die Politik einer Alternativlosigkeit und die Illusion, dass Demokratie sich von selber weiter entwickelt, sind gescheitert, auch insofern, dass mit Fundamentalismus, mit maximaler Denkersparnis und letztlich blöder Gewalt, die noch einmal ein Existenzgefühl aufscheinen lässt, gezeigt wird, dass es Alternativen gibt. Die sind bedrohlich. LAP Ich stimme zu, dass wir den Gedanken an die Zukunft wieder in die Politik bringen müssen. Vor allem fehlt uns heute der Austausch zwischen Menschen verschiedener, gesellschaftlicher Gruppierungen

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und Herkünfte. Wünschenswert wäre ein Dialog auf Augenhöhe mit Politikern, die die Macht haben, Entscheidungen zu treffen. Es muss ein Rahmen gefunden werden, in dem Menschen die Möglichkeit haben, teilzuhaben an politischen Diskussionen und Entscheidungen. Vielleicht angefangen in Nachbarschaftsgruppen und dann auf einer weiteren Ebene. Ich denke, dass wir Antworten zu einer alternativen Demokratie in indigenen Bevölkerungen, im Globalen Süden, finden können. Außerdem können besonders verschiedene Kunstrichtungen (z. B. Musik: Hip-Hop, Queere Performance etc.) helfen, auf gesellschaftliche Schieflagen aufmerksam zu machen. Wir sollten uns vermehrt dafür einsetzen, dass mehr Menschen dazu Zugang haben und die darauffolgenden Diskussionen nicht nur auf einer bürgerlichen Ebene stattfinden. Ananya Roy schreibt in »Essay und Diskurs«, dass nach W.E.B. Du Bois das fortwährende Problem des 21. Jahrhunderts die »color line ist« (Roy 2019). Das entspricht meinen Erfahrungen: Immer wieder werden Hautfarbenunterschiede als wesentlich konstruiert. Ohne Reden verfestigt sich das. So muss heute dringend ein Dialog geführt werden mit AFDlern, um ein internalisiertes, rassistisches Denken, das seit dem Kolonialismus und der Sklaverei fast unverändert geblieben ist, aufzuarbeiten. Um dies zu bekämpfen, braucht es einen Dialog. Besonders auch mit der Mitte der Gesellschaft. Zum Beispiel mit linken, weißen Menschen, die Sozialwissenschaften studieren, aber trotzdem »farbenblind« sind, Rassismus relativieren und sich bei jeglicher Form der Kritik über zum Beispiel das Benutzen von rassistischer Sprache wie »Schwarzarbeiter« oder »Schwarzfahren« oder »Schwarzmarkt« sofort angegriffen fühlen und dies relativieren müssen (vgl. Sow 2008). Oder die sich, wenn man eine generelle Aussage trifft wie »weiße Vorherrschaft ist ein globales Problem«, sofort auf persönlicher Ebene angegriffen fühlen und antworten: »Aber nicht alle Weißen sind dominant und rassistisch.« Diese Art von Argumentation ist gefährlich. »The problem of the twentieth century is the problem of the colorline.« (Du Bois 1903, 29)

Unterwegs. Ein Mailgespräch

KJP Ein Gespräch, solange es dauert, ist in gewisser Weise auch atopisch. LAP Um die zur Verfestigung neigenden Strukturen aufzuheben, braucht es eine Dekolonialisierung der Schulen und Universitäten (vgl. dazu Mbembe 2016), und »kritische weißsein Workshops«5 sollten Pflicht werden. Und vor allem müssen wir jetzt BIPoC Menschen zuhören.

Literatur Agzalus, José Eduardo (2019): Das Leben im Himmel. In: Morgenrath, Christa/Wernecke, Eva (Hg.) (2019): Imagine Africa 2060. Geschichten zur Zukunft eines Kontinents. Wuppertal, S. 11-27. Du Bois, W. E. B. (1903): The Souls of Black Folk. New York. Escobar, Arturo (2011): Sustainability. Design for the Pluriverse. Development. H. 2/2011, S. 137-140. Freud, Sigmund/Breuer, Josef (1960 [1895]): Studien über Hysterie. In: Freud, Anna (Hg.): Gesammelte Werke Bd. I. Frankfurt a. M., S. 75312. Hall, Stuart (1992): West and the Rest: Discourse and Power. In: ders.: Essential Essays. Volume 2, Durham, S. 185-227. Harrison, Charles/Wood, Paul (Hg.) (2003): Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Band 1. Ostfildern-Ruit Hooks, Bell (2000): Feminism is for Everybody. Passionate Politics. London. Hyslop, Jonathan (2008): Ghandi, Mandela, and the African modern. Princeton. Lacan, Jacques (1967): La logique du fantasme. Le Séminaire. Übersetzt von Rolf Nemitz. Online: https://lacan-entziffern.de/texte/die 5

Z. B. einen kritischen Weißsein Workshop bei Lawrence Oduro-Sarpong in Berlin. Online: AfricAvenir International e.V – https://www.africavenir.org/. [zuletzt: 23.02.2021]

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-seminare-2-seminar/seminar-14-die-logik-des-fantasma/ [zuletzt 23.02.2021]. Marx, Karl/Engels, Friedrich (1971 [1847]): Manifest der Kommunistischen Partei. In: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hg.): Marx-Engels-Werke, Bd. 4. Berlin, S. 459-493. Mbembe, Achille Joseph (2016): Decolonizing the university: New directions. In: Arts and Humanities in Higher Education. H. 1/2016, S. 29-45. Meyer, Birgit/Geschiere, Peter (Hg.) (1999): Globalization and identity: Dialectics of flow and closure. Hoboken. Metzger, Stephanie (2020): 55 Stimmen für die Demokratie. Essay und Diskurs. Deutschlandfunk. (gesendet 16.02.2020). Online: htt ps://www.deutschlandfunk.de/55-voices-fukuyama-snyder-55-sti mmen-fuer-die-demokratie.1184.de.html?dram:article_id=468949 [zuletzt: 01.03.2020]. Mignolo, Walter D. (2018): Foreword. On Pluriversality and Multipolarity In: Reiter, Bernd (Hg.): Constructing the Pluriverse. The Geopolitics of Knowledge. Durham, S. IX-XVI. Roy, Ananya (2019): Menschen retten – nicht den Kapitalismus. Deutschlandfunk: Essay und Diskurs. Übersetzt von Cornelius Dieckmann. Online: https://www.deutschlandfunk.de/urbanistinananya-roy-menschen-retten-nicht-den-kapitalismus.1184.de.htm l?dram:article_id=465982 [zuletzt: 01.03.2020]. Sow, Noah (2008): Deutschland Schwarz Weiß: Der alltägliche Rassismus. Norderstedt.

Bilder als Allianzen für gegenspekulative Gegenwartsbewältigung Konstanze Schütze

Es soll bei nichts Geringerem begonnen werden als bei der Wahrnehmung der Zeit und den Implikationen, die jede Veränderung daran mit sich bringen muss. In diesem Beitrag werden ästhetische Untersuchungen an Zeitverhältnissen als Allianzen für eine spekulative (ggfls. auch atopische) Kunstpädagogik vorgestellt. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist dabei die Annahme, dass die Gegenwart sich zwischen Vergangenheit und Zukunft zu jedem Zeitpunkt in Auflösung befindet und sich nur momenthaft stabilisieren kann (vgl. Quent 2016; Avanessian/Malik 2016). Ein Effekt der durch die Omnipräsenz des Internets, eine durchgreifende Digitalisierung und die Algorithmisierung fast aller Lebensbereiche weit in die kulturellen Praxen online wie offline hineinwirkt. Die resultierende technosoziale Verwobenheit hat weitreichende – aber oft unbemerkte – Auswirkungen auf die Anforderungen des Alltags und prägt Selbst- und Weltverhältnisse nachhaltig. Vom Finanzprodukt über Pandemieprognosen, vom Wetter bis zu Immobilienpreisen ist alles simulierbar und lässt sich vermeintlich vorausberechnen. Es entsteht der Eindruck, dass die Gegenwart zugunsten der Zukunft zerrinnt. Die Möglichkeiten einer Gestaltung in der Gegenwart wirken entsprechend eingeschränkt und auf eine vorherbestimmte, interpolierte Zukunft zugeschnitten. Die geschäftsführende Logik der Gegenwart scheint ein lückenloses Monitoring von Vergangenheitsdaten zu sein, dass über Musterverarbeitung die Bedingung für das Handeln in der Gegenwart unausweichlich aufstellt. Gerald Raunig spricht gar von »simulierten Linien«, die in die Zukunft

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gezogen werden um die Gegenwart zu kolonisieren (Raunig 2016, 12). Die Gegenwart bleibt dabei endlos lang, ohne jemals gegenwärtig zu sein. Es ließe sich viel darüber spekulieren, wo genau der Anfang und die Verantwortlichkeiten für diese Entwicklungen zu suchen wären, und wohin dieser Umbau der Wahrnehmung in letzter Konsequenz führen könnte. Unabhängig davon ist jedoch sicher, mit den damit einhergehenden medialen und gesellschaftlichen Veränderungen formt sich ein gewandelter State-of-Mind1 , der wiederum neuerlich veränderte kulturelle Praxen hervorbringt. Dieser selbstverstärkende Effekt ist nun in doppelter Hinsicht relevant für die Kunstpädagogik und die kulturelle Bildung, denn eine so fundamentale Logikverschiebung an den Werkzeugen und Materialien bedingt eine Verschiebung der Arbeitsbedingungen, Referenzsysteme und Methoden des Feldes und baut gleichsam die Bedingungen für Verhandlungen an dessen Rändern grundlegend um. Einen der zentralsten Knoten der skizzierten Verschiebungen markiert das Bild. Angesichts der fundamentalen Veränderungen von Zirkulationsmodi und Aufmerksamkeitsmustern (z. B. in Social Media), aber auch durch Verschiebungen in ihren Bezugssystemen, steht die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Bild mitten in einem Paradigmenwechsel. Aufgrund der Vielzahl zirkulierender Bilder steht das geniale Einzelbild ebenso in Frage wie die Kunst in ihrer seismografischen wie kommentierenden gesellschaftlichen Funktion. Bilder und bildliche Agitationsversuche gibt es schlicht genug. Lassen Sie es mich aber nochmal produktiv wenden. Für den französischen Philosophen Maldiney »stehen Bilder [nun] nicht im Präsens, sondern im Aorist, einer Zeit, die vor der Zeit des Sprechers liegt«, wie

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Gemeint ist damit eine veränderte Geisteshaltung, die Art und Weise, mit der man der Gegenwart bewusst wie unbewusst begegnet. Vgl. Carson Chan nach Müller 2011.

Bilder als Allianzen für gegenspekulative Gegenwartsbewältigung

Emmanuel Alloa unterstreicht.2 Mit dem Begriff Aorist markiert Maldiney (und mit ihm Alloa) dabei eine Zeit, die von der Zeiterfahrung der Sprecher*innen abweicht. Die Bilder sind vom kommenden (also zukünftigen) genauso wie vom bereits vergangenen Geschehen informiert und verorten sich außerhalb der physischen und chronologischen Realität der Sprecher- oder Betrachter*innen. Dabei ist die Annahme zentral, das Bildgeschehen stünde außerhalb der Zeit, wüsste von Zukünftigem und sei seinerseits unter der äußeren Zeit dennoch bereits vergangen. Das Bild (gemeint ist hier das Einzelbild) ist damit einer eigenen, enthobenen Zeitlichkeit verpflichtet. Die Zeit pausiert sozusagen in diesem Bild und bietet Zugänge zu den Potenzialen des Außerzeitlichen. Das Bild im Aorist befindet sich allerdings nicht nur handlungsbezogen oder abstrahiert in einer enthobenen Zeitlichkeit. In einem Bild kann sich beispielsweise für eine beliebig lange Dauer etwas ereignen, was unter den physisch-chemischen Bedingtheiten des Planeten Erde eigentlich unmöglich gewesen wäre (Henri Maldiney nach Alloa 2011). Besonders eindrücklich wird der Effekt in seinen frühen Andeutungen im analogen Trickfilm, der bänderweise in Bildserien Einzelbild für Einzelbild von den optischen Illusionen im Bild erzählt und Vorläufer für die seriellen illusionistischen Bildgebungsverfahren der Gegenwart (u.a. CGI) sind. Der Aorist des Bildes verläuft entsprechend parallel (oder quer) zur Realität3 und entwirft rein strukturell alternative Gegenwarten (vgl. Alloa 2011). Als Konsequenz ergibt sich daraus auch praktisch ein Verhältnis zwischen Bild und Betrachter*in, das unter den Bedingungen technischer und kultureller Gleichzeitigkeit – vor allem wenn es um Serien von Bildern oder Bewegtbildern geht – nochmals verstärkt und

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Zur ikonischen Temporalität: »Bilder stehen für Maldiney nicht im Präsens, sondern im Aorist, eine von der Zeit des Sprechers (bzw. hier des Trägers) losgelöste Zeit des Sich-Ereignens oder auch […] ein Geschehen, das sich in der Vergangenheit entwickelt als ein noch Kommendes« (Alloa 2011, 27). Elena Esposito hat dies unter dem Begriff der Fiktion – eher für die Literatur, aber mit brauchbaren Analogien für die Bildende Kunst – eingehend und anschaulich systemtheoretisch untersucht (vgl. Esposito2007).

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zudem vielfach überlagert wird. Die Überlegungen einer so organisierten enthobenen Zeitlichkeit im Bild führen mich zu folgender These: Die Momente eigener Zeitlichkeit, wie sie in Bildern auftreten, summieren sich angesichts der unmessbaren Anzahl und hohen Frequenz des Auftretens von Bildern beinahe unendlich, und verwickeln sich in Überlagerung zu einer enthobenen, parallelen Zeitlichkeit. Diesen Effekt – ich nenne ihn probeweise Aorist-Effekt – gilt es systematisch zu untersuchen und dessen Auswirkungen auf eine zunehmende Virtualisierung der Gegenwart zu beschreiben. Genau da lässt sich nun ein Bildungsmoment vermuten und diesem gilt es auf die Spur zu kommen. Gern spitze ich hier hin zur Frage nach einer atopischen Bildung zu: Bilder der Kunst agieren nun per se außerhalb der Zeit und ließen sich damit mit Hannah Arendt als »Lücke« beschreiben, die einen Moment der Vergegenwärtigung bilden und Handlungen überhaupt erst wieder ermöglichen (vgl. Arendt 2013[1968], 16; Tervo 2017). Künstlerische Verdichtungen über Bilder setzen genau da an und untersuchen die eingestülpte Falte zwischen Vergangenheit und Zukunft, die vor dem Hintergrund der Komplexität einer Postdigital Condition entstanden ist. Zugespitzt formuliert: die so verstandene Einstülpung der Zeit bietet einen sehr ausführlichen und bewusst begangenen Moment zur Re-Konfiguration der Verhältnisse der Gegenwart, der kaum anders zu greifen wäre als in der Befremdung durch ein künstlerisches Werk. In den entstehenden Falten wird die Gegenwärtigkeit der unumgänglichen Zukunftsprognose über die Verhältnisse im Bild offengelegt und trotz aller Fragilität entsteht genau dort eine parallele und enthobene – aber wieder vorstellbarere – Zeitlichkeit (vgl. Alloa 2011, 11). In dieser kann sich plötzlich erneut etwas ereignen, denn die Zeit pausiert und verlangt eine produktive Begegnung mit der pausierenden Gegenwart. Die scheinbare Unausweichlichkeit der sich realisierenden Prognosen (zwischen Gegenwart und Zukunft) wird dabei in ihrem Fluss angehalten. Schließlich entstehen über derartigen Momente fragende Entitäten, die sich mit den Verhältnissen konfrontieren und zwischen »gegenwärtiger Zukunft« und »zukünftiger Gegenwart« aufspannen (Esposito 2007, 12). Enggeführt – beispielsweise auf einen winzigen Moment in einem Internetmeme – entstehen über ein kurzzeitiges aufblitzendes

Bilder als Allianzen für gegenspekulative Gegenwartsbewältigung

eines Bildes die Möglichkeiten zur Durchdringung der Gegenwartsgefüge, welche sich zu einer Unendlichkeit der Auseinandersetzung und Handlungsfähigkeit formen kann. Um den skizzierten Bedingungen nun tatsächlich fachlich Rechnung zu tragen und die (neu)entstehenden Formen zu verstehen, wird es nötig sein, auch die Werkzeuge des Verstehens anzupassen oder zumindest zu überdenken. Dafür liefert Kathrin Thiele einen Ansatz, der mir hilfreich bei diesem Anliegen scheint. Indem sie im Anschluss an Rosi Braidotti und Donna Haraway ein Potenzial für kritisch transformative Re-Konfigurationen in einem spekulativen Zugang zum Denken findet, schlägt sie beispielhafte Verbildlichungen (Figurationen) als materiell-semiotische Verbindungen vor, »die helfen können, die Welt oder zumindest einen Teil davon anders wahrzunehmen« (Thiele 2020, 45). Nach diesem Vorschlag käme dem Verbildlichen/Figurieren nicht nur sprachlich, sondern auch räumlich eine konstituierende Funktion in der Durchdringung der Gegenwartsbeziehungen. Über eine Teilnahme an den Verhältnissen, würde noch während des Figurierens gleichzeitig auf die geltenden Narrative Einfluss genommen. Spekulative Forschungswerkstätten, wie ich sie vorschlagen möchte, wären nun entsprechend räumlich-zeitliche Konfigurationen, die materiell-semiotische Verbindungen eingehend untersuchen und die Prinzipien medialer Konstitution auf konsequente Weise auch praktisch anwenden. Über ein kollaboratives Coding von Gegenzukünften werden in (räumlichen) Zusammenkünften tragfähige Vergabelung im kulturellen Code (vgl. forking, Seemann o.J., o. S.) untersucht und eine Wiederaneignung der Zukunft aus der ästhetischen Forschung heraus probeweise entworfen. Mitten in den Verhältnissen werden Bedingungen, Möglichkeiten und Entwürfe gesucht und verstärkt. Dabei wird das Undenkbare nicht unbedingt kognitiv erschlossen, vorausgedacht oder theoretisch konturiert, aber probeweise materiell-ästhetisch verkörpert und im atopischen Raum schlicht zuerst einmal gemacht. Damit lässt sich nun abschließend erneut mit Donna Haraway anknüpfen, die bekanntermaßen postulierte: »Die Grenze, die gesellschaftliche Realität von Science-Fiction trennt, ist eine optische Täuschung« (Haraway 1995, 34). Werkzeuge zu finden, diese zu un-

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tersuchen und einzusetzen, um in den optischen Täuschungen und kolonisierenden Linien der gewohnten hegemonialen Verhältnisse den Ausgangspunkt zu nehmen, könnte Fokus der Auseinandersetzungen mit künstlerischen Angeboten der Gegenwarten sein. Vielleicht ließe sich auf diese Weise eine atopische kulturelle Bildung – und damit auch eine kritische Kunstpädagogik – sozusagen gegenspekulativ entwerfen?

Literatur Alloa, Emmanuel (2011): Der Aufstand der Bilder. In: ders. (Hg.): Bildtheorien aus Frankreich. Eine Anthologie. München, S. 9-41. Arendt, Hannah (2013[1968]): Zwischen Vergangenheit und Zukunft. New York. Avanessian, Armen/Malik, Suhail (Hg.) (2016): Der Zeitkomplex: Postcontemporary. Berlin. Esposito, Elena (2007): Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität. Frankfurt a. M. Haraway, Donna (1995): Ein Manifest für Cyborgs. In: dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt a. M., S. 33-72. Müller, Dominikus (2011): Für eine Handvoll JPGs. Tumblerismus und der Internet State of Mind unter die Lupe genommen. In: De:Bug. Online: http://de-bug.de/mag/fur-eine-handvoll-jpgs/ [zuletzt: 06.03.2019]. Quent, Marcus (Hg.) (2016): Absolute Gegenwart. Berlin. Raunig, Gerald (2016): No Future. Dividuelle Linien, neue Akteure der Kreativität. In: Springerin. H. 1/2016, S. 12-14. Seemann, Michael: Fork! Von Einigkeit und Freiheit. In: Freiheit und Internet. Online: https://www.internet-freiheit.de/fork/ [zuletzt: 09.05.2021]. Tervo, Juuso (2017): Education in the Present Tense. Vortrag: Dank Contemporaneities:One-Day Symposium on the Post-internet. Department of Art, Aalto University, Helsinki (unveröffentlicht).

Bilder als Allianzen für gegenspekulative Gegenwartsbewältigung

Thiele, Kathrin (2020): Figurieren als spekulativ-kritische feministische Praxis. In Angerer, Marie-Luise/Gramlich, Naomie (Hg.): Feministisches Spekulieren. Genealogien, Narrationen, Zeitlichkeiten. Berlin, S. 4361.

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Das Verhängnis des Topos Politische Bildungen im Spannungsfeld des UnMöglichen? Max Barnewitz

Die Gesellschaft als Krankheitsfall – allenthalben bahnen sich neue und neuartige Diagnosen ihre Wege. Dieses und jenes sei zu bewältigen, Entfremdungen diverser Spielarten scheinen die letzten Überbleibsel des Gemeinschaftlichen zu verschlingen. Jene letzte Glut der Solidarität glimmt noch dunkel, trotz Momenten singulären Aufflammens, vor sich hin. Als trauriges Überbleibsel vermeintlich anderer Zeiten, seitdem die Wege von der Gemeinschaft hin zur atomisierten Gesellschaft beschritten wurden. Doch mit dieser Tristesse soll, auch wenn es auf den ersten Blick anders wirken mag, keineswegs in glorifizierender Nostalgie eine vergangenen Vermeintlichkeit heraufbeschworen werden. Vielmehr wohnt einer solchen Heroisierung ein bedrohlicher Zauber inne. Den Zeichen dieser Bedrohlichkeit zum Trotz (oder: gerade in deren Sinne) erleben wir eine Stilisierung von Vergangenheiten zu Zukunftsvorstellungen, die es (aus Sicht der jeweiligen Protagonist*innen) zu bewahren gelte – ganz nach dem Motto von »Retrotopien« (Bauman 2017).

Das Gefühl ideell-politischer Arbeitslosigkeit Politische Alternativen, die ihrem Namen tatsächlich gerecht werden, scheinen beschränkt und grau (Rau 2013, 12). »Einstweilen wird es Mittag«, notierte ein Arbeitsloser aus Marienthal (Jahoda et al. 1975, 84)

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seine Tätigkeit in einem Zeitverwendungsbogen und drückt damit in allzu mächtigen Worten seinen Hang zur Resignation aus – statt zur Revolte. Jene Formulierung wirkt wie das düstere Credo unserer derzeitigen, utopischen Kreativität. So, als seien wir, unsere Vorstellungen von einer besseren Welt betreffend, ideell arbeits- wie perspektivlos: »[…] it is like this: there is no final horizon and nobody knows where to look« (Rancière zit.n. Febbo 2019). In dieser Orientierungslosigkeit trifft der fast schon zum Dogma erhobene Satz, es sei »einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus« (Jameson & Žižek), ins Mark. Und das Ende der Welt scheint in der Tat nicht mehr allzu fern. Die verbleibenden, fast verzweifelt vorgebrachten Utopien aus der Perspektive der Einen erscheinen in den Augen der Anderen als Dystopien, die das Ende der Zukunft und damit von Geschichtlichkeit als solcher heraufbeschwören. Auf groteske Weise ist mit der Postmoderne alles möglich – und gleichzeitig nichts. Doch ein Verharren, eine Bewahrung des Status Quo bedeutet zwangsläufig eine Festschreibung diverser Beschleunigungen samt aller damit eingekauften Entfremdungen (vgl. Rosa 2016). Parallel lassen sich Versuche beobachten, Mittelwege zwischen dem Utopischen und dem Realen zu beschreiten – ein Spagat zwischen diametralen Punkten, der notwendigerweise schmerzen, wenn nicht gar scheitern muss. So liegt zwar in Titeln wie »Utopien für Realisten« (Bregman 2017) sicherlich eine spezifische Anziehungskraft, doch wie entzaubert ist unsere Welt, wenn schon (von dem Standpunkt des Hier und Jetzt) radikalere sozialpolitische Ideen als utopisch gelten? Es wurden doch allzu heroisch vorgetragene Visionen einer anderen (und vielleicht sogar einer besseren) Welt formuliert! Träume, die zunächst in Schubladen verschwanden, um Zeiten später praktische Umsetzungsversuche zu erfahren. Was wäre beispielsweise mit den Träumen eines Charles Fourier (2017), der sich eine Welt der Harmonie, einen Zustand befreiter Liebe herbeisehnte? Paradoxerweise, so lässt sich beobachten, wird die Liebe im Zuge kapitalistischer Überformungen auf gänzlich andere Weisen befreit. Liebe scheint zwar einerseits zunehmend (wenn auch nicht überall und nicht überall gleichermaßen)

Das Verhängnis des Topos

aus traditionalistisch-patriarchalen Gussformen gelöst zu werden. Andererseits unterwirft jene Befreiung die liebenden Subjekte ihrer hochgradig individualisierten Verantwortung – verzahnt durch Wettbewerbslogiken, auch hier wieder mit eingeschriebenen Mechanismen der Beschleunigung. Es wirkt ganz so, als sei die Liebe, in Marxscher Terminologie, auf eine doppelte Art und Weise befreit worden – und dadurch neuen Fesseln geweiht (vgl. Illouz 2018).

Der Gebrauchswert des Utopischen – und dessen Verstrickungen Visionäre Ideen (wie beispielsweise die eines Charles Fouriers), die das Undenkbare in Worte (und gelegentlich in Praktiken) zu fassen versuchten, scheinen sich aus heutiger Perspektive in lediglich tristen Konjunktiven auszudrücken. Kaum ein noch so vorsichtiger Imperativ. Auf diese Weise lässt sich nicht das dringend notwendiges Resonanzverhältnis zum Utopischen veranstalten. Und das, obwohl das Utopische den Gesichtspunkt des »geschichtlichen So-und-nichtanders-Gewordenseins« (Weber 1988, 171) ganz en passent in kontingentem und damit in (prinzipiell) gestaltbarem Licht erscheinen lässt: »Hier setzt die Operation des utopischen Denkens an. Es verzerrt und verzeichnet den Spielraum, der dem pragmatischen Handeln in der jeweiligen Gegenwart gegeben ist. Es zeichnet Möglichkeiten in ihm ein, mit denen dort nicht gerechnet werden kann. […] Utopien sind unmögliche Möglichkeiten, die mögliche Möglichkeiten sichtbar werden lassen.« (Seel 2001, 747) Wenn wir Rancière (2016, 44) folgen, wonach nichts »also an sich politisch« sei, dass alles es jedoch werden könne, öffnen sich mit dem utopischen Blick auf den Status Quo Perspektiven, wie Welt artikulierbar sein bzw. gemacht werden kann. Doch das Ernstnehmen der »an-archischen« Annahme (vgl. Rancière 2018, 15) fordert auch, das (Un-)Politische politischer Bildungen zu fokussieren. Folgt daraus nicht, das

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Politische nicht nur als Gegenstands- und Inhalts-, sondern vor allem als (auch eigene) Modusbeschreibung aufzufassen? Die Aufteilungen des Sinnlichen befragend, ihre polizeilichen Strukturierungen im Hinblick auf den »Anteil der Anteillosen« anklagend, wenn nicht gar unterbrechend (vgl. Rancière 2016, passim)? Doch wie kann eine solche Auffassung Konsistenzanforderungen gerecht werden, ohne eine Übertragung des Kontingenzgedankens auf politische Bildungen und ihre didaktischen Konzeptionen selbst? Spätestens an dieser Stelle treten Probleme auf den Plan, die sich nicht ohne weiteres übergehen lassen: Inwiefern können politische Bildungen Kontingenz(-bewusstsein) und eine daraus resultierende Kritikfähigkeit in Richtung einer Emanzipation bzw. »Befreiung des Menschen aus gesellschaftlich begründeter Unmündigkeit« (Schmiederer 1972, 28) im Rahmen institutioneller Kontexte forcieren? Können Emanzipationen, ganz grundsätzlich gefragt, überhaupt vermittelt werden, ohne notwendigerweise über ihre eigenen Prinzipien zu stürzen und sich Inkonsistenzen preiszugeben? Stehen wir am Tor zur Beliebigkeit, wenn wir aus radikaldemokratischer Perspektive eine grundsätzliche Programmleere politischer Bildungen annehmen (müssen)? Und appelliert radikal praktizierte, radikaldemokratische Pädagogik nicht zwangsläufig an »[d]ie unmöglichen Subjekte des Postfundamentalismus« (Sörensen 2020)?1

Wenn das Utopische nicht mehr zu reichen scheint… Vielleicht ist es angesichts dieser Aspekte hilfreich, sich von der Logik des Topos immer wieder experimentell zu entfernen; das Spielfeld des Topischen verlassend, auf dem auch das Utopische operiert. Atopische

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Sörensen (2020, 29; Herv. im Orig.) bezeichnet eine strikte, radikaldemokratische Bildung in Anlehnung an Freud als eine »unmögliche Aufgabe«. Einen Ausweg sieht er in einer experimentell ausgerichteten »präfigurativen Pädagogik« (ebd.) mit offenem Ausgang.

Das Verhängnis des Topos

Bildungen können so womöglich jene Funktion für das Utopische übernehmen, welche das Utopische für das Topische nicht mehr zu erfüllen in der Lage ist: Sie können den Möglichkeitsspielraum verschieben, den Dualismus von Subjekt und Welt ebenfalls in kontingentem Licht erscheinen lassen. Dieses kontingente Licht zerrt die vorherrschenden Hegemonien aus ihren Nischen der Verborgenheit, in denen sie ihre Kräfte auf besonders mächtige Arten entfalten – auch im Feld der politischen Bildungen. So lässt sich zu Recht fragen, welche spezifische Herrschaftskonfiguration mit einer »repräsentationalistischen« Wahrnehmung von Bildung, die Subjekt, Welt sowie den Keil zwischen beiden erst konstituiert, verbunden ist (vgl. Friedrichs in diesem Band). Politische Bildungen, die sich hingegen dem Immanentismus, der Verwobenheit, dem Posthumanistischen verpflichten, können so als gegenhegemoniales Projekt Wirkung entfalten – und (in Seels Sinne, s.o.) neue Unmöglichkeiten möglich werden lassen. Gut möglich, dass Kontingenz dabei zunächst Distanzierendes mit sich bringt (wie Soltro es schematisiert in diesem Band). Doch handelt es sich dabei um eine Distanz zum Status Quo und in diesem Sinne auch um eine Befreiung, zumindest um einen Schritt in eine befreiende Richtung. Und solche Schritte sind es, die uns kommen und gehen lassen. Schlussendlich: Wo, Derrida (2015, 409) folgend, Demokratie immer »im Kommen« bleibt, wenn sie »das Thema eines nicht darstellbaren und nicht zur Anwesenheit zu bringenden Begriffs« bleibt, dann wäre es plausibel, auch politische Bildungen als im Kommen zu begreifen und diese gedanklich wie praktisch zu befragen – es dürfte sich lohnen.

Literatur Bauman, Zygmunt (2017): Retrotopia. Berlin. Bregman, Rutger (2017): Utopien für Realisten. Die Zeit ist reif für die 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und das bedingungslose Grundeinkommen. Reinbek bei Hamburg. Derrida, Jacques (2015): Politik der Freundschaft. Frankfurt a. M.

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Max Barnewitz

Febbo, Eduardo (2019): Jacques Rancière: The Singularity of Rebellion and Autonomy, online: http://autonomies.org/2019/08/jacq ues-ranciere-the-singularity-of-rebellion-and-autonomy/ [zuletzt: 16.08.2020]. Fourier, Charles (2017): Die Freiheit in der Liebe. Ein Essay. Hamburg. llouz, Eva (2018): Warum Liebe endet. Eine Soziologie negativer Beziehungen. Berlin. Jahoda, Marie; Lazarsfeld, Paul F.; Zeisel, Hans (1975): Die Arbeitsloden von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigeit. Frankfurt a. M. Rancière, Jacques (2016): Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt a. M. Rancière, Jacques (2018): Zehn Thesen zur Politik. Wien. Rau, Milo (2013): Was tun? Kritik der postmodernen Vernunft. Zürich. Rosa, Hartmut (2016): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a. M. Schmiederer, Rolf (1972): Zur Kritik der Politischen Bildung. Ein Beitrag zur Soziologie und Didaktik des Politischen Unterrichts. Frankfurt a. M. Seel, Martin (2001): Drei Regeln für Utopisten. In: Merkur. H. 55/2013, S. 747-755. Sörensen, Paul (2020): Die unmöglichen Subjekte des Postfundamentalismus. In: Politische Vierteljahresschrift. H. 1/2020, S. 15-38. Weber, Max (1988): Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen, S. 146-214.

Wir alle simulieren Zukunft nur noch Ein Kommentar zu G. Maria Soltros »Atopische Politische Bildung*en « Tonio Oeftering

Zuerst die Utopie, dann die Dystopie und nun also auch noch die Atopie. Gelingt es, das Dritte zu erfassen, zu modellieren, zu beschreiben und zu vermitteln? Soltro wirft wichtige Fragen auf: Worin wird Zukunft bestanden haben? Wohin sich orientiert haben? Jenseits der Utopie? Es fallen zunächst zwei Dinge auf. Erstens: Die Dystopie kommt kaum vor, sie wird nur einmal genannt. Das Verfasser*in arbeitet sich vor allem an der Utopie ab. Zweitens: Der Ausblick am Ende des Textes – ist das nicht eine utopische Beschreibung? All die netten Dinge, die wir tun werden, liest sich das nicht geradezu paradiesisch? Es wäre doch wirklich zu schön! Die Liste ließe sich fortführen und ergänzen: Wir werden Bäume umarmen (wenn es denn noch welche gibt), wir werden neue Dinge essen (wenn die alten ausgestorben sind), wir werden uns lieben (mit 1,5 Metern Abstand oder am besten gleich virtuell), wir werden… Die Klammern verweisen wieder auf den ersten Punkt: Die dystopische Möglichkeit, die dem atopischen Enthusiasmus irgendwie durchgerutscht zu sein scheint. Dabei gibt der Blick auf unsere coronagetränkte Gegenwart doch eher dazu Anlass. Schien es nicht die ersten Wochen im Jahr 2020, als breite sich eine Seuche über den Globus aus, wie sie in Ausmaß und Grauen höchstens in dystopisch angehauchten Zombieromanen und -filmen vielfach dargestellt wurde? Doch halt, wird der popkulturell gebildete Lesende entgegenhalten, ist es nicht

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Tonio Oeftering

auch meist so, dass am Ende von Zombiegeschichten doch noch das Heilmittel gefunden wird oder zumindest irgendjemand überlebt und damit wieder das Licht am Ende des Tunnels zu sehen ist? Ja, das ist richtig. Der Zombiefilm ist nicht konsequent dystopisch. Also wieder den Blick auf die Gegenwart richten. Ausgangspunkt für konsequente Dystopien. Denn: Das Licht am Ende des Tunnels ist nicht zu sehen. Nirgends. Oder doch nicht Ausgangspunkt für echte Dystopien? Denn: Wir wissen noch nicht einmal, ob wir uns überhaupt in einem Tunnel befinden. Stattdessen: Absolute Unsicherheit. Keine Vorstellung davon, wie die Zukunft aussehen könnte. Also weder ob sie utopisch noch dystopisch beschaffen sein wird. Dann also doch: Atopie – aber ohne den Soltroschen Enthusiasmus. Denn: Wir alle simulieren Zukunft nur noch. Die Zukunft hat keinen Ort mehr. Das lehrt uns die Gegenwart. Der Mensch: von einem unsichtbaren, überschaubar komplexen Virus entmachtet. Innerhalb weniger Wochen. Fest steht: Halt, Orientierung, Geländer, all das, was uns davor bewahrt, ins Bodenlose zu stürzen, haben wir in kürzester Zeit verloren. Aber – ist das Bodenlose dann nicht ab sofort das Erwartbare? Wäre dann nicht das der angemessene Ausgangspunkt für politische Bildung*en jenseits der Utopie? Andererseits: Die Frage, ob wir je wieder zur Normalität zurückkehren werden, wird vielfach gestellt und oft mit dem Versuch beantwortet, genau diese wiederherzustellen. Dabei läge hier das Potenzial für tatsächlich atopische, gesellschaftliche, politische Bildung*en: Was heißt Normalität? Rückkehr zu welcher Normalität? Wollen wir wirklich wieder dahin zurück, wo wir gerade hergekommen sind? Oder bietet sich nicht genau jetzt die einmalige Chance, grundlegende Dinge zu ändern, neu zu sortieren, neu zu denken und umzusetzen? Gerade deswegen, weil die Gegenwart so aus dem vermeintlichen Kontinuum herausgerissen ist? Bedeutet die absolute Unsicherheit nicht auch zugleich absolute Offenheit? Der gegebene, gegenwärtige Nichtort als die Chance, Zukunft neu zu denken? Dann muss aber die Frage anders gestellt werden. Nicht: Worin wird Zukunft bestanden haben? Sondern: Worin wird Gegenwart bestanden haben? Werden wir die Gegenwart genutzt haben, um überhaupt auch in Zukunft noch die Frage stellen

Wir alle simulieren Zukunft nur noch

zu können, worin Zukunft bestanden haben wird? Hier müssen die Antworten gefunden werden. Zusammengefasst: Das Atopische ist mir bei Soltro noch nicht ausreichend konturiert. Auch wenn das nicht der Anspruch des Texts ist, bzw. dieser Anspruch im Atopischen möglicherweise gänzlich aufgegeben wird, stellt sich dennoch die Frage, ob eine solche Perspektive dann nicht zu blind bleibt für das Utopische, aber auch zu blind für das Dystopische, das Negative, das Destruktive, das Risiko, die über und unter allem liegende Möglichkeit des Endes eines jeden Topos. Dieses Dystopische aber nicht als Selbstzweck oder masochistische Suhlerei im eigenen Zynismus, sondern als Ansporn, es zu vermeiden. Wenn es sein muss, gerne auch mit Soltroschem Enthusiasmus. Ich bin jedenfalls dabei.

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Nicht planen – ausprobieren Dominik Klein

Atopisch denken sollen wir also. Was genau aber heißt das – und wie unterscheidet es sich von topischem Denken? Soltro selber bietet da leider keine konkrete Klärung an. Das atopische Denken scheint dasjenige zu sein, was über klassische Muster hinweggeht. Kurz: wo unser Vermögen zur Planung versagt. Das Topische, im Gegensatz, erscheint als das Erreichbare, Handhabbare, genau Bestimmbare. Kurzum das, worin wir planen können. Ich möchte argumentieren, dass zumindest in diesem Sinne, fast jeder Gedanke über die Zukunft atopisch ist. Das wir uns aber über das atopische Denken auch keine zu großen Hoffnungen machen dürfen. Denken über die Möglichkeiten beginnt oft an Ausgangspunkten – in Annahmen oder Eventualitäten, von denen aus Zukünftiges oder Mögliches gedacht und eingeschätzt werden sollen. Kurz, wir setzen einzelne Annahmen oder Axiome für unser Denken über Zukunft. Diese können konkrete Ereignisse sein, aber auch abstraktere Muster und Entscheidungen (Welche Veränderungen zieht ein allgemeines Grundeinkommen nach sich?). Sie können menschlicher Natur sein (Wie sähe eine Welt aus, in der Menschen aus einem anderen Mindset argumentieren?), aber auch technologischer (Was wäre, wenn wir x könnten?) oder environmentaler (Was passiert, wenn sich die Umwelt verändert?). In einem weiteren Sinne des Möglichkeitsdenkens könnten diese sogar magischer Natur sein, wie etwa in verschiedenen literarischen Werken. In all diesen Fällen gilt die Frage aber nicht dem Ausgangspunkt, sondern dem, was daraus folgt – wie sich die entsprechende Gesellschaft entwickelt. Und derartige Fragen können hochgradig komplex

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Dominik Klein

sein. Nicht umsonst ist die Mathematik als Fach, dessen Zielsetzung es ist, die Konsequenzen zehn einfacher Axiome zu beschreiben, noch lange an keinem Ende angekommen. Im tatsächlichen Leben sieht es nicht anders aus. Selbst für die einfachste technische oder gesellschaftliche Neuerung können langfristig Effekte oder Einsatzmöglichkeiten auftauchen, die so niemand vorhergesehen hat. Auch hier gibt es Beispiele in Fülle. Etwa das altbekannte Zitat des damaligen IBM Chefs von 1943, in dem er die Weltnachfrage für Computer auf etwa fünf schätzt – mutmaßlich aus Mangel an Phantasie, dass irgendjemand Computer als Anlass zur Entwicklung von Software — von Word und Tetris bis hin zu moderner Kommunikationssoftware— nutzen könnte. Diese Geschichte könnte man natürlich unbegrenzt weiterschreiben. Aus sozialer, technologischer und ökologischer Perspektive oder aus der Interaktion dieser Faktoren. So haben z. B. technologische Transformationen von Diskussionsforen über anonyme Briefkästen wie Wikileaks bis zur Liquid Democracy massiven Einfluss auf die Art und Weise, wie Politik gedacht und gemacht wird. In all diesen Fällen haben kleinere, isolierte Fortschritte auf einem Gebiet also massive indirekte Auswirkungen auf anderen Gebieten, die schwer bis unmöglich vorherzusagen waren. Dies soll aber nicht den Eindruck erwecken, dass es bei Prognosefehlern immer nur um ein zu kurz kommen geht. Auch Überprognosen sind weithin bekannt, wie etwa Richard Feynmans Vorhersagen (und entsprechende Patente) über verschiedene atomar getriebene Verkehrsmittel. Wir können also festhalten: In einem substantiellen Sinne können wir Gesellschaft nicht planen oder vorausdenken – weder im topischen noch im atopischen Modus. Denn ein relevantes Vorausplanen, ein Einschätzen einer Veränderung würde ja genau heißen, ihre wesentlichen Ideen, Reaktionen und Nachfolgeentwicklungen zu antizipieren. Das erscheint aber unmöglich, haben viele Neuerungen ihren Haupteinfluss doch auf verworrenen, indirekten Wegen, etwa weil sie zu neuen Gedanken anregen oder gerade auf Weisen eingesetzt werden, zu denen sie nicht gedacht waren.

Nicht planen – ausprobieren

Hieraus folgt übrigens, dass es einen zweiten Sinn gibt, in dem literarische Werke der Science Fiction und Fantasy-Literatur als unrealistisch gelten dürfen. Natürlich gehen derartige Erzeugnisse von kontrafaktischen Ausgangsbedingungen aus – egal, ob es um Magie oder fortschrittliche Technologien geht. Dies ist der erste, wörtliche Sinn, in dem sie unrealistisch sind. Gleichzeitig ist aber jedes derartige Werk auch ein Gedankenexperiment, ein Versuch, auszubuchstabieren, wie die beschriebene Welt aussehen könnte. Wie Akteure mit ihren erweiterten Möglichkeiten umgehen, welche unerwarteten Verwendungen sie finden, und wie sich dies auf das Zusammenleben auswirkt. Aus den gleichen Gründen, aus denen eine Gesellschaft nicht vorausdenkbar ist, darf man erwarten, dass auch ein solches Gedankenexperiment nicht einmal der beschriebenen hypothetischen Welt nahekommt. Kurzum: Selbst wenn es eine Welt gäbe, in der die entsprechenden magischen oder technologischen Mittel zur Verfügung stehen, sähe diese erwartbar deutlich anders aus, als vom Autoren oder der Autorin beschrieben.  Was aber besagt das jetzt über topisches und utopisches Denken? Zum einen, dass die Grenze zwischen verlässlich Planbarem und nicht planbarer (oder zu-Ende denkbarer) Utopie, Soltros Membran, deutlich näher an unserem gegenwärtigen Standort verläuft, als man das vielleicht erwarten würde. Selbst augenscheinlich kleinste Änderungen können indirekt große Einflüsse haben, die wir nicht planen können. Und selbst, wenn wir die Dinge erfolgreich zu Ende denken, wissen wir nicht, ob diese Gedanken erfolgreich sind – weil wir immer die Möglichkeit einer unerwarteten Kombination der Dinge einberechnen müssen. Das topische Denken ist dem atopischen also gar nicht so unähnlich – und das atopische demnach sehr nah. Anders gesagt. Denken wir ruhig atopisch. Sehr weit werden wir nicht kommen – weil jede Sichtweise, jeder neue Gedanke, jede neue Technologie zu unerwarteten Ergebnissen kombiniert werden kann. Durch planendes Denken – topisch oder atopisch – können wir immerhin ein Stück des Weges laufen – und dann entscheiden, was wir denn tatsächlich ausprobieren wollen. Darum aber führt kein Weg herum: ausprobieren, nicht vordenken.

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Kommentar zu »Atopische politische Bildung« Fritz Reheis

Das gebräuchliche Wort »utopisch« hat für viele keinen guten Klang. Mir ist es bisher fast immer als Kurzfassung eines Totschlagarguments begegnet, wenn ich über eine bessere Zukunft gesprochen habe. Nicht nur, dass es diese Zukunft nicht geben werde, sondern sogar, dass es sie nicht geben könne, so die Botschaft meines Gegenübers. Weniger gebräuchlich ist das Wort »atopisch«, das Werner Friedrichs unter dem Pseudonym G. Maria Soltro zum Zweck der »neuen Vermessung für politische Bildungen, jenseits von Aufklärungen, Reflektionen oder Projekten« ins Gespräch bringt (Vorwort). Wenn ich ihn recht verstehe, macht er in seinem Text einen Vorschlag, wie man beim Reden über Zukunft die Dichotomie Möglichkeit und Unmöglichkeit vermeiden könne: Man müsse nur den Begriff »Möglichkeit« gegen den Begriff »Werdsamkeit« austauschen, und schon werde aus dem »Nicht-möglichen« das »Noch-nicht-mögliche« (S. 2). Dieser Austausch der Begriffe verändere auch die Perspektive auf die Gegenwart. Sie könne dann als »präsentische Maschine des Werdens« begriffen werden. Das ist meines Erachtens zunächst nicht nur ein kluger sprachlicher Schachzug. Diese Fokussierung der Zeitdimension ist auch mein Anliegen, das ich seit 30 Jahren verfolge: die Welt als etwas Gewordenes und weiter Werdendes zu begreifen, in das der Mensch aufgrund seiner Fähigkeit des Begreifens auch eingreifen kann. So pariere ich gewöhnlich die Rede vom Sachzwang und seiner gesteigerten Form, der Alternativlosigkeit (vgl. Reheis 2009, 69-90). Was Werner Friedrichs alias Soltro dann aber ausführt, ist für mich schwer nachvollziehbar. Er konstruiert einen Gegensatz zwischen To-

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Fritz Reheis

pisten, die sich die Welt, auch die Welt der Politik, mit der Methode der Reflexion erschließen, und den ganz anderen Strategien der Atopisten. Und er plädiert, das ist entscheidend, zudem dafür, Erstere durch Letztere zu ersetzen. Bei der Auflistung dieser atopischen Strategien wird es meines Erachtens brandgefährlich: »Freundschaften mit Dingen schließen, uns mit ihnen unterhalten. Dinge sein« (und sogar »Neue Dinge essen«). Oder: »Räume erfinden. Zeiten dichten.« Oder: »Farben riechen. Töne schmecken.« Oder schließlich: »Gemeinsam gemeinsam sein«. Es folgen noch ein paar Begriffe, die der Autor wohl ganz frei erfunden hat. Daneben eine Textprobe aus »Zerstörung der Syntax, Drahtlose Vorstellungskraft, Befreite Wörter« aus dem Jahr 1913 aus der Feder des italienischen Futuristen und – zumindest zeitweiligen – Faschisten Filippo T. Marinetti. Diese atopischen »Strategien« der Welterschließung sind eine explizite Absage an vieles, wenn nicht sogar fast alles, was seit der europäischen Aufklärung in Philosophie und Wissenschaft als geistige Errungenschaft gilt: die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen toten und lebendigen Objekten, zwischen unterschiedlichen Sinnen und deren Wahrnehmungen, zwischen Denken und Fühlen und schließlich auch zwischen Möglichkeit und Unmöglichkeit. Worin der Sinn dieses Verzichts auf Differenzierung liegt, und inwiefern dadurch insbesondere unser Verständnis für Gesellschaft, Politik und Bildung gefördert, vielleicht sogar befreit werden soll, bleibt mir unbegreiflich. Ich möchte mir nicht vorstellen, was »Gemeinsam gemeinsam sein« ohne das Korrektiv der Reflexion, die ja Sache der Topisten sei und unter Atopisten nicht mehr benötig werde, konkret bedeutet. Ich zumindest möchte nicht nur fühlen, sondern auch wissen, mit wem ich mich zusammentue (»gemeinsam«). Und das vor allem, weil ich die sozialwissenschaftliche Kategorie »Interesse« für unverzichtbar halte, nicht zuletzt um Ideologien als solche sichtbar zu machen. Zugegeben: Planspiele, Szenariotechniken und Zukunftswerkstätten verfehlen oft das Ziel der Erweiterung des Möglichkeitssinns. Dann zeigt sich im Grunde, wie jämmerlich die soziale Fantasie – im Gegensatz zur technischen – entwickelt ist. Aber dies ist noch keine Rechtfertigung dafür, im Kontext der Rede über Zukunft den

Kommentar zu »Atopische politische Bildung«

Aufklärungsanspruch aufzugeben und in Bezug auf Bildungsprozesse den Akzent von der Urteils- und Handlungskompetenz hin zur »Expressions-, Darstellungs- und Artikulationskompetenz« zu verschieben (Friedrichs 2019, 92). Wer Menschen zur Erweiterung ihres Möglichkeitssinns befähigen möchte, so mein Gegenvorschlag, könnte sich statt am Expressionismus als einer Stilrichtung der Bildenden und Literarischen Kunst, wie Friedrichs alias Soltro dies tut, konsequent an der »Dialektik der Aufklärung« orientieren. Man könnte sich, in Anlehnung an Ernst Bloch, an das Wesen einer »konkreten Utopie« (die im Gegensatz zu einer abstrakten auf einer soliden Analyse der Realität beruht) erinnern oder sich im Anschluss an Georg Lukács im Kontext der Realitätsanalyse und der Frage nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der menschlichen Arbeit mit dem Phänomen der »Verdinglichung« im Kapitalismus befassen. Vor diesem Hintergrund wäre dann der Unterschied zwischen den beiden Modalitäten von Zukunft (wahrscheinliche Wirklichkeit und wünschenswerte Möglichkeit) herauszuarbeiten und Leitplanken für den vernünftigen, sprich emanzipatorischen Umgang mit diesen Modalitäten zu definieren. Dabei weist ja die Zeitdimension, die Friedrichs alias Soltro als Hintergrund seiner Überlegungen mit Recht unterstreicht (Untertitel: »Wie wir Werden«) in die richtige Richtung. Statt des Appells »Entmöglicht Euch!« und der Behauptung »Nichts ist unmöglich« müssten dann aber die zeitlichen Verhältnisse auch als Realität anerkannt werden: dass es System- und Eigenzeiten gibt, die synchronisiert werden müssen und, wo dies gelingt, Resonanzen möglich werden, auf die der Mensch fundamental angewiesen ist, wenn sein Leben gelingen soll (vgl. Reheis 2019). Auch wenn alles mit allem zusammenhängt, ist es analytisch sinnvoll und sogar geboten, die Hierarchie der Zeiten anhand der unterschiedlich dimensionierten Innovationsgeschwindigkeiten zu unterscheiden: die extrem langsame Natur, die wesentlich schnellere Kultur und Gesellschaft und das bisweilen ultraschnelle Individuum. Eine solche zeitökologisch-resonanztheoretisch fundierte Rede über die Zukunft und eine Bildung, die dieser Zukunft angemessen ist, zielt auf ein Zukunftsbild mit Bodenhaftung. Diese Bodenhaftung, das materialistische Fundament der Zukunft also, schützt vor der

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ideologischen Anfälligkeit, die expressionistischen Zukunftsentwürfen für unterschiedlichste politische Vereinnahmungsversuche eigen sind. Ob man dann von »Atopie« oder »Utopie« spricht, ist verhältnismäßig belanglos. Hauptsache, man lässt sich auf das ein, was kommen wird, und anerkennt die Differenz zu dem, was kommen soll. Denn wo die Realisten mit ihrem Latein am Ende sind, gilt, was Oskar Negt in bewundernswerter Knappheit auf den Punkt gebracht hat: »Nur noch Utopien sind realistisch.« (Negt 2012).

Literatur Friedrichs, Werner (2019): Das Politische der Demokratiepädagogik. Kreative Interventionen in der herausgeforderten Demokratie. In: Förster, Mario/Beutel, Wolfgang/Fauser, Peter (Hg.): Angegriffene Demokratie? Zeitdiagnosen und Einblicke. Frankfurt a. M., S. 7994. Negt, Oskar (2012): Nur noch Utopien sind realistisch. Politische Interventionen. Göttingen. Reheis, Fritz (2009): Die Rede vom Sachzwang. Über das Verschwinden und Wiedersichtbarmachen der Zeit. In: Hieke Hubert, (Hg.): Kapitalismus. Kritische Betrachtungen und Reformansätze, Marburg, S. 69-90. Reheis, Fritz (2019): Die Resonanzstrategie. Warum wir Nachhaltigkeit neu denken müssen, München.

Autor*innenverzeichnis

Max Barnewitz studiert derzeit an der Universität Augsburg Sozialwissenschaften. Zuvor studierte er in Passau Staats- und in Bamberg Politikwissenschaften, v. a. mit dem Schwerpunkt auf politischen Desintegrations- und Polarisierungsprozessen. Seit 2016 ist er darüber hinaus als freier Mitarbeiter des Netzwerks Politische Bildung Bayern tätig. Im Zentrum seiner Bildungsarbeit stehen Auffassungen und Praktiken von Demokratie als Lebensform unter anderem in Verbindung mit dem israelisch-palästinensischen Bildungskonzept Betzavta (Adam Institute for Democracy and Peace). Werner Friedrichs ist Akademischer Direktor an der Otto-FriedrichUniversität Bamberg. Zuvor ist er durch verschiedene Zusammenhänge mäandert: Hat Röhrenfernsehgeräte repariert, in Naturschutzgebieten Vögel beobachtet und Wald gepflegt, an Gymnasien als Lehrer und Fachleiter gewirkt, an unterschiedlichen Universitäten geforscht und gelehrt. Der aktuelle Forschungsschwerpunkt besteht im bildungstheoretischen Kartieren verschiedener, zusammenlaufender Linien – der der Radikalen Demokratietheorie, des Neuen Materialismus, der künstlerischen Forschung, der Bildungstheorie, der Diskurse um das Anthropozän und der damit verbunden zukünftigen Existenzweisen. Mareike Gebhardt arbeitet zurzeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster. Sie forscht und lehrt im Bereich der Politischen Theorie, insbesondere radikale Demokratietheorien, poststruktura-

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listische Ansätze, feministische Theorien und postkoloniale Studien. Ihr aktuelles Forschungsprojekt analysiert das europäische Migrationsregime aus einer diskurs- und dispositivtheoretischen Perspektive und fragt nach dessen Produktionsweisen ›der Anderen‹. Zuletzt ist von ihr erschienen: »To Make Live and Let Die: On Sovereignty and Vulnerability in the EU Migration Regime«, in Redescriptions 23 (2): 120-37. DOI: http://doi.org/10.33134/rds.323. Dominik Klein ist Assistenzprofessor an der Universität Utrecht. Dort arbeitet er an der Schnittstelle von theoretischer Philosophie und politischer Theorie. Genauer interessiert ihn die Frage, welche gesellschaftlichen Muster sich durch die wiederholte Interaktion von Individuen in verschiedenen Kontexten ergeben. Dies erforscht er mit formalen Modellen ebenso wie mit klassischen, philosophischen Ansätzen. Ingo Juchler lehrt Politische Bildung an der Universität Potsdam. Von 2010 bis 2018 war er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bundeszentrale für politische Bildung. Seine Forschungsinteressen sind Narrationen und Theater in der politischen Bildung, außerschulische Lernorte sowie Perspektiven der Mensch-Tier-Beziehungen in der politischen Bildung. Tonio Oeftering ist Professor für Politische Bildung/Politikdidaktik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Er ist Bundesvorsitzender der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung e. V. (DVPB). Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Politische Theorie und politische Bildung, Außerschulische politische Jugend- und Erwachsenenbildung, Internationalisierung der politischen Bildung, Politisch-Kulturelle Bildung (insb. Musik und politische Bildung), Lebensweltorientierte politische Bildung, Politische Bildung und Menschenrechte. Er veröffentlichte u. a. gemeinsam mit Markus Gloe den Band Politische Bildung meets Kulturelle Bildung. Baden-Baden (Nomos) 2020. Karl-Josef Pazzini, geb 1950, seit 1982 Psychoanalytiker, davor u. a. als Kinobetreiber, Grundschullehrer, Leiter eines Kindergartens, gründete

Autor*innenverzeichnis

mit seiner Frau Sonia Simmenauer in Hamburg den »Jüdischen Salon am Grindel«, beendete 2013 vorzeitig seine Arbeit an der Universität Hamburg (Bildende Kunst), um in Berlin eine Praxis als Psychoanalytiker, Supervisor, Berater neu zu eröffnen. Ist seit 2017 Herausgeber des RISS (Zeitschrift für Psychoanalyse). Ist im Vorstand der Psychoanalytischen Bibliothek Berlin, einem Ort fürs Hören, Sprechen, Forschen. Es gibt dort eine offene Sprechstunde, nicht umsonst, aber ohne Bezahlung. Arbeitet zu Übertragung, Pornographie, Laienanalyse, Film als Analytiker, Museum als Utopie der bürgerlichen Gesellschaft. Luisa Anna Pazzini, geb 1994, studiert seit April 2019 im Master Global Studies Programme Humboldt Universität Berlin (mit zwei Auslandssemestern in Pretoria und Bangkok). Ihren Bachelor hat sie 2018 in Regionalstudien Asien/Afrika inklusive eines Bambara Sprachkurses in Mali abgeschlossen. Davor und währenddessen hat sie verschiedene Praktika absolviert bei AfricAvenir International e.V. in Berlin, bei der Hip-Hop Organisation Africulturban in Dakar und beim Immanuel Hope Centre in Reagile, Südafrika. Sie interessiert sich besonders für Postkoloniale Theorien, Critical Whiteness und den politischen Einfluss von Popkulturen. Fritz Reheis ist Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik an der der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Bis zu seiner Pensionierung 2015 war er als Akademischer Direktor Selbständiger Fachvertreter für Didaktik der Sozialkunde am Lehrstuhl für Politische Theorie der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bamberg. Davor war der promovierte Soziologe und habilitierte Erziehungswissenschaftler (Schwerpunkt Anthropologie) Gymnasiallehrer für Sozialkunde, Deutsch, Geschichte, Pädagogik und Philosophie. Er ist Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik sowie Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, des Arbeitskreises Politische Ökonomie und des Wissenschaftlichen Beirats von Attac Deutschland.

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Sven Rößler sieht sich selbst als akademischer Fachdidaktiker der Politischen Bildung, interessiert sich für Krise, Kritik und Didaktik der Moderne, schreibt auch darüber und vertritt derzeit die Professur für Politikwissenschaft und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Weingarten. Petra Sabisch hat langjährige Praxis als freiberufliche Künstlerin und Dozentin an europäischen Kunsthochschulen, Universitäten und Kunstinstitutionen an der Schnittstelle von Kunst, Philosophie und Bildung. 2010 »Doctor of Philosophy« an der University of Greenwich mit der Dissertation »Choreographing Relations. Practical Philosophy and Contemporary Choreography«, 2011 Tanzwissenschaftspreis. 2012 Vertretungsprofessur mit Leitung des Master-Studiengangs »Choreographie und Performance« an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Seit dem zweiten Staatsexamen als Lehrerin in Berlin mit den Fächern Deutsch, Geschichte, Politische Bildung und Ethik tätig. Zuletzt veröffentlicht: »Für eine Topologie der Praktiken. Eine Studie zur Situation der zeitgenössischen, experimentellen Tanz-, Choreografieund Performancekunst in Europa, 1990-2013« (Balzan-Preis-Projekt, 2017). Fiona Schrading ist Medienkulturwissenschaftlerin mit den Schwerpunkten (queer-feministischer) Neuer Materialismus, feministische Science & Technology Studies und Post- und Dekolonialität. Sie schreibt an einer Dissertation zu Re-Lokalisierungen von Vergangenheit und Zukunft im Anthropozän. Aktuell forscht sie im BMBF-Projekt »Wasteland? Ländlicher Raum als Affektraum und kulturelle Bildung als Pädagogik der Verortung« an der Kunstakademie Düsseldorf. G. Maria Soltro wandert zwischen Welten, sondiert Gelegenheiten und taucht immer unverhofft auf. Wahlweise als Geist oder Monster de|figuriert er/sie Gegenwärtiges auf ein Unzukünftiges hin. Er/sie verschränkt sich mit Gedanken, legt und verwischt Spuren. Er/sie hilft der science fiction dabei, als world fiction wirksam zu werden – neue Erden hervorzubringen.

Autor*innenverzeichnis

Paul Sörensen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Politische Theorie und Ideengeschichte des Instituts für Sozialwissenschaften an der Universität Augsburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der modernen Demokratie- und Eigentumstheorien, der Kritischen Theorie und der Bewegungsforschung. Florian Weber-Stein ist Professor für Politikwissenschaft und Politikdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, zuvor war er Lehrer für Philosophie, Politik und Geschichte in Berlin und Brandenburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Demokratietheorie, Emotion und Affekt in Politik und Politischer Bildung sowie data literacy. Josepha Zastrow ist Philosophin. Sie hat Philosophie und Bildungsmanagement an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg studiert. Den Schwerpunkt ihres Studiums legte sie auf Deutsche Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts, Gesellschaftskritik und Gerechtigkeit. In ihrer Masterarbeit hat sie nach der Möglichkeit von Muße und Freiheit im Bereich der gesellschaftlichen Freizeit gefragt. Und hat zu dem Thema in der »DenkundSprich« vom Swiss Portal of Philosophy veröffentlicht. Seit 2016 ist sie Filmvorführerin und Moderatorin in einem Oldenburger Independent-Kino. Nach ihrem Studium begann sie 2020 mit einem journalistischen Volontariat im Hörfunk.

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Pädagogik Tobias Schmohl, Thorsten Philipp (Hg.)

Handbuch Transdisziplinäre Didaktik August 2021, 472 S., kart., Dispersionsbindung, 7 Farbabbildungen 39,00 € (DE), 978-3-8376-5565-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5565-4 EPUB: ISBN 978-3-7328-5565-0

Andreas de Bruin

Mindfulness and Meditation at University 10 Years of the Munich Model April 2021, 216 p., pb. 25,00 € (DE), 978-3-8376-5696-1 E-Book: available as free open access publication PDF: ISBN 978-3-8394-5696-5

Andreas Germershausen, Wilfried Kruse

Ausbildung statt Ausgrenzung Wie interkulturelle Öffnung und Diversity-Orientierung in Berlins Öffentlichem Dienst und in Landesbetrieben gelingen können April 2021, 222 S., kart., Dispersionsbindung, 8 Farbabbildungen 25,00 € (DE), 978-3-8376-5567-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5567-8

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Pädagogik Andreas de Bruin

Achtsamkeit und Meditation im Hochschulkontext 10 Jahre Münchner Modell Februar 2021, 216 S., kart., durchgängig vierfarbig 20,00 € (DE), 978-3-8376-5638-1 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5638-5

Ivana Pilic, Anne Wiederhold-Daryanavard (eds.)

Art Practices in the Migration Society Transcultural Strategies in Action at Brunnenpassage in Vienna March 2021, 244 p., pb. 29,00 € (DE), 978-3-8376-5620-6 E-Book: PDF: 25,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5620-0

Melanie Groß, Katrin Niedenthal (Hg.)

Geschlecht: divers Die »Dritte Option« im Personenstandsgesetz – Perspektiven für die Soziale Arbeit Februar 2021, 264 S., kart., Dispersionsbindung, 1 SW-Abbildung 34,00 € (DE), 978-3-8376-5341-0 E-Book: PDF: 33,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5341-4

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