Athen und/oder Alexandreia?: Aspekte von Identität und Ethnizität im hellenistischen Griechenland 9783412216733, 9783412222550


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Athen und/oder Alexandreia?: Aspekte von Identität und Ethnizität im hellenistischen Griechenland
 9783412216733, 9783412222550

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Klaus Freitag · Christoph Michels (Hg.)

Aspekte von Identität und Ethnizität im hellenistischen Griechenland

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN · 2014

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung, Köln          

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildungen: Vorderseite: Apollon-Tempel von Korinth, 2013 (© Christoph Michels) Rückseite: Rückseite einer Tetradrachme des Antigonos II Gonatas., Pan im Zentrum eines ‚makedonischen‘ Schilds, © Classical Numismatic Group, Triton XV, 03.01.2012 (Nr. 1140)

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Frank Schneider, Wuppertal Einbandgestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Reproduktionen: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-22255-0

Inhalt Klaus Freitag · Jörg Fündling · Christoph Michels

Hellenicity ohne Hellenen? Eine Einleitung in die Thematik  ................... 

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Sabine Tausend · Klaus Tausend

Die Mauern von Pheneos und der Mäusekrieg  . . ........................................  19 Linda-Marie Günther

„Korinthischen Stammes sind wir wie Bellerophontes“ – Syrakusaner/innen fern der Heimat  ............................................................  51 David Engels

Polemon von Ilion. Antiquarische Periegese und hellenistische Identitätssuche  ...............................................................  65 Frank Daubner

Epirotische Identitäten nach der Königszeit  . . .............................................  99 Christoph Michels

Von neuem beginnen? Zerstörung und Wiederaufbau von Poleis im Hellenismus  ...........................................................................  125 Dorit Engster

Die Frage der Ausbildung einer „achaiischen Identität“ und der Weg in den Achaiischen Krieg  .. .....................................................  149 Jörg Fündling

Griechenlands Identitäten in den Grenzen des Prinzipats. Ein Ausblick auf Rahmenbedingungen und Probleme  .............................  201 Autorenverzeichnis  .......................................................................................  295 Register  . . .........................................................................................................  297

Klaus Freitag · Jörg Fündling · Christoph Michels

Hellenicity ohne Hellenen? Eine Einleitung in die Thematik Der vorliegende Band geht auf eine Tagung zurück, die vom 24. bis 25. November 2011 an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen stattfand. Die mit Förderung der Fritz Thyssen Stiftung abgehaltene Veranstaltung „Identitätsfragen im hellenistischen Griechenland“ war Fortsetzung einer im März 2011 in Bochum abgehaltenen Tagung zu Metöken und Neubürgern im Hellenismus, die ebenfalls von der Fritz Thyssen Stiftung gefördert wurde und bereits als Publikation vorliegt.1 Bevor im Folgenden einige grundsätzliche Bemerkungen zum im Mittelpunkt stehenden Problemfeld gemacht werden, gilt es zunächst, den an der Organisation der Tagung und der Publikation ihrer Beiträge beteiligten Personen und Institutionen zu danken. Die Fritz Thyssen Stiftung hat durch die unbürokratische Förderung von Tagung wie Druck­ legung deren Gelingen erst ermöglicht. Vor Ort unterstützten die Hilfskräfte des Aachener Lehrstuhls für Alte Geschichte, Mona Latos, Janine Bastians und David Falke den reibungslosen Ablauf, während die Koordination in den gewohnt zuverlässigen Händen von Anne-Marie Treeck lag. Für die überaus kompetente Betreuung des Bandes beim Böhlau Verlag schulden wir D ­ orothee Rheker-Wunsch großen Dank. Schließlich sei auch den Autorinnen und Autoren für ihre Kooperation und Geduld gedankt. In ihren Beiträgen untersuchen sie vor dem Spannungsfeld von Kontinuität und Wandel verschiedene, häufig unter dem Schlagwort „Identität“ subsumierte Formen der Selbstwahrnehmung, -darstellung und -abgrenzung der Griechen in der Epoche des Hellenismus. Im Zentrum dieses Bandes stehen damit nicht die kulturellen Wechselwirkungen zwischen ‚Griechen‘ und ‚Nichtgriechen‘ in den durch die Eroberungen Alexanders d. Gr. neu erschlossenen Gebieten des Ostens, Prozesse der „Selbsthellenisierung“ wie etwa in Kleinasien und in der Levante oder die vieldiskutierte ‚Hellenisierung‘ Roms.2

1 Günther 2012. 2 Gehrke 2008, 1; Vogt-Spira – Rommel 1999.

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Diese ‚Außenwirkungen‘ griechischer Kultur sind in den letzten Jahrzehnten intensiv erforscht worden.3 Dabei wurden jedoch die Rückwirkungen der neuen Konstellation, zu der letztlich auch das Auftreten Roms gehört,4 auf die im traditionellen Siedlungsraum lebenden Hellenen weniger beleuchtet. Dieser Siedlungsraum – den Begriff „Griechisches Mutterland“ verwendet man nur ungern, weil er vor allem in diachroner Sicht mehr als problematisch ist und Wertungen impliziert, die den freien Blick auf die Entwicklung des „Hellenen­ tums“ eher verstellen – war seit frühester Zeit griechisch geprägt und konzentrierte sich nicht nur auf die Peloponnes mit Sparta, auf Athen und Mittelgriechenland und dazu die Inselwelt der Ägäis. Ein eher weit zu fassender Griechenlandbegriff schließt daher die „Westgriechen“ und selbstverständlich auch die seit früher Zeit griechisch geprägten Regionen in der Westtürkei und am Schwarzen Meer mit ein. Jüngst hat sich Martin Dreher die Frage gestellt, ob die Westgriechen einen anderen Umgang mit Identitätsfragen entwickelten.5 Er kommt zu dem Ergebnis, dass zumindest vor dem Auftreten der Römer die Griechen auf Sizilien und in Unteritalien als integraler Teil der Griechenwelt betrachtet wurden wie auch die Westgriechen sich im umgekehrten Falle immer Griechenland zugehörig fühlten. Eine weitere grundlegende Problemstellung, die das Thema maßgeblich mit beeinflusst, ergibt sich aus der Frage nach den Spezifika, die die Epoche des Hellenismus im Gegensatz zu den vorangehenden Zeitaltern prägte, und wie sich neue Herrschaftsformen und Strategien von polisübergreifenden Kooperationen auf Identitätsdiskurse im hellenistischen Griechenland auswirkten. Die neuen hellenistischen Monarchien waren maßgeblich verantwortlich für

3 Vgl. etwa Funck 1996; Gruen 2010; Stavrianopoulou 2013. 4 Auch die lange Phase der Etablierung römischer Herrschaft in Griechenland war begleitet von Strategien innerhalb von Identitäts- und Ethnizitätsprozessen, die tief in den Diskurs über die Identität der Griechen eingriffen. Aus dieser Perspektive betrachtet ist es keine Kleinigkeit, wenn die Römer schon mit dem Eingreifen in Illyrien einen großen diplomatischen Erfolg in Hellas erzielten, als sie zu den Isthmischen Spielen zugelassen wurden. Als ein sehr bekanntes und häufig traktiertes Beispiel dafür sei nur die sog. Freiheitserklärung für „die Hellenen“ durch den Römer T. Quinctius F ­ lamininus genannt, die nicht aus einem Zufall heraus anlässlich der Isthmischen Spiele 196 v. Chr. verkündet worden ist, vgl. Pfeilschifter 2005; Eckstein 2008. Vgl. dazu auch den Sammelband Schmitz – Wiater 2011. 5 Dreher 2009.

Hellenicity ohne Hellenen?

die Ausbreitung der griechischen Kultur in bisher den Griechen weitgehend unbekannten Gebieten, die dann in der Folgezeit auch als integrale Bestandteile einer von Vernetzung und Vereinheitlichung geprägten „griechischen Kultur“ angesehen wurden. Die Monarchien, Poleis und Bundesstaaten 6 waren eingebunden in ein Netz aus sozialen, politischen und religiösen Beziehungen, die keineswegs immer von den Monarchien dominiert werden konnten.7 Was diese Veränderungen in politicis aber für den Zusammenhalt der Poleis und Ethne in Griechenland intern und untereinander bedeutete, wie stark sich die Polisgemeinschaften und die anderen politischen Organisationsformen veränderten, wird angesichts einiger neuer Forschungsergebnisse, die die Welt des Hellenismus betreffen, in zunehmendem Maße kontrovers diskutiert und bedarf noch weiterer Forschungen. Die griechischen Poleis werden nun in vielen Bereichen für sehr viel vitaler gehalten, als man es ihnen lange Zeit hat zugestehen wollen.8 Die Epigraphik zeigt uns, dass die demokratische Verfassung vieler Poleis, darunter vor allem Athen, bis weit in die späthellenistische Zeit sichtbar funktionierte. Ob das aber auch bedeutet, dass die jeweiligen Akteure weiterhin die gemeinschaftlichen Interessen der Polis zur Leitlinie ihres Handelns machten, steht dann doch noch auf einem anderen Blatt. Von Dekadenz-Erscheinungen ist jedenfalls nicht mehr die Rede. Vielmehr werden nun neben den schon erwähnten Veränderungen vor allem die Kontinuitäten in Politik und Religion und in anderen Lebensbereichen der Griechen festgestellt. Alle anderen Neuerungen, die sonst als typische Erscheinungen der hellenistischen Lebenswelt identifiziert werden, geraten demgegenüber in der aktuellen Forschung etwas in den Hintergrund. Angesichts des problematischen Quellenbestandes wird man nicht mehr so unbefangen vom Hellenismus als Epoche des Individuums in einer globalisierten und entpolitisierten Welt reden wollen.9 Was bedeutet es denn für die Selbsteinschätzung und Selbstdarstellung der Poleis, wenn sie bei aller „Vitalität“ dann doch in wichtigen Feldern, vor allem im außenpolitischen Bereich, massiv eingeschränkt wurden? Wie entwickeln sich in hellenistischer Zeit die traditionellen Foren der griechischen Öffentlichkeit,



6 Funke 2007; ders. 2007a. 7 Ma 2003; Giovannini 1993. 8 Gauthier 1985; Ma 1999; Fröhlich – Müller 2005. 9 Hose 2010.

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die panhellenischen Heiligtümer, weiter? Wie wirken sich „neue“ Formen von polisübergreifender Kooperation wie das „Asylwesen“10 und die flächenweite Einsetzung von fremden Richtern 11 auf die Identität der Poleis aus? Möglicherweise haben die Poleis im Hellenismus gerade angesichts des Wandels noch stärker als früher danach gestrebt, sich der ideellen Grund­lagen in Diskursen, in denen auch ethnische Argumente eine Rolle spielen, ihrer gemeinschaftlichen Existenz zu vergewissern. Ein Indiz dafür mag sein, dass die nun ausführlich erforschte Syngeneia-Problematik in hellenistischer Zeit auf die Diskurse der Poleis untereinander einwirkte und durchaus praktische Politik mitbestimmte.12 Dem steht aber die These gegenüber, wonach sich die Gemeinwesen in der Zeit des Hellenismus viel stärker als zuvor in einem Transformationsprozess von der ethnischen Gruppe zum politischen Verband befanden, wie dies Nino Luraghi für das hellenistische Messene klar herausgearbeitet hat.13 Identitätsund Ethnizitätsfragen spielten aus dieser Sicht in der hellenistischen Phase keine so große Rolle mehr wie z. B. im 4. Jh. v. Chr. und wurden dann erst mit Beginn der römischen Kaiserzeit wieder wichtiger. Diese Tendenz mag auch in den griechischen Bundesstaaten wirkkräftig gewesen sein, als sie im 3. Jh. v. Chr. die Forderung nach ethnischer Geschlossenheit endgültig über Bord warfen und im zunehmenden Maße auch ethnisch „fremde“ Poleis in ihre Gemeinwesen einbezogen. Leider fehlen uns häufig jene Quellen, die uns einen genaueren Einblick in die gerade skizzierte Problemstellung ermöglichen könnten. Dass Material einst in großer Fülle existierte, das sich genau mit diesen Fragen der kollek­tiven Selbstvergegenwärtigung in historischer Perspektive in der Welt des Hellenismus auseinandersetzte, wird man voraussetzen dürfen. Die zahlreichen hellenistischen Lokal- oder Regionalhistorien trugen offenbar genau dem Anspruch, sich in der erweiterten Welt zu positionieren, Rechnung. Leider sind diese Werke in der Regel nicht überliefert. Wir kennen vielfach nur Autorennamen und einschlägige Werktitel, diese aber in großer Anzahl.14

10 Rigsby 1996. 11 Ager 1996. 12 Lücke 2000; Erskine 2002; Patterson 2010. 13 Luraghi 2000, 291. 14 Heinemann 2010; vgl. Meister 1998, 128.

Hellenicity ohne Hellenen?

Anhand eines Beispiels soll nun in aller Kürze verdeutlicht werden, wie auf der Identitätsebene der „Hellenen“ in hellenistischer Zeit unter veränderten Rahmenbedingungen weiterhin argumentiert wurde und wie man Ethnizitätsdiskursen auch im politisch-ideologischen Bereich Bedeutung zuweisen konnte. Im 27. Buch seiner Historien führt Polybios aus, dass die unerwartete Unterstützung der Griechen für den Makedonenkönig Perseus nach der für ihn siegreichen Schlacht bei Kallinikos (171 v. Chr.) mit dem Verhalten der Zuschauer bei gymnischen Agonen verglichen werden könne.15 Auch dort wende das Publikum seine Sympathien generell dem Schwächeren zu. Wenn die Menge jedoch – so Polybios weiter – im richtigen Augenblick zur Besinnung gebracht werden kann, dann ändere sich das auch wieder schnell. So soll es Kleitomachos, Sohn des Hermokrates, aus Theben in Mittel­ griechenland gemacht haben. Dieser galt als unbesiegbar und sein Ruhm ging um die ganze Welt. In der Altis in Olympia stand eine Statue des Kleitomachos, auf der ein Epigramm des Alkaios von Messene angebracht war.16 Bei den Olympischen Spielen des Jahres 216 hatte Kleitomachos im Pankration gesiegt.17 Bei den nächsten Olympischen Spielen trat er wieder im Pankration im Endkampf an und hatte es diesmal auch geschafft, im Boxen bis in das Finale zu kommen. Im Pankration setzte sich aber der Eleer Kapros durch. Im Boxen trat im Jahre 212 v. Chr.18 der überaus begabte Faustkämpfer Aristonikos gegen ihn an. Ihn, so Polybios, hatte der König Ptolemaios IV. Philopator aufs sorgfältigste aufgebaut, um den Ruhm des Kleitomachos zu brechen. Alle Zuschauer unterstützten sofort Aristonikos als den Außenseiter. Als dieser sich Kleitomachos ebenbürtig erwies, geriet die Menge außer sich vor Begeisterung und feuerte Aristonikos noch mehr an. In diesem Augenblick sei Kleitomachos etwas

15 Pol. 27,9; vgl. Weiler 1987. 16 Anth. Pal. 9, 588. 17 Paus. 6,16,3 – 5. 18 Die Verteilung der Siege auf die Jahre 216 und 212 v. Chr. läst sich nicht mehr zweifelsfrei vornehmen; vgl. nur die Rekonstruktion vonYoung 2001, 55. Nach Paus. 6,15,3 siegte der Thebaner bei den Isthmischen Spielen an einem einzigen Tage im Faustkampf, im Pankration und Ringen. S. dazu Anth. Pal. 9,588, wonach er als einziger Grieche dreimal den Sieg in Isthmia errang. Zur Legende im sog. Alexanderroman, wonach Kleitomachos aus Theben als Heros und als Zeitgenosse des Alexander verantwortlich für den Wiederaufbau Thebens war, s. Demandt 2009, 100.

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zurückgetreten, habe Atem geholt und sich dann fragend an das Publikum gewandt – was dieses sich dabei dächte, für Aristonikos Partei zu ergreifen; ob es etwa zweifelte, dass er den Kampf anständig führe, oder vergessen hätte, dass er, Kleitomachos, für den Ruhm der Hellenen, Aristonikos für die Ehre des Königs Ptolemaios einstehe; ob es lieber sehen würde, wie ein Ägypter den Kranz von Olympia davontrage und die Griechen besiege, oder dass sowohl ein Boioter als auch ein Thebaner als Sieger im Faustkampf ausgerufen werde? Diese Worte des Kleitomachos führten einen Stimmungsumschwung herbei, so dass nun umgekehrt Aristonikos mehr von den Zuschauern niedergekämpft wurde als von Kleitomachos, der sich siegreich durchsetzen konnte. Diese Episode, mit der Polybios nach eigener Aussage ein grundlegendes Merkmal der menschlichen Natur verdeutlichen möchte, hat bislang in der aktuellen Diskussion über Ethnogenese im hellenistischen Griechenland kaum Beachtung gefunden. Wenn überhaupt, wird sie als ein Ausdruck des zeitgenössischen Chauvinismus bzw. „Nationalismus“ gedeutet.19 Die Geschichte macht aber auch deutlich, dass Ethnizitätsdiskurse aus hellenistischer Zeit weiterhin neben der klaren Dichotomie „Hellenen“ versus „Aigyptioi“20 auf einem komplexen System von Identitätsebenen aufsetzen konnten, unter denen die Hellenizität traditionell neben der Polis­identität und Ethnoszugehörigkeit – man beachte, dass Kleitomachos sich bei Polybios explizit als Thebaner und Boioter bezeichnet – die bei weitem am schwächsten ausgebildete Zugehörigkeitsebene darstellte. Auffällig ist auch, dass der ptolemaiische König als Ägypter dem Kreis der Nicht-Hellenen zugerechnet wird, was dann von dem panhellenischen Publikum, das bei den Agonen in Olympia zusammenkam, negativ gewertet wurde und sie veranlasste, ihre Sympathie dem Mit­griechen zukommen zu lassen. Ausgehend von dieser Quelle müsste man nun das übrige aussagekräftige Material heranziehen, um genauer herauszuarbeiten, zu welchen Zeiten, in welchen Kontexten und mit welcher Qualität Identitätsfragen und Ethni­zitätsprozesse auch in der hellenistischen Zeit im politischen Zusammen­leben der Griechen eine große Rolle spielten. Zu fragen ist ebenso danach, wie die hellenistischen Könige und auch Rom in die genannten Auseinander­setzungen einbezogen wurden.

19 Hartmann 2006, 83. 20 Huss 1976, 127.

Hellenicity ohne Hellenen?

Die hier versammelten Beiträge untersuchen schlaglichtartig ganz unterschiedliche Aspekte der nachklassischen griechischen Welt, kreisen aber um vier große Themenkomplexe: die Wechselwirkungen zwischen hellenistischer Literatur und zeitgenössischen Formen der Identitätskonstruktion, Aspekte von „Identität“ auf Polisebene, Identitätsstiftung als außenpolitische Herausforderung sowie jenseits des Stadtstaats wirksame Identitätskonzepte. Mit der Instrumentalisierung von Abstammung und Sprache bzw. Dialekt als Mittel zur ethnischen Positionierung und Distinktion berührt Linda-­ Marie ­Günther (Bochum) wesentliche Aspekte des Konstrukts Identität. Die in ­Theokrits 15. Idyll einer von zwei im ptolemaiischen Alexandreia lebenden Syrakusanerinnen in den Mund gelegte Argumentation mit ihrer korin­ thischen Abstammung und ihrem peloponne­sischen bzw. dorischen Dialekt dient ­Günther dazu, das Spannungsfeld zwischen literarischem Operationalisieren und „realen“, historischen Identitäten aufzuzeigen. Eine onomastische Analyse erweist, dass die im Gedicht verwendeten Namen der Syrakusanerinnen nicht spezifisch peloponnesisch sind. Da sich für die Einwandererstadt Syrakus generell keine typischen Namen aufzeigen lassen, scheint die Namensgebung dort ohnehin kein konstitutives Element für Identitätsbildung gewesen zu sein. Dies führt Günther zur grundlegenderen und umstrittenen Frage, inwiefern Namen in der Antike überhaupt als Marker ethnischer Zugehörigkeit oder nicht viel eher als Schichtenphänomen zu werten sind und ob Metöken hier vielleicht noch eine Sonderrolle ein­nahmen. David Engels (Brüssel) ordnet in seinem Beitrag das Leben und das auf den ersten Blick disparate, nur in Fragmenten erhaltene Werk des Polemon von Ilion in den Kontext der hellenis­ tischen Oikumene ein. In Kontrast zum herodoteischen Hellenikon zeigt Engels in einem ersten Schritt den Wandel und die Entstehung von Bezugssystemen in hellenistischer Zeit auf. Im Hinblick auf eine Charakterisierung des litera­ rischen Schaffens Polemons diskutiert Engels den Begriff des Antiquarianismus. Im Oeuvre des Polemon findet er An­zeichen für eine Konzentration auf das ursprüngliche Kerngebiet des griechischen Siedlungsraums – vielleicht eine Gegenstellung zur erweiterten hellenistischen Welt der Autorengegenwart. Auf Basis aktueller Grabungsergebnisse der Universität Graz im nordarkadischen Pheneos fragen Sabine Tausend und Klaus Tausend in einem gemeinsam verfassten Beitrag nach den Bedingungen urbanen Wandels in dieser zwar kleinen, jedoch an einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt gelegenen Stadt. Zur Diskussion steht die Errichtung einer Befestigung auf dem Akropolishügel am Anfang des 4. Jh. v.Chr und deren Ausbau gegen Ende dieses

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Jahrhunderts. Die Baumaßnahmen stellten einen massiven Eingriff in die Siedlungstopographie dar, denn die Mauer führte offenbar durch ein Heiligtum. Da auszuschließen ist, dass die kleine Siedlung von sich aus die Kosten schulterte, erscheint ein äußeres Eingreifen der regionalen Mächte – unter ihnen vor allem Sparta – in die urbane Gestalt von Pheneos plausibel. Mit dem Ernstfall für das Selbstverständnis einer Gemeinschaft beschäftigt sich Christoph Michels (Aachen), der die beachtliche Zahl gezielter Städtezerstörungen oder vergleichbar destruktiver Vertreibungs- und Umsiedlungsakte in hellenistischer Zeit in den Blick rückt. Obwohl ein altbekanntes Phänomen, sind die Rahmenbedingungen solcher Akte als spezifisch hellenistisch zu werten. Denn sowohl im politischen Repertoire der Monarchen (Umbenennungen und/oder -gründungen) als auch in den Kommunikationsmöglichkeiten der Städte finden sich ‚neue‘ Elemente (Einführung eines Herrscherkultes, Intensivierung der ‚internationalen‘ Diplomatie), die auf ihre Auswirkungen auf städtische Identität hin untersucht werden. Eine spezifische Form regionaler Identität, die dem vertrauten System der griechischen Poliswelt diametral gegenüberzustehen scheint, analysiert Frank Daubner (Stuttgart/Konstanz). Auf Basis der epigraphischen Überlieferung – darunter unediertes Material jüngster Grabungen – betrachtet er anhand mehrerer Fallbeispiele die antike Landschaft Epeiros nach dem Ende der Aiakidendynastie. Die Selbstbezeichnungen zahlreicher Epiroten zeigen für die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen verschiedene, hierarchisierte Identitätsebenen, deren Aktivierung offenbar situationsgebunden war und die einem konstanten Wandel unterworfen blieben. Gegen die ältere teleologische Auffassung, die Entwicklung in allen griechischen Landschaften sei auf die Ausbildung von Polisstrukturen und weiter zur Bildung von Bundesstaaten oder Monarchien verlaufen, zeige sich Epeiros nicht als „rückständiger“ Sonderfall, sondern als Beispiel großer Beharrungskraft und Funktionalität geschichtet-abstammungsorientierter Strukturen. Der Beitrag von Dorit Engster (Göttingen) nimmt den Schlussakt der politischen Autonomie Griechenlands, den Achaiischen Krieg, in den Blick. Vor allem als Folge wachsender Empfindlichkeiten innerhalb des Achaiischen Bundes, dessen maßgebliche Politiker sich zwischen den Optionen einer konsequenten Orientierung an den Wünschen Roms oder der Einnahme einer selbstbewussten bis provokanten Haltung polarisierten, erscheint die schwache Bindungskraft des achaiischen Koinon gerade im Vergleich zum Aitolerbund bemerkenswert. Deutlich wird zudem, wie sehr hier neben persönlicher Konkurrenz auf der Führungsebene auch die nie

Hellenicity ohne Hellenen?

abschließend gelöste Kernfrage griechischer Staatlichkeit verhandelt wurde, die Tragweite des Anspruchs politischer Selbstständigkeit. Zusätzlich zu den Vorträgen der Tagung konnte noch Jörg Fündling (Aachen) für einen Beitrag gewonnen werden, der über das hauptsächlich macht­politischen Umbrüchen geschuldete Epochendatum 30 v. Chr. durchaus im ­Droysen’schen Sinne hinausgreift und in einer Gesamtschau die griechische Welt der Frühen und Hohen Kaiserzeit behandelt.21 Im interdependenten Spannungsfeld zwischen römischen Imaginationen griechischer Kultur (wie etwa dem hadrianischen Panhellenion) und der Eigenwahrnehmung der unter kaiserlicher Herrschaft stehenden hellenischen Polisbewohner problematisiert Fündling eine Reihe von Phänomenen, die sich auf Partial- und Gruppenidentitäten im neu definierten Griechenland auswirkten und geeignet waren, ihnen einen regionsspezifischen Eigencharakter zuwachsen zu lassen. Drei der während unserer Tagung gehaltenen Vorträge haben dagegen nicht den Weg in diesen Band gefunden, sondern werden voraussichtlich an anderer Stelle publiziert. Peter Kató (Mainz) illustrierte am Beispiel der Insel Kos das starke lokale Eigenleben und die Integrationskraft einer Polisbürgerschaft durch Betrachtung städtischen Euergetentums und die Methoden seiner Kommemorierung. Als gescheitertes Herrschaftskonzept, aber auch als verpasste Identitätschance hatte Johannes Engels (Köln) die Errichtung der vier makedonischen merídes nach der Katastrophe der Schlacht von Pydna gekennzeichnet. Nachdem mit dem Ende der Königsdynastie das Makedonien einigende Band verschwunden war, habe der gleichzeitige Wegfall der reichsweiten Führungselite das Ausbleiben eines neuen Identifikationsangebots für die Bewohner der Teilstaaten verursacht. Das daraus resultierende, auf Lokalund Clanebene reduzierte Selbstverständnis habe im Zusammenspiel mit anderen Unruhefaktoren des römischen Ordnungsmodells dessen Untergang im Andriskos-Aufstand vorbereitet. Klaus Scherberich (Aachen) analysierte die praktisch-militärischen wie legitimatorischen Mühen König Philipps V. von Makedonien, während des Bundesgenossenkrieges (220 – 217 v. Chr.) eine schlagkräftige Allianz gegen den Aitolerbund zu vereinen.22 Wenn dem Versuch, Einigkeit unter den Bündnern zu erzeugen, letztlich nur wenig Erfolg beschieden war, zeigte sich doch im Vorgehen Philipps die auch für andere

21 Gehrke 2007. 22 Vgl. hierzu auch Scherberich 2009.

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Akteure greifbare Notwendigkeit, die eigene Außenpolitik mit einem positiv konnotierten „Programm“ zu versehen. Der Identitätsbegriff ist – wie die ähnlich fundamentalen Konzepte „Macht“ oder „Gewalt“ – so unverzichtbar wie bei näherem Hinsehen problembeladen. Für die hellenistische Welt steht als Konkurrent nach wie vor der Begriff „Ethnizität“ im Raum, der jedoch wichtige Komponenten ausspart, ohne die sich Phänomene der Selbst- und Fremdwahrnehmung (oder -deutung) nicht beschreiben lassen, etwa die Erinnerungskultur oder die Rolle politischer Strukturen. Deutlich wird dabei aber auch, dass sich hinter diesem Begriff komplexe Gebilde verbergen, mit mehreren Ebenen, die beim Einzelnen wie bei der so definierten Gruppe aktiviert werden, je nachdem, wem sie sich gegenübersehen. Das Spektrum der hier vorgelegten Beiträge illustriert zudem die Prozesshaftigkeit von Identitätskonstrukten mit der Abstoßung alter und der Aufnahme neuer identitätsstiftender Komponenten, die einem statischen Identitätsverständnis wider­sprechen. Dass sich aus diesen Beiträgen keine Gesamtbilanz „der“ griechischen Identität in hellenistischer Zeit ergibt, ist den unterschiedlichen methodischen Zugängen und forschungsleitenden Interessen ebenso geschuldet wie der Vielgestaltigkeit des historischen Phänomens. Wie Bewusstsein und Zuschreibung von Identitäten jeweils mit Inhalten gefüllt und in politisch-soziales Handeln umgesetzt wurden, bleibt jedenfalls eine Hauptfrage der künftigen altertumswissenschaftlichen Forschung.

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Klaus Freitag · Jörg Fündling · Christoph Michels Schmitz, Th. A., Wiater, N. (Hgg.), The Struggle for Identity: Greeks and their Past in the First Century BCE, Stuttgart 2011 Stavrianopoulou, E. (Hg.), Shifting Social Imaginaries in the Hellenistic Period: Narrations, Practices and Images, Mnemosyne Suppl. 363, Leiden/Boston 2013 Vogt-Spira, G., Rommel, B. (Hgg.), Rezeption und Identität. Die kulturelle Auseinandersetzung Roms mit Griechenland als europäisches Paradigma, Stuttgart 1999 Weiler, I., Zum Verhalten der Zuschauer bei Wettkämpfen in der Alten Welt, in: E. Kornexl (Hg.), Spektrum der Sportwissenschaften. FS zum 60. Geburtstag von Friedrich Fetz, ­Theorie und Praxis der Leibesübungen 58, Wien 1987, 43 – 59 Young, H. M., The Program and Schedule of the Ancient Olympic Games, Hildesheim 2001

Sabine Tausend · Klaus Tausend

Die Mauern von Pheneos und der Mäusekrieg

1. Die Topographie von Pheneos (K. Tausend) Die antike Stadt Pheneos liegt im äußersten Nordosten der Landschaft Arkadien und gehört heute zur Präfektur Korinthia. Sie liegt in einem ca. 800 m hoch gelegenen Tal oder Becken, das im Westen vom fast 2.500 m hohen Kyllene (Ziria) und im Westen vom geringfügig höheren Aroaniagebirge (Chelmos) und seinem Vorberg, dem Dourdouvana, begrenzt wird. Im Süden bilden die Gebirgsstöcke des Saitas und des Oryxis die Begrenzung des Tales. Bewässert wird das Tal durch den aus dem Norden kommenden Fluss Olbios und seine Nebenflüsse, der jedoch keinen oberirdischen Abfluss besitzt.1 Vielmehr wird das Tal durch einige Sinklöcher (Katavothren) entwässert, bei deren Verstopfung sich zeitweise ein See gebildet hat. Heute ist dieser See völlig verschwunden, in der Antike existierte er in unterschiedlicher Ausdehnung, immer jedoch in der Südwestecke des Beckens.2 An der Nordwestflanke des Beckens erhebt sich ein niedriger Hügel, der die Reste des Hauptortes Pheneos trägt. Die wirtschaftliche Basis der Bewohner dieses Beckens bildet heute wie im Altertum die Kleinviehzucht (Schafe und Ziegen), die in geringem Ausmaß von der Rinderzucht und etwas Ackerbau ergänzt wird; in der Antike züchtete man auch Pferde, die einen guten Ruf als Rennpferde genossen.3 Wirtschaftlich gesehen ist das Gebiet von Pheneos also nicht gerade wohlhabend und spielte ökonomisch wohl zu keiner Zeit eine überregionale Rolle, eine Feststellung, die für die Geschichte von Pheneos und der Pheneatis generell Gültigkeit hat.4 Eine besondere Stellung nimmt Pheneos jedoch aufgrund seiner geographischen Lage ein (Abb 1, S. 21). Pheneos stellt nämlich gewissermaßen



1 Dazu K. Tausend 1999a. 2 Stangl 1999. 3 Vgl. zur Bedeutung von Pheneos im Rahmen des antiken Sports S. Tausend 1999. 4 K. Tausend 1999b.

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einen Verkehrsknotenpunkt der nordöstlichen Peloponnes dar. Zum einen durchquert die wichtigste Nord-Süd-Verbindung von Sparta an die Achaiaküste das Tal von Pheneos (Abb 2, S. 22). Diese Straße führt von Pheneos in südlicher Richtung nach Kaphyai und Orchomenos und weiter nach Lakonien. Nach Norden gelangt man von Pheneos durch das Tal des Olbios in die achaiischen Städte Aigeira und Pellene. Gleichzeitig liegt Pheneos aber auch an der wichtigsten Ost-West-Verbindung durch die nördliche Peloponnes. Diese Straße führt aus Elis kommend über die arkadischen Städte Psophis und Kleitor nach Pheneos und von dort weiter nach Stymphalos, Phleious, Sikyon und Korinth. Speziell aus spartanischer Sicht war der Verkehrsknotenpunkt Pheneos von beson­derer Bedeutung, da Sparta die meiste Zeit seiner Geschichte hindurch aufgrund seiner Dauerfeindschaft zu Argos die durch die Argolis führenden Verkehrswege nicht benutzen konnte; wollten spartanische Truppen also nach Nord­arkadien, nach Achaia, nach Phleious, Sikyon oder Korinth gelangen, so waren sie gezwungen die über das Gebiet von Pheneos laufenden Routen zu wählen.5

5 Zu den Verkehrswegen siehe ausführlich K. Tausend 1999c.

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Abb 1  Die Nordostpeloponnes und ihre Verkehrswege

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Abb 2  Die Peloponnes und ihre Verkehrswege

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2. Das Verteidigungssystem von Pheneos In den Jahren 1995 bis 1997 führte die Universität Graz im Becken von Pheneos drei extensive surveys durch, in deren Zuge unter anderem 6 einige fortifikatorische Bauten lokalisiert werden konnten.7 Am Nordende des Beckens von Pheneos nahe der Kapelle von Ag. Charalambos, wo der Olbios das Becken betritt, finden sich einige Blöcke, die offenbar zu einem antiken Wachturm gehörten (Abb 3, S. 24). Aufgrund der zur Verfügung stehenden Grundfläche hatte dieser Turm einst die Ausmaße von ca. 5 bis 6 m im Quadrat und dürfte ins 4. Jh. v. Chr. zu datieren sein. Der Zweck dieses fortifikatorischen Baus war unzweifelhaft, den Eintritt der aus Pellene bzw. Aigeira kommenden Straße ins Becken von Pheneos zu kontrollieren. Ein vergleichbarer Bau befindet sich am Ostrand des Beckens nahe der Kapelle der Ag. Varvara, von dem noch neun Blöcke vorhanden sind. Dieser an Größe und Datierung dem von Ag. Charalambos eng verwandte Turm überwachte deutlich den Punkt, an dem die antike Straße aus Stymphalos das Becken betrat. Ebenfalls der Überwachung der Stymphalos-Straße diente eine größere Anlage an der Stelle Drakoneri am Ostrand des heutigen Dorfes Messino. Dieser etwa 10 x 6 m messende Bau ist als blockhouse ähnlich vergleichbaren Anlagen in der Argolis 8 einzustufen und ist wohl nicht als Beobachtungsstation anzusehen, sondern beherbergte eine kleine Garnison, die durch Patrouillen den Verkehrsweg zu kontrollieren hatte. Auch dieser Bau datiert ins 4. Jh. v. Chr. Südlich des Beckens von Pheneos auf der Passhöhe von Lakkomata, wo die aus Orchomenos bzw. Kaphyai kommenden Straßen die Grenze des pheneatischen Territoriums überschreiten und der Weg durch eine Schlucht ins Becken abzusteigen beginnt, finden sich – genau an der Stelle, wo die drei Wege auf­einandertreffen – ebenfalls (geringe) Reste eines Wachturmes aus spätklassischer oder frühhellenistischer Zeit, deren Aufgabe unzweifelhaft in der Kontrolle dieser Grenzregion bestand.

6 So ergaben diese Untersuchungen vier prähistorische Siedlungen, zwei Dörfer bzw. Villen aus römischer Zeit und drei Heiligtümer. 7 Zu diesen siehe K. Tausend 1999d. 8 Vgl. Lord 1941.

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Abb 3  Wachtürme (1 – 4) im Becken von Pheneos

Am nördlichen Ende der genannten Schlucht, dort, wo die Orchomenos-Straße das Becken selbst erreicht, findet sich die wohl beeindruckendste fortifikatorische Anlage des pheneatischen Gebietes. Es handelt sich hierbei um einen Rundturm 9 mit über 10 m Durchmesser, der über einen schrägen Unterbau mit darüber liegendem Eingang verfügt. Aufgrund seiner Größe und seiner topographischen Position in der Ebene handelt es sich bei diesem Turm keinesfalls um einen Wachturm, sondern – wie beim blockhouse von Drakoneri – um den Standort einer Garnison zur militärischen Sicherung des Fruchtlandes von Pheneos. Mit dem Wachturm von Lakkomata hatte dieser Rundturm (über eine Zwischenstation) Sichtverbindung, so dass aus dem Süden anrückende 9 Siehe zu diesem Bau K. Tausend 1998.

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Feinde vom Wachturm an die Garnison gemeldet werden konnten. Archäologische Untersuchungen der Umgebung des Turmes seitens der Altertümerverwaltung von Korinth im Jahre 2008 ergaben eine Datierung des Rundturmes ins letzte Drittel des 4. Jh. v. Chr. Insgesamt zeigt dieses Bild der Befestigungsanlagen im Becken von Pheneos, dass diese arkadische Stadt im 4. Jh. v. Chr. (vor allem in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts) über ein aufwendiges (und wohl auch teures) aus Wachtürmen und Garnisonen bestehendes Verteidigungssystem verfügte, das – aus Gründen, die noch später zu erörtern sein werden – im Süden (gegen Orchomenos) und Osten (gegen Stymphalos) des Territoriums besonders stark ausgebaut war.

3. Die Stadt Pheneos Im Jahre 2011 startete an der Universität Graz ein interdisziplinäres (Archäologie, Alte Geschichte, Klassische Philologie und Sprachwissenschaft) Forschungsprojekt zu Geschichte, Kulturgeschichte, Religion etc. des nordarkadischen Raumes, in dessen Zentrum die (erstmalig stattfindenden) Ausgrabungen in der Stadt Pheneos selbst stehen.10 In den Grabungskampagnen 11 der Jahre 2011 und 2012 konnte bislang festgestellt werden, dass sich auf dem Hügel von ­Pheneos (Abb 4, S. 26) eine ausgedehnte prähistorische Siedlung befunden hat, die sich sowohl über den (niedrigen) Hügel selbst als auch über die diesen überragende steile konische Erhebung – Akropolis genannt – erstreckte; diese ausgedehnte Siedlung bestand nach Aussage der bisher getätigten Funde in mittelhelladischer und wohl auch mykenischer Zeit. In späteren Jahrhunderten wurden – bislang noch nicht datierte – massive Befestigungsmauern aus unbehauenen Blöcken auf der Akropolis errichtet, während der Hügel selbst Besiedlungsspuren aus archaischer und klassischer Zeit aufweist. Schließlich konnten noch auf dem langgestreckten Hügelplateau deutliche Hinweise 10 Diese Ausgrabungen finden in Kooperation mit der griechischen Altertümerverwaltung der Korinthia statt und stehen unter der Leitung von P. Scherrer und M. Lehner (Graz) sowie K. Kissas (Korinth). 11 Parallel dazu finden seit 2008 Grabungen der griechischen Altertümerverwaltung im Asklepieion von Epheseos statt, wo schon in den 60er Jahren gegraben wurde. Siehe E. Protonotariou-Deilaki, ADelt 17 (1961/62) Chron., 57 – 61 und dies. ADelt 20 (1965) Chron., 158f.

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(Statuetten, Weihegaben) auf ein Heiligtum geborgen werden; die baulichen Reste des Heiligtums selbst harren allerdings noch ihrer Freilegung. Das Hauptaugenmerk der beiden ersten Grabungssaisonen lag allerdings auf der Freilegung und Erforschung der eindrucksvollen Stadtmauern von ­Pheneos (Abb 4, S. 26). Der Stadthügel von Pheneos hat annähernd die Form eines gleichschenkeligen Dreiecks, wobei die ca. 200 m lange Nordseite und die (etwas kürzere) Westseite die beiden Schenkel, die Südostseite aber die etwas ‚eingedrückte‘ Hypotenuse bilden. Der Hügel ist im Norden und Westen relativ steil, während die Südostseite sanft zur Ebene des Beckens hin abfällt. Sowohl Nord- als auch Westseite steigen zu ihrem Scheitelpunkt (im Nordwesten) hin allmählich an und werden eben dort von der steilen Akropolis überragt.

Abb 4  Der Siedlungshügel von Pheneos

Die noch gut sichtbaren Teile der Stadtmauer befinden sich an der Nordseite unmittelbar am Rand des Hügelplateaus und erstrecken sich beinahe entlang der gesamten Nordflanke. In unregelmäßigen Abständen ist die stellenweise bis zu 4 m hoch erhaltene Mauer von halbrunden Türmen mit einem Durchmesser von 5 bis 6 m verstärkt, welche deutlich nicht nachträglich an die Mauer angesetzt, sondern im Verbund mit derselben errichtet wurden. Der weitere Verlauf der Mauer (abgesehen von der Nordseite) ist bislang noch nicht geklärt,

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doch scheint sie an den steilsten Stellen des Hügels – wie etwa unterhalb der Akropolis – überhaupt gefehlt zu haben. An der flachen Südostflanke und zum Teil auch an der Westflanke dürfte die Mauer nicht auf dem Hügel, sondern am Rand der den Hügel umgebenden Ebene verlaufen sein; zumindest deutet die Verteilung der sicherlich von der Stadtmauer stammenden, in den umliegenden Feldern verstreut anzutreffenden Mauerblöcke in diese Richtung. Den genauen Verlauf der gesamten Umfassungsmauer festzustellen, wird Aufgabe der Kampagne im Jahre 2013 sein. Die in Zweischalentechnik (mit Bindern) errichtete Mauer weist eine durchschnittliche Stärke von 3,20 m auf und könnte einst eine Höhe von 8 bis 10 m aufgewiesen haben. Die Mauerblöcke sind in annähernd pseudoisodomem Stil geschichtet worden, wobei die Blockkanten fugenlos aneinanderpassen. Insgesamt ist diese Mauer hervorragend gearbeitet worden und entspricht in Anlage und Ausführung dem technischen Höchststand des 4. Jh. v. Chr. Auffällig ist lediglich, dass die Außenseite der Mauerblöcke nicht geglättet wurde, was allerdings lediglich der Ästhetik, nicht aber dem eigentlichen Zweck eines fortifikatorischen Baus dieser Art Abbruch tut. Dies spricht nun dafür, dass man bei der Errichtung der Mauer entweder keinen Wert auf ein gefälliges Aussehen gelegt hat, oder aber, dass die Mauer in großer Eile erbaut wurde, und man deshalb auf die Glättung der Blöcke verzichtet hat. Noch ein Punkt ist hinsichtlich der Errichtung dieser Mauer bemerkenswert. Obwohl die Oberflächenfunde auf dem gesamten Hügel sowie das Material in den Verfüllungen klar dafür spricht, dass der Hügel von Pheneos sowohl in prähistorischer Zeit sowie in der Archaik als auch in der Klassik bewohnt war, setzt die Mauer direkt auf mittelhelladischen Straten auf. Dies bedeutet aber, dass die darüber liegenden archaischen und klassischen (und vielleicht auch geometrischen) Schichten beim Bau der Mauer abgetragen worden sein müssen. Es wurde also ein gewaltiger Aufwand betrieben, um gleichzeitig mit der Errichtung der Stadtmauer innerhalb derselben ein Plateau zu schaffen, wozu klarerweise auch umfangreiche Felsabarbeitungen vonnöten waren; insgesamt stellt die Errichtung dieses fortifikatorischen Baus – unabhängig vom (noch nicht gänzlich geklärten) Umfang – ein aufwendiges und kostspieliges Unterfangen dar. Hinsichtlich der Konzeption der Befestigungsanlage sowie der Mauerbautechnik stammt die Stadtmauer von Pheneos deutlich aus einer Zeit, in der man zunehmend von der Bauweise, Lehmziegel auf Steinsockel zu setzen, abging und stattdessen durchgehende Steinmauern baute; dies bedeutet, dass die

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Mauer nach 400 v. Chr. errichtet wurde.12 Einen terminus ante quem stellen die Konstruktion und der Einsatz große Steine schleudernder Torsionsgeschütze zur Verteidigung von Stadtmauern und Festungen dar. Solche Geschütze, die ab ca. 320 v. Chr. verwendet wurden, benötigten nämlich zu ihrer Aufstellung Türme mit einem Durchmesser von mindestens 8 m.13 Da die Türme der Stadtmauer von Pheneos aber lediglich einen Durchmesser von 5 bis 6 m aufweisen, gehören sie – und somit die Mauer selbst – dem älteren, kleineren Typ der Zeit vor 320 v. Chr. an.14 Aufgrund dieser Überlegungen stammt die Stadtmauer von Pheneos also aus der Zeit zwischen etwa 390 und 320 v. Chr. Endgültig Klarheit über die Datierung der Mauer brachte schließlich ein Fund aus dem August 2012. Im Fundamentgraben des Mittelabschnittes der Stadtmauer – also unmittelbar bei der ersten Steinlage – kam eine sikyonische Münze zum Vorschein, die nur in der Zeit zwischen etwa 345 und 325 v. Chr. im Umlauf war. Mit anderen Worten: Die Stadtmauer von Pheneos kann nunmehr mit einiger Sicherheit in die Zeit Alexanders des Großen datiert werden. Fassen wir die bislang erzielten Ergebnisse der topographischen und archäologischen Untersuchungen sowohl des Beckens von Pheneos als auch des Stadthügels kurz zusammen: Nach einer Phase intensiver Besiedelung sowohl auf dem Hügel von Pheneos als auch an zumindest drei Stellen im Becken von Pheneos entwickelte sich in historischer Zeit auf dem Stadthügel eine Siedlung. Diese ist für die archaische und klassische Epoche wahrscheinlich zu machen, ob sie auch schon in geometrischer Zeit existiert hat, ist bislang nicht nachzuweisen. Eine Fülle von Kleinfunden deutet zudem darauf hin, dass hier auch ein Heiligtum (der Athena Tritonia?15) bestanden hat. Die Polis Pheneos hatte wenige als komai zu klassifizierende Siedlungen 16 im Becken und spielte wirtschaftlich wie politisch wohl keine herausragende Rolle. Die Basis der pheneatischen Wirtschaft bildete wohl immer die primär auf Kleinviehzucht beruhende Landwirtschaft, was die Stadt nicht gerade wohlhabend werden ließ. Die geringe politische Bedeutung der Stadt lässt sich wiederum aus den literarischen Zeugnissen ablesen.17 Eine besondere Stellung 12 Siehe Cooper 2000, 157. 13 Vgl. Ober 1987, 586 – 588. 14 Siehe Winter 1997, 258. 15 Siehe Paus. 8,4. 16 Dazu K. Tausend 1999e. 17 Siehe dazu weiter unten.

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hatte Pheneos lediglich durch seine geographische Lage, da hier die wichtigsten Straßen der nördlichen und östlichen Peloponnes zusammentreffen und etwa ein aus Lakonien kommendes Heer pheneatisches Territorium durchqueren musste, um an die Achaiaküste oder nach Korinth zu gelangen. Im letzten Drittel des 4. Jh. v. Chr. wurde ein Teil des Hügels von Pheneos planiert, so dass ein Plateau entstand, wobei einige ältere Siedlungsschichten entfernt wurden. Entlang der Hügelkanten wurde sodann eine Umfassungsmauer errichtet, deren Umfang bislang noch unbekannt ist, die aber zumindest einen Großteil des Hügels eingeschlossen haben muss. Die zweischalige, in Abständen durch Türme verstärkte Mauer ist äußerst sorgfältig gearbeitet und nach letztem Stand der Technik verfertigt, allerdings fehlt die Glättung der Außenseite der Blöcke, was vielleicht auf große Eile bei der Errichtung schließen lässt. Aufgrund des doch begrenzten Areals, das von der Mauer umgeben war, wäre es auch denkbar, dass es sich bei diesem Bauwerk nicht um eine Stadtmauer im eigentlichen Sinn gehandelt hat, sondern um die Anlage einer Festung innerhalb der bestehenden Siedlung. Gleichzeitig mit dieser Befestigungsmauer wurden im gesamten Becken von Pheneos an strategisch wichtigen Stellen weitere fortifikatorische Bauten errichtet, unter denen das blockhouse von Drakoneri und vor allem der Rundturm am Südende des Beckens wegen ihrer Größe und ihrer technisch exakten Bauweise hervorragen. Auffällig ist bei diesem Verteidigungssystem, dass es nach Osten und vor allem nach Süden besonders gut ausgebaut war. Dies bedeutet aber, dass es in erster Linie – wenngleich nicht ausschließlich – gegen Sparta gerichtet gewesen zu sein scheint. Die eindrucksvolle Befestigungsanlage auf dem Hügel von Pheneos sowie das gesamte fortifikatorische Verteidigungssystem dieses nordarkadischen Beckens werfen nun einige Fragen auf: 1  Aufgrund der anzunehmenden landwirtschaftlichen Grundlage im Becken von Pheneos können im pheneatischen Territorium zu keiner Zeit mehr als 2.000 bis 3.000 Menschen gelebt haben. Dies bedeutet, dass nicht mehr als 400 bis 600 Soldaten zur Bemannung der Bauten zur Verfügung standen,18 sofern alle Wehrfähigen dem Arbeitsprozess entzogen wurden. Dauerhaft ist dies jedoch nur mit maximal 10 % der Wehrfähigen (ohne nachhaltige Schädigung

18 Vgl. dazu die Zahl von 600 Kämpfern aus dem arkadischen Orchomenos, das wohl um einiges größer war als Pheneos, in der Schlacht von Plataiai (Hdt. 9,28).

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der Nahrungsmittelversorgung) möglich, weshalb nur 40 bis 60 Soldaten zur permanenten Bemannung aller Anlagen zur Verfügung standen; diese Zahl ist auf jeden Fall bei weitem zu gering, die Festung und die Türme wirkungsvoll zu bewachen. Es stellt sich also die Frage: Welche Soldaten dienten als Be­satzungen der fortifikatorischen Anlagen von Pheneos? 2  Fortifikatorische Anlagen in dieser Anzahl, Größe und Qualität, wie sie im Becken von Pheneos im letzten Drittel des 4. Jh. erbaut wurden, sind nur mit einem erheblichen finanziellen und personellen Aufwand zu errichten. Angesichts der oben skizzierten sehr überschaubaren wirtschaftlichen Potenz der Polis Pheneos ist es wohl auszuschließen, dass diese Kosten von der Bevölkerung der Pheneatis getragen werden konnten. Man muss sich daher fragen, wer die finanziellen Mittel für die Errichtung dieser Befestigungswerke bereitgestellt hat. 3  Angesichts der – von seiner verkehrspolitisch zentralen Lage einmal abgesehen – geringen politischen und militärischen Bedeutung von Pheneos drängt sich die Frage auf, welche Gründe für die Errichtung dieses aufwendigen und teuren Systems von Befestigungsanlagen ausschlaggebend waren, und vor allem, in wessen Interesse derartige Maßnahmen getroffen wurden. Zur Beantwortung dieser Fragen wird es notwendig sein, einen Blick auf die historischen Ereignisse in der Pheneatis und überhaupt in Arkadien (speziell im 4. Jh. v. Chr.) zu werfen.

4. Pheneos von den Perserkriegen bis zum ‚Mäusekrieg‘ (S. Tausend) Obwohl die Arkader über ein gemeinsames Kultzentrum des Zeus Lykaios 19 und einen „gemeinsamen Herd“20 in Tegea verfügten, präsentierten sie sich „zunächst als politisch fragmentierter und in eigenständige Poleis bzw. Komenverbände zerfallener Stamm“.21 Der Umstand, dass sie in der griechischen Staatenwelt als autochthon galten,22 ließ sich prestigeträchtig vermarkten. Ungeachtet der bereits als komplex und differenziert angesprochenen Ausbildung 19 Paus. 8,2,1ff. Vgl. dazu Beck 1997, 70 Anm. 16 mit Quellen und weiterführender Li­teratur. 20 Paus. 8,53,9: ἑστίαν Ἀρκάδων κοινήν. 21 Beck 1997, 70. Zum komplexen Prozess der Ethnogenese vgl. Nielsen 2002. Siehe dazu auch Tausend 2009. 22 Hdt. 2,171,3; 8,73; Xen. Hell. 7,1,23.

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einer ­ethnischen Identität der unterschiedlich strukturierten arkadischen Gemeinschaften 23 werden diese von den Quellen in ihrer Diversität häufig nur unzureichend wahrgenommen und dementsprechend unpräzise wiedergegeben. Obwohl Herodot bei Angaben zu den Kombattanten der Perserkriege um Genauigkeit bemüht scheint, wenn er vermerkt, dass ursprünglich die Arkader in ihrer Gesamtheit für die Freiheit Griechenlands gekämpft hatten, während bei Plataiai lediglich Orchomenier und Tegeaten vertreten waren,24 erfahren wir nicht, ob sich auch die Pheneaten am Abwehrkampf beteiligt hatten. Da der Autor betont, dass nach der Niederlage an den Thermopylen die Spartaner und alle Arkader Truppen zum Isthmos entsandten, dürften sich im arkadischen Kontingent auch die Pheneaten befunden haben, die vermutlich über ­Stymphalos nach Korinth marschierten.25 Ebenso gewissenhaft vermerkt Herodot, dass in der Dipaia-Schlacht sämtliche Arkader mit Ausnahme der Mantineier den Spartanern entgegentraten.26 Bei Ausbruch des Peloponnesischen Krieges befanden sich Thukydides zufolge alle Arkader auf der Seite Spartas.27 Die gesamte Peloponnes südlich des Isthmos mit Ausnahme der Argiver und Achaier stand im lakedaimonischen Heerlager. Ohne die Parteinahme der Arkader wäre das vom Autor sorgfältig vermerkte Überlaufen Pellenes bereits zu Beginn der Auseinandersetzungen aus rein geographischen Überlegungen völlig unmöglich gewesen. Allein durch die Unterstützung der Arkader wurde die eminent wichtige Aufmarschroute spartanischer Soldaten über Orchomenos und Pheneos zum Golf von Korinth ermöglicht.28 Im Verlauf der Auseinandersetzungen entzweiten wiederum partikulare Interessen die geschlossene Front.29 Die aus numismatischer Evidenz erschlossene Gründung eines arkadischen Bundes 30 in der Frühphase des Peloponnesischen Krieges wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Jedenfalls darf die Emission vermeintlich gesamtarkadischer Prägungen eher als veritables Indiz für die Zersplitterung Arkadiens als für seine 23 Siehe Freitag 2009, 162. 24 Hdt. 7,202; 8,72; 9,28. Vgl. Auch die epigraphische Evidenz HGIÜ I 42. 25 Siehe dazu Pretzler 1999, 64. 26 Hdt. 9,35: Ἀρκάδας πάντας πλὴν Μαντινέων. 27 Thuk. 2,9. Vgl. auch Thuk. 5,61; 77,1 und Diod. 12,42,2. 28 Tausend 1999c, 292f. 29 Siehe dazu ausführlich Beck 1997, 70f. und die dort angegebene Literatur. 30 Zu den ΑΡΚΑΔΙΚΟΝ-Prägungen siehe ebda., 72 Anm. 34.

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Geschlossenheit interpretiert werden.31 Demnach präsentiert sich Arkadien im 5. Jh. als Konglomerat „selbständiger Städte und tribaler Verbände, die in wechselnden Koalitionen miteinander rivalisierten“.32 Im Korinthischen Krieg leisteten die Städte Arkadiens Sparta Heeresfolge.33 Während sich besonders Tegea als treuer Bundesgenosse erwies, waren die Beziehungen zu Mantineia stets problembehaftet. Permanente Querelen veranlassten die Spartaner zu einer Disziplinierung des renitenten Bündners. Diese gipfelte in einem Dioikismos der besiegten Stadt.34 Die nach der Schlacht von Leuktra auf der Peloponnes ausbrechenden Unruhen 35 nutzten die Mantineier – unterstützt von Elis und anderen Arkadern 36 – zum Wiederaufbau ihrer Stadt.37 Das dort etablierte demokratische Regime entwickelte das Konzept für einen arkadischen Gesamtstaat.38 Auch hinsichtlich des Entstehungsortes dieses Bundes herrscht in der antiken Überlieferung Unklarheit: Während Xenophon die Keimzelle dieses Zusammenschlusses in Tegea verortet,39 macht Diodor Lykomedes aus Mantineia zum Archegeten des Bundes.40 Ein Putsch gegen die Oligarchen in Tegea wurde von dem ebenfalls demokratischen Mantineia unterstützt. Auf diese Weise wurde die von Sparta eifrig geschürte Feindschaft dieser beiden Städte, die sich um das im ostarkadischen Becken befindliche Fruchtland entspann, temporär beendet, woraus für Sparta „ein machtpolitischer Alptraum“41 erwuchs. Ein Heer unter Agesilaos trat 370 einer geschlossenen Front des Arkadikons entgegen. Lediglich das mit Sparta eng verbundene Heraia und das mit Mantineia entzweite Orchomenos hielten Sparta die Treue.42 Dem κοινὸν τῶν Ἀρκάδων gelang es, mit thebanischer Hilfe die Spartaner zu vertreiben. Epameinondas vermochte die Hegemonie Spartas auf der Peloponnes zu b ­ rechen. Ungeachtet 31 Vgl. etwa Roy 1972, bes. 335f. und 340; Nielsen 1996. 32 Beck 1997, 73 mit ausführlicher Literaturdiskussion. 33 Xen. Hell. 3,5,7 (für das Jahr 394) und 5,1,33 (für das Jahr 387). 34 Xen. Hell. 5,2,5. Vgl. dazu ausführlich Beck 1997, 73f. 35 Isok. 6,64 – 69; Diod. 15,40. Vgl. dazu Gehrke 1986, 154; Roy 1971. 36 Xen. Hell. 6,5,3 – 5; Paus. 8,8,10; 9,14,4. 37 Siehe dazu ausführlich Beck 1997, 74. 38 Ebda. 39 Xen. Hell. 6,5,6. 40 Diod. 15,62,2. Vgl. dazu auch Diod. 15,59,1, wo fälschlicherweise Tegea als Herkunftsort des Lykomedes angegeben wird. 41 Beck 1997, 75. 42 Xen. Hell. 6,5,11f. Vgl. dazu Trampedach 1994, 22 – 26 und die dort angegebene Literatur.

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dieses eindrucksvollen Beweises panarkadischer Solidarität konnte man keinesfalls einem Zusammenschluss aller in Frage kommenden Gemeinden das Wort reden. Wenngleich man Orchomenos, Alea und Lepreon genötigt hatte, unverzüglich dem Bund beizutreten, schien sich der Nordosten Arkadiens und mit ihm wohl auch Pheneos erst sukzessive zu integrieren. Die Gründung eines Föderalstaates war mit den weit verbreiteten Vorstellungen von Autonomie offenbar problemlos in Einklang zu bringen. Was dem neuen Konstrukt jedoch fehlte, war ein von Zwistigkeiten unbelastetes Zentrum. Dass die zu diesem Zweck erfolgte Gründung von Megalopolis „einen wichtigen Wendepunkt in der politischen und siedlungsgeographischen Geschichte Arkadiens darstellte“,43 wird nicht in Frage gestellt, wenngleich Details des Synoikismos kontrovers diskutiert werden.44 Außer Zweifel steht auch die multifunktionale Verwendung von Megalopolis, das – strategisch vorteilhaft an der Südflanke Westarkadiens gelegen – einerseits wie Tegea in Ostarkadien spartanische Einfälle effizient verhindern und andererseits als Symbol des Arkadischen Bundes dienen sollte. Als sichtbaren Ausdruck ihres panarkadischen Charakters wurde ihr der Bundeskult des Zeus Lykaios überantwortet.45 Mit Unterstützung des Boiotischen Bundes gelang es dem neu etablierten Koinon, sein Territorium kontinuierlich auszuweiten. Unter dem Eindruck des ersten Zuges von Epameinondas in die Peloponnes dürfte sich ganz Arkadien zum Beitritt entschlossen haben.46 Das ursprüngliche Wohlwollen der Thebaner kühlte sich durch deren engagierte Parteinahme für die von Elis erhobenen Gebietsansprüche auf Mitglieder des Arkadischen Bundes empfindlich ab. Die Hoffnung der Bündner, eine Entscheidung des persischen Großkönigs zu ihren Gunsten herbeiführen zu können, zerschlug sich. Der seit der Friedenskonferenz von Susa schwelende Konflikt gipfelte 366 im offenen Konflikt mit Theben.47 Durch ein Defensivbündnis versicherten sich die Arkader der Unterstützung Athens und fielen in Elis ein. Ungeachtet innenpolitischer Querelen in Elis scheiterten die Arkader an der Eroberung der Stadt und wurden zum Rückzug 43 Freitag 2009, 163. 44 Beck 1997, 76f.; Trampedach 1994, 26 – 36 und die dort wiedergegebene Literaturdiskussion. 45 Braunert – Petersen 1972, 86 Anm. 135. 46 Beck 1997, 77 Anm. 64. Vgl. besonders die Auflistung sämtlicher Mitglieder bei Dušanić 1970, 332f. 47 Beck 1997, 77 mit Quellen und Literatur.

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gezwungen. Ein zweiter Belagerungsversuch wurde durch die Unterstützung der Achaier vereitelt. Die auf dem Rückzug befindlichen arkadischen Kontingente verließen Elis. Als sie von der Anwesenheit von Truppen aus ­Pellene in Elis erfuhren, zogen sie in einer bei Xenophon 48 überlieferten Expedition nach Achaia und fielen in das nicht zu lokalisierende Oluros ein.49 Aus dieser Notiz lässt sich mit einiger Sicherheit ableiten, dass Pheneos zu diesem Zeitpunkt in jedem Fall Mitglied des Arkadischen Bundes gewesen sein musste. Der von den Arkadern in höchster Eile angetretene Nachtmarsch wird wohl über die kürzeste Route nach Pellene geführt haben. Dieser Weg über Psophis und Pheneos konnte jedoch vernünftigerweise nur gewählt werden, wenn man nicht mit Schwierigkeiten entlang der Strecke rechnen musste. Einen weiteren Höhepunkt erfuhren die Auseinandersetzungen des Arkadischen Bundes mit Elis in der Einnahme Olympias. Bei den olympischen Spielen des Jahres 364 führten Arkader und Pisaten gemeinsam den Vorsitz.50 Diese außenpolitischen Erfolge des Koinons vermochten nicht, über seine innere Zerrissenheit hinwegzutäuschen. Der alte Zwist zwischen Tegea und Mantineia entzündete sich im aktuellen Fall an einer missbräuchlichen Verwendung olympischer Tempelgelder für die Besoldung arkadischer Truppen. Die Spaltung des Bundes manifestiert sich unübersehbar 362 in der Schlacht von Mantineia. Hier standen Tegeaten, Megalopoliten und Thebaner Truppen von Mantineia, Elis, Achaia, Athen und Sparta gegenüber.51 Während in Tegea und Südarkadien wiederum Stadtstaaten dominierten,52 formierte sich im Norden Arkadiens ein Rumpfbund um Mantineia, der jedoch die Hoheitsrechte für alle Arkader beanspruchte.53 Dieses wohl primär nach den individuellen Interessen Mantineias ausgerichtete Konglomerat schloss 343/32 mit Athenern, Achaiern, Argeiern, Megalopoliten und Messeniern ein allerdings wirkungslos gebliebenes antimakedonisches Bündnis.54 In der Schlacht von

48 Xen. Hell. 7,4,17. 49 Vgl. dazu Pretzler 1999, 66. 50 Xen. Hell. 7,4,14ff.; Diod. 15,78,1; 15,82,1. Siehe dazu ausführlich Beck 1997, 77 mit Quellen und Literatur. 51 Xen. Hell. 7,5,1ff.; 7,4,35f.; Diod. 15,82,2. 52 Zur kontrovers geführten Diskussion um einen möglichen Rumpfbund um Tegea vgl. Beck 1997, 79 Anm. 78. 53 Vgl. dazu ausführlich Beck 1997, 78f. mit Literaturangaben. 54 Ebda., 79 Anm. 79.

Die Mauern von Pheneos und der Mäusekrieg

Chaironeia verhielten sich sämtliche Arkader neutral.55 Zu den von Philipp II. durchgeführten Maßnahmen nach dem Sieg über Griechenland zählt das Stationieren von Garnisonen in Theben, Ambrakia, Korinth und vermutlich auch in Chalkis.56 Die Besetzung Akrokorinths dürfte während seines Zuges in die Peloponnes im Herbst 338 erfolgt sein.57 Ein Aufenthalt des makedonischen Herrschers in Arkadien mit dem erklärten Ziel, die Arkader vom Rest Griechenlands dauerhaft zu separieren, wird von Pausanias bezeugt.58 Bemühungen um eine Wiederbegründung des Arkadischen Bundes werden in der modernen Forschung kontrovers diskutiert.59 Da Sparta nicht gewillt war, die königlichen Wünsche bei der Lösung territorialer Streitfragen zu respektieren, fiel Philipp in Lakonien ein. Obwohl lediglich von einer Beteiligung der Eleier an diesem Feldzug die Rede ist,60 wird die Teilnahme sämtlicher Profiteure der angestrebten Gebietsveränderungen, also Messenes, der Arkader und Argos überzeugend erschlossen.61 Ob jedoch tatsächlich auch Nordarkadien, das aus den Revisionen keinerlei Nutzen ziehen konnte,62 sich beteiligt hatte und traditionell einen spartafreundlichen Kurs steuerte, muss dahingestellt bleiben. Jedenfalls zielten die Besitzarrondierungen wohl darauf ab, den Spartanern flächendeckend alle militärtechnisch bedeutenden Zugänge in die Peloponnes dauerhaft zu verschließen.63 Die Integration der Arkader in den Korinthischen Bund bezeugt Iustin.64 Dass der von den Makedonen gewaltsam geschaffenen Stabilität jedwede faktische Bindekraft fehlte, zeigt bereits der thebanische Aufstand. Während eine Beteiligung der Arkader an den unmittelbar nach der Ermordung Philipps 55 Paus. 8,6,2: (…) οὐκ ἐμαχέσαντο μετὰ Ἑλλήνων (…). Ebenso 8,27,10. 56 Siehe dazu ausführlich Jehne 1994, 139 – 151, hier 144f. mit Quellen und Literatur. Zu Umfang und Nutzen von Garnisonen vgl. ebda. 150. 57 Ebda. 58 Paus. 8,7,4. 59 Vgl. Jehne 1994, 146 Anm. 65 und die dort angegebene Synopse vorhandener Literatur. Siehe dazu auch Beck 1997, 79 Anm. 82. 60 Paus. 5,4,9. 61 Jehne 1994, 147 Anm. 71. 62 Besonders die Tegea zu geschlagenen Gebiete der Skiritis und Karyai dürften dessen Erbfeind Mantineia wenig begeistert haben. 63 Jehne 1994, 147. Vgl. dazu Roebuck 1948, hier 84 – 89; Hammond – Griffith 1979, 616 – 618, bes. 617 Anm. 4. 64 Iust. 9,5,1 – 3.

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ausbrechenden Unruhen in Griechenland in den Quellen nicht explizit erwähnt wird,65 spielen sie im thebanischen Aufstand eine umso prominentere Rolle. Den Bemühungen des Demosthenes soll es zu danken gewesen sein, dass sich die Erhebung unter anderen 66 auch auf Elis und die Arkader ausgeweitet haben soll.67 Eine als erstes Krisenmanagement auf den Weg gebrachte Gesandtschaft Antipaters wurde von den Arkadern zwar zurückgewiesen,68 bremste jedoch ihren Elan empfindlich und ließ ihre bereits ausgerückten Truppen am Isthmos anhalten.69 Ihre wenig rühmliche und primär monetär motivierte Verteidigungsbereitschaft fand ein abruptes Ende. Die harte Bestrafung Th ­ ebens führte zu einer effizienten Kurskorrektur: Alle, die einer Unterstützung der Aufständischen das Wort geredet hatten, wurden zum Tode verurteilt.70 Wiederum stellt sich die Frage, ob es sich bei den in den Quellen summarisch als Arkader bezeichneten Insurgenten tatsächlich um alle Arkader gehandelt haben mag. Das eher befremdliche Engagement der Nutznießer von Philipps territorialer Neuordnung wird in der Forschung unterschiedlich interpretiert. Besonders Megalopolis und Tegea hatten enorm profitiert und ihr Gebiet zu Lasten der Lakedaimonier beträchtlich vergrößern können. Viel glaubhafter als ein ungeachtet beachtlichen Landgewinns nach wie vor gegen Makedonien gehegter Groll scheint der Umstand, dass das nach dem Tod seines Königs Archidamos 338 empfindlich geschwächte Sparta auf absehbare Zeit keine Bedrohung mehr darstellen konnte. Lapidar resümiert Jehne: „[…] und prompt wurde die makedonische Verbindung nicht mehr als Schutz, sondern als Last angesehen“.71 Dass Nordarkadien sich in diese Insurrektion involvieren ließ, ist sehr wahrscheinlich und entspricht sowohl der traditionellen Haltung dieser Arkader fremder Intervention gegenüber als auch verkehrsgeographischen Gegebenheiten. Besonders die Mitwirkung der ebenfalls weder mit Gebietserweiterungen begabten noch von spartanischer Expansion bedrohten Eleier macht eine prinzipiell antimakedonische Gesinnung Nordarkadiens glaubhaft. Gemessen an dem über Theben verhängten Strafgericht kamen die ebenfalls 65 Siehe dazu ausführlich Jehne 1994, 198 – 200. 66 Jehne 1994, 201 mit Quellen und Literatur. 67 Dein. 1,18 – 21; Arr. anab. 1,10,1; Aischin. 3,240. 68 Dein. 1,18. 69 Dein. 1,20; Diod. 17,8,6. 70 Arr. anab. 1,10,1. 71 Jehne 1994, 205 Anm. 62.

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an der Erhebung beteiligten Peloponnesier ebenso wie Aitoler und Athener glimpflich davon.72 Die wohl „schlimmste Krise“,73 die das System des Korinthischen Bundes vor 323 erschütterte, war der vom Spartanerkönig Agis III. initiierte Aufstand 74 gegen die makedonische Hegemonie in Griechenland.75 Der junge König soll bereits 338 in einem persönlichen Treffen mit Philipp von Makedonien 76 dessen Vorstellung von weitreichenden Gebietsrevisionen eine klare Absage erteilt haben, was zum bereits erwähnten Einmarsch makedonischer Truppen in Lakonien führte.77 Im Jahr 333 begab sich Agis nach Siphnos, um von Autophradates und Pharnabazos Geld, Schiffe und Soldaten für den Kampf gegen Makedonien anzufordern.78 Während der Verhandlungen traf die Nachricht vom Ausgang der Schlacht von Issos ein,79 was dazu führte, dass die Alimentierung deutlich bescheidener ausfiel und man dem Spartaner lediglich 30 Talente und zehn Schiffe zu geben vermochte. Geld und Schiffe wurden zu seinem Bruder Agesilaos gesandt, der mit ihnen nach Kreta übersetzen sollte,80 während sich Agis selbst zu Autophradates nach Halikarnassos begab, wo es ihm gelang, 8.000 Söldner anzuwerben, die bei Issos gekämpft hatten.81 Mit diesen setzte auch er nach Kreta über und bekämpfte erfolgreich promakedonische K ­ räfte.82 Mit derartigen Aktionen schuf er eine sichere Flottenbasis für die Perser und steigerte sein persönliches Ansehen, wodurch weitere Söldner gewonnen werden konnten.83 In einem an den Perserkönig gerichteten Schreiben hielt Alexander seinem Gegner die Finanzierung antimakedonischer Umtriebe mit persischem Geld vor. Die Einschränkung, dass ausschließlich Spartaner dieses anzunehmen bereit waren,84 relativiert sich durch den Umstand, dass dem König nach 72 Ebda., 202 – 206. 73 Jehne 1994, 226. 74 Vgl. Badian 1967; ders. 1994. 75 Vgl. dazu ausführlich Jehne 1994, 226 – 241. 76 Plut. mor. 216B. 77 Pol. 9,28,6; 9,33,8 – 11; Paus. 3,24,6; 5,4,9; Plut. mor. 235B. 78 Arr. anab. 2,13,4. 79 Arr. anab. 2,13,5. 80 Arr. anab. 2,13,6. 81 Diod. 17.48.1; Curt. 4,1,39. 82 Diod. 17,48,2; Curt. 4,1,40. 83 Vgl. Jehne 1994, 226 und die dort angegebene Literatur. 84 Arr. anab. 2,14,6.

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der Schlacht von Issos auch athenische und thebanische Botschafter in die Hände gefallen waren.85 Für die Thebaner, die wegen der verheerenden Lage ihrer Heimat auf die Hilfe des Perserkönigs angewiesen waren, brachte der König Verständnis auf und entließ sie in die Heimat. Der Athener verweilte bis zu seinem Lebensende als geschätzter Gast bei Alexander. Der Spartaner, obwohl Angehöriger einer zu diesem Zeitpunkt ganz offensichtlich feindlichen Macht,86 wurde erst unter angenehmen Haftbedingungen gehalten, dann sogar nach Hause geschickt. Im Frühling oder Frühsommer des Jahres 331 erfuhr Alexander in Tyros von Unruhen auf der Peloponnes und entsandte Amphoteros mit dem Auftrag, jenen Peloponnesiern zu helfen, die ihm treu geblieben waren.87 Phönikern und Kyprern wurde befohlen, weitere 100 Schiffe zur Peloponnes abzukommandieren.88 Präziser überliefert Curtius den Auftrag, der berichtet, das vordring­ liche Ziel sei die Befreiung Kretas und die Bekämpfung der Piraten gewesen.89 Ein an sämtliche Griechen gerichteter Freiheitsappell der Lakedaimonier soll die Kampfhandlungen eröffnet haben.90 Die Chronologie der Ereignisse ist – bedingt durch die widersprüchlichen Angaben der Quellen – umstritten.91 Während Diodor für den Zeitpunkt des Ausbruchs der Revolte einen Zusammenhang mit dem Ausgang der Schlacht von Arbela und dem in Thrakien von Alexander abgefallenen Befehlshaber Memnon konstruiert,92 fehlen derartige Überlegungen in den anderen Quellen. Ebenso uneinheitlich – wenngleich nicht kontrovers – sind auch die Angaben über die an dieser Revolte teilnehmenden Städte und Staaten.93 Durch einen Sieg der Spartaner gegen Korrhagos – einen Strategen Alexanders, der in Pellene den makedonenfreundlichen 85 Arr. anab. 2,15,2. Vgl. Curt. 3,13,15. 86 Arr. anab. 2,15,5: Εὐθυκλέα δὲ Λακεδαιμόνιόν τε ὄντα, πόλεως περιφανῶς ἐχθρᾶς ἐν τῷ τότε, (…). 87 Arr. anab. 3,6,3: (…) Ἀμφοτερὸν πέμπει βοηθεῖν Πελοποννησίων ὅσοι ἔς τε τόν Περσικὸν πόλεμον βέβαιοι ἦσαν καὶ Λακεδαιμονίων οὐ κατήκουον. 88 Ebda. 89 Curt. 4,8,15. Zur Diskrepanz dieser Quellenangaben vgl. Jehne 1994, 229. Siehe dazu Nieto 2002. 90 Diod. 17,62,6; Iust. 12,1,6. 91 Vgl. die Synopse bei Jehne 1994, 227 – 213. Eine Zusammenstellung von in der älteren Literatur vertretenen Datierungsansätzen bietet Bosworth 1975, 27f. 92 Diod. 17,62,1 – 6. Vgl. dazu Jehne 1994, 233 Anm. 246. 93 Siehe Jehne 1994, 231.

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Tyrannen Chairon etabliert hatte – ermutigt, wechselten mehrere Mitglieder des Korinthischen Bundes auf die Seite Spartas.94 Diese Überläufer listet Aischines penibel auf und nennt Elis, Achaia mit Ausnahme von Pellene und Arkadien mit Ausnahme von Megalopolis.95 Einer anderen Stelle lässt sich mit aller gebotenen Vorsicht entnehmen, dass auch die Thessaler und Perrhaiber mit den Aufständischen sympathisiert hatten.96 Weniger präzise sind diesbezügliche Angaben bei Diodor, der die Neutralität der Athener betont 97 und die gegen Makedonien aufbegehrenden Griechen summarisch unter Πελοποννησίων δ᾿ οἱ πλείους καὶ τῶν ἄλλων τινὲς συμφρονήσαντες 98 anführt. Um das belagerte Megalopolis scheint es schlecht bestellt gewesen zu sein. Die Zahl der unter Agis kämpfenden Soldaten belief sich auf 20.000 Fußsoldaten und 2.000 Reiter. Wenn es sich hierbei lediglich um das Aufgebot der Lakedaimonier und ihrer Verbündeten handelte, wie Diodor nahelegt,99 das noch durch 10.000 Söldner verstärkt worden ist,100 war es dem Spartanerkönig gelungen, an die 30.000 Infantristen und 2.000 Reiter vor Megalopolis zu sammeln. Die dramatische Schilderung des Aischines legt nahe, dass die Nachricht vom Fall der zernierten Stadt täglich erwartet wurde, weil Alexander abwesend 101 war und Antipater sein Heer nur langsam sammeln konnte.102 Angaben zu den Streitkräften Antipaters fehlen in der Darstellung des Aischines. Diodor hingegen betont, dass Antipater von den verbündeten Griechen Zuzug erhielt und mit nicht weniger als 40.000 Mann in die Peloponnes einfiel. Der Anteil der makedonischen Kerntruppen an Antipaters Streitmacht wird von keiner 94 Schol. Aischin. 3,165. 95 Aischin. 3,165. Vgl. auch Dein. 1,34; Curt. 6,1,20. 96 Aischin. 3, 167. 97 Zur Rolle Athens in der Agiskrise vgl. Engels 1989, 201 – 209. 98 Diod. 17,62,7. Vgl. Iust. 12,1,6. 99 Diod. 17,62,7. 100 Dein. 1,34. Zu der Stärke der jeweiligen Aufgebote s. Jehne 1994, 234. 101 Deinarch wähnt ihn in Indien (Dein. 1,34), Aischines außerhalb der bekannten Welt (Aischin. 3,165). 102 Aischin. 3,165: Ἀντίπατρος πολὺν χρόνον συνῆγε στρατόπεδον. Dass Aischines zu diesem Zeitpunkt noch von einem ungewissen Ausgang des Unternehmens spricht, dient wohl primär dazu, die unverzeihliche Halbherzigkeit des Demosthenes, der eine einmalige Gelegenheit nicht beim Schopf gepackt hatte, anzuprangern. Dessen ungeachtet mochte die Prognose für den Widerstand gegen die Makedonen tatsächlich günstig gewesen sein.

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Quelle angegeben. Allerdings wird dieser in der modernen Literatur äußerst gering veranschlagt. Berve errechnet, dass Antipater nach der wiederholten Entsendung makedonischer Kontingente nach Asien lediglich 6.000 Mann verblieben sein konnten.103 Auch soll es sich bei diesen um kürzlich ausgehobene und aus diesem Grunde kampfunerfahrene Truppen gehandelt haben.104 Der eben genannten Annahme von etwa 6.000 Makedonen im Heer ­Antipaters zufolge müssten die zur Waffenhilfe verpflichteten griechischen Kontingente an die 35.000 Mann stark gewesen sein. Diese Zahl lässt sich mit dem Bundesaufgebot zur Zeit Philipps in Einklang bringen, das 200.000 Fußsoldaten und 15.000 Reiter betragen haben soll.105 Unter diesen Antipater zur Waffenhilfe verpflichteten Griechen muss man wohl primär Truppen aus Nord- und Mittelgriechenland verstehen, wie sich aus einer Information des Aischines erschließen lässt. Dieser behauptet nämlich, Elis, Achaia und Arkadien hätten sich – mit Ausnahme von Pellene und Megalopolis – geschlossen im Heerlager des Agis befunden. Daraus ergeben sich folgende Konsequenzen: Zum einen kann Antipater seine verbündeten Kontingente keinesfalls aus der Peloponnes bezogen haben, sondern muss diese von Bundesmitgliedern nördlich des Isthmos rekrutiert haben. Zum anderen wirkt sich die geschlossene Frontbildung der Peloponnes auch auf den Anmarschweg der Makedonen nach Megalopolis aus. Falls die makedonische Streitmacht auf dem Seeweg über das verbündete Pellene in die Peloponnes eingefallen war, galt es in jedem Fall, die nordostarkadischen Territorien von Pheneos, Orchomenos (und gegebenenfalls auch von Mantineia und Tegea) zu passieren, um Megalopolis erreichen zu können. Als bequemere, wenngleich wesentlich längere Alternative bietet sich der Landweg über den Isthmos an. Da Philipp bereits 338 auf Akrokorinth eine makedonische Besatzung etabliert hatte, beteiligte sich diese Stadt nicht an dem Aufstand.106 Das traditionell antispartanisch agierende Argos war ebenfalls nicht in diese Insurrektion involviert. Durch diese Konstellation bedingt wären die Soldaten Antipaters erst ab Tegea durch feindliches Gebiet marschiert. 103 Berve 1926, II 48. 104 Vgl. dazu Jehne 1994, 234 mit ausführlicher Literatur. Mit anderen Zahlen operiert ­Noethlichs 1987, 403, wenngleich konzediert wird, dass die Griechen ihrer Verpflichtung zur Heeresfolge nur zögerlich nachgekommen sein dürften. 105 Iust. 9,5,6: Summa auxiliorum CC milia peditum fuere et equitum XV milia. 106 Pol. 38,3,3; Plut. Arat 23. Siehe dazu Jehne 1994, 146 und McQueen 1978, 41.

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Diese Route hat auf den ersten Blick den Vorteil, eine wesentlich kürzere Strecke in feindlichem Territorium bewältigen zu müssen. Allerdings stellt sich die Frage, inwieweit dieser Gesichtspunkt – ein Marsch durch Feindesland – bei Überlegungen zur Streckenwahl ins Gewicht fiel, da ohnehin zu bezweifeln war, dass die einzelnen aufständischen Städte stärkere Truppenkontingente in ihren Heimatterritorien belassen haben konnten, zumal diese dringend vor Megalopolis benötigt wurden. Ein Übersetzen der Truppen mit Schiffen und der Weg über Pellene, wo man vorsorglich den Makedonenfreund Chairon als Tyrannen eingesetzt hatte,107 führte zwar hauptsächlich durch prospartanische arkadische Gebiete, verkürzte den Anmarsch jedoch um mehrere Tage. Das von Aischines betonte langsame Vorrücken Antipaters 108 – vermutlich durch das Sammeln von Bündnern in Nord- und Mittelgriechenland verursacht –109 brachte das belagerte Megalopolis in eine prekäre Lage, was die Wahl einer zeitsparenden Route plausibel erscheinen lässt. Ungeachtet der aufgezeigten Schwierigkeiten, denen sich der Stratege von Europa gegenübersah, gelang es ihm, die Insurgenten vernichtend zu schlagen.110 Die für beide Seiten überlieferten Verlustzahlen sind hoch: Diodor 111 beziffert die gefallenen Rebellen mit 5.300 Mann, während Antipater 3.500 Soldaten eingebüßt haben soll.112 Die völlig unzutreffende verniedlichende Betrachtung dieser Erhebung soll auf Alexander selbst zurückgehen, wenn man Plutarch Glauben schenken will. Um die Bedeutung seiner eigenen Leistung plakativ von der des Antipater abzugrenzen, spricht der König abschätzig von einem in Arkadien ausgetragenen „Mäusekrieg“.113 Dass diese Einschätzung des A ­ gis-Aufstandes 107 Paus. 7,27,7 berichtet, dass Alexander persönlich Chairon eingesetzt haben soll, woraus sich 336 als terminus post quem ergibt. Diese Maßnahme scheint die topographische Bedeutung Pellenes fraglos zu unterstreichen. Dass die Etablierung einer Tyrannis gegen die Koine Eirene verstieß, die Verfassungsänderungen verbot, betont Jehne 1994, 223 – 26. 108 Aischin. 3,165. 109 Noethlichs 1987, 403 merkt an, dass „die Griechen sicher kaum mit Begeisterung gegen Sparta ins Feld gezogen sind“. 110 Diod. 17,63,1 – 4; Curt. 6,1,1 – 16. 111 Diod. 17,63,3. 112 Vgl. dazu Curt. 6,1,16, der 5.300 gefallenen Spartanern nicht mehr als 1.000 Makedonen gegenüberstellt. 113 Plut. Agesilaos 15,4: Ἔοικεν, ὦ ἄνδρες, ὅτε Δαρεῖον ἡμεῖς ἐνικῶμεν ἐνταῦδα, ἐκεῖ τις ἐν Ἀρκαδίᾳ γεγονέναι μυομαχία.

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keineswegs zutreffend ist, legt allein schon die hohe Anzahl von an die 70.000 Kombattanten nahe. Die Datierung vom Ende des Aufstands wird in der Forschung ebenso kontrovers diskutiert wie sein Beginn. Einen terminus ante quem für den Ausgang liefert die Kranzrede, die Aischines im August 330 gehalten hat,114 und in der von einer unmittelbar bevorstehenden Entsendung spartanischer Botschafter nach Asien berichtet wird, woraus sich ergibt, dass die Rädelsführer noch nicht abgeurteilt worden waren. Den Ausführungen des Curtius folgend, soll dieser Krieg bereits vor dem Sieg Alexanders bei Gaugamela, also vor dem Sommer 331, beendet gewesen sein.115 Allerdings berichtet derselbe Autor an anderer Stelle, dass Alexander erst in Baktra Kenntnis vom Aufstand der Lakedaimonier erhalten hätte,116 eine Datierung, die sich auch mit den „Spätdatierern“ in der modernen Forschung keinesfalls in Einklang bringen lässt. Die Residenz des Königsmörders Bessos hatte Alexander nach einer Winterrast im Frühling 329 erreicht, was sich schwerlich mit bereits im August des Vorjahres zur Aburteilung nach Asien bereiten Spartanern verbinden lässt. Auch die an anderer Stelle 117 nachgereichte Erklärung, dass die Lakedaimonier ihre Absichten erst zu offenbaren wagten, nachdem sie erfahren hätten, dass der König mittlerweile bis an die Grenzen Indiens gelangt sei, trägt nicht zur Klärung der zeitlichen Diskrepanz bei. Allein diese Inkonsequenz nehmen zahlreiche Forscher zum Anlass, Curtius als Quelle jedwede Glaubwürdigkeit abzusprechen. Größeres Vertrauen in dieser Frage wird dem Bericht Diodors entgegengebracht, der den Beginn der Erhebung dezidiert mit der Nachricht von Alexanders großem Sieg bei Gaugamela bringt.118 Arrian berichtet, die Nachricht von der Insurrektion der Lakedaimonier soll den König im Frühjahr 331 bei seinem zweiten Aufenthalt in Tyros erreicht haben, von wo er Amphoteros zum Schutz der treu gebliebenen Peloponnesier, die noch nicht zu Sparta übergelaufen waren, abkommandierte und Phöniker und

114 Zur Datierung siehe Wankel 1976, I 25 – 33. 115 Curt. 6,1,21. 116 Curt. 7,4,32: Hic regi stativa habenti nuntiatur ex Graecia Peloponnesiorum Laconumque defectio – nondum enim victi erant, cum proficisceretur tumultus eius principia nuntiaturi (…). 117 Curt. 7,4,39. 118 Diod. 17,62,1 – 6.

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Kyprer anwies, 100 weitere Schiffe zur Peloponnes zu entsenden.119 Als valides Argument gegen die Chronologie der bei Curtius geschilderten Ereignisse und für ein Fortdauern des Krieges bis in den Frühling des Jahres 330 wird die Entsendung des soeben ernannten Statthalters von Syrien, Phoinikien und Kilikien, Menes, ins Treffen geführt, dem Alexander im Dezember 331 in Susa 3.000 Talente Silber überantwortet hatte, damit dieser Antipater mit allem auszustatten vermochte, was jener für den Krieg gegen die Lakedaimonier benötigte.120 Diodor berichtet, dass der König bereits in Babylon (Oktober 331) Menes von Pella und Apollodoros aus Amphipolis zu Provinzgouverneuren ernannt hatte und diesen – ausgestattet mit 1.000 Talenten – auftrug, mit diesem Geld möglichst viele Söldner anzuwerben.121 Während viele Autoren darüber diskutieren, welcher Quelle hier der Vorzug gegeben werden müsse, ob die Entsendung von Babylon oder von Susa aus wahrscheinlicher sei,122 stellt sich vielmehr die Frage, was die beiden Menes aufgetragenen Agenden gemeinsam hätten. Das Überbringen von 3.000 Talenten an den Strategen von Europa, damit dieser das Geld nach seinem Gutdünken für den Krieg gegen die Lakedaimonier verwenden könne, darf jedoch in keiner Weise mit dem Auftrag gleichgesetzt werden, mit 1.000 Talenten möglichst viele Söldner anzuwerben. Zudem wird von Diodor mit keiner Silbe erwähnt, welchem Zweck diese Aushebung von Söldnern dienen sollte. Lediglich die im folgenden Kapitel referierten Zugänge im königlichen Heer, das sich von Babylon aus auf dem Marsch in die Provinz Sittakine befand, macht wahrscheinlich, dass Alexander für die Fortsetzung seines Feldzuges Soldaten benötigte. Ein logischer Zusammenhang wird mit der im folgenden Kapitel beschriebenen Ankunft makedonischer und griechischer Kontingente, die Antipater nach Asien entsandt hatte, hergestellt.123 Die hier explizit unter anderem aufgeführten 4.000 Fußsoldaten und fast 1.000 Reiter aus der Peloponnes zwingen zu dem Schluss, dass der Aufstand des Agis bereits beendet gewesen sein musste, weil es undenkbar wäre, Truppen vom peloponnesischen Kriegsschauplatz abzuziehen. Wenn man zudem ins Kalkül nimmt, dass für den Marsch einer Heeresformation von Makedonien nach Susa 119 Arr. anab. 3,6,3. 120 Arr. anab. 3,16,9. 121 Diod. 17,64,5. 122 Siehe dazu etwa die Zusammenschau bei Jehne 1994, 228. Vgl. dazu auch Borza 1972, 240. 123 Diod. 17,65,1.

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112 Tage veranschlagt werden müssen,124 sollte die Verstärkung Griechenland im Herbst verlassen haben, um im Dezember in Babylon eintreffen zu können. Dieser Umstand begünstigt die von Curtius gebotene Datierung, der den Ausgang der Rebellion auf der Peloponnes vor der Schlacht von Gaugamela fixiert. Will man diese Nachricht nicht gänzlich verwerfen, fände eine Entsendung der griechischen Kontingente zu einem späteren Zeitpunkt kaum mehr Platz, weil Alexander bereits im Mai/Juni 330 die Bundestruppen in Ekbatana entließ und den gesamtgriechischen Rachefeldzug gegen Persien damit offiziell für beendet erklärte.125 In der modernen Forschung dominiert die Annahme, Alexander hätte im Frühjahr 330 bei der Brandschatzung von Persepolis noch keine Kenntnis vom Ausgang der Schlacht von Megalopolis gehabt. Die ersten Siegesnachrichten hätten den König auf dem Weg nach Ekbatana erreicht, wo er dann beruhigt die griechischen Kontingente in die Heimat verabschieden konnte.126 Ob diese Unkenntnis der auf der Peloponnes herrschenden Zustände das Verhalten Alexanders in Persepolis maßgeblich beeinflusst haben mochte, kann in diesem Rahmen nicht diskutiert werden.127 Selbst wenn man annehmen möchte, dass der Konflikt mit den Spartanern noch nicht beigelegt und/oder Alexander über den Ausgang desselben noch nicht informiert war,128 erhebt sich die Frage, wofür Antipater die märchenhafte Summe von 3.000 Talenten zur Kriegsführung hätte verwenden sollen. Da sich in seinem Heer – im Gegensatz zu den von Agis befehligten Truppen –129 keine Söldner befunden haben sollen, sind Ausgaben hierfür wenig wahrscheinlich. Da dieser Krieg nach makedonischem Verständnis eine Bundesexekution gegen abgefallene Mitglieder darstellte, wurde er auch mit von den Mitgliedern selbst finanzierten Kontingenten ausgetragen.130 Eine

124 Badian 1967, 187. Ein Reitertrupp benötigt für die Strecke vergleichsweise nur 30 Tage, wie Borza 1972, 240 Anm. 41 veranschlagt. Vgl. auch die diesbezüglichen Angaben von Bloedow 1995, 34. 125 Arr. anab. 3,19,5. 126 Siehe Badian 1967, 189. Borza 1972, 241. 127 Siehe dazu Loube 1997; Bujis 1983; Nawotka 2003; Sancisi-Weerdenburg 1993; Wirth 1971. 128 Zu Recht beklagt Noethlichs 1987, 405 die permanente Verschränkung zweier E ­ benen, den tatsächlichen Verlauf der Ereignisse und den jeweiligen Informationsstand ­Alexanders darüber. 129 Dein. 1,34: (…) ξένοι μύριοι. 130 Vgl. Jehne 1994, 237f.

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befriedigende Erklärung für den intendierten Einsatz des Geldes steht nach wie vor aus. Wenngleich der Fall von Megalopolis unterschiedlich datiert wird,131 werden die daraus resultierenden Konsequenzen überraschend einstimmig dargestellt. Einen ausführlichen Report liefert Curtius, der erzählt, dass Alexanders Bevollmächtigter die Entscheidungsbefugnis dem Synedrion von Korinth überantwortete.132 Als Erklärung für diese Zurückhaltung bietet der Autor die Furcht Antipaters vor dem Neid des Königs an.133 Diese Begründung wird jedoch als „inkonsistent“ verworfen.134 Wahrscheinlicher ist, dass es sich hierbei weniger um eine ängstliche Kompetenzübertragung als um einen „Akt formaler Korrektheit“ handelt.135 Immerhin hatte auch Alexander die Urteilsfindung über die Thebaner den in seinem Heer befindlichen Bündnern überlassen.136 Während es den Spartanern gestattet wurde, Gesandte nach Asien zu schicken, denen es – abgesehen von den Urhebern des Aufstands – gelang, Verzeihung für ihre Abtrünnigkeit zu erwirken, wurden die Verfehlungen der Kombattanten Elis und Achaia vom Synedrion behandelt. Sie wurden zu direkt an das durch die Belagerung geschädigte Megalopolis zu entrichtenden Reparationszahlungen von 120 Talenten verpflichtet. Das Urteil für die erstaunlicherweise an der Seite Spartas kämpfenden Tegeaten fiel milde aus. Lediglich die Rädelsführer des Aufstands wurden einer nicht präzise angegebenen Bestrafung zugeführt.137 Diodor berichtet, dass das von Antipater mit den Verhandlungen betraute ­Synedrion nach langen Diskussionen befand, sämtliche Entscheidungen A ­ lexander zu überlassen. Antipater nahm 50 Geiseln und die Lakedaimonier schickten Gesandte zum König und baten für ihre irrtümlich begangenen Verfehlungen um Verzeihung.138

131 Siehe die Synopse der Forschungsdiskussion bei Jehne 1994, 230f. Vgl. auch Noethlichs 1987, 395 Anm. 18. 132 Curt. 6,1,19. 133 Damit korrespondiert die bei Plutarch (Agesilaos 15,4) überlieferte Diskriminierung des Agis-Aufstandes als „Mäusekrieg“. 134 Jehne 1994, 238. 135 Jehne 1994, 239. 136 Diod. 17,14,1. Vgl. Arr. anab. 1,9,9 und Iust. 11,3,8. 137 Curt. 6,1,20. Vgl. dazu McQueen 1978, 52f., der den nachsichtigen Umgang mit den Tegeaten einerseits auf deren mindere Schuld zurückführt und andererseits darin eine Maßnahme zur Förderung des Arkadischen Bundes sehen möchte. 138 Diod. 17,73,5.

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Keine Version berichtet von Strafmaßnahmen gegen die übrigen arkadischen Städte. Das Fehlen derartiger Verfügungen Mantineia betreffend hat zur Vermutung Anlass gegeben, diese Stadt sei bereits vor der Entscheidungsschlacht von Sparta abgefallen.139 Dieser Überlegung fehlt jedoch jeglicher Rückhalt in den Quellen. Der de facto seit 363/2 existierenden Teilung Arkadiens in zwei Blöcke wurde auch hinsichtlich der Friedensbestimmungen Rechnung getragen. Die unerwartete und in der Geschichte singuläre Abkehr Tegeas von seinem traditionellen antispartanischen Kurs mochte seine freundliche Behandlung rechtfertigen. Wie verhielt es sich jedoch mit dem ebenso traditionell prospartanischen und damit antimakedonischen Norden Arkadiens? Sollte Mantineia tatsächlich die spartanische Allianz bereits vor der Schlacht um Megalopolis verlassen haben und aus diesem Grund nicht bestraft worden sein? Wäre nicht auch eine andere Variante vorstellbar, die den Vorzug hätte, mehrere disparate Quellenaussagen harmonisch zu verbinden? Versuchen wir eine Rekonstruktion der Ereignisse in groben Zügen: Ein von Agis III. angezettelter Aufstand gegen die makedonische Hegemonie in Griechenland eint – von wenigen Ausnahmen abgesehen – die gesamte Peloponnes. Dieser Verstoß gegen die Bestimmungen der Koine Eirene ruft Antipater auf den Plan, der die ihm zur Waffenhilfe verpflichteten Griechen in Nord- und Mittelgriechenland sammelt und danach trachtet, möglichst schnell das belagerte Megalopolis zu erreichen. Die unbequeme, aber zeitsparende Route durch die Berge Nordarkadiens lässt sich im Winter allerdings kaum bewältigen. Einen solchen Marsch – durchgeführt zu einer für die Kriegsführung völlig ungeeigneten Jahreszeit – hätten die Quellen vermutlich wegen seiner Obskurität erwähnt.140 Sollte der Aufstand jedoch bereits vor Gaugamela beendet worden sein – wie Curtius nahelegt –, könnte der Anmarsch nach Megalopolis unter weniger widrigen Witterungsbedingungen durchgeführt worden sein. Ausschließlich unter der Annahme einer zum Zeitpunkt der Entsendung der Truppen nach Asien befriedeten Peloponnes macht die von Diodor überlieferte Bemerkung von 4.000 Fußsoldaten und fast 1.000 Reitern aus der Peloponnes Sinn, die – gemeinsam mit anderen griechischen Verbänden – beim Auszug 139 Vgl. dazu Badian 1967, 181 Anm. 4; Cartledge – Spawforth 1989, 24. 140 Vgl. etwa den Gewaltmarsch, den Philipp V. im Winter 219/18 nach Stymphalos unternahm. Pol. 4,67,6 leitet seinen Bericht mit der Bemerkung ein: Τοῦ δὲ χειμῶνος ἔτι προβαινοντος, καὶ πάντων ἀπηλπικότων τὴν παρουσίαν τοῦ Φιλίππου διὰ τὸν καιρόν (…).

Die Mauern von Pheneos und der Mäusekrieg

von Babylon die Armee Alexanders verstärkt haben sollen. Diese Kontingente der Mitglieder des Korinthischen Bundes konnten wiederum nicht viel später aufgebrochen sein, wenn man ins Kalkül nimmt, dass Alexander die Bundestruppen bereits im Mai/Juni 330 von Ekbatana aus in die Heimat entsandte. Ein überzeugendes Argument für einen noch nicht beendeten Krieg auf der Peloponnes ist der von Arrian überlieferte Auftrag an Menes, Antipater die beträchtliche Summe von 3.000 Talenten zukommen zu lassen, damit dieser den Betrag nach seinem Gutdünken für die Erfordernisse des Krieges benutzen möge. Dieser nicht einfach zu bewerkstelligende Geldtransfer wäre andernfalls überflüssig. Wie bereits angesprochen, wurde über die sinnvolle Verwendung des von den in Susa erbeuteten 50.000 Talenten abgezweigten Betrags viel spekuliert. Eine mögliche Erklärung für die effiziente Nutzung persischen Silbers auch noch nach einer siegreichen Schlacht lässt sich mit der auffälligen Aussparung nordarkadischer Städte bei den nach Megalopolis eingeleiteten Strafmaßnahmen verbinden. Will man nicht vermuten, M ­ antineia sei so rechtzeitig aus der antimakedonischen Allianz ausgeschert und auf diese Weise der Bestrafung entgangen, bleibt die Frage offen, ob auch Nordarkadien für seine Beteiligung an dieser antimakedonischen Erhebung zur Rechenschaft gezogen worden sein könnte. Eine plausible Disziplinierung für den renitenten Norden könnte die Etablierung von Garnisonen an strategisch bedeutsamen Plätzen gewesen sein. Diese Vorgehensweise – ebenfalls kombiniert mit milden Friedens­bedingungen – hatte bereits Philipp gewählt, um die militärische Präsenz Makedoniens nachdrücklich ins Gedächtnis zu rufen und auf diese Weise die Einmarschroute nach Griechenland dauerhaft zu sichern.141 Solche Garnisonen können in sinnvoller Weise nur in befestigten Stellungen stationiert werden. Waren solche – wie etwa im Fall von Mantineia – bereits vorhanden, mussten diese lediglich ausgebessert bzw. erneuert werden. Fehlten an einem Ort fortifikatorische Anlagen zur Gänze, musste Antipater wohl für deren Errichtung Sorge tragen. Die Kostspieligkeit eines derartigen Unterfangens könnte eine plausible Erklärung für den Verwendungszweck der 3.000 Talente bieten. So könnte Pheneos, dessen verkehrstechnische Bedeutung bereits ausführlich erörtert worden ist, zu seinen Mauern gekommen sein. Das aus Persien gebrachte Geld wurde in eine nachhaltige Befriedung der Peloponnes investiert und eine Einigung Arkadiens von Makedonien oktroyiert und finanziert.

141 Siehe Jehne 1994, 150.

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„Korinthischen Stammes sind wir wie Bellerophontes“ – Syrakusaner/innen fern der Heimat Die frühhellenistische Literatur kennt zwei Syrakusanerinnen, Praxinoa und Gorgo, die in Alexandreia leben und sehr stolz auf ihre Herkunft sind. Jedenfalls lässt Theokrit in seinem XV. Idyllion über „Die Frauen beim Adonis-Fest“ eine der beiden Freundinnen zu einem Mann im Gedränge auf der Straße sagen: „Nimm eines zur Kenntnis: Korinthischen Stammes sind wir wie Bellerophontes! Wir reden auf Peloponnesisch! Dorisch zu sprechen dürfte wohl noch den Dorern erlaubt sein!“ (vv. 91 – 93) Der so Angesprochene hatte sich über das „endlose Schwatzen“ und das „breite Geschwafel“ „der Weiber“ mokiert, worauf ihm die eine entgegenhält (vv.  89 – 91): „Ha, woher kommt der denn? Was kümmert dich unser Gerede? Dort, wo du herrschst, befiehl! Willst Weisungen geben den Frauen aus Syrakus? Nimm eines zur Kenntnis (… usw.).“ Man könnte sich fragen, ob der hellenistische Dichter hier auf ein EuripidesZitat (aus der Medea) anspielt, das bei Plutarch in der Timoleon-Vita herangezogen wird (32),1 nämlich in einer Szene, bei der ein Leontiner mit dem Ausspruch „Korinthisch Weibervolk sein Haus verließ“ die gegen seine Stadt 1 Plut. Timoleon 32, 2 – 3: „Aber auch Euthymos, obwohl er ein tapferer Kämpfer […] war, fand kein Erbarmen wegen einer Schmähung gegen die Korinther, die man ihm vorwarf. Es hieß nämlich, er habe in der Volksversammlung vor den Leontinern, als die Korinther gegen sie ausgezogen waren, gesagt, es sei doch nichts Schlimmes passiert, wenn „korinthisch Weibervolk sein Haus verließ“. Zu diesem Vers wird in den Kommentaren, z. B. in der Ausgabe von K. Ziegler, der auch das Zitat entnommen ist, auf Euripides’ Medea v. 214 verwiesen, wo es homophon heißt „Κορίνθιαι γυναῖκες ἐξῆλθον δόμων“ („korinthische Frauen, ich verließ das Haus“).

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heranziehenden Korinther unter Timoleons Führung geschmäht haben soll; Leontinoi war bekanntlich als apoikia des von Euboiern gegründeten Naxos eine ionische Siedlung. Ich möchte zumindest nicht ausschließen, dass es Theokrit auf eine entsprechende Assoziation angelegt hatte. Die XV . Idylle stammt aller Wahrscheinlichkeit nach aus den mittleren 270er Jahren;2 der wohl aus Kos gebürtige Autor lebte damals in der zu dieser Zeit noch jungen Residenzstadt der Ptolemaier 3 und hat vermutlich authentisch Erlebtes literarisch verarbeitet. Er lässt die Frauen in dorischem Dialekt reden, d. h. er verwendet hier nicht die attische Literatursprache, sondern einen ‚authentischen O-Ton‘, den er selbst beherrscht haben dürfte.4 Im Rahmen einer Fragestellung, die auf die Identität fokussiert, soll im Folgenden ausgelotet werden, inwieweit die ‚Identität‘ der beiden Syrakusanerinnen als eine echte gleichsam protokolliert ist oder als eine fiktive interpretiert werden müsste. Aus dem Gedicht erfahren wir nicht, wie alt die beiden Frauen waren und seit wann sie sich in Alexandreia aufhielten, d. h. ob sie dort geboren oder dorthin ausgewandert waren. Praxinoa, Gattin des Dinon, hatte nach den aus dem Text zu gewinnenden Informationen einen kleinen Sohn namens Zopyrion; dieser wurde indessen als noch kleiner Knabe aus Sicherheitsgründen nicht zu dem event ins Stadtzentrum mitgenommen. Vermutlich hat Theokrit hier an eine junge Mutter im Alter von maximal 22 Jahre gedacht; für ihre Freundin Gorgo, die mit ihrem Gatten Diokleides offenbar noch keine Kinder hatte, dürfte das gleiche Alter angenommen werden. Wären beide Frauen gemeinsam mit ihren Ehemännern nach Alexandreia ausgewandert, so wären sie zum Zeitpunkt, in dem Theokrit sie agieren lässt, erst seit wenigen Jahren dort ansässig; dies würde einer Zuwanderung unter Ptolemaios II. entsprechen. Ebenso gut können aber beide Frauen bereits in Alexandreia geboren sein, nämlich in Familien, die möglicherweise sogar ihr syrakusanisches Bürgerrecht beibehalten hatten. In diesem Fall könnten die jeweiligen Eltern bereits zu Beginn des 3. Jh. in die ptolemaiische Residenzstadt

2 Zur Datierungsdiskussion vgl. Gow 1952, I, 307; Meincke 1965, 85 f. 3 Dazu vgl. Blasius 2011, 136f. 4 Clarysse 1998 sucht aufzuzeigen, dass der dorische Dialekt in Alexandreia die gehobene Hofsprache war; vgl. auch Blasius 2011, 137.

Syrakusaner/innen fern der Heimat

gekommen sein. Der für das ‚Idyllion‘ wichtige ‚plot‘, dass die beiden Freundinnen Praxinoa und Gorgo weit entfernt voneinander lebten, obwohl sie sich offenbar von Kindesbeinen an gekannt hatten, schließt keine Variante aus. Somit wissen wir also nicht, ob die beiden Ehemänner, Dinon und Diokleides, ebenfalls Syrakusaner waren, doch wäre es am ehesten anzunehmen. Wo Personen sich ihrer Abstammung so ganz sicher geben, möchte man zunächst erwarten, dass sie auch Träger charakteristischer Namen sind; diese Prämisse führt zu onomastischen Überlegungen, wenngleich grundsätzlich zu bedenken ist, dass auch Theokrit um ein derartiges Stereotyp wusste und dementsprechend für die beiden Frauen syrakusanisch-korinthische Namen gewählt hat. Andererseits kann es sich ebenso gut um authentische Personen ohne ‚typische‘ Namen gehandelt haben, was aber dem Dichter belanglos erschienen sein könnte, da es ihm auf den Heimatstolz der Freundinnen angekommen wäre. Ein Blick in die bisherigen Bände des Lexicon of Greek Personal Names ergibt Folgendes, zunächst für die Namen der beiden Frauen, Praxinoa und Gorgo: Praxinoa ist überhaupt nur dieses eine Mal belegt; die ionische Variante ­Praxinoe ist einmal im ägäischen Bereich und einmal im 2. Jh. in Milet bezeugt. Es gibt in der griechischen Onomastik 65 Namen, die mit dem Element Praxigebildet sind bzw. damit anlauten; von diesen sind 14 Frauennamen, Praxinoa und Praxinoe schon mitgerechnet (ca. 22 %). Von diesen sind mehr als einmal belegt: Praxó (elfmal, keinmal in III.A), Praxagora (achtmal, davon einmal in III.A), Praxilla (sechsmal, davon einmal in III.A) und Praxío (viermal, einmal in III.A). Von den insgesamt 37 Nennungen dieser Namen sind in LGPN III.A nur fünf, nämlich je einmal Praxagora, Praxilla und Praxió; die restlichen zwei finden sich dort ausschließlich, nämlich Praxinika und Praxitima. Interessant sind auch die Männernamen; die häufigsten neun sind: Praxias (69 Belege), Praxion (34 Belege), Praxon und Praxiteles (je 31 Belege), P ­ raxidamas/ Praxidamos (zusammen 22 Belege), Praxagoras und Praximenes (je 20 Belege), Praxis und Praxikles (15 bzw. 14 Belege). Von diesen Namensträgern sind fünf auch in LGPN III.A genannt: Praxagoras, Praximenes, Praxiteles und Praxion sowie prozentual am häufigsten Praxidamas/Praxidamos (von 22 Einträgen). Gerechnet auf alle Praxi-Namen ist der Anteil der in LGPN III.A genannten 7,5 %; gerechnet auf die Namen, die auch dort vorkommen, knapp 16 %. Unter den eher selteneren Namen finden sich vier, die auch im peloponnesisch-nordwest-westgriechischen Raum bezeugt sind, nämlich Praxandros, Praxikrates, Praxilas und Praxinos, sowie fünf, die nur dort belegt sind: Praxibios, Praximos,

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Praxinoos , Praxitas und Praxonidas. Zählt man, wie häufig Praxi-Namen in welcher Region belegt sind – notabene im gesamten Zeitraum vom 7.-1. Jh. v. Chr. –, so landet die Ägäis die meisten Treffer (173), Mittelgriechenland (LGPN III.B) die zweitmeisten (98) und Athen (LGPN II) die drittmeisten (84). Deutlich weniger Treffer (39) finden sich in LGPN III.A, noch weniger sind es mit 28 nur in Ionien (GGPN V.A) einschließlich Milet.5 In Prozenten: LGPN I liefert 41 % der Praxi-Namen, LGPN III.A nur 9 %. Aus diesem Befund möchte ich schließen, dass Praxinoa bzw. Praxinoe kein typisch peloponnesischer Name, erst recht kein typisch syrakusanischer war. Der Name Gorgo hat einen typisch dorischen Klang; erinnert sei nur an die Tochter des Spartanerkönigs Kleomenes, die nach Herodot ihren Vater vor dem Milesiser Aristagoras gewarnt hatte, als dieser dessen Militärhilfe für den Ionischen Aufstand zu gewinnen suchte.6 Für den Namen bzw. Namensbestandteil Gorg- ist zunächst festzustellen, dass es 52 Namensvarianten gibt, darunter 14 Frauennamen (27 %). Insgesamt sind 441 Personen mit solchen Gorgi-/Gorgo-Namen dokumentiert, davon im Ägäis-Raum 28 %, im Peloponnesisch-nordwestgriechischen Raum 28,5 %; in Athen sind es 16,5 %, in Mittelgriechenland 18 %, in Ionien mit Milet nur 9 %. Man sieht hier zunächst, dass die Verbreitung dieser Namen ausgeglichener ist als die der Praxi-Namen; am häufigsten ist Gorgias mit insgesamt 99 Einträgen; man denkt sogleich an den Sophisten aus Leontinoi, doch die meisten kommen in LGPN Bd. I (Athen: 28) und III .B (Mittelgriechenland: 23) vor, dicht gefolgt dann allerdings von III.A (Peloponnes, Westgriechenland, Sizilien und Magna Graecia: 21). Der Frauenname Gorgó ist, von der Figur bei Theokrit abgesehen, sechsmal in LGPN III.A angeführt, genauso oft freilich in Athen, und fünfmal im ägäischen Raum; von allen mit diesem Namen (in der hier betrachteten Zeit) bezeugten Frauen sind also nicht ganz 35 % gleichsam im ‚peloponnesischen Kontext‘ anzusiedeln.

5 Die in Milet bezeugten Namen entnehme ich der von W. Günther (München) derzeit zum Druck vorbereiteten milesischen Prosopographie; ihm sei auch an dieser Stelle sehr herzlich dafür gedankt, dass er mir stets die Benutzung und Auswertung seines Materials ermöglicht. Auch LGPN V.B. (2013) weist für Milet keine weiteren Namen auf. 6 Hdt. 5,51,2; Gorgó war später die Gattin des Königs Leonidas (Hdt. 8,239,4).

Syrakusaner/innen fern der Heimat

Die gleiche Prozedur lässt sich auch die für die von Theokrit in der XV. Idylle verwendeten Männernamen Dinon, Diokleides und Zopyrion durchführen; nach meinen entsprechenden Überprüfungen ist das Ergebnis das gleiche wie für die Frauennamen Praxinoa und Gorgó, insofern auch von diesen Namen keiner beanspruchen kann, im peloponnesischen Kontext besonders häufig oder gar spezifisch vorzukommen. Eine weitere onomastische Materialgruppe für die Frage nach einer syrakusanischen Identität bietet eine dreiköpfige Familie aus Syrakus, die in den milesischen Neubürgerlisten bezeugt ist:7 Aribazos erhielt um 200 v. Chr. das milesische Bürgerrecht gemeinsam mit seiner Gattin Philista und seinem noch unmündigen Sohn Metrophanes, der den Namen seines Großvaters mütterlicherseits trug. Der Name des Oikosvorstandes klingt zunächst recht wenig syrakusanisch; Aribazos lässt auf einen persischen Hintergrund schließen; vergleichbar sind Namen wie Artabazos, Tiribazos, Pharnabazos.8 Ein Hyrkanier mit diesem Namen ist am Hofe des Dareios I. bezeugt,9 für die hellenistische Zeit berichtet Polybios von einem seleukidischen Funktionär namens Aribazos, nämlich dem Stadtkommandanten in Sardeis unter Achaios 216/14 v. Chr.;10 schon eine Generation zuvor begegnete im kleinasiatischen Kilikien ein Stratege Antiochos’ II. mit demselben persischen Namen und wohl iranischer Herkunft, der im sog. Laodikekrieg (246 – 241) Seleukos II. unterstützte und dabei sein Leben verlor.11 In der Forschung ist diskutiert worden, ob es sich bei diesen beiden Männern, die möglicherweise Vater und Sohn oder zumindest Angehörige derselben Familie waren, um im Iran beheimatete Funktionsträger der Seleukidenkönige Antiochos II., Seleukos II. sowie Achaios gehandelt hat, oder um Personen, die längst in der sog. iranischen Diaspora, in Kleinasien und der Levante lebten.12 Die folgenden Überlegungen stützen die letztgenannte Perspektive.

7 Milet I 3, 79,9. 8 Dass es bereits im 3. Jh. ‚orientalische’ Namen in der griechischen Staatenwelt gegeben hat, dokumentiert beispielsweise ein gewisser – als Gymnasiarch in Samos um 200 v. Chr. geehrter – Ariarathes, der denselben kappadokischen Namen trug wie sein Vater und von einem Mann namens Prepon adoptiert worden war (IG XII 680,32). 9 Ailian. Varia historia 6,14. 10 Pol.  7,17 – 18; 8,21,9. 11 Vgl. FgrHist 160; Holleaux 1942, 281 – 297; Funck 1996, 202 – 204. 12 Vgl. Sekunda 1991, 115, mit einer auf die iranische Heimat abhebenden Ansicht; ­Schmitt 1964, 100, mit der Neigung zur Verwurzelung in den westlichen Regionen des

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Der einzige Aribazos, den das Lexicon of Greek Personal Names kennt, war ein als technites dokumentierter Athener um die Mitte des 2. Jh. v. Chr., ein Mann mit dem Demotikon Piraieus und mit dem Patronymikon Seleukos.13 Bei ihm darf man vermuten, dass es sich um einen mit dem Bürgerrecht versehenen Metöken aus dem syrischen Raum gehandelt hat. Etwa um dieselbe Zeit macht die Gruppe der ‚Levantiner‘ unter den Metöken auf Rhodos die größte Gruppe aus, jedenfalls nach Aussage des einschlägigen epigraphischen Materials.14 Der Vater des in Milet eingebürgerten Syrakusaners Aribazos trug den Namen Andreas, der allgemein hellenistisch ist und etwa in Milet bereits um 300 sowie je einmal im 2. und 1. Jh. v. Chr. begegnet.15 Der Name des Knaben Metrophanes ist ebenfalls allgemein griechisch und lässt keinen spezifischen Bezug zu Syrakus erkennen: So trug ihn etwa Apollodoros Metrophanous, der milesische Stephanephor des Jahres 212/1, in seinem Patronym; nach dem Vorschlag von Ph. Gauthier wäre der letztgenannte zu identifizieren mit einem gleichnamigen Neubürger aus Magnesia am Mäander, den eine Neubürgerliste aus der Zeit um 220 v. Chr. nennt.16 Der Frauenname Philista begegnet in Milet selbst kein weiteres Mal; lediglich in Athen ist – in ihrer Grabinschrift aus dem 3. Jh. v. Chr. – eine Namensträgerin bezeugt, Tochter eines Mannes mit dem ‚Allerweltsnamen‘ Diodoros.17 Milesier lebten und starben beispielsweise in Athen – notabene, ohne das Bürgerrecht dort erhalten zu haben.18 Im gleichen Zeitraum wurden in Milet Leute aus Magnesia am Mäander, aus vielen anderen ionischen und karischen Städten und Städtchen nicht nur ansässig, sondern sogar Bürger, darunter auch die aus dem fernen Syrakus stammende Familie des Aribazos. Achaimeniden- bzw. Seleukidenreiches. 13 Vgl. Stephanis 1988, Nr. 300. 14 Als Beispiel sei hier auf die rhodische Epidosis-Liste aus der Zeit um 100 v. Chr. verwiesen, die Migeotte 1993 behandelt hat. 15 Milet I 3, 79,8; Andreas hieß ein Bürge der von Milet bei den Knidiern ­aufgenommenen Staatsanleihe im Jahr 282 (Milet I 3, 138 II 59); noch ins 2. Jh. gehört ein Andreas in einer Namensliste aus Didyma mit vermutlich Boegien-Siegern (IvDidyma 581, 8), dagegen ein weitere eher ins späte 1. Jh. in einer wohl noch hellenistischen Namensliste aus Milet selbst (Milet VI 2, 810 b 3). 16 Milet VI 3, 1060 II 3; zum Stephanephoren, der auch in einer Ehrung in Myus dokumentiert ist: Milet I 3, 124, 27; 46, 1; VI 3, 1029, 2. 7. – Vgl. Ph. Gauthier, BE 1989, 255. 17 Athenian Agora XVII 613. 18 Vgl. dazu Osborne – Byrne 1996; Niku 2007.

Syrakusaner/innen fern der Heimat

Man kann nun bezweifeln, dass diese Syrakusaner frisch aus Sizilien ‚eingereist‘ waren, um sich in Milet ‚naturalisieren‘ zu lassen. Denkbar ist etwa, dass sie schon längere Zeit in Milet als ‚ansässige Fremde‘, vulgo Metöken, dort gelebt hatten; ebenso ist auch denkbar, dass sie oder die jeweiligen Eltern zuvor die einstige Heimatstadt verlassen hatten, ja sogar, dass schon die Vorfahren in mehr als nur einer ‚neuen Heimat‘ gelebt hatten, bevor sie in Milet zugezogen waren. Das Bild einer großen Hafenstadt wie Athen und Milet fügt sich nach unserer heutigen Vorstellung durchaus problemlos in das Bild von einem Hin und Her der mobilen hellenistischen Gesellschaft. Indessen stellen sich doch so einige Fragen, die vielleicht weiterführen können und auch wieder zu den beiden Syrakusanerinnen Theokrits zurückführen sollen. Wie mag es sich wohl verhalten haben mit Menschen, die in der Fremde lebten, dort sogar – möglicherweise bereits in der 2. oder 3. Generation – geboren waren, aber kaum Aussichten darauf – und vielleicht nicht einmal Interesse daran – hatten, in die Polis zurückzukehren, deren Ethnikon sie trugen? Wie stand es um die Identität etwa solcher ‚Migranten‘, beispielsweise von ­Milesiern in Athen, Syrakusanern in Milet? Gaben solche Eltern ihren Kindern ‚heimatliche‘ Namen oder doch eher Namen, wie sie im Gastland geläufig waren? Man kann etwa anhand des umfangreichen onomastischen Materials von Milesisern in Athen die Frage stellen, ob es sich bei diesen Metöken nicht um Personen einer bestimmten sozialen Schicht gehandelt haben könnte, in der weniger Wert auf traditionelle Namen gelegt wurde als in den sog. Honoratiorenfamilien. Nahmen also, anders formuliert, Metökenfamilien leichter als ‚Einheimische‘ neue Namen an? Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen erscheint es plausibel, dass der Neubürger Aribazos, dessen Großvater vermutlich bereits um 280 die syrakusanische Heimat verlassen hatte, als demnach Migrantenkind der zweiten Generation seinen Namen ohne jegliche Rücksicht auf syrakusanische Traditionen erhalten hat. Ungeachtet der Unmöglichkeit einer Antwort mag diese Frage doch dazu anregen, einer vermeintlichen Traditionsbindung der Namensgebung skeptisch zu begegnen. Was wäre im Fall der syrakusanischen Onomastik denn auch überhaupt gemeint mit einem ‚typischen‘ Namen etwa bei Leuten, die sich auf ihre korinthische Provenienz beriefen? Syrakus selber war unzweifelhaft eine ‚Einwanderungsstadt‘ par excellence, jedenfalls wenn wir den historiographischen Quellen glauben dürfen: Immer

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wieder erzwangen die ‚Tyrannen‘ die Einbürgerungen Fremder – zumeist Söldner –, immer neue Flüchtlingswellen verließen die Stadt und überhaupt Sizilien. So legte schon Thukydides seinem Alkibiades die Behauptung in den Mund, die Sikelioten seien leicht zu besiegen, weil es sich bei ihnen nur um ‚gemischtes Volk‘ handele, das zu keiner gemeinsamen Tat, mithin zu keiner ‚vaterländischen‘ Loyalität fähig wäre.19 Die Schlussfolgerungen, die man in Athen um 415 aus dem wohl zutreffenden Befund zog, waren freilich unrichtig; an den ochloi symmeiktoi änderten im 4. Jh. v. Chr. weder die Siedlungspolitik der neuen von Dionysios I. gegründeten Tyrannendynastie noch die Restrukturierungsmaßnahmen Timoleons um 340 etwas. Die Korinther waren bestrebt, die einstige Tochtergründung Syrakus durch umfangreiche Repatriierungsmaßnahmen wieder in eine ‚blühende Landschaft‘ zu verwandeln: So wurden den einstigen phygades aus Syrakus bzw. dem griechischen Sizilien Schiffe und Überfahrt kostenlos zur Verfügung gestellt und Landverteilungen versprochen in einem Aufruf der Korinther, der gerade auch in den ägäischen Raum und nach Kleinasien ergangen sein soll, weil dort viele ehemalige Sikelioten lebten.20 Dennoch fanden sich enttäuschenderweise viel zu wenige bereit, dieses Angebot anzunehmen – die Ex-Syrakusaner waren demnach an einer Rückkehr in die alte Heimat offenbar nicht besonders interessiert! Hier dürfen wir uns durchaus vorstellen, dass nicht alle, vielleicht sogar nur relativ wenige von ihnen inzwischen das Bürgerrecht der jeweiligen Gastpolis erhalten hatten, sich aber dennoch lieber dort aufhielten und als ‚ansässige Fremde‘ lebten, als dass sie sich für die Rückkehr anwerben ließen. Auch wenn solche Leute die Heimat ihrer Eltern nur vom Hörensagen kannten, waren sie doch selbstverständlich nach wie vor Syrakusaner. So mussten die Korinther, die ihre einstige Kolonie gleichsam neu gründen wollten, um 340 auf andere Siedler bzw. Umsiedlungswillige zurückgreifen, die man in Hellas selber sowie in Unteritalien fand. Ob es dabei auch viele Korinther nach Westen zog, oder ob sich ein Großteil der Neusiedler aus anderen korinthischen Kolonien einfand, sagen unsere literarischen Quellen zwar nicht; es wird aber immer wieder vermutet aufgrund der numismatischen Evidenz. 19 Thuk. 6,17,2 – 4: „[…] Denn es ist ein Gemisch von hergelaufenem Volke, welches den Menschenreichtum ihrer Städte bildet, und mit Leichtigkeit wechseln diese ihre Bürger und nehmen andere auf […] Es ist nicht damit zu rechnen, daß solch eine Masse einem gemeinsamen Entschluß Gehör gibt noch einer gemeinsamen Tat fähig ist […].“ 20 Diod. 16,82,3; Plut. Timoleon 23. – Vgl. dazu Westlake 1942; Smarczyk 2003; Günther 2012.

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Ein Argument ist dabei, dass die korinthischen Kolonien – Ambrakia, Anaktorion, das amphilochische Argos, Leukas, Thyrreion – auf ihren Stateren das stereotype Bildprogramm der Metropolis übernahmen, nämlich auf der Vorderseite den Pegasos, auf der Rückseite den behelmten Athenakopf; auch die Syrakusaner haben unter Timoleon diese ‚korinthische‘ Ikonographie verwendet.21 Der Pegasos als Rückseitenbild begegnet unter Timoleon ebenfalls auf Goldmünzen sowie auf Bronzemissionen sowie im letztgenannten Metall auch weiterhin nach dem Tod des Timoleon und unter Agathokles.22

21 Vgl. dazu Calciati 1990, I, der S. 185 – 278 die Abbildungen der Prägetypen der ­Periode V und VI, aus der Zeit der reformierten Münzprägung Korinths bietet, die in der Forschung allgemein mit dem Timoleon-Unternehmen in direkte Beziehung gesetzt wird (vgl. l. c. S. 179 – 181); Bd. II bietet einen Katalog der Pegasi, die nicht in Korinth und nicht mit korinthischer Legende geprägt worden sind, darunter auch die Emissionen sizilischer Münzstätten wie Syrakus (l. c. 607 – 610 für die Zeit von 340 bis 317 v. Chr., 610 – 614 für die Zeit von 317 bis 310 v. Chr., 614 – 617 für die Zeit von 304 bis 289 v. Chr.) und Leontinoi (l. c. 619 – 621), wo nur im kurzen Zeitraum von 339 bis 337 diese Pegasi geprägt wurden. Historische Fragen berührt Calciati nicht, sondern gibt nur sehr kurze Abrisse der Ereignisgeschichte (vgl. 605 zur Timoleon-Zeit). – Talbert 1974, 161 – 178, diskutiert die Evidenz für korinthisches Silbergeld in Sizilien im Zeitraum vom Karthagerfeldzug Timoleons bis zum Tod des Agathokles, ca. 340 – 289 v. Chr., wobei er sich zum einen auf die Auswertung von Hortfunden und die zu beobachtenden Veränderungen der Emissionen der korinthischen Präge­ stätte bezieht, zum anderen zu der These gelangt, dass Korinth die Münzprägung der von Timoleon befreiten Insel dominierte und den Warenaustausch mit Sizilien kon­ trollierte; zu diesem Zweck hätten die Korinther alle Handelspartner gezwungen, ihr jeweiliges Münzgeld in korinthische Währung umzutauschen (l. c. S. 165 f.). Zudem erklärt sich seiner Ansicht nach die plötzlich massiv ansteigende Quantität des Münzausstoßes durch die Karthagerbeute sowie die anschließenden Reparationszahlungen (l. c. S. 163 f.). Eine numismatische Studie der korinthischen Geld- und Wirtschaftspolitik im 4. Jh. v. Chr. ist m. E. ein Desiderat. 22 Für 30-Litren-Stücke (Gold) vgl. The New York Sale Auction XXVII (Januar 2012) Nr. 1006; Gorny & Mosch Auktion 204 (März 2012) Nr. 1169. – Zu den Bronzen unter Timoleon und danach vgl. Gorny & Mosch Auktion 196 (März 2011) Nr. 1239 (mit einem Apollonkopf auf der Vorderseite) und Nr. 1240 (mit einem Aphroditekopf nach dem Vorbild korinthischer Drachmen und Hemidrachmen auf der Vorderseite). – Zu den auch noch unter Agathokles geprägten Didrachmen bzw. Stateren (Silber) mit behelmten Athenakopf / Pegasos vgl. Gorny & Mosch Auktion 204 (März 2012) Nr. 1176, zu entsprechenden Bronzemünzen mit identischer Ikonographie vgl. ibid. Nr. 1177.

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Es mag an Bellerophon, den korinthischen Helden, gedacht haben, wer eine solche syrakusanisch-korinthische Münze betrachtete.23

Abb 1  Syrakus, Timoleon, 344 – 336 v. Chr., Stater nach korinthischem Standard Vs.: Pegasos n. l. fliegend Rs.: Kopf der Athena mit korinthischem Helm n. r. – ΣΥPAKOΣIΩON

Wenn die Hypothese einer starken Beteiligung gerade von Siedlern aus korinthischen Kolonien an dem syrakusanischen ‚Revival‘ um 340 zutrifft, so lässt sich zudem vermuten, dass die Tausende Migranten in der ‚neuen Heimat‘ sehr schnell ‚akkulturiert‘ werden konnten, weil ein gemeinsames Element ihrer bisherigen und neuen Identität die Abstammung aus Korinth war. Von daher ist es denkbar, dass sich auch unter den Nachfahren jener ‚Umsiedler‘ sehr viele als ‚Syrakusaner aus Korinth‘ gefühlt haben. In diesem Sinne könnte es also unerheblich sein, ob die beiden literarischen Figuren, die uns Theokrit in Alexandreia als ‚waschechte‘ Syrakusanerinnen peloponnesischer Provenienz vorführt, wirklich aus alteingesessenen syrakusanischen Familien stammten, die ihrerseits um die Herkunft ihrer Vorfahren aus Korinth wussten und vielleicht sogar ihren Stammbaum bis ins 7. Jh. hinauf hätten präsentieren können.

23 Der hier zur Illustration abgebildete syrakusanische Silberstater aus der Zeit Timoleons befindet sich in Privatbesitz; das Foto hat die Autorin angefertigt, bei der somit auch das Bildrecht liegt.

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Entscheidend ist, dass in Theokrits Kleinepos Praxinóa und Gorgó, die zudem mit ihrer mythologischen Bildung auftrumpfen, ihre Identität am Dialekt festmachten und sich als Dorerinnen definierten, indem sie peloponnesisch sprachen. Der Dichter lässt die beiden Frauen zudem mit ihrer Fremdheit kokettieren, obgleich sie sich doch ansonsten ganz ‚zuhause‘ fühlen – für sie ist Gegenpart, wer sich über ihr Gerede aufregt. Notabene spricht auch jener Protagonist, der bei Theokrit schlicht ‚xenos‘ heißt, genauso dorischen Dialekt wie Praxinóa und Gorgó. Es gibt nun allerdings doch noch eine kleine Quellenpassage, die das Peloponnesische in einem sehr positiven Sinne mit Syrakus verbindet, nämlich in einem Text, der zumindest vorgibt, um die Mitte des 4. Jh. entstanden zu sein: Platons 7. Brief.24 Der Autor gibt den Freunden des ermordeten Dion Ratschläge und ermuntert sie, dessen „Absichten unter besseren Vorzeichen zu vollenden“.25 In diesem Zusammenhang heißt es:26 „[…(sc. ich rate euch,)] den von euch aber, der nicht auf dorische Weise nach der Väter Sitte leben kann «τὸν δὲ μὴ δυνάμενον ὑμῶν Δωριστὶ ζῆν κατὰ τὰ πάτρια», sondern der Lebensweise der Mörder Dions und Siziliens anhängt «διώκοντα δὲ τόν τε τῶν Δίωνος σφαγέων καὶ τὸν Σικελικὸν βίον», weder hinzuzuziehen zur Besiedlung ganz Siziliens «ἐπὶ πάσης Σικελίας κατοικισμόν» und zur Errichtung einer gerechten Verfassung, und zwar sowohl aus Sizilien selbst als auch der gesamten Peloponnes, aber auch Athen nicht zu fürchten, denn dort gibt es ebenfalls solche, die sich vor allen Menschen auszeichnen in Hinblick auf die Tugend und die die Tolldreistigkeit von Männern, die ihre Gastfreunde ermorden, hassen.“ Hier wird das Peloponnesier- und Dorersein als moralisch überlegen ausgegeben,27 witziger-weise mit dem Hinweis, auch im (sc. erz-ionischen) Athen 24 Zur Diskussion um die Echtheit der Briefe vgl. Sprute 1972, bes. 294 – 296, 312 f.; Trampedach 1994, 255 – 259; Knab 2006, 1 – 6. 25 Platon ep. VII, 336 c-337c. 26 Platon ep. VII 336 c-d, in der Übersetzung von Knab 2006, 98 f. 27 Knab 2006, 233 verweist in seinem Kommentar zu ep. VII 336c6 und dem Begriff Δωριστὶ ζῆν auf Platon, rep. 399a5-b3, wo als ‚dorische Tonart’ definiert ist, sich in kriegerischer Handlung und harter Bedrängnis auch im Unglück standhaft seines Schicksals zu erwehren.

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gäbe es solche ‚Dorer‘. Es wird das ‚Leben nach der Verfassung der Väter‘ mit dem Dorertum gleichgesetzt und gegen die ‚Entartungen‘ der sikeliotischen Politik samt ihrer chronischen Tyrannen-Krankheit als remedium empfohlen. Mit diesem Text im Hinterkopf könnte man behaupten: Wer um 340 mit Timoleon, dem edel gesinnten Korinther, respektive auf den Aufruf der wackeren Korinther hin einst nach Syrakus bzw. überhaupt Sizilien gezogen ist, der müsse ja wohl ein guter, braver Dorer gewesen sein, egal woher er wirklich kam. Diese Interpretation einer dorischen Identität könnte auch in Theokrits Skizze der alexandrinischen Syrakusanerin zum Ausdruck kommen, wenn Praxinóa dem das Weibergeschwätz tadelnden Mann als Erstes sagt: Wo kommt der denn her, was mischt der sich ein? Soll der doch gebieten, wo er das Sagen hat, nicht aber gegenüber Syrakusanerinnen! Hier scheint im Unterton der Diskurs der Redefreiheit freier Bürger auf. Damit wird ein Subtext bei Theokrit erkennbar: Er führt mit den jungen Frauen beim Adonisfest nicht nur vor, wie diese von dem Festgeschehen auf den Straßen der Residenzstadt unglaublich tief beeindruckt sind, natürlich ad maiorem gloriam des Königs Ptolemaios, sondern auch, dass Alexandreias ‚Verfasstheit‘ in der Wahrnehmung der dortigen Bewohner ‚richtig‘ und ‚gut‘ ist – hier war eine Art katoikismos initiiert worden, hier sollte und das ‚doristí zen’ praktiziert werden. Wir müssen offenbar damit rechnen, dass der Dichter nicht einfach nur zeigen will, dass es in der Großstadt Alexandreia unter den Einwohnern bzw. Bürgern eine Anzahl von Zuwanderern unter anderem aus Syrakus gab, die ungefragt ihre dorische Identität sogar soweit bewahrten respektive demonstrierten, dass sie sich auf den Heros Bellerophon beriefen, so als stammten sie von einstigen Urkolonisten aus Korinth ab. Die Namen, die Theokrit seinen Protagonisten gibt, waren keine spezifisch dorischen, korinthischen oder gar syrakusanischen; Letztere hat es vielleicht gar nicht gegeben, jedenfalls lassen sie sich aus dem verfügbaren Quellenmaterial nicht erweisen.28 Abschließend ist also zu betonen, dass eine ‚Identität‘ der syrakusanischen Migrantinnen in Alexandreia vom Dichter nicht über deren Namen vermittelt werden sollte, dass aber damit keine Aussage über die Authentizität der

28 Selbst Namen wie Gelon, Hieron, Dionysios, Apollodoros, Philistos, Agathokles sind nicht ‚typisch sikeliotisch’ oder ‚typisch westgriechisch’, sondern begegnen in der gesamten hellenischen Welt.

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Protagonisten gemacht werden kann. Entscheidend sind für das Selbstverständnis der von Theokrit präsentierten Frauen ihr dorischer Dialekt sowie ihre Abstammung aus dem dorischen Siedlungsraum. Damit enthält die XV. Idylle ein programmatisches Element, das der notorisch ‚mobilen‘ Gesellschaft die Bewahrung eines ‚Doristí zen‘ anempfiehlt, mithin eine Verfasstheit bzw. Gefasstheit, die Halt zu geben vermochte angesichts realer Gefahren der Entwurzelung und ‚libertinage‘. Gerade indem sich ‚dorische‘ Frauen auf ihr Peloponnesiertum – über dessen Fiktionalität gar nicht zu räsonieren ist – berufen, zeigen sie innere Haltung, ja halten sie demjenigen, der sie unrechtmäßig zu bevormunden sucht, insofern einen Spiegel vor, als ja auch jener ‚xenos‘ dorisch spricht und es eigentlich wie sie wissen müsste, welches Verhalten das Peloponnesiertum erheischt.

Literatur Blasius, A., „It was Greek to me ...“ – Lokale Eliten im ptolemäischen Ägypten, in: B. Dreyer, P. F. Mittag (Hgg.), Lokale Eliten und hellenistische Könige. Zwischen Kooperation und Konfrontation, Berlin 2011, 132 – 190 Calciati, R., Pegasi, 2 Bde., Mortara 1990 Clarysse, W., Ethnic Diversity and Dialect among the Greeks of Hellenistic Egypt, in: A. M. F. W. Verhoogt, S. P. Vleeming (Hgg.), The two faces of Graeco-Roman Egypt, Leiden u. a. 1998, 1 – 13 Funck, B., ‚König Perserfreund‘. Die Seleukiden in der Sicht ihrer Nachbarn. Beobachtungen zu einigen ptolemäischen Zeugnissen des 4. und 3. Jh. v. Chr., in: B. Funck (Hg.), Hellenismus. Beiträge zur Erforschung von Akkulturation und politischer Ordnung in den Staaten des hellenistischen Zeitalters, Tübingen 1996 (= Akten des Internat. Hellenismus-Kolloquiums, Berlin März 1994), 195 – 215 Gow, A. S., Theocritus, 2 Bde., Cambridge 21952 Günther, L.-M., Timoleons ‚Kolonisationsprogramm‘ und die massenhaften Einbürgerungen im spätklassischen Sizilien, in: dies. (Hg.), Migration und Bürgerrecht in der hellenistischen Welt, Wiesbaden 2012, 9 – 19 Holleaux, M., Etude d’épigraphie et d’histoire grecques 3: Lagides et Séleucides, Paris 1942 Knab, R., Platons Siebter Brief, Hildesheim u. a. 2006 (= Spudasmata Bd. 110) Meincke, W., Untersuchungen zu den enkomiastischen Gedichten Theokrits, (Diss.) Kiel 1965 Migeotte, L., Une souscription de femmes à Rhodes, BCH 117, 1993, 349 – 358 Niku, M., The official Status of the Foreign Residents in Athens 322 – 120 B. C., Helsinki 2007 Osborne, M. J., Byrne, S. G., The foreign residents of Athens. An annex to the ‚Lexikon of Greek Personal names. Attika‘, Studia Hellenistica 33, Leuven 1996

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Linda-Marie Günther Schmitt, H. H., Untersuchungen zur Geschichte Antiochos’ des Großen und seiner Zeit, Wiesbaden 1964 Sekunda, N. V., Achaemenid Settlement in Caria, Lycia and Greater Phrygia, in: H. SancisiWerdenburg, A. Kuhrt (Hgg.), Achaemenid History VI. Asia Minor and Egypt: Old Cultures in a new Empire, Leiden 1991 (= Proceedings of the Grooningen 1988 Achaemenid History Workshop), 83 – 143 Smarczyk, B., Timoleon und die Neugründung von Syrakus, Göttingen 2003 Sprute, J., Dions syrakusanische Politik und die politischen Ideale Platons, Hermes 100, 1972, 294 – 313 Stephanis, I. E., Dionysiakoi Technitai. Symwoles stin prosopografia tou theatron Kaetis mousikis ton archaeon Ellinon, Amsterdam 1988 Talbert, R. J. A., Timoleon and the Revival of Greek Sicily, Cambridge 1974 Trampedach, K., Platon, die Akademie und die zeitgenössische Politik, Stuttgart 1994 Westlake, H. D., Timoleon and the Reconstruction of Syracuse, CHJ 7/2, 1942, 73 – 100

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Polemon von Ilion. Antiquarische Periegese und hellenistische Identitätssuche1

1. Einleitung Nach dem politischen, geistigen und kulturellen Umbruch der klassischen griechischen Polis-Welt, welche durch die makedonische Expansion sowohl unfreiwillig nach innen geeint als auch gewaltsam nach außen geöffnet worden war, brachte auch das 3. Jh. kaum eine wirkliche Stabilisierung mit sich. In politischer Hinsicht hatte sich die seit dem Tod des Eroberers in dauerndem Fluss befindliche neue hellenistische Staatenwelt zwar um die Monarchien der Seleukiden, Ptolemaier und Antigoniden neu verfestigt, doch bewirkten die dauernden Kriege der großen Monarchen einen langfristigen Zerfall der Peripherie, an welcher zahlreiche neue Staaten in Erscheinung traten. In geistiger Hinsicht war das Monopol Athens oder Milets als griechischer Bildungs­stätten gebrochen worden und wich der fruchtbaren Rivalität der neuen großen Kulturzentren in Antiocheia, Seleukeia, Alexandreia und später Pergamon. In kultureller Hinsicht schließlich wurden griechische Kunst und Lebensart zur Basis einer neuen, kosmopolitischen Weltkultur, doch brachte die großartige seleukidische Kolonisation des Mittleren Ostens eine Bevölkerungsverschiebung in Gang, welche keineswegs nur die Herrschaft einer neuen griechischen „ethno-classe dominante“ sicherte, sondern vielmehr die Ideale der alexandrinischen Verschmelzungspolitik in ungeahntem Maße realisierte und somit auch die griechische Kultur in den neuen Kolonien und selbst im Mutterland zunehmend orientalischem Einfluss aussetzte.

1 An dieser Stelle möchte ich herzlich meinem Kollegen Stefan Schorn (KUL; verantwortlicher Herausgeber FGrH IV) für seine wertvollen Kommentare und Anregungen bei der Abfassung vorliegenden Aufsatzes danken. Alle Fehler und Irrtümer gehen dabei selbstverständlich zu Lasten des Verfassers.

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Griechische Identität war bis dahin v. a. im Antagonismus zum Barbarenbegriff gefasst und in recht engen Grenzen definiert worden, denkt man an die Worte, welche Herodot dem Makedonenprinzen Alexandros in den Mund legte: […] τὸ Ἑλληνικὸν ἐὸν ὅμαιμόν τε καὶ ὁμόγλωσσον καὶ θεῶν ἱδρύματά τε κοινὰ καὶ θυσίαι ἤθεά τε ὁμότροπα […].2 Doch in den neuen hellenistischen Weltstätten und Kolonien wie etwa Ai Khanoum, in denen sich griechische Siedler mit orientalischen Einwohnern vermischten, wie auch in den alten Städten, die durch den Zuzug neugieriger Fremder zunehmend kosmopolitischen Charakter annahmen, schien diese Definition kaum noch geeignet zu sein, festen Halt zu liefern, was „griechisch“ und was „barbarisch“ war. Die Gemeinschaft des Bluts hatte sich schon lange verflüchtigt, spätestens seit der Massenhochzeit von Susa und der Besteigung des mächtigsten Diadochenthrons durch Antiochos I., Sohn der baktrischen Prinzessin Apama. Die Gemeinsamkeit der Sprache war ursprünglich durch die enge Begrenzung des griechischen Siedlungsgebiets definiert, doch spätestens obsolet geworden, als das Griechische an der Stelle des Reichsaramäischen zur übernationalen Verkehrssprache von Gades bis Baktra geworden war und sich dabei nicht nur allmählich zur Koine entwickelt hatte, sondern auch von zahlreichen Nichtgriechen gehandhabt wurde, die wie der Babylonier Anu-Uballit/Kephalon griechische Namen annahmen oder sogar in die griechische Wissenschaftsproduktion einstiegen wie Berossos oder Manethon. Die klassische Gemeinsamkeit der Heiligtümer und Opfer ferner musste sich der Konkurrenz der neuen synkretistischen Kulte der hellenistischen Zeit stellen, in welcher künstlich geschaffene Gottheiten wie Serapis ihren Siegeszug antraten, oder Iraner wie Atrosokes dem zentralasiatischen Flussgott Oxos in einem von den Seleukiden erbauten iranischen Feuerheiligtum einen griechischen Altar mitsamt griechischer Inschrift und Statuette des Marsyas oder Eros weihten. Die Gemeinsamkeit der Sitte schließlich war vor dem Hintergrund der neuen Weltkultur sehr relativ geworden: persische Dynasten wie die Frataraka prägten Tetradrachmen mitsamt Nike und Zeus-Adler, Gymnasien wurden zum Bestandteil einer jeden neuen Siedlung, ägyptische Einheimische wurden zur makedonischen Phalanx zusammengestellt, und selbst die

2 Hdt. 8, 144:„Wir haben gleiches Blut und gleiche Sprache mit den Griechen, die gleichen Heiligtümer und Opfer, die gleichgearteten Sitten.“ Vgl. allg. zum Kontext der Passage und zum griechischen Identitätsbegriff: Werner 1989; Campos Daroea 1992; Konstan 2001; Hall 2002; Levine Gera 2003; Munson 2005; Zacharia 2008.

Antiquarische Periegese und hellenistische Identitätssuche

Jerusalemer Aristokratie bemühte sich, die Beschneidung zu verbergen, am Fuße des Tempelberges Sport zu treiben und sich mit den ­Athleten der phoinikischen Nachbarstädte im Wettkampf zu messen. Es ist vor diesem komplexen Hintergrund zu sehen, dass überall in der alten griechischen und neuen hellenistischen Welt als Reaktion auf diesen beunruhigenden drohenden Verlust althergebrachter Orientierungsmerkmale eine neue, wesentlich bewahrend ausgerichtete Forschungsbewegung hervortrat, deren Wurzeln freilich weit in die Vergangenheit zurückreichten: der Antiquarianismus.3 Dieser erblühte, nach ersten Anfängen in der ersten Peripatetiker­ generation, die ihrerseits der reichen Tradition der griechischen Lokalgeschichte verbunden war, wesentlich in Alexandreia und blieb zunächst weitgehend der Philologie zugeordnet und in der Hand der Dichter, wie ­Philitas von Kos beweist, der zugleich Poet und Philologe war, ähnlich wie Zenodotos von Ephesos, bekannt durch seine Homerausgabe, Kallimachos, der durch eine Sammlung ungebräuchlicher Wörter der archaischen Dichtung und einen griechischen Literaturkatalog hervortrat, und Apollonios von Rhodos, der sich ausführlich mit Zenodots Homer-Ausgabe beschäftigte. Doch bereits mit dem 246 zum Bibliothekar in Alexandreia berufenen Eratosthenes und v. a. mit Aristophanes von Byzanz trennten sich Dichtkunst und philologisch-antiquarische Gelehrsamkeit, so dass allmählich ein rein wissenschaftliches Gelehrtenprofil entstand, dem der unmittelbar philologische oder dichterische Aspekt nur noch Nebensache wurde und das der Geschichtsschreibung oft aufs engste verbunden war.4 Dieser Richtung gehörten dann die hellenistischen Periegeten an, welche sich von der Werkbezogenheit der Alexandriner als Ordnungsprinzip antiquarischen Forschens abwandten und vielmehr auf die in der Periplous-Literatur vorgebildete und bei Herodot systematisch mit der Historie verknüpfte Literaturform der Periegesie stützten, diese aber zu einer eigenständigen Forschungsgattung ausbildeten. Über Diodor von Athen, den Gründer der hellenistischen Periegese, über den Autor der athenischen Periegese von Hawara und über Heliodor von Athen sind wir nur bruchstückhaft informiert, und ihre Forschung scheint den engeren Bereich der attischen Lokalbeschreibung

3 Allg. zum Antiquarianismus vgl. Sandys 1921; Momigliano 1950; Pfeiffer 1968 (Kapitel Pergamum: Scholarship and Philosophy. A New Antiquarianism); Momigliano 1990 (Kapitel. The Rise of Antiquarian Research); Bravo 2007. 4 Hierzu Schepens 2007.

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kaum überschritten zu haben. Ähnliches gilt auch für Kallixenos von Rhodos mit seiner Beschreibung Alexandreias sowie für Herakleides Kritikos mit seinem Bericht über die Städte Griechenlands, der eher Reisebericht als antiquarische Periegese ist. Besser bekannt und ungleich universaler angelegt als seine Vorgänger aber war Polemon von Ilion,5 der als der wohl bedeutendste hellenistische Antiquar und Perieget zu gelten hat, und dessen wohl ungefähr 30 Titel umfassenden Werke sich in über 100 Fragmenten erhalten haben, welche, mit Ausnahme von Prellers Ausgabe vom Jahr 1838,6 die zur Grundlage der Behandlung im 3. Band von Müller Fragmenta Historiorum Graecorum wurde,7 bislang noch nie ediert worden sind.8

2. Leben Nur wenig ist über das Leben des Polemon von Ilion bekannt, wobei es im Wesentlichen das Suda-Lexikon ist, das uns die reichste Notiz bietet und folgenden Lebensabriss liefert: Πολέμων, Εὐηγέτου, Ἰλιεύς, κώμης Γλυκείας ὄνομα, Ἀθήνησι δὲ πολιτογραφηθείς: διὸ ἐπεγράφετο Ἑλλαδικός: ὁ κληθεὶς Περιηγητής, ἱστορικός. γέγονε δὲ κατὰ Πτολεμαῖον τὸν Ἐπιφανῆ. κατὰ δὲ Ἀσκληπιάδην τὸν Μυρλεανὸν συνεχρόνισεν Ἀριστοφάνει τῷ γραμματικῷ καὶ διήκουσε καὶ τοῦ Ῥοδίου Παναιτίου. ἔγραψε Περιήγησιν 5 Einführend zu Polemon – neben der Spezialliteratur zu Pausanias – vgl. Foucart 1878; Susemihl 1891, 665 – 676; Pasquali 1913, 176ff.; Frazer 1917, 134f.; Hansen 1947, 363 – 366 und 381; Deichgraeber 1952; Pédech 1961, xxvii-xxxv; Mette 1978; Meister 1990, 197f.; Schneider 1999a; Kühnert – Vogt 2005; vgl. auch G. P. Cist’akova, Polemonis Periegetae Fragmenta, VDI 165, 1983, 207ff. (non vidi). 6 Preller 1838; hierzu dann auch die Rezension von O. Jahn, Jahrbuch für wissenschaftliche Kritik 2, 1840, 591. Im Folgenden soll die Preller’sche Fragmentenzählung, die auch bei Deichgraeber 1952 und Müller (FHG) verwendet wird, zugrundegelegt werden. 7 FHG III , 108 – 148. Viele Fragmente auch bei Tresp 1914, 85ff., 143ff., 204ff. sowie bei Giannini 1966, 116ff. 8 Es sei hier darauf verwiesen, dass der Verf. kürzlich mit der Organisation der Herausgabe der Fragmente Polemons für FGrH betraut wurde und hofft, in den nächsten Jahren die Prellersche Aufstellung der Fragmente erneuern zu können. Vorliegender Aufsatz stellt erste Überlegungen zu dieser Aufgabe an.

Antiquarische Periegese und hellenistische Identitätssuche

Ἰλίου ἐν βιβλίοις γ, Κτίσεις τῶν ἐν Φωκίδι πόλεων καὶ περὶ τῆς πρὸς Ἀθηναίους συγγενείας αὐτῶν, Κτίσεις τῶν ἐν Πόντῳ πόλεων, Περὶ τῶν ἐν Λακεδαίμονι πόλεων: καὶ ἄλλα πλεῖστα: ἐν οἷς καὶ Κοσμικὴν περιήγησιν ἤτοι Γεωγραφίαν.9 Nur wenige Punkte dieser kurzen Schilderung sind unproblematisch. So ist bereits der Vatersname umstritten, da eine delphische Inschrift, auf die noch zurückzukommen sein wird, Polemon vielmehr als Sohn eines Milesios bezeichnet, so dass anzunehmen ist, dass „Euegetos“ wohl nur die Übertragung eines sich auf Polemon beziehenden Epithetons auf den vermeintlichen Vater darstellt.10 Auch die Erklärung, dass Polemon dem attischen Bürgerrecht 11 den Beinamen des „Hellenen“ verdankte, ist wenig überzeugend und geht vielleicht nur darauf zurück, dass Polemon ein Werk mit dem Titel „Helladikos“ zugeschrieben wurde.12 Wenn auch eine Anspielung bei Plutarch, der Polemon als Athener bezeichnet,13 die Notiz der Suda zu bestätigen scheint, so dürfte es sich hierbei doch nur um eine Ehrenbezeugung aus Dank für die Athen betreffenden Schriften Polemons gehandelt haben, nicht aber den Beweis für ein unmittelbares politisches Engagement, heißt es doch bei Heraklit von Mopsuestia: τὸ δὲ τοῦ παρασίτου ὄνομα πάλαι μὲν ἦν σεμνὸν καὶ ἱερόν. Πολέμων γοῦν (ὁ εἴτε Σάμιος ἢ Σικυώνιος εἴτ´ Ἀθηναῖος ὀνομαζόμενος χαίρει, ὡς ὁ Μοψεάτης Ἡρακλείδης λέγει καταριθμούμενος αὐτὸν καὶ ἀπ´ ἄλλων πόλεων) (…).14 9 Suda s. v. Πολέμων (Adler π 1888): „Polemon, Sohn des Euegetos, von Ilion, aus einem Dorf mit Namen Glykeia, aber in die athenische Bürgerliste eingeschrieben, daher als Helladikos bezeichnet, auch Perieget genannt, ein Historiker. Er wirkte/wurde geboren unter Ptolemaios Epiphanes. Aber laut Asklepiades von Myrleia war er ein Zeitgenosse des Grammatikers Aristophanes und war ein Zuhörer des Panaitios von Rhodos. Er schrieb eine ‚Periegese Ilions‘ in drei Büchern, ‚Über die Gründung der Städte Phokis und ihre Beziehungen zu den Athenern‘, ‚Über die Gründung der Städte des Schwarzen Meeres‘, ‚Über die Städte Lakedaimons‘ und viele andere mehr, unter ihnen eine ‚kosmische Periegese‘, auch ‚Geographie‘ genannt.“ 10 Wilamowitz-Moellendorff 1881, 9, Anm. 6. 11 Vgl. für das Bürgerrecht des Polemon Osborne 1983, 99 (T 112), datiert um 200 – 175. 12 Deichgräber 1952, 1291. 13 Plut. Quaest. conv. 675b = F 27. 14 Athen. 6,234c-d: „Der Name eines Parasiten wurde damals geehrt und geschätzt. Polemon nämlich (der mal als Samier, oder Sikyonier, mal als Athener bezeichnet wird, wie

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Bedenkt man, dass Polemon auch Schriften über Samothrake und Sikyon zugeschrieben sind, wie wir noch sehen werden, legt die Notiz wohl entweder ähnliche Ehrendekrete dieser Städte nahe, welche sich für Polemons Forschungsarbeit revanchieren wollten, oder, wenn auch weniger wahrscheinlich, gründet auf einer irrtümlichen Extrapolation des Geburtsortes aus dem Titel der jeweils bekanntesten Schriften. Auch der chronologische Verweis auf Polemons γέγονε ist nicht unum­ stritten: Falls der Begriff 15 sich auf den Beginn des schriftstellerischen Hervortretens oder die Akme Polemons, also sein 40. Lebensjahr,16 bezieht, impliziert der Verweis auf das Wirken während der Regierungszeit Ptolemaios’ V. Epiphanes, falls wir die Angabe als authentisch betrachten, den Zeitraum zwischen 205/4 und 180, so dass sich in der Literatur meist 230 oder 220 als Geburtsdatum vermerkt findet.17 Falls allerdings mit γέγονε vielmehr die Geburt Polemons gemeint ist, so würde das die besagte Chronologie natürlich um fast zwei Generationen nach vorne verschieben. Dies hat auch Auswirkungen auf einige weitere chronologische Anspielungen. So heißt es, dass ein Polemon aus Ilion (Ilieus), Sohn des Milesios, unter dem Archontat des Melission, also 177/176, mit der delphischen Proxenie geehrt wurde:18 ἄρχοντος Μελισσί|ωνος, βουλευόντων τὰμ | πρώταν ἑξάμηνον Δε|ξικράτεος, Ἀρχελάου, Ἀν|δρομένεος· 112 Δαμέας Θεάν|του Βούριος, 113 Φιλόνικος Σωκράτεος | Ἐλατεύς. ἄρχοντος Μελισσίωνος, βουλευόντων | τὰν δευτέραν ἑξάμηνον Πραξία, Ἀνδρονίκου, | Ἀριστίωνος· 114 *Πολέμων Μιλησίου Ἰλιεύς. Diese Inschrift wird seit dem richtungsweisenden Aufsatz von Foucart auf den Periegeten Polemon von Ilion bezogen 19 und ist bislang nur selten in Frage

es Herakleides von Mopsuestia berichtet, der ihn auch noch mehreren anderen Städten zuordnet), berichtet …“ 15 Hierzu Rohde 1878; leicht überarbeitet in Kleine Schriften: I, Tübingen— Leipzig 1901, 114 – 184. 16 Explizit bei Hansen 1947, 363, Anm. 68. 17 220: Deichgräber 1952, 1291; 230: Susemihl 1891, 666, Anm. 113; Hansen 1947, 363. 18 Syll.3, 585 (IDelph. 18). 19 Foucart 1878. Vgl. auch Wilamowitz-Moellendorff 1881, 9; Chaniotis 1988, 306f. (E 13).

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gestellt worden,20 was zum einen die bereits erwähnte Überlegung impliziert, dass die Vatersangabe der Suda falsch sein muss, zum anderen die Verortung seiner Wirkenszeit unter Ptolemaios V. unterstreicht. Falls mit γέγονε tatsächlich die Geburt Polemons gemeint ist, hätte der Perieget die Auszeichnung der Proxenie zudem in äußerst jungem Alter und sicherlich als Dank für seine antiquarische Beschäftigung mit dem Heiligtum erhalten, was die Abfassung einer diesbezüglichen Schriften als Jugendwerk erscheinen ließe. Das Proxeniedekret erschwert aber auch ein wenig die von der Suda dem Asklepiades von Myrleia zugeschriebene Datierung des Polemon in die Lebenszeit des Grammatikers Aristophanes, mit dem wohl Aristophanes von Byzanz gemeint sein muß: Da dessen Akme in die 144. Olympiade, also 204 – 201, fiel, und Aristophanes wohl bereits um 180 starb, dürfte Polemon sicherlich um einiges jünger als dieser gewesen sein,21 v. a. wenn sich γέγονε auf die Geburt bezieht. Ebenso ist zwar nicht unmöglich, doch wenig wahrscheinlich, dass Polemon je wirklich regelrecht Schüler des Panaitios von Rhodos war, da dieser wohl eine Generation jünger als Polemon war (um 180-um 110); doch kann nicht ausgeschlossen werden, dass Polemon in höherem Alter einem seiner Vorträge beigewohnt haben mag. Da ein doppelter Chronologiefehler von Seiten des aus dem bithynischen Myrleia stammenden und wohl im 1. Jh. v. Chr. in Pergamon aktiven Grammatikers Asklepiades erstaunen würde,22 wurde auch vermutet, dass anstatt des Synchronismus mit Aristophanes und dem Studium bei Panaitios ursprünglich vielmehr der Synchronismus mit Panaitios und das Studium bei Aristophanes gemeint waren.23 Denkbar, wenn auch unwahrscheinlich, wäre auch, dass Asklepiades hier nicht den berühmten stoischen

20 Mette 1978, 40, der an einen möglichen Verwandten des Polemon denkt. 21 Vgl. Cohn 1896; FG rH 347. Suda s. v. Ἀριστοφάνης (Adler α 3933): Ἀριστοφάνης, Βυζάντιος, γραμματικός, υἱὸς Ἀπελλοῦ ἡγουμένου στρατιωτῶν, μαθητὴς Καλλιμάχου καὶ Ζηνοδότου: ἀλλὰ τοῦ μὲν νέος, τοῦ δὲ παῖς ἤκουσε: πρὸς δὲ τούτοις καὶ Διονυσίου τοῦ Ἰάμβου καὶ Εὐφρονίδα τοῦ Κορινθίου ἢ Σικυωνίου. γέγονε δὲ κατὰ τὴν ΡΜΔ Ὀλυμπιάδα. „Aristophanes, der Byzantiner, ein Grammatiker, Sohn des Apelles, eines Truppenbefehlshabers, Schüler des Kallimachos und des Zenodotos, des ersten als junger Mann, des letzteren als Kind; und neben diesen auch Schüler von Dionysios dem Iambier und von Euphronidas dem Korinther oder Sikyonier. Er wirkte während der 144. Olympiade.“ 22 Strab. 12,566; Suda s. v. Ἀσκληπιάδης (Adler α 4173); Steph. Byz. s. v. Μύρλεια und Νίκαια. 23 Vgl. Deichgräber 1952, 1290f.

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Philosophen, ­sondern einen in seiner Existenz umstrittenen, aber in der Suda belegten älteren Panaitios meinte.24 Schließlich ist ebenfalls vermutet worden, die Suda habe fälschlicherweise angegeben, Polemon sei Schüler des Panaitios gewesen, während in Wirklichkeit Panaitios Schüler des Polemon gewesen sei.25 Glaubt man nun, dass Aristophanes Lehrer des Polemon war, und bedenkt man, dass er lange Jahre als Vorsteher der Bibliothek von Alexandreia fungierte, darf außerdem anzunehmen sein, dass Polemon zeitweise dort studierte. Dies würde zum einen die auch inhaltliche Nähe etwa zu Kallimachos erklären, zum anderen aber in Anbetracht seiner späteren Reisen, die ein beachtliches Familienvermögen voraussetzten,26 nicht erstaunen, bereiste Polemon doch Kleinasien, Griechenland, Epirus, Italien, Sizilien und vielleicht auch Karthago, wie seine Schriften nahelegen, in denen er regelmäßig seine Autopsie der beschriebenen Gegenstände und Bräuche betonte.27 Dass Polemon allerdings selbst in Alexandreia gelehrt haben soll, wie gelegentlich in einigen Literaturgeschichten behauptet wurde, geht auf ein Fehlverständnis einer Anspielung bei Athenaios zurück.28 Nimmt man die rege Reisetätigkeit sowie die anzunehmenden langen Aufenthalte zumindest in Athen und möglicherweise Delphi aus, ist aus dem Leben des Polemon leider nichts Weiteres bekannt. Auch das Todesdatum Polemons entzieht sich uns, da die chronologisch späteste historische Anspielung in den Fragmenten des Periegeten, der generell den Verweis auf zeitgenössische Ereignisse ausgelassen zu haben scheint, sich nur ganz generell auf Ptolemaios VIII. Euergetes II. bezieht,29 dessen lange Regierungszeit (170 – 116) 24 Vgl. Suda s. v. Παναίτιος (Adler π 183): Παναίτιος, Ῥόδιος, ὁ πρεσβύτης, φιλόσοφος: οὗ πολὺς ἐν φιλοσόφοις λόγος. φέρεται αὐτοῦ βιβλία φιλόσοφα πλεῖστα. „Panaitios von Rhodos, der Ältere, ein Philosoph: dessen viel Erwähnung ist bei den Philosophen. Viele philosophische Bücher sind ihm zugeschrieben.“ 25 Susemihl 1891, 64; Hansen 1947, 363. 26 Eine zumindest nicht ärmliche Herkunft wird auch durch Polemons systematische Hiatvermeidung suggeriert, welche den Besuch einer Rhetorenschule nahelegt, vgl. Deichgräber 1952, 1320. 27 Z. B. Athen. 9,372a = F 36. 28 Larfeld 1907, 22, der Athen. 12,552b-c missversteht, welcher vielmehr vom Philosophen Arkesilaos spricht. 29 Athen. 12, 552b-c: Πολέμων δ' ὁ περι ηγητὴς (552c) ἐν τῷ περὶ Θαυμασίων ᾽Αρχέστρατόν φησι τὸν μάντιν ἁλόντα ὑπὸ πολεμίων καὶ ἐπὶ ζυγὸν ἀναβληθέντα ὀβολοῦ ὁλκὴν εὑρεθῆναι ἔχοντα· οὕτως ἦν ἰσχνός. Ὁ δ' αὐτὸς ἱστορεῖ ὡς καὶ

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es unmöglich macht, ein präziseres Datum zu rekonstruieren, doch ist wohl anzunehmen, dass Polemon, wenn er Panaitios gehört haben sollte, bis nach 150 gelebt haben müsste.

3. Werk Eine der wohl bezeichnendsten und persönlichsten Beschreibungen Polemons findet sich bei Athenaios, der erklärt, ἐπεκαλεῖτο δὲ καὶ στηλοκόπας, ὡς Ἡρόδικος ὁ Κρατήτειος εἴρηκε (…),30 eine Äußerung, welche nicht nur das typische Desinteresse antiker Autoren für epigraphisches Material kennzeichnet,31 sondern auch Polemons Ausnahmestellung charakterisiert. Doch beschränkte sich Polemons Neugier nicht allein auf den Bereich epigraphischen Antiquarianismus’, sondern erstreckte sich auch auf zahlreiche andere Wissensbereiche, wie ja auch dadurch angezeigt wird, dass die Suda Polemon nicht nur als Perieget, sondern generell als „Historiker“ – im Sinne des erkundungs- und exkursfreudigen Herodot – bezeichnet. Bei der genaueren Beschreibung von Polemons Werk stößt der Historiker allerdings auf schier unüberwindliche Probleme, welche gewissermaßen typisch nicht nur für Polemons spezifisches Œuvre, sondern für den hellenistischen Antiquarianismus und die zeitgenössischen Bemühungen um eine identitäre Neubestimmung der alten griechischen Poliswelt insgesamt sind. So sind ca. 30 Werktitel erhalten, die Polemon von Ilion zugeschrieben werden, wobei aber nicht auszuschließen ist, dass zumindest einige dieser Titel letztlich nur als sukzessiv verfasste Unterabteilungen eines einzigen Gesamtwerks zu verstehen sein könnten. So versuchte etwa Preller, gefolgt von ­Susemihl, Judeich und anderen,32 das Werk des Polemon als entweder von ihm selbst geplantes oder posthum zusammengestelltes Gesamtwerk, dessen literarische Existenz die Suda ja mit der Erwähnung des Titels einer κοσμικὴ περιήγησις oder Πανάρετος ἰατρῷ μὲν οὐδενὶ ὡμίλησεν, ᾽Αρκεσιλάου δὲ ἠκροᾶτο τοῦ φιλοσόφου, καὶ ὅτι συνεγένετο Πτολεμαίῳ τῷ Εὐεργέτῃ τάλαντα δώδεκα τὸν ἐνιαυτὸν λαμβάνων· ἦν δὲ ίσχνότατος, ἄνοσος διατελέσας· 30 Athen. 6.234d: „Polemon wurde von Herodikos, dem Schüler des Krates, Stelenbe­klopfer genannt (…). 31 Hierzu immer noch Stein 1931; jetzt auch als Fallstudie Engels 2011 mit Literatur. 32 Preller 1838; Susemihl 1891, 665 – 676; Judeich 1931, 11.

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Geographie suggeriert, zu würdigen; ein Werk, das sich dann in periegetische, gründungsgeschichtliche, polemische, paradoxographische, flussgeschichtliche und vermischte Schriften gliederte, wozu dann noch die ebenfalls meist periegetisch orientierten Briefe gehörten. Andere Forscher wie Deichgräber allerdings verzichteten darauf, die Fragmente (sofern nicht durch Buchtitel dazu berechtigt) in ein übergeordnetes Gesamtkonzept einzuordnen, sondern wollten sie vielmehr als Bruchstücke einer über Jahrzehnte hinweg entstandenen Vielfalt von teils sehr kurzen Schriften aller Art verstehen,33 welche auch nach dem Tod des Autors getrennt kursierten und von der Suda fälsch­licherweise zusammengefasst wurden. Dabei macht die fragmentarische Erhaltung und inhaltliche Vielseitigkeit der Werke es fast unmöglich zu beurteilen, inwieweit die Fragmente als typisch für Polemons Tätigkeit bzw., falls bekannt, für das jeweilige übergeordnete Werk gelten können, oder vielmehr als bloße Exkurse verstanden werden müssen, ist doch zu bedenken, dass die periegetische Anlage der meisten Schriften wie auch Polemons vielseitige Interessen den Autor ja geradezu zum Exkurs verpflichteten. Diese prinzipiellen Fragen werden dadurch noch erschwert, dass Polemon seit den Untersuchungen Wilamowitz’ manchmal als Hauptquelle des Pausanias gesehen wird,34 der seine Beschreibung Griechenlands wesentlich aus Polemon abgeschrieben und auch dessen Werkstruktur übernommen haben soll; eine Annahme, die natürlich die Frage nach der Architektur der Schriften Polemons und der jeweiligen Interpretation, Gewichtung und Zuordnung der erhaltenen Fragmente beeinflussen muss, ist Pausanias doch der einzige komplett erhaltene Perieget der Antike, so dass der Vergleich mit Polemon geradezu unumgänglich ist. Diese an der klassischen Quellenforschung orientierte Lesart des Polemon wird seit Frazer allerdings bestritten;35 nichtsdestoweniger ist es schwierig, ja unmöglich, von einem Seitenblick auf Pausanias abzusehen. Eine erste Gruppe bilden die auch im Titel unzweifelhaft periegetisch angelegten Schriften, deren Gesamtheit vielleicht auch im Buchhandel editorisch zusammengefasst war und somit den Verweis der Suda auf Polemons „kosmische Periegese“ erklären könnte.36 So verfasste Polemon vier Bücher „Über

33 Deichgräber 1952, 1292. 34 Wilamowitz-Moellendorff 1881. Hierzu dann Schneider 1999b. 35 Frazer 1917, 134f. 36 Suda s. v. Πολέμων (Adler π 1888).

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die Akropolis von Athen“,37 sicherlich, je nach Datierung, in der Fortsetzung oder vielmehr Voraussetzung des 15-bändigen Werks Heliodors von Athen. Damit waren vielleicht auch formal als Exkurse die folgenden, als Werktitel allerdings eigens belegten Schriften „Über die Bilder der Propyläen“38 und „Über die ­Eponymen der Demen und Phylen von Athen“39 verbunden, Letzteres sicherlich vom Perieget Diodor von Athen beeinflusst. Ferner ist ein Buch „Über die Heilige Straße“40 überliefert wie auch Werke „Über die Stoa Poikile von Sikyon“41 (damit vielleicht zusammenhängend auch eine Schrift „Über die Bilder in Sikyon“42), „Über die Weihgeschenke Lakedaimons“43 (vielleicht in edito­ rischem Zusammenhang mit der Schrift „Über die Städte in Lakedaimon“44), „Über die thebanischen Herakleen“,45 „Über die Gründung der phokischen Städte und ihre Beziehung zu Athen“,46 „Über die Schätze von Delphi“,47 „Über die Gründung der Schwarzmeerstädte“,48 von der nur der Titel erhalten ist, „Über ­Samothrake“49 und schließlich drei Bücher zur „Periegese Ilions“,50 interessanterweise die einzige Schrift, die auch explizit den Titel einer P ­ eriegese trägt, und deren Fragmente leider äußerst schlecht bezeugt sind, so dass der manchmal unternommene Versuch, P ­ olemons Eigenart wesentlich durch das Interesse 37 Strab. 9,1,16. Vgl. Athen. 11,472b-c = F 1; Athen. 11,486d = F 2; Athen. 13,587c = F 3; Marcellin. Vit. Thuc. 16 = F 4; Marcellin. Vit. Thuc. 28 = F 5. Hierzu dann auch Schneider 1999a. 38 Harpokr. s. λαμπάς = F 6. 39 Schol. Arist. Orn. 645 = F 7. Vgl. auch Diog. Laert. 3,46 = F 8; Schol. Aristoph. Orn. 646 = F 9; Schol. Hom. Il. 3,242 = F 10. 40 Harpokr. s. Ἱερα ὁδός = F ./. 41 Athen. 13,577c = F 14; und Athen. 6,253b = F 15. 42 Athen. 13,576b = F 16; vgl. auch Plut. Arat 13 = F 17. Laut Deichgräber 1952, 1297 auch Zenob. 4,21 = F 100. 43 Athen. 13,574c = F 18; hierzu bei Preller auch Schol. Vet. Pindar Ol. 1,28 = F 19; Schol. vet. Pind. Nem. 10,12 = F 20. 44 Suda s. v. Πολέμων (Adler π 1888). Vgl. Schol. Ven. Pind. Ol. 5 = F 21; Schol. Eurip. Hippolyt. 230 = F 22; Schol. Vet. Pind. Nem. 10,12 = F 23; Clem. Protr. 36,2 = F 24. 45 Schol. Pind. Ol. 7,153 = F 26. 46 Suda s. v. Πολέμων (Adler π 1888). 47 Plut. Quaest. Conv. 5,2,675b = F 27; vielleicht auch Ael. Var. Hist. 12,40 = F 29. 48 Suda s. v. Πολέμων (Adler π 1888): 49 Athen. 9,372a = F 36. 50 Suda s. v. Πολέμων (Adler π 1888). Hierzu dann Schol. Hom. Il. 1,39 (= F 31); Eustath. ad Hom. Il. 2,32 = F 32; Steph. Byz. s. v. Μυρμισσός = F 33.

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am homerischen Ilion zu fassen und ihn in direkter ­Parallele zu ­Demetrios von Skepsis (205 – 130) und seinen 30-bändigen Kommentar zu Homers Troerkatalog zu sehen,51 wohl erheblich zu kurz greift. Über den ägäischen Raum hinaus reichen dann die periege­tischen Schriften „Über die Gründung der Städte der Italiker und ­Sikelioten“,52 von der die separat zitierte Schrift „Über die Mäntel Karthagos“53 vielleicht nur ein Teil war, und „Über die Kolonien in Italien und Sizilien“.54 Ohne präzisere Werkangaben überliefert sind schließlich einige Fragmente zu boiotischen,55 epirotischen 56 und karischen Fragen,57 die entweder auch auf die Existenz von Schriften verweisen, die eigens diesen geographischen Rahmen betrafen, oder sich nur als Abschweifungen in einem der anderen Werke befunden haben mögen, was angesichts von Polemons hoher Exkursfreudigkeit nicht er­staunen würde. Umstritten ist, inwieweit der „Helladikos“58 bzw. die womöglich damit identischen „Griechischen Histo­ rien“,59 die wohl eine Art Urgeschichte Griechenlands darstellten, tatsächlich Polemon zuzuweisen sind, da bereits der sonst gut informierte Athenaios an seiner Urheberschaft zweifelt. Neben diesen im strengeren Sinne periegetischen Schriften sind ferner die polemischen Werke Polemons zu erwähnen, die allerdings dem Inhalt nach ebenfalls starke antiquarisch-periegetische Züge aufzuweisen scheinen, wie die überlieferten Fragmente suggerieren. So zählen wir mindestens sechs Bücher „Gegen Adaios und Antigonos“, aus denen sich zahlreiche Fragmente erhalten haben,60 die allesamt aber eher periegetischen als kunstgeschichtlichen ­Charakter tragen, wie denn beide Gattungen ohnehin des Öfteren eng 51 Kühnert – Vogt 2005, 796. 52 Schol. Apoll. Rhod. 4,324 = F 37; vielleicht auch Fest. s. v. Salios = F 38. 53 Athen. 12,541a = F 85. 54 Schol. Apoll. Rhod. 5,324 = FHG III fr. 38. 55 Athen. 1,19c = F 25 (von Deichgräber 1952, 1314 eher der Schrift zu den Epigrammen griechischer Städte zugerechnet). 56 Steph. Byz. s.v. Δωδώνη = F 30. 57 Steph. Byz. s.v. Εὐθηνῖται = F 34; Etym. Magn. = F 35. 58 Athen. 13,606a = F 28; Athen. 11,479f = F 22. 59 Schol. Arist. Panath. P. 188 (mit Schol. 3,321 und 322 Dindorf) = F 11/12; Iul. Afric. FHG II = Euseb. Praep. Evang. 10, p. 490 = F 13. 60 Buch 1: Athen. 11,462a = F 56; Athen. 11,497f = F 57. Buch 3: Athen. 5,210a-b = F 58; Buch 5: Athen. 9,388c = F 59; Athen. 11,484b-c = F 60; vielleicht hier auch Athen. 9,483b = F 61; Buch 6: Athen. 9,410c = F 62. Hierzu gehören dann wohl auch Athen. 11,474c = F

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verbunden sind.61 Des Weiteren verfasste Polemon eine umfangreiche, mindestens zwölf Bücher umfassende Schrift „Gegen Timaios“,62 in deren zwölftem Buch sich auch ein „Katalog der Parodisten“ befand.63 Ähnlich antigraphisch waren auch die mindestens zwei Bücher „Gegen Eratosthenes“,64 die wohl im Wesentlichen Ergänzungen zu dessen geographischen Ausführungen darstellten, die in der polemischen Frage gipfelten, ob Eratosthenes angesichts seiner zahlreichen Fehler überhaupt in Athen gewesen sein konnte.65 Ebenfalls eine polemische Stoßrichtung dürften die Schriften „Gegen Neanthes von Kyzikos“,66 „Gegen Istros“ 67 sowie „Gegen Anaxandrides“ 68 gehabt haben. Schließlich und endlich wären die eher sprachwissenschaftlichen Untersuchungen zu erwähnen. In diese Kategorie zählen zunächst die in Briefform abgefassten Untersuchungen „An Diophilos“ 69 über die Erklärung eines Sprichworts, „An Aranthion“ 70 mit dem Zitat eines Paians an Agemon, den Vater der Alkyone, „An Attalos“ 71 über einen kuriosen Beinamen des Apollo, und schließlich die an einen unbekannten Empfänger gerichtete Untersuchung mit dem Titel „Über unbekannte Namen“,72 welche das wörtliche Zitat mehrerer

63; Athen. 15,690e = F 64; Suda s. v. Αζηνιεύς (Adler α 594) = F 65; Athen. 8,341a = F 66; Diog. Laert. 2,104 = F 67; Diog. Laert. 4,58 = F 68; Diog. Laert. 5,85 = F 69. 61 Vgl. etwa Beneker 1890, 4ff. 62 Buch 1: Athen. 10,416b-c = F 39 (vgl. auch 3,109a-b); 2,39c = F 40; Buch 4: Clemens Protr. 4,47,3 = F 41; Schol. Aed. Col. 100 = F 42; Buch 5: Athen. 3,81f = F 43; Buch 6: Athen. 13,588c und 589a = F 44; Buch 12: Athen. 15,698b-699d = F 45. Vgl. auch Athen. 14,659c = F 46. Vgl. Pédech 1961, xxvii-xxxv. 63 Athen. 15,698b-699d; vgl. Blizquez 1977 64 FGrH 241 T 10 = Strab. 1,2,2. Schol. Aristoph. Orn. 11, 744 und 1527, Pausan. 10,7,7 = F 47; Harp. s.v. ἄξονι; Schol. Apoll. Rhod. 4,280 Wendel = F 48; Schol. Soph. Oed. Col. 498 = F 49; vielleicht Hesych. s. v. δευτερόποτμος = F 50; Hesych. s. v. Βίῃφι = F 51; Hesych. s. v. Εφωδίων = F 52. 65 Laut FGrH 241 Kommentar 705 muss Eratosthenes sich wohl 20 Jahre in Athen aufgehalten haben. Vgl. allg. Geus 2002. 66 Athen. 13,602e = F 53. 67 Athen. 9,387f = F 54; Schol. vet. Pind. Nem. 5,89 = F 55. 68 Schol Eurip. Orest. 1635 = F ./. (= Tresp 97) 69 Zenob. 5,13 = F 73; Athen. 3,109a = F 74; Athen. 11,462b = F 75 70 Athen. 15,696f = F 76 71 Athen. 7,346b = F 70; Clem. Alex. Protr. 2,38,4 = F 71; Clem. Alex. Protr. 2,39,3 = F 72. 72 Athen. 9,409 = F 77; Athen. 6,234d = F 78.

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Inschriften enthielt. Weiter zu nennen wären „Über Epigramme in verschiedenen Städten“,73 „Über das Wort Katathron bei Xenophon“74 (ein Titel, der aber nur den Ausgangspunkt einer Untersuchung bildet, die sich auch lakonischen Altertümern widmet 75), „Über Mirabilia sizilischer Flüsse“,76 ein letztlich auch eher etymologisch als paradoxographisch angegangenes Thema, „Über Wunder“,77 „Über den Kodion des Zeus“78 und schließlich „Über Brot“.79 Die bloße Aufzählung dieser Werke, zu denen dann noch mehrere unsichere Fragmente zählen,80 verrät bereits die weitgespannten Interessen Polemons, die sich freilich im Gegensatz zu denen anderer Gelehrter wie Xenophon oder Plutarch auf den spezialwissenschaftlichen Rahmen des zeitgenössischen Antiquarianismus beschränken und sicherlich eine enorme Allgemeinbildung verraten, diese aber fast ausschließlich in den Dienst periegetischer Altertumsliebhaberei stellen und weder philosophisch noch historisch oder gar zeitpolitisch transzendieren.

4. Rekurrierende Motive Was nun – jenseits der Streuung der Werktitel – den inhaltlichen Akzent der Fragmente betrifft und ihren Bezug auf Fragen hellenischer Identitätsbestimmung, entsteht ein ähnlich heterogenes Bild mit interessanten Schwerpunkten, deren Bündelung freilich auch nur dem Zufall der Fragmenterhaltung zugeschrieben werden könnte, wobei v. a. in Betracht zu ziehen ist, dass die 73 Athen. 10,436d = F 79; Athen. 10,442e = F 80. Hierzu laut Deichgräber 1952, 1314 auch Athen. 1,19c = F 25. 74 Athen. 4,138e-139c = F 86 75 Hesych. s. v. Διὸς κω̣διον = F 87. 76 Schol. Eurip. Med. 827 = F 81; Athen. 7,307b = F 82; Macr. Sat. 5,19,20ff = F 83. 77 Athen, 12,552b = F 84 78 Athen. 11,478c = F 88. 79 Athen. 3,108f = F 89. 80 Schol. Pind. Ol. 7,53(95) = F 90; Epith. Athen. 2,55e = F 91; Epit. Athen. 2,70c = F 92 (unglaubwürdig); Hesych. s. v. Ηλύσιον = F 93; Hesych. s. v. προσωποῦττα = F 94; Hesych. s. v. συσπαστόν = F 95; Hesych. s. v. Σκυδικαί = F 96 (zur Glaubwürdigkeit vgl. Deichgräber 1952, 1318); Hesych. s. v. ἡδύπνουν = F 97; Suda s. v. ἵππος Νισαῖος = F 98; Ammon. De diff. verb. s. v. χλαμὺς = F 99; Zenob. 4,21 = F 100 (vielleicht zu den Bildern Sikyons gehörend); Lyd. Mens. 274b = F 101.

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Mehrheit der Fragmente Polemons aus dem Werk des Athenaios stammt und somit im Wesentlichen durch die Brechung der Interessensgebiete des Letzteren zu sehen ist.81 So ist zum einen offenbar, dass Polemons ausschließliches Interesse den griechisch besiedelten Teilen der Oikoumene galt. Großgriechenland und Kleinasien sind die selbstgesetzten Grenzen seines Horizontes; der Norden, Rom, Asien, Indien oder selbst Ägypten, wo Polemon doch vielleicht studierte, werden offensichtlich nicht erwähnt – ein typisches Charakteristikum einer Zeit, in der das Fremde so allgegenwärtig und das Griechische so universal geworden ist, dass griechische Sitten und Gebräuche nicht mehr im Gegensatz zum Barbarischen gefasst, sondern zum eigenen ethnographischen Studienobjekt erhoben wurden.82 Ein weiteres Merkmal von Polemons Arbeiten ist das Interesse für das rein Private, Intime; auch dies ein typisches Zeichen für die Identitätsverschiebung seiner Zeit, welche angesichts des Aufschwungs der hellenistischen Monarchien und der allmählichen Oligarchisierung selbst weiterhin nominell demokratischer Verfassungen den Rückzug des Denkers ins Privatleben empfahl oder doch zumindest die absolute Autonomie des Weisen festschrieb.83 Gerade angesichts von Polemons Anekdotenfreudigkeit und des systematischen Vermeidens politischer oder philosophischer Fragestellungen ist die Frage legitim, inwieweit nicht bereits er selbst, der in seiner Verbindung zwischen Wissenschaftlichkeit und Spiel ganz zu Recht mit Kallimachos verglichen wurde, den „Ernst des Gelehrten als Maske des εἴρων“ benutzt,84 also gewissermaßen bereits vor Pseudo-Plutarch die eigene Gelehrsamkeit kritisch hinterfragt haben könnte. In diesem Rahmen ist denn auch seine Kunstbetrachtung zu sehen. Die neue hellenistische Kunsttheorie 85 sah im Gegensatz zur klassischen auch in der Darstellung des Hässlichen oder Obszönen die Möglichkeit zur Schaffung ästhetischer Kunst. Polemon nun suggeriert Ähnliches, wenn er die Gemälde

81 Hierzu Lenfant 2007; Bollansée 2008. 82 Zu diesem Spannfeld vgl. immer noch Momigliano 1975. 83 Allg. zur Bedeutung des Privatlebens in hellenistischer Zeit vgl. etwa Messina 1956; Erskine 1990; Laks – Schofield 1995; Scholz 1998; Thompson 2006. 84 Deichgräber 1952, 1319. 85 Havelock 1968; Fowler 1989; Burn 2005.

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der Maler Aristeides, Pausias und Nikophanes 86 zwar als pornographisch beschreibt, aber ihre Maler nichtsdestoweniger als Meister ihres Faches lobt, wobei es sich hier aber freilich nicht um eine explizite Wertschätzung des Hässlichen an sich handelt und das Lob der Pornographie in Anbetracht der Darstellung solcher Motive in der symposialen Kunst seit der Archaik keineswegs ein Vorrecht des 3. oder 2. Jh. war: Οὐκ ἂν ἁμάρτοι δέ τίς σε καὶ πορνογράφον καλῶν, ὡς ᾿Αριστείδην καὶ Παυσίαν ἔτι τε Νικοφάνη τοὺς ζωγράφους. Μνημονεύει δὲ αὐτῶν ὡς ταῦτα καλῶς γραφόντων Πολέμων ἐν τῷ περὶ τῶν ἐν Σικυῶνι Πινάκων.87 In anderen Fragmenten dringt dann seine Wertschätzung illusionistischer Aspekte in der Malerei 88 durch, wenn er bei der Beschreibung eines Bildes des Hippys 89 besonders hervorhebt, dass eine dort befindliche Lampe die dargestellten Objekte aus verschiedenen Dochten zu beleuchten scheine: Πολέμων δ´ ἐν τοῖς πρὸς Ἀντίγονον περὶ Ζωγράφων φησίν· ’Ἀθήνησιν ἐν τῷ τοῦ Πειρίθου γάμῳ πεποίηκεν Ἵππυς τὴν μὲν οἰνοχόην καὶ τὸ κύπελλον λίθινα, χρυσῷ τὰ χείλη περιτεραμνίσας, τὰς δὲ κλισίας ἐλατίνας χαμᾶζε ποικίλοις στρώμασι κεκοσμημένας, ἐκπώματα δὲ κεραμέους κανθάρους, καὶ τὸν λύχνον ὁμοίως τὸν ἐκ τῆς ὀροφῆς ἐξηρτημένον, ἀνακεχυμένας ἔχοντα τὰς φλόγας.’90 86 Zu den auch ansonsten recht gut bekannten Malern vgl. mit Lit. G. Bröker, s. v. Aristeides II, in: R. Vollkommer (Hg.), Künstlerlexikon der Antike, München/Leipzig 2001, 82f.; zu Pausias s. I. Scheibler, s. v. Pausias, ibid. 635f.; L. Lehmann, s. v. Nikophanes, ibid. 577f. Spezifisch pornographische Sujets sind allerdings in den Quellen nicht explizit belegt. 87 Athen. 13,567b = F 16: „Es würde nicht irren, wer solche wie Aristeides, Pausias und Nikophanos, die Maler, als Pornographen bezeichnen würde. Polemon merkt in seinem Werk über die Bilder Sikyons an, daß diese solches sehr gut zu malen verstanden.“ 88 Literatur in Winkers 1973. 89 Hierzu Giangiulio 1997. S. auch R. Vollkommer, s. v. Hippeus, in: id. (Hg.), Künstler­ lexikon der Antike, München/Leipzig 2001, 320 mit Lit. 90 Athen. 11,474d-e = F 63: „Polemon aber, in seinem an Antigonos gerichteten Werk über die Maler, sagt: ‘Für die Hochzeit des Peirithos in Athen fertigte Hippys das Weingefäß und einen Kypellon aus Stein an, dessen Rand er aus Gold machte. Die Betten aber machte er aus Tanne, ohne Füße, und schmückte sie mit Teppichen verschiedenen

Antiquarische Periegese und hellenistische Identitätssuche

Ähnliches gilt für Polemons in der Forschung oft unterstrichene Faszination für Hetären,91 welche in verschiedensten Werken mit unübersehbarer Sachkenntnis erwähnt werden, die sicherlich an die neue zeitgenössische Gattung der Hetärenkataloge 92 anknüpft. Freilich ist erneut zu betonen, dass die Provenienz aller diesbezüglichen Fragmente Polemons aus dem Werk des Athenaios zu bedenken gibt, dass das scheinbare Interesse Polemons für diese Fragen auch lediglich der perspektivischen Lektüre Athenaios’ zu verdanken sein könnte. So denke man etwa an seine Ausführungen über den Widerspruch zwischen dem bei Hypereides belegten Hetärennamen Nemeas und dem athenischen Verbot, einer Hetäre oder Sklavin den Namen eines penteterischen Festes zu geben.93 Ähnlich erwähnt Polemon in seiner Schrift über Sikyon die Hetäre Lamia, Geliebte des Demetrios Poliorketes,94 der zu Ehren die Sikyonier einen Tempel der Aphrodite Lamia errichteten,95 ferner die Hetäre Lais,96 über die

Musters. Die Trinkbehälter nun waren Kantharen. Und vom oberen Geschoß hing eine Lampe, deren Licht von verschiedenen Dochten strahlte.“ 91 Vgl. hierzu Deichgräber 1952; Pasquali 1913, 179 Anm. 1. Allg. zum hellenistischen Hetärentum vgl. Faraone – McClure 2006; Schuller 2008. 92 Vgl. Athen. 13,578a und 581d. 93 Athen. 13, 587 = F 3: Καὶ Νεμεάδος δὲ τῆς αὐλητρίδος Ὑπερείδης μνημονεύει έν τῷ κατὰ Πατροκλέους. Περὶ ἧς ἄξιον θαυμάζειν πῶς περιεῖδον ᾽ΑΘ ηναῖοι οὕτως προσαγορευομένην τὴν πόρνην, πανηγύρεως ένδοξοτάτης ὀνόματι κεχρημένην· ἐκεκώλυτο γὰρ τὰ τοιαῦτα τίθεσθαι ὀνόματα οὐ μόνον ταῖς ἑταιρούσαις, ἀλλὰ καὶ ταῖς ἄλλαις δούλαις, ὥς φησι Πολέμων έν τοῖς περὶ Ἀκροπόλεως. „Und der Flötenspielerin Nemeas gedachte Hypereides in seiner Rede gegen Patrokles. Man könnte sich darüber wundern, daß die Athener nicht reagierten, daß eine Prostituierte den Namen eines religiösen Festes annahm. Denn es war sowohl den Hetären als auch den Sklaven verboten, solche Namen zu tragen, wie Polemon in seinem Werk über die Akropolis sagt.“ 94 Vgl. zu der aus Plut. Dem. wohlbekannten Lamia jetzt Wheatley 2003. 95 Athen. 13,577c = F 14: Δημήτριος δ› ὁ Πολιορκητὴς οὐ δαιμονίως ἤρα Λαμίας τῆς αὐλητρίδος, ἐξ ἧς ἔσχε καὶ θυγατέρα Φίλαν; τὴν δὲ Λάμιαν Πολέμων φήσι ἐν τῷ περὶ τῆς ἐν Σικυῶνι Ποικίλης Στοᾶς θυγατέρα μὲν εἶναι Κλεάνδρος ᾿Αθηναίου, κατασκευάσαι δὲ Σικυωνίοις τὴν προκειμένην στοάν. „Demetrios Poliorketes war der Flötenspielerin Lamia verfallen, mit der er eine Tochter hatte, Phila. Polemon sagt in seinem Werk über die Bemalte Stoa von Sikyon, daß Lamia, welche die Tochter des Kleanor von Athen war, den Sikyoniern die Bemalte Stoa bauen ließ.“ Vgl. auch Athen. 6,253b = F 15. 96 Zu ihr Ypsilanti 2006.

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Polemon sich in seiner Schrift gegen Timaios äußerte,97 oder schließlich die Hetäre Kottina, welche in Lakedaimon ein ehernes Kalb weihte: ᾿Εν δὲ Λακεδαίμονι, ὥς φησι Πολέμων ὁ περιηγητὴς ἐν τῷ περὶ τῶν ἐν Λακεδαίμονι ᾿Αναθημάτων, εἰκών ἐστι τῆς διαβοήτου ἑταίρας Κοττίνας, ἥν φησι καὶ βοῦν ἀναθεῖναι χαλκῆν, γράφων οὕτως. «Καὶ τὸ Κοττίνας δὲ τῆς ἑταίρας εἰκόνιον, ἧς διὰ τὴν ἐπιφάνειαν οἴκημά τι λέγεται καὶ νῦν ἐγγυτάτω τῆς Κολώνης. ῞Ινα τὸ Διονύσιόν ἐστι, ἐπιφανὲς καὶ πολλοῖς ἐγνωσμένου τῶν ἐν τῇ πόλει. ᾿Ανάθημα δ' αὐτῆς ἐστιν ὑπὲρ τὸ τῆς Χαλκιοίκου βοίδιόν τι χαλκοῦν καὶ τὸ προειρημένον εἰκόνιον.’98 Diesem eher skandalinteressierten Umkreis zuzurechnen, gleichzeitig aber auch äußerst bezeichnend für die große Materialvielfalt von Polemons Untersuchungen und den wohl nur oberflächlichen Wunsch zur inhaltlichen Ordnung des Materials, ist wohl auch die aus dem Polemon zugeschriebenen Helladikos stammende Beschreibung des Standbilds eines Knaben, das sich im delphischen Schatzhaus der Aigineten befand. Ein Pilger habe sich so sehr in die Statue verliebt,99 dass er sich einschließen ließ und danach Apollon – gewissermaßen

97 Athen. 13,588c und 589a = F 44 : Λαίδος τε τῆς ἐξ Ὑκκάρων πόλις δ᾽ αὕτη Σικελική, ἀφ᾽ ἧς αἰχμάλωτος γενομένη ἧκεν εἰς Κόρινθον, ὡς ἱστορεῖ Πολέμων ἐν τῷ ἕκτῳ τῶν πρὸς Τίμαιον ἧς καὶ Ἀρίστιππος ἤρα καὶ Δημοσθένης ὁ ῥήτωρ Διογένης τε ὁ κύων ᾗ καὶ Ἀφροδίτη ἡ ἐν Κορίνθῳ ἡ Μελαινὶς καλουμένη νυκτὸς ἐπιφαινομένη ἐμήνυεν ἐραστῶν ἔφοδον πολυταλάντων οὐχ Ὑπερείδης μνημονεύει ἐν τῷ κατὰ Ἀρισταγόρας δευτέρῳ. „Lais nun stammte aus Hykkara, einer Stadt Siziliens, von wo sie entführt und nach Korinth gebracht wurde, wie es Polemon in seinem Werk bezüglich Timaios berichtet, und es liebten sie Aristippos, Demosthenes und Diogenes der Kyniker; und Aphrodite von Korinth, Melainis genannt, erschien ihr Nachts im Traum und kündete ihr, daß sie bedeutende Liebhaber haben würde. Hypereides spricht von ihr in der zweiten Rede gegen Aristagoras.“ 98 Athen. 13,574c = F 18 „In Lakedaimon, wie Polemon der Perieget in seinem Werk über die Opfergaben der Lakedaimonier berichtet, ist ein Bild der berühmten Kurtisane ­Kottina, welche, wie er sagt, auch eine bronzene Kuh stiftete, solchermaßen schreibend: ‚Und es existiert ein kleines Bild der Hetäre Kottina, von der gesagt wird, daß ihr Haus auch jetzt noch gezeigt wird, in der Nähe von Kolone. Es ist neben einem Dionysion, berühmt und vielen in der Stadt bekannt, denn als Weihgabe befinden sich über einer Statue der Athene eine kleine bronzene Kuh sowie das erwähnte Bild.“ 99 Vgl. allg. zur Thematik Cantarella 1992; Reinsberg 1989; Hubbard 2003.

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als des Knaben Zuhälter – einen Kranz stiftete, was das Orakel zum Erstaunen der über die agalmatophile Freveltat 100 überraschten Delpher als durchaus angemessene Bezahlung akzeptierte: Πολέμων δὲ ἢ ὁ ποιήσας τὀν ἐπιγραφόμενον ῾Ελλαδικὸν ’Ἐν Δελφοῖς, φησίν, ἐν τῷ Σπινατῶν θησαυρῷ παίδές εἰσιν λίθινοι δύο, ὧν τοῦ ἑτέρου Δελφοί φασι τῶν θεωρῶν ἐπιθυμήσαντά τινα συγκατακλεισθῆναι καὶ τῆς ὁμιλίας μισθὸν καταλιπεῖν στέφανον. φωραθέντος δ’ αὐτοῦ τὸν θεὸν χρωμένοις τοῖς Δελφοῖς συντάξαι ἀφεῖναι τὸν ἄνθρωπον· δεδωκέναι γὰρ αὐτὸν μισθόν.’101 Schließlich ist noch die unweigerliche Faszination Polemons für das Wunderbare zu nennen, ein Hang zur Paradoxographie und zu Mirabilien,102 welche sich übrigens nicht auf die Aufzählung richtiggehender Wunder beschränkt, sondern den Leser systematisch zunächst durch die Beschreibung unerklärlicher oder auch scheinbar abstruser Sitten, Kulte und Bräuche fesselt und unterhält, dann aber durch die antiquarische oder etymologische Aufklärung unterrichtet und in seinem rationalen Weltbild erneut befestigt – auch dies ein literarischer Kunstgriff, der zwar nicht erst im 3. Jh. erfunden wurde, sondern etwa bereits im Geschichtswerk Herodots bemerkenswert präsent ist, nichtsdestoweniger aber im Hellenismus seine Hochblüte erfahren sollte, denkt man etwa an ­Kallimachos „Ungeordnete Glossen“ zu ungebräuchlichen Wörtern der archaischen Dichtung. Wohl die gesamte Schrift über die Mirabilien sizilischer Flüsse und Quellen 103 dürfte man somit weniger als Wunderkompilation denn vielmehr als gelehrte etymologische und aitiologische Untersuchung begreifen,

100 Hierzu etwa Scobie – Taylor 1975; Gourevitch 1982; Gourevitch – Gourevitch 1981. 101 Athen. 13,606a = F 28: „Polemon aber, oder der Autor der Schrift über Hellas, sagte: ‚In Delphi, im Schatzhaus der Spinaten, befinden sich zwei Knaben aus Stein, dessen einer den Delphern zufolge von einem Pilger so begehrt wurde, daß er sich ins Schatzhaus einschloß und anschließend als Bezahlung einen Kranz weihte. Die davon informierten Delpher befragten aber den Gott, der ihnen befahl, den Mann ziehen zu lassen, er habe nämlich die Gebühr entrichtet.‘ “ 102 Vgl. allg. hierzu Ziegler 1949; Jacob 1983 (zu Antigonos von Karystos); Sassi 1993; G ­ arcía Teijeiro – Molinos Tejada 1994; Schepens – Delcroix 1996; Wenskus – Daston 2000 und die Anmerkungen in Giannini 1966. 103 Allg. Callebat 1988.

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wie die erhaltenen Fragmente suggerieren. Doch finden sich bei Polemon durchaus auch wirkliche Wundergeschichten, so in einem Fragment über diverse Götterstatuen, welche angebunden wurden, damit sie den Platz nicht verließen,104 über das goldene Buch der erythreischen Dichterin Aristomache im Schatzhaus der Sikyonier in Delphi 105 oder ähnlich, – seltsamerweise in der Schrift gegen die Kunstschriftsteller Adaios und Antigonos – ein Exkurs über das Porphyrion (Wasserhuhn), das betrogenen Ehemännern die Untreue ihrer Gattin dadurch anzeige, dass es sich selbst erhänge (ein Huhn, das übrigens auch bereits bei Kallimachos beschrieben wurde 106): Πολέμων δ´ ἐν πέμπτῳ τῶν πρὸς Ἀντίγονον καὶ Ἀδαῖον πορφυρίωνά φησι τὸν ὄρνιν διαιτώμενον κατὰ τὰς οἰκίας τὰς ὑπάνδρους τῶν γυναικῶν τηρεῖν πικρῶς καὶ τοιαύτην ἔχειν αἴσθησιν ἐπὶ τῆς μοιχευομένης, ὥσθ´ ὅταν τοῦθ´ ὑπονοήσῃ προσημαίνει τῷ δεσπότῃ, ἀγχόνῃ τὸ ζῆν περιγράψας. Οὐ πρότερόν τε, φησίν, τροφῆς μεταλαμβάνει, εἰ μὴ περιπατήσει τόπον τινὰ ἐξευρὼν ἑαυτῷ ἐπιτήδειον· μεθ´ ὃ κονισάμενος λούεται, εἶτα τρέφεται.107 Für die hellenistische Zeit typisch, wenn auch durchaus bereits bei klassischen Autoren wie Herodot präsent, ist schließlich auch die Neugierde für technische

104 Schol. Pind. Ol. 7,53(95) = F 90 – ein wohlbekannter Topos antiker Religiosität; Lit. und Beispiele (aus dem römischen Bereich) bei Engels 2007. 105 Plut. Quaest. Conv. 5,675c = F 27. 106 Athen. 9,388d-e: Καλλίμαχος δ’ ἐν τῷ περὶ ὀρνίθων διεστάναι φησὶ πορφυρίωνα πορφυρίδος, ἰδίᾳ ἑκάτερον καταριθμούμενος· τὴν τροφήν τε λαμβάνειν τὸν πορφυρίωνα ἐν σκότῳ καταδυόμενον, ἵνα μή τις αὐτὸν θεάσηται. Ἐχθραίνει γὰρ τοὺς προσιόντας αὐτοῦ τῇ τροφῇ. „Kallimachos sagt in seinem Werk über die Vögel, daß das Porphyrion sich von der Porphyris unterscheide, und zählt es daher separat von dieser auf. Ihm zufolge nimmt das Porphyrion seine Nahrung in der Dunkelheit auf, aus Angst, daß man es beobachte: Es zürnt jenen, die sich seiner Nahrung nähern.“ 107 Athen. 9, 388c = F 59: „Polemon aber, im fünften Buch des an Antigonos und Adaios gerichteten Werks, sagt, daß das Porphyrion als im Haus lebender Vogel die Ehefrauen streng bewache und solchermaßen die Ehebrecherinnen erspüre, daß es, wenn es solche bemerke, den Hausherrn warnt, indem es sich das Leben durch Erhängen nimmt. ­Polemon fügt hinzu, daß der Vogel keine Nahrung zu sich nimmt, bevor er nicht umhergegangen ist und einen genehmen Ort gefunden habe, wonach er sich im Staub rollt, sich badet und dann ißt.“

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Spielereien oder Kuriosa,108 die sich hier und da bei Polemon niederschlägt, etwa in der Beschreibung zweier eherner Weihsäulen in Dodona, von der die eine mit einem Becken gekrönt war, die andere mit dem Standbild eines Knaben, der eine Peitsche trug, die im Winde flatterte und regelmäßig gegen das Becken schlug: ἔστι καὶ Δωδωναῖον χαλκίον παροιμία ἐπί τῶν πολλὰ λαλοὺντων, ὡς μὲν ὁ Δήμων φησίν‚ ἀπὸ τοῦ τὸν ναὸν τοῦ Δωδωναίου Δὶς τοίχους μὴ ἔχοντα, ἀλλὰ τρίποδας πολλοὺς ἀλλἡλων πλησίον, ὥστε τὸν ἐνὸς ἁπτόμενον παραπέμπειν διὰ τῆς ψαύσες τὴν ἐπήχησιν ἑκάστω̣, καὶ διαμένειν τοὺ ἦχον ἄχρις ἄν τις τοῦ ἑνὸς ἐφαψηται’. ἡ παροιμία δὲ οὔ φησιν εἰ μὴ χαλκίον ἕι, ἀλλ’ οὐ λέβητας ἢ τρίποδας πολλούς. προσθετέον οὗν τῶ̣ περιηγητῆ̣ Πολέμωνι ἀκριβῶς τὴν Δωδώνην ἐπισταμένω̣.109

5. Umfeld Nachdem nun unser spärliches Wissen zu Person und Werk zusammengetragen wurde, soll im Folgenden in aller Kürze versucht werden, den politischen und philosophischen Kontext zu umschreiben, in den Polemon einzuordnen ist. Es wäre allzu vereinfachend und sicherlich völlig seinem eigenen, Oikoumene-­ weiten Begriff griechischer Kultur widersetzlich, Polemon von Ilion allein als Exponenten einer einzigen geographischen Region oder gar Dynastie zu sehen. Nichtsdestoweniger ist es interessant festzustellen, dass einige Indizien nahe­legen, Polemon, trotz des zu vermutenden Aufenthalts in Alexandreia und Athen und der umfassenden Reisetätigkeit, dem Umfeld des pergamenischen Königreichs zuzuordnen, dem Polemon wohl schon durch seinen Geburtsort Ilion insoweit nahestand, als Pergamon größtes lokales Machtzentrum war. Selbst persön­ liche Beziehungen zum pergamenischen Königshaus sind nicht auszuschließen, da generell vermutet wird, dass der von Athenaios erwähnte Brief Polemons an Attalos, in welchem der Perieget u. a. von einem in Elis verehrten Apollon

108 Hierzu allg. Drachmann 1963; Barnes – Brunschwig – Burnyeat 1982; White 1993. 109 Steph. Byz. s. v.. Δωδώνη = F 30 (anders bei Strab. 7,329): „Dodonisches Erz ist ein Sprichwort über solche, die viel sprechen“.

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Opsophagos sprach,110 sich an ein Mitglied der königlichen Familie richtete, vielleicht sogar, abhängig von der Datierung der Geburt ­Polemons, Attalos I. (241 – 197) oder Attalos II. (159 – 138),111 da Athenaios, durch den der Brief überliefert ist, den Empfänger sicherlich präziser beschrieben hätte, wenn es sich nicht um einen der Attaliden gehandelt hätte. Auf Pergamon verweist dann auch die bereits erwähnte, von Polemon entfesselte Polemik mit ­Antigonos von Karystos:112 Dieser war Bildhauer am Hof Attalos’ I. und betätigte sich ebenfalls als Kunstschrift­steller und, wie generell angenommen wird, auch als Autor von Philosophenviten. Polemon widmete der Debatte mit Antigonos sechs Bücher,113 doch bezieht sich leider keines der erhaltenen Fragmente auf die Gründe seiner Polemik.114 Ganz ähnlich vor einem pergamenischen Hintergrund zu begreifen sein könnte auch die Streitschrift, die Polemon gegen Neanthes von Kyzikos verfasste, der als Autor einer Biographiensammlung 115 wie auch einer Abhandlung über Initiationsriten bekannt ist, welche beide von Polemon als unverlässlich abqualifiziert wurden.116 Falls dieser Neanthes mit dem gleichnamigen Autor identisch ist, der wohl in Pergamon wirkte, da er eine mehrbändige Geschichte der Herrschaft Attalos’ I. verfasste 117 und seine Geburtsstadt Kyzikos mit Apollonis,

110 Athen. 8,346b = F 70: Πρὸς τούτοις τοῖς ὀψοφάγοις, ἄνδρες ἑταῖροι, οἶδα καὶ τὸν παρ´ Ἠλείοις τιμώμενον Ὀψοφάγον Ἀπόλλωνα. Μνημονεύει δὲ αὐτοῦ Πολέμων ἐν τῇ πρὸς Ἄτταλον ἐπιστολῇ. „Neben all diesen Opsophagen, anderen Leuten, kenne ich auch den in Elis als Opsophagos verehrten Apollon. Es erwähnt ihn Polemon in seinem Brief an Attalos.“ 111 Attalos I: Müller, FHG III, 135; Susemihl 1891, 667 (unter Berufung auf die Tatsache, dass der Autor präzisiert hätte, wenn Attalos II. gemeint wäre); Attalos II.: Wegener 204; Hansen 1947, 363; Deichgräber 1952, 1291. 112 Zum Bildhauer und Erzbildner Antigonos von Karystos (Plin. Nat. 34,84; 35,68; Diog. Laert. 7,188; Zenob. 5,82) – wahrscheinlich identisch mit dem Paradoxographen und Philosophiehistoriker (Suet. vir. ill. 287, 33 – 34 (Roth); Athen. 3,88a; 297e, 303b) – vgl. allg. immer noch Wilamowitz-Moellendorff 1881; vgl. auch Nebert 1895; Dorandi 1994; Dorandi 1999. 113 Athen. 9, 410c = F 62. 114 Eine umstrittene Rekonstruktion der Argumente bei Wilamowitz-Moellendorff 1881; hierzu dann Dorandi 2000. 115 Steph. Byz. s. v. Κράστος. 116 Athen. 13,602e. 117 Athen. 15,699d = FGrH 84 F 9.

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der Gemahlin des Königs, teilte,118 würde dies den Interessen Polemons eine pergamenische Konnotation geben; nichtsdestoweniger ist diese Identifizierung kürzlich überzeugend in Frage gestellt worden,119 so dass hier Vorsicht geboten ist. Die freilich nur durch unseren äußerst ungleichgewichtigen Quellen­ befund suggerierte und daher möglicherweise überbewertete biographische Nähe zu Pergamon könnte insoweit ein interessantes Indiz für Polemons Geisteshaltung sein, als hier wie wohl nirgends sonst in diesem Maße in der hellenistischen Welt versucht wurde, lokale und gesamtgriechische Identität miteinander in Einklang zu bringen. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle auf die mehr als schwierige und in der Forschung immer noch umstrittene Genese des pergamenischen Königtums einzugehen, die sich wesentlich in der schwierigen und von immerwährenden Rückschlägen begleiteten Ab­lösung vom übermächtigen Seleukidenreich vollzog. Immerhin aber ist festzuhalten, dass Pergamon sich im Gegensatz zu den großen Monarchien in einem permanenten Identitäts- und Legitimationsdefizit befand:120 Während das Antigonidenreich direkter Nachfolger des altetablierten makedonischen Volksstaates war, das Ptolemaierreich sich kulturell und propagandistisch immer mehr mit dem pharaonischen Erbe identifizierte und die S­ eleukiden sich bewusst übernational gerierten und von Anbeginn an persische, babylonische und makedonische Vorstellungen verschmolzen bzw. in Personalunion wahrnahmen,121 hatte weder die eher obskure Abstammung der Attaliden noch die Bedeutung der bis dahin recht unbedeutenden Stadt Pergamon das ideologische Potential, als Basis zur Schaffung regionaler Identität fungieren zu können. Dieses Defizit sollte daher von den Attaliden zu einer Stärke umgewandelt werden, als diese sich im Gegensatz zu den anderen großen Monarchien bewusst als Vertreter der Idee eines überregionalen Griechentums zu präsentieren trachteten,122 und dies nicht nur durch die üblichen reichen Baustiftungen in Athen und Delphi zu realisieren suchten, sondern

118 Vgl. van Looy 1976. 119 Zu Neanthes von Kyzikos vgl. jetzt Schorn 2007. 120 Zu Herrschaftspropaganda und -konstruktion der Attaliden vgl. Virgilio 1993; Kosmetatou 1993. 121 Hierzu immer noch Sherwin-White – Kuhrt 1993; Engels 2011 und 2013. 122 Pergamon und das Griechentum: Sonnabend 1992; Étienne 2003; Whitaker 2005; ­Massa-Pairault 2007.

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auch in Pergamon selbst optisch zur Schau stellen wollten.123 Der Kampf gegen die Galater etwa wurde somit durch Kunstwerke wie die verschie­denen Galatergruppen des Attalos I. und v. a. den Pergamonaltar des Eumenes II. zur Fortsetzung der quasi-metaphysischen Auseinandersetzung zwischen den Kräften des Hellenen- und des Barbarentums, zwischen den Prinzipien olympischer Ordnung und titanischen Chaos stilisiert; der Überlebenskampf mit den Seleukiden wurde in der Zeit Antiochos’ III. zum Vorkampf für die Freiheit der griechischen Städte Kleinasiens umgewidmet; und die schwerlich mit kommunaler Autonomie zu vereinbarende Alleinherrschaft der Attaliden sollte durch größtmöglichen Verzicht auf monarchische Osten­ tation, betont bürgerliches Auftreten und formale Unabhängigkeit der Stadt Pergamon vergessen gemacht werden. Es ist daher nicht erstaunlich, dass die Attaliden auch durch die Gründung einer eigenen Bibliothek 124 und die Berufung des Stoikers Krates von Mallos 125 durch Eumenes II. (197 – 185) als Mäzene griechischer Schriftkultur aufzutreten suchten, und in dieser Hinsicht dürfte das zeitgleiche panhellenische periegetisch-antiquarische Programm des Polemon auf das günstigste in die generelle Bildungspolitik der Attaliden gepasst bzw. diese ihrerseits gefördert und inspiriert haben, umso mehr als es wesentlich apolitisch und retrospektiv war und somit bestens geeignet schien, einen Zeitgeist zu verstärken, in welchem Pergamon, das durchaus auch daran interessiert war, in Kontinentalgriechenland Fuß zu fassen,126 als Retter eines idealen und traditionalistischen Griechentums gegen barbarische Bedrohung erscheinen und seine vielen Griechen verhasste Anlehnung an Rom vergessen machen konnte. Diese in Pergamon entstandene, bewusst panhellenisch orientierte Kulturblüte ist aber nur dann ganz zu verstehen, wenn sie vor dem Hintergrund der wohl wichtigsten zeitgenössischen Geistesströmung gesehen wird: dem Stoizismus, dem Polemon durch das Studium bei Panaitios und seine Würdigung durch den Kratesschüler Herodikos von Babylon nahegestanden haben könnte. Doch auch hier ist die Bezugnahme auf unser spärliches Wissen von Polemons Biographie nicht ungefährlich und muss provisorisch 123 Vgl. Schalles 1985. 124 Zur Bibliothek von Pergamon vgl. Mielsch 1995; Wolter-von dem Knesebeck 1995; F ­ erruti 1999/2000; Schalles 2004. 125 Zu Krates von Mallos vgl. Ax 1991; Buonajuto 1996. 126 Etwa im Jahr 186/5: Pol. 22,7 – 8. Vgl. McShane 1964.

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bleiben, bevor eine systematische Sichtung und Kommentierung der Fragmente vielleicht weitere Erkenntnisse gebracht hat: Denn tatsächlich wird Polemon aufgrund des erwähnten angeblichen Studiums bei Panaitios in vielen Handbüchern dem Stoizismus zugerechnet und oft sogar selbst als „stoischer Philosoph“ apostrophiert. Dass eine solche Schulzuschreibung zwar nicht unmöglich ist, doch auf einer äußerst unsicheren Basis beruht, wurde bereits ausgeführt. Auch, dass Herodikos von Babylon, Schüler des in Pergamon ansässigen stoischen Philosophen Kratos von Mallos,127 sich, wie bereits erwähnt, ironisch über Polemons Inschriftenliebhaberei äußerte,128 impliziert keineswegs unbedingt Polemons stoische Schulzugehörigkeit, wenn auch Herodikos scheinbar mit Vorliebe gegen philosophische Gegner polemisierte.129 Nichtsdestoweniger legt die Tatsache, dass diese und ähn­ liche Anspielungen meist immer in Richtung des Stoizismus, nie aber anderer Schulen konvergieren, nahe, dass Polemon wenigstens in der breiteren geistigen Atmosphäre des Stoizismus verortet werden könnte, den er, wenn auch spezifisch philosophische Überlegungen in seinem Werk vergebens gesucht werden,130 angesichts seiner Bildung sicherlich gekannt haben muss. Bedenkt man zudem die oben hervorgehobene Nähe zu P ­ ergamon, erstaunt auch die Verbindung zu Krates von Mallos und seiner Schule nicht, hatte dieser doch nicht nur die Bibliothek von Pergamon eingerichtet, die den im ägäischen Raum aktiven Polemon schon logistisch besonders interessieren musste, sondern auch ein ganz besonderes Interesse für Geographie gezeigt, indem er um 150 den ersten Globus baute, die Existenz von vier Kontinenten postulierte und die Erde in fünf Klimazonen gliederte, von denen die Polarregionen zu kalt und die Äquatorzone zu heiß für einen ständigen Aufenthalt seien, so dass nur die zwei gemäßigten Zonen bewohnbar ­seien.131 Wenn daher auch die Verbindung mit Panaitios, Herodikos und Krates zu unsicher ist, Polemon mit Sicherheit für die Stoa zu vereinnahmen, da zudem keines seiner Fragmente nahelegt, dass er sich sonderlich für philosophische Frage interessiert habe – denn sicherlich war die Neugierde für Mirabilia und die Neigung zur Paradoxographie kein stoisches Vorrecht –, 127 Düring 1941; vgl. auch Hansen 1947, 380 – 382. 128 Athen. 6,234d. 129 Vgl. Düring 1941. 130 So auch Deichgräber 1952, 1318. 131 Strab. 1,2,24; 2,5,10; Fragmente bei Broggiato 2001. Vgl. auch Hansen 1947, 371 – 381.

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so erklärt die Assoziation mit dem Stoizismus doch immerhin einiges über Polemons Geisteshaltung und darf daher nicht außer Acht gelassen werden. Während Platon die Utopie des Idealstaates wie selbstverständlich in lako­ nischer Kleinstaaterei zu verwirklichen suchte,132 der Epitaphios des ­Menexenos selbst im militärischen Bereich eine prinzipielle Unterscheidung zwischen der Behandlung von Hellenen und Barbaren vorschrieb,133 Aristoteles erklärt hatte, Barbaren seien von Natur aus zur Sklaverei bestimmt, und Isokrates den panhellenischen Rachefeldzug zu einem Unterwerfungsunternehmen umdeklarieren wollte, um den Barbaren griechische Lenker zu geben und ihre Hellenisierung zu betreiben,134 zwang die makedonische Unterwerfung des Achaimenidenreichs die Philosophen zur geistigen Umkehr und erleichterte die Genese eines eher kosmopolitischen Denkens. Schon Isokrates hatte diesen Paradigmenwandel insoweit vorbereitet, als er Griechentum von Bildung, nicht aber von Abstammung abhängig machen wollte:135 Τοσοῦτον δ’ ἀπολέλοιπεν ἡ πόλις ἡμῶν περὶ τὸ φρονεῖν καὶ λέγειν τοὺς ἄλλους ἀνθρώπους, ὥσθ’ οἱ ταύτης μαθηταὶ τῶν ἄλλων διδάσκαλοι γεγόνασιν, καὶ τὸ τῶν Ἑλλήνων ὄνομα πεποίηκεν μηκέτι τοῦ γένους, ἀλλὰ τῆς διανοίας δοκεῖν εἶναι, καὶ μᾶλλον Ἕλληνας καλεῖσθαι τοὺς τῆς παιδεύσεως τῆς ἡμετέρας ἢ τοὺς τῆς κοινῆς φύσεως μετέχοντας.136 Kynismus und Stoa aber gingen hier noch einen Schritt weiter, als sie nunmehr auch das Griechentum nur indirekt als Grundvoraussetzung des Weltbürgertums postulierten,137 da griechische Bildung die Entstehung rationalen Denkens

132 Zum Fehlen eines kosmopolitischen Ideals bei Platon vgl. Schuetrumpf 1972. 133 Zur Autorschaft des Menexenos vgl. Engels 2012. 134 Vgl. z. B. Jüthner 1923; Dauge 1982; Hall 1989; Dihle 1994. 135 Vgl. allg. Too 1995; Haskins 2005. 136 Isocr. Pan. 4,50 „So sehr hat unsere Stadt auf dem Gebiet des Denkens und des Redens die übrigen Menschen übertroffen, daß ihre Schüler die Lehrer der anderen geworden sind, und sie hat es so weit gebracht, daß der Name ‚Griechen‘ nicht mehr das Volk zu bezeichnen scheint, sondern die Gesinnung, und daß Griechen eher die genannt werden, die an unserer Bildung teilhaben, als die, die mit uns gleicher Abstammung sind.“ 137 Zum hellenistischen Weltbürgertum vgl. Baldry 1965; Gaziano 1969; Schulz-Falkenthal 1979; Mehl 1992; Moles 1993; Kunikata 2009.

Antiquarische Periegese und hellenistische Identitätssuche

und geziemender Götterfurcht garantiere, wie man bei Epiktet nachlesen kann, der sich hier auf ältere Vorlagen stützt:138 σκέψαι τίς εἶ. τὸ πρῶτον ἄνθρωπος, τοῦτο δ᾽ ἔστιν οὐδὲν ἔχων κυριώτερον προαιρέσεως, ἀλλὰ ταύτῃ τὰ ἄλλα ὑποτεταγμένα, αὐτὴν δ᾽ ἀδούλευτον καὶ ἀνυπότακτον. σκόπει οὖν, τίνων κεχώρισαι κατὰ λόγον. κεχώρισαι θηρίων, κεχώρισαι προβάτων. ἐπὶ τούτοις πολίτης εἶ τοῦ κόσμου καὶ μέρος αὐτοῦ, οὐχ ἓν τῶν ὑπηρετικῶν, ἀλλὰ τῶν προηγουμένων: παρακολουθητικὸς γὰρ εἶ τῇ θείᾳ διοικήσει καὶ τοῦ ἑξῆς ἐπιλογιστικός.139 Vor diesem geistigen Hintergrund war es nur normal, dass griechische Identität zunehmend nicht mehr nur unmittelbare regionale Lebenswelt und unbewusster, rein instinktiv wirkender Ausgangspunkt von Denken und Handeln blieb, sondern allmählich auch zum objektiven, gleichsam von außen betrachteten Studiengebiet werden musste, dessen Erkundung sowohl mit den Mitteln der bislang nur auf auswärtige Völkerschaften angewandten zeitgenössischen Ethnographie als auch mit der Absicht einer objektiveren Definition dessen, was griechische Identität eigentlich ausmachte, vorgenommen werden konnte. Freilich war es hier nicht die Stoa, sondern vor allem der Peripatos, der das technische Vorbild methodisch geordneten Sammelns lieferte, wobei der ursprüngliche Impuls zur philologischen und antiquarischen Forschung zudem von Seiten der Dichtkunst kam, wie Philitas und Kallimachos zeigen. Zudem ist zu beachten, dass sich im Gegensatz der alexandrinischen und pergame­ nischen Gelehrsamkeit auch ein methodologischer Kontrast zeigt, ging es doch der stoisch beeinflussten pergamenischen Schule weniger um voraussetzungslose antiquarisch-philologische Recherche, sondern vielmehr darum, durch

138 Stanton 1968. 139 Epict. 2,10,1 – 3: „Bedenke, was du bist. Zuerst ein Mensch, das ist ein Wesen, dem nichts Wichtigeres obliegt als der freie Willen, dem alle anderen Dinge untergeordnet sind, während es selbst aber unversklavt und ohne Unterordnung ist. Bedenke ferner, von wem Du durch den Verstand getrennt wurdest. Du wurdest von den wilden Tieren getrennt. Du wurdest von den zahmen Tieren getrennt. Schließlich bist Du ein Bürger der Welt, einer seiner Teile; nicht etwa einer der dienenden, sondern der herrschenden: Du bist nämlich fähig, die göttliche Verwaltung zu begreifen und das Zusammenhängende zu verstehen.“

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systematischen Einsatz der Allegorese die jeweils kommentierten Werke in Einklang mit dem Stoizismus zu bringen, wobei freilich noch vertieft zu untersuchen wäre, inwieweit Philosophie und Antiquarianismus sich hier gegenseitig beeinflusst haben oder nicht. Doch wenn unter dieser Voraussetzung trotz der fragmentarischen Erhaltung seines Werks eindeutig ist, dass Polemon eher der alexandrinischen als der pergamenischen Forschungsrichtung zuzuschlagen ist und man ihn daher kaum unmittelbar als Stoiker etikettieren kann, so ist sein umfassendes Werk nichtsdestoweniger nicht ohne den fruchtbaren Gegensatz von voraussetzungsloser Einzelwissenschaft und philosophischer Neubestimmung griechischer Identität denkbar. Denn hier musste der Periegese, jener altertümlichen, da bereits an den Wurzeln der herodoteischen Geschichtsschreibung befind­lichen, wenn auch erst unter Diodor von Athen verselbständigten Literaturform, auch unabhängig vom persönlichen philosophischen Interesse des Autors eine überraschende Relevanz zukommen, da sie es wie keine andere Form der Forschung und Darstellung verstand, verschiedenste Lebens- und Kulturbereiche unter eine einheitliche Grundvoraussetzung zu fassen und sich somit durch beliebig zu erweiternde Zusammenstellung heterogenster Fakten und Überlegungen den verschiedensten Facetten eines zunehmend idealisierten, archaischen Griechentums anzunähern, das zum geistigen und kulturellen Fundament der neuen kosmopolitischen Identität werden sollte. Die Nähe der Forschungen Polemons zum eingangs bereits zitierten Herodot-Zitat und zu Grundfragen griechischer Identität ist somit unverkennbar: Gemeinsamkeit des Bluts, der Sprache, des Kults und der Sitten zu eruieren und zu beschreiben – genau das ist angesichts der Werkliste und der Fragmente zu Stadtgründungen, sprachlichen Fragen, kultischen Themen und schließlich kulturgeschichtlichen Aspekten das eigentliche, wenn auch sicherlich nur unbewusst zugrundeliegende Programm des Lebenswerks Polemons von Ilion.

Antiquarische Periegese und hellenistische Identitätssuche

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Epirotische Identitäten nach der Königszeit 1 Epiros liegt am Rande der griechischen Welt und wurde von den antiken Griechen auch als randständig wahrgenommen. Schon allein der Name des Landes, „Festland“, ist eine Außenbezeichnung, die von den griechischen Kolonisten auf der Insel Korkyra und an der Küste stammen muß. Stets mehr nach W ­ esten, nach Italien hin orientiert, erfuhr es im Gegensatz zum strukturell vergleichbaren Makedonien keine Öffnung zur klassisch griechischen Welt hin, obschon es natürlich Anteil an den politischen und sozialen Entwicklungen der hellenistisch genannten Zeit hatte. Daß Epiros als Begriff eine Fremdbezeichnung ist, sollte schon an sich eine schwach ausgeprägte gesamtepirotische Identität erwarten lassen. Im folgenden soll anhand einiger Beispiele, die vor allem epigraphischen Quellen entstammen, versucht werden zu zeigen, was sich unterhalb dieser kaum vorhandenen gesamtepirotischen Ebene an Zugehörigkeitsdefinitionen finden läßt. Der Natur der Quellen geschuldet, wird es fast ausschließlich um Selbstzuschreibungen gehen, die dem Blick von außen, also von Rom oder Griechenland her, gleichgültig sind. In einem ersten Teil wird die Welt der Sub-Ethnika als epirotische Besonderheit vorgestellt. Dann wird für die Zeit vom gewaltsamen Ende der ­Aiakidendynastie bis zur römischen Eroberung des Epiros untersucht, wie sich die enormen zentrifugalen Tendenzen im Epirotischen Bund in der Selbstbezeichnung der Epiroten widerspiegeln. Im dritten Teil steht die durchaus den römischen Interessen entgegenkommende zunehmende Kleinräumigkeit der identitätsrelevanten Gemeinschaften nach dem römischen Vernichtungszug von 167 v. Chr. im Zentrum.

1 Den Aachener Diskussionsteilnehmern habe ich viele Anregungen zu verdanken. Weiter­hin danke ich Constanze Hirth (Stuttgart) für die Unterstützung bei den Recherchen und Nadin Burkhardt (Frankfurt a. M.) und Rudolf Haensch (München), die das Manuskript gelesen und zahlreiche Verbesserungen angeregt haben.

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1. Epirotische Identitäten In einem Band über materielle Kultur und soziale Identitäten in der antiken Welt schrieb David Mattingly kürzlich, daß sich „Identität“ als Konzept derzeit wie ein Buschfeuer durch ein dürregeplagtes Land brenne. Ganz gleich, ob man sich als der Wind, der die Flammen anfacht, als das brennbare Material in seinem Weg oder als die vor ihm fliehenden Tiere sehe, könne man die gegenwärtige Wirkungsmächtigkeit des Begriffes nicht außer acht lassen.2 Mattinglys recht voluminöse und gleichsam asianische Metapher beschreibt einen gegenwärtigen Zustand im Grunde angemessen, auch wenn man dazu neigt, sich mit einem der fliehenden Tiere zu identifizieren. Die mittlerweile fast unüberschaubare Masse an theoretischer Literatur zur Begründung eines starken Begriffs der Identität 3 stellt uns vor die Wahl: Sollen wir uns von ferne, von einem theoretischen a priori aus, der antiken Welt nähern auf die Gefahr hin, postmoderne Kategorien mit historischen Tatsachen zu verwechseln oder letztere erst gar nicht zu bemerken, oder arbeiten wir von dem ausgehend, was wir wenig genug haben, nämlich von unseren Quellen her? Diese Dichotomie vermag freilich nur vor dem sehr naiven Auge zu bestehen, denn „man erblickt nur, was man schon weiß und versteht“.4 Insofern bilden die Leitfragen der Aachener Veranstaltung nach Formen von Selbstwahrnehmung, Selbstdarstellung und Abgrenzung gegenüber Fremden den Hintergrund, vor dem die kulturellen, also in unserem Fall vor allem schriftlichen Äußerungen der Handelnden zu betrachten sind. Nun stellt sich dabei die Frage, wie wir die Selbstwahrnehmung, wenn wir sie nicht nur aus der Selbstdarstellung extrapolieren wollen, denn sinnvoll 2 Mattingly 2010, 283: „Identity has become a key concept in archaeology and classical studies, its influence spreading like a wild fire in drought-afflicted land. Whether one sees oneself as the wind fanning the flames, the combustible material in its path, or the wildlife fleeing ahead of it, the importance of ,identity‘ in current debate cannot be ignored.“ 3 S. zuletzt von althistorischer Seite Whitmarsh 2010 sowie Gruen 2010; von archäologischer Seite den Band von Hales und Hodos 2010. Aus der Erforschung anderer historischer Epochen Nutzen ziehen zu wollen, ist im Falle von „Identität“ wegen der grundsätzlich unterschiedlichen Quellen und Probleme wenig hilfreich, wie der Versuch, mit dem auf den ersten Blick einschlägig erscheinenden Beitrag von Handler 1994 zu arbeiten, deutlich zeigt. 4 J. W. v. Goethe, Brief an F. v. Müller vom 24.4.1819, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, Zürich–Stuttgart 1948, Bd. 23, S. 52.

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erforschen können. Fühlten sich die Epiroten als Epiroten? Fühlten sich die Prasaiben als Prasaiben, oder sahen sie sich eher als Chaonen oder doch als Epiroten oder als Mitglieder ihres Clans, also als Kotylaier oder Ophyllier oder Cherrier? Hier muß man wohl antworten: Es kommt darauf an, wer das wann von wem wissen möchte, denn der situative Charakter jeglicher Äußerung zur eigenen Identität oder zu der anderer versteht sich. Das bedeutet freilich keine Beliebigkeit. Aber wir Altertumskundler haben nun einmal seit den Uranfängen unserer Wissenschaften damit zu tun, daß unsere Quellenlage lediglich erlaubt, hier und da ein Phänomen aufscheinen zu sehen. Die Überlieferung selbst sorgt nicht für die Verbindungslinien, die eigentlich notwendig wären, um eine historische Entwicklung zu fassen. So sind wir darauf angewiesen, aus der großen Geschichtsschreibung bekannte politische Umbrüche als diejenigen Zäsuren zu sehen, die das, was wir vorher und nachher in den Quellen finden, miteinander verknüpfen oder voneinander trennen. Zu den Besonderheiten der nordgriechischen politischen Strukturen viel zu sagen, ist hier nicht der Ort. Es bestanden immer zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen den makedonischen und den epirotischen Regionen, die auf den Höhen des Pindosgebirges ineinander übergehen und Zonen diffuser Ethnizitäten bilden. Einer der augenfälligsten Unterschiede ist jedoch der, daß das epirotische Königtum nicht wie das makedonische durch die Römer beendet wurde, sondern durch inneren Zwist. Wie reagierten die Angehörigen der heterogenen Gemeinwesen, aus denen der epirotische Staat der Aiakiden bestand, auf diese neue Situation? Der zweite politische Umbruch liegt als Vergleichspunkt auf der Hand: Die gewaltigen Verheerungen des dritten Krieges der Römer gegen die Makedonen sowie der römischen Friedensregelungen und der damit einhergehende Zerfall des epirotischen Bundes müssen Folgen für die Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung der Menschen gehabt haben. Um diese Wandlungen systematisch in Form von historischen Entwicklungen zu verfolgen, fehlt uns schlicht das Material. So sind die folgenden Beobachtungen eher als ein unsystematischer Survey verschiedener Ausdrucksformen von Identität zu verstehen, die sich weder in einer Region noch in einem bestimmten Zeithorizont bündeln lassen, aber doch in ihrer Gesamtheit zu einigen weiterführenden Überlegungen Anlaß geben. Dabei werde ich kaum auf die verschiedenen Aspekte der epirotischen „Staatlichkeit“ eingehen, auch nur in sehr geringem Maße auf die ganz eigentümliche Ausgestaltung der Symmachie unter den Aiakiden sowie des späteren Bundesstaates, der mit den klassischen Bundesstaaten der antiken Welt wenig gemein

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hat.5 Die Fakten und die Kontroversen sind vor allem in den großen Werken von Nicholas Hammond und Pierre Cabanes ausführlich dargelegt.6 Kleinere, mikrohistorische Betrachtungsweisen sind uns nicht möglich. Das Lokale als das Authentische der Ethno­logie, als die authentische Alternative zur Großen Erzählung der Haupt- und Staatsaktionen im Sinne der Mikrogeschichte und der Annales-Schule, ist für uns nicht zu fassen. Unser Wissen vom Lokalen hat nichts mit dem zu tun, was Clifford Geertz, James Clifford oder Hans Medick schildern.7 Das, was die Altertumswissenschaftler als das Lokale untersuchen, ist etwas anderes, nämlich ein weiterer Aspekt der Geschichte der Elitenkulturen. An einigen wenigen Punkten bekommen wir einen kleinen Einblick in lokal bedeutende Ereignisse, die aber nichts mit dem mikrogeschichtlichen Konzept der Nachbardisziplinen zu tun haben. Was uns darüber hinaus als Quelle zur Verfügung steht, sind die Selbstbeschreibungen durch die außerordentlich zahlreichen Ethnika und Sub-Ethnika, die in den epirotischen Inschriften begegnen. Die Aufstellung einer Inschrift ist ein performativer Akt, was auf die performative Natur der darin verwendeten Identitätsmarkierungen verweist. Die Ethnika und Sub-Ethnika wiederum deuten auf eine Besonderheit der epirotischen Gesellschaftsorganisation hin:8 Große Teile der Bevölkerung betrieben Fernweidewirtschaft. Gruppen von 200 – 500 Menschen bildeten eine Einheit, die wir Clan oder Sippe nennen könnten, die bei den Vlachen paréa oder stáni heißt und die in der Antike ganz offensichtlich mit dem Wort koinon bezeichnet wurde. Dies müssen die kleinsten Untereinheiten sein, die wir in der Molossis als Akralestoi und Charadroi antreffen und von denen wir aus den Inschriften von Butrint etwa 90 verschiedene als Bestandteile des Koinon der Prasaiben kennen. Gemeinschaftseigentum und ein starker F ­ ührer,

5 Die Werke, die sich mit antiker Bundesstaatlichkeit auseinandersetzen, sind durchweg sehr zurückhaltend, was den epirotischen Bund angeht. Vgl. Cabanes 1996; Hatzopoulos 1996a. 6 Hammond 1967; Cabanes 1976. Vgl. auch die mittlerweile fünf Bände der von Cabanes initiierten Kolloquien L’Illyrie méridionale et l’Épire dans l’antiquité. S. auch Franke 1955. 7 Vgl. Woolf 2010, 194. Das gilt nicht für das, was wir aus den Papyri erfahren. 8 Sub-Ethnika sind wahrlich keine epirotische Besonderheit; Beispiele aus Arkadien: Nielsen 2002, 271 – 302; aus Aitolien: Funke 1997; aus Kreta: Baldwin-Bowsky 1989b; vgl. dies. 1989a. Aber die reine Masse und die Konsequenz des Auftretens in Epiros und vor allem die vergleichsweise späten Belege sollten doch Anlaß zu gesonderten Überlegungen geben.

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der tsélingas der Vlachen oder der basileus der Griechen, bestimmten das wirtschaftliche und soziale Leben.9 Diese Verwendung des Begriffs Koinon ist dem Stammessystem Nordwestgriechenlands und Obermakedoniens gemein.10 Die beste Illustration der Verhältnisse bietet ein Freundschaftsvertrag zwischen zwei Koina, die dem Koinon der Molosser angehören. Die Inschrift 11 stammt aus dem Zeusheiligtum von Passaron, in dem während der Königszeit der jährliche Eid des Heeres auf den König geleistet wurde. Zugleich zeigt der Vertragstext, daß die Stammesstrukturen die Königszeit überdauert haben – ich komme darauf zurück. Die Personenbezeichnungen in der Inschrift zeigen, 9 Hammond 1991; ders. 2000; ders. 1983. Es wäre sicher lohnend, die epirotischen Clanstrukturen mit den vlachischen – auch den aromunischen und den sarakatsanischen – zu vergleichen. Selbstverständlich muß man sich über die Möglichkeiten und Grenzen eines solchen Kulturvergleichs im Klaren sein, jedoch wäre es hilfreich, über Hammonds anregende Randbemerkungen hinauszukommen. Mittlerweile scheint zwar die Ansicht vorzuherrschen, daß im antiken Epiros keine Fernweidewirtschaft betrieben worden sei und daß die Vlachen am Ende des 1. Jahrtausends n. Chr. damit eine ökonomische Nische besetzt haben: Douzougli – Papadopoulos 2010, 10. Jedoch sollten zumindest einige Besonderheiten der vlachischen Clanstrukturen ins Bewußtsein gerufen werden, die auch im antiken Epiros ihre Parallelen gehabt haben können: Die kleinste Einheit der aromunischen Gesellschaft sind die patriarchalischen und patrilinearen Großfamilien (soi), die sich zu einer von einem Oberhirten (tšelnik) geleiteten Sippe (fălkari) zusammenschließen. Die Wanderzüge (fară) bestehen aus 20 – 200 dieser Sippen. Heiraten finden innerhalb der fară statt; der Stamm (milet, lao) setzt sich aus mehreren fară zusammen. Die Sarakatsanen bilden keine Sippenverbände, sondern Familiengruppen (stáni), die einem Anführer (tsélingas) unterstehen. Der tsélingas hat wie der aromunische tšelnik die Aufgabe, die Züge zu organisieren und für die Sicherheit zu sorgen, außerdem unterstehen ihm die früher meist bodenvagen Siedlungen. Jedes Familienoberhaupt hat das – selten in Anspruch genommene – Recht, mit seiner Familie die fălkari oder die stáni und damit den Anführer zu wechseln. Zu den V ­ lachen ist immer noch grundlegend Wace – Thompson 1914. Vgl. auch Winnifrith 1987. Grundlegend zur Sozialstruktur: A. Beuermann 1987, 155 – 160; Kahl 1999, 41 – 47. 10 Hammond 1989, 16. 11 SEG 37,515b = Cabanes 1976, 561,35: προστατεύ[οντος Μολο]σσ̣[ῶν Λεον(?)]|τίου Κυεστο[ῦ, Ἀτεράργ]ω̣ν δὲ Ἀ̣[ναξάν]|δρου τοῦ Ἀμύντα Α....ΑΙΟΥ [παραγε]|νομένων παρὰ τῶν Περγαμί[ων τοῦ] | προστάτα Νικάνδρου τοῦ Θευ[δότου], | Ἀνδρονίκου τοῦ Ἀναξάνδρο[υ, Ἱέρω(?)]|νος τοῦ Ζωΐλου Ἀκραλεστῶν, [.c.6-7.] |νος τοῦ Γέλωνος Χαράδρου̣ [καὶ ἀνανε]|ουμένων τὰν ἐξ ἀρχᾶς φιλία[ν καὶ προξε]|νίαν αὐτοῖς ποθ’ αὑτούς, ἔδοξ[ε τῶι κοινῶι] | τῶν Ἀτεράργων ἀνανεῶσα[ι τὰν οὖσαν]. Vgl. ebd. 279 – 383, und Cabanes 1996, 377f.; Stemma nach ebd.

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daß das Koinon der Epiroten sich in die Sub-Koina der großen Stämme spaltete. Diese wiederum, im vorliegenden Fall das Koinon der Molosser, bestand aus Untereinheiten, die ebenfalls als Koinon bezeichnet wurden, hier die der Ateargoi, der Pergamioi und der Kyestoi. Dem Koinon der Pergamioi sind die Gemeinschaften der Akralestoi und der Charadroi untergeordnet: Koinon der Epiroten Koinon der Molosser Koinon der Aterargoi

Koinon der Pergamioi Charadroi

Akralestoi

Die epirotischen Stammesethnika zeigen also eine Art Bürgerstatus an, nicht den Wohnort, und sind als Teil der Namen auch Teil der Identität der Personen, denen es nicht gleichgültig gewesen sein kann, mit welchem Namen sie sich selbst identifizierten und wie sie von anderen genannt wurden.12 Daß diese Art der Stammesorganisation in der Frühzeit der molossischen Suprematie voll ausgebildet und politisch wirksam war, zeigt eine epidaurische Theorodokenliste von 360/55: Apeiros ist ein geographischer Begriff; die Epiroten sind in die drei großen Stämme der Molosser, der Chaonen und der Thesprotier gegliedert, daneben tauchen diverse griechische Poleis auf.13 Für die Molosser erscheint Tharyps, der König Arybbas der attischen Inschriften. Die Thesprotier und die Chaonen lebten, anders als die von Königen beherrschten Molosser, abasileutoi und wurden durch zwei jährlich aus den vornehmsten Familien gewählten Prostaten regiert.14 Des weiteren überliefert Pseudo-Skylax, daß zumindest die Chaonen κατὰ κώμας lebten 15 – also, wie oft vermutet, in Bünden oder Familieneinheiten? Hier helfen die schriftlichen Quellen nicht weiter. Am Beispiel der in den letzten Jahren intensiv betriebenen, 12 Hansen – Nielsen 2004, 61 – 67. 13 IG IV2 95, II Z. 23ff. Dazu Hammond 1967, 517 – 519; Cabanes 1976, 116 – 120. 14 Thuk. 2,80,5f. Vgl. Funke 2009, 97 – 100. 15 Ps.-Skylax 32f. Vgl. dazu die Untersuchung von Douzougli – Papadopoulos 2010, bes.  1 – 14.

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aber mittlerweile aus Geldmangel so gut wie abgebrochenen Grabungen im thesprotischen Gitana möchte ich kurz die Potentiale der archäologischen Forschungen hinsichtlich unserer Fragestellung anreißen, zumal man dadurch weitere Argumente gegen die einst beliebte Vorstellung finden kann, die in ihrer Entwicklung zurückgebliebenen nordwestgriechischen Landschaften seien dabei gewesen, sich den fortschrittlichen politischen Organisationsformen in den südlichen Ländern anzugleichen, also in der quasi teleologischen Entwicklung „vom Stamm zum Bund“ aufzuholen, bis das alles von den Römern abgebrochen wurde.16 Die allgemeine, sowohl in Griechenland als auch in Unteritalien zu beobachtende Tendenz des 4. Jh. zur Urbanisierung und zur Monumentalisierung des öffentlichen Raums ergriff auch den Stamm der Thesprotier. Im Verlauf dieser Entwicklung wurde nun nicht eines der drei vorhandenen protourbanen Zentren Phanote, Elina oder Elea gewählt, die in dieser Zeit durchaus eher einen Fluchtburg- als einen städtischen Charakter hatten, sondern es wurde eine neue Siedlung im Grenzgebiet zu den C ­ haonen errichtet. Gitana 17 ist nicht wie Phanote, Elina und Elea nach einem der thesprotischen Stämme benannt und weist in seiner baulichen Ausgestaltung von Anfang an und vor allem seit dem späten 3. Jh. auf den öffentlichen Charakter des neuen Koinonzentrums hin. Die Stadt scheint um die öffentlichen Gebäude herum errichtet worden zu sein. Dominiert wird die Anlage von der auf einem erhöhten Plateau am Fuße der Akropolis gelegenen stoengesäumten Agora. An der zentralen Hauptstraße inmitten der Wohnhäuser erhebt sich ein recht kleiner Tempel; direkt vor einem Stadttor liegt das Theater des 3. Jh. mit seinen vielen Topos-Inschriften. Direkt dahinter, in einem innerhalb der Stadtmauer nochmals eigens gesicherten und hervorgehobenen Areal, findet sich das Prytaneion genannte Gebäude, das mit seinem Peristylhof, den mosaizierten Banketträumen und den Archiven eine zentrale politische und verwaltungstechnische Rolle im Bund gespielt haben muß. Besonders signifikant für die Rolle Gitanas als politischer und wirtschaftlicher Zentralort ist eine im sogenannten Prytaneion (Gebäude A) gefundene Gruppe von ungefähr 3.000

16 Stimmen gegen dieses Konzept: Morgan 2003; Corsten 1999; Cabanes 1976, 482; ­Vlassopoulos 2011. Vgl. die Beispiele aus anderen griechischen Regionen bei Freitag 2009. 17 Vgl. neben den seit 1985 laufenden Berichten in ADelt Kanta-Kitsou 2008. Zum Charakter als Zentralort Pepin 1996. Zur historischen Geographie von Nordepiros s. jetzt Ιστορικός και αρχαιολογικός άτλας ελληνοαλβανικής μεθορίου, Athen 2008.

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Tonsiegeln, die wahrscheinlich sämtlich vor 168/7 datieren.18 Die Inschriften auf diesen Siegelabdrücken enthalten den Namen der Stadt; sie nennen Ämter und Institutionen (ΑΓΟΡΑΝΟΜΩΝ , ΑΓΟΓΕΩΣ ΕΛΕ , ΓΡΑΜΜΑΤΕΩΣ ΕΛΕ , ΕΠΑΜΦΟΡΟΔΙΚΑΝ, ΒΟΥΛΑΣ , ΣΥΝΕΔΡΩΝ ), unterschiedliche Stammesebenen und Poleis der Epiroten (ΑΠΕΙΡΩΤΑΝ , ΘΕΣΠΡΩΤΩΝ , ΜΟΛΟΣΣΩΝ , ΧΑΟΝΩΝ , ΟΝΟΠΕΡΝΩΝ , ΠΑΡΘΙΝΩΝ , ΕΛΕΑΙΩΝ , ΑΝΤΙΓΟΝΕΩΝ, ΑΜΑΝΤΩΝ), aber sie bezeugen auch außenpolitische Kontakte (ΑΙΤΩΛΩΝ, ΜΕΡΙΔΟΣ ΤΕΤ 19). Die politische Funktion Gitanas läßt sich ebenfalls in der historiographischen Überlieferung sowie epigraphisch fassen. Livius berichtet, daß im Jahre 171 der Landtag der Epiroten in Gitana tagte und römische Gesandte empfing, die ihre Anliegen vortrugen. Das concilium beschloß, 400 Männer zum Schutz der gerade von Perseus abgefallenen Orestis zu schicken.20 Weiterhin stammt aus Gitana ein Freilassungsdekret aus dem späten 4. Jh.,21 das zeigt, daß hier in Gitana der Ort war, an dem derartige Entscheidungen veröffentlicht wurden, also ein Koinon-Zentrum.22 18 Zu den Siegeln s. vorerst, neben SEG 46,678 und 49,645, Preka-Alexandri – Stoyas 2008; Preka-Alexandri 1996, 195 – 198. Die Zerstörungsschicht über den Siegeln ist durch Münzen des späten 3. und frühen 2. Jh. datiert. Zu dem Fund von 600 Siegeln im aitolischen Kallion s. Pantos 1985 mit Funke 1997, 171. 19 Unzweifelhaft stammt dieses Siegel, das einen Apollonkopf zeigt, aus der vierten makedonischen meris und stellt somit nicht nur ein einmaliges Zeugnis für die administrative Tätigkeit der makedonischen Distrikte dar, sondern ist auch ein weiterer Beleg für die umstrittene königszeitliche Datierung der vier makedonischen merides; zur Diskussion vgl. Hatzopoulos 1996b, 231 – 260. 20 Liv. 42,38,1. 21 SEG 26,717 = Cabanes 1976, 576f. Nr. 49. 22 Damit soll also nicht gesagt sein, daß Gitana als Polis die Führungsmacht des Thesprotischen Koinon geworden war. Das ist tatsächlich sehr unwahrscheinlich, und daher sind m. E. auch die Gründe, die Funke 2009 v. a. 106 – 108 gegen die These vorbringt, daß Gitana ein Zentralort gewesen sei, zu rigide, wenn sie freilich auch im einzelnen zutreffen. Der gesamte Habitus der Stadt, das „Stadtbild“, wenn man es so nennen möchte, deutet darauf hin, daß hier ein Zentrum geschaffen werden sollte. Wenn Funke ebd. 107 Anm. 48 den Siegelfund von Gitana mit dem von Kallion vergleicht und damit auch die Funktion der Städte und daraus den Schluß zieht, Gitana sei wie Kallion „nur ein – wenn auch bedeutender – Gliedstaat neben vielen anderen“, so bleibt ein wesentlicher Unterschied der Siegelfunde unberücksichtigt: In Kallion finden sich zahlreiche Beamtennamen, Königsporträts, die Kontakte zu Ptolemaiern, Seleukiden und Bithyniern erschließen lassen, dazu Legenden wie ΚΝΩΣΙΩΝ , ΑΠΕΙΡΩΤΑΝ , ΚΑΛΛΙΑΠΑΝ ,

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2. Von der Abschaffung des Königtums bis zur römischen Eroberung Darüber, was nach der Abschaffung des Königtums durch die Ermordung der Laodamia in Ambrakia im Jahre 232 passiert, lassen uns die literarischen Quellen weitgehend im unklaren, da sie nicht an der institutionellen Organisation des neuen Bundes der Epiroten interessiert sind, sondern sich in Polemik gegen die demokratische Staatsform ergehen. Polybios führt die illyrischen Bedrohungen, die in der Eroberung Phoinikes gipfeln, direkt auf die schädlichen Folgen der Volksherrschaft zurück: „Gesetzlosigkeit habe das thesprotische Land zugrunde gerichtet. Deidameia, des Pyrrhos Tochter, hatte keine Kinder, und als ihr Tod bevorstand, übertrug sie die Macht dem Volke … Als die Epeiroten nicht mehr von Königen regiert wurden, habe das Volk über die Stränge geschlagen und nicht mehr den Anordnungen der Behörden gehorchen wollen.“23 Trogus-­Justin schlägt in die gleiche Kerbe: „Laodamia aber flüchtete sich an den Altar der Diana, wo sich das Volk gegen sie zusammenrottete und sie totschlug. Diesen Frevel rächten die unsterblichen Götter durch fortgesetzte Niederlagen des Stammes und nahezu den Untergang des gesamten Volkes. Denn sie wurden

ΑΙΤΩΛΩΝ, ΕΡΥΘΡΑΙΩΝ, ΒΟΙΩΤΩΝ, ΑΚΑΡΝΑΝΩΝ, ΧΑΛΕΙΕΩΝ, die zeigen, daß auch „außenpolitische“ Dokumente im Archiv von Kallion lagerten: Pantos 1985. Was sich jedoch im Gegensatz zu Gitana nicht findet, sind die Ämterbezeichnungen, die aus Gitana in großer Fülle überliefert sind und bei denen es sich nicht lediglich um die Ämter der Polis Gitana gehandelt haben kann. Vielmehr müssen auch Bundesämter gemeint sein. Zusammen mit den vielen Sub-Ethnika zeigt das deutlich, daß die Angelegenheiten Gitanas Angelegenheiten einer umfassenderen Einheit, in dem Fall wohl des Koinon der Thesprotier, gewesen sein müssen. Die epirotischen Bünde hatten immer stärker mit zentrifugalen Tendenzen zu kämpfen als etwa die Aitoler, was sich nicht zuletzt in der Münzprägung zeigt. Der Vielfalt an Prägeautoritäten in Epiros steht die in Aitolien mit zwei Ausnahmen komplett bundesstaatlich verantwortete Prägung gegenüber. Die einzigen aitolischen Poleis mit kurzfristiger eigener Münzprägung im 3. Jh. sind die nicht sonderlich bedeutenden Orte Apollonia und Poteidania, die jedoch Bundes-Rückseiten aufweisen; dazu Liampi 1995 – 1996, 104f. Zu Poteidania s. auch Liampi 1996. 23 Pol.  4,35,3 – 5: τὰ ἐν Ἠπείρῳ τῇ Θεσπρωτίδι ὑπὸ ἀναρχίας ἐφθάρη· Δηιδαμείᾳ γὰρ τῇ Πύρρου παῖδες οὐκ ἐγένοντο, ἀλλὰ ὡς τελευτᾶν ἔμελλεν, ἐπιτρέπει τῷ δήμῳ τὰ πράγματα … Ἠπειρῶται δὲ ὡς ἐπαύσαντο βασιλεύεσθαι, τά τε ἄλλα ὁ δῆμος ὕβριζε καὶ ἀκροᾶσθαι τῶν ἐν ταῖς ἀρχαῖς ὑπερεώρων. Zur Demokratie bei Polybios Musti 1967.

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von Mißwachs und Hungersnot betroffen, von innerer Zwietracht heimgesucht und am Ende auch noch durch den äußeren Krieg fast ganz aufgerieben.“24 Die neue Regierung war wohl nicht beliebt und mußte die Demokratie und die Gesetze mit Hilfe keltischer Söldner schützen, die dann eine fatale Rolle bei der illyrischen Eroberung Phoinikes spielen.25 Ob das nun rein antidemokratische Topoi sind oder ob hier auch die andernorts feststellbaren sozialen Unruhen des späten 3. Jh. wirkten,26 ist so recht nicht zu klären. Die Symmachie wurde durch ein koinon ersetzt, das nun als Bundesstaat bezeichnet werden kann. Die Glieder des epirotischen Koinon hatten ein gemeinsames Bürgerrecht. Aus einer Inschrift aus Magnesia am Mäander kennen wir den Namen des neuen Staates: τὸ ἔθνος τῶν Ἀπειρωτᾶν. Er wurde durch ein synedrion repräsentiert.27 Ob sich dieses synedrion regelmäßig an wechselnden Orten – in Phoinike, Gitana und Dodona bzw. Passaron – traf oder ob die bei Livius überlieferten concilia der Epiroten solche der Teilstaaten waren, d. h., ob das ethnos der Epiroten einen voll ausgebildeten und stark zentralisierten Bundesstaat darstellte, wie etwa Hammond meint, ist nicht ganz klar.28 Weiterhin ist die Zugehörigkeit zu einem der drei großen Teilstämme wichtig. Auch die Sub-Ethnika spielen immer noch eine Rolle, wie aus dem kurz vor 170 v. Chr. entstandenen Proxenie-Dekret der Epiroten für C. Pulfennius aus Brundisium hervorgeht, in dem die Bundesbeamten durch Namen und Vatersnamen sowie durch ein Sub-Ethnikon bezeichnet werden.29 Die Sub-Ethnika werden allerdings mit 24 Just. 28,3,4 – 7: Laudamia autem cum in aram Dianae confugisset, concursu populi interficitur. Quod facinus dii inmortales adsiduis cladibus gentis et prope interitu totius populi uindicauerunt. Nam et sterilitatem famemque passi et intestina discordia uexati externis ad postremum bellis paene consumpti sunt. Deidameia und Laodameia meinen die gleiche Person, die Tochter des Königs Pyrrhos II. (255 – 237 v. Chr.). Auch die überlebenden Nachkommen der Aiakiden, die offensichtlich ins makedonische Exil gegangen waren, pflegten ihre Identität weiterhin, wie eine bei Pydna gefundene Grabinschrift für einen Alkimachos aus dem 2./1. Jh. zeigt: Αἰακίδης γένος εἰμί· Νεοπτόλεμος δὲ πατήρ μου / οὔνομα δ᾽ Ἀλκίμαχος · τῶν ἀπ᾽ Ὀλυνπιάδος. / Νηπίαχον δέ με μοῖρα καὶ ἀνδράσιν εἷσ᾽ ἀφρονοῦντα / τὸν τριέτη τύνβῳ τῷδ᾽ ὑπέθηκε νέκυν (SEG 12,340). 25 Pol. 2,7,11: τῆς δημοκρατίας καὶ τῶν νόμων φύλακας. 26 So vor allem Oost 1954, 5 – 7. Zur Krise s. auch Cabanes 1976, 199f.; 294. 27 I.Magnesia 32 Z. 20f.; vgl. Hammond 1967, 651. 28 SGDI 1338. Hammond 1967, 648; 652. Vgl. Cabanes 1976, 295f.; Funke 2009, 197f.; Beck 1997, 135 – 145. 29 SEG 37,511.

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wenigen Ausnahmen nur in Epiros selbst und in Mittelgriechenland verwendet.30 Das ist nachvollziehbar, da den weiter entfernt wohnenden Griechen etwa der Stammesname der Torydaier nicht das geringste sagen würde. Schon die Bezeichnung eines Pankratiasten als Ἠπειρώτης ἀπὸ Θεσπρωτῶν in einer epidaurischen Urkunde des 2. Jh. v. Chr. ist eine absolute Seltenheit.31 Das Wiederauftauchen der lokalen Ethnika zeigt nach Cabanes an, daß die föderalistische Bewegung in Epiros aus dem Verlangen nach einer Wiederbelebung der lokalen Institutionen resultierte,32 aber das muß keineswegs zutreffen, da diese Institutionen nie tot waren. Das Koinon hatte, wie in der Literatur häufig zu lesen ist, Gebietsverluste hinzunehmen.33 Jedoch ist das meines Erachtens eine von moderner Territorialstaatlichkeit ausgehende Fehldeutung. Die kleinen Clans bzw. Stämme waren und blieben die elementaren Einheiten, aus denen sich der epirotische „Staat“ zusammensetzte. Diese verbanden sich in Zeiten der Gefahr zu größeren Einheiten, diese wiederum zu noch größeren. Das erklärt die Ballung von Ethnika bei epirotischen Namen. Jedoch behielten diese kleinsten Einheiten ihre Wahlfreiheit, was Allianzen anging. Das konnte so weit gehen wie etwa bei den Orestiern, die man bisweilen als Makedonen, bisweilen als Epiroten antrifft,34 oder bei den Athamanen, die späterhin als Thessaler gelten können.35 So waren die Clans auch frei, aus einem größeren Verband auszutreten oder in einen anderen zu wechseln. Die gemeinsame Kultur und Sprache der epirotischen und obermakedonischen Stämme – Strabon schildert als besonders bemerkenswert, daß man von Korkyra bis zum Bermion nicht nur die gleiche Sprache gesprochen, sondern auch die gleichen Frisuren getragen habe 36 – machte dieses Verhalten möglich.37 Unter ungeklärten Umständen ging die ehemalige Königsresidenz Ambrakia an die Aitoler verloren, womöglich auch die Kassopia. Aufschlußreich, aber hier nicht auszuführen, ist der Fall der Athamanen, die

30 Zahlreiche Beispiele bei Hammond 1967, 653f. 31 IG IV2 1,99 II Z. 19f. 32 Cabanes 1976, 199; Salmon 1987, 124. 33 Dazu Cabanes 1976, 200 – 202; vgl. ebd. Karte 4. S. auch die Karte in Martinez-Sève 2011, 71. 34 Hammond 1967, 529; Cabanes 1976, 121, 125, 129; Schmidt 1939, 960 – 965. 35 Strab. 9,5,11; vgl. Hammond 1967, 538. 36 Strab. 7,7,8. 37 Hammond 1991, 186 – 188. Zur nordgriechischen koiné-Kultur vgl. Cabanes 1993.

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spätestens um 220 das Königtum eingeführt hatten und weiträumige diplomatische Aktivitäten entfalteten sowie in die großen Heiligtümer stifteten, um das Königshaus auf internationaler Ebene zu propagieren.38 Nach der römischen Eroberung wurde das athamanische Königtum abgeschafft, aber das Bergland blieb als κοινὸν Ἀθαμάνων selbständig.39 An der epirotischen Nordgrenze war ab 228 ein römisches Protektorat entstanden, das auch Korkyra einschloß,40 so daß die Chaonia nun zum unmittelbaren Nachbarn des Einflußgebietes der Römer wurde. Die politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen auf den epirotischen Bund sind noch nicht systematisch untersucht worden, müssen aber beträchtlich gewesen sein und haben gewiß auch zum letztendlichen Zerfall des Bundes in den Jahren vor 170 geführt oder zumindest beigetragen. Dieser Zerfall kann entgegen dem polemischen Zeugnis des Polybios nicht auf soziale Unruhen zurückgeführt werden. Die Konfliktlinien verliefen auch nicht zwischen den Molossern und den anderen, sondern es müssen Vormachtkämpfe zwischen verschiedenen Adelsparteien am Werke gewesen sein. Die Protagonisten der Parteien waren Charops der Jüngere und Antinoos Klathrios. Letzterer stand für das Koinon, ersterer, obwohl Thesprotier, für den chaonischen Norden Epiros’ mit dem Zentrum Phoinike. Der Norden hatte durchaus andere ökonomische und damit politische Interessen und war im Laufe der Koinon-Zeit sehr erstarkt. Der Blick in eine delphische Theorodokenliste aus dem späten 3./frühen 2. Jh. v. Chr.41 läßt erahnen, daß er nicht mehr vollständig in den Bund integriert war, wenn er es denn je war, und daß die im Laufe des 3. Jh. monumental ausgebauten urbanen Zentren nun ein starkes Unabhängigkeitsstreben entwickelt hatten. Es erscheinen etwa Byllis,42 Orikos, Phoinike, Kemara und Amantia; es fehlen die in der epidaurischen Liste noch genannten großen Stämme der Chaonen, Thesprotier und Molosser. Die direkten Kontakte nach Unteritalien und zum römischen Protektorat führten zu einem wirtschaftlichen Aufschwung und 38 Baslez 1987; Oost 1957; Welwei 1965. 39 Syll.3 563A. Zu der Inschrift vgl. Anm. 51. 40 Zum Protektorat Hammond 1989 mit dem Versuch einer kartographischen Darstellung in 24 Abb. 3; ders. 1967, 598 – 601. 41 Plassart 1921 = SGDI 2580. Die epirotischen Orte finden sich in Z. IV 31 – 60. Vgl. ­Hammond 1967, 656f.; Cabanes 1976, 116 – 120. 42 In der Nachbarschaft der dem Protektorat untergeordneten Atintanen existierte im späten 3. und frühen 2. Jh. das autonome Koinon der Byllionen: Cabanes 1988; SEG 38,462.

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zu einer politischen Anlehnung der nordepirotischen Eliten an Rom. Das beste Beispiel hierfür ist Charops der Ältere, der bereits im 2. Makedonischen Krieg die Römer unterstützt hatte; zuerst aus Furcht vor Philipp heimlich, dann ganz offen, als er Flamininus und sein Heer unbehelligt durch Chaonien marschieren ließ.43 Später schickte er seinen Enkel Charops nach Rom, um dort Latein zu lernen und Freunde zu machen.44 Der Reichtum Phoinikes, von dem anläßlich der Plünderung durch die Illyrer im Jahre 232/1 die Rede ist, zeigt, daß der Handel nun hauptsächlich nach Italien ging, nicht mehr, wie zu Pyrrhos’ Zeiten, über Ambrakia in den Süden.45 Rom löste zudem nach dem Desaster von Phoinike 46 den epirotischen Bund als Schutzmacht im Norden ab. Das bereits erwähnte Proxeniedekret für einen Brundisier ist wohl in diesem Zusammenhang zu sehen.47 So war es nur folgerichtig, daß der ohnehin nicht sehr fest gefügte Bund zerbrach, als Theodotos und Philostratos – letzteren kennen wir aus einer Inschrift als Strategen des Bundes 48 – versuchten, den römischen Konsul A. Hostilius Mancinus zu entführen. Der Konsul fuhr auf das rettende Eingreifen der Tyche hin dann lieber per Schiff weiter nach Thessalien, und der epirotische Bund zerbrach.49 Polybios wirft ein Schlaglicht auf die Umstände, unter denen dies geschah, denn er berichtet, daß besagter Charops die beiden im Bund führenden Persönlichkeiten, den ehemaligen Bundesstrategen Antinoos sowie einen Kephalos, hinterlistig in die Arme des Perseus trieb, um sich selbst mittels römischer Unterstützung an die Macht zu putschen.50 Polybios ist hier freilich etwas voreingenommen, denn Charops ist ihm der widerlichste aller Menschen, für Deportationen und Massaker am eigenen Volk verantwortlich. Das stimmt zwar alles, aber letztendlich müssen

43 Liv. 32,6,1; Plut. Flamininus 4. Vgl. Hammond 1967, 617f. 44 Pol. 27,15. Vgl. Habicht 2006. 45 Eine Untersuchung zum Münzumlauf in Phoinike kann das bestätigen. Hier tauchen ab 168 vermehrt römische Münzen auf. Die Zahl der einbezogenen Stücke ist allerdings sehr gering, so daß sich allzu weitreichende Schlüsse verbieten: Gjongecaj 2008. Zur wachsenden ökonomischen Bedeutung Phoinikes unter der römischen Herrschaft vgl. auch dies. 2002. 46 Pol. 2,8,4. 47 Hammond 1967, 597 – 601; 649; Cabanes 1976, 534,33. 48 Cabanes 2007, Nr. 5; im folgenden als I.Bouthr. zitiert. 49 Pol. 27,16. 50 Pol. 27,15.

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wir wohl annehmen, daß den Abfallbewegungen der nördlichen Stämme und Städte heftige Konflikte unter den Führern des Bundes folgten, die aus handfesten Macht- und Wirtschaftsinteressen resultierten.

3. Nach der römischen Eroberung Die römische Eroberung verstärkte aktiv die ohnehin schon bestehenden Regiona­lisierungstendenzen. Das ist wenig überraschend, zeitigte aber Ergebnisse, die gerade im Zusammenhang mit Problemen der Identität von größtem Interesse sind. Die schriftliche Überlieferung läßt uns hier, wie so oft, völlig im Stich: Würde man Strabon glauben, so wäre nach der römischen Eroberung fast ganz Epiros verödet gewesen und die Siedlungen und Städte lägen vernichtet.51 Die Inschriften und die archäologischen Befunde zeichnen ein anderes Bild. Natürlich hat der massive Vernichtungsschlag der Römer große Teile der Molossis zerstört, die sich die ganze Antike hindurch auch nicht mehr erholt haben. Aber der Triumph Roms war auch der Triumph der Römerfreunde unter den Epiroten, und unter römischem Einfluß wurden einige neue politische Gemeinschaften geschaffen. Eine der folgenreichsten Neuerungen war die Einrichtung des Koinon der Epiroten um Phoinike, das wir aus der Erwähnung auf der Ehrentafel für Kassandros, Sohn des Menestheus, aus Alexandreia Troas kennen. Dieser war bei den Friedensregelungen von 167 zugegen, und die damals noch halbwegs gut davongekommenen Städte und Stämme dankten ihm durch die Verleihung von goldenen Kränzen und bronzenen Statuen.52 Durch Polybios wissen wir, daß dieses Gemeinwesen im Grunde eine Tyrannis des Charops und seiner Familie war. Nach dem durchaus auch dem römischen Eingreifen zu verdankenden Tod des Charops gab es spätestens im Jahre 155 allerdings wieder ein Koinon der Epiroten, über dessen Zusammensetzung und Ausdehnung wir jedoch nichts wissen.53 Einige direkte Eingriffe lassen erkennen, daß sich Rom nach 167 konti­ nuierlich um den östlichen Adriaraum gekümmert hat. So war Rom wohl für

51 Strab. 7,7,3. Vgl. Isager 2001; Riginos 2007. 52 Syll.3 563A. Zu Kassandros aus Alexandreia Franke 1961, 295 – 299; Marek 1984, 188f.; Robert 1936, 28 – 31. 53 Belegt durch Syll.3 654a aus Delphi von 155. Vgl. Cabanes 1987a, 157f.

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die Erhebung des südepirotischen Charadros in den Status einer Polis verantwortlich. Aus einer in Ambrakia gefundenen, leider im betreffenden Teil recht fragmentarisch erhaltenen Urkunde aus dem Jahr 167/654, die die Grenzen zwischen dem Gebiet von Ambrakia und dem von Charadros festlegt, geht hervor, daß sich römische Amtsträger (ἀρχαὶ ῥωμαϊκαί) mit der Angelegenheit befaßten. Auch um die etwa zeitgleichen Grenzstreitigkeiten zwischen den Ambrakioten und den Athamanen kümmerte sich der Senat.55 Die offene Vormachtstellung Roms, seine vielfältigen Einmischungen, nicht zuletzt auch die anschließend zu besprechende Gründung des prasaibischen Koinon, sind schwer mit einem staatsrechtlichen Begriff zu beschreiben. Womöglich kann man von einer Ausweitung des Protektorats sprechen, dessen Wesen ebenfalls schwer in Begriffe zu fassen ist. Die wichtigsten Quellen für die soziale Identität der Epiroten nach der römischen Eroberung stellen die Inschriften von Bouthrotos/Butrint dar, die 2007 vorbildlich publiziert wurden.56 Aus ihnen erfahren wir, daß unmittelbar nach 167 das Koinon der Prasaiben 57 gegründet wurde. Viele Epiroten waren verständlicherweise mit der Terrorherrschaft des Charops unzufrieden, und das betraf vor allem die unmittelbaren Nachbarn seiner Residenz Phoinike. Ti. Gracchus,58 der Vater der Gracchen, hat offensichtlich diese Abspaltungsbewegung unterstützt und gefördert. Eine lange unverstandene Passage bei Polybios („Tiberius machte die Kammaner teils mit Gewalt, teils mit List zu römischen Untertanen“, steht in der drexlerschen Übersetzung 59) weist in Verbindung mit den Inschriften darauf hin. Tat man sich lange schwer mit der Stelle und glaubte, die Kammanoi seien in Kappadokien, auf Sardinien oder in Gallien zu verorten,60 sind sie nun sicher in der Gegend um Butrint lokalisiert, da in einer der Inschriften als Zeugen einige Καμμανοὶ Βουθρώτιοι fungieren.61 Man

54 Cabanes – Andréou 1985. Datierung durch Habicht 1986. Vgl. Cabanes 1986, 86 – 88. 55 IG IX 12,4,796; vgl. Camia 2009. Zur Geschichte und zum Status Ambrakias nach der Königszeit Habicht 1976. 56 I.Bouthr. 57 Drini 1987. 58 Münzer 1923. 59 Als Pol. 31,9,1 = Büttner-Wobst 31,1,1: Ὅτι Τεβέριος τοὺς Καμμανοὺς τὰ μὲν βιασάμενος, τὰ δὲ παραλογισάμενος ὑπηκόους ἐποίησε Ῥωμαίοις. 60 Zu den verschiedenen, allesamt unbefriedigenden Theorien s. Walbank 1979, 463. 61 I.Bouthr. 60 Z. 7.

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hätte das schon zuvor ahnen können, war aber nicht geneigt, Stephanos von Byzanz zu glauben, daß es in Epiros eine Gegend Kammania gegeben habe, die mit der Kestrinia identisch sei.62 Ti. Gracchus hat geholfen, diese Gegend aus dem Herrschaftsbereich des Charops auszugliedern.63 Im polybianischen Original lautet die Wendung Καμμανοὺς ὑπηκόους ἐποίησε Ῥωμαίοις. Das ist das gleiche Vokabular, mit dem Appian die Einrichtung des römischen Protektorats über Korkyra, Pharos, Issa, Epidamnos und die Atintani nach 229 beschreibt.64 So ist nicht davon auszugehen, daß Tiberius die Kammanoi mit Gewalt unterworfen, sondern ihnen in ihrer Revolte gegen Charops und bei der Gründung eines unabhängigen Gemeinwesens beigestanden hat. Butrint, das bereits zuvor ein Zentrum des Koinon der Chaonen war, wurde zur politischen und kultischen Hauptstadt des neuen Bundes. Bei den Inschriften von Butrint handelt es sich neben einigen Dekreten des Chaonen- und des Prasaibenbundes vor allem um zahlreiche Freilassungsinschriften, die am Theater und damit in unmittelbarer Nähe des Asklepios-Tempels angebracht waren. Die politische Struktur des Prasaibenbundes ähnelt offensichtlich der des epirotischen Bundes; wichtige Amtsträger sind die Priester des Asklepios und des Zeus. Aber hier sind die über 90 Ethnika und Sub-Ethnika besonders interessant, die wir im kleinen Bereich des prasaibischen Bundes kennenlernen. Dadurch, daß bei den Freilassungen in der Mehrzahl der Fälle mehrere Besitzer auftreten, können wir hier Clanstrukturen fassen, über die wir anderweitig keine Nachrichten haben. Diese Strukturen widersprechen der Theorie, daß mit der Urbanisierung des 4. und 3. Jh. eine Art „Hellenisierung“ der Sitten und Bräuche einherging. Das scheint keineswegs der Fall gewesen zu sein. Natürlich kann man aus der in Butrint von der Mitte des 2. bis zur Mitte des 1. Jh. v. Chr. erkennbaren Sozialstruktur nicht ableiten, daß es dort „schon immer“ so gewesen war. Entwicklungen sind durchaus anzunehmen. Aber eine komplette Neuschöpfung der späthellenistischen Zeit ist wohl auszuschließen, so daß wir von einem Weiterleben sehr „ungriechisch“ anmutender Familien- und Besitzverhältnisse ausgehen müssen. Gleichzeitig präsentieren

62 Steph. Byz. s. v. Καμμανία: μοῖρα Θεσπρωτίας· μετωνομάσθη δὲ Κεστρινία … οἱ οἰκήτορες Καμμανοί. 63 Dazu Cabanes 1987b; ders. 1986, 88 – 92; ders. 1998. 64 App. Ill. 7: οἱ δὲ ἀπεκρίναντο Κόρκυραν μὲν καὶ Φάρον καὶ Ἴσσαν καὶ Ἐπίδαμνον καὶ Ἰλλυριῶν τοὺς Ἀτιντανοὺς ἤδη Ῥωμαίων ὑπηκόους εἶναι.

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und repräsentieren sich diese Gemeinschaften am und im griechischsten aller Orte überhaupt: dem Theater.65 Betrachten wir einen solchen Familienverband genauer:66

Trochimmas

Philoxenos

Philippos

[Lykophron]

Eiromachos

Tochter

Witwe von

[Lykos]

Menoitas

Andronikos

Lykophron

Pheidylla

Boilla

Pan [---]

Patrokles

Frau von Frau von

65 Zum Theater als Ort der Gemeinschaftsrepräsentation in hellenistischer Zeit v. Hesberg 2009a. Zur Bedeutung von am Theater angebrachten öffentlichen Urkunden s. ders. 2009b, 28 – 32. Innerhalb der epirotischen Bünde scheinen die Theater eine besondere politische Rolle gespielt zu haben, die zu untersuchen wäre. So sind etwa die Sitzstufen des Theaters von Gitana übersät mit bisher größtenteils unpublizierten Namensinschriften (einige wenige in SEG 51,750); die Analemma-Mauer des Theaters von Nikaia (Klos) diente als Publikationsort für Freilassungs- und Bürgerrechtsverleihungsinschriften (SEG 35,696; 38,559 – 568). Hier muß eine noch näher zu bestimmende Entwicklung vorliegen, denn das alte thesprotische Koinonzentrum Elea besaß kein Theater. Zu Elea vgl. neben den seit 1987 laufenden Berichten in ADelt Riginos – Lazari 2007. 66 I.Bouthr. 52 und 94. Vgl. ebd. S. 253, mit nicht ganz vollständigem Stemma. Vgl. auch Cabanes 2010.

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Die sieben hervorgehobenen Personen bilden in I.Bouthr. 52 die Freilassergruppe, das heißt, daß sie gemeinsam Sklaven besessen haben müssen. Sie stammen aus drei verschiedenen Clans, wobei auffällt, daß die Männer Pan[---] und P ­ atrokles ganz offensichtlich durch ihre Heirat von Töchtern des Philoxenos-Clans zu Mitbesitzern werden. Hieraus schließen zu wollen, es habe sich um eine matri­ lineare Gesellschaft gehandelt, in der die Männer in die Familie der Frau wechselten, wäre womöglich etwas verfrüht. Aber auch in zahlreichen anderen Fällen läßt sich beobachten, daß die Freilassergruppe von einer Frau angeführt werden.67 Zudem fällt auf, daß Philippos und seinem Neffen L ­ ykophron keine mitbe­ sitzende Frau zur Seite steht. Könnte es sein, daß die beiden unverheiratet waren und deshalb ihrer Familie noch angehörten? Was das nun alles genau bedeutet, läßt sich ungeachtet der vielen Inschriften, in denen dieses Phänomen auftritt, nicht genau sagen. Jedenfalls ist sicher, daß die Sozial- und Familienstrukturen innerhalb des Prasaibenbundes durchaus anders geartet waren als im Süden, im „klassischen“ Griechenland. Aber gerade in den führenden Kreisen, also unter denen, die die Bundesbeamten stellten – die Strategen, Prostaten und Priester – und die auch finanzkräftiger waren, tauchen unverhältnismäßig viel mehr Einzelfreilasser, also wohl Einzelbesitzer auf, die aus dem vielleicht matrilinearen Schema ihrer Vorfahren ausbrechen, die „hellenisiert“ sind. Diese führenden Schichten, die womöglich durch Handel reich geworden waren und die Welt kannten, waren empfänglich für Neues, für aus dem Süden kommende Rechts- und Familienstrukturen. Als Beispiel mag hier die Familie der Essyrioi dienen:68

Glaukias Archias-Lamia Aristoteles

Sokles Antipatros

Glaukias

67 Zur Stellung der Frau vgl. I.Bouthr. S. 255 – 257. 68 Cabanes 2000; das Stemma ebd.

[---] nos

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Dieses Ethnikon taucht lediglich in Verbindung mit den wenigen hier gezeigten Personen auf. Die Brüder Sokles und Archias erscheinen in zahlreichen Inschriften. Beide hatten das Prostatenamt inne; Archias war auch Stratege der Prasaiben. Aristoteles brachte es bis zum Asklepiospriester, der nicht namentlich bekannte Sohn des Sokles wurde vielleicht Stratege oder Prostates. Der Clan der Essyroi scheint einen gesellschaftlichen Aufstieg geschafft zu haben, konnte diesen aber nicht auf Dauer stellen. Interessant ist nun, wie sich diese Aufsteiger verhielten. Sokles benannte seinen Sohn ganz traditionell mit dem Namen des Großvaters. Archias aber wählte offensichtlich sehr bewußt einen großen historischen Namen und, wohl um ostentativ griechische Bildung zur Schau zu stellen, den in der Gegend sonst nie vorkommenden Namen ­Aristoteles. Folgte Archias bei der einzigen bekannten Freilassung der Familie der lokalen Tradition, indem er gemeinsam mit einer Lamia – seiner Frau oder seiner Mutter – freiließ, so sorgte er dafür, daß sich der Sohn Antipatros auf einem ganz anderen Felde bewährte und international hervortat: Archias heuerte für dessen Ausbildung einen Sporttrainer aus Teos an, und Antipatros gewann bei den Olympischen Spielen des Jahres 136 den Stadionlauf.69 Dieser große Erfolg ging die ganze Gemeinde an, und so ist ein auf Vorschlag des Sokles beschlossenes Proxeniedekret des Prasaibenbundes für den Trainer Chairias aus Teos erhalten.70 Diese Familie versuchte also, wie zahlreiche andere auch, durch ihr Verhalten und durch ihre Selbstdarstellung teilweise aus den traditionellen Regeln ihrer Gemeinschaft auszubrechen, indem sie diese mit neuen, aus dem Süden stammenden Praktiken verbanden, und den Anschluß an die hellenistische koiné-Kultur herzustellen.71 Zum Schluß soll eine Inschrift aus Kassope einen ganz anders gelagerten Fall von Identitätssuche und Identitätsfindung zeigen. Kassope war eine der Städte, die von den Zerstörungen des Jahres 167 betroffen waren.72 Die elischen Kolonien des 6. Jh. in der Kassopia wurden allerdings nicht zerstört. Sie standen auf römischer Seite und scheinen nach 167 bedeutend an Macht gewonnen zu 69 Moretti 1959, Nr. 643. 70 I.Bouthr. 9. Dazu Cabanes 2000, 66; ders. 2001; Robert 1989. 71 Vgl. zu ähnlichen Fällen Cabanes 1976, 421. Ein weiteres interessantes Beispiel wäre das des Appoitas Kydestos, Sohn des Antigonos, der in zahlreichen Inschriften aus Butrint und in einer delphischen Theorodokenliste aus der Mitte des 2. Jh. erscheint: Cabanes – Drini 1994. Die delphische Inschrift: G. Daux, REG 62, 1949, 28, Z. 11 – 13. 72 Cabanes 1976, 297.

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haben.73 Sie haben wohl ein Koinon mit der Hauptstadt Pandosia gegründet, das eigene Münzen prägte,74 nachdem sie von den Römern die Unabhängigkeit erhalten hatten. Auf diese Eleer ist sicher auch die teilweise Wiederbesiedlung von Kassope zurückzuführen. Drei von ihnen errichteten kurz nach 129 auf der Agora von Kassope folgende Inschrift: „Herakles, den Zeusgeborenen, haben sie als ihren Retter verkündet, die aus Kassope, die mit Wagen nach Asien fuhren, als Markos der General ein Heer gegen Aristonikos führte. Als sie den besiegt hatten, führten ihn diese Männer aus Bouchetion nach Rom, die von Oxylos abstammten, dem Alteingesessenen. Heil heimgekehrt brachten sie Opfer dar und stellten diese Statue des Herakles auf, der immer mit ihnen gekämpft hatte.“75 Sie waren stolz auf ihre Abstammung von Oxylos, dem mythischen Gründerkönig von Elis, der die Herakliden 80 Jahre nach dem Trojanischen Krieg auf die Peloponnes geführt hatte.76 Der Großvater dieses Oxylos war Thoas, der aitolische Held, der vor Troja gekämpft hatte. Ihr mythologisches Gedächtnis hatten die Eleer unter der epirotischen Oberhoheit offensichtlich nicht verloren – so ist es gut möglich, daß sie die Gelegenheit nutzten, ihren jetzt erhöhten Status und ihre Eigenständigkeit dadurch eindrucksvoll zur Schau zu stellen,

73 Cabanes – Andréou 1985, 531; Dakaris 1971, 92; ders. 1987, 14. Die seit Dakaris gängige Identifizierung des Rogoi-Hügels mit Bouchetion wird neuerdings in Frage gestellt von Karatzeni 2008. 74 Franke 1955, 107 – 110; Dakaris 1971, 92f.; 157 – 160; Strauch 1996, 141f. Auf einer der Münzen taucht der typisch elische, in Epiros sonst nicht belegte Name Agiadas auf. 75 SEG 36,555 = Merkelbach 1991 = S. I. Dakaris 1987, 16f. (ed. princ.): Φιλώτας Φρύνωνος / Ἵππαρχος Φιλοξένου / Κύλισος Πολυξένου / Ἡρακλεῖ Σωτῆρι / [5] τὸν ἐγ Διὸς βλαστόντα παῖδ̣’ Ἡ̣ρακλέα / Σωτῆρ’ ἀνηγ̣ό̣ρ̣ε̣υ̣σαν οἱ ἀπὸ Κ[ασ]σώπης / μολόντες Ἀσίαν̣ ἱππικοῖς ὀχήμασιν, / ὅτε στρατηγὸς ἦγε̣ Μάαρκος στρατὸν / ἐπ’ Ἀριστόνικον, ὃν κρατήσαντες δορὶ / [10] ῥ̣ώμην ἄγουσιν οἵδε Βουχετίων ἄπο, / βλαστόντες Ὀξ[ύλ]ου τε τοῦ παλαίχθονος, / σωθέντες θύουσιν εἰς πάτραν ἀφειγμένοι, / τὸν συνπα[ρ]α̣στατοῦ[ντ]α πολεμικαῖς ἀεὶ / μάχαις ἀνιδρύσαντο τόνδ’ Ἡρακλέα. Merkelbach hält Zeile 12 für metrisch nicht in Ordnung und fordert eine erneute Prüfung am Stein. Diese habe ich im Museum von Ioannina durchgeführt und kann die Korrektheit von Dakaris’ Edition bestätigen. Der Text ist holprig; hier war kein großer Dichter am Werk. Daher sehe man dem Verf. den mangelnden Wohlklang der Übersetzung nach. Ob in Z. 10 die Stadt Rom gemeint ist oder ob das erste Wort eher kleingeschrieben werden sollte, läßt sich kaum entscheiden. 76 Strab. 8,1,2f.; Paus. 5,3,5 – 7. Die achtzig Jahre gibt Thuk. 1,12,3, an.

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daß sie an die asiatischen Großtaten ihres Urahnen anknüpften, indem sie als adlige Krieger einen Krieg in Asien führten. Kann man aus all diesen Beispielen einen Schluß ziehen oder eine Linie zeigen? Zumindest wird deutlich, wie wenig wir im allgemeinen über Dinge zu wissen pflegen, die außerhalb des Interesses von Polybios und Livius liegen. Ein umfangreiches neues Inschriftenarchiv wie das von Butrint ist in der Lage, ganze Theorien von teleologischen Entwicklungstendenzen „vom Stamm zum Bund“ oder von einer fortschreitenden „Hellenisierung“ der Hellenen in hellenistischer Zeit in Frage zu stellen. Zugleich zeigt ein rares Beispiel, nämlich die Inschrift der Bouchetier aus Kassope, wie ein neu geschaffenes Gemeinwesen mit den Mitteln der intentionalen Geschichte versucht, über die mythologische Abstammung seinen Platz in der griechischen Welt zu finden und diesen auch performativ zur Schau zu stellen. Wenn die politische Situation ein einheitliches Handeln erfordert, werden die Differenzen fast unsichtbar. Aber wir müssen wohl auch innerhalb der aus der Literatur fast nur als kompakte Blöcke bekannten und Bundesstaaten genannten Gefüge mit einer Vielzahl von Mikroidentitäten rechnen, die in der postföderalen Welt des 2. und 1. Jh. bisweilen wieder nach außen dargestellt werden. Wenn diese Identitäten nicht nach außen dargestellt werden, können sie dennoch vorhanden sein. Ohne die Inschriften von Butrint würden wir auch die 90 Sub-Ethnika des Prasaibenbundes nicht kennen, was wiederum zeigt, wie sehr wir von Zufallsfunden abhängen und wie vorsichtig wir immer wieder sein müssen, wenn es darum geht, den antiken Akteuren eine Identität zuzuschreiben.

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Christoph Michels

Von neuem beginnen? Zerstörung und Wiederaufbau von Poleis im Hellenismus 1

1. Einleitung Die absichtsvolle Vernichtung einer Polis durch Zerstörung ihres urbanen Kerns und/oder durch Zerschlagung der die Gemeinschaft konstituierenden Bürgerschaft – auf dem Weg der Vertreibung bzw. Umsiedlung, der Versklavung oder im Extremfall gar der physischen Auslöschung – war die größte Katastrophe für die städtische Identität und angesichts der Ubiquität des Krieges in der hellenistischen Welt eine allzu reale Gefahr.2 Es handelt sich freilich nicht um ein neues Phänomen des Hellenismus. Angesichts zahlreicher Kriege in Archaik und Klassik war Städtezerstörung vielmehr eine Dimension zwischenstaatlicher Beziehungen, die angesichts ihrer Häufigkeit gar so etwas wie eine eigene Terminologie für die möglichen Szenarien

1 Für wertvolle Hinweise während der Diskussion danke ich Linda-Marie Günther, Klaus Tausend und Frank Daubner. Herzlicher Dank gebührt Jörg Fündling, Klaus Freitag und Birgit Michels für die kritische Lektüre des Manuskripts. 2 Sie ist zu trennen von der durch geomorphologische oder klimatische Veränderungen bedingten Aufgabe einer Siedlung wie bspw. die Verlandung von Myus im 2. Jh. v. Chr., dessen Bevölkerung durch Milet aufgenommen wurde. Mackil 2004 hat indes beide Phänomene zusammen unter dem Aspekt der Mobilität von Polisbevölkerungen untersucht. Zur Allgegenwart des Krieges vgl. Chaniotis 2005, 1 – 17 und passim. Versuche, die Kriegführung zu reglementieren, sind bereits für die Archaik greifbar, so in der vertraglichen Festlegung der Mitglieder der Delphischen Amphiktyonie, auf die völlige Zerstörung einer Polis zu verzichten, vgl. StV II 104 (Aischin. Ctes. 105). Doch entwickelte sich daraus nie, wie Klose 1972, 154 hervorhebt, eine „verbindliche Regel des Kriegsrechts“, s. nun Kehne 2006, 235 – 241. Zur Polisidentität in hellenistischer Zeit vgl. etwa Gehrke 2003, der die Charakteristika der Poleis ebd. 237 als „Ehr-, Solidar-, Kult- und Rechtsgemeinschaft“ wie „auch eine Schicksalsgemeinschaft im Sinne von MAX WEBER“ umreißt.

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hervorbrachte.3 Die Rahmenbedingungen von Zerstörung und Wiederaufbau von Poleis im Hellenismus sind jedoch deutlich von der Situation in der Klassik zu trennen. Die mit Begriffen wie ‚Internationalisierung‘, wenn nicht gar ‚Globalisierung‘ umschriebene Entstehung einer multipolaren, hellenistischen Staatenwelt brachte nämlich zwei neuartige Aspekte mit sich, die auf den hier im Zentrum stehenden Untersuchungsgegenstand wirkten und auf unterschiedlichen Feldern städtische Identität berührten. ­(1) Mit den in ständigem Konkurrenzkampf stehenden, hellenistischen Königen traten nun Akteure auf, denen auch die meisten „großen“ Poleis auf der Ebene militärischer Machtfülle nichts entgegenzusetzen hatten, ein Bild, das um die Übermacht der Städtebünde und schließlich Roms zu ergänzen ist.4 Das

3 Das Inventory of Archaic and Classical Poleis kommt für die Zeit bis zum Tode A ­ lexanders auf insgesamt 113 Fälle, in denen eine Polis eines oder mehrere der obigen Szenarien durchlief, vgl. Hansen 2004, 120 – 123. So hatte sich (1) für die Verwüstung des urbanen Zentrums (meist durch Brandstiftung) die Formulierung κατασκάπτειν τὴν πόλιν, bzw. das Substantiv κατασκαφή etabliert. Die (2) Auflösung der Siedlungsgemeinschaft wurde mit διοικίζειν τὴν πόλιν umschrieben, bzw. mit διοικισμός; (3) ἀνδραποδίζειν oder ἐξανδραποδίζειν τὴν πόλιν – bzw. ἀνδραποδισμός bezeichnete die Versklavung und/oder die nicht vollständige Tötung der Bevölkerung (Ausnahmen von dieser Wortbedeutung gibt es dabei durchaus, so etwa bei Pol. 2,6,8, vgl. Walbank 1957 ad loc.). Die (4) Vertreibung der Bevölkerung schließlich war die ἀνάστασις – ἀνάστατον ποιεῖν τὴν πόλιν. Zum Phänomen der Zwangsumsiedlung vgl. nun Kehne 2006 mit dem Versuch einer Typisierung. Hinsichtlich des uns hier hauptsächlich interessierenden Gesichtspunktes des Wiederaufbaus zerstörter Städte ist jedoch Hansens Bemerkung zu berücksichtigen (a. a. O.), dass wir in der Folgezeit oft wieder von angeblich völlig dem Erdboden gleichgemachten Städten hören. Daraus lässt sich schließen, dass in vielen Fällen die Zerstörung des urbanen Zentrums einer Polis und die Auslöschung seiner Bevölkerung weniger effektiv war als es aufgrund antiker, literarischer Darstellungen zu erwarten wäre. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass Stadteroberung und -zerstörung bald Züge eines literarischen Topos gewannen, indem die Darstellung möglichst grauenvoller Details auf einen starken Effekt beim Leser, zumeist ebenso Polisbürger, abzielte. Diesen Vorwurf macht etwa Polybios Phylarch (Pol. 2, 56). Gleichzeitig ist auch bei Zahlenangaben zerstörter Städte mit Übertreibungen zu rechnen: dass etwa Philipp II. 348 allein auf der Chalkidike an die 40 Poleis zerstörte, wie aus Demosthenes (or. 9,26) und Hypereides (fr. 80, Jensen) zu schließen wäre, darf mit Zahrnt 1971, 112 – 114 wohl bezweifelt werden. 4 Vgl. Gehrke 2007, 363 – 365. Die verschiedenen (positiven wie negativen) Formen der Einflussnahme dieser Machtformationen auf eine Polis illustriert beispielhaft die

Zerstörung und Wiederaufbau von Poleis im Hellenismus  127

Risiko für eine Polis, zwischen die Fronten zu geraten, war in den verschiedenen Regionen der hellenistischen Staatenwelt zwar unterschiedlich stark ausgeprägt, aber die Gefahr jenseits auch weiterhin stets präsenter Lokalkriege – die immerhin selten existenzbedrohendes Ausmaß annahmen – in einen Konflikt verwickelt zu werden, muss als hoch angesetzt werden.5 Dass die Eingriffe in städtisches Leben von monarchischer Seite eine neue Qualität gewinnen konnten, wird bereits im Zuge der Gewinnung und Sicherung der Hegemonie über die Hellenen durch Philipp II. und Alexander III. deutlich. Die Zerstörung Olynths, 348 v. Chr., durch Philipp und die Thebens durch Alexander, 335 v. Chr., sind prominente Beispiele.6 Die weitere Geschichte der beiden Poleis illustriert ferner, wie unterschiedlich und situationsbedingt ein Herrscher nach Gewinnung der Kontrolle über eine Stadt vorgehen konnte. Kassander entschied über das spätere Schicksal beider Städte, verfuhr dabei aber grundsätzlich anders. Bekanntermaßen stellte er Theben mit Unterstützung zahlreicher griechischer Städte sowie weiterer Monarchen 315 v. Chr. durch Rückführung der überlebenden Thebaner wieder her und erwies sich, in der Hoffnung auf Prestigezuwachs in Griechenland, dadurch als Euerget.7 Das Territorium und die verbliebenen Bewohner Olynths schlug er hingegen der nach ihm benannten Stadt Kassandreia zu, die er an der Stelle des ebenfalls von Philipp zerstörten Poteidaia gründete.8 Zu diesem Zweck wurde die Bevölkerung Poteidaias und anderer Siedlungen der Pallene herangezogen, so dass diese auf den Status von Dörfern auf dem Territorium des neuen Zentralortes herabsanken. Olynth hörte nun – wie Ausgrabungen bestätigen – endgültig auf

Geschichte des achaiischen Dyme, vgl. Rizakis 2008, 27 – 31. 5 Vgl. Grieb 2012, 51f. Zu den teilweise mit großer Verbissenheit geführten lokalen Konflikten s. Ma 2000; vgl. a. die Übersicht bei Grieb 2012, 51 Anm. 2. 6 Zur Auslöschung Thebens – freilich auf Beschluss des Korinthischen Bundes (Arr. an. 1,9,9; Diod. 17,14,1 – 4; Plut. Alex. 11,11; Iust. 11,3,8 – 11,4,6) – vgl. Gullath 1982, 20 – 24, 60 – 85. Zur Zerstörung Olynths s. Zahrnt 1971, 115 – 119, der das Ausmaß der Katastrophe allerdings schlüssig relativiert. 7 Diod. 19,53,2: διὰ τὴν εὐεργεσίαν ταύτην τυχεῖν ἀθανάτου δόξης. Vgl. Cohen 1995,119 – 120; Bringmann/von Steuben 1995, KNr. 82; Gullath 1982, 86 – 107; zur Motivation Kassanders bes. 104 – 107. Die Spendenliste, IG VII 2419 (= Syll.3 337) ist nun von Kostas Buraselis (Vortrag Köln 10. Mai 2012) um ein weiteres Fragment ergänzt worden (Mus. Theb. Inv. Nr. 32460). 8 Diod. 19,52,2 – 3. 61,2; Leschhorn 1984, 252 – 253.

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zu existieren.9 Seine Bürgerschaft zerfiel in verschiedene Gruppen. Ein Teil der Bevölkerung ging in Kassandreia auf, während viele einstige Mitbürger über die griechische Welt verstreut lebten und überraschend viele in makedonischen Diensten zu finden sind.10 Für Teile ihrer Nachfahren blieb dabei die nicht mehr existente Polis Olynthos offenbar noch bis zur Wende des 2. zum 1. Jh. v. Chr. Referenzpunkt, denn bis in diese Zeit reichen Grabinschriften aus Athen, die das entsprechende Ethnikon bezeugen.11 Die beiden Beispiele stehen für zwei Dimensionen königlichen Handelns, die man mit den Begriffen Machtpolitik und Prestigepolitik umschreiben kann. (2) Nun hat allerdings gerade die Forschung der letzten beiden Jahrzehnte deutlich gemacht, dass die griechischen Poleis trotz des eindeutigen Macht­ gefälles keine ohnmächtigen Bestandteile der hellenistischen Staatenwelt waren.12 Gerade aufgrund der Instabilität monarchischer Herrschaft und der Fragi­lität des Gleichgewichts der Mächte waren die Könige oft von der Kooperation griechischer Städte abhängig. Es etablierte sich ein System von reziprokem Geben und Nehmen, in dem königliche Wohltaten mit städtischer eunoia und Prestige­gewinn für die Könige beantwortet wurden.13 Wie eine Polis von der auch auf dieser Ebene betriebenen Konkurrenz der Könige profitieren konnte, zeigt sich besonders eindrücklich im Falle einer weiteren Zerstörung einer Stadt, Rhodos, in diesem Falle jedoch bedingt durch eine Naturkatastrophe. Nach dem Erdbeben 227/6 konnte die Handelsmetropole Hilfeleistungen von allen großen Königshäusern wie von zahlreichen Städten einwerben, da sich diese durch Präsenz an diesem Zentralort Prestigegewinn versprachen.14 Wesentliche Veränderungen ergaben sich ferner in den zwischenstaatlichen Beziehungen auf Polisebene, denn es ist eine deutliche Erweiterung des Instrumentariums zwischenstaatlicher Kommunikation festzustellen. Hierzu

9 Zahrnt 1971, 209. 10 Zahrnt 1971, 115 – 117. 11 Zahrnt 115 mit Anm. 7; vgl. IG II/III2 10017 – 29, wobei 10021 an die Wende des 2. zum 1. Jh. datiert wurde. 12 Vgl. nur die Beurteilung bei Gruen 1993; Gehrke 2003; Strootman 2011. 13 Strab. 9,2,40; Bringmann 2000. 14 Pol. 5,88 – 90 mit Bringmann/von Steuben 1995 KNr. 199 – 200; 205; 207; 215 und 216 – 220. Vgl. Kobes 1993 und die wichtigen Bemerkungen von Wiemer 2001, 33 – 39 zu den Grundlagen der Ausführungen des Polybios. Meißner 1996 analysiert internationale Hilfsleistungen bei Naturkatastrophen in hellenistischer Zeit.

Zerstörung und Wiederaufbau von Poleis im Hellenismus  129

zählen die häufigen Schiedsverfahren, Asylie-Anerkennungen, das Aussenden von Theorendelegationen im Kontext der Aufwertung von Spielen sowie die verstärkt auftretende Argumentation mit syngeneia, oft mythistorisch begründeten Verwandtschaftsbeziehungen.15 Im Folgenden wird das Phänomen von Zerstörung und Wiederaufbau bzw. Neu- oder Umgründung von Poleis(-gemeinschaften) in hellenistischer Zeit folglich unter zwei Gesichtspunkten exemplarisch betrachtet, die diesen „neuen“ Gegebenheiten Rechnung tragen. Zunächst werden Formen der Einflussnahme auf städtische Identität von monarchischer Seite untersucht, also Eroberung und Zerstörung, Ansiedlung neuer Bürger, Deportation der ursprünglichen Bevölkerung sowie die häufig mit einer Umgründung verbundene Entstehung eines Herrscherkultes als Element der Kommunikation zwischen Stadt und Herrscher.16 Im zweiten Teil wird dann der Frage nachgegangen, inwiefern die Handlungsspielräume griechischer Poleis im Falle einer existenzbedrohenden Katastrophe wie kriegsbedingter Zerstörung bzw. Zerschlagung durch die Intensivierung von diplomatischen Netzwerken erweitert wurden. Eher in traditionellen Bahnen verlaufende Reaktionen auf solche existenzbedrohenden Krisen, wie die Verleihung des Bürgerrechts zur Kompensation eines aus einer solchen Krise resultierenden Bürgermangels, werden hingegen im Folgenden nicht besprochen.17

15 Vgl. Ma 2003, 14; Gehrke 2003, 246. Zu internationalen Schiedsverfahren vgl. Ager 1996; zur Asylie vgl. Rigsby 1996 sowie zum besonders eindrücklichen Beispiel des koischen Asklepieion Buraselis 2004, der zudem danach fragt, inwiefern die Asylieverleihungen Ausdruck eines Schutzbedürfnisses sind oder ob sie doch religiös motiviert sind. Prominentes Beispiel für das Aussenden von Theorendelegationen in alle Winkel der griechischen Welt anlässlich der Einrichtung neuer Spiele ist Magnesia am Mäander, das 208 die Leukophryena neu als penteterisches, stephanites und panhellenisches Fest einrichtete; die Bemühungen der Bürgerschaft in diesem Zusammenhang werden durch zahlreiche Inschriften greifbar, s. IM agnesia Nr. 16 – 87 (Rigsby 1996, 179 – 279), vgl. Slater/Summa 2006. Das Argumentieren mit Syngeneia war kein neues Phänomen des Hellenismus, es wird aber durch die breite epigraphische Dokumentation besser greifbar als in der vorangehenden Zeit, vgl. Erskine 2002, 97 – 98; Erskine 2003, 208 – 209; Lücke 2000, 11 – 13. 16 Vgl. Habicht 1970, 168 – 171. 17 Vgl. hierzu etwa zwei Inschriften (Rizakis 2008, Nr. 3 (SEG 40, 1990, 394) und 4 (SEG 40, 1990, 393)), die ein solches Vorgehen für Dyme greifbar machen, das in der Notsituation

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2. Stadtzerstörung und Wiederaufbau unter „imperialen Vorzeichen“ Schlagender Ausdruck königlichen Machtanspruchs war die auf Eroberung und zum Teil eben auch Zerstörung einer Stadt folgende Umbenennung bzw. Neu-/Umgründung unter dynastischem Namen.18 Wenngleich nicht gänzlich ohne Vorbilder in Archaik und Klassik – wie Irad Malkin betont hat –, legte doch Philipp II. im Wesentlichen die Grundlage für das Vorgehen Alexanders, den dann Diadochen und Epigonen imitierten.19 Wie sehr kleinere Städte dabei zum Spielball der Großreiche werden konnten, zeigt sich im Falle des in der Troas gelegenen Städtchens Kebren. Zunächst wurde Kebren als eine von sieben Gemeinschaften durch Antigonos ­Monophthalmos in das von ihm hier gegründete Antigoneia inkludiert.20 Aus diesem wurde nach Ipsos durch Lysimachos das bekannte Alexandreia Troas.21 Wohl unter Antiochos I. wurde Kebren dann vermutlich als Antiocheia neu gegründet, bis es schließlich doch wieder den ursprünglichen Namen führte.22 Der Namenswechsel konnte dabei durchaus auch als Instrument der Kommunikation von der Bevölkerung einer Stadt genutzt werden, um der Dankbarkeit gegenüber einem Herrscher Ausdruck zu verleihen. Dies ist etwa im Falle von Sikyon überliefert. Hier hatte Demetrios Poliorketes 303 v. Chr. die ptolemaiische Garnison vertrieben und die Bevölkerung auf die leichter zu verteidigende Akropolis umgesiedelt – unter Zerstörung eines Teils der Altstadt.23 In der Folge half er beim Aufbau der neuen Siedlung, der er die „Freiheit“ verlieh. Aus Dank gewährten ihm die Sikyonier einen Kult zu Lebzeiten und benannten ihre Siedlung in Demetrias um, ein Name, der sich allerdings

nach Einfällen der Aitoler und Eleer, 219/18 v. Chr., wohl zunächst ortsansässigen Fremden und dann Söldnern das Bürgerrecht verlieh, vgl. Rizakis 2008, 29. 18 Cohen 1995, 19. 19 Malkin 1985; Cohen 1995, 15 – 23. 20 Strab. 13,1,47; Ricl 1997, zu Kebren s. Ricl 1997, 100 – 102. 21 Ricl 1997, 105 – 109. 22 Ricl 1997, 101 – 102; Cohen 1995, 148 – 151, zur numismatischen Evidenz für ein ­Antiocheia s. ebd., 149 Anm. 1. 23 Dass ein Wiederaufbau mit königlicher Hilfe auch ohne eine solche Umbenennung vonstatten gehen konnte, illustriert das Beispiel Dyme, das nach der Zerstörung durch den römischen Konsul Sulpicius Galba mit Hilfe Philipps V. wiedererrichtet wurde, vgl. Rizakis 2008, 29 mit Anm. 44.

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offenbar nur kurz hielt. In einem Vertrag mit Athen findet sich wenig später bereits wieder die Bezeichnung Sikyonier.24 Nachdem Schweigert diesen Vertrag in das Jahr 303/2 datiert hatte, widersprach dem Ferguson mit dem einleuchtenden Argument, dass nur in der Zeit nach der Schlacht von Ipsos ein erneuter Namenswechsel vorstellbar sei.25 Der Fund eines neuen Fragments hat jedoch jüngst die ursprüngliche Datierung bestätigt.26 Das auch von ­Diodor angemerkte Ende dieser Ehren mag insofern überraschend schnell gekommen sein – oder die Athener verwendeten für die Aufzeichnung des Vertrags noch den traditionellen Namen. Dauerhafter war jedenfalls die Umbenennung Mantineias in Antigoneia.27 Nach der Eroberung der Polis durch den mit den Achaiern verbündeten Antigonos Doson wurden die ursprünglichen Einwohner niedergemacht oder in die Sklaverei verkauft. Doson übergab die Stadt an die Achaier, die sie neu besiedelten. Obgleich Aratos als oikistes auserwählt wurde, erfolgte die Benennung der Stadt zu Ehren des Makedonenkönigs. Erst durch Hadrian wurde der ursprüngliche Name wiederbelebt.28 Üblicher war es jedoch, dass Neugründung der Stadt und Änderung des Toponyms auf Initiative eines königlichen Beamten oder eines Königs erfolgte, welcher durch die Verknüpfung des Städtenamens mit der Dynastie – fortwährenden Erfolg vorausgesetzt – ein dauerhaftes Zeichen seiner Herrschaft über das jeweilige Gebiet setzte.29

24 Diod. 20,102,3: Δημητριάδα μὲν γὰρ τὴν πόλιν ὠνόμασαν, θυσίας δὲ καὶ πανηγύρεις, ἔτι δ’ ἀγῶνας ἐψηφίσαντο συντελεῖν αὐτῷ κατ’ ἐνιαυτὸν καὶ τὰς ἄλλας ἀπονέμειν τιμὰς ὡς κτίστῃ. ἀλλὰ ταῦτα μὲν ὁ χρόνος διαληφθεὶς πραγμάτων μεταβολαῖς ἠκύρωσεν, οἱ δὲ Σικυώνιοι πολλῷ κρείττονα μεταλαβόντες τόπον διετέλεσαν ἐν αὐτῷ μέχρι τῶν καθ’ ἡμᾶς χρόνων ἐνοικοῦντες.; vgl. Paus. 2,7,1; Kotsidu 2000, KNr. 79; Malkin 1987, 233 – 234; Cohen 1995, 126 – 127; Habicht 1970, 74 – 75. Der Vertrag wurde publiziert bei Schweigert 1939, 35 – 41 (= StV III, 445; SEG 41, 50). 25 Schweigert 1939, 41, dagegen Ferguson 1948, 126 Anm. 39, gefolgt von Griffin 1982, 78. 26 Camp 2003, 273 – 275. Die ebd. Anm. 27 angebrachten Belege für Umsiedlungen ohne Umbenennung führen jedoch nicht weiter, da die Umbenennung im Falle Sikyons ja explizit bezeugt ist. 27 Cohen 1995, 123 – 124; Plut. Aratos 45,6 – 7; Pol. 2,54,11; 2,62,11 – 12. 28 Paus. 8,8,12: (…) δέκα δὲ ὕστερον γενεαῖς ἐβασίλευσέ τε Ἀδριανὸς καὶ ἀφελὼν Μαντινεῦσι τὸ ὄνομα τὸ ἐκ Μακεδονίας ἐπακτὸν ἀπέδωκεν αὖθις Μαντίνειαν καλεῖσθαί σφισι τὴν πόλιν. 29 So zerschlug etwa Ptolemaios I. im Jahre 312 die zypriotische Stadt Marion und deportierte seine Einwohner nach Paphos (Diod. 19,79,4). Ptolemaios II. gründete Marion dann um

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Im Falle des bereits angesprochenen Kassandreia finden sich indes Hinweise, dass es beim Synoikismos nicht zum völligen Bruch mit der Vergangenheit der vorherigen Gemeinden kam. Ist für Kassander ein Gründerkult durch einen eponymen Priester erwiesen,30 so hat sich in einer Asylie-Urkunde der ­Kassandreier aus Kos, die in die Zeit des Antigonos Gonatas datiert, die Bestimmung erhalten, dass koische Theoren in das archegéteion von Kassandreia eingeladen werden.31 Was verbirgt sich hinter diesem Bauwerk? Herzog und Klaffenbach wollten zwar ein Heiligtum des Apollon Archegetes nicht ausschließen.32 Da sein Kult in Kassandreia jedoch nicht bezeugt ist, hat die Forschung das archegéteion zumeist als Kultort des neuen Stadtgründers zusammen mit den ursprünglichen Gründungsheroen der nun verbundenen Siedlungen interpretiert.33 Diese Deutung ergab sich aus dem möglichen Parallelfall des in der thessalischen Landschaft Magnesia auf dem Gebiet von Iolkos gegründeten Demetrias, das durch einen Synoikismos der Bürger von zunächst acht und schließlich wohl vierzehn Städten entstand.34 Aus mehreren Inschriften lässt sich hier ein Heiligtum der ἀρχηγέται καὶ κτίσται rekonstruieren, in dem offenbar neben dem neuen Stadtgründer auch die Heroen der nun als komai auf dem Gebiet von Demetrias weiter existierenden, einstigen Poleis verehrt wurden.35 Hier feierte man wohl alljährlich den Synoikismos der Gemeinden

270 als Arsinoe neu, vgl. Cohen 1995, 134 – 136. Die Bedeutung des Namens wird greifbar in einer Inschrift aus dem kilikischen Arsinoe, vgl. Jones/Habicht 1989, in welcher der ptolemaiische Kommandant Thraseas sein Vorhaben, die Pracht der Stadt zu vergrößern (Z. 25: τὴν πόλιν ἐνδ̣ο̣ξ̣έτεραν) damit begründet, sie solle ihrem Namen gerecht werden (Z.  9 – 12: καὶ γὰρ αὐτοὶ σπουδάζομεν περὶ ὑμῶν καὶ βουλόμεθα τὴν πόλιν ἀξίαν τῆς ἐπωνυμίας ποιεῖν, πᾶν τὸ συμφέρον καὶ χρήσιμον συνκατασκευάζοντες καὶ κοινῆι καὶ ἰδίαι τῶν πολιτῶν ἑκάτωι.). 30 Leschhorn 1984, 253 – 254. 31 SEG 12, 373, Z. 15: καλέσαι δὲ αὐτους καὶ εἰς τὸ ἀρχηγέτειον. 32 Herzog – Klaffenbach 1952, 17. 33 Leschhorn 1984, 254 mit Anm. 4. 34 Cohen 1995, 111 – 114. Es waren dies Nelia, Pagasai, Ormenion, Rhizous, Sepias, Olizon, Boibe, Iolkos, vielleicht erst später kamen Aiole, Halos, Spalauthra, Korope, Kasthanaia und Amphanai hinzu. 35 IG IX 2, 1099b, zumeist als Beschluss der Polis Demetrias gedeutet, ist vor kurzem von Graninger 2011 als Volksbeschluss einer „sub-πόλις entity“ interpretiert worden, wie im Falle von Meyer 1936; vgl. ferner IG IX 2, 1129 = Kotsidu 2000, KNr. 110 E1-E3 mit

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und hier wurden vermutlich auch die Gebeine des Demetrios beigesetzt, die sein Sohn, Antigonos Gonatas, nach Demetrias überführt hatte.36 Die Auswirkungen einer solchen Neugründung für die Identität einer Gemeinde illustrieren zwei nur fragmentarisch erhaltene Volksbeschlüsse des demos von Iolkos aus der Zeit des Antigonos Gonatas.37 Der erste verfügt eine Belobigung des Königs für die Wiederaufnahme von Agonen und für Opfer für die Götter (erwähnt werden Leto und Apollon) und Heroen.38 Anlass war offenbar eine grassierende Seuche, die es zu beenden galt (Z. 10 – 11 [… δια|τ] ετέλεκεν κακὰ). Der zweite Beschluss verordnet, die Kulte der archegétai und ktístai wiederzubeleben, die in der Vergangenheit vernachlässigt worden waren.39 Obwohl die Deutungen dieser Passage in der Forschung auseinandergehen, scheint doch die von Meyer entwickelte und von Leschhorn erwogene Interpretation am schlüssigsten, dass über die Jahre die zu einer zentralisierten Kultausübung hin umorganisierten Kulte der ursprünglichen Oikisten und Archegeten gegenüber dem übermächtigen Kult des neuen Stadtgründers Demetrios in den Hintergrund gerückt waren, was von der Gemeinde als Gefahr und mögliche Ursache der Epidemie erkannt wurde.40

Übersetzung; Leschhorn 1984, 262 – 268. Zur Verwendung des Τerminus kome vgl. Hansen 1995. 36 Plut. Demetrios 53,3; Habicht 1970, 76; Leschhorn 1984, 263. 37 Meyer 1936; Kotsidu 2000, KNr. 110 [E3]. 38 ἔδοξεν τῶι δήμωι τῶι Ἰωλκ̣[ίων — — — — εἶπεν· ἐπειδὴ ὁ βα]|σιλεὺς Ἀντίγονος ἔν τε τ[ῶι πρόσθεν χρόνωι ἀεὶ φανερὸς ἦν]| διαφυλάσσων τήν τε πρὸς τ[ὸν δῆμον προαίρεσιν καὶ τὴν πρὸς] τοὺς αὐτοῦ προγόνους ε̣[ὐσέβειαν καὶ ἐπιμέλειαν ποιούμε]|5νος καὶ κοινῆι τῆς πόλεως [καὶ κατ’ ἰδίαν τοῦ δήμου τοῦ Ἰωλ]|κίων καὶ ἀναμιμνησκόμε[νος τούτων ἐνέτυχε τῶι δήμωι] | τοὺς ἀγῶ̣νας ὁρμώμεν[ος συντελεῖν καθάπερ ὁ πατὴρ αὐ]|τοῦ Δημήτριος θύσας [τὰς πατρίας θυσίας τῆι Ἀρτέμιδι] | καὶ τῆι Λητοῖ καὶ τῶι Ἀπόλλ[ωνι καὶ τοῖς ἄλλοις θεοῖς καὶ ἥ]|10ρωσι τοῖς κατέχουσι̣ τ̣ὸν̣ ̣ [δῆμον τῶν Ἰωλκίων ἔπαυσεν ἃ δια]|[τ]ετέλεκεν κακὰ [πάσχων ὁ δῆμος ...] 39 ἔδοξεν τοῖς Ἰωλκί]οις· ἐπειδὴ τὰ μὲν κοινὰ | [τῶν ἀρχηγετῶν καὶ κτιστῶν ἱερὰ] βραχέα ἐστίν, θυσίαι δὲ | [ἄλλαι οὐκέτι ποιοῦνται, κατ]ὰ τὰ πάτρια θύειν τὸν | [δῆμον τὸν Ἰωλκίων τοῖς ἀρχη]γέταις καὶ κτίσταις |5 [τοῦ δήμου, ὅπως μηδέν τι ἐκε]ῖθεν μήνισμα γίνηται | [τῆι πόλει ὀλιγωρουμένων τῶ]ν ἡρώων, ἀλλὰ ὑγιαίνον|[τες οἵ τε πολῖται καὶ οἱ ξένοι οἱ σ]υνοικοῦντες μετ’ αὐτῶν | τὸ λοιπὸν οἷοί τε ὦσιν τήν τε π]όλιν καὶ τὴν χώραν ἐπὶ τὸ | βέλτιον συναύξειν τὰ δίκαια ποιοῦντες το]ῖς θεοῖ[ς |10 καὶ τοῖς ἥρωσιν ...] 40 Meyer 1936, 374; Leschhorn 1984, 265.

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In Demetrias und vielleicht auch in Kassandreia wird somit eine Verschränkung von ursprünglichem Gründerkult und neuem, hellenistischen Herrscherkult greifbar. Über die konkreten Abläufe der Einrichtung dieser Kulte sind wir zwar nicht informiert. Da die städtischen Herrscherkulte jedoch grundsätzlich auf Initiative der Städte eingeführt wurden, lässt sich vermuten, dass auch im vorliegenden Fall die Bürger der neuen Polis maßgeblich beteiligt waren.41 Bei einem solchen Synoikismos konnte es unter den beteiligten Städten Gewinner und Verlierer geben. Dies zeigt sich bei der wohl kurz nach 294 von Lysimachos vorgenommenen Neugründung von Ephesos als Arsinoeia.42 Es handelt sich auch in diesem Fall nicht um eine simple Umbenennung. Vielmehr verlegte der Diadoche die Stadt ca. 4 km gen Südwesten und umgab sie mit einer ca. 8 km langen Mauer. Er stellte damit von neuem eine direkte Anbindung der Stadt zum Meer her, die aufgrund der Ablagerungen des Kaystros überschwemmungsgefährdet war und deren Hafen Verlandung drohte.43 Die von Lysimachos herbeigeführte Umsiedlung erfolgte laut Strabon zunächst gegen den Willen der Bevölkerung und der König musste sich angeblich eines Tricks bedienen, um die Ephesier zu überzeugen.44 Da die Umsiedlung der Stadt jedoch auf lange Sicht nutzte, deutete Édouard Will sie als „acte souverain, mais bénéfique“.45 Lysimachos scheint in der Rückschau als durchaus positive Gestalt der Stadtgeschichte gewertet worden zu sein, denn 104 n. Chr. stiftete ein römischer Ritter, C. Vibius Salutaris, eine Silberstatue des Lysimachos in das Theater von Ephesos.46 Dies sah Habicht als Hinweis darauf, dass der Gründerkult für Lysimachos, der zunächst sicher ausgesetzt worden war, als die Stadt nach Kurupedion an die Seleukiden fiel und wieder ihren ursprünglichen Namen annahm, in der Folgezeit erneut aufgenommen wurde.47 Von Pausanias erfahren wir, dass die Neugründung von Ephesos als ­Arsinoeia ein Synoikismos war, der unter Hinzuziehen der Bürger von Kolophon und Lebedos vorgenommen wurde, und im Falle dieser Städte wird das Ignorieren 41 Habicht 1970, 160 – 179. 42 Zur Gründung von Arsinoeia/Arsinoe s. Robert 1989, 77 – 85; Cohen 1995, 177 – 180; Rogers 2001; Reger 2004, 150; vgl. passim zum Gesamtphänomen im hellenistischen Kleinasien. 43 Robert 1989, 80 – 81; Walser 2008, 73 – 74. 44 Strab. 14,1,21. 45 Will 1979, 101. 46 OGIS 480; Habicht 1970, 41; Leschhorn 1984, 256 – 257. 47 Habicht 1970, 40 – 41.

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jeglicher Polisinteressen von königlicher Seite greifbar. Pausanias hebt nämlich hervor, dass die beiden Städte gewaltsam geräumt wurden. Für Kolophon weiß er sogar von einem Gefecht zu berichten, bei dem die Polis offenbar Hilfe von Smyrna erhielt.48 Die Darstellung des Pausanias ist zuweilen als Übertreibung gewertet worden, doch wird seine Version nun durch eine Inschrift aus dem Apollonheiligtum von Klaros gestützt.49 In dem in die Zeit 120 – 100 v. Chr. datierenden Ehrendekret für den Kolophonier Menippos wird zweimal ein Prepelaion-Bezirk erwähnt.50 Dies haben Jeanne und Louis Robert überzeugend so erklärt, dass es sich um einen Kultbau für Prepelaos handelte, einen General des Lysimachos, der wohl zu einem nicht genau zu eruierenden Zeitpunkt nach dem Synoikismos für den Wiederaufbau und die Neugründung von Kolophon eintrat und dafür von den Kolophoniern geehrt wurde.51 Auch Lebedos hat den Synoikismos schließlich wieder verlassen können.52 Die Stadt, die bereits Antigonos Monophthalmos mit Teos zusammenlegen wollte,53 konnte sich ihrer neugewonnenen Freiheit jedoch nur einige Jahrzehnte erfreuen. Mehrere Zeugnisse weisen darauf, dass Lebedos vermutlich während des 3. Syrischen Kriegs (246 – 241) unter dem Namen Ptolemais neugegründet wurde.54 Für diese Phase ptolemaiischer Oberherrschaft ist nun ein aus Magnesia am Mäander stammendes Asyliedekret von 208 von Interesse. Denn hier erscheinen die Einwohner von Lebedos als die „Ptolemaier, die zuvor Lebedier genannt wurden“.55 Sheila Ager hat dies zu Recht als Reflex eines Versuchs der Bürger des einstigen Lebedos gedeutet, die „civic identity“ ihrer Polis zu erhalten.56 Dass dieser schließlich von Erfolg gekrönt war, denn 48 Die Zerstörung Kolophons und der Widerstand seiner Bevölkerung findet sich bei Paus. 1,9,7. Dass die Einwohner von Smyrna Hilfe leisteten, ergibt sich vielleicht aus Paus. 7,3,4, denn hier erwähnt er Gräber von Bürgern beider Poleis, die in dem entsprechenden Kampf gestorben seien. Zur rücksichtslosen Behandlung von Lebedos s. Paus. 7,3,5. 49 Robert 1989, 77 – 85. 50 SEG 39, 1244 (= Robert 1989, 63 – 66) col. I, Z. 23 und 36: τὸ Πρεπέλαιον. 51 Robert 1989, bes. 83 – 85. 52 OGIS 222 mit Ager 1998, 15. 53 Ob es dazu jemals kam, ist unsicher. Ager 1998, 9 – 12 spricht sich dafür aus, dass dieser Synoikismos ausgeführt wurde. 54 Ager 1998, 15 – 16. 55 IM agnesia 53, col. 2, Z. 79 – 81: Π̣τολεμαιεῖς οἱ | πρότερον καλού|μενοι Λεβέδιοι (=Rigsby 1996, Nr. 102); Ager 1998, 15 – 17. 56 Ager 1998, 16 – 17.

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zu Beginn des zweiten Jahrhunderts können wir Lebedos wieder unter seinem ursprünglichen Namen greifen, ist durchaus bemerkenswert.57 Sind bei diesen oktroyierten Synoikismoi somit Versuche feststellbar, die „ursprüngliche“ Polisidentität zu erhalten,58 so spielen die Konstruktion von und der Appell an Identität auf der Ebene zwischenstaatlicher Hilfsgesuche ebenfalls eine große Rolle und sollen nun in den Blick genommen werden.

3. Stadtzerstörung und zwischenstaatliche Hilfe Um international um Hilfe anzufragen, musste man nicht den Rang einer Handelsmetropole wie Rhodos besitzen. Dies illustriert eine in den letzten Jahren vielbehandelte Inschrift aus dem Letoon der lykischen Stadt Xanthos.59 Sie gewährt ungewöhnlich detaillierte Einblicke in die Argumentationsstrategien bei einer solchen Anfrage, die in diesem Fall von der in der Doris gelegenen Kleinstadt Kytenion vorgebracht wurde.60 Diese war – bereits zuvor durch ein Erdbeben geschwächt – wohl im Jahre 228 wie mehrere weitere Poleis durch Antigonos Doson im Rahmen von dessen Krieg gegen die Thessaler und den Aitolerbund zerstört worden.61 Da die angrenzenden Poleis ebenso gelitten hatten, war für Kytenion eine lokale Lösung durch Einwerbung von finanziellen Mitteln bei privaten Geldgebern, wie wir sie bei der Erweiterung des Mauerrings von Kolophon greifen können, offenbar nicht möglich.62 Daher wurden 206/5 v. Chr. diverse Gesandtschaften ausgeschickt, um international finan­ zielle Unterstützung für den Wiederaufbau zu erbitten.63 Dokumentiert ist der 57 Ager 1998, 17 – 18. 58 Ager 1998, 6 sieht eine „fierce determination to maintain, if not autonomy, then at least identity“. 59 SEG 38, 1988, 1476, Curty 1995, 183 – 191, Nr. 75; Lücke 2000, 30 – 52. 60 Jones 1999, 61 – 62, 139 – 143. 61 Z. 93 – 98. Zu den historischen Hintergründen und zur Datierung der Zerstörung Kytenions s. Walbank 1989. 62 Maier 1959, 69; Cohen 1995, 184 – 185. 63 Das Aussenden mehrerer Gesandtschaften kann aus dem Text abgeleitet werden, denn in dem zweiten der vier festgehaltenen Schriftstücke, einem Beschluss des Aitolerbundes, wird in Z. 73 – 79 den Kyteniern die Erlaubnis erteilt, Gesandte zu den mit ihnen verwandten Städten auszuschicken, wie auch zu den Königen Antiochos (III .) und Ptolemaios (IV.), vgl. Erskine 2003, 205.

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Besuch von drei Abgesandten in Xanthos, wo diese ein dramatisches Bild von der Lage ihrer Polis zeichneten. Nach den Zerstörungen sei die Stadt sogar in Gefahr, buchstäblich ausradiert (ἐξαλειφθεῖσαν) zu werden.64 Obwohl diese eindrückliche Darstellung der Notlage ebenfalls von Bedeutung war, bestand die Grundlage für das Hilfsgesuch in der Syngeneia der beiden Städte. Die Verwandtschaftsbeziehung zwischen den Kyteniern bzw. Dorern, denn diese Identitätsebene steht in der Eigenbezeichnung der städtischen Zugehörigkeit voran, und den Xanthiern wurde von den Gesandten detailliert, wenngleich recht kreativ über Götter und Heroen hergeleitet.65 Obwohl bereits in Spätarchaik und Klassik greifbar, gewann dieser von Christopher P. Jones als „kinship diplomacy“ gefasste argumentative Rahmen im Laufe des 4. Jh. mit der Erweiterung und Verdichtung diplomatischer Netzwerke eine neue Dimension.66 In hellenistischer Zeit gehörte er zum Standardrepertoire des diplomatischen Diskurses. Die Gesandten Kytenions beschränkten sich indes nicht auf eine mythistorische Argumentation. Im Gepäck hatten sie vielmehr ein Empfehlungsschreiben der Strategen und Synhedroi des Aitolerbundes.67 Dies korrespondiert damit, wie man sich in Xanthos offenbar präsentiert hatte, denn die drei Kytenier erscheinen im Volksbeschluss der Xanthier als Gesandte des Aitolischen Bundes, als Dorer aus der Metropolis (also der Landschaft Doris), aus Kytenion und damit als Teil eines den Xanthiern sicher bekannten Machtblocks.68 In Z. 40 – 42 und 109 – 110 wird zudem auf das durch eine Hilfeleistung zu erringende Wohlwollen König Ptolemaios’ IV. hingewiesen, der über das Heraklidentum seiner Dynastie ebenfalls zum Verwandten der

64 Z.  99 – 101: : ἀξιάζομες οὖν ὑμὲ | μνασθέντας τᾶς συγγενείας τᾶς ὑπαρχούσας ἁμῖν | ποθ’ ὑμὲ μὴ περιιδεῖν τὰμ μεγίσταν τᾶν ἐν τᾶι Ματροπόλ[ι πό]|λιν Κυτένιον ἐξαλειφθεῖσαν. Mit ἐξαλείφω ist semantisch das Auftragen von Farbe auf eine Oberfläche und damit die Vorstellung eines wirklichen Auslöschens des Vorhandenen verbunden. Wortverwechslung mit λείπειν bei Lücke 2000, 37: „verlassen wurde“. 65 Z. 17 – 30. Zu der ungewöhnlichen Mythenversion s. Lücke 2000, 43 – 45; Patterson 2010, 118 – 123. 66 Jones 1999, 49: „The diplomacy of kinship was now entering on its most active phase.“, vgl. ebd. 50 – 65; Lücke 2000, 120 – 122; Erskine 2003, 211 – 213; Patterson 2010, 160 – 161. 67 Z.  79 – 88. 68 Z.  7 – 9: (…) ἐπειδὴ ἀπὸ τοῦ κοινοῦ τῶν Αἰτωλῶν | παραγεγόνασιν πρεσβευταὶ Δωριεῖς ἀπὸ Μητροπόλιος | ἐκ Κυτενίου Λαμπρίας, Αἴνετος, Φηγεὺς (...).

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Dorer wird und in dieser Zeit wohl Kontrolle über Teile Lykiens ausübte, wie sich aus dem Präskript ergibt.69 Das Gesuch hatte allerdings nur mäßigen Erfolg. Die Xanthier erklärten sich aufgrund eigener finanzieller Probleme, die eine Haushaltssperre notwendig gemacht hatten, zu einer Zahlung von lediglich 500 Drachmen bereit.70 Nichtsdestotrotz hielten die Xanthier diesen Vorgang auf einer Stele mit der beachtlichen Höhe von 1,94 m fest, was dem Anlass eigentlich nicht angemessen scheint. Die Argumentationsgrundlage der Kytenier, die Syngeneia, wurde also durchaus akzeptiert, und sie bot den Xanthiern die Möglichkeit, eine prestigeträchtige Verbindung zum „urgriechischen“ Mutterland öffentlich auszustellen.71 Eine Argumentation mit Syngeneia zeigt sich auch bei einer Hilfeleistung des arkadischen Stymphalos für die bedeutende phokische Polis ­Elateia, von der wir nur durch eine in Kionia bei Stymphalos gefundene Kopie eines Ehrendekrets der Elateier für die Stymphalier wissen.72 In diesem Fall war es zum Äußersten gekommen. Nachdem Elateia während des Zweiten Makedonischen Kriegs von römischen Truppen erobert worden war, wurden seine Einwohner – entweder noch von T. Quinctius Flamininus oder wahrscheinlicher von den zu dieser Zeit mit Rom alliierten Aitolern, an die die Stadt schließlich übergeben wurde, – aus ihrer Polis vertrieben.73 Die Elateier fanden auf

69 Z. 1 – 7; Huttner 1997, 128 – 129; Lücke 2000, 45 – 46. 70 Z. 49 – 73, bes. 62 – 64. Die Größenordnung wird klar, wenn man sie mit den 245.000 – 360.000 Drachmen vergleicht, die Kolophon im späten 4. Jh. als Mauerbauanleihe größtenteils von eigenen Bürgern einwarb, vgl. Maier 1959, Nr. 69, 230. 71 Lücke 2000, 49 – 52. 72 Mitsos 1946; SEG 11, 1107; Maier 1959, 132 – 136 Nr. 30; Gawantka 1972, Nr. 35; IPArk 18; Text mit deutscher Übersetzung bei Thür/Taeuber 1994, Nr. 18 und Lehmann 1999. Zu Elateia vgl. McInerney 1999, 133, 239 – 241 sowie passim. Zu Landschaft und Besiedlung der Phokis vgl. McInerney 1999, 40 – 80, zu Elateia bes. 51 – 57. 73 Der erhaltene Teil des Ehrendekrets gibt zu dieser Frage keine Informationen und die in der Forschung heiß umstrittene Frage ist in dem hier in den Blick genommenen Zusammenhang ohne Bedeutung. Daubner 2011, 21 Anm. 14 folgt Lehmann 1999 in der von ihm bereits mehrfach vorgebrachten Schuldzuschreibung an die Aitoler, in diesem Sinne auch Larsen 1968, 405 – 406; die Forschung ist übersichtlich bei Thür/Taeuber 1994, 253 zusammengefasst. McInerney 1999, 133 hat vorgeschlagen, die in IG IX,1 101 erwähnten Phoker auf der Peloponnes (Φωκέων ἐν Πελοποννάσωι) in diesem Kontext zu sehen. Die Inschrift wird jedoch gemeinhin an das Ende des 3. Jh. gesetzt. Auf

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dem Gebiet des arkadischen Stymphalos Zuflucht, wohl mit Zustimmung des Achaierbundes, dessen Mitglied Stymphalos war.74 Die Inschrift liefert, obwohl nur zum Teil erhalten, zentrale Informationen zur Aufnahme der Bürger Elateias. Sie wurden in einzelnen Familien aufgenommen (Z. 3 – 4),75 erhielten Getreide aus öffentlichen Mitteln (Z. 4 – 5), die Stymphalier ließen sie an ihren Kulten teilnehmen (Z. 5 – 6) und stellten ihnen einen Teil ihres Gebietes zur Nutzung zur Verfügung (Z. 6). Schließlich wurde den ­Elateiern eine Abgabefreiheit für zehn Jahre (Z. 6 – 7) gewährt, also vielleicht eine Art Integrationsfrist.76 Diese Regelungen, die im Tempel der Artemis Brauronia publiziert wurden, stellten damit für die Stymphalier privat wie staatlich eine Belastung dar und angesichts dessen, dass Elateia wohl die größere Polis gewesen war, hat Mitsos zu Recht spekuliert, ob nicht weitere Poleis des Achaierbundes Hilfe leisteten bzw. einen Teil der Flüchtlinge aufnahmen, worüber wir jedoch aufgrund der fragmentarischen Überlieferung nichts wissen.77 Frank Daubner hat vor kurzem auf die Exzeptionalität dieser Privilegierung hingewiesen. Gustav Adolf Lehmann folgend vermutet er, dass geplant war, „die Migranten mit der Bürgerschaft zu verschmelzen“.78 Für diese war eine Rückkehr in ihre Heimat, wie sie schließlich erfolgte, zunächst nämlich nicht absehbar. In welchem Ausmaß den Elateiern eine politische Partizipation eingeräumt bzw. ob ihnen das Bürgerrecht zugestanden wurde, wird aus der Inschrift nicht ganz deutlich.79 Akzeptiert man S. 258 Anm. 13 bringt McInerney selbst die entscheidenden Argumente gegen eine solche Interpretation. 74 Als notwendige Voraussetzung wird die Zustimmung des Achaierbundes wohl zu Recht von Larsen 1968, 238 – 239 aus dem weiteren Verlauf der Hilfeleistungen erschlossen. 75 Vergleichbare Fälle nennt Daubner 2011, 22 Anm. 16. 76 Z.  3 – 7: : — — —αις ὑπεδέξαντο ἕ[κ]αστος ἐπὶ τὰν ἰδι[αν] ἑστίαν μετὰ πάσας φι|[λανθρωπίας(?), ἀπό τε τ]οῦ ἀπό τε τ]οῦ δαμοσίου ἐσειτομέτρησαν πᾶσιν ἐν πλείονα χρόνον καὶ ὅσων |5 [χρεία ἦν μετέδωκα(?)]ν πάντων· καὶ ἱερῶν καὶ θυσιᾶν ἐκοινώνησαν, νομί[ξ]αντες ἰδίους | [πολίτας εἶναι· καὶ τ]ᾶς αὑτῶν χώρας ἀπεμέριξαν καὶ {καὶ} διέδωκαν Ἐλατέοις καὶ ἀτέ|[λειαν πάντων ἐτέω]ν δέκα·(...). 77 Mitsos 1946, 165. Dass hiervon in einem Ehrendekret für die Stymphalier keine Rede gewesen sein muss, liegt auf der Hand. 78 Daubner 2011, 23, Lehmann 1999, 69 Anm. 2. Vgl. a. Thür/Taeubner 1994, 258: „langfristige, vielleicht sogar endgültige Maßnahme“. 79 Entsprechend sah Seibert 1979, 189 die Regelungen als auf einen „vorübergehenden Aufenthalt“ der Elateier ausgerichtet.

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die Rekonstruktion in Z. 5 – 6 νομί[ξ]αντες ἰδίους | [πολίτας εἶναι], deutet dies sicher in eine solche Richtung, und Gawantka schloss, die Elateier seien „als Bürger aufgenommen“ worden.80 Wäre bei einem solchen Status dann aber die vorangehende, separate Erwähnung der Teilnahme an den Kulten (Z. 5: καὶ ἱερῶν καὶ θυσιᾶν ἐκοινώνησαν) notwendig gewesen? Für weitgehende Partizipationsmöglichkeiten sprechen allerdings vielleicht die Privilegien, die die Elateier später den Stymphaliern als Dank für die erwiesene Hilfe verliehen. Neben Atelie (oder Asphalie) und Asylie erhielten sie die Möglichkeit des Zuganges zu Rat und Ekklesia des wiederhergestellten Elateia gleich nach den Einleitungsopfern, ferner sollten sie „teilhaben an den gemeinsamen Opfern und allen anderen Ehrungen und Vergünstigungen“.81 Hier werden neben den religiösen Befugnissen indes auch die politischen im Detail aufgezählt. Ob sie diejenigen der Elateier in Stymphalos spiegeln, ist, wie gesagt, nicht klar. Auch nach der Rückkehr der Elateier um 189 und der Restituierung von Polis, Land und Gesetzen, die mit Vermittlung des Achaierbundes vom Konsul M.’ Acilius Glabrio erwirkt wurde, kamen die Stymphalier ihnen zu Hilfe.82 Zur Nahrungsversorgung erhielten die Stymphalier vom Achaierbund die Erlaubnis, trotz eines aufgrund von Nahrungsknappheit verhängten Ausfuhrverbots, das von den Elateiern auf dem ihnen zugewiesenen Land erwirtschaftete Getreide exportieren zu dürfen (Z. 13 – 18).83 Nach internen Problemen im Kontext des Wiederaufbaus der Befestigungsanlagen stellte Stymphalos zur Vermittlung ferner drei Richter (Z. 18 – 22).84

80 Gawantka 1972, 92 Anm. 2, vgl. 77. Vgl. jedoch zu Recht Mackil 2004, 504 Anm. 71: „Whether the phrase implies that the Stymphalians actually conferred citizenship upon the resident Elateians, or whether it suggests simply that they treated them with the same respect as they showed to their own citizens, is not made clear“. 81 Z. 28 – 31: ὑπάρχειν δὲ Στυμφαλίοις ἐν Ἐ|[λατείαι ἀτέλειαν(?), ἀσυλ]ίαν καὶ πόθοδον ποτὶ βουλὰν καὶ ἐκκλησίαν πρώτοις μετὰ τὰ προϊερά, καὶ | [μετέχειν αὐτοὺς ἐν Ἐλατ]είαι τᾶν κοινᾶν θυσιᾶν καὶ τῶν ἄλλων τιμίων καὶ φιλανθρώπων π̣άν̣ |̣ [των· (Rekonstruktion nach Lehmann 1999); bei Gawantka 1972, Nr. 35 als „einseitige Verleihung“ der Isopolitie gefasst. 82 Z.  12 – 13: καὶ Μανίου ἐπιχωρ[ή]|[σαντος ἀποδοθῆμεν] Ἐλατέοις τάν τε π[ό]λ̣ιν καὶ τ[ὰν] χ[ώ]ραν καὶ τοὺς νόμους. Zur Lesung νόμους s. Klaffenbach 1968. 83 Vgl. dazu Habicht 1985, 67 – 68. 84 Vgl. dazu Thür/Taeuber 1994, 260.

Zerstörung und Wiederaufbau von Poleis im Hellenismus  141

Es handelt sich bei dem Vorangegangenen nicht um ein einmaliges Geschehen, wenngleich sich die innergriechische Solidarität auch im Hellenismus durchaus in Grenzen hielt.85 Auf Bundesebene ist hier die Aufnahme der Delier, deren Heimat 166 von den Römern den Athenern übergeben worden war, und die Vergabe des Bürgerrechts durch die Achaier zu nennen.86 Mit Unsicherheiten behaftet bleibt die Rekonstruktion des Vorgehens des Achaiischen Bundes im Falle der Aufnahme der Bevölkerung des einstigen Bundesmitglieds Aigina. Nachdem die Polis von den Römern erobert und ihre Bevölkerung in die Sklaverei verkauft worden war, wurde sie den Aitolern übergeben, die die Insel 211 v. Chr. dem Pergamener Attalos I. verkauften.87 Was nun mit den Aigineten nach ihrer Versklavung bzw. Flucht passierte, ist ganz unklar. 188/7 sprach sich jedenfalls laut Polybios ein gewisser Kassandros aus Aigina vor der achaiischen Bundesversammlung gegen die Annahme eines Geldgeschenks Eumenes’ II. aus und begründete dies mit der Behandlung seiner einstigen Heimatpolis durch die Pergamener. In welcher Funktion er indes vor der Versammlung sprechen konnte – als Abgesandter einer Mitgliedspolis, auf Basis seines (als Bürger des einstigen Bundesmitglieds Aigina immer noch bestehenden) achaiischen Bürgerrechts oder als Vertreter einer ähnlich wie die Delier kollektiv angesiedelten Exil-Gemeinschaft (wie dies Lehmann vermutet), geht aus Polybios nicht hervor und ist aufgrund der unklaren Struktur der a­ chaiischen Bundesversammlungen kaum zu beantworten.88

85 Weitere Beispiele bei Mitsos 1946, 167, Daubner 2011, 27 Anm. 29; notwendige Einschränkung bei Daubner 2011, 28 – 29. 86 Pol. 32,17. 87 Pol. 9,42,5 – 8. 11,5,8. Die Aigineten baten den römischen Feldherren P. Sulpicius Galba in dieser Situation, die ihnen verwandten Städte um die Stellung von Lösegeld ansuchen zu dürfen. Dieses Gesuch auf der Basis von Syngeneia scheint jedoch nicht von Erfolg gekrönt gewesen zu sein, vgl. Erskine 2002, 110 Anm. 1. Zur Herrschaft der Attaliden über Aigina s. Allen 1971. 88 Pol. 22,8,9 – 12. Lehmann 2001, 86, Anm. 116 sieht es als erwiesen, dass Aigina den „Status einer Bundes-Gemeinde“ behalten habe. Doch hat Aymard 1938, 102 – 120 (dem folgend O’Neil 1980, 47; Walbank 1979 ad loc.) die Anwesenheit des Kassandros so zu erklären versucht, dass er als Bürger des einstigen Bundesmitglieds Aigina immer noch das achaiische Bürgerrecht besaß und als solcher an der Versammlung teilnehmen konnte. Zu den Versammlungen des Achaiischen Bundes vgl. die Forschungsüberblicke bei Lehmann 2001, 71 – 81 und Roy 2002, 84 – 85. Grundsätzlich ist hier sicher ferner

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Auch auf städtischer Ebene finden sich Vergleichsbeispiele. So wurden etwa die Männer des kretischen Lyttos um 220 v. Chr. nach einem Überraschungsangriff der Knossier von der Nachbargemeinde Lappa aufgenommen, bis ihre zerstörte Stadt später wieder aufgebaut wurde.89 Dem Szenario von Elateia ähnlicher ist ein Fall in Sizilien. Hier nahmen die Bürger von Entella nach einem karthagischen Angriff wohl im Zeitraum 263 – 250 v. Chr. ein ganzes Netzwerk sizilischer Kontakte in Anspruch, über das wir durch den spektakulären Fund einer Reihe von auf Bronzetafeln festgehaltenen Ehrendekreten informiert sind.90 Sie fanden im Gebiet von Enna Zuflucht, während Segesta bei der Rückführung der zu einem großen Teil in Gefangenschaft geratenen Bevölkerung half.91 Unter römischer Oberaufsicht wurde Entella schließlich in einem Synoikismos wiedergegründet, laut Loomis vielleicht im Zeitraum 254 – 241, wobei Nachbargemeinden ebenso wie Privatpersonen Getreide und Hilfe stellten.92 Der Fall des phokischen Elateia steht jedoch insofern auf einer anderen Ebene, als die Hilfeleistung hier nicht aus einer der Nachbarregionen erfolgte – im Falle Entellas betrug die Distanz zur am weitesten entfernten, Hilfe leistenden Gemeinde mit Gela immerhin 128 km –, sondern von einem arkadischen Stadtstaat auf der Peloponnes geleistet wurde.93 Verbindendes Element und Grundlage der nicht bezeugten, aber sicher vorauszusetzenden Anfrage waren wie im Falle von Kytenion mythistorische Verwandtschaftsbeziehungen, auf die

das Problem, ob Kassandros nur von Polybios als Aiginet bezeichnet wird oder dies als (argumentative?) Selbstbezeichnung wählte. 89 Pol. 4,54, vgl. dazu Chaniotis 2006, 98 – 99. 90 SEG 30, 1980, 1117 – 1123; 32, 1982, 914; 34, 1984, 934; 35, 1985, 999; 40, 1990, 785; Loomis 1994, 138 – 153; Mackil 2004, 503 – 504; Chaniotis 2005, 226 – 227. Bei Tafel VII handelt es allerdings wohl um eine moderne Fälschung, vgl. Loomis 1994, bes. 133 – 137, 159 – 160. 91 Loomis 1994, 143 mit Nachweisen. 92 Getreide kam von Petra, Kytattaria, Schera und Makella, ebenso wie von einzelnen Bürgern Petras und einem Mamertiner. Für Hilfe in diesem Zusammenhang wurde ferner Herbita, Gela und Assoros gedankt, vgl. Loomis 1994, 142 – 143. 93 Warum die Hilfe nicht aus dem Raum der Phokis erfolgte, ist nicht definitiv zu beantworten. Die Situation erscheint aber insofern vergleichbar mit dem der Anfrage der Kytenier zugrundeliegenden Szenario, als die Städte der Umgebung nach der rö­mischen Eroberung und der Übergabe an die Aitoler wohl nicht in der Lage waren, Hilfe zu stellen.

Zerstörung und Wiederaufbau von Poleis im Hellenismus  143

in Z. 2 des Ehrendekrets vermutlich explizit hingewiesen wurde.94 Der für die Ableitung der Verwandtschaft relevante Textabschnitt ist zwar nicht erhalten, durch Pausanias erfahren wir jedoch, dass die Verbindung über die eponymen Heroen Elatos und Stymphalos vorgenommen wurde.95 Im Falle von Elateia werden allerdings auch die Grenzen der durch syngeneia konstruierten Verpflichtungen deutlich. 50 Jahre später nämlich, 146 v. Chr., baten Pausanias zufolge 1.000 Arkader, unter ihnen auch Stymphalier, um Aufnahme in Elateia, nachdem die achaiische Armee, zu der sie gehört hatten, bereits von den Römern geschlagen worden war.96 Zuerst entsprach Elateia dem Ansuchen, als man aber feststellte, wie aussichtslos die Lage war, wurden die Arkader aufgefordert, das Gebiet der Polis zu verlassen, und in der Folge bei Chaironeia von den Römern niedergemacht.

4. Fazit Im Vorangehenden wurde ein Phänomen der griechischen Geschichte, die Zerstörung und der Wiederaufbau von Poleis, vor dem Hintergrund der spezifischen Rahmenbedingungen der hellenistischen Staatenwelt betrachtet. Dabei wurden zunächst Transformation und Weiterbestehen von Polisgemeinschaften als Folge monarchischer Eingriffe in den Blick genommen. Die hier exemplarisch vorgestellten Phänomene berührten städtische Identität auf ganz unterschiedlicher Ebene. Es wurde jedoch deutlich, dass bei der Einordnung der Bevölkerung in eine neue Umgebung bzw. neue Strukturen häufig kein kompletter Bruch mit der Vergangenheit erfolgte, sondern vielmehr Kontinuitäten überwogen. Der zweite Teil behandelte die Handlungsspielräume der Bürgerschaft einer Polis im Falle ihrer Zerstörung. Anhand zweier Fallbeispiele konnte hier aufgezeigt werden, wie die Argumentation mit Syngeneia es ermöglichte, in einer Notsituation jenseits der direkten Nachbarregionen Hilfe zu erbitten. Obgleich dem 94 [- - -]νοι καὶ ἐκτενεί[αν φιλα]ν̣θ̣ρωπίας τᾶι σ̣[υγγενείαι καθ]ακοῦσαν καὶ κατα Akzeptiert man diese Lesung, vgl. Habicht 1985, 68, kann nicht die Rede davon sein, das Dekret enthalte „keinerlei konkreten Hinweis darauf, daß zwischenstaatliche Verwandtschaft hier eine Rolle gespielt hat“, so Lücke 2000, 86. 95 Paus. 8,48,8; 8,4,2 – 6; 10,9,6; 10,34,2; 10,34,6; FDelph III 1,3 – 11. III 4, 142 – 144; vgl. dazu Habicht 1985, 68 sowie Lücke 2000, 86; Daubner 2011, 24 – 25. 96 Paus. 7,15,5.

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Engagement der Kytenier wenig Erfolg beschieden war und die Elateier später der Ratio gegenüber verwandtschaftlichen Verpflichtungen den Vorrang gaben, sind die zugrundeliegenden Argumentationsstrategien als überaus wirkungsmächtig zu sehen. Dem erhöhten Risiko, Opfer kriegerischer Auseinandersetzungen zu werden, stand zumindest strukturell die gesteigerte Chance entgegen, dies über internationale Kontakte kompensieren zu können. Im Falle Elateias und Entellas wurden zudem Mechanismen greifbar, mit deren Hilfe Polisbevölkerungen quasi als – wie Mackil dies fasste – ‚wandering cities‘ in andere Stadtstaaten eingegliedert werden konnten, ohne in diesen vollständig aufzugehen.97

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Dorit Engster

Die Frage der Ausbildung einer „achaiischen Identität“ und der Weg in den Achaiischen Krieg Der Achaiische Bund fand sein vorläufiges Ende im Jahre 146 v. Chr. – nach der Niederlage gegen die Römer wurde das Koinon aufgelöst und die Provinzialisierung Griechenlands eingeleitet. Der Achaiische Krieg wurde in der älteren Forschung teilweise zum letzten Kampf der Achaier/Griechen gegen die römische Vorherrschaft umgedeutet, als Versuch, die eigene Identität gegen die „Wolke aus dem Westen“ zu verteidigen.1 So spricht Fuks von einem „national war“,2 Schwertfeger von „nationalem Bewusstsein“ in der Auseinandersetzung mit den Römern.3 Es finden sich aber auch andere Wertungen, die die Aussichtslosigkeit und Irrationalität der achaiischen Politik betonen. So charakterisiert Errington diese als „final, inglorious phase of Achaean League history“, letztendlich aber als „unrealistic attempt“.4 Etwas vorsichtiger wertet Gruen die Gründe für den Kriegsausbruch, wenn er von „understandable miscalculations – on both sides“ spricht.5 Das Urteil des Zeitgenossen P ­ olybios ist dagegen eindeutig: Eine völlig verfehlte Politik der achaiischen Elite führte zur Kriegserklärung, die in der Katastrophe für alle Griechen mündete bzw. deren Niedergang abschloss.6 1 Pol. 5,104. Zur Rede des Agelaos s. Bastini 1987, 27; Deininger 1971, 25ff. Für einen Überblick über die verschiedenen Forschungsmeinungen s. Fuks 1970, 78; Gruen 1976, 46. 2 S. Fuks 1970, 86f. Fuks sieht zwar eine breite Beteiligung der unteren Schichten – aus nationalen wie ökonomischen Gründen. Jedoch kommt er, S. 88f., zu dem Schluss: „the Achaian war against Rome was first and foremost a national struggle for independence“. 3 S. Schwertfeger 1974, 13, der zudem ein „starkes nationales Engagement” in Griechenland feststellt. 4 Errington 1969, 214. 5 Gruen 1976, 69. 6 S. Pol. 38,1. Die Wertungen des Polybios sind, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, allerdings häufig tendenziös. Als unmittelbar in die innenpolitischen Auseinandersetzungen involvierter Politiker vertritt er häufig und in aller Konsequenz den Standpunkt der politischen Gruppierung (um Philopoimen, Lykortas), der er sich zugehörig fühlte. Vgl. auch Pol. 38,16ff. – der Bund lässt sich seiner Ansicht nach ins Verderben reißen;

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Der Achaiische Krieg entzündete sich bekanntermaßen an einem Konflikt der Achaier mit Sparta, in den dann auch Rom eingriff. Entsprechend handelte es sich zunächst um ein innergriechisches Problem, auch wenn der römische Senat in diese Sache bereits vorher mehrfach involviert worden war. Im Folgenden soll der Weg in diesen Krieg und die Rolle innen- wie außenpolitischer Faktoren analysiert werden. Dabei soll zunächst die Entwicklung des Achaiischen Bundes betrachtet und damit die Frage nach Elementen und Grundlagen einer möglichen „achaiischen Identität“ verbunden werden. Die Gründe für die Eskalation im Verhältnis zwischen Rom und dem Koinon sowie die Frage, in welchem Maße überhaupt von einem Identitätsgefühl innerhalb des Bundes zu sprechen ist und ob dieses im Kontext der Auseinandersetzung mit Rom von Bedeutung war, werden hierbei im Vordergrund der Diskussion stehen.

1. Die Anfänge des Achaiischen Bundes Der Beginn der Neukonstituierung des Achaiischen Bundes datiert in die Jahre 281/80 v. Chr. Zunächst schlossen sich die Küstenpoleis Patrai und Dyme zusammen, mit ihnen verbanden sich Pharai und Tritaia.7 Die Neuetablierung des Bundes war gleichzeitig eine Emanzipation von makedonischer Einflussnahme.8 Eine Schwächephase Makedoniens (bedingt durch einen Kelteneinfall) wurde ausgenutzt und so in der Folge 276 v. Chr. auch Aigion angeschlossen.9 Diese Polis war u. a. deshalb von einer besonderen Bedeutung, weil sich dort das Heiligtum des Zeus Homarios befand, das später zum Bundesheiligtum wurde.10 Generell kann man für die folgenden Jahre von der Phase einer aggressiven antimakedonischen Politik sprechen, in deren Folge weitere Städte

er konstatiert auch Uneinigkeit in den Poleis, die Denunziationen von Romgegnern, einen allgemeinen „Wahnsinn“. 7 Pol. 2,41 – 43. S. Urban 1979, 5; Bastini 1987, 17; Larsen 1968, 216. Zur frühen Geschichte der Landschaft bzw. deren politischer Zusammengehörigkeit s. auch Beck 1997, 55ff. Zur Geschichte des Bundes vgl. auch Giovannini 2007, 406ff. 8 So Urban 1979, 6f. 9 S. Pol. 2,41. Vgl. Urban 1979, 8; Walbank 1933, 26f.; Bastini 1987, 18. S. auch die gleichzeitige Angliederung von Keryneia durch den regierenden Tyrannen. 10 Vgl. Pol. 2,39; 5,93. Zu Aigion als Zentralort des Bundes und Ort der Bundesversammlung s. auch Paus. 7,7.

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a­ ngeschlossen wurden (Bura, Keryneia).11 Einen ersten Abschluss fand die Einigung Achaias bekanntermaßen mit der Eingliederung Sikyons im Jahre 251 v. Chr. durch ­Aratos.12 Damit griff man zum ersten Mal über die Grenzen des alten achaiischen Stammlandes hinaus. Festzuhalten bleibt allerdings auch, dass der Anschluss gewaltsam erfolgte bzw. Sikyon durch einen nächtlichen Überfall befreit werden musste. Der makedonenfreundliche Tyrann wurde gestürzt, und Aratos schloss die Polis dem Achaiischen Bund an. Er selbst wurde daraufhin zum Bundesstrategen gewählt. Auch im Fall des folgenden Anschlusses von Korinth bzw. der Eroberung von Akrokorinth handelte es sich um ein Vorgehen gegen die makedonische Machtposition.13 In der Folge wurden dann weitere Poleis in den Bund integriert.14 Somit ist eine zweite Grundlinie der achaiischen Politik erkennbar: Der Widerstand gegen die makedonische Kontrolle war verbunden mit einem Kampf gegen die von makedonischer Seite gestützten Tyrannenregime. Propagandistisch wurde die Erweiterung des Bundes als Kampf gegen diese und

11 Pol. 2,41. Polybios, 2,42, betont ausdrücklich, dass die Achaier zum einen Gleichheit und freie Meinungsäußerung auch anderen anböten, andererseits aber Gegner derjenigen seien, die die Poleis unterdrückten. S. außerdem 2,43, wo Polybios hervorhebt, dass das Ziel der Politik des Bundes die Vertreibung der Makedonen und der von ihnen gestützten Tyrannen war. Zum Verhältnis zwischen Aratos und Antigonos s. Plut. Aratos 15. Vgl. Urban 1979, 8f.; Larsen 1968, 216, Klose 1972, 102ff., der von den „Zeichen eines geradezu programmatischen Kampfes gegen das makedonische Regime in Griechenland“ spricht. 12 Pol. 2,43; Paus. 2,8; 7,7; Plut. Aratos 4ff.; s. insbes. Aratos 9 und 14, wo Plutarch ein Lob des Achaiischen Bundes bzw. der Eintracht in den Städten einfügt. S. außerdem Paus. 2,8 (auch zu den innenpolitischen Maßnahmen nach der Befreiung von der Tyrannis); Cic. de off. 2,81. Vgl. Walbank 1933, 32ff.; Urban 1979, 13ff. – mit einer ausführlichen Analyse der Quellenberichte; außerdem Bastini 1987, 19f. Zur Erweiterung des Bundes und der Konkurrenz zum Aitolischen Bund s. Larsen 1975, 163ff. 13 Plut. Aratos 18ff.; zum Anschluss weiterer Städte s. ebd. 24; Pol. 2,43; Plut. Aratos 16ff.; Paus. 2,8 – das Vorgehen wird als panhellenisch motiviert beschrieben. Vgl. Urban 1979, 48ff.; Bastini 1987, 19. 14 Vgl. Paus. 2,8 (u. a. Megara, Mantineia). Bestärkt durch die Erfolge griff Aratos in der Folge auch über die Peloponnes hinaus. Insbesondere die Angliederung von Megara 242 v. Chr. war bedeutsam. Vgl. Pol. 2,43; s. auch Pol. 20,6 (zum Wiederanschluss in den 190er Jahren); s. außerdem Plut. Philopoimen 12; Paus. 8,50. Vgl. hierzu u. a. Errington 1969, 77.

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für die Freiheit der Griechen geführt – so stellt es jedenfalls Polybios dar.15 Wie Urban richtig betont, wurde die Tatsache, dass sich der makedonische Einfluss auf der Peloponnes auf Tyrannenherrschaften stützte, von den Achaiern für die Legitimierung ihres Vorgehens genutzt.16 Eine Verifizierung dieser Wertung bzw. eine Berechtigung der Aussage des Polybios ist jedoch problematisch, betrachtet man die Ereignisgeschichte. Die gegen die Tyrannen gerichtete Propaganda erwies sich nicht als wirklich konsequent. Dies zeigt sich insbesondere im Fall von Megalopolis. Der Tyrann Lydiadas erkannte offenbar die Zeichen der Zeit, legte seine Tyrannis nieder und führte Megalopolis freiwillig in das Achaiische Koinon.17 Allerdings hatte er dabei auch für sich selbst weiterhin eine bedeutende Rolle vorgesehen. Lydiadas stieg unmittelbar nach der An­gliederung seiner Polis in die Führungselite des Bundes auf, wurde im Folgejahr sogar Stratege.18 Neue Chancen boten sich für den Bund mit dem Wechsel im makedonischen Herrscherhaus bzw. mit der Regentschaft des Antigonos Doson. Zunächst schlossen sich Aigina und Hermione dem Bund an,19 dann weite Teile Arkadiens, schließlich gelang auch der lang angestrebte Anschluss von Argos. 15 S. Pol. 2,42ff. – Polybios hebt hervor, dass insbesondere nach dem Tod des Demetrios eine Reihe von Tyrannen freiwillig ihre Herrschaft niederlegte. Vgl. in diesem Sinn auch Martin 1975, 372. Diese Deutung (auch des Plut. Aratos 3f. und 10 – in Verbindung mit einer Charakterisierung des Aratos; außerdem Plut. Aratos 13 – auch zur Zerstörung der Tyrannenbilder in Sikyon; sowie 25) – wird allerdings von Urban 1979, 61, in Frage gestellt, der hinter dem Vorgehen gegen Argos nicht so sehr „unkontrollierbaren Tyrannenhaß“ als vielmehr realpolitische Erwägungen und strategische Überlegungen sieht. 16 Paus. 7,7, sieht bemerkenswerterweise gerade in der Tatsache, dass die Kernstädte des Achaiischen Bundes größtenteils nicht von Tyrannen regiert worden waren, den Grund für die Stärke der Achaier. 17 S. Pol. 2,44; Plut. Aratos 30; Plut. Kleomenes 6; Paus. 8,27. Vgl. Urban 1979, 71ff.; B ­ astini 1987, 21; Walbank 1933, 62ff. Walbank sieht in der Angliederung von Megalopolis „the most important event in Achaean history“. Er beurteilt die Eingliederung auch deshalb als bedeutend, weil in der Folge der arkadische Einfluss innerhalb des Bundes zugenommen habe. Megalopolis insbesondere habe die eigenen Traditionen zur Geltung bringen wollen. Als problematisch erwies sich allerdings in der Folge, dass die antispartanischen Tendenzen in Megalopolis stärker ausgeprägt waren und zudem Lydiadas in Konkurrenz zu Aratos trat bzw. dessen Führungsstellung in Frage stellte. S. in diesem Sinne auch noch Paus. 4,29, der die klare Gegnerschaft des Bundes gegenüber Sparta auf das starke arkadische und argivische Element zurückführt. Vgl. außerdem Paus. 8,3. 18 Plut. Aratos 30. 19 Plut. Aratos 34; Pol. 2,44 – auch zu Phleius. Vgl. Urban 1979, 89; Bastini 1987, 21.

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Auch hier erfolgte der Übergang auf dem Verhandlungswege.20 Der Tyrann Aristomachos führte längere Verhandlungen mit den Achaiern und bekam offensichtlich günstige Bedingungen für einen Übertritt garantiert – u. a. eine Zahlung von 50 Talenten für seine Truppen.21 Ähnlich wie Lydiadas wurde er im anschließenden Jahr zum Strategen gewählt.22 Auch weitere Tyrannenregime fielen bzw. die Poleis wurden dem Bund angegliedert.23 Ergebnis dieser Jahre war in jedem Fall eine Vergrößerung des Bundesterritoriums, geradezu eine Verdoppelung. Bemerkenswert ist allerdings, dass die Initiative offenbar nicht von der Bevölkerung der Poleis ausging, sondern von den amtierenden Regimen.24 Diese waren durch die Schwächung der makedonischen Zentralmacht in ihrer Position gefährdet und sahen einen Anschluss an den Bund offenbar als Weg des Machterhalts. So behielten Lydiadas wie auch A ­ ristomachos eine führende Position in ihren Heimatpoleis; ihnen eröffnete sich zudem die Möglichkeit eines Aufstiegs zum Strategen des Bundes.25 Korinth schloss sich zwar auf Entscheid der Bevölkerung dem Bund an; bei der entsprechenden Versammlung war allerdings auch achaiisches Militär präsent.26 Generell gesprochen bestimmten also durchaus machtpolitische Interessen und Erwägungen die Erweiterung des Bundes, während ideologische Grundprinzipien hintangestellt werden konnten. Entsprechend betont z. B. auch Plutarch wiederholt im Zusammenhang mit der Vergrößerung des Bundes v. a. die Sicherheitsaspekte und den Machtzuwachs. 20 Bemerkenswert ist im Fall von Argos die Haltung der Bevölkerung. Diese stellte sich entgegen der propagierten Zielsetzung des Aratos zunächst nicht auf die Seite des Bundes. S. Pol. 2,60, zum ersten, gescheiterten Versuch der Angliederung. Vgl. auch Plut. Aratos 25 und 27f. Wie Urban 1979, 62f., diesbezüglich vermutet, versprach sich der Großteil der Bevölkerung, der von der Tyrannis profitierte, keine Verbesserung seiner Lage durch die Eingliederung in einen Bund, der oligarchisch geprägt war. Vgl. Bastini 1987, 21. 21 Plut. Aratos 35 – der allerdings auch die inneren Konflikte im Koinon zwischen Aratos, Lydiadas und Aristomachos aufzeigt; vgl. Pol. 2,44; Paus. 2,8. S. auch Urban 1979, 89. 92f. 22 Pol. 2,60. 23 Eine Aufzählung bietet Pol. 2,44. Vgl. Urban 1979, 89; Scherberich 2009, 59. 24 Wie Urban 1979, 95, feststellt, waren es außenpolitische Entwicklungen, die den Anschluss dieser Poleis begründeten, nicht innere Umstürze. 25 Pol. 2,44; Plut. Aratos 35. 26 S. Plut. Aratos 23; vgl. Urban 1979, 51.

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Wenn auch rationales und machtpolitisches Kalkül hinter den wesentlichen Entscheidungen stand, so ist dennoch zu untersuchen, ob Versuche unternommen wurden bzw. es gelang, aus den neu zusammengeschlossenen Poleis eine tatsächliche Einheit zu formen. Mangels genauerer Angaben in den Quellen bleibt es schwierig, dies nachzuprüfen. Wie bereits erwähnt, ist die Möglichkeit einer Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls durch ein gemeinsames Feindbild zu berücksichtigen. Eine Identitätsstiftung auf dieser Basis ist allerdings nur begrenzt tragfähig. Wie noch zu zeigen sein wird, konnten sich neue Koalitionen und politische Notwendigkeiten ergeben. Als konstitutive Elemente für ein Identitätsbewusstsein können generell eine gemeinsame Abstammung, Geschichte und Mythen angesehen werden.27 Dabei können politische wie mythische Traditionen durchaus auch auf nachträglichen Konstruktionen beruhen. Als weitere Grundlagen einer Identitätsbildung sind der gemeinsame Name und ein religiöses/politisches Zentrum zu nennen. Hinzutreten können demonstrative Bekenntnisse der Zusammengehörigkeit wie eine gemeinsame Münzprägung oder Stiftungen. Eine Identitätsstiftung durch gemeinsame Feste und Kulte ist im Falle des Achaiischen Bundes allerdings nur in begrenztem Maße zu beobachten. Ein zentrales Heiligtum, vergleichbar mit dem von Thermos im Aitolischen Bund, existierte nicht. Bedingt war dies durch die Entstehungsgeschichte des Bundes, die Angliederung weiterer, ursprünglich autonomer Gebiete mit eigenstän­digen religiösen Traditionen. Somit waren einende kultische Vorstellungen bzw. eine gemeinsame Kultpraxis regional begrenzt. Im ursprünglichen Kernland, der Landschaft Achaia, war immerhin der Kult des Zeus Homarios von zentraler, überregionaler Bedeutung. Es gab offensichtlich, wie die Münzprägungen mit dem Bild des Zeus Homarios zeigen, Bestrebungen, dem Kult eine bundesweite Bedeutung zu verschaffen. Dies dürfte allerdings angesichts der regionalen

27 Zur Definition des Begriffes Ethnizität bzw. unterschiedlichen diesbezüglichen Konzepten s. Hall 2002, 9ff. S. dort auch, 15ff., zur Bedeutung von Mythen für die Ausbildung von Identität sowie S. 19 zur Bedeutung von Symbolen wie (fiktiver) gemeinsamer Abstammung. Zum Ethnizitätsbegriff vgl. Freitag 2007, 373ff. – auch zu den Thesen von Siapkas 2003 und Hall 2002. Zum Identitätsbegriff s. auch Gehrke 2000, 159ff. Zur Problematik verschiedener „Identitäten“ einer Einzelperson – je nach Rolle im Sozial­leben, je nach politischen, sozialen und kulturellen Umständen s. Schmitz – Wiater 2011, 20ff. S. Malkin 2001a, 7ff., zu unterschiedlichen Formen der Identitätsbildung – in Abgrenzung von anderen, über Genealogie oder Verwandtschaft etc.

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mythischen Traditionen, auf die noch einzugehen sein wird, kaum gelungen sein. Angesichts der Heterogenität des Bundesterritoriums und einer unterschiedlichen Geschichte der Poleis wurde eine Integration nicht über gemeinsame Traditionen, sondern auf dem Weg über die Institutionen angestrebt. Im Jahre 255 v. Chr. wurde entsprechend der nun erfolgten Vergrößerung des Gebietes, das der Bund umfasste, die Verfassung umgestaltet. Nunmehr wurde die exekutive Gewalt auf einen Strategen konzentriert, während zuvor ein Grammateus und zwei Strategen für die Durchsetzung von Entscheidungen zuständig gewesen waren.28 Hatten vorher die Bürger der vom Beginn an dem Bund angehörenden Städte eines der Strategenämter – in Rotation – bekleidet, stand es nun den Vollbürgern aller Bundespoleis offen. In den Poleis wurden wohl Reformen einzelner Institutionen durchgeführt, es kam aber zu keinen durchgreifenden Veränderungen.29 Ein mögliches Beispiel für den Versuch einer Identitätsstiftung auf religiöser Ebene könnte man in der 235 v. Chr. – also noch vor dem Anschluss von Argos – erfolgten Einrichtung eigener Nemeischer Spiele sehen. Dieses „Konkurrenzunternehmen“ fand jedoch bei den Griechen keine Anerkennung. Wohl aus Zorn hierüber ließ man die Teilnehmer der regulären Nemeen gefangen setzen und in die Sklaverei verkaufen.30 Damit war dieser Versuch der Schaffung eines zentralen Festes für den Bund gescheitert. Von einer „achaiischen Identität“ zu sprechen, bleibt auch deshalb problematisch, weil die für andere Bünde konstitutiven Merkmale eines solchen spezifischen Selbstverständnisses fehlen. Hierzu ist auch das Fehlen eines für alle Poleis relevanten Bundeskultes oder das gemeinsschaftsstiftender Mythen zu rechnen. Der Zeus Homarios war zwar für die ursprünglichen Mitglieder des Achaiischen Bundes die zentrale Gottheit. Die später angeschlossenen Re­gionen und Städte besaßen jedoch ihre eigenen Traditionen.31 In einer Reihe von Landschaften lässt sich die Divergenz der historischen und religiösen Traditionen mit besonderer Deutlichkeit festmachen: Messenien und Sparta.

28 Larsen 1968, 217. Zur Verfassung s. auch Pol. 2,43. 29 So geht Urban 1979, 95f., nur von partiellen Angleichungen der inneren Verfassungen aus. 30 Plut. Aratos 28; vgl. Walbank 1933, 60; Urban 1979, 71; Bastini 1987, 21. 31 S. hierzu auch Beck 1997, 188ff., der die Bedeutung gemeinsamer Mythentraditionen und Kulte für das Selbstverständnis wie für die Legitimierung der Bundesstaaten betont.

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In Messenien war man nach der Loslösung von Sparta bestrebt, eine eigene Vergangenheit und Identität zu konstruieren. Beispiele für diese Bestrebungen sind die von Rhianus und Myron verfassten Werke, in denen die Geschichte der Messenischen Kriege aus messenischer Perspektive thematisiert wurde.32 Dabei wurde die Gestalt des Helden Aristomenes zur Identifikationsfigur aufgebaut.33 Die eigene Identität wurde in bewusster Abgrenzung zu Sparta konstruiert.34 Ein deutliches Symbol für das messenische Selbstbewusstsein war die Gründung Messenes als neues Zentrum.35 Messene wurde, wie insbesondere Luraghi detailliert analysiert hat, auch zum neuen kultischen Zentrum dieser Landschaft.36 Insgesamt spielte – mangels einer siegreichen Vergangenheit – die Religion eine große Rolle bei der Identitätsstiftung. So wurde

32 S. Paus. 4,6; vgl. auch 4,17. Myron verfasste ein Prosawerk, Rhianus ein Epos. Vgl. L ­ uraghi 2008, 83ff.; 286f. 33 Luraghi 2008, 89, betont, die Messenier „did not have much of a mythical heritage“. Um dies auszugleichen, habe man die messenischen Kriege nun aus der eigenen Perspektive erzählt und die messenischen Erfolge herausgestellt. Zu Aristomenes s. auch Siapkas 2003, 75ff. 34 Zur Konstruktion einer eigenen, partiell fiktiven Vergangenheit durch die Messenier und der Frage einer messenischen Identät s. Alcock 2002, 137ff. Zur messenische Identität – auch in kritischer Auseinandersetzung mit Luraghi, s. Siapkas 2003, 263ff.; zur „rituellen Landschaft“ Messeniens nach der Befreiung s. Alcock 2002, 165ff. 35 S. Paus. 4,31ff. (auch zu Grab und Ehrungen für Aristomenes sowie den „Ithomaea“); zur Gründung von Messene s. Siapkas 2003, 121ff.; Luraghi 2008, 249ff. 36 Zum Tempel der Personifikation „Messene“ in Messene selbst s. Luraghi 2008, 269f.; s. dort auch die ausführliche Analyse der in ihrem Tempel zu findenden Darstellungen lokaler Heroen bzw. griechischer Helden, denen eine Herkunft aus diesem Raum zugeschrieben wurde. Luraghi 2008, 272, sieht hier als mögliches Ziel „to representing as comprehensively as possible the various parts of Messene: as a sort of summary of the mythic heritage of the Messenians“. S. dort außerdem S. 275f., zur Bedeutung der Athena Kyparissia und der Artemis Limnatis als gemeinschaftsstiftende Kulte und der Rolle ihrer Tempel in Messene für die Konstruktion einer gemeinsamen mythischen Tradition und der Etablierung Messenes als symbolisches Zentrum. Zum Asklepieion und den dort verehrten Gottheiten s. Luraghi 2008, 277ff. Er sieht in dem Heiligtum „the center of the religious life of the Messenians … the place where the Messenian identity was consciously articulated and displayed“. Zu Messene und den dort zu findenden Repräsentationen von Göttern, Heroen und Personifikationen sowie der Erinnerung an die große Vergangenheit durch diese s. a. Alcock 2002, 167. – mit Verweis u. a. auf Pausanias, 4, 27 u. 36.

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auch z. B. das Heiligtum von Andania eine zentrale Kultstätte.37 Siapkas stellt dem­entsprechend fest, dass die „ethnic identity of the Messenians is conceptualized through the presence of cults and sculptures of deities and heroes“.38 Diese neu geschaffenen Traditionen und die nun gewonnene Unabhängigkeit wurden von den Messeniern verteidigt. Als noch problematischer erwies sich der Anschluss Spartas. In der Zeit des Aratos war an eine Eingliederung Spartas noch nicht gedacht worden. Dieser hatte vielmehr zunächst eine Bündnispolitik verfolgt.39 Eine Änderung im Verhältnis zu Sparta war vielmehr mit dem Eintritt von Megalopolis bzw. mit der Einflussnahme des Lydiadas verbunden.40 In der Folge taten sich Differenzen bezüglich der außenpolitischen Orientierung des Bundes auf. Während Lydiadas eine anti-spartanische Ausrichtung befürwortete, strebte Aratos primär eine Zurückdrängung des makedonischen Einflusses z. B. in Argos an.41 Der Konflikt um die Eingliederung Spartas zog sich durch die folgenden Jahrzehnte.

37 Luraghi 2008, 92ff. Zu Andania s. auch Siapkas 2003, 161ff. 38 Siapkas 2003, 159f. Mit kritischer Diskussion des politischen Charakters des ­Asklepioskults, der Verbindung mit der Verehrung der Messene, des Kultes des Epaminondas und des Aristomenes. Zur Bedeutung des Kultes des Zeus von Ithome und des Apollo ­Korynthos s. Alcock 2002, 144ff.; S. 159f. Zum „tomb-Cult“ s. Alcock 2002, 146ff. Zur Bedeutung des Kultes des Zeus von Ithome und des Apollo Korynthos s. Alcock 2002, 144ff.; S. 159f. Zu den Heroenkulten s. Siapkas 2003, 165ff.; 209ff. 39 Wie Gruen 1972, 612, betont, war die Verbindung mit Sparta angesichts der zunächst noch feindliche Haltung von Argos und Arkadien von Vorteil. 40 Vgl. Gruen 1972, 612f., der in der möglichen Unterstützung gegen Sparta sogar eine wesentliche Motivation des Lydiadas sieht. Auch Scherberich 2009, 60, macht bedingt durch den Anschluss von Megalopolis und Argos „eine starke antispartanische ­Gruppierung im Bund“ aus. 41 Zur Eingliederung von Argos und den diesbezüglichen Konflikten zwischen Aratos und Lydiadas s. Plut. Aratos 30; 35. Offensichtlich wollte Aratos eine Eingliederung unbedingt unter seiner Strategie und nicht der des Lydiadas durchführen. S. dazu Gruen 1972, 613f. Aristomachos habe dann allerdings entgegen der Wünsche des Aratos weiter eine traditionell anti-spartanische Linie vertreten.

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2. Die Entwicklung des Bundes im 3. Jh. Betrachtet man die weitere Entwicklung des Bundes im 3. Jh., so blieben die integrativen Kräfte begrenzt. Wenn man der vielleicht etwas einseitige Darstellung des Polybios glauben will, war ein weiteres einigendes Element die Gegnerschaft zum Aitolischen Bund.42 Die Aitoler sollen denn auch für die spartanische Feindschaft zu den Achaiern verantwortlich sein, denn an einem Konflikt um Arkadien entzündete sich ein Krieg mit Sparta. Dieser soll näher betrachtet werden, weil er ein bezeichnendes Licht auf den Zusammenhalt des neuen Bundes wirft: Im sogenannten Kleomeneskrieg (228 – 222 v. Chr.) stießen verschiedene Machtinteressen aufeinander.43 Diejenigen des spartanischen Königs, der durch Reformen den Einfluss Spartas erneut stärken wollte, und die des erstarkenden Achaiischen Bundes, wobei das Ziel des Aratos die Einigung der gesamten Peloponnes war.44 Die Kriegsführung des Aratos war allerdings zunächst zögerlich; es waren offenbar Lydiadas und Aristomachos, die aufgrund der traditionell anti-spartanischen Haltung ihrer Poleis einen aggressiven Kurs gegen Kleomenes propagierten.45 Erst als Kleomenes direkt gegen Megalopolis vorging, erfolgte die Kriegserklärung. Im Laufe des Krieges zeigte sich allerdings die militärische Überlegenheit des Kleomenes. So siegte er 228 v. Chr. am Lykaion-Gebirge und 227 v. Chr. bei Laodikeia.46 Auf Seiten des Achaiischen Bundes wurde schnell ein fehlender Zusammenhalt deutlich. Es kam zu Abfallbewegungen bzw. Übertritten auf die spartanische Seite.47 Generell zeigte sich rasch eine 42 Pol. 2,45. Zu den zwischenzeitlich herrschenden guten Beziehungen s. 2,44. Vgl. zum Verhältnis zwischen dem Aitolischen und dem Achaiischen Bund Larsen 1975, 159ff., der die Schuld am ausbrechenden Konflikt 220 v. Chr. eher auf Seiten der Achaier sieht. 43 S. zum Kleomeneskrieg s. Pol. 2,46ff., Plut. Aratos 36ff.; Plut. Philopoimen 5ff. S. u. a. Urban 1979, 97ff.; Walbank 1933, 70ff.; Scherberich 2009, 61ff. 44 Plut. Kleomenes 3ff.. Zur Problematisierung dieser Aussage s. Urban 1979, 110. Zur Eingliederung arkadischer Städte s. Plut. Aratos 34; dazu Urban 1979, insbes. S. 113ff. Zur ursprünglichen Uneinigkeit auf der Peloponnes s. Pol. 2,41; dazu Urban 1979, 6. 45 So Gruen 1972, 614f. 46 Pol. 2,51; Plut. Aratos 36; Plut. Kleomenes 5ff.; s. auch 14ff. Vgl. Bastini 1987, 22. Zur strategischen Konzeption des Kleomenes s. auch Tausend 1998, 51ff. 47 So gingen z. B. die arkadischen Städte zu Sparta über. Vgl. Bastini 1987, 23. Die westachaiischen Städte – so Pharai, Tritiai, Dyme, Patrai – schlossen sich zwar nicht Sparta an, verweigerten aber 227 v. Chr. Geldzahlungen an die Bundeszentrale, die diese zur

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gewisse Kriegsmüdigkeit innerhalb des Bundes.48 Von Polybios, der in seinem Werk die Einigung der Peloponnes hervorhebt, wird diese Entwicklung teilweise bagatellisiert und verharmlost.49 Tatsächlich stürzte der Kriegsverlauf den Bund in eine schwere Krise. Insbesondere die Politik des Aratos geriet in die Kritik. Die militärischen Rückschläge führten dazu, dass man sich nach einem starken Verbündeten umsah. Nach dem Scheitern von Friedensverhandlungen suchte man seitens der Achaier schließlich die Anlehnung an Antigonos Doson.50 Als sogar Korinth und Akrokorinth abgefallen waren,51 kam es zum Bündnisschluss mit dem makedonischen Herrscher.52 Mit dieser neuen Kriegsführung benötigte. S. z. B. Plut. Kleomenes 6 (Sieg gegen Lydiadas); 38; Aratos 36f. Urban 1979, 139, zieht hier den Vergleich zu den Kämpfen gegen die Aitoler, während derer diese Poleis zweimal die Zahlungen verweigerten (s. Pol. 4,60; 5,30). Vgl. außerdem Bastini 1987, 22, Anm. 45; Scherberich 2009, 62. Zu den Rückschlägen s. auch Plut. Aratos 39ff. S. auch den Abfall Mantineias, dessen Rückeroberung und milde Behandlung nach dem Wiederanschluss – vgl. Pol. 2,57f. Wie Polybios weiter – etwas tendenziös – berichtet, hätten die Mantineer zu ihrem eigenen Schutz um die Stationierung einer achaiischen Schutztruppen gebeten, seien dann allerdings erneut vom Koinon abgefallen. Vgl. auch Plut. Aratos 39; Plut. Kleomenes 5f.; 14; zu Mantineia außerdem – sehr verkürzend – Paus. 8,8 (aber auch zur Namensänderung in „Antigoneia“). 48 Zur Einnahme bzw. dem Übergang von Mantineia, Argos, Korinth und anderen Poleis s. Plut. Aratos 39f.; vgl. Gruen 1972, 621. Zu Plutarchs Urteil über Kleomenes s. Plut. Kleomenes 13. 49 Zur Kritik an der polybianischen Darstellung s. u. a. Urban 1979, 157ff. Er stellt dessen Bewertung das kritische Urteil des Plutarch, Aratos 39ff., gegenüber, das er auf die Angaben in den Memoiren des Aratos zurückführt. 50 Paus. 2,9; S. Pol. 2,47, zum zunächst heimlichen Vorgehen des Aratos. Vgl. zu den Verhandlungen Urban 1979, 140ff.; Scherberich 2009, 61ff. – mit einer kritischen Betrachtung des polybianischen Berichtes. S. außerdem Gruen 1972, 616ff. Vor dem Bündnisschluss scheinen noch Verhandlungen mit Kleomenes stattgefunden zu haben und Gruen vermutet, 622f., dass Aratos dabei durchaus zu Konzessionen bereit war. Durch die Umstände bzw. die Gefahr einer Auflösung des Bundes sei er dann aber zum Bündnisschluss mit Antigonos genötigt gewesen. Vgl. zum neuen Bündnis auch Klose 1972, 104f. 51 Vgl. Plut. Aratos 40. 52 Zu den Verhandlungen und der Rolle von Megalopolis in diesem Kontext s. Pol. 2,48ff.; 61; Plut. Aratos 38 (mit Kritik an Aratos); Paus. 2,8f. Der Abschluss des Bündnisses erfolgte, nachdem die Lage des Bundes sich durch die genannten Niederlagen weiter verschlechtert hatte. S. Plut. Aratos 41ff. Plut. Kleomenes 16f. Vgl. Walbank 1933, 74ff.; Bastini 1987, 24ff. Zu den Motiven für das Bündnis und dem diesbezügliche polybianischen Bericht

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­ oalition wurde aber ein wichtiger einender Gesichtspunkt des Bundes in Frage K gestellt – eine Reihe von Poleis war dem Bund beigetreten, gerade um sich der makedonischen Kontrolle zu entziehen.53 Dies war nun nicht mehr möglich bzw. Antigonos Doson nahm massiv Einfluss auf die inneren Angelegenheiten des Bundes und wurde zu dessen Hegemon.54 Nicht nur gelangten Korinth und Akrokorinth in seine Hände, auch andere Poleis erhielten makedonische Besatzungen (Orchomenos und Heraia).55 Antigonos griff zudem in die städtische Autonomie ein – so in Argos, Megalopolis, Sparta, Tegea.56 Bezeichnend ist das Vorgehen in Argos, wo die Bildnisse der Tyrannen wieder aufgestellt wurden.57 In Korinth wurden die Ehrenstatuen derjenigen, die die Stadt von makedonischer Herrschaft befreit hatten, entfernt, mit Ausnahme nur des Bildes des Aratos.58 Durch diese Akte einer bewussten Negation der Erfolge des Koinons wurde dessen bisherige Geschichte in Frage

s. Gruen 1972, 609ff. S. zu den Abfallbewegungen – allerdings auch in Folge der Koalition – auch Plut. Kleomenes 17. 53 Vgl. Martin 1975, 372. Allerdings befürwortete gerade Megalopolis ein Bündnis mit Makedonien; vgl. Gruen 1972, 625, mit Verweis auf Plut. Kleomenes 23ff., zur Plünderung von Megalopolis durch Kleomenes. S. auch Plut. Philopoimen 5; Paus. 4,29; 7,7; 8,27; 49; Pol. 2,61. 54 Zur Ernennung zum Oberkommandierenden s. Pol. 2,54. Die konkreten Konsequenzen werden von Klose 1972, 105f., allerdings heruntergespielt. Zwar habe auf Wunsch des Antigonos die Bundesversammlung einberufen werden müssen, auch hätten der Koalition zuwiderlaufende Anträge nicht eingebracht werden dürfen, ebenso wenig seien ohne Antigonos’ Erlaubnis Kontakte mit anderen Monarchen gestattet gewesen. Den Verzicht auf eine eigenständige Außenpolitik will Klose hierin aber nicht sehen. Der diesbezügliche Beschluss sei eine „bloße Loyalitätserklärung“ gewesen. Eine konkrete Umsetzung bewertet Klose als wenig wahrscheinlich und sieht auch kein Beispiel dafür, dass der Bund sich realiter in außenpolitischen Fragen jemals an Antigonos gewandt habe. Tatsächlich sind dessen Eingriffe jedoch als äußerst massiv zu beurteilen. 55 Zu den diesbezüglichen Verhandlungen bzw. dem anfänglichen Widerstand dagegen s. Pol. 2,51f.; vgl. auch Pol. 4,6 – s. dort auch den Verweis, dass Antigonos Orchomenos erobert und nicht dem Bund übergeben habe, um so den Weg auf die Peloponnes und das Umland zu kontrollieren; Plut. Kleomenes 23ff.; Aratos 41; 45; s. dazu Urban 1979, 157f.; Scherberich 2009, 65; Gruen 1972, 624f. 56 Pol. 2,54; 2,70 (zu durchaus positivem Verhalten gegenüber den Poleis); 5,93; vgl. Urban 1979, 158. 57 Plut. Aratos 45; Gruen 1972, 625. 58 Plut. Aratos 45. Zu den Statuen des Aratos s. auch Plut. Aratos 3.

Der Weg in den Achaiischen Krieg 161

gestellt. Der Bund wurde durch den Krieg in seiner Entwicklung stark zurückgeworfen, sein Wesen und Selbstverständnis waren durch den erneuten Anschluss an die Makedonen gefährdet.59 Das Bündnis mit Makedonien löste zudem die unmittelbaren Probleme im Krieg gegen Sparta nicht, sondern führte zu weiteren Sezessionen.60 Die Behandlung der abtrünnigen Städte war in der Folge ebenfalls wenig geeignet, eine neue Bindung zu schaffen. So wurde Mantineia wie eine eroberte Stadt behandelt.61 Nach dem Erfolg der achaiisch-makedonischen Seite wurde Mantineia hart bestraft: Es kam zu Hinrichtungen; die Bevölkerung wurde versklavt und an ihrer Stelle Kolonisten angesiedelt. Ähnliches lässt sich auch für andere Poleis auf der Peloponnes feststellen. Korinth wechselte zweimal die Seiten; die Führungsschicht der Stadt, die einst durch militärische Eroberung Mitglied des Bundes geworden war, blieb offenbar von einem Bündnis mit den Makedonen wenig begeistert.62 Die Liste der Städte, deren Loyalität schwankte und die sich auf Grund von inneren Kämpfen oder Verrat den Spartanern anschlossen, ist lang. Ein bezeichnendes Beispiel ist wiederum die Stadt Argos; der bereits genannte Aristomachos konnte naheliegenderweise einen erneuten Wechsel zu einem Bündnis mit Makedonien nicht mitgehen.63 Fast wäre sogar Sikyon abgefallen. Um dies zu verhindern, musste eine Besatzung dort stationiert werden.64 Diese Widerstände bzw. die in diesem Zusammenhang getroffenen Maßnahmen zeigen auf, dass die verbindenden

59 Zu den in dieser Zeit zu verzeichnenden Rückschlägen s. Urban 1979, 159ff. 60 Weite Kreise auf der Peloponnes verbanden mit Kleomenes die verschiedensten Hoffnungen. Sei es, dass man auf einen Neuverteilung des Landes hoffte, sei es, dass man mit der Politik des Aratos unzufrieden war, sei es, dass man sich gegen einen erneuten makedonischen Einfluss wandte. Zahlreiche Städte fielen ab; Tegea und Orchomenos konnten nur mit Druck wieder eingegliedert werden. Auch Mantineia musste erneut besetzt werden. S. Plut. Kleomenes 17 – 19; vgl. Urban 1979, 164ff.; zu den einzelnen Städten S. 168ff. 61 Zur Bestrafung Mantineias s. Plut. Aratos 45. Vgl. Urban 1979, 172ff.; S. außerdem L ­ arsen 1975, 162ff. 62 So musste 225 v. Chr. eine achaiische Garnison in Korinth stationiert werden, um dessen Bündnistreue zu sichern. S. Plut. Aratos 45; vgl. Urban 1979, 182; S. 189ff. S. zur Haltung Korinths außerdem Pol. 2,52; Plut. Kleomenes 17; 19. 63 Zu Aristomachos und seinem Ende s. Pol. 2,59f.; Polybios deutet die Handlungsweise des Aristomachos allerdings als Undank gegenüber den Achaiern. S. auch Plut. Aratos 44. Zur Haltung von Argos s. Urban 1979, 185ff. 64 Plut. Aratos 40; Kleomenes 17; s. Urban 1979, 182.

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Kräfte im Bund vergleichsweise gering und von der politischen Konstellation abhängig waren. Die Interessen der einzelnen Poleis waren dabei durchaus unterschiedlich. Diese Uneinigkeit setzte sich auch im anschließenden Bundesgenossenkrieg (220 – 217  v.  Chr.) fort.65 Ein bleibender Makel war die Preisgabe der wichtigsten Festung der Peloponnes, Korinth, durch das Bündnis mit den Makedonen.66 Die Initiative zum Abfall ging dabei wohl von den Familien aus, die nach dem Ende der Tyrannenregime aus der Verbannung zurückgekehrt waren und nun Repressionen durch die Makedonen fürchteten. Eine Sonderrolle spielten offenbar erneut die westachaiischen Städte. Sie gingen zwar nicht zu Sparta über, verweigerten aber 218/17 v. Chr. wieder die Geldzahlungen.67 Selbst Megalopolis leistete später keine Zahlungen mehr, wenn auch Polybios betont, dass seine Heimatstadt ansonsten treu geblieben sei.68 Es ist allerdings zu betonen, dass von der Abfallbewegung außer Pellene nur Städte außerhalb Landschaft Achaia betroffen waren. Die meisten dieser Städte waren nur auf Druck dem Bund beigetreten. Von einem freiwilligen, auf dem Votum des Großteils der Bürger basierenden Anschluss ist kaum zu sprechen. Entsprechend unsicher war die Zugehörigkeit zum Koinon. Generell ist zu konstatieren, dass es nicht, wie Polybios behauptet, einen einheitlichen positiven Willen auf der Peloponnes gab.69 Eher herrschte eine antimakedonische

65 S. Pol. 4,3ff.; Plut. Aratos 45. Vgl. zum Bundesgenossenkrieg Walbank 1933, 114ff.; ­Scherberich 2009, 103ff.; Fine 1940, 130ff. (mit Kritik am polybianischen Bericht); er sieht in der Abwendung Messeniens vom Aitolischen Bund und in der Annäherung an die Achaier einen der wesentlichen Gründe für den Konflikt. 66 Zur Rolle Philipps V. in den folgenden Auseinandersetzungen und dem Verhältnis zu Aratos s. Plut. Aratos 46ff. 67 S. Urban 1979, 180f. In den Jahren 219 – 217 v. Chr. stellten die Dymäer, Phraräer und Tritäer die Beitragszahlungen ein, da sie vom Bund im Kampf gegen die Aitolern keine Unterstützung erhielten. S. Pol. 4,60; 5,30. Sie entschieden sich stattdessen dafür, eigenständig Söldner zu rekrutieren. Polybios sieht hierin ein schlechtes Beispiel für andere, kritisiert insbesondere die Einstellung der Zahlungen, schreibt die Verantwortung aber im Wesentlichen Aratos zu, der häufig zu lange gezögert und bedrohte Bundesmitglied im Stich gelassen habe. 68 Pol. 2,55f.; 61; Plut. Kleomenes 23f.; Aratos 37 (zu 227 v. Chr.). Zum Verhalten von Megalopolis s. Urban 1979, 193f. 69 In diesem Sinn s. Urban 1979, 202ff. Er konstatiert ein „Versagen der politischen (und militärischen) Führung und eine „Kluft zwischen der Führung und einem größeren Teil der Mitglieder des Bundes“.

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Stimmung. Diese bezeichnet denn auch Urban als „eigentliches Ferment des Bundes, der sich ja in dieser Form auf keinerlei geschichtliche Tradition stützen konnte“.70 Eine gemeinsame politische Ausrichtung der Poleis lässt sich jedoch kaum ausmachen. Bedingt durch die verschiedenen Hegemoniewechsel gab es vielmehr auch innerhalb dieser die verschiedensten Gruppierungen bzw. Anhänger der Makedonen, Spartaner und Aitoler – je nachdem wann die einzelnen Bürger oder Bevölkerungsgruppen zurückgekehrt waren bzw. von welchem Regime sie profitiert hatten. Insbesondere hinsichtlich der Haltung gegenüber Sparta gab es gravierende Unterschiede zwischen den Poleis. Städte wie Megalopolis und Argos sahen Sparta v. a. als Gegner. Viele Bundespoleis hegten dagegen alte Sympathien für Sparta und lehnten einen Konflikt mit diesem ab. So tat sich eine Kluft zwischen Führung und Mitgliedern auf.

3. Die Reform der Bundesverfassung Die Krise des Bundes, der offensichtliche Mangel an Zusammenhalt, stand in der Folge im Hintergrund von Reformen, die auch als identitätsstiftende Maßnahmen verstanden werden können. In einer Reformmaßnahme, die in die Zeit zwischen 217 und 200 v. Chr. zu datieren ist, wurde der Bundesrat auf Kosten der Ekklesia gestärkt.71 Letztere wurde in ihrer Zuständigkeit auf den Bereich Krieg und Frieden, den Abschluss von Bündnissen und – später – auf die Reaktion auf Senatsschreiben beschränkt.72 Der Rat dagegen wurde zu einer repräsentativen Regierung. Diese Verfassungsreform scheint durchaus

70 Urban 1979, 203. An anderer Stelle kommt Urban sogar zu dem Schluss, „daß der Achäi­ sche Bund weit eher als durch freiwillige Übereinkunft der Mitglieder vor allem im und durch Krieg großgeworden ist“: Allerdings ist auch das zunehmende Eingreifen ­Philipps V. auf der Peloponnes zu berücksichtigen, so z. B. in Messene. S. hierzu Bastini 1987, 30f. Dieses führte dazu, dass sich die Messenier im 1. Makedonischen Krieg auf die Seite der Römer stellten. 71 Die Veränderung wird u. a. erschlossen aufgrund der Verfahrensweise bei den Bundesversammlungen; vgl. Larsen 1968, 224f., mit Verweis auf Pol. 2,46; 54; 4,7. 14. 72 S. für letzteres Pol. 22,13; 15. Wahrscheinlich galt diese Sonderregelung erst seit dem offiziellen Bündnis zwischen Rom und dem Achaiischen Bund; vgl. Bastini 1987, 65. Zu sich diesbezüglich ergebenden Problemen im Zusammenhang mit dem Auftreten des Metellus 185 v. Chr. s. u.

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der Vereinheitlichung und stärkeren Integration des Bundes gedient zu haben. An der Ekklesia konnten aufgrund der Entfernungen bzw. des notwendigen Zeitaufwands nicht die Bürger aller Poleis teilnehmen.73 Dagegen hatten die verschiedenen Poleis ihre jeweiligen Vertreter im Rat und somit war eine dauerhafte Repräsentation möglich. Auch auf ideologischer Ebene wurde eine stärkere Integration angestrebt – zumindest von Seiten der den Bund dominierenden Poleis. Zu einer Identifikationsfigur sollte offenbar Aratos aufgebaut werden. Nach seinem Tod waren ihm aufgrund seiner Verdienste heroische Ehren zuerkannt worden.74 Auch von anderen Mitgliedstaaten wurde er geehrt.75 Von den antiken Autoren wird ­Aratos das Verdienst zugeschrieben, den Bund zu neuer Größe geführt zu haben.76 Während Aratos allerdings wegen seiner Anlehnung an die Ptolemaier und Makedonien auch kritisiert wird, wird Philopoimen als derjenige charakterisiert, der sich nicht mehr auf auswärtige Mächte gestützt, sondern auf die eigene Stärke verlassen habe.77 Unter ihm, der zweiten großen Persönlichkeit 73 Vgl. in diesem Sinne Bastini 1987, 28ff., der hierin den Grund für den Übergang zu einer repräsentativen Verfassung sieht, nach der die Bundesversammlung nur noch bei besonders wichtigen Entscheidungen einberufen werden musste. Er datiert diese Reform auf vor 213 v. Chr. Vgl. Larsen 1968, 224f. 74 Zur Stiftung eines Bildnisses und einer Ehrung für Aratos noch zu Lebzeiten s. Plut. Aratos 14 (anlässlich erfolgreicher Verhandlungen mit den Ptolemaiern). Zum Heroenschrein für Aratos in Sikyon s. Paus. 2,8f.; dazu Bastini 1987, 31. Vgl. außerdem Pol. 8,13; Plut. Aratos 53 zum Tod des Arat und der Trauerfeier zu seinen Ehren sowie den aufwendigen Opfer und Ehrungen (u. a. Benennung eines Platzes als Arateion, der Etablierung zweier Opfer: eines, die Soteria, als Erinnerung an die Befreiung von den Tyrannen, das andere in seinem Geburtsmonat, letzteres vollzogen vom Priester des Aratos). 75 S. z. B. die Stiftung einer Statue in Olympia durch die Korinther; vgl. Paus. 6,12. 76 Für eine Charakteristik des Aratos s. Pol. 4,8. Plut. Philopoimen 8, beschreibt die Politik des Aratos als „wahrhaftig griechisch und menschenfreundlich“. Nach dem Zusammenschluss der Poleis der Achaier wäre der Bund dann quasi natürlich weitergewachsen (Plutarch benutzt hier ein physikalisches Beispiel, nämlich das der Teilchen, die sich in einer Flüssigkeit schließlich verbinden). Als Gründe führt er zum einen den gemeinsamen Kampf gegen die Tyrannen an, zum anderen verweist er auf die Übereinstimmung in den grundsätzlichen Auffassungen wie in den politischen Institutionen als einigendes Band. Ziel sei die Vereinigung der Peloponnes gewesen („zu einem Körper und einer Macht“). 77 Plut. Philopoimen 8.

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der Geschichte des Bundes, kam es dann zu einer umfassenden Heeresreform 78 – nach makedonischem Vorbild – und einer Vereinheitlichung des achaiischen Heeresaufgebots.79 Bei einer Militärparade im Jahre 205 v. Chr. anlässlich der Nemeen wurden diese Truppenaufgebote vorgeführt und die Beherrschung der Peloponnes durch den Bund der griechischen Welt demonstriert.80 Auch Philopoimen wurde in der Folge – wenn auch verstärkt erst nach seinem Tod – zu einer Integrationsfigur aufgebaut.81

4. Das Verhältnis zu Rom und der Konflikt mit Sparta Die Anfangsjahre des 2. Jh. waren dann dadurch gekennzeichnet, dass die Achaier bestrebt waren, den Einflussbereich des Bundes zu erweitern – durchaus auch gewaltsam und mit dem Ziel, die gesamte Peloponnes in das Koinon 78 Plut. Philopoimen 9. Er verbindet die Reformierung und Vereinheitlichung der Bewaffnung mit einer moralischen Erneuerung – nicht mehr nach privatem Aufwand und Luxus habe man gestrebte sondern nach besonders prächtiger Gestaltung der Bewaffnung. Verbunden war die Einführung einer neuen Schlachtordnung zudem mit verstärkten Militärübungen. Vgl. auch Paus. 8,50. S. Bastini 1987, 34; vgl. auch Anderson 1967, 104f. Zur Haltung des Polybios gegenüber Philopoimen s. Lehmann 1967, 175ff. S. auch Pol. 10,22ff.; 11,9f. 79 Zum Sieg bei Mantineia s. u. a. Paus. 8,50; vgl. Bastini 1987, 35f. 80 S. Plut. Philopoimen 11 – der den ersten Auftritt der neuen Phalanx schildert und ihren erneuten Einzug während des Kitharödenwettkampfes. Möglicherweise planmäßig zogen sie ein, als dort von der Freiheit Griechenlands die Rede war – was einen Beifallssturm auslöste; vgl. Paus. 8,50. S. auch Bastini 1987, 36f. Errington 1969, 75f., betont die besondere Symbolik dieses Auftritts im Jahre 205 v. Chr. Den begeisterten E ­ mpfang Philopoimens ausgerechnet bei den Nemeen in Argos, an denen Philipp V. häufig teilgenommen habe, sieht er als „usurpation of Philipp’s almost traditional honours“. Die Truppen, die kurz zuvor erfolgreich bei Mantineia gegen Sparta gekämpft hätten, seien zum „symbol of resurgent Achaean efficiency and nationalism“ geworden. Der Empfang habe Philopoimen in seinem Streben nach Unabhängigkeit von Makedonien bestärkt. Zur Reorganisation der Reiterei durch Philopoimen 211 v. Chr., vgl. Errington 1969, 51ff. Philopoimen bereiste in diesem Zusammenhang die Bundesstädte – s. Plut. Philopoimen 7,3ff.; Pol. 10,23. 81 Zur Errichtung eines Ehrenstandbildes für Philopoimen in Delphi (ein Reiterstandbild als Erinnerung an die Schlacht bei Mantineia) s. Plut. Philopoimen 10; für sein Standbild in Tegea s. Paus. 8,49; 52.

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zu integrieren. Eine Grundsatzentscheidung war zu treffen, als eine erneute Konfrontation zwischen Rom und Makedonien drohte. In diesen Krieg wollte der Bund sich zunächst nicht verwickeln lassen. Als jedoch Aristainos von Dyme, ein erklärt prorömischer Politiker, zum Strategen gewählt wurde, gewann die Diskussion wieder an Brisanz.82 Anlässlich eines Angebots des Flamininus wurde über einen erneuten Bündniswechsel diskutiert.83 ­Aristainos argumentierte nüchtern und machtpolitisch; nach einer knappen Abstimmung wurde der Bruch mit Makedonien vollzogen.84 Realpolitisch ist diese Entscheidung nachvollziehbar und verschaffte dem Bund größeren Freiraum. Diese Zielsetzung war einer der Gründe für den Koalitionswechsel.85 Eine Reihe von Poleis widersetzte sich diesem allerdings;86 nach der

82 Das Verhältnis zu Philipp V. war zudem nicht unproblematisch. Zur Rolle Philipps und seiner Einmischung in die Angelegenheiten des Achaiischen Bundes s. Pol. 4,82; 5,1; 7,12f.; Pol. 9,28; Plut. Aratos 49f.; Paus. 2,9. Vgl. Errington 1969, 49f. (zur militärischen Schwäche des Bundes); Mendels 1977, 183ff., 194ff.; Siapkas 2003, 151f.; Luraghi 2008, 260. 83 Liv. 32,19. Die Achaier erhielten von römischer Seite das Angebot, das belagerte Korinth wieder in den Bund eingliedern zu können. Die Beratungen auf der Bundesversammlung waren dabei durchaus kontrovers und die Abstimmung ging sehr knapp aus. Vgl. Nottmeyer 1995, 29. 84 Pol. 18,13. Polybios rechtfertigt Aristainos im Rahmen einer Diskussion der Bezeichnung „Verräter“ und verteidigt ihn gegen derartige Vorwürfe. Zu Aristainos und der Darstellung seiner Politik durch Polybios s. Lehmann 1967, 216ff. Vgl. Eckstein 1990, 53ff., zur Rede des Aristainos anlässlich einer möglichen Koalition mit Rom, bei der der Freiheitsgedanke eine entscheidende Rolle spielte (Liv. 32,21). Eckstein führt die bei Livius wiedergegebene Rede auf Polybios zurück und betont, dass bei Polybios wie auch in zeitgenössischen Inschriften die Gestalt des Aristainos eng mit dem Konzept der Freiheit verbunden wird. 85 Martin 1975, 373, sieht in der Hoffnung auf die Rückgewinnung von Akrokorinth und eine Unterstützung im Kampf gegen Nabis die wesentliche Motivation für den Koalitionswechsel. Vgl. Bastini 1987, 45ff. Zum rechtlichen Verhältnis zwischen Rom und dem Achaiischen Bund s. Badian 1952, 76ff. Vgl. auch Errington 1969, 70ff.; er datiert die Entwicklung einer anti-makedonischen Haltung bei Philopoimen bereits in die Zeit zwischen 207 und 200 v. Chr. S. auch S. 82ff. für seine Haltung gegenüber der römischen Seite. Zum Bündnis mit Rom und der Rolle des Aristainos s. Deininger 1971, 40ff. Zu den Motiven vgl. auch Dmitriev 2011, 313f. 86 Vgl. Liv. 32,22; s. dort auch zu den Motiven der Poleis. Dyme, Megalopolis und ein Großteil der Gesandten aus Argos verließen die Versammlung; erst so war die Mehrheit

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Entscheidung für das Bündnis mit Rom trat z. B. Argos aus dem Bund aus und schloss sich Philipp V. an.87 In der Folgezeit wurde jedoch u. a. Korinth wieder dem Bund angeschlossen – obwohl sich die Korinther widersetzten und ein Verbleiben im Bündnis mit Makedonien vorzogen.88 Nach dem römischen Sieg wurde die Stadt – wie auch weitere Poleis – von den Römern dem Achaiischen Bund angegliedert.89 Es war maßgeblich das römische Eingreifen, durch das sich das Bundesgebiet vergrößerte. Der Zusammenhalt des Bundes wurde somit – jedenfalls zunächst – auf militärischem Wege etabliert. Kennzeichnend für den Aufstieg des Bundes war allerdings, dass er für seine Expansion eine Schutzmacht benötigte. So strebte der Bund 197 v. Chr. danach, Argos erneut in den Bund aufzunehmen, das bei dem Koalitionswechsel den Bund verlassen hatte. Flamininus bzw. die Römer waren an guten Beziehungen zum Bund interessiert und leisteten deshalb bei diesem Unternehmen Unterstützung.90 Das prominenteste Beispiel einer gewaltsamen Eingliederung war allerdings der Anschluss Spartas. War dieser im Jahre 192 v. Chr. zunächst noch teils militärisch, teils durch diplomatisches Vorgehen erreicht worden, so änderte sich dies nach dem Austritt Spartas im folgenden Jahr. Die anschließenden Jahrzehnte sind gekennzeichnet durch kontinuierliche Konflikte bezüglich der Zugehörigkeit Spartas zum Achaiischen Bund und des Grades seiner Selbständigkeit. Die verschiedenen Angliederungsversuche, deren wiederholtes Scheitern und die kriegerischen Konflikte können hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Nur ein wichtigstes Datum sei genannt: Im Jahre 192 v. Chr. erreichte Philopoimen den Beitritt Spartas – und zwar ohne, wie Flamininus gefordert hatte, auf das Eintreffen der römischen

der prorömischen Gruppierung gesichert. S. dazu Deininger 1971, 44f. Er spricht von der „ersten großen Gelegenheit, wo in einem Staatswesen des griechischen Mutterlandes die fatale innere Gespaltenheit der Führungsschicht gegenüber Rom sichtbar wurde“. 87 S. Liv. 32,25. Vgl. Deininger 1971, 46f. 88 S. Liv. 32,23; Paus. 7,8. Vgl. Nottmeyer 1995, 29f. 89 Liv. 33,14f. 90 Liv. 32.25; 32,38; s. auch Liv. 34,22; 25; 29; 32f.; 35; 41. Vgl. Martin 1975, 373; Nottmeyer 1995, 30f.; Eckstein 1990, 64, Anm. 60. Das Vorgehen wurde als Kampf für die Freiheit propagiert. Allerdings kam es nicht, wie vom Bund auch gewünscht, zu einem Vorgehen gegen Nabis, s. Bernhardt 1971, 42ff.

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Kontingente zu warten.91 Als Sparta kurz darauf erneut austrat, wiederholte sich das Geschehene. Während der achaiische Politiker Diophanes mit römischer Hilfe gegen die Polis vorgehen wollte und zusammen mit Flamininus zu einem Kriegszug aufbrach, wollte Philopoimen den Abfall als interne Bundesangelegenheit behandeln.92 Es gelang ihm, noch vor den Truppen in Sparta anzukommen und auf diplomatischem Weg den Wiederanschluss zu erreichen.93 Obwohl damit Flamininus übergangen worden war, wurde das Vorgehen des Philopoimen toleriert. Auch Messenien musste sich auf Druck des Flamininus anschließen.94 Zwar hatte dieser zunächst in diesem Fall die eigenmächtige Kriegsführung der Achaier kritisiert und eine ­B eendigung 91 Liv. 35,25; 37; Plut. Philopoimen 15; Paus. 8,51. Vgl. Nottmeyer 1995, 33f.; Bastini 1987, 56ff., zum Kampf gegen Nabis; außerdem S. 72ff. Wie Bastini hervorhebt, wurde der Bundesvertrag, der die Angliederung Spartas festlegte, in Athen, Olympia und auch in Rom publik gemacht. Vgl. auch Errington 1969, 99ff. (zum Konflikt zwischen Philopoimen und Flamininus); außerdem S. 109ff.; Lehmann 1967, 235f.; Deininger 1971, 110; Gruen 1984, 463ff. 92 Zur Politik des Diophanes s. die Analyse von Lehmann 1967, 266ff. 93 Plut. Philopoimen 16; Paus. 8,51. Diophanes wollte umgehend mit militärischer Gewalt Sparta in den Bund zurückzwingen. Philopoimen setzte auf eine diplomatische Lösung. Als sich Diophanes für seinen Plan die Unterstützung des Flamininus sicherte und in dessen Begleitung gegen Sparta zog, gelang es Philopoimen vor dessen Eintreffen, Sparta zu einem freiwilligen Übertritt zu bewegen. Vgl. Bastini 1987, 74f.; Nottmeyer 1995, 35f.; Errington 1969, 118ff.; Deininger 1971, 117; Gruen 1984, 468f. 94 Liv. 36,31; Plut. Flamininus 17. Ein derartiger Anschluss der zu Aitolien gehörenden Poleis war im Bundesgenossenkrieg bezeichnenderweise noch gescheitert. Vgl. Martin 1975, 372. Bemerkenswert ist zudem, dass die Messenier – als ein gewaltsamer Anschluss drohte – erklärten, sich nur Flamininus ergeben zu wollen. Dieser befahl jedoch die Eingliederung in das Koinon. S. Bastini 1987, 76f.; Nottmeyer 1995, 36f. Badian 1952, 79f., betont das sehr selbstbewusste Auftreten des Bundes in dieser Phase, d. h. zwischen Frühjahr und Herbst 191 v. Chr. Er bringt dies in Zusammenhang mit einem erfolgten formellen Vertragsabschluss mit Rom bzw. einem foedus aequum, das nach achaiischer Auffassung als Anerkennung der Gleichrangigkeit angesehen worden sei. Vgl. ­Nottmeyer 1995, 36f.; Errington 1969, 123ff.; Lehmann 1967, 232f.; Badian 1958, 86; Luraghi 2008, 262. Wie er feststellt, wurden für die Messenier gewisse Ausnahmeregelungen getroffen. Da man dort gefürchtet habe, die Kontrolle über kleinere Poleis in der Region zu verlieren, sei eine Sonderregelung getroffen und die Anbindung einiger Städte an ­Messene beibehalten worden. Siapkas 2003, 138, dagegen betont die Tat­sache, dass durch die eigenständige Angliederung einzelner messenischer Poleis wie u. a. Mothone und Kyparissia Messenien selbst als politische Einheit verschwand.

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des Vorgehens gegen Messenien gefordert, jedoch dann den Messeniern befohlen, dem Koinon beizutreten. Die Römer waren offensichtlich gewillt, dem Bund die Kontrolle über die Peloponnes zu überlassen.95 Weitere Ambi­ tionen wurden allerdings entschieden zurückgewiesen. Dies wurde deutlich, als die Achaier auch Zakynthos dem Bund anschließen wollten. Flamininus warnte ausdrücklich davor, über die Peloponnes auszugreifen. Bei Livius ist dessen Ratschlag an die Achaier überliefert – er riet diesen angeblich, sich wie eine Schildkröte zu verhalten: ceterum sicut testudinem, ubi collecta in suum tegumen est, tutam ad omnis ictus video esse, ubi exserit partis aliquas, quodcumque nudavit, obnoxium atque infirmum habere, haud dissimiliter vos, Achaei, clausos undique mari, quae intra Peloponnesi sunt terminos, ea et iungere vobis et iuncta tueri facile, simul aviditate plura amplectendi hinc excedatis, nuda vobis omnia, quae extra sint, et exposita ad omnis ictus est.96 Der Raum der Peloponnes jedoch wurde nun also mit Zustimmung der Römer endgültig vereint.97 Erneut war diese territoriale Erweiterung jedoch nicht Ergebnis freiwilligen Anschlusses, sondern militärischer Unternehmungen und politischen Drucks. Eine Zusammengehörigkeitsgefühl bzw.

95 Vgl. Martin 1975, 374; s. auch Gruen 1984, 470ff., zu den Motiven Roms. 96 Liv. 36,32. Vgl. Bastini 1987, 77f.; Badian 1952, 79; Nottmeyer 1995, 37; Deininger 1971, 117f. 97 Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang allerdings auch die Eingliederung von Elis 191 v. Chr. Vgl. Liv. 36,35 – die Eleer wollen sich lieber selbst als unter römischer Vermittlung dem Bund anschließen. Liv. 36,35. Sie wandten sich an die Römer und boten an, sich diesen zu unterwerfen. S. Bastini 1987, 84f.; Nottmeyer 1995, 37ff.; Gruen 1984, 469f. Vgl. auch Martin 1975, 374f., der hierin den Grund dafür sieht, dass die Römer sich den spartanischen und messenischen Gesandtschaften gegenüber offen zeigten. Badian 1952, 79f., betont allerdings, dass die Achaier in diesem Fall keine Rücksichten auf römische Befindlichkeiten nahmen. Als Flamininus diese Angelegenheit regeln wollte, musste er feststellen, dass Elis ohne Rücksprache mit ihm dem Bund angeschlossen worden war. Badian sieht hierin – und in der gleichzeitig erfolgten Ablehnung des Rückkehrrechts für die spartanischen Verbannten – einen Beleg für das gewachsene Selbstbewusstsein auf Seiten des Koinons. Das Beharren auf der innenpolitischen Eigenständigkeit sieht er begründet in dem inzwischen geschlossenen foedus aequum. Anders argumentiert Klose 1972, 194f. Die Achaier hätten sich zwar bemüht, ihre Selbständigkeit zu wahren. Gerade durch das foedus aequum sei die Abhängigkeit jedoch verstärkt worden. Zwar sei durch dieses rechtlich bestätigt worden, dass das Koinon souverän war, andererseits habe dies das mittlerweile etablierte Klientelverhältnis zu Rom nicht tangiert.

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eine gemeinsame Identität entwickelte sich unter diesen Bedingungen nicht. Im Gegenteil, innerhalb des Bundes existierten starke zentrifugale Kräfte, die dessen Bestand gefährdeten. Wohl in Anerkennung dieser Verhältnisse bzw. der Ausdehnung des Territoriums kam es zu einer erneuten Verfassungsreform.

5. Die Bundesverfassung als identitätsstiftendes Element Seit Ausdehnung des Territoriums war die Benachteiligung der entfernteren Mitgliedsstaaten ein Problem gewesen, und es war daher zu einer Reduzierung der Kompetenz der Ekklesia bzw. einer repräsentativen Verfassung gekommen. War bisher Aigion die Bundeszentrale gewesen, bzw. hatte dort die Bundesversammlung getagt, so setzte Philopoimen nun auch durch, dass der Tagungsort wechselte.98 Wie Errington betont, war die Lage Aigions in der Frühzeit des Bundes günstig und die Polis habe auch von dem Privileg profitiert.99 In Aigion befand sich mit dem Heiligtum des Zeus Homarios zudem ein religiöses Zentrum – zumindest für die nördlichen Poleis.100 Errington sieht nun in der Folge aber eine Verschiebung des Schwerpunktes hin nach Arkadien und betont insbesondere die vergleichsweise hohe Zahl von bedeutenden Politikern aus Megalopolis.101 Als Konsequenz dieser Entwicklung ist auch die Änderung der 98 Liv. 38,30. Es kam zu parallelen Einladungen nach Aigion (Aristainos, Diophanes) und Argos (Philopoimen), letzterer setzt sich durch, obwohl erstere auch M. Fulvius eingeladen und ihn um Hilfe angerufen hatten; vgl. Larsen 1968, 221. S. auch Bastini 1987, 85ff. Zum Vorgehen des Philopoimen und dem Widerstand gegen dieses s. Badian 1958, 13ff.; außerdem Errington 1969, 140 – er geht von geringer Opposition gegen die Änderung bei der Versammlung in Argos aus („it was clearly a victory for the better cause“). Lehmann 2001, 51, konstatiert dagegen „heftigen Widerstand“. Allerdings nimmt er an, dass Aigion weiterhin aufgrund des „anerkanntes Heiligtum der Foederation“ und Sitz des Bundesarchivs herausragende Bedeutung behielt. Dort tagte auch weiter der Bundesrat. Zur Forschungsdiskussion bezüglich der Bundesversammlung s. Larsen 1972, 178ff.; ders. 1968, 223f.; Giovannini 1967, 1ff.; Walbank 1970, 129ff.; O’Neil 1980, 41ff.; Errington 1969, 138f.; Lehmann 2001, 71ff.; Mendel, Constitution, 269ff. 99 Errington 1969, 138f. 100 Zur Bedeutung von Heiligtümern für Bundesstaaten s. auch Freitag 2007, 387ff. 101 Vgl. in diesem Zusammenhang O’Neil 1984 – 86, 33ff., zu der überproportionalen Vertretung von Bürgern aus Megalopolis unter den prominenten Politikern des Bundes. Als

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Bundesverfassung zu sehen. Auf Initiative Philopoimens wurden zudem Alea, Alipheira, Palantion und andere Orte von Megalopolis abgespalten.102 Damit wurde eine direktere Beteiligung aller Poleis angestrebt.103 Polybios sah in der Verfassung des Bundes die Grundlage für dessen Größe und Wachstum.104 Er betont, dass der Achaiische Bund sowohl größer geworden sei, als auch an innerem Zusammenhalt gewonnen habe. In diesem Zusammenhang hebt er hervor, dass nun gleiche Gesetze, Gewichte und Maße gegolten hätten sowie dieselben Münzen benutzt worden seien. Man habe einen Rat und dieselben Magistrate und Richter besessen. Die Vereinigung der Poleis sei in einem Grade abgeschlossen gewesen, dass die ganze Peloponnes eine einzige Stadt geworden sei – nur dass sie nicht von einer Mauer umschlossen wurde.105

weitere die achaiische Politik dominierende Gruppe können Politiker aus den Städten ausgemacht werden, die bereits ursprünglich zum Bund gehört hatten. O’Neil 1980, 42ff., spricht in diesem Zusammenhang sogar von „a self-perpetuating élite“, die die Wahl von Außenseitern blockiert hätte. 102 Paus. 8,27. Vgl. Errington 1969, 91, mit Verweis auf eine mögliche eigene Münzprägung ab dieser Zeit. S. auch Plut. Philopoimen 13 – der die Initiative Philopoimens mit dessen Verärgerung über das Bemühen der Megalopoliten, ihm in seiner Abwesenheit das Bürgerrecht zu entziehen, in Verbindung bringt. 103 Bastini 1987, 88f.; Lehmann 2001, 51f. 104 Pol. 2,37f. S. Urban 1979, 1, zur Wertung bei Polybios, der die Entwicklung des Bundes positiv sieht und die Freiwilligkeit der meisten Beitritte betont. 105 Pol. 2,37 erklärt: „τοιαύτην καὶ τηλικαύτην ἐν τοῖς καθ᾽ ἡμᾶς καιροῖς ἔσχε προκοπὴν καὶ συντέλειαν τοῦτο τὸ μέρος ὥστε μὴ μόνον συμμαχικὴν καὶ φιλικὴν κοινωνίαν γεγονέναι πραγμάτων περὶ αὐτούς, ἀλλὰ καὶ νόμοις χρῆσθαι τοῖς αὐτοῖς καὶ σταθμοῖς καὶ μέτροις καὶ νομίσμασι, πρὸς δὲ τούτοις ἄρχουσι, βουλευταῖς, δικασταῖς, τοῖς αὐτοῖς, καθόλου δὲ τούτῳ μόνῳ διαλλάττειν τοῦ μὴ μιᾶς πόλεως διάθεσιν ἔχειν σχεδὸν τὴν σύμπασαν Πελοπόννησον, τῷ μὴ τὸν αὐτὸν περίβολον ὑπάρχειν τοῖς κατοικοῦσιν αὐτήν, τἄλλα δ᾽ εἶναι καὶ κοινῇ καὶ κατὰ πόλεις ἑκάστοις ταὐτὰ καὶ παραπλήσια. S. auch 3,3; 4,1. Als denjenigen, der den Achaiischen Bund neu begründete, nennt Polybios (2,40) Aratos, als denjenigen, der die Einigung vollendete, Philopoimen, als diejenigen, die seinen Bestand sicherten, Lykortas und seine Anhänger. Lehmann 2001, 54ff., bewertet die Einigung der Peloponnes ausgehend vom Bericht des Polybios als grundsätzlich positiv. So sei durch eine gleichberechtigte Beteiligung aller Poleis an der Entscheidungsfindung das Machtgefälle innerhalb des Bundes ausgeglichen worden. Er verweist auf die polybianische Auffassung, dass die politische Einigung „sich auf die (gleichsam übergreifende) Identität einer glaubwürdigen Werte­ gemeinschaft stützen konnte“. Vgl. auch Lehmann 1967, 251ff. Vgl. aber die kritische

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Polybios spricht bezüglich der Einigung der Peloponnes von der „schönsten Leistung“ der Tyche.106 Verbunden mit der Ideologie der Gleichheit war nun, nachdem man sich gegen Makedonien positioniert hatte, eine Betonung freiheitlich-demokratischer Prinzipien bzw. eine antimonarchische Ausrichtung. Diese wurde bei verschiedenen Gelegenheiten zum Ausdruck gebracht. So lehnte man demonstrativ ein Angebot des attalidischen Königs Eumenes, die Sitzungsgelder zu zahlen, ab – mit der Begründung, man wolle sich nicht von einem Monarchen abhängig machen.107 Später wurden entsprechend auch Geschenke und Angebote des Ptolemaios bzw. Seleukos IV. zurückgewiesen. Als wichtiges Zeichen einer gemeinsamen Identität kann stets der Name einer Personengruppe betrachtet werden. Polybios thematisiert entsprechend insbesondere die Frage, wie der Name „Achaier“ zunächst nur ein kleines Gebiet bezeichnet, dann aber die gesamte Peloponnes gemeint habe.108 Er betont dabei, dass die Übernahme des Namens durch die übrigen Bewohner der Peloponnes freiwillig und nicht zufällig geschehen sei. Grund für die Bereitschaft seien die gleichen Rechte für alle, die Freiheit der Meinungsäußerung und die

Einschätzung von O’Neil 1984 – 86, 33, der zu Recht auf die Integrationsschwierigkeiten von Sparta und Messenien verweist. 106 Pol. 2,40. Zum Realismus der polybianischen Angaben bzw. seiner Vorstellung der achaiischen Verfassung s. Bastini 1987, 40. Larsen 1968, 220f., betont allerdings, dass es weiterhin lokale Regelungen und auch Münzprägung gegeben habe. Wie er weiter feststellt, S. 235, waren die Poleis für die Prägung der Münzen verantwortlich und nicht etwa eine zentrale Prägestätte. Auch die innere Verwaltung sei primär auf Ebene der Städte erfolgt. Einschränkend hat Larsen 1971, 81ff., auch darauf hingewiesen, dass die dem Bund angehörenden Poleis durchaus eine gewisse außenpolitische Eigenständigkeit behielten; vgl. in diesem Zusammenhang seine Diskussion von StVA III,567, einem Vertrag zwischen Stymphalos und Aegira, sowie SEG XI,1107. 107 S. Pol. 22,10ff. Vgl. Bastini 1987, 95f.; Larsen 1968, 226f.; Errington 1969, 159ff. Errington 1969, 162, vermutet auch eine innenpolitische Motivation der Ablehnung des Geschenks des Eumenes. Durch die Zahlung von Sitzungsgeldern wäre breiteren Schichten die Teilnahme an den Versammlungen des Bundes möglich gewesen – was nicht im Interesse der Führungselite lag. Im Jahre 175 v. Chr. kam es dann auch zur Abschaffung der Ehrungen für Eumenes. S. Pol. 28,7; Liv. 42,12; vgl. Gruen 1984, 502. 108 S. Pol. 2,38. Dabei betont Polybios, dass das ursprünglich mit Achaia bezeichnete Gebiet weder besonders groß noch durch besonders viele Poleis geprägt gewesen sei. Auch seien die Einwohner weder besonders reich, noch besonders tapfer oder zahlreich gewesen.

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echt demokratische Ordnung gewesen.109 Tatsächlich dürfte der Name gewählt worden sein, weil die Alternative „Peloponnesischer Bund“ eine Anknüpfung an die Tradition der spartanischen Hegemonie bedeutet hätte. Mangels gemeinsamer Traditionen und angesichts der wechselhaften politischen Geschichte des Bundes setzte man offenbar auf eine bewusste Angleichung der inneren Verfassungen und Maßeinheiten, um ein neues ­Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen.110 Die hier von Polybios vertretene Einschätzung dürfte allerdings die der Führungselite des Bundes gewesen sein, der der Historiker und sein Vater ebenfalls zurechnen sind. In welchem Umfang tatsächlich eine Vereinheitlichung der Regelungen auf der Peloponnes gelang, ist schwierig zu beurteilen. Im Zuge der Angleichung der Maße und Gewichte kam es offensichtlich auch zur Etablierung einer Bundesprägung. Chantraine hat überzeugend dargelegt, dass die sogenannte „jüngere achäische Bundesprägung“ mit dem Zeus Homarios in die Zeit des frühen 2. Jh. datiert und mit Philopoimen zu verbinden ist.111 Hinsichtlich einer Identitätsstiftung sind die von Polybios angeführten Maßnahmen jedoch auch problematisch 109 Beschönigend stellt Polybios, 2,38, fest, dass man den größten Teil der Peloponnesier überzeugt habe; diejenigen, die gezwungen worden seien, hätten bald ihre Zustimmung zur Eingliederung in den Bund erklärt. Dies sei darin begründet, dass neuen Mitgliedern dieselben Rechte wie den alten zuerkannt wurden; Polybios betont die „Gleichheit und Humanität“. S. auch 2,39, wo Polybios hervorhebt, dass die Achaier bereits früh bei den Kolonien in Italien als vorbildhaft galten und diese religiöse wie rechtliche Einrichtungen übernommen hätten. Auch in Griechenland seien die Achaier zu Schiedsrichtern bei Streitfragen ernannt worden. Für die Betonung der Freiheit als Grundprinzip des Bundes bei Polybios s. 2,42 – vgl. Eckstein 1990, 67f., der hervorhebt, dass diese Freiheit laut Polybios gegen Königs und Tyrannen verteidigt wurde, und zwar auch mit Hilfe von Verbündeten, v. a. der Römer. 110 Die Achaier besaßen die Freiheit des Besitzerwerbs, des Handels und der Heirat in allen Bundesstädten; das Wahlrecht und das Recht der Bekleidung eines öffentlichen Amtes stand ihnen jedoch nur in ihrer Heimatpolis zu – so Larsen 1971, 83. S. auch ders. 1968, 219f., der konstatiert: „The various tribes of the Peloponnesus had, as it were, been merged into one nation. This unity may seem artificial and unnatural …“. 111 S. Chantraine 1972, 175ff., in Auseinandersetzung mit der älteren Forschungsliteratur. Wie er hervorhebt, passt der numismatische Befund zu dieser zeitlichen Ansetzung. Die Tatsache, dass von einigen Poleis keine Prägungen vorliegen, wird von ihm u. a. mit fehlender wirtschaftlicher Potenz oder Desinteresse an einer eigenen Prägung erklärt. Zur Existenz einer Bundesprägung s. auch IG V,2 345 – dazu Chantraine 1972, 176; Aymard 1938, 167; Lehmann 2001, 52.

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zu sehen. Eine derartige Vereinheitlichung führte gleichzeitig auch dazu, dass die Poleis gewisse Souveränitätsrechte aufgeben mussten. Als Ausgleich sollte den einzelnen Städten eine gleichberechtigte Beteiligung an den Gremien des Bundes eingeräumt werden. Der neuen Ideologie entsprechend sollten die Poleis auch im Inneren ihre Gesetze und Regelungen anpassen. Gerade die Vereinheitlichung der Gesetze war aber für einen Staat problematisch, der immer auf seine besondere Verfassung und Lebensweise Wert gelegt hatte – nämlich Sparta. Dieses definierte sich in hohem Maße über seine eigenen Gesetze und besondere Lebensweise. Das vom Bund ausgehende Bestreben nach einer weitgehenden Vereinheitlichung und das spartanische Pochen auf eine Sonderrolle mussten zu ständigen Reibungen und Konflikten führen. Eine Ausnahmeregelung war für die alte Großmacht nicht vorgesehen. Die Folge war ein sich über mehrere Jahrzehnte erstreckender Konflikt, in den auch die neue Großmacht, Rom, zunehmend involviert wurde. Bereits bei der erneuten Eingliederung Spartas 191 v. Chr. trat dabei zudem das Bestreben zutage, die Eigenständigkeit der achaiischen Außenpolitik zu betonen.

6. Die Frage der Achaiischen Eigenständigkeit Als Schlichter in dem Konflikt zwischen Sparta und dem Bund kam nur die neue Hegemonialmacht, also Rom, in Frage. Gerade weil die Verfassung und die Gesetze für den Bund nunmehr zum einigenden Band geworden waren, war man auf achaiischer Seite jedoch nicht bereit, Eingriffe in die Autonomie des Bundes hinzunehmen. Die Einheitlichkeit der Verfassung und inneren Ordnung war ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Integration der verschiedenen Landschaften. Es bleibt zudem schwierig, sich vorzustellen, wie eine Sonderrolle Spartas bzw. dessen Verhältnis zum umliegenden Bundesterritorium hätte gestaltet werden können. Auch gegenüber der Hegemonialmacht Rom war man in jedem Fall diesbezüglich nicht zu Zugeständnissen bereit, und so verband sich die spartanische Frage mit der grundsätzliche Frage der Einstellung zu Rom. Es seien hier nur einige Stationen dieses Konfliktes, der in den Achaiischen Krieg münden sollte, genannt. Ein zentrales Problem stellte mehrfach die Frage einer Wiederaufnahme von Verbannten dar – so auch derjenigen, die durch Nabis vertrieben worden waren. Von römischer Seite wurden die Achaier aufgefordert, den Verbannten die Rückkehr nach Sparta zu gestatten.

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Philopoimen verbat sich allerdings ausdrücklich die Einmischung in die Bundesangelegenheiten und blockierte die Rückführung.112 So soll er gegenüber Aristainos betont haben, man müsse den Niedergang der griechischen Staatenwelt nicht noch beschleunigen. Stattdessen wurden die Verbannten wenig später von ihm selbst zurückgeführt – wodurch die innenpolitische Autorität der Bundesgesetze gewahrt blieb.113 Als 190/189 v. Chr. Sparta seinen Austritt erklärte, kam es 188 v. Chr. erneut zum Krieg. Rom, das ein Interesse an geordneten Verhältnissen auf der Peloponnes hatte, griff ein bzw. forderte eine Verhandlungslösung.114 Wiederum wurde jedoch deutlich, dass man auf achaiischer Seite alle Entscheidungen auf der Peloponnes als innere Angelegenheiten behandelt sehen wollte. Die Frage einer römischen Vermittlung wurde aber auch deshalb bedeutsam, weil zum ersten Mal eine Spaltung innerhalb der achaiischen Führungsschicht zutage trat.115 Der achaiische Politiker Diophanes erklärte, sich den römischen Wünschen unterordnen zu wollen.116 Die andere Seite wurde u. a. von Lykortas, dem Vater des Polybios, vertreten. Dieser betonte die grundsätzliche Eigenständigkeit des Bundes.117 Für ihn und seine Gruppierung war die spartanische Frage von entscheidender Bedeutung für den Bund und dessen Zusammenhalt. Die römische Entscheidung in dieser Angelegenheit war zumindest zweideutig. Man verkündete, dass keine Änderungen hinsichtlich Spartas vorgenommen

112 Plut. Philopoimen 17; Liv. 36,35 (zu Elis). S. Bastini 1987, 78; Nottmeyer 1995, 38f.; zur Problematik der Verbannten s. auch Errington 1969, 140ff.; Deininger 1971, 119; Gruen 1984, 473. Errington 1969, 77, hebt hervor, dass es sich bei dem Streben des Philopoimen nach Unabhängigkeit nicht um einen „doctrinaire nationalism“ gehandelt habe. Vielmehr habe der Nationalismus eine sehr praktisches Element enthalten „which gave practical application to his policy“. Andererseits konstatiert er, S. 227, dass „Philopoimen failed to find an acceptable solution, and the instability and suffering of Sparta and Messene were the price of his stubbornness in the cause of a doctrinaire patriotism“. 113 Paus. 8,51. Vgl. Nottmeyer 1995, 38f. 114 Liv. 38,30f.; Pol. 21,41, beurteilt das Vorgehen des Philopoimen (Einigung der Peloponnes; Demütigung Spartas, Rückführung der Emigranten, Bestrafung der Anhänger des Tyrannen) insgesamt als positiv. 115 Zum Auftritt der verschiedenen Gesandtschaften in Rom s. Liv. 38,32. 116 Liv. 38,32. Diophanes sieht in der Rückführung kein Problem. S. Bastini 1987, 89; ­Nottmeyer 1995, 39f.; Deininger 1971, 120; Gruen 1984, 474f.; Dmitriev 2011, 316. 117 Er vertrat die Linie des Philopoimen. S. Liv. 38,32; vgl. Bastini 1987, 89f.; Nottmeyer 1995, 40, der das Vorgehen des Lykortas als „ungeschickt“ bewertet.

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werden sollten.118 Die verschiedenen Parteiungen im Bund bewerteten dies unterschiedlich. Die Gruppierung des Lykortas konnte sich jedoch letztendlich mit ihrer Deutung der römischen Entscheidung durchsetzen und in der Folge wurde Sparta gewaltsam wieder eingegliedert.119 Die gegenüber Sparta getroffenen Maßnahmen waren von außerordentlicher Härte. Nicht nur, dass es zu Ausschreitungen kam 120 – Sparta musste seine Mauern einreißen und die Agoge wie die lykurgische Verfassung (oder was dafür gehalten wurde) – abschaffen.121 Stattdessen wurde nun eine Verfassung etabliert, die denjenigen anderer achaiischer Staaten ähnelte. Neben machtpolitischen Interessen ist als Ziel erneut auch die Einheitlichkeit der Peloponnes, möglicherweise die Schaffung einer „peloponnesischen Identität“ zu sehen. Die Vereinheitlichung der Gesetze war allerdings in diesem Fall mit der Zerstörung der spartanischen Identität verbunden, da diese gerade auf der einzigartigen Verfassung und Lebensweise beruhte.122 Aus Sicht der Achaier dürfte die harte Haltung und Durchsetzung als Bestätigung der Eigenständigkeit des Bundes gesehen worden sein. Dieses Selbstbewusstsein der Achaier wurde 118 Liv. 38,32. Bastini 1987, 90; Deininger 1971, 120. 119 Bastini 1987, 90f.; Nottmeyer 1995, 41. 120 S. Liv. 38,33; Pol. 22,3; 22,10; Plut. Philopoimen 16 (auch zur Bitte der Spartaner in Rom, die Regelungen aufzuheben). Die Maßnahmen umfassten auch eine territoriale Enteignung – die abgetrennten Gebiete wurden Megalopolis zugeschlagen; außerdem wurden (Neu-)Bürger ausgesiedelt und 3000 Spartaner, die sich widersetzten, in die Sklaverei verkauft. Der finanzielle Gewinn diente zur Finanzierung eine Säulenhalle in Megalopolis. 80 (möglicherweise sogar 350) Spartaner wurde zudem ohne Prozessverfahren getötet. Insgesamt werde die Maßnahmen von Plutarch außerordentlich kritisch gesehen. So seien die „Sehnen des Staates“ aufgeschnitten worden. Kritisch zum Verhalten des Philopoimen Errington 1969, 143ff. Lehmann 1967, 258ff., spicht von „zweifellos gewaltsamen Maßnahmen Philopoimens, der ohne viel Umschweife sein Ideal eines einheitliche pel. Bundesstaates zu verwirklichen trachtete“. Für die Maßnahmen gegenüber Sparta zeigt Lehmann allerdings durchaus Verständnis. 121 Liv. 38,34; Paus. 7,8 (auch zu der Beschwerde der Spartaner); 8,51. Vgl. Bastini 1987, 92f. S. auch Nottmeyer 1995, der als Motive hinter diesem Vorgehen den Versuch einer militärischen Schwächung Spartas, aber auch das Ziel der Einigung der Peloponnes sieht. Als Grund für bedeutende Probleme für den Bund werden die Maßnahmen von Errington 1969, 146f., gesehen. Zu den von Kleomenes vorgenommenen Reformen s. Shimron 1964, 232ff.; Mendels 1981, 284ff. (teilw. gegen Shimron). 122 Wie Bastini 1987, 93, betont, fand Philopoimen mit seiner diesbezüglichen Politik breite Unterstützung im Bund.

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in Rom eher kritisch bewertet. Man registrierte die achaiischen Ambitionen und sah sie im Widerspruch zu den römischen Machtansprüchen. Entsprechend wurde das Vorgehen des Bundes gegen Sparta kritisiert und mehrfach offen getadelt.123 Mit bemerkenswerter Deutlichkeit bemängelte z. B. ­Caecilius Metellus im Jahre 185 v. Chr. derartige achaiische Selbständigkeit.124 In den Verhandlungen zeigte sich zudem wiederholt, dass die achaiische Führungsschicht gespalten war. Ein Teil, so die Politiker Aristainos und Diophanes, unterstützte die römische Position bzw. war bereit, sich unterzuordnen. Philopoimen und Lykortas dagegen betonten, dass Maßnahmen und Entscheidungen gar nicht rückgängig zu machen seien, ohne gegen achaiische Gesetze zu verstoßen.125 123 Vgl. Pol. 22,3 – eine spartanische Gesandtschaft erreichte, das aus Rom ein Schreiben an die Achaier geschickt wurde, in dem die Behandlung Spartas kritisiert wurde. Philopoimen schickte daraufhin seinerseits Nikodemos nach Rom. Von Polybios wird dann, 22,10, berichtet, wie Nikodamos die Achaier über die Verhandlungen in Rom informierte und den Brief des Senats vorlas, in dem das Vorgehen gegen Sparta kritisiert, aber nicht gefordert wurde, die Maßnahmen rückgängig zu machen. Entsprechend hätten sich die Achaier nicht weiter mit dieser Frage befasst. Tatsächlich waren in dem neuen Schreiben nun auch konkret einzelne Massnahmen getadelt worden. Vgl. Nottmeyer 1995, 41ff., der den Bericht des Polybios in Zweifel zieht. Seiner Ansicht nach untertrieb dieser bzw. die Römer hätten die achaiische Vorgehensweise durchaus kritisch gesehen. Dagegen betont Gruen 1984, 481ff., die Passivität des Senats. Er stellt generell fest, dass man römischerseits – noch – wenig konkreten Druck ausübte. 124 Metellus wurde in der Folge allerdings sogar die Einberufung einer Bundesversammlung verweigert, da er keinen entsprechenden Senatsbescheid vorweisen konnte. Dies wurde vom Senat mit starker Irritation registriert. S. Pol. 22,13; Paus. 7,9. Vgl. Larsen 1935, 208; ders. 1968, 224. S. dazu bzw. der Argumentation von Aristainos und Diophanes sowie Philopoimen, Lykortas, Archon Bastini 1987, 93ff.; Gruen 1984, 485f.; Deininger 1971, 120f. Errington 1969, 150, sieht den Senat zwar nicht an den inneren Auseinandersetzungen in Griechenland interessiert, doch habe die Verbanntenfrage die Möglichkeit der Ausübung von Patronage geboten bzw. dazu, von den Achaiern Unterordnung unter römische Wünsche zu verlangen – deren Widerstand sei unerwartet gewesen, vgl. auch ders., 166ff.; Lehmann 1967, 263ff. 125 Pol. 22,13. Badian 1952 sieht hinter der Argumentation des Philopoimen ein grundsätzliches Missverständnis. Ausgehend von dem zwischen Rom und dem Bund existierenden foedus habe er auf der rechtlichen Unabhängigkeit des Bundes bestanden und die ungeschriebenen Gesetze des römischen Klientelwesens ignoriert. Dies sei wiederum von den Römern als Undankbarkeit interpretiert worden. Vgl. auch Nottmeyer 1995, 43. Zum Gegensatz zwischen Philopoimen und Aristainos s. auch Plut. Philopoimen 17; Pol. 24,13f. S. auch die sich Anfang 184 v. Chr. anschließende Auseinandersetzung

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Diese Berufung auf legalistische Argumente könnte man zwar einerseits als vorgeschoben bewerten. Angesichts der Bedeutung, die Polybios gerade der verbindenden Funktion der achaiischen Gesetzgebung zuschreibt, besitzt die Argumentation aber eine gewisse Folgerichtigkeit. Das einende Element des Bundes sollte eine Vereinheitlichung der inneren Ordnungen und die Unterordnung aller Poleis unter die Bundesentscheidungen sein; eine Infragestellung der einmal gefassten Beschlüsse hätte den gerade errungenen Zusammenhalt gefährdet. Die Relevanz, die Polybios dieser Grundsatzentscheidung beimisst, wird daran deutlich, dass er die Reden des Aristainos und des Philopoimen im Wortlaut wiedergibt.126 Die Haltung des Philopoimen wird von Polybios seiner Grundhaltung entsprechend als ehrenhaft beurteilt. Aristainos sei dagegen um guten Ruf bzw. die Sicherheit des Bundes bemüht gewesen. Bezeichnend ist auch eine von Polybios wiedergegebene Rede des Lykortas aus dem Jahre 184 v. Chr. anlässlich einer weiteren Auseinandersetzung bezüglich Spartas.127 Lykortas verteidigte die achaiische Politik bzw. die Haltung des Philopoimen und stellte die Behandlung Spartas als milde und gerechtfertigt dar.128 Er betonte in seiner Rede die Vorteile, die die nun erfolgte Einigung der Peloponnes auch für die Spartaner gebracht habe. Durch die Vereinheit­ lichung der Gesetze müssten diese zwar auch das Bundesgesetz beachten, wären allerdings mit den anderen Poleis gleichgestellt.129 Erneut wird also die Integration auf institutionellem Wege als von primärer Bedeutung angesehen. Die in Rom – Pol. 22,15f.; Paus. 7,9. Eine spartanische Gruppierung kritisierte das Vorgehen der Achaier – Sparta sei der inneren Freiheit beraubt worden; die Achaier verteidigten die Behandlung Spartas und das Verhalten gegenüber Caecilius bzw. die Verweigerung der Einberufung einer Bundesversammlung – die Verhältnisse in Sparta seien in bester Weise geregelt. Die Römer kündigten daraufhin die Entsendung einer Kommission an. 126 Pol. 24,13f.; S. Bastini 1987, 98ff.; zum Gegensatz zwischen Philopoimen und Aristainos s. auch Errington 1969, 158ff.; Lehmann 1967, 242ff.; Champion 2007, 259f.; Deininger 1971, 111ff. Er spricht hinsichtlich der Haltung Philopoimens von „begrenztem Widerstand“. 127 Liv. 39,35ff.; Paus. 7,9. Vgl. Lehmann 1967, 278ff.; Deininger 1971, 122ff. 128 Lykortas betonte, dass die spartanischen Stadtmauern ohnehin erst hundert Jahre zuvor gebaut worden waren und die alte lykurgische Verfassung bereits von den spartanischen Tyrannen aufgehoben worden sei. Vgl. Nottmeyer 1995, 45; Gruen 1984, 487f. 129 Liv. 39,37. Etwas pathetisch stellt Lykortas am Ende der Rede fest, dass man zwar die Römer verehre, noch mehr aber die Götter. Vgl. Nottmeyer 1995, 46. Die römische Seite unterlief allerdings die Argumentation des Lykortas und gestattete den Spartaner – entgegen

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Unentschlossenheit oder auch das Desinteresse der römischen Seite bezüglich der Sparta-Frage zeigte sich in aller Deutlichkeit bei den Verhandlungen in Rom im Jahre 183 v. Chr. Bei diesen waren neben den achaiischen Gesandten auch verschiedene spartanische Delegationen anwesend.130 Die Römer ordneten zwar die Rückführung der Verbannten an, aber auch den Verbleib Spartas im Achaiischen Bund. Während also der Senat wiederholt gewisse Korrekturen anmahnte, berief man sich von Seiten der Achaier auf die geltenden Gesetze sowie darauf, dass die nunmehr hergestellte Einheit der Peloponnes auch im Interesse ­Spartas sei.131 Argumente für die Zugehörigkeit zum Bund waren also nicht etwa gemeinsame Geschichte oder Traditionen, sondern politische Erwägungen und die propagierte Einheitlichkeit der Gesetzgebung. Die römische Reaktion zeigte, dass man die Schwäche und potentielle Instabilität des Bundes erkannt hatte. Als auch Messenien 183 v. Chr. versuchte, den Bund zu verlassen,132 erklärte man sich römischerseits als nicht zuständig. Der Senat ließ die Achaier wissen, dass man nicht eingreifen werde, wenn Poleis den Bund verlassen wollten.133 Interessant ist in diesem Zusammenhang die von den Messeniern möglicherweise zu dieser Zeit eingeführte neue ­Münzprägung, den geltenden Regeln – eigenständig eine Gesandtschaft nach Rom zu schicken; s. Paus. 7,9. 130 S. Pol. 23,4; vgl. Gruen 1984, 489ff. 131 So z. B. Pol. 22.15; s. auch Paus. 7,9. 132 Zu Deinokrates s. Bastini 1987, 106f.; Lehmann 1967, 179ff.; Siapkas 2003, 151f.; Luraghi 2008, 263; Pol. 23,5; Plut. Philopoimen 18. 133 Pol. 23,9. Vgl. Martin 1975, 375f., der hier den Versuch sieht, die Achaier dazu zu zwingen, in Rom um Hilfe zu bitten und so ihren Status als abhängige Bundesgenossen zu manifestieren. So auch Dmitriev 2011, 319. Vgl. Bastini 1987, insbes. S. 111f.; Larsen 1935, 208f. Errington 1969, 186f., sieht den Senat zwar verärgert, betont aber, dass die achaiischen Gesandten zunächst in Rom festgehalten wurden, bis der Ausgang des Krieges entschieden war. Als der achaiische Erfolg festgestanden habe, sei man dem Bund entgegengekommen. Insofern sieht Errington die Einschätzung des Polybios, dass die Römer in die Entscheidungsfindung stets einbezogen werden wollten, als zutreffender an, als dessen vorher getroffene Aussage, dass Rom Sezessionen gefördert habe. Vgl. auch Nottmeyer 1995, 49f. Er sieht zwar hier einen „Tiefpunkt der Beziehungen zwischen Rom und dem Koinon“. Allerdings beurteilt Nottmeyer das römische Vorgehen nicht als Befürwortung von Abfallbewegungen. Vielmehr habe man den Bund „in Zugzwang“ bringen wollen. Bemerkenswert ist allerdings, dass in diesem Zusammenhang auch den Spartanern mitgeteilt wurde, man habe alles Mögliche getan und werde sich nicht weiter engagieren. Vgl. hierzu Gruen 1984, 491ff.

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die den Zeus Ithomatas und die Umschrift „die Messenier vom Ithome“ zeigt.134 Es gelang jedoch schließlich, auch ohne römische Unterstützung, Messenien in den Bund zurückzuzwingen – allerdings um einen hohen Preis. Bei einem ­ersten Unternehmen wurde Philopoimen gefangengenommen und hingerichtet.135 Daran wurde nach der Angliederung demonstrativ erinnert. Die Asche des Philopoimen wurde – getragen von Polybios – in einem feierlichen Leichenzug zurückgeführt.136 Wie Aratos wurden auch ihm göttliche Ehren zuerkannt. Wie Polybios später in anderem Kontext berichtet, fanden sich in den verschiedenen Bundesstädten jeweils Statuen des Aratos wie des Philopoimen.137 Die Problematik dieser Form der Integration wird allerdings daran deutlich, dass am Grab Philopoimens öffentlich die an seiner Folterung schuldigen Messenier hingerichtet wurden.138 Diese Strafaktion dürfte die Messenier dem Bund weiter entfremdet haben. Dies gilt auch für eine weitere Maßnahme: Als Folge der Wiedereingliederung wurden Abia, Kalamai und Thouria Ende 182 v. Chr. als selbständige Mitgliedsstaaten angeschlossen.139 134 S. dazu Luraghi 2008, 263. 135 Pol. 23,12; Plut. Philopoimen 18ff.; Paus. 4,29; 8,51; Liv. 39,49. Errington 1969, 190ff.; Lehmann 1967, 185ff.; Deininger 1971, 124ff. – mit einem Gesamturteil zu dessen Politik; Luraghi 2008, 263; Siapkas 2003, 151f Bastini 1987, 108ff. Auch zur überharten, selbst von Polybios kritisierten Kriegsführung des Lykortas. Zur endgültigen Angliederung ­Messeniens s. Pol. 23,16f.; Paus. 4,29 (zu den Gründen, warum Messenien zunächst keine Eingliederung wünschte – aus Angst vor einem erneuten Konflikt mit Sparta). 136 Plut. Philopoimen 21; Paus. 8,51. 137 S. auch Plut. Philopoimen 21. 138 Plut. Philopoimen 21. Lehmann 1967, 188f.; er beurteilt die Behandlung Messenes insgesamt als „milde“ und nimmt an, dass man danach „im achäischen Bundesverband Wurzeln geschlagen“ habe. Vgl. Bastini 1987, 113. Luraghi 2008, 283f., spricht von einer harten Behandlung der Messenier. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Analyse von O’Neil 1984 – 86, 40, der auf das weitgehende Fehlen von Repräsentanten z. B. aus Argos, Messene, Korinth und Sparta unter den prominenten Politikern verweist. Dies könnte seiner Meinung nach darin begründet sein, dass Bürgern dieser Städte mangelnde Loyalität unterstellt wurde. Gleichzeitig sieht er, zu Recht, in den begrenzten Chancen für die Politiker aus diesen Poleis eine Gefahr für den Zusammenhalt des Bundes. 139 Pol. 23,17. Polybios wertet die Behandlung Messeniens allerdings als großzügig und milde. Siapkas 2003, 138, dagegen sieht hierin „the final dissolution of Messenia … the last political event in Messenia’s political history that we hear of ”. Ähnlich Dmitriev 2011, 321. Wie Luraghi 2008, 264, feststellt, waren die Messenier nach der Niederlage gegen die Achaier 182 v. Chr. nicht mehr an der politischen Entscheidungsfindung beteiligt.

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Auch Sparta wurde angesichts der zögerlichen römischen Haltung wieder in den Bund aufgenommen. Der Konflikt um die Zugehörigkeit Spartas zum Bund bzw. hinsichtlich des Rückkehrrechtes der Verbannten fand dabei einen neuen Höhepunkt. Gleichzeitig manifestierte sich die Brüchigkeit des Zusammenhalts innerhalb des Bundes. Streitpunkt war, ob die während der verschiedenen inneren Auseinandersetzungen aus Sparta verbannten Bürger in ihre Heimatstadt zurückkehren durften. Ein Rückkehrrecht wurde allein jenen zuerkannt, die sich nicht einer offenen Feindseligkeit gegenüber dem Bund schuldig gemacht hatten.140 Nur ein Jahr später, 181/180 v. Chr., brach der Konflikt neu aus, ausgelöst durch ein weiteres Schreiben des Senats, in dem die Rückführung der Verbannten angemahnt wurde.141 Zunächst wurde das von den Verbannten überbrachte römische Schreiben ignoriert – mit dem von dem achaiischen Gesandten Bippos vorgebrachten Argument, die Römer ­hätten dieses nur auf Druck der Spartaner verfasst.142 Erneut wurde 180/179 v. Chr. anlässlich der römischen Aufforderung auf der Bundesversammlung die spartanische Frage erörtert.143 Die Debatte über die Rückführung aller sparta­nischen Verbannten bzw. über die Verbindlichkeit der römischen Anordnungen wurde gleichzeitig zu einer Auseinandersetzung über die Eigenständigkeit des Bundes selbst. Zwei grundsätzliche Positionen und Sichtweisen stießen dabei aufeinander.144 Zum einen gab es diejenigen, die auf eine grundsätzliche Autonomie des Achaiischen Bundes pochten. Der Primat der eigenen Beschlüsse und Gesetze wurde geradezu als konstituierend für die Existenz des Bundes betrachtet. Sprecher dieser Richtung war in erster Linie Lykortas, der Vater des Polybios.145 Entsprechend positiv wird diese Argumentationslinie von Polybios So stammten offenbar keines Bundesmagistrate von dort und keine Bundesversammlung sei dort abgehalten worden. 140 Pol. 23,17f. Lykortas betonte bei der erneuten Eingliederung ausdrücklich, dass die Römer ihr Desinteresse an dieser Frage bekundet hätten. Nichtsdestotrotz wurden alle Beschlüsse der Versammlung den Römern umgehend übermittelt. Vgl. Nottmeyer 1995, 15; 51. 141 Pol. 24,2. Vgl. Nottmeyer 1995, 15. 142 S. auch die Affäre um Chairon in Sparta (Pol. 24,7), bei der der Bundesstratege einschritt, für die Verurteilung des Chairon sorgte und auch in die Finanzverwaltung eingriff. 143 Pol. 24,10ff. Vgl. Bastini 1987, 117f.; Nottmeyer 1995, 15f. 144 Zur Diskussion Bastini 1987, 117f.; Nottmeyer 1995, 16. 145 Er argumentierte, dass die Römer Verständnis zeigen würden, wenn man auf die bestehenden Gesetze und Regelungen hinweise.

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bewertet. Die Gegenseite wurde von Hyperbatos, dem amtierenden Strategen, sowie ­Kallikrates vertreten. Ihrer Ansicht nach war den römischen Wünschen alles unterzuordnen – auch die Befolgung der achaiischen Entscheidungen und gesetzlichen Normen. Zwar gelang es Lykortas und Kallikrates nicht, sich auf der Bundesversammlung durchzusetzen. Vielmehr wurde beschlossen, den Römern gegenüber die Eigenständigkeit des Bundes zu betonen und diesbezüglich um Verständnis nachzusuchen.146 Kallikrates gelang es jedoch – wohl als Vertreter des Hyperbatos –, zu einem der Gesandten ernannt zu werden, die den Römern die Entscheidung der Achaier mitteilen sollten. Wahrscheinlich aufgrund seiner guten Beziehungen war es Kallikrates, der vor die Senatoren treten durfte.147 Der Auftritt des Kallikrates in Rom ist nun für Polybios eines der zentralen Ereignisse der achaiischen Geschichte, das das Verhältnis des Bundes zu Rom in der Folge bestimmen sollte.148 Kallikrates erklärte den Römern, dass sie selbst an der mangelnden Durchsetzung ihrer Anordnungen schuld seien. Interessant ist nun die von ihm angeblich in Rom vorgetragene Differenzierung bezüglich der Stimmung in Griechenland allgemein und derjenigen im Achaiischen Bund im Besonderen. So sei die Bürgerschaft in die gespalten, die die Befolgung der römischen Anweisungen über alles andere stellten, und diejenigen, die Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse als demgegenüber höherrangig erachteten. Kallikrates bezeichnet diese Haltung ausdrücklich als die „achaiischere“. In der Rede des Kallikrates kommt zum Ausdruck, wie sich gerade in Abgrenzung von Rom und in der Betonung der innen- wie außenpolitischen Eigenständigkeit ein neues achaiisches Selbstbewusstsein entwickelte. Wie er – ­jedenfalls nach der Darstellung des Polybios – den Römern deutlich machte, war diese Haltung durchaus populär und mehrheitsfähig. Die Masse der Achaier, so warnt Kallikrates ausdrücklich, folge denjenigen, die den eigenen Gesetzen und Beschlüssen das höhere Gewicht einräumten. Dagegen hätten die Politiker, die eine Unterordnung unter die römischen Wünsche befürworteten, einen schweren Stand. Kallikrates geht noch weiter: diejenigen Politiker, die sich 146 Pol. 24,10. 147 Pol. 24,11. Zur Rede des Kallikrates s. Bastini 1987, 118ff.; Nottmeyer 1995, 15ff.; ­Deininger 1971, 235ff.; Gruen 1984, 496ff. 148 S. insbes. Lehmann 2001, 45f. Vgl. Martin 1975, 376, der allerdings die gewandelte römische Haltung gegenüber dem Bund eher dessen eigenmächtiger Politik gegenüber ­Messene und Sparta zuschreibt.

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als Vorkämpfer der achaiischen Unabhängigkeit profilierten, seien zwar von „zweifelhaftem Ruf “, würden aber im Koinon in herausragender Weise geehrt. In gewisser Weise wurde also gerade in der Abgrenzung von Rom bzw. der Betonung der Eigenständigkeit ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt. Die Entscheidung des Senats fiel jedoch zugunsten der spartanischen Verbannten aus; der Senat beschloss außerdem ein entschlosseneres Eingreifen in die griechischen Angelegenheiten.149 Polybios sieht bezeichnenderweise in dem Auftreten des Kallikrates den Beginn vom Ende der achaiischen Unabhängigkeit und in Kallikrates den Auslöser für den Niedergang. Gleichzeitig ließ der Senat ausrichten, dass es möglichst mehr Menschen wie Kallikrates in den griechischen Staaten geben solle. Aufgrund der römischen Empfehlung konnte dieser sich eine eigene Machtposition aufbauen.150 Polybios vermerkt, dass die Masse der Achaier eingeschüchtert gewesen sei. Es folgten die Wahl des Kallikrates zum Strategen und die Rückführung der Verbannten.151 Als Zwischenfazit lässt sich somit festhalten, dass die Einheit, die Identität des Bundes mangels gemeinsamer Traditionen und Geschichte über die gemeinsamen Gesetze und eine gemeinsame Beschlussfindung definiert war. Die Einigung der Peloponnes wurde zwar sicherlich in ideologischer Hinsicht als Befreiung propagiert. Problematisch wurde ein in dieser Art konstituiertes Selbstverständnis – als Rechts- und Verteidigungsgemeinschaft – in dem

149 Vgl. Pol. 24,12. S. zur römischen Entscheidung – auch zur Aufforderung an andere griechische Staaten, die Durchführung der römischen Anordnungen zu überwachen – Bastini 1987, 122; Nottmeyer 1995, 23f. 150 Pol. 24,12. Martin 1975, 376, spricht von einer Phase der „informal submission“ in der Zeit der Dominanz des Kallikrates. Vgl. Bastini 1987, 123f.; Nottmeyer 1995, 24ff., s. insbesondere 26f., zu den unterschiedlichen Bewertungen des Kallikrates in der modernen Forschung. Vgl. das Urteil von Scullard 1951, 214. Klose 1972, 195, sieht bereits 179 v. Chr. eine Aufgabe der Versuche, die Unabhängigkeit zu bewahren, auch wenn die realiter nicht mehr vorhandene Souveränität des Achaiischen Bundes formell und offiziell von den Römern noch anerkannt worden sei. Deininger 1971, 143, verweist allerdings darauf, dass die Gruppierung um Lykortas auch in der Folgezeit führende Positionen im Bund bekleideten. Allerdings habe Kallikrates sich dennoch – wie hinsichtlich der Entscheidung bezüglich des makedonischen Angebots – bei Abstimmungen durch­ setzen können. 151 Pol. 24,12. Dmitriev 2011, 322, deutet das römische Vorgehen allerdings ebenfalls als Strategie der Unterminierung des Zusammenhaltes des Bundes durch die Förderung innerer Konflikte.

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Moment, in dem ein Mitglied des Bundes, Sparta, die eigenen Rechtstraditionen höher stellte als die Bundesebene und in dem eine äußere Macht, Rom, Einfluss auf die autonomen Bundesentscheidungen nehmen wollte. Dieser Konflikt setzte sich in den folgenden Jahrzehnten fort. Beide Konfliktherde blieben virulent bzw. häufig waren sie zudem miteinander verknüpft.

7. Der Achaiische Bund und der Krieg gegen Perseus von Makedonien Ein weiterer Anlass, bei dem die unterschiedlichen Auffassungen zum Tragen kamen, war die Frage des Verhältnisses zu Makedonien. Im Jahre 175/74 v. Chr. bemühte sich der Nachfolger König Philipps V., Perseus, um eine Normalisierung der Beziehungen zum Achaiischen Bund.152 Perseus, der bestrebt war, ein besseres Verhältnis zu den griechischen Staaten aufzubauen, wollte erneut diplomatische Beziehungen mit dem Koinon etablieren. Bei der Diskussion eines diesbezüglichen Schreibens prallten erneut die gegensätzlichen Ansätze aufeinander. Der Stratege Xenarchos befürwortete eine Annäherung an Makedonien, der bereits erwähnte Kallikrates forderte wieder die strikte Orientierung an Rom und damit faktisch die Aufgabe einer eigenständigen Außenpolitik. Bereits eine Diskussion der makedonischen Anfrage widersprach seiner Auffassung der Regelung, dass Makedonen das Bundesgebiet nicht betreten durften. Von Kallikrates wurde eine Annahme des makedonischen Angebots mit einer Verletzung der Pflichten gegenüber Rom, mit einem neuen Bündnis mit dem makedonischen König gleichgesetzt. Bemerkenswert ist die Charakterisierung des Kallikrates durch einen seiner Gegner, Archon. Dieser erklärte in seiner Rede, man könne Kallikrates kaum noch widersprechen, da man damit gleichzeitig auch den Römern widerspreche.153 Wohl auch aufgrund des sich abzeichnenden römisch-makedonischen Konflikts konnte sich Kallikrates durchsetzen. Diese Episode wirft ein bezeichnendes Licht auf die inneren Verhältnisse im Koinon wie auch auf die Frage nach der Eigenständigkeit bzw. Identitätsfindung. Während von einer politischen Gruppierung der außenpolitischen Souveränität zentrale Bedeutung für den Bestand des Bundes zugeschrieben

152 Liv. 41,23ff. Vgl. Bastini 1987, 130ff.; Nottmeyer 1995, 54ff.; Deininger 1971, 143ff. 153 Zu Archon s. auch Errington 1969, 207ff.

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wurde, propagierte die Gruppierung um Kallikrates eine Orientierung an den römischen Wünschen. Dahinter stand möglicherweise die Erwartung, die Position des Bundes in Griechenland – mit der römischen Unterstützung – auszubauen. Römischerseits wurde jedoch auch deutlich gemacht, dass man eine derartige Haltung vom Bundesgenossen erwartete: Im Jahre 173 v. Chr. trat M. Claudius Marcellus vor die Bundesversammlung und sprach den Achaiern ausdrücklich seine Anerkennung dafür aus, dass sie sich Perseus gegenüber ablehnend verhalten hatten.154 Einem anderen König, Eumenes von Pergamon, gegenüber zeigte man sich jetzt allerdings entgegenkommender – möglicherweise, weil er ein enger Verbündeter Roms war.155 Die Beziehungen zu diesem wurden demonstrativ verbessert. Die romkritische Haltung weiter Teile der achaiischen Führungsschicht war indessen dem Senat nicht verborgen geblieben. Man reagierte auf eine Weise, die eine grundsätzlich neue Haltung Roms gegenüber den griechischen Bundesstaaten verdeutlichte. In der Phase der Vorbereitung des 3. Makedonischen Krieges bereiste eine römische Gesandtschaft die Peloponnes und wandte sich an die einzelnen Poleis, um um Unterstützung nachzusuchen.156 Die Bundesebene bzw. die Regierung des Koinon wurde dagegen demonstrativ ignoriert. Damit wurde eben jene einigende Instanz brüskiert, die von der Mehrheit der Bundespoleis als verbindendes Band gesehen wurde. Die angestrebte Einigung der Peloponnes unter der Achaiischen Koinon wurde in Frage gestellt und die bereits existenten partikularistischen Bestrebungen gefördert. Die Römer behandelten die einzelnen Städte als autonom und betrachteten die Bundesebene nicht mehr als Verhandlungspartner. So stellt Nottmeyer fest: „Das Koinon als politische Körperschaft der gesamten Peloponnes war damit übergangen worden.“157 Auffällig ist zudem, dass man sich an die Elier und Messenier wandte, deren Zugehörigkeit zum Koinon ohnehin unsicher war. Das Vorgehen gegenüber

154 Liv. 42,6. Vgl. Bastini 1987, 134; Nottmeyer 1995, 58; Errington 1969, 208; Deininger 1971, 145. 155 Zur Abschaffung der Ehren für Eumenes und deren Wiederherstellung 169 v. Chr. s. Pol. 28,7; vgl. Bastini 1987, 129; 144f.; Nottmeyer 1995, 79ff. 156 Liv. 42,37; zuerst suchten die Gesandten Elis und Messene auf. Vgl. Bastini 1987, 135; Dmitriev 2011, 325; Larsen 1935, 208; Nottmeyer 1995, 61f. Vgl. Martin 1975, 377, der in den römische Gesandtschaften den Auslöser für eine anti-römische Stimmung und in der Folge für die Niederlage der Gruppe um Kallikrates sieht. 157 Nottmeyer 1995, 62.

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dem Achaiischen Bund stellte im Übrigen keine Ausnahme dar. Gegenüber z. B. dem Boiotischen Koinon wandte man eine ähnliche Vorgehensweise an.158 Der Achaiische Bund zeigte sich im Krieg gegen Perseus dann allerdings durchaus als loyaler Bundesgenosse und stellte noch vor dem Ausbruch des Konfliktes ein Kontingent von 1.000 Soldaten zur Verfügung.159 Bei Kriegsbeginn wurden den Römern nochmals 1.500 Mann an Unterstützung gesandt.160 Auch während des Krieges kam es jedoch wiederholt zu Spannungen im römisch-achaiischen Verhältnis. Zentrales Problem war dabei die Frage der Autonomie und des Zusammenhalts des Bundes. So erschienen im Jahre 170 v. Chr. erneut römische Gesandte auf der Peloponnes.161 Wieder wurde nicht die Bundeszentrale kontaktiert, sondern es wurden einzelne Poleis aufgesucht. Bemerkenswert ist weiter, dass sie den Bürgerschaften drohten. So wurde erklärt, man wisse genau, wer die wahren Romfreunde seien.162 Diese Ankündigung führte naturgemäß zur starken Verunsicherung der Städte. Polybios vermittelt einen Einblick in die Diskussionen, die innerhalb der politischen Führungsschicht geführt wurden.163 Zum einen gab es offenbar eine große Gruppe, die die Haltung des Kallikrates unterstützte. Die Gruppe seiner Gegner war jedoch gespalten. Eine Gruppe um Lykortas verfolgte einen Kurs dezidierter Neutralität.164 Die Argumentation lief dahingehend, dass weder ein völliger Sieg der Römer noch der Makedonen für den Achaiischen Bund wünschenswert sein könne – der Gewinner des Krieges würde in Griechenland eine zu große Machtposition erlangen.165 Andere, Apollonidas und Stratios, 158 Vgl. Syll.3 646. Dazu Gehrke 1993, 145ff. 159 Pol. 27,2. Vgl. Bastini 1987, 136. 160 Liv. 42,55. Vgl. Bastini 1987, 137; Nottmeyer 1995, 64. 161 Liv. 43,17 – sie verkündeten, man brauche keinen römischen Feldherrn zu unterstützen, wenn dieser keinen Senatsbeschluss vorweisen könne. 162 Pol. 28,3. Vgl. Bastini 1987, 138; Nottmeyer 1995, 64f. 163 S. u. a. auch die Analysen von Deininger 1971, 178ff.; Lehmann 1967, 200ff.; Nottmeyer 1995, 67ff. 164 Pol. 28,6. Nottmeyer 1995, 69, beurteilt diese Haltung als gefährlich und als Verkennung der politischen Verhältnisse. Zu den verschiedenen politischen Gruppierung Errington 1969, 209ff. 165 Pol. 28,6,4. Bastini 1987, 139f. Vgl. auch die Feststellung des Polybios (30,6) dass es in Griechenland drei Gruppierungen gegeben habe – die, die einen makedonischen Sieg bevorzugt hätten und sich auf die Seite des Perseus stellten; diejenigen, die ebenfalls pro-makedonisch eingestellt waren, sich in ihrer Polis jedoch nicht durchsetzen konnten,

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unterstützten diese Haltung prinzipiell, forderten aber zugleich ein Vorgehen gegen Personen wie Kallikrates, die den Gesetzen und Interessen des Bundes zuwiderhandelten.166 Durchsetzen konnte sich schließlich Archon, der für eine Entscheidungsfindung je nach den Umständen plädierte. Die Unterstützung der Römer durch den Achaiischen Bund blieb allerdings zögerlich.167 An den römischen Sieg bei Pydna schloss sich bekanntermaßen eine Abrechnung mit den echten und vermeintlichen Gegnern in Griechenland an.168 Im makedonischen Archiv hatten sich zwar keine Beweise gegen achaiische Politiker gefunden,169 dennoch trafen römische Gesandte auf der Peloponnes ein, erhoben Anschuldigungen und deportierten schließlich große Teile der Führungsschicht.170 Für viele griechische Staaten lässt sich feststellen, dass

und die, die weder einen vollständigen Sieg der Römer noch des Perseus wünschten. Vgl. Nottmeyer 1995, 93f. 166 Bastini 1987, 140ff. 167 Pol. 28,6. So sandte man zwar im Jahr 170 v. Chr. Truppen, die aber für die entscheidenden Aktionen zu spät kann und daher zurückgewiesen wurden. Bezüglich der Entsendung von Einheiten für 169 v. Chr. widersetzte man sich und erreichte, dass auf die Forderung nach achaiischen Kontingenten verzichtet wurde – s. Pol. 28,12f. S. zur Entsendung der Truppen und dem Vorgehen des Polybios Bastini 1987, 146ff.; Nottmeyer 1995, 72ff.; Deininger 1971, 181f. Vgl. Martin 1975, 377; Bastini 1987, 152f. S. auch den Streit über die Entsendung eines Hilfskontingents für die Ptolemaier, die von der Partei um Kallikrates hintertrieben wurde (Pol. 29,23ff.). Vgl. Bastini 1987, 153ff.; Nottmeyer 1995, 78ff. Die Angelegenheit wurde letztlich durch das Eintreffen eines römischen Gesandten entschieden – Bastini konstatiert in diesem Zusammenhang das endgültige Scheitern der achaiischen Unabhängigkeitspolitik. 168 Vgl. insgesamt Nottmeyer 1995, 87ff.; Gruen 1984, 514ff.; Martin 1975, 377f.; Bastini 1987, 166ff. Dieser sieht in Kallikrates einen Verräter, in seinen Anhängern die „Partei der Denunziation“; die Angehörigen der Gruppierung des Lykortas sind für ihn dagegen „Patrioten“. Zur negativen Beurteilung von Kallikrates s. auch Lehmann 1967, 306ff.; anders Errington 1969, 202ff.; Deininger 1971, 141f.; S. 200ff. Nottmeyer 1995, 102f., spricht von einer „verfehlten Politik der Lykortaspartei“ und einer „Fehleinschätzung der politischen Entwicklung im Verhältnis zwischen dem Koinon und dem römischen Senat“. Als Grund für diese mangelnde politische Weitsicht sieht er, 105f., allerdings auch die römische Politik der vorangehenden Jahre. 169 Pol. 30,13. 170 Wie Larsen 1935, 206f., herausarbeitet, bedeutet die bei Pol. 1,1,5, zu findende Aussage, dass Rom innerhalb von 53 Jahren die Herrschaft über die bewohnte Welt errang, indirekt auch, dass die Achaier nach 168 v. Chr. als Untertanen der Römer zu sehen sind.

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sich nach dem römischen Sieg über Makedonien die pro-römischen Politiker durchsetzen konnten.171 Dies war auch im Achaiischen Bund der Fall.172 Mit den Deportationen war die politische Richtung des Philopoimen und des ­Lykortas, die auf Eigenständigkeit und Autonomie gesetzt hatte, entmachtet. Bastini formuliert in diesem Zusammenhang wörtlich: „Das achäische ­Koinon hatte seine Identität verloren, war nur noch eine leere Hülse.“173 Kallikrates wird entsprechend bereits in der Antike und teilweise auch in der modernen Forschung als Verräter bezeichnet.174 Es gelang diesem jedoch nicht, in der Folgezeit die achaiische Politik vollständig zu dominieren.175 Dafür zeugen u. a. die zahlreichen achaiischen Gesandtschaften, die nach Rom geschickt wurden und sich um die Rückführung der Deportierten bemühen sollten.176 Da es sich bei den Deportierten um die politischen Gegner des Kallikrates handelte, dürfte er kaum an ihrer Rückkehr interessiert gewesen sein. Dennoch kamen die Gesandtschaften zustande, auch wenn, folgt man Polybios,

Nottmeyer 1995, 92f., sieht das römische Vorgehen ausgelöst durch ein seit langem vorhandenes Misstrauen gegenüber dem Bund bzw. hinsichtlich seiner Loyalität. Vgl. auch Deininger 1971, 197ff. Er sieht die Deportierten allerdings als „nicht im juristischen Sinn wirklich unschuldig“ an – sie hätten vielmehr als „potentielle Opposition“ betrachtet werden können. Zu den verschiedenen Gruppen von „Schuldigen“ s. auch Polybios, 30,6f. 171 Vgl. z. B. die Analyse von Champion, 258f. S. auch Pol. 30,13 zum Auftreten des ­Kallikrates vor den Römern in Makedonien. Vgl. außerdem Paus. 7,10. 172 Vgl. Pol. 30,13; Liv. 45,31; Paus. 7,10. 173 Bastini 1987, 179. 174 Sehr kritisch werden Kallikrates und seine Politik von Lehmann 1967, 284ff., beurteilt. Für ein positives Urteil über Kallikrates s. Errington 1969, 202ff. 175 S. Bastini 1987, 180. S. auch Errington 1969, 211f., mit Verweis darauf, dass Angehörige der gegnerischen Fraktion in der Folgezeit zu Bundesstrategen gewählt wurden. Er vermutet allerdings eine bewusste Zurückhaltung des Kallikrates. 176 In den Jahren 166/65 – 154 v. Chr. waren insgesamt fünf achaiische Gesandtschaften in Rom; s. Pol. 31,8. Den Römern wird die Motivation zugeschrieben, durch das Festhalten der Achaier den Gehorsam gegenüber Kallikrates und anderen prorömischen Politikern zu erzwingen. Vgl. u. a. auch Pol. 33,1ff.; 35,6; Paus. 7,10; 12. Dazu Martin 1975, 380; Bastini 1987, 180ff.; Scullard 1951, 238f.; Deininger 1971, 211ff.; Nottmeyer 1995, 107ff. Gruen 1976, 49. Seiner Meinung nach wurden die Deportierten auf Dauer festgehalten, um den Römern ein Druckmittel gegenüber dem Bund in die Hand zu geben.

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doch ein Großteil seiner Gegner nicht mehr präsent war und die Gruppierung um Kallikrates die politische Bühne beherrschte.177 Tatsächlich scheint es im Bund zu einem Stimmungsumschwung gekommen zu sein. Nach dem Scheitern der ersten achaiischen Gesandtschaft kam es zu Hassbekundungen gegenüber der Gruppe um Kallikrates. Einen Höhepunkt scheint die Wut bei dem Fest der Antigoneia in Sikyon erreicht zu haben. Als dort in die Bäder eingeladen wurde, sollen sich die Besucher geweigert haben, in die Wannen zu steigen, und darauf bestanden haben, dass das Wasser ausgetauscht würde, da vorher Gefolgsleute des Kallikrates dort gebadet hätten.178 In ähnlicher Weise kam es zu Schmähungen bei den Panhellenischen Spielen, wo die Parteigänger des Kallikrates sogar von Kindern beschimpft wurden.179 Die römische Haltung gegenüber dem Bund scheint in diesen Jahren zwiespältig gewesen zu sein. Einerseits akzeptierte man die Autonomie des Bundes – so wurde mehrfach die Entscheidung in Grenzstreitigkeiten an den Bund zurückverwiesen.180 Als jedoch die Stadt Pleuron bat, aus dem Koinon ausscheiden zu dürfen, wurde dies vom Senat positiv beschieden.181 Die Achaier 177 Deininger 1971, 213f., sieht die Gruppierung des Kallikrates im Bund als dominierend an und verweist auf eine Entscheidung hinsichtlich einer Anfrage von Rhodos und Kreta (s. Pol. 33,16). Möglicherweise war in diesem Fall der Erfolg des Kallikrates darauf zurückzuführen, dass er sich darauf berief, nichts gegen den Willen der Römer durchzuführen. 178 Pol. 30,23. Deininger 1971, 212; Bastini 1987, 181; Nottmeyer 1995, 108f. 179 Pol. 30,23. Bastini 1987, 181; Gruen 1976, 48; Nottmeyer 1995, 108f., der die Ereignisse allerdings nicht überbewerten will. 180 Zu 164 v. Chr. s. Pol. 31,9; Syll.3 665; Paus. 7,11 (die Übertragung einer Entscheidung durch Gallus an Kallikrates). Vgl. Dmitriev 2011, 320ff., der hierin allerdings die Demon­ stration von Macht – ohne die Übernahme von Verantwortung – sieht. Hinsichtlich der Delegation des Konflikts an Kallikrates stellt Nottmeyer 1995, 111, jedoch fest, dass hierdurch die besondere Stellung dieses Politikers unterstrichen worden sei. 181 Paus. 7,11. Martin 1975, 379, nimmt an, dass Pleuron nach 167 v. Chr. dem Achaiischen Bund zugeschlagen worden war, die Römer dies aber zurücknahmen, nachdem sich die Bürger bei Gallus und dann in Rom darüber beklagt hatten. Vgl. Gruen 1976, 50f., der allerdings hinter der römischen Entscheidung nicht das Ziel einer Schwächung des Bundes sieht. Vgl. aber Nottmeyer 1995, 111f. Wie er hervorhebt, kontaktierte die Polis zunächst die Römer und suchte vor dem Austritt deren Unterstützung. Dadurch hätte der Bund nicht sofort gewaltsam gegen Pleuron vorgehen können. Nottmeyer sieht hier eine neue Haltung der Römer gegenüber dem Bund – man habe gezeigt, dass man den Austritt von Mitgliedspoleis tolerieren werde.

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konnten daraufhin die Polis nicht am Austritt hindern. Es zeigt sich hier offenbar eine veränderte Grundhaltung Roms – man wollte am Bestand des Bundes nicht mehr festhalten. Bei Pausanias findet sich in diesem Zusammenhang die Nachricht, dass der römische Gesandte Gallus ermächtigt gewesen sei, Städte vom Koinon zu trennen;182 gemeint ist hiermit wahrscheinlich, dass er Austritte gestatten sollte, wenn er darum von den Städten gebeten wurde.183

8. Der Weg in den Achaiischen Krieg Die Hintergründe bzw. die Vorgeschichte des Achaiischen Krieges sind nicht vollständig geklärt.184 Teilweise ist ein Zusammenhang mit der letztendlichen Rückführung der achaiischen Deportierten hergestellt worden.185 Diese habe die politischen Verhältnisse radikal verändert. In der Forschung werden auch soziale Gründe oder der Einfluss von Demagogen verantwortlich gemacht; teilweise wird, wie anfangs zitiert, auch vom letzten nationalen Widerstand gegen die römische Vorherrschaft gesprochen. Als es in dieser Zeit zu einem Konflikt zwischen Athen und Oropos kam, wurde von den Römern die Klärung dieser

182 S. Anm. 179. Gallus hielt sich 164 v. Chr. in Griechenland auf, um in einem Grenzstreit zwischen Sparta und Megalopolis zu vermitteln. S. Martin 1975, 378f.; Gruen 1976, 50f., der die Glaubwürdigkeit des Berichtes bei Pausanias jedoch in Zweifel zieht. Seiner Meinung nach verzichtete Rom in dieser Zeit auf eine Einmischung in die achaiischen Verhältnisse und begnügte sich damit, die Entscheidung in Streitsachen an den Bund bzw. Kallikrates zu delegieren. Gruen verweist in diesem Zusammenhang auf die römische Entscheidung bezüglich der delischen Exilanten, die sich dem Bund angeschlossen hatten und ihren Konflikt mit Athen (s. Pol. 32,7). Die Römer entschieden dahingehend, dass – entsprechend der Vorstellung der Delier – für sie achaiisches Gesetz anzuwenden sei. Auch Schwertfeger 1974, 4, betont die römische Zurückhaltung, aber auch, dass die achaiische Führung hier im Entscheid auf die Römer als Hegemonialmacht verwies. 183 Vgl. Nottmeyer 1995, 113, der das Verhalten des Gallus eher als passiv sieht. Dieser habe nicht die Poleis aus dem Bund loslösen, sondern nur entsprechende Wünsche entgegennehmen sollen. 184 Polybios spricht im Zusammenhang mit dem Achaiischen Krieg vom Wirken der Tyche (Pol 38,1; 3; 18). Wie Gruen 1976, 46f., allerdings betont, kommt er letztendlich zu dem Schluss, dass das Eingreifen des Schicksals bzw. die schnelle Niederlage die Achaier vor größerem Schaden durch ihre eigenen Politiker bewahrt habe. Vgl. auch Fuks 1970, 86. 185 Larsen 1968, 489; Gruen 1976, 54.

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Streitsache jedoch sogar zunächst noch an Sikyon verwiesen.186 Der Anlass für den folgenden Konflikt mit Rom schien zunächst geringfügig. Auslöser war in jedem Fall ein erneuter Streit mit Sparta.187 Die Spartaner hatten in der Frage eines Grenzkonflikts mit dem Koinon Gesandte zum Senat geschickt.188 Wie bereits in vorangegangenen Grenzkonflikten delegierte der Senat die Entscheidung an den Bund.189 Es wurde den Spartanern sogar eindeutig mitgeteilt, dass Rechtsfälle immer von der Bundeszentrale zu entscheiden seien – abgesehen nur von Kapital­fällen.190 Es handelte sich dementsprechend zunächst erneut um ein rein inneres Problem. Die Spartaner ließen sich jedoch nicht von ihrer Linie abbringen, wollten erneut Gesandte nach Rom schicken, und offenbar eskalierte in der Folge die Situation.191 In Rom standen sich eine spartanische

186 Pol. 32,25; Paus. 7,11; IG VII, 411; Syll.3 675. 187 Paus. 7,11f.; Pol. 33,2; s. auch Syll. 3 675. Auslöser war ursprünglich die Entsendung einer Armee nach Oropos unter dem Kommando des Menalkidas. Die Polis hatte in einem Konflikt mit Athen um Hilfe durch den Bund gebeten. Der Spartaner Menalkidas hatte sich zu einer solchen Unterstützung, die allerdings weitgehend erfolglos blieb, bereiterklärt. Nach seiner Rückkehr wurde er der Korruption beschuldigt; gleichzeitig wurde ihm von Kallikrates vorgeworfen, die Loslösung Spartas aus dem Bund zu fördern. Nach einer publik gewordenen Zahlung an den neuen Strategen Diaios und einer drohenden Anklage soll letzterer auf eine Auseinandersetzung bezüglich Spartas hingewirkt haben. In diesem Zusammenhang wurde die Frage relevant, ob ein Spartaner von den Achaiern zum Tode verurteilt werden könne. Vgl. hierzu Martin 1975, 382; Bastini 1987, 195ff.; Nottmeyer 1995, 124ff.; Deininger 1971, 221ff.; Gruen 1976, 52ff., der insbesondere den Bericht des Pausanias bzw. die dort gefällten Werturteile kritisch analysiert. 188 Paus. 7,12; Pol. 31,9. S. Nottmeyer 1995, 126. Vgl. Schwertfeger 1974, 6, der die römische Zurückhaltung als außergewöhnlich hervorhebt. Anders Gruen 1976, 55. Er sieht hierin eine generelle Infragestellung der achaiischen Jurisdiktion. Vgl. Bastini 1987, 197. 189 So betont auch Gruen 1976, 53f., dass man römischerseits eine distanzierte, aber im Wesentlichen gleichgültige Haltung eingenommen habe. Er sieht auch auf achaiischer Seite keine Indizien für eine antirömische Bewegung. 190 Paus. 7,12; s. Bastini 1987, 197f.; Nottmeyer 1995, 126; Gruen 1976, 55 – er konstatiert eine in der Folge selbstbewusste Politik des Diaios gegenüber Sparta. 191 Paus. 7,12ff. Als die Spartaner eine Bestätigung aus Rom erlangen wollten, dass der Senat – was wohl nicht der Fall war – erklärt hatte, dass den Achaiern das Recht zustand, spartanische Bürger zum Tod zu verurteilen, wurde ihnen dies untersagt. Es wurde von dem Strategen Diaios betont, dass es individuellen Poleis untersagt sei, Gesandte zu entsenden. Als die Spartaner sich dieser Anordnung widersetzten, wurde über eine Reihe von führenden Politikern die Todesstrafe verhängt. Dennoch

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und eine achaiische Gesandtschaft gegenüber, wobei der Bundesstratege Diaios ähnlich wie P ­ hilopoimen die Eigenständigkeit des Bundes in inneren Angelegenheiten betonte.192 Römischerseits blieb man allerdings zunächst bei der eingeschlagenen Linie der Zurückhaltung und beschloss die Entsendung einer Gesandtschaft.193 Das Scheitern der sich anschließenden achaiisch-spartanisch-römischen Verhandlungen war wohl auch dadurch bedingt, dass Kallikrates, der in den Jahren zuvor mäßigend gewirkt hatte und Ansprechpartner für die Römer gewesen war, verstarb.194 Offenbar setzten sich nun Kräfte durch, die eine kompromisslose Haltung gegenüber Rom vertraten und als einigendes Band eine dezidiert antirömische Politik verfolgten – einschließlich offener Beleidigungen römischer Gesandter. Nach Jahren der Orientierung an römischen Anordnungen bzw. den Vorgaben der pro-römisch orientierten Gruppierung im Koinon wurden nun Politiker bestimmend, die die Eigenständigkeit der Innen- wie der Außenpolitik als entscheidend für den Zusammenhalt der Bundes ansahen. Zu dieser Gruppierung gehörte auch Diaios, den Nottmeyer als Vertreter einer kompromisslosen Linie sieht.195

trafen in der Folge eine achaiische und eine spartanische Gesandtschaft – die verurteilten Spartaner hatten sich dem Urteil durch Flucht entzogen – in Rom ein. Diese vermeldeten später jedoch Unterschiedliches – der achaiische Gesandte erklärte, die Römer hätten die Haltung der Bundeszentrale bekräftigt, dagegen verkündete der spartanische Abgesandte, dass man der Abtrennung Spartas zugestimmt habe, Martin 1975, 382; Deininger 1971, 221f.; Bastini 1987, 197ff.; Schwertfeger 1974, 6f.; Nottmeyer 1995, 126f.; Bastini 1987, 198. 192 S. Schwertfeger 1974, 7; zu Diaios s. auch die Ausführungen von Lehmann 1967, 322ff. 193 Vgl. Gruen 1976, 55f., der betont, dass man römischerseits keineswegs die Auflösung des Bundes anstrebte. Er betont vielmehr die Kooperation zwischen Rom und dem Bund. 194 Vgl. Paus. 7,12, der Kallikrates allerdings durchweg sehr negativ beurteilt. So z. B. auch Nottmeyer 1995, 128. Martin 1975, 383, sieht den Senat in dieser Phase als nicht aktiv genug; zudem konstatiert er, dass persönliche Feindschaften sich mit der Frage des achaiisch-spartanisch-römischen Verhältnissen verbunden hätten und folgert „there was no way that war could have been avoided“. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang eine Passage bei Polybios (36,13), der berichtet, dass an demselben Tag die Bildnisse des Kallikrates im Dunkeln weggebracht wurden, die des Lykortas aber ins Helle getragen worden seien. Vgl. Deininger 1971, 225f., der dieses Ereignis mit dem Tod des ­Kallikrates und dem Erstarken der gegnerischen politischen Richtung in Verbindung bringt. 195 Nottmeyer 1995, 130.

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Als Sparta seinen Austritt aus dem Bund erklärte, wurden Truppen ent­ sandt, die die lakedaimonischen Kontingente besiegten.196 Eine härtere Haltung nahm in Reaktion dann auch die römische Seite ein. Im Sommer 147 v. Chr. erschien eine römische Gesandtschaft unter Lucius Aurelius Orestes,197 die verkündete, dass Sparta, Korinth, Argos, Herakleia am Oita und Orchomenos aus dem Bund ausscheiden sollten, bezeichnenderweise begründet damit, dass sie nicht mit Achaiern verwandt und erst später dazugekommen seien. Ausscheiden sollten also Städte, die u. a. mit römischer Unterstützung angegliedert worden waren.198 Dahinter stand offenbar die Hoffnung, die Sparta-Frage einer endgültigen Lösung zuzuführen.199 Römischerseits wurde eine natür­liche Einheit der Peloponnes negiert. Vielmehr wurden diejenigen Städte, die erst unter Mithilfe Roms angeschlossen worden waren, nun wieder vom Bund

196 Paus. 7,12f. Nach Rückkehr der Gesandtschaften wurde die Haltung des Senats unterschiedlich interpretiert. Menalkidas ging von einer römischen Zustimmung zur Sezession aus. Die Achaier wollten diese jedoch verhindern und ignorierten in diesem Zusammenhang auch die Wünsche einer römischen Gesandtschaft, entsandt von Caecilius Metellus – vgl. Gruen 1976, 56. Als 148 v. Chr. wieder römische Gesandte erschienen, ließ man sich erneut nicht zu einer Kursänderung gegenüber Sparta bewegen. Vielmehr wurden die Spartaner weiter gereizt, bis sie den Waffenstillstand brachen. Im anschließenden Krieg wurde Sparta erneut besiegt. Vgl. Nottmeyer 1995, 128ff.; Deininger 1971, 222; Schwertfeger 1974, 10; Gruen 1976, 56f.; Bastini 1987, 201ff. – er sieht in Diaios den Verantwortlichen für die Verschärfung der Situation. 197 Zur Gesandtschaft des L. Aurelius Orestes s. Pol. 38,9f.; Pausanias 7,14; Livius per. 51 (belli Achaici semina). Vgl. Martin 1975, 386; Deininger 1971, 223f.; Schwertfeger 1974, 7f.; Nottmeyer 1995, 131ff. Fuks 1970, 86, sieht im Vorgehen des Orestes einen bewussten Schritt hin zu einer Auflösung des Bundes, wobei diesem nur die Wahl zwischen Aufgabe und Widerstand geblieben sei. Auch Schwertfeger 1974, 10f., sieht die Schuld für die Zuspitzung des Konflikts eindeutig auf römischer Seite – man habe „eine sich im Inneren anbahnende Verständigung“ gestoppt und in die Souveränität des Koinons eingegriffen. Gruen 1976, 57. 198 Paus. 7,14; Liv. Perioch. 51; Justin 34,1; Cass. Dio 21,72. Schwertfeger 1974, 8f., zieht in diesem Zusammenhang den Vergleich mit dem Entzug der den Rhodiern nach dem Antiochoskrieg übertragenen Territorien auf dem Festland – Rom habe die Poleis dem Bund nur „als prekären Besitz überlassen“. Allerdings greife dieser Vergleich nur im Falle von Sparta und Herakleia, die unfreiwillig an den Bund angeschlossen worden waren. Ähnlich Nottmeyer 1995, 132f., der allerdings auch Argos als sezessionwillig ansieht. 199 So Martin 1975, 388. Vgl. auch Bastini 1987, 203f.

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getrennt.200 Dies bedeutete eine empfindliche Schwächung des Bundes.201 Die von ­Orestes übermittelte Ankündigung wurde entsprechend mit wütender Empörung aufgenommen; die römische Gesandtschaft wurde angegriffen und entkam nur knapp.202 Interessant ist in diesem Zusammenhang der Bericht des Pausanias, dass Spartaner und solche, die dafür gehalten wurden, inhaftiert wurden. Eine Identifizierung der Spartaner war offenbar allein aufgrund ihres Aussehens bzw. ihrer Tracht möglich, ein weiteres Indiz dafür, dass diese ihre alten Traditionen demonstrativ bewahren und sich von den übrigen Peloponnesiern abgrenzen wollten. Offensichtlich wurde ein derartiges Auftreten in der Öffentlichkeit nun als Provokation empfunden. Die Ausschreitungen hatten jedoch auch Rückwirkungen auf das Verhältnis zu Rom. Als einige Spartaner sich zu ­Orestes flüchteten, wurden sie gewaltsam weggeschleppt – trotz der Proteste des römischen Magistraten. Sogar die römischen Gesandten selbst sollen angegriffen und mit Schmutz beworfen worden sein.203 Auch als eine neue römische Gesandtschaft unter Sextus Caesar auf der Peloponnes eintraf, die wohl eine Versöhnung oder einen Kompromiss herbeiführen sollte, ­blieben 200 Vgl. Martin 1975, 388. 201 Martin 1975, 386f., sieht hierin eine logische Fortsetzung der römischen Politik, die darauf zielte, den Bund zu spalten. Auch sei man in Rom der Weigerung der Achaier, die römische Hegemonie in Griechenland anzuerkennen, müde geworden. Vgl. auch Nottmeyer 1995, 132ff. Allerdings nimmt er an, dass die Römer zunächst nur eine Regelung der Streitigkeiten mit Sparta beabsichtigten und sich erst aufgrund der achaiischen Politik bzw. der Ablehnung römischer Vermittlungsversuche für eine Verkleinerung des Bundes entschieden. 202 Paus. 7,14; Cass. Dio 21,72. Vgl. Nottmeyer 1995, 135. Martin 1975, 388f., sieht hier „Achaian nationalism”. Fuks 1970, 78, bewertet diese Gesandtschaft als entscheidend für den Bruch zwischen Rom und dem Koinon. Wie er außerdem, S. 88, betont, waren es die Magistrate der Poleis, mit denen sich Orestes getroffen hatte, die derart aggressiv reagierten – für ihn ein Argument, dass der Widerstand gegen die Römer nationale Dimensionen hatte. Schwertfeger 1974, 10f., dagegen sieht die Reaktion der Achaier bedingt durch die ungerechtfertigte römische Vorgehensweise; es habe sich nur um einen „spontanen Affektausbruch“ gehandelt, der sofort bereut worden sei. Gruen 1976, 62, wertet die Ausschreitungen nicht als antirömisch sondern als primär gegen Sparta gerichtet. Bastini 1987, 203f., betont dagegen, dass die Magistrate des Bundes nichts zum Schutz der römischen Gesandten unternahmen. Auch Deininger 1971, 224, sieht durch das römische Vorgehen den Bestand des Bundes gefährdet und konstatiert „deutlich anti­ römische Züge“. 203 Paus. 7,14; Strab. 8,6,23.

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die Fronten verhärtet.204 Man setzte anscheinend darauf, dass den Römern durch die Kriege u. a. in Afrika und Spanien die Hände gebunden waren.205 Die folgenden Verhandlungen ließ man platzen und wies Versöhnungsangebote der Römer, die offenbar mit einem schlussendlichen Nachgeben der Achaier rechneten, zurück.206 Schwertfeger sieht auf der Peloponnes eine antirömische

204 Pol. 38,9, behauptet, dass die Aufgabe des römischen Gesandten, Sextus Iulius Caesar, darin bestanden habe, die Achaier zu tadeln und zu ermahnen. Dabei habe es nicht in der Absicht des Senats gelegen, den Bund aufzulösen oder einen Krieg zu provozieren; man habe nur die Feindseligkeiten beenden und die Achaier, die man als alte und treue Bundesgenossen ansah, einschüchtern wollen. Martin 1975, 390, sieht hier allerdings wohl mit Recht den Versuch des Historikers, die römische Vorgehensweise zu rechtfertigen. Jedoch konstatiert er, dass es die Römer vorgezogen haben würden, den Bund ohne eine kriegerische Auseinandersetzung zur Unterordnung zu bringen. Vgl. Fuks 1970, 79; Deininger 1971, 224; Nottmeyer 1995, 135ff. – s. dort auch für einen Forschungsüberblick hinsichtlich der Frage der Zielsetzung der römischen Seite. N ­ ottmeyer selbst sieht hinter der römischen Aufforderung tatsächlich das Ziel einer Verkleinerung des Bundes, der sich durch seine zunehmend eigenständige Politik von Rom entfremdet habe. Schwertfeger 1974, 11f., wiederum sieht zwar noch die Chance einer Einigung. Diese sei allerdings dadurch unmöglich gemacht worden, dass die Römer die vorangegangene Entscheidung bezüglich des Austritts der Poleis aus dem Bund nicht zurückgenommen hätten. S. auch ders., 16f. Auch Deininger 1971, 224, sieht die Haltung der Achaier als verständlich, weil „die Forderungen des Senats das Koinon in seiner ganzen bishe­ rigen Existenzform in Frage zu stellen drohten“. Gruen 1976, 58ff., spricht bezüglich der Gesandtschaft des Orestes dagegen von einer „mild response“. Rom habe diese auch nicht vorgetäuscht, sondern noch keine eindeutige oder einheitliche Politik bezüglich des Bundes verfolgt. Daher sieht er die Deutung des Polybios als durchaus plausibel an. Ähnlich Bastini 1987, 204ff., der allerdings die antirömische Haltung des Diaios und seiner Anhänger – im Gegensatz zur Mehrheit der Achaier – betont. 205 S. Pol. 38,10. Polybios betont das Entgegenkommen der Römer; die Mehrzahl der Achaier sei jedoch darauf nicht eingegangen, während die Gruppe um Diaios und Kritolaos völlig unverantwortlich gehandelt habe. Vgl. Martin 1975, 390; Nottmeyer 1995, 136. 206 S. auch das Scheitern der Verhandlungen bei Tegea bzw. die Brüskierung der römischen Gesandten unter Sex. Iulius Caesar durch Kritolaos. Dazu Pol. 38,11; Paus. 7,14. Vgl. Deininger 1971, 226f.; Gruen 1976, 62ff., der in der Folge noch keine gravierende Verschlechterung des Verhältnisses zu Rom sieht. Er vermutet hinter dem Vorgehen des Kritolaos nicht eine gezielte Provokation sondern den Versuch, eine Konfrontation der römischen Gesandten mit einer möglicherweise aufgebrachten Menge zu vermeiden und in der Zwischenzeit vollendete Tatsachen zu schaffen. Anders Nottmeyer 1995, 140f.; Bastini 1987, 207f. – er betont, dass Kritolaos in der Folge die antirömische

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Stimmung, die sich durch den Entscheid bezüglich der Poleis noch verstärkt habe.207 Im Jahre 146 v. Chr. erklärte man dann erneut Sparta den Krieg, was gleichzeitig – wenn auch indirekt – eine Kriegserklärung an Rom bedeutete.208 In seiner Rede vor der Bundesversammlung erklärte Kritolaos demonstrativ, man sei Freund, aber nicht Sklave der Römer. Abschließend soll kurz der Zusammenhalt des Bundes angesichts des drohenden Krieges betrachtet werden. Die Einschätzung der inneren Lage und des Grades der Unterstützung für den Krieg ist in der modernen Forschung stark abhängig von der Bewertung der Kriegsschuldfrage. So sieht Fuks, wie bereits angeführt, in dem Achaiischen Krieg den letzten nationalen Widerstand gegen die imperialistische römische Politik. Entsprechend diskutiert er ausführlich die Maßnahmen, die im Vorfeld des Krieges getroffen wurden, um den Zusammenhalt des Bundes zu stärken.209 Insbesondere die finanziellen Beiträge der einzelnen Poleis wie auch der einzelnen Bürger werden von ihm als Indiz für die Solidarität innerhalb des Bundes hervorgehoben.210 Auch betont Stimmung beförderte. S. in diesem Zusammenhang die bei Pol. 38,11, erwähnte Reise des Kritolaos und seine Auftritte in den einzelnen Städten. 207 So Schwertfeger 1974, 11f. 208 So auch Pol. 38,12f.; Diod. 32,26,4f. (der die Wertung des Polybios übernimmt); ähnlich Paus. 2,1; 7,14,5f. So auch Bastini 1987, 211. Die Kriegserklärung erfolgte, obwohl eine römische Gesandtschaft in Korinth eintraf, um eine friedliche Einigung herbeizuführen. S. Bastini 1987, 209ff. Vgl. Fuks 1970, 79; Deininger 1971, 230; Nottmeyer 1995, 142ff., mit Betonung des provozierenden Auftretens des Kritolaos. Gruen 1976, 64, dagegen sieht die Stimmung in der entscheidenden Versammlung nicht als unbedingt anti­ römisch an; auch Kritolaos habe weiter auf eine römische Tolerierung des Vorgehens gegen Sparta gehofft. Wie Paus. 7,14 berichtet, forderte Metellus die Achaier nach der Kriegserklärung letztmalig auf, Sparta und andere Städte aus dem Bund zu entlassen – mit dem Versprechen, dass es zu keinen Sanktionen kommen würde. Kritolaos lehnte dies jedoch ab. 209 Pol. 38,11 u. 15. Fuks 1970, 79ff., geht zunächst auf die ökonomischen Maßnahmen bzw. die Schuldenerleichterung ein. In diesen sieht er zwar keine sozialrevolutionären Reformen, aber immerhin das Bemühen, die Kriegsanstrengungen zu fördern. Vgl. auch Nottmeyer 1995, 142; relativierend Schwertfeger 1974, 14f.; Bastini 1987, 208f., sieht darin Demagogie, um die unteren Schichten zu gewinnen. 210 Pol. 38,15. S. Fuks 1970, 82ff., der eine diesbezügliche Inschrift aus Troizen (IG IV 757) und den Bericht des Polybios über die sich ergebenden finanziellen Belastungen für die wohlhabenderen Bürger anführt. Zwar betone Polybios, dass letztere zu Abgaben gezwungen worden seien, erwähne aber u. a. auch die freiwilligen Beiträge z. B. reicher

Der Weg in den Achaiischen Krieg 197

er die Unterstützung des Kriegsbeschlusses gerade durch die breite Masse der ärmeren Bevölkerung, die sich von einer gestärkten Unabhängigkeit des Bundes eine Verbesserung ihrer finanziellen Lage versprochen hätten.211 Es seien insgesamt nur wenige Pro-Römer bzw. Kriegsgegner in Erscheinung getreten.212 Nottmeyer betont dagegen das demagogische Element in der Vorgehensweise des Kritolaos, wobei er auf dessen Reise durch die einzelnen Poleis und die antirömische Propaganda, aber auch auf sein Auftreten vor der Bundesversammlung des Jahres 146 v. Chr. verweist.213 Auch er hebt die Unterstützung breiter Schichten für die Politik des Kritolaos hervor, führt dies aber auf dessen erfolgreiche Demagogie und die Beeinflussbarkeit der Massen zurück.214 Wie er weiter betont, beschuldigte Kritolaos in der Folge sogar zwei der D ­ amiurgen einer pro-römischen Gesinnung.215 Schwertfeger wiederum sieht bei den oberen Schichten eine Ablehnung des Krieges, da diese befürchtet hätten, die finanziellen Aufwendungen leisten zu müssen. Kritolaos habe daher Unterstützung Frauen, die ihren Schmuck gespendet hätten. Schwertfeger 1974, 14f., sieht die Inschrift allerdings nicht als verallgemeinerbar an; sie zeige aber immerhin „zu welchen Opfern wenigstens ein Teil der Bevölkerung bereit war“. Zur ablehnenden Haltung des Polybios gegenüber den sozialökonomischen Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Krieg – entsprechend seiner Kritik an Demagogen und radikalen sozialen Reformen s. Mendels 1982, 118ff. 211 Pol. 38,12 – auch zur Präsenz gerade der unteren Schichten bei der entscheidenden Versammlung. Fuks 1970, 85ff., sieht zwar einerseits eine gestärkte Rolle der ärmeren Bevölkerung bei der Kriegsentscheidung, geht jedoch insgesamt von einer nationalen Bewegung aus, die auf die Provokationen der römischen Seite nur reagiert habe. ­Mendels 1979/80, 275f., sieht eine „social question“ in der Zeit des Polybios. Dieser habe allerdings in der in der Bundesverfassung gegebenen Möglichkeit für die Masse der Bevölkerung, ihre Situation zu ändern, eine Gefahr bzw. eine Schwäche der Verfassung gesehen. Vgl. auch ders. 1982, 101ff. 212 Fuks 1970, 87f., sieht im Bericht des Polybios – entgegen dessen eigentlicher Darstellungsabsicht – eher „a picture of a nation following … its leaders in a desperate war against tremendous odds“. 213 Nottmeyer 1995, 142ff.; vgl. diesbezüglich auch Deininger 1971, 228ff. 214 Nottmeyer 1995, 145f., konstatiert allerdings auch den geringen Widerstand gegen dessen Richtung bzw. die Unterstützung für diesen auch in der Führungsschicht. Bastini 1987, 211, spricht von „lange zurückgestautem Römerhass“. 215 S. Pol. 38,13; Deininger 1971, 231f.; Bastini 1987, 210 – Kritolaos betont, dass der Kampf gegen die „Feinde in den eigenen Reihen“ von größerer Bedeutung als Krieg gegen Sparta und Rom gewesen sei.

198 Dorit Engster

bei den ärmeren Schichten gesucht und sei diesen entgegengekommen.216 Das Urteil des Zeitgenossen Polybios ist, wie erwähnt, eindeutig und außerordentlich kritisch. Er sieht die Achaier durch die rasche Niederlage gegen Rom sogar „gerettet“.217 Polybios selbst agierte in der Folge als Vermittler zwischen den Römern und den griechischen Poleis. In dieser Position gelang es ihm, die Entfernung der Statuen und Ehrungen für Philopoimen zu verhindern.218 Damit blieb zumindest die Erinnerung an die große Vergangenheit des Bundes in den einzelnen Städten präsent, auch wenn es – bedingt durch die vergleichsweise kurze Blütephase – nie zu einer wirklichen Integration aller Poleis und der Etablierung einer „achaiischen Identität“ gekommen war.

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216 Schwertfeger 1974, 12f. 217 Pol. 38,18. 218 Pol. 39,3*. Polybios erreicht auch, dass schon nach Akarnanien geschaffte Statuen des Achaios, des Aratos und des Philopoimen zurückgebracht wurden.

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Jörg Fündling

Griechenlands Identitäten in den Grenzen des Prinzipats. Ein Ausblick auf Rahmenbedingungen und Probleme 1

1. Einleitung Wer sich als Historiker bewusst mit Fragen der persönlichen und kulturellen Identität einlässt, läuft Schwierigkeiten in die Arme, wie sie Augustinus zum Zeitbegriff in klassische Worte gebracht hat: „Wenn mich niemand fragt, weiß ich es; sobald ich es einem erklären will, der mich fragt, weiß ich es nicht“. Auch hier begegnet uns ein unvermeidliches Konzept, das schon intuitiv einleuchtet, sich aber gerade deswegen einer handlichen Definition verweigert. Bereits im notwendigen Plural, im Sprechen von einander überlagernden, konkurrierenden Identitäten, die je nach Situation, Handlungsebene und Bezugsperson an den Tag gelegt werden, äußert sich die Begriffsnot, in die man auf einem Feld gerät, wo grundlegende Bewusstseinsfunktionen mit fortlaufenden Kommunikationsvorgängen und Konfrontationen zwischen Personen oder Gruppen wechselwirken.2 1 Für wertvolle Hinweise und Planierarbeiten auf dem Weg zu mehr gedanklicher Klarheit danke ich Jens Bartels (Bonn/ Zürich), Kaja Harter-Uibopuu (Wien) und Christoph Michels (Aachen). 2 quid est ergo tempus? si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio… (Augustin. conf. 11,17). Partialidentitäten: Modellhaft ausgeführt von Malkin 2001a, 3 am Beispiel eines Syrakusaners. Nützlich zum Identitätsbegriff ist Stephan 2002, 13 – 41 (u. a. Zusammenhang mit Gedächtnisfunktionen und mögliche Untersuchungsmethoden). Stephans Ablehnung der Begriffe „Ethnizität“/ „ethnische Identität“ als vorsätzlich vage (35 – 41) beruht auf verständlichen Reserven gegenüber der Missbrauchsgeschichte des Begriffsfeldes ‚Volk/ Abstammung‘. Zumindest der antike Terminus ethne ist allerdings Quellensprache und schwer zu ersetzen (‚kollektive Identitäten beanspruchter gemeinsamer Herkunft‘?). Zur Konkurrenz geographischer und abstammungsbegründeter Ethnoszuordnung Stephan 2002, 180 – 182 am Fall Strabons. Preston 2001, 88 warnt: „Indeed, to use the single term ‘identity’ is in itself misleading, since identity is ne­cessarily complicated and multiple.“ Vgl. Jones 2004, 14; 18: „Pausanias’ consciousness therefore

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Indem am Ende dieses Bandes der chronologische Schritt voraus unternommen wird – vom In- und Gegeneinander der Identitätsfragen in hellenistischer Zeit zur kaiserzeitlichen Selbst- und Fremdwahrnehmung, was Griechen im engeren Sinn ausmacht –, ist mehr als nur eine chronologische Abrundung zu erhoffen. Nicht zufällig sind Identitätsfragen dieser Epoche Gegenstand einer stetig wachsenden Forschungstätigkeit geworden, auch dank des bemerkenswerten Bedürfnisses der hellen(ist)isch sozialisierten Zeitgenossen, voran der ‚Zweiten Sophistik‘, sich selber Rechenschaft darüber zu geben, was einen Hellenen ausmacht – und dank des römischen Bestrebens, dabei ein entscheidendes Wort mitzureden. Nie zuvor war so intensiv erörtert worden, was das typisch und eigentlich Hellenische sei … so sehr schon lange tradiert-fraglos und verhandelbar zugleich war, worin es bestand. Nur das anhaltende Interesse der Altertumswissenschaften übertrifft es noch – und ist nicht unkritisiert geblieben.3 Bemerkbar macht sich sofort, dass erst jetzt das eigentlich Griechische eine geographisch fest umgrenzte Form annimmt, nämlich die der römischen Provinz Achaia (anfangs unter Einschluss des später abgetrennten Epirus) – die ihrerseits zu beachtlichen Teilen deckungsgleich mit unserem heutigen Sprechen von „Griechenland“ geblieben ist.4 Ein Musterfall für historische Kontingenz liegt vor: Prägende Ereignisse, die kein bloßer Zufall sind, aber auch

has, as it were, not only a Hellenic level, but also an Asian one, a regional one centered on Lydia, and a local one centered (probably) on Magnesia by Sipylos. These spheres are not mutually exclusive.“ (Siehe hierzu unten z. B. S. 215; 260.) Heilsame Warnung zur begrifflichen Vieldeutigkeit beider Wortkomponenten in „cultural identity“ bei Goldhill 2001a, bes. 14 – 19 (beispielhaft die Aufzählung 18f.: Identität verstanden als Wesenskern/ Essenz; als Grundpostulat einer Einheit des Subjekts…). 3 Malkin 2001a, 6: „Greek ethnicity appears to have been something that was always both traditional and negotiable.“ Wertvolle Dienste für die Wechselbeziehungen zwischen römischer Herrschaft und griechischer Welt leistet der ausführliche Forschungsbericht von Hoët-Van Cauwenberghe 2011. Unmut gegenüber der einseitigen „preoccupation with Greek identity“ bekundete Jones 2004, 21. 4 Hinds/ Schmitz 2007, 3 referieren die These „that this is in some ways the time and place in which the idea of Classical Greece itself was first invented“ (bezogen auf Connolly 2007, 40f.), und zwar „as a willed construction of origins by later Greeks nostalgic for a lost – or imagined – identity“ sowie „as a cross-cultural reference point for Greek and Roman elites interested in creating a shared high culture under one empire, and in differentiating themselves from non-elite contemporaries.“ Gerade die geographische Umschreibung in ausgerechnet diesen Grenzen ist alles andere als selbstverständlich,

Griechenlands Identitäten in den Grenzen des Prinzipats 203

ganz anders hätten eintreten und ausgehen können. Denn mit der Schärfung des Begriffs geht seine Einengung einher, die der weitgespannten griechischen Städte- und Kulturwelt keinen wirklichen Namen mehr übriglässt; sie wird eine Art großflächiger Halbschatten rund um das ‚echte‘, ‚eigentliche‘ Land der Hellenen – die ihrerseits einen neuen Status unter römischer Herrschaft teils suchen, teils zugewiesen bekommen. Ein spektakulärer – und wenig nachhaltiger – Versuch von römischer Seite, diese Ordnung dauerhaft sichtbar zu machen, die Gründung des Panhellenion durch Hadrian, verdient angesichts dieses Grundproblems besondere Aufmerksamkeit. Ebenso steht es um die oft vermerkte Intensität einer ganz anderen Herangehensweise: die Beschäftigung griechischer Denker (denen man überwiegend eher außer- als innerhalb Achaias begegnet) mit der hellenischen Vergangenheit als Schlüssel für Zusammenhalt und Selbstverständnis in der Gegenwart. Die literarische Landvermessung des Ioniers Pausanias in der Generation nach Hadrian zeigt die Mühen und das Nichtverhältnis zu weiten Strecken der tatsächlichen griechischen Geschichte wie keine zweite Quelle.5 Kernfragen dieser ‚Identitätskrise‘ in Zeit und Raum mit all ihren Chancen und Risiken lassen sich leicht formulieren. •• Entwickelt sich vor und während der Kaiserzeit eine territorial enger umgrenzte griechische Identität und woraus leitet sie sich ab? •• Was ist in Hellas = Achaia anders als sonstwo im Einflussgebiet Roms (und des Hellenismus) oder wirkt sich zumindest spezifisch aus? Hat sich damit auch die Funktion einer solchen Identität gegenüber früher •• gewandelt? Was ist der Auslöser dafür und wer profitiert davon? •• Was verändert sich für die verschiedenen Partial- und Gruppenidentitäten im neu definierten Griechenland, für seine politischen Einheiten – und was ist eventuell anders daran, kaiserzeitlicher Korinther oder Akarnane zu sein, als wenn man Smyrnäer oder Tarsier wäre? Wie steht es um die Vereinbarkeit der gesamtgriechischen Ebene mit den lokalen und regionalen Bezügen? •• Was kann als Zwang, Gefahr oder Belastung für die identitäre Aufgabe, ‚Grieche zu sein‘ oder ‚Grieche zu bleiben‘, empfunden werden?

da es Pausanias – bei dem sie besonders sichtbar wird – so deutlich um „the construction of a Hellenic sense of identity” geht: Alcock 1996, 244. 5 Zur ausgehenden Republik und zur frühaugusteischen Zeit vgl. nun Schmitz/ Wiater 2011.

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Eine Skizze in verschiedenen Bereichen, die als Felder sozialer Identität in Frage kommen, erscheint dank der wachsenden Anzahl hilfreicher Studien mittlerweile möglich, so weit sie von einem vollständigen Bild mit dem nö­­tigen Detailreichtum – einer Antwort im eigentlichen Sinn – entfernt bleibt. Am Ende steht nicht die Entscheidung, ob ein Grieche um 150 n. Chr. eher mehr oder doch weniger Grieche gewesen sei als um 150 v. Chr. – eine teleologische Versuchung, vor der die Altertumswissenschaft nicht gefeit gewesen ist 6 – sondern ein Beschreibungsversuch, inwiefern die Bedingungen des ­Prinzipats es den Einwohnern Achaias erschwert und erleichtert haben mögen, ihr Selbstverständnis auf seinen verschiedenen Ebenen zu pflegen und ein diesen Begriffen entsprechendes Leben zu führen. Zwangsläufig geschieht dieser Überblick aus der Vogelperspektive – sowohl was die Stimmen der Selbstvergewisserung angeht, die (wie gewohnt) von den sozialen und kulturellen Führungsschichten getragen wurde, wie auch mit Blick auf lokale Unterschiede. Soziologisch gesprochen bewegen wir uns hauptsächlich auf der ‚Makroebene‘ – genauer, auf einer von mehreren konkurrierenden Makroebenen, denn der Begriff eines auf das europäische Griechenland reduzierten Hellas stellt uns angesichts der viel weitläufigeren ‚griechischen Welt‘ vor das Problem, wie und als was dann diese zu verstehen ist. Kaum zu erfassen sind auch die Veränderungen, die nahe am Individuum eintreten (etwa in Familie und Berufsgruppe),7 wo es nicht um privilegierte Sonderfälle geht. Wie hellenisch sich ein Herodes Atticus im ‚Innern‘ des mit Achaia gleichgesetzten Griechenland fühlt oder ein Pausanias, ein Favorinus von Arelate ‚draußen‘, ist erhellend für die imperiumsweiten Gesellschafts- und Kultureliten, besagt aber wenig für den ‚durchschnittlichen‘ Griechen – nach alter und neuer Definition gleichermaßen. Allenfalls erreicht die Betrachtungsmöglichkeit das Niveau einer einzelnen Polis und ihrer auffälligsten sozialen Teilgruppen. Aber ist

6 Beispielhaft ist Touloumakos 1971, dessen Zentralbegriff eines mal sich festigenden, mal in „Verkümmerung“ (25) oder „Verflachung“ (38) befindlichen „nationalen Selbstbewußtseins“ ihn dazu verlockt, die Exponenten der Zweiten Sophistik als „die geistigen Träger der national-panhellenischen Bestrebungen der Griechen“ (50) und im Prinzipat die Chance einer Neuorganisation des „Griechentums“ zu sehen, leider gehandicapt durch eine „geistig ermüdete Welt […], die nichts Neues auszurichten vermochte.“ (82). 7 Als aus unserer Sicht „latente Identitäten“ bezeichnet sie Chaniotis 2003, 81 am Beispiel des kaiserzeitlichen Aphrodisias: wie verstehen sich Karer, Juden, Christen, Mitglieder von Berufskollegien und anderen Bevölkerungsgruppen?

Griechenlands Identitäten in den Grenzen des Prinzipats 205

dieser weit über die Klassik hinaus maßgebliche praktisch-politische Bezugsrahmen schon (und lediglich) ‚Mesoebene‘, wenn man an die Sonderrolle der Städte im Römischen Reich denkt? Unbedingt sinnvoll, geschweige denn leicht ist es nicht, Zuschnitt, Herrschaftsverhältnisse und Interaktion dieser Bezugsebenen, die unmittelbar in ihre Selbst- und Fremdsicht eingehen, vom Identitätsbegriff des modernen Betrachters methodisch strikt abzugrenzen. Das historische Einzelphänomen des römisch beherrschten Mittelmeerraums erweist sich wieder einmal als widerspenstig genug gegen seine direkte Überführung in Modelle, um die Versuchung zur Vergangenheitssoziologie oder -politologie zu dämpfen, deren Ergebnisse Historikern und Sozialwissenschaftlern gleichermaßen Sorgen bereiten. Umgekehrt erscheint z. B. das – hellenistische wie kaiserzeitliche – Konzert von Definitionsversuchen des Hellenischen, hier durch Städtegründer und Aussiedler ethnisch konstituiert, dort durch Bildung und Sozialisation in der Polis erwerbbar, durchaus wie der Paradefall eines Diskurses im F ­ oucaultschen Sinn.8 Ein Überblick im hier möglichen Format fällt zudem irreführend statisch aus; die politisch-sozialen Entwicklungen, die sich zu einer kaiserzeitlichen ‚Einebnung‘, wenn nicht gar Homogenisierung innerhalb der Poliswelt summierten, vollzogen sich weder schlagartig noch synchron.9 Selbst für Athen wäre es leider nicht leicht, eine Geschichte des Selbstverständnisses unter den Kaisern zu schreiben. An dieser Stelle soll es vorwiegend darum gehen, worein sich solch ein Selbstverständnis zwangsläufig einfügte. Der Abstraktionsgrad der Beschreibung bemüht sich um Systematik, will aber kein System ‚griechische Identität(en)‘ suggerieren. Eine gewisse Langlebigkeit zumindest ist dem umgeprägten Griechenland-Begriff kaum abzusprechen, ob wir ihn nun im Detail als ‚künstlich geschaffen‘, ‚ausgehandelt‘ oder ‚über die Griechen hereingebrochen‘ ansprechen wollen. Identität wird insbesondere an einem zum Außenstehenden erklärten Anderen konkret. Die Frage, was unter römischer Herrschaft ‚die Griechen‘ oder ‚das Griechische‘ ausmacht, zunehmend verstanden als Einwohner Griechenlands, 8 Dabei ist damit zu rechnen, dass jede eigens vorgetragene Definition eher neu oder neu zugeschnitten als etabliert sein kann (Malkin 2001a, 6), d. h. die schon selbstverständlichen Raster bleiben regelmäßig implizit. 9 Wichtiger Hinweis mit Beispielen (Wandel im Euergetismus seit dem ausgehenden ­2. Jh. v. Chr., steigende Rolle der Boulai ab dem frühen 1. Jh., noch späteres Verschwinden der militärischen Komponente im Polisleben): Rousset 2004, 380 – 382.

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ist nicht untersuchbar ohne die Außensicht durch Rom und ohne Seitenblick auf das römische Selbstverständnis. Von den Machtverhältnissen abgesehen formten römische Identitätsfragen, römische Bedürfnisse und Interventionen im Sinne eines bestimmten Griechischseins die Möglichkeiten, wie die betroffenen Griechen selbst darüber denken und sprechen konnten. Weder thematisch noch methodisch steht die römische Perspektive damit außerhalb der Fragestellung – sie gehört vielmehr an den Anfang.

2. Ist der ‚griechische Grieche‘ eine römische Erfindung? Geht man dem nach, was in römischen Augen als das typisch Griechische galt, taucht unweigerlich die Gegenfrage auf, wie (un-)griechisch Rom seinerseits zu verschiedenen Zeiten war oder erschien. Die Römer selbst erhoben offen den Anspruch, Auswärtiges in ihre kultisch-sakrale Sphäre, ihre Kultur und soziale Ordnung integriert zu haben (wie schon die reflexartige Rückführung auf die Etrusker zeigt), und sie hatten sich in mythologischer Hinsicht bereitwillig an den trojanischen Sagenkreis anbinden lassen. Die Überraschung besteht eher darin, dass nach einer jahrhundertelangen Geschichte indirekten, dann stetig intensivierten direkten Austauschs mit der griechischen Kultur überhaupt noch das Griechische als etwas radikal Anderes betrachtet werden konnte – oder dass man die Notwendigkeit dazu sah. Dabei vollzogen sich dramatische Veränderungen hinter der Fassade der ihrem Anspruch nach so unverrückbaren Identität, der vergangene Forschergenerationen als unveränderlichem „Römertum“ gehuldigt haben.10 Es gibt heute den Standpunkt, Rom sei niemals hellenisiert worden. Einflussreicher ist die Feststellung wiederholter Hellenisierungsschübe, unterbrochen von Phasen eher lockerer Kontakte mit der griechischen Kultursphäre.11 10 Sehr zugespitzt Baroin 2005, 210: „En effet, les Romains se définissent eux-mêmes comme grecs depuis toujours“; zu beachten sei „que l’identité, grecque, étrusque, romaine, troyenne, ou mixte, est l’objet d’incessantes affirmations et renégociations.“ (211). 11 Rom in mehreren Wellen hellenisiert: Veyne 1979 (und vielfach wiederholt); einer „première hellénisation“ (8) während der ersten Jahrhunderte, teils etruskisch vermittelt und v. a. im Bereich der materiellen Kultur greifbar, folgt in diesem Modell seit dem 3. Jh. v. Chr. die bewußt durchlebte, „deuxième hellénisation“ als kulturelle Aufholjagd unter starker Betonung der Eigenständigkeit, gerade im Politischen – „Rome veut

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Ungeachtet dieses Streits um die Semantik waren die Griechen Maßstab und Bezugspunkt, um herauszuarbeiten, was jeweils das Römische an Rom war. Schon deshalb mussten an solchen Fragen interessierte Römer ein Griechenland aus dem Geist der Unähnlichkeit erfinden, selbst wenn die faktischen Gemeinsamkeiten der ‚griechischen‘ und der ‚römischen‘ Kultursphäre überwältigend groß waren. Das – vermutlich von den Oskern übernommene – Graecus beleidigend im Sinne einer ganzen Palette von Unarten verwenden zu können (und in einem zweiten Schritt ein Vokabular für ‚anständige Griechen‘ zu entwickeln), wirkte identitätsschärfend.12 Notwendig dazu war die Eigenheit, dass es zahlreiche ins römische Leben integrierte Kulturbestandteile gab – etwa griechische Kunstobjekte –, die situationsabhängig plötzlich wieder als Fremdkörper angesehen werden konnten, falls dazu Bedarf bestand. (Orientalische Anleihen wie die Verehrung der Magna Mater waren ebenso reversibel eingebunden.) Ein Gelage und die entspannte Festlaune, die dazugehörte, konnten je nachdem als typisch römisch, als typisch griechisch oder als bedrohlich-unmoralisch griechisch ‚etikettiert‘ sein. „Rome est grecque et elle est autre. C’est ce que nous avons appelé l’altérité incluse. Cette altérité incluse ne peut prendre forme que par un mouvement permanent d’absorption et de rejet.“13 Der springende Punkt lag dabei in der Wechselwirkung zwischen solchen Kulturelementen und jenen Spielregeln der

s’acculturer sans s’identifier; elle s’hellénise pour s’affirmer“ (11). Am Ende stehe eine weitreichende, aber nie als solche empfundene Aneignung (28). Dagegen z. B. Flaig 1999, der das archäologisch Fassbare aus dem Kulturbegriff ausklammerte, eine Aufmerksamkeitsverschiebung auf die orientalischen Einflüsse verlangte und a. a. O. 84 den historischen Begriff ‚Hellenismus‘ selbst abzuschaffen forderte; mehr als ein „hauchdünne[r] hellenisch anmutende[r] Firnis“ über der römischen Gesellschaft, nebenbei ein reines Elitephänomen, sei nicht festzustellen (95). 12 Dupont 2003, 43: „il va de soi que la Grèce dans son altérité est présente au sein de la civilisation romaine, une Grèce autre et englobée, constitutive de la Romanité.“ Als Gegenüber ungeeignet, weil aus mediterraner Perspektive ‚gesichtslos‘, waren die Barbaren, „trop autres pur constituer l’autre de Rome“ (44 – und ihrerseits natürlich eine griechische Kategorie…). „Très vite nous nous sommes même posé la question: «Et si Rome avait inventé la Grèce?»“ (42) Graecus kein neutrales Ethnikon, sondern pejorativ (im Gegensatz zu Graius): Dubuisson 1991, 329 – 334; vgl. dort 316 zu Roms „attitudes protectionnistes“ in Sprachdingen aufgrund des römischen ‚Minderwertigkeitskomplexes‘. 13 Dupont 2003, 53f.

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Lebensweise, den untrennbar mit den sozialen Werten gekoppelten mores, in denen die Römer das eigentlich Römische sahen. Griechen, die leichter Staatsformen und Verhaltensweisen wechselten als z. B. ihre Variante der Muttersprache, waren nach diesem Verständnis von Grund auf amoralisch und integrationsunwillig. Animositäten in Krisenzeiten, wenn das Integrative an der römischen Herrschaftsordnung unvermeidlich stark betont wurde, konnten nicht ausbleiben – erst recht, als im 1. Jh. v. Chr. die ersten großen Einbürgerungswellen an die Stelle militärischer Gefahr für Rom traten und mehr Homogenitätsdruck denn je auslösten.14 Umgekehrt konnten die griechischen Polisgesellschaften der Kaiserzeit mit der materiellen Kultur und vielen sozialen Verhaltensmustern Roms offenbar förmlich überflutet werden, ohne sich dadurch in Frage gestellt zu sehen. Gerade der harte Kern der Eliten – die Ratsmitglieder und prominenten Sophisten – oder die weit zahlreicheren pepaideumenoi in den Städten gingen in die Thermen römischen Typs oder trugen sogar die Bürgertoga, aber das hatte für ihr Empfinden keinen Bekenntnischarakter. Dagegen fielen Toga, Forum oder Amphitheater in römischen Augen mit einer ganz bestimmten Lebensführung und -ordnung zusammen. In der griechischen Literatur kamen sie vielleicht nicht deshalb kaum vor, weil sie die ‚Siegerordnung‘ repräsentierten, sondern weil es sich bei ihnen um Äußerlichkeiten handelte. Im Gymnasion wurde ein Charakter geprägt (aus moderner Sicht die soziale Persönlichkeit), Zugang zum Roman way of life konnte ein Grieche ‚haben, als hätte man nicht‘. Ernst wurde es aus griechischer Sicht bei der Sprache und allem, was die Herkunft berührte.15 14 Baroin 2005, v. a. 190. Convivia: Dupont 2003, 43f. Woolf 1994, 120: „Roman identity was based to an unusual degree on membership of a political and religious community with common values and mores (customs, morality and way of life). Cultural change, especially acculturation, posed a special threat to a self-definition framed in those terms.“ 15 Woolf 1996, 126: „Greeks […] remained immune to Romanization in one sense while undergoing it in another.“ „Greeks of all sorts […] remained Greeks while using Roman things, and seem to have felt none of the threat to their identity that Romans felt when they adopted items of Greek origin.“ (128); Schweigen der Literatur: 127 (eher aus Unerheblichkeit als aus Angst vor Identitätsverlust, da auf diesem Feld keine der für römische Ausdrücke geläufigen, oft gewunden-anachronistischen Umschreibungen begegnen. Vgl. unten S. 248). Woolfs Folgerung, römische Kultur und Hellenismus hätten einander wegen dieser unterschiedlichen Prioritäten nicht gefährlich werden könnten (135), besagt natürlich nichts gegen das tatsächliche, reichliche Auftreten von Ängsten vor Akkulturation (und Identitätsverlust). Interessant ist das völlige Fehlen der

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Nebenbei wirkte die römische Zentralmacht – umso stärker, je weiter sich der Prinzipat festigte – im Gegenzug vielfach selbst als Verbreitungsmedium für kulturelle Impulse des Hellenismus, die sie (um die Begriffe des ‚cardiac model‘ von Andrew Wallace-Hadrill zu verwenden) zuvor selbst ‚angesaugt‘ hatte, ehe sie sie modifiziert in die reichsweiten Kommunikationswege ‚einspeiste‘.16 Mit den Sichtweisen griechischer oder römischer Betrachter ist ein solcher Befund natürlich nicht gleichzusetzen. Angesichts der frühen und wiederholten Verbreitung der Griechen über die antike Welt war es schwerer für sie als für andere, in einem Gegenüber das ‚völlig‘ Fremde, das Ganz-Andere zu suchen, sobald die Komplexität dieses Andersseins sich über die längst etablierte Welteinteilung in unübertreffliche Hellenen und ‚wilde‘ Barbaren hinausbewegte. In einer veränderten Landschaft, in der Rom zumindest auf dem Gebiet der Machtentfaltung und Herrschaftskonsolidierung ‚besser‘ als die weit zurückfallenden Griechen war, fanden sich Letztere zwangsläufig in einer mentalen Sackgasse. Gerade ihres frühen und komplexen Nachdenkens über ihre Eigenart wegen gelang es ihnen nicht annähernd so leicht wie Provinzialen im lateinischen Westen, hinreichende Kontinuität von ihren unabhängigen Vergangenheiten zur Gegenwart unter römischer Ordnung festzustellen.17 Das spezifisch griechische Problem resultierte nicht zuletzt aus der durcheinandergebrachten Zweiteilung der Welt in Griechen und Barbaren. Noch Plutarch merkt man das Dilemma an, dass es Kultur demgemäß nur unter Griechen gibt, die Römer aber zwar kultiviert, doch zugleich weder ‚klassische‘ Griechen noch ‚klassische‘ Barbaren sind. Man könnte sie entweder als veredelte Ex-Barbaren oder als historisch einzigartig

Toga auf attischen Sarkophagreliefs des 3. Jh. n. Chr., der Ausweitung des Bürgerrechts zum Trotz (für römische Mythen gilt dasselbe: Ewald 2004, 264f.; dort v. a. 256 – 263 zu Schlachtszenen als möglichem Ausdruck einer panhellenischen Kulturidentität). Ein Erfolgsbeispiel der gebildeten ‚literary subelite‘: Whitmarsh 2004. Als Bekenntnis interpretiert worden ist allerdings Besuch oder Vermeiden der Gladiatorenkämpfe: Mann 2009; 2012. 16 Wallace-Hadrill 2008. 17 Fremdheitserfahrung nie absolut: Malkin 2001a, 12 – 15 (zum Scheitern des Begriffs der Alterität). Der Westen tut sich leichter mit Rom: Veyne 1992, 566f. (unter Einschluss Ägyptens in Anm. 315). Andererseits kennen wir keine hellenischen Bukolen oder Donatisten. Zur vernachlässigten Notwendigkeit, generell mit einer Pluralität von Gesellschaftsformen zu rechnen, einführend Bartels 2008, 11 – 13.

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ansehen. Römischen Bedürfnissen wäre die zweite Interpretation noch etwas mehr entgegengekommen.18 Die erste wiederum verweist auf einen schweren Schlag gegen das griechische Selbstverständnis. Die eigene kleinräumige Macht- und Unterwerfungspolitik, wo immer Griechen an Nichtgriechen grenzten, hatte Rom nicht nur beendet, sie verschwand samt dem begleitenden Überlegenheitsgefühl über Nacht aus der Erinnerung zugunsten einer eigenen Opferrolle. Eroberungsversuche hatte es fortan stets nur gegen Griechen gegeben – wie die römische Herrschaft zu beweisen schien.19 Ein theoretisch maximaler Erfolg hätte im Errichten einer römisch geprägten Gemeinschaftskultur bestanden; exakter ausgedrückt, im verbreiteten Selbstverständnis als solche – denn die tatsächliche Lebensführung entsprach natürlich in vieler Hinsicht einer Kombination ‚typisch‘ griechischer, römischer und sonstiger Elemente. Nur war eine vollständige Assimilation (erklärte Griechen zu erklärten Römern zu machen) in diesem Fall gar nicht das erklärte Ziel der Kaiser; im Gegenteil gingen sie seit Augustus daran, genauer denn je zu umschreiben, vorzuschreiben und auf Dauer festzuschreiben, was griechisch sei und sein müsse.20 Eine planmäßige Förderung 18 Dazu Preston 2001. Hierhin gehört wohl auch die Stelle hin, an der Galen (san. tuend. 1,10,17 (6,51 K.) = CMG 5,4,2 p.24, 24f.) seiner ‚Zielgruppe‘ als Griechen sowie als „geborene Barbaren“ bezeichnet, „die aber nach griechischen Eigenschaften streben“ (ὅσοι τῷ γένει μὲν ἔφυσαν βάρβαροι, ζηλοῦσι δὲ τὰ τῶν Ἑλλήνων ἐπιτηδεύματα), anders als Germanen und dergleichen. Darunter verstand Bowersock 1995, 4 vgl. 14 die Einwohner der Magna Graecia, deren Abstammung zum Teil wohl gar nicht hellenisch war; ein Bezug auf Römer generell erscheint aber gerade angesichts der Vagheit des Barbarenbegriffs möglich. Vgl. Woolf 1996, 121: „a belief that, in some sense, Rome had civilized the west was compatible with, and in some sense necessitated, the notion that Greeks were overcivilized, and that Romans were balanced between barbarism and decadence.“ 19 Zur Verschiebung der Selbstwahrnehmung Ando 2010, 17 – 45: die Darstellung des griechischen Untertanenstatus müsse man mit der imperialistischen Vergangenheit im Hellenismus zusammenlesen (23f.): Städte waren unter anderem auch „nodal points in a political economy that worked to subjugate non-Greek peoples“ (24). „On this understanding, Greek literature of the imperial period is at its most obviously colonial when it laments past failures to achieve political solidarity around just such a [n ethnical and cultural, J. F.] conception of Greekness.“ (24) 20 Zum Risiko eines „wholesale loss, or even suppression“ der griechischen Identität M ­ illar 1993, 249f. Goldhill 2001a, 13: „the Roman empire radically affects the possibilities of what Greekness might imply.“

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‚bilingualen‘ Denkens auf imperialer Ebene oder selbst im griechisch-hellenistischen Osten, die eine Verschmelzung hätte fördern können, hat dagegen nicht stattgefunden. Vielsagend ist, wie sich auf einem dafür naheliegenden Feld – zweisprachig griechisch-lateinischen Münzen – mehrere der ohnehin seltenen Fälle als simple Fehler bei Stempelherstellung und Prägung erwiesen haben.21 Die neuen administrativen Grenzen Griechenlands gingen deren Insassen erstaunlich schnell in Fleisch und Blut über. Plutarchs Empörung über wütende griechische Karrieristen, die jeder kleine Abstrich an der kaiserlichen Gunst rasend macht, bezieht sich auf „Chier, Galater, Bithynier“, echte Griechen tun so etwas nicht. Das positive Gegenbeispiel kam immerhin von Thasos und zählte damit zur Provinz Thracia.22 Worin dieses Griechischsein jedoch bestand, war in Rom schon länger ein Gegenstand heißer, mit dem römischen Selbstbild verknüpfter Debatten gewesen. Philhellenische Impulse und Griechenverachtung standen oft dicht nebeneinander; so erklärt sich der in und für Rom ausgetragene Disput des 1. Jh. v. Chr. über den Gegensatz von ‚Attizismus‘ und ‚Asianismus‘ in der Rhetorik mit moralischen Untertönen, die bei einer vorgeblichen Stilfrage nur erstaunen können. Cicero, der 46 v. Chr. seinen Anspruch verteidigte, die richtige Seite zu verkörpern, gibt anderweitig die ersten Belege für eine Unterscheidung schwacher, unterwürfig-weicher, kurz ‚weibischer‘ Griechen, Spielbälle der kleinasiatischen Natur, von den durch virtus glänzenden, um Athen und Sparta gesammelten Griechen der vera atque integra Graecia. Der Sprachstil verbürgte den Charakter, so die von Jean-Louis Ferrary konstatierte „vision hiérarchique“. Ein frischgebackener Senator mit italischen Wurzeln, der aus der ‚nicht so griechischen‘ Peripherie kam, musste sich Anfang des 2. Jh. n. Chr. bereits Bemerkungen im Sinne eines kulturellen Rückstands gefallen lassen, wenn er als corrector nach Achaia ging – und das nicht nur von seinem ranghöheren Standesgenossen Plinius (mit Blick auf seine mangelnde Hellenizität),

21 Woytek 2011: ‚echter‘ Umlauf nur in der zweisprachigen Region um Philippopolis in Thrakien (424 – 427; 451) und im Fall einer wohl in Syrien entstandenen, als Bildensemble aus dem Westen übernommenen Drachmenprägung für Kreta (419 – 424; 451). Zur regen Forschung über Mehrsprachigkeit vgl. nun den nützlichen Literaturüberblick von Cooley/ Salway 2012, 251f. 22 Plut. de tranq. animi 10 = mor. 470c (eng motivverwandt mit Sen. de ira 3,31,2).

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sondern sogar von Epiktet, dem in Nikopolis zur Ruhe gekommenen Phryger (mit Blick auf seine römische Unbedarftheit).23 Über Livius lässt sich diese Identitätszuschreibung mit ihrer „géographie hiérarchisée“ in augusteische Zeit verfolgen, als die Abstufung – so die ansprechende These von Anthony Spawforth – in die Politik des Princeps einging. Das Willkommene am Griechenlandbild auch räumlich vom Unwillkommenen abzutrennen (und dabei massiv die römischen Projektionen der eigenen Vorzüge und Gefährdungen mit zu bedienen), war eine staatstragende Aufgabe. Wie Augustus die Römer und ihre Lebenswelt in Ordnung zu bringen gesonnen war (und die wie Griechen lebenden ‚Auslandsrömer‘ im Osten vermutlich missbilligend betrachtete), so übernahm er es auch, den Griechen das Verwertbare an ihren Traditionen und kulturellen Werten mit dem für ihn charakteristischen Nachdruck nahezubringen. Auf die richtige Art Griechen zu sein würde die Hellenen zugleich an die – in augusteischer Sicht – römischen Grundwerte heranführen.24

23 Rhetorikstreit: Spawforth 2012, 18 – 26. Eingehend Hose 1998; ihm zufolge entstand der Attizismusbegriff als Kanonbildung und war „der Versuch griechischer Rhetoren, ein erleichterndes, handhabbares Ausbildungskonzept für die ihnen anvertrauten jungen Aristokraten zu entwickeln.“ (280) Gefolgt sei die Politisierung und eine Übernahme im griechischen Osten nach 31 v. Chr. Ciceros Selbstsicht als orator Atticus: Cic. Brut. 51 vgl. 315f. 325; orat. passim, v. a.  3f., 20 – 24, 27 – 29, 76; 234 – 236. Vera atque…: Cic. Flacc. 61(vgl. Liv. 38,17,10 – 13); Festung Asia: Flacc. 64; vgl. Ferrary 2011, 3; „vision…“: 13. Anders Swain 1996, der von einer losgelösten innerrömischen Stildebatte ausging: Rom war „not a source of inspiration; but she may well have been a source of reaction“ (28); die griechische Fixiertheit auf das Attische entstehe unabhängig. In der Variante vera et mera Graecia (Plin. ep. 8,24,8) gerichtet an „Maximus“, generell (wie auch der „Maximus“ in Arr. diss. Epict. 3,7,30f.) identifiziert mit Sex. Quin(c)tilius Valerius Maximus aus Alexandreia Troas (Birley 2000, 84 vgl. 71; Kuhn 2012, 424 – 430). 24 „Géographie hiérarchisée“: Ferrary 2011, 3. Augustus: Spawforth 2012, v. a. 12 – 18; Ansätze bei Swain 1996, 78: „Rome’s philhellenism was, as it were, the transcendental part of her government of the Greek world, her way of making Greece what she wanted.“ Im Zentrum von Spawforths Entwurf steht die augusteische Schöpfung eines „‘official’ Roman narrative of Hellenism based on an ideological favouring of ‘old’ Greece and the traditions of Athens and Sparta “, resultierend in der von Hadrian abgeschlossenen „Greek acculturation to Roman values“ (1). Römische Diaspora (und ihr Potential als Multiplikatoren für die augusteische Moral: Spawforth 2012, 29; 52f. (‚Selbstverlust‘ beklagt schon Cic. ad Q. fr. 1,19; Flacc. 90 – 92).

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Aufschlussreich für diese Initiative, Ordnung zu schaffen, ist der doppeldeutige Sprachgebrauch, der in den Quellen seit Livius für die Besuche hochgestellter Römer begegnet – die Verben circumire und peragrare meinen die dienstliche Rundreise eines Statthalters durch seinen Jurisdiktionsbezirk ebenso wie touristische peregrinationes in der Freizeit. Semantisch war jede römische Visite, in otium oder Amt, damit eine Inspektion.25

3. Geborene und gelernte Hellenen Wenn das moralisch wie kulturell überlegene ‚griechische‘ Element vom ‚asiatischen‘ abgetrennt und gestärkt werden musste, ergriff die römische Seite damit Partei in einer innergriechischen Meinungsverschiedenheit, die lange vorher begonnen hatte: dem Streit, ob Bildung (paideia) oder Zugehörigkeit zu einer Abstammungsgemeinschaft (ethnos) das Kriterium sei, nach dem jemand Grieche war oder nicht. Die Ethnizität hatte den Vorzug, schon seit klassischer Zeit herangezogen zu werden und der Alltagserfahrung (begründet oder nicht) eines beachtlichen Anteils derer zu entsprechen, die sich als Griechen betrachteten; alle integrieren konnte und wollte sie bewusst nicht.26 Von vornherein draußen blieben die zahlreichen ‚gelernten‘ Griechen vor allem der Bildungsschichten, die auf Gymnasion, Ausbildung beim Rhetor und Teilnahme am Polisleben verweisen konnten. In einer Grauzone fand sich jener 25 Sprachgebrauch: Baroin 2005, 202 mit Anm. 55; mit ihren Belegen vgl. HA Hadr. 13,5; 14,2; 23,1 (peragrare); 13,10 (circumire, nach Aur. Victor, Caes. 14,4?), jeweils auf alle Provinzen bezogen und im ‚dienstlichen‘ Sinn (mit mythologischem Beiklang? Fündling 2006, 2, 646; Hadrians ‚touristische Neugier‘ (17,8: peregrinationis… cupidus; Fündling 2006, 2, 831f.) wird in der Vita des Kaisers getrennt behandelt. Die Einstellung der nach dem Rechten sehenden Römer ist zutreffend mit Donald Rumsfelds Herablassung gegenüber dem ‚alten Europa‘ verglichen worden (Hinds/ Schmitz 2007, 4), so wie die Stereotype auf griechischer Seite auffällig den korrespondierenden europäischen Überheblichkeiten seit 1945 ähneln. 26 Abstammung als Kriterium seit Herodot und Isokrates: Romeo 2002, 31; Ferrary 2011, 1. Für die Alltagsnähe des Ethnizitätsbegriffs Malkin 2001a, 1f., der offen für die Einwirkung diverser Identitätsebenen ist (die Schwierigkeit beginnt tatsächlich erst mit dem Aufkommen der Hellenitätsdefinition über παιδεία; am Gebrauch des sperrigen – a. a. O. 3f. –, aber umfassenderen Begriffs der kollektiven Identität führt seitdem kein Weg vorbei).

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noch größere Kreis wieder, dem man die (sei es echte, sei es konstruierte) griechische Herkunft der betreffenden Familie oder Bürgergemeinde nicht ohne weiteres zugestand. Gerade das Selbstverständnis als Bürger trat tendenziell in den Hintergrund, wenn man bevorzugt auf das gemeinsame Wesen blickte, das älter sein sollte als seine politische Behausung. Für alle Fälle machten sich viele kaiserzeitliche Städte an eine doppelte und dreifache Absicherung durch Verweise auf griechische Gründer und Siedler.27 Ihr Nachteil bestand in einer anderen Alltagserfahrung, ebenso ‚urgriechisch‘ wie jener der Zusammengehörigkeit: den feinen Unterschieden. Aus der Mythologie blieben die ethnischen Unterteilungen in Erinnerung (Dorer war nicht gleich Ionier, aber auch ein Ionier war nicht wie der andere), aus der Geschichte das gelegentliche Bedürfnis, manchen ‚ethnischen Griechen‘ ihre Hellenizität abzusprechen. In diesem Zusammenhang war der Gegensatz zwischen ‚Griechen‘ und ‚Asiaten‘ nur eine konkurrierende Grenzlinie mehr.28 Wie sehr der ethnische Akzent dem Zeitgeist entsprach, ist eine kontroverse Frage. Nach manchen Einschätzungen war die Ethnizität im 2. Jh. n. Chr. schon wieder ein aus der Mode geratenes Konzept. Eine andere Perspektive sieht in ihr eine Entlastung, die sich gerade die vielgeschmähten Stimmführer Kleinasiens schufen.29 ‚Gemischte‘ Gebiete betrachteten sich jetzt als geschlossen griechisch

27 Konstan 2001, 30 zur auf Essentielles zielenden ethnic identity im Unterschied und möglichen Gegensatz zur civic identity, die eher einen Rechtsstatus umschreibt. Unter antiken Bedingungen wird die Bürgergemeinschaft allerdings ganz überwiegend nach ius sanguinis, also Abstammung, abgegrenzt. Fabrizierte Genealogien: Strubbe 1986. Das reichhaltige Material widerspricht ein wenig Strubbes Vermutung, die Gründungsgeschichten seien überwiegend schon alt, im Hellenismus neu vitalisiert und damals etwa für Allianzen sinnstiftend herangezogen worden, vgl. ebd. 279): „in der Kaiserzeit von großer praktischer Bedeutung“ (277). Strubbes Auswahl (269) konkurrierender oder kumulativer Gründungslegenden, die gleich mehrere göttliche Ktisteis und/oder gemischte ethnische Siedler präsentieren, verrät, wie intensiv dieses Thema gerade unter römischer Herrschaft bearbeitet wurde: 28 Spawforth 2001, 375 mit einem Beispiel aus Ephesos (IK 11,1 Ephesos, 24 Z. 18f.), worin von „den Makedonen u. den übrigen hellenischen ethne“ die Rede ist. Ein Gegenbeispiel ist die getrennte Aufführung von „Hellenen, und zwar den ersten, und Makedonen“ als Gründerkomponenten von Nikaia (Dion Chrys. or. 39 K.,1: συνελθόντων [...] Ἑλλήνων καὶ Μακεδόνων). 29 Belege für das Abklingen der Beschäftigung mit Autochthoniefragen bei Konstan 2001, 36 – 39; betont werde vor dem Hintergrund des ‚Erziehungshellenismus‘ jetzt die

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im weiteren Sinn, was ein Qualitätsattribut war und außerdem eine gewisse Chance auf Privilegierung durch Rom eröffnete. Nichtgriechen bot sich die unverhoffte Chance, künftig als Angehörige einer ‚griechischen‘ Verwaltungseinheit aufzutreten. Dies dürfte erklären, wie das Koinon der Provinz Asia noch unter Augustus dazu kam, sich als „Panhellenen“ zu bezeichnen, und das achaiische Koinon wenig später dasselbe tat.30 Damit verlor die Frage, wer in einer multiethnischen Provinz wie griechisch war, gegenüber den hellenistischen Jahrhunderten langfristig an Bedeutung. In bestimmten Situationen – etwa in Verhandlungen zwischen Rom und einer kleinasiatischen Gemeinde – blieb es natürlich opportun, ja geboten, und zum Stolz auf Stadtbild und kulturellen Hochstand gehörte das Prädikat der Hellenizität ebenfalls. Wirklich alte Städte jedoch verloren womöglich den ideellen Anschluss an das ‚echte‘ Griechenland, gerade weil der Begriff so verwässert worden war.31

Bevölkerungsmischung (39f.). An die Stelle von Abstammungsmythen, Kultgemeinschaft, Sitten und kulturellen Werten trete die „collective memory“ (41). Auflebende Ethnizität nach Romeo 2002, 35 – 37 unter Federführung Smyrnas, um Roms Augenmerk von der Asiatenschmähung auf die Herkunft umzulenken (37). 30 Zum Material aus Asia, Bithynien und vom Festland Ferrary 2001; ders. 2011, 9f. Selbstbezeichnung des Koinon von Asia als Πανέλληνες: eine Statuenbasis für Octavian, 31 – 28 v. Chr. in Klaros gesetzt, erwähnt dessen εὐεργεσία... εἰς τοὺς Πανέλληνας (BCH 124, 2000, 357 = SEG 51, 2001, 1593). IG XII 6,1,440 in der Lesung von Jones 2008; ebenso in iulisch-claudischer Zeit das Koinon von Achaia (IG VII 2711f.). Ando 2010, 31 – 35: Ausweitung des Hellenenbegriffs treibt die Identifikation mit den neuen Zwischenebenen der Koina und Provinzen voran und schärft das Denken in Ortsbezügen (35: „matrices that were at once geographical and juridical“). 31 Hier ist die Bemerkung von Konstan 2001, 31 besonders berechtigt: „[R]ather than envisioning a struggle between an outmoded allegiance to a polis doomed to extinction and an embryonic, unachieved sense of nationhood, it may be preferable to understand both Greekness and local ethnic identifications as competing rhetorical strategies, in principle available to serve a variety of interests.“ Der Alltag bot zweifellos wenig Notwendigkeiten, sich konzentriert als Grieche zu fühlen, von situativen Überlegenheitsbedürfnissen abgesehen – wenn der Metzger einem ‚karischer‘ vorkam als man selber, konnte man ihn bei Bedarf unter anderem als Karer beschimpfen, ohne damit (auf beiden Seiten) eine ethnische Identität zementieren zu wollen. Die von Spawforth 2001 am Fall Lykiens mustergültig ausgeführten, höchst vitalen Barbarenklischees sollten in diesem Sinne – als situative Abwertung, nicht als Programm sozialer Wertigkeit – verstanden werden. – Zu den zweischneidigen Folgen der „dilution“ im Gebrauch Ferrary 2001, 32: „puisqu’il tend à inciter les magistrats à considérer des provinces entières comme ayant

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Die Vorstellung einer räumlich nicht gebundenen Bildungsgemeinschaft war nicht aus der Welt, sie drängte in den Schriften der Zweiten Sophistik die regionalen Bezüge sogar markant in den Hintergrund.32 Bei der jungen Gemeinde Roms hatte Paulus zuvor sein Ausbleiben mit den Bedürfnissen von „Griechen und Nichtgriechen, Gebildeten und Ungebildeten“ in Kleinasien entschuldigt, die es in Christus zu einen galt; ein Zeugnis für den Stellenwert der Paideia, wenn nicht gar beide Paare synonym gemeint waren.33 ‚Konvertiten‘ zum Hellenismus wie der westliche Sophist Favorinus von Arelate wurden deutlicher. Herrlich spitzfindig und fast unübersetzbar gab Favorinus im mittleren 2. Jh. n. Chr. seine Visitenkarte ab: „ein griechischsprechender/dem Hellenismus zugewandter/hellenisierter Gallier zu sein“. Als Schlusspunkt einer ganzen Kette von Schriften über die Verbannung, sei sie echt oder imaginär, lässt er sich lesen, als sei Favorinus geradezu programmatisch heimatlos und nur noch in der Paideia zuhause. Die Verbindung zwischen kultureller Herkunft und tatsächlicher Identität einer Person in der Gegenwart ist hier systematisch durchtrennt – mit der sehr intellektuellen Pointe, dass eigentlich niemand autochthon und jeder ein Verbannter ist, nur noch in Kultur und Bildung zuhause, wie zur Bestätigung eines frisch erschienenen Essays: „Ohne Ambivalenz und ohne das Spiel damit kann es wohl gar keine Identität geben.“34 Universell anschlussfähig war ein so avancierter Standpunkt zweifellos nicht – dafür elitär auf eine Weise, die den führenden Schichten das Angebot machte, ihr Privileg des Griechischseins so droit à la modération particulièrement due aux Grecs, mais qu’en sorte de réaction, il favorise la vision restrictive d’une «vraie Grèce» réduite au Péloponnèse, à l’Attique et à la Grèce centrale.“ Wie stark die Koina der Identitätsbildung oder der Selbstdarstellung anwesender Prominenter dienten, bleibt umstritten (Stephan 2002, 183 – 194). 32 Unregionales Auftreten: Bowie 2004. 33 Röm 1,14. 34 Favorinus und Paideia: Romeo 2002, 32 – auch aus persönlicher Rivalität zu Polemon? (a. a. O.  32 – 35). Paradox des Γαλάτης ὢν ἑλληνίζειν: Philostr. VS 1,8 p.489. Zum Exil als literarischem Standpunkt Whitmarsh 2001. Umstrittenheit der Verbannung von Favorinus: a. a. O. 296 (zurückhaltend; weitere Stimmen bei Fündling 2006, 2, 764f.). Liebe zum Paradoxen, Bruch mit dem Herkunftsgedanken: a. a. O. 300. Heimatlosigkeit aller: 303; der Gedanke berührt sich mit Heinrich Heines Kennzeichnung der Tora als „portatives Vaterland“ der Juden (Geständnisse (1854), in: G. Heinemann (Hg.), Sämtliche Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe. (Düsseldorfer Ausgabe.) Bd. 15: Geständnisse, Memoiren, kleinere autobiographische Schriften. Hamburg 1982, 43) „Ohne…“: Battegay 2012, 144.

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umzudefinieren, dass sie griechischer, weil gebildeter als die Masse waren. Die folgenreiche Ansicht, wahre Freiheit liege im Erwerb der ‚freien Künste‘, nicht im Politischen, war bereits im Entstehen.35 Je schwerer es war, sich kultiviertes Wissen – und Auftreten! – anzueignen, desto deutlicher setzte man sich von den polloi ab; Eltern oder Stadtgründer mit griechischem Namen haben konnte ja jeder. Hierin lag ein elitärer Reiz des überzogenen Attischen – alltägliches Koine-Griechisch und das dahinterliegende Wissen war ‚demokratischer‘; den Attizismus musste man verinnerlichen – und anschließend einem beinahe agonalen, stets aber boshaften Reinheitstest der kundigen Mitwelt aussetzen. Wie hoch die sozialisierende Wirkung einer ‚anständigen‘ Bildungsbiographie wirklich war, ließ sich in den Augen einiger Historiker des frühen 3. Jh. gar nicht überschätzen. Cassius Dio lieh dem Gedanken einigen Raum; sein Benutzer und Fortsetzer Herodian ging den entscheidenden Schritt weiter und machte gelungene oder scheiternde Paideia zum formgebenden Motiv seiner Kaisergeschichte. Der paideia-Gedanke war, zumindest wenn wir der Ikonographie nachgehen, bis dahin längst auch im Westen angekommen und blieb bis weit in die Spätantike vital.36 Wo lag der Unterschied zwischen den rivalisierenden Konzepten für den Kontakt eines führenden Griechen zu Rom? Es ist vertreten worden, dass die elitär erworbene Bildung mit Abstand der praktischere Bezugspunkt für beide Teile der imperialen Führungsschichten war – und zugleich der Lokaltradition einen legitimen Platz zuwies.37 Bevor sich jedoch dieses Verhältnis fest 35 . Zur Aufhebung alles Guten, auch der Freiheit, im Kaiserreich und in den artes liberales Connolly 2007, 39 – 41. Sie denunziert den Hellenismus als „a discourse of political subservience and deracination“, „a strategy that helped conceal the contradictions and brutalities of Roman imperial rule“, die sich bis heute fortsetze als „the moralizing assumptions we make about the link between education, identity, and freedom.“ (41) 36 Fazit von Whitmarsh 2001, 303: „‘Greekness’ is still to be an exclusivist system, but now differently orientated in terms of the requirements of a vast network of Hellenizing elites throughout the empire.“ Elitärer Zug des Attizismus: Swain 1996, 21; 28f.; Schmitz 1997, 67 – 96. Paideia bei Dio: Swain 1996, 406; maßgeblich Zimmermann 1999. Zu paideia als Statussymbol auf Sarkophagen Borg 2004a; als Distinktionsmerkmal in Begegnungen und Konflikten innerhalb der Oberschichten Schmitz 1997, 97 – 135, seine Ausführungen a. a. O. 38 – 66 zur generellen Aristokratieförmigkeit der Bildung sind kritisch zu ergänzen durch Bartels 2008, 77 – 86; 88. 37 Krasser 2007 (mit reichhaltiger Literatur) sah aus dem (unstrittigen) „empire-wide network of cultural communication“ eine (heiß diskutierte) „empire-wide group identity“

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etabliert hatte, auf dem Höhepunkt des ethnischen (und zugleich als ethisch empfundenen) Blickwinkels von Rom auf die griechische Welt, überwog die Attraktivität der ‚klaren Verhältnisse‘. Wollte man die römische Frage, wer ein ‚richtiger Grieche‘ und wer einer der weniger echten Sorte sei, nicht durch eine moralische Einzelfallprüfung beantworten, blieb nur eine praktikable Form der Grenzziehung: die Unterscheidung des einzigen Gebiets weltweit, das flächendeckend von ethnisch zweifelsfreien Hellenen bewohnt war, von allen übrigen. Bedürfnisse des römischen Selbstverständnisses trafen sich zu Beginn des Prinzipats mit den schon geschaffenen Tatsachen der politischen Neuordnung. Noch dazu gab es durchaus Anhaltspunkte dafür, in der Gesamtheit der zur Provinz Achaia vereinten Gebiete das nötige Maß an Gemeinsamkeiten zu sehen – auch weil sich die übrigen griechisch geprägten Regionen, römisch beherrscht oder nicht, durchweg auf andere Wege begeben hatten.

4. Von der Welt zur Provinz: Treibende Kräfte der Reduktion auf Kern-Hellas Die Gesamtheit der – im weitesten Sinne – griechisch-hellenistischen Städte des Mittelmeerraums, geschweige denn der kulturell von ihnen beeinflussten Gebiete, ist bekanntlich nie eine ‚Schicksalsgemeinschaft‘ gewesen, nicht einmal in Theorie und Selbstwahrnehmung. Politische Vielfalt der Städte wie ihres Umfelds, geographische Gegebenheiten und die schnell aufkommenden Lokaltraditionen standen dem entgegen. Die römischen Eroberungen seit dem frühen 3. Jh. v. Chr. waren beileibe nicht die Ursache der divergierenden Entwicklung. Schon Herodots syrakusanische Quellen waren vielleicht nicht nur auf mehr Ruhm für ‚ihren‘ Tyrannen Gelon aus, sondern spürten die Notwendigkeit, die jeweils eigenen Tagessorgen der sizilischen und der Festlandsgriechen ideell enger zu verklammern, indem sie den berühmten Synchronismus der Schlachten bei Salamis und Himera vornahmen.38 Zweifellos aber sprengte Roms Eindringen zu unterschiedlichen Zeiten, verbunden mit einer

erwachsen (62f.), leicht transportabel und anpassungsfähig, dabei gestützt auf „the shared ideal of paideia. […] References to local traditions […] and imperial structures and mentalities accompany and complement each other.“ (44) 38 Hdt. 7,166. Zu Assimilationsängsten als klassisch-frühhellenistisches Phänomen vgl. Bowersock 1995.

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markanten Ungleichbehandlung der eroberten Gebiete, beachtliche Teile der klassisch-griechischen Welt regelrecht ab.39 Für die griechisch geprägten Regionen Italiens war es, je mehr sich der Gegensatz des Kernlandes im Imperium zur provinzialen Peripherie verfestigte, immer unattraktiver, sich an der Seite der Abhängigen oder Unterworfenen weiter östlich zu sehen. Gerade in den später so aktiven hellenistischen Zentren Mittelitaliens, die uns im 2. Jh. n. Chr. ein Bild aus Agonen, griechisch betitelten Ämtern usw. vermitteln, liegt nach Glen Bowersock ein augusteisch reaktivierter, sekundärer Hellenismus vor, der in einem schon stark assimilierten Umfeld (so vorsichtig Strabons Klagen über den fast flächendeckend „barbarisierten“ Süden der Halbinsel aufzunehmen seien) griechische Traditionen neubelebte und bei Bedarf einfach erfand.40 Einen anderen Sonderweg schlug Roms mutmaßlich älteste Provinz ein. Die Republik selbst schärfte eine sizilische Eigenidentität, indem sie lange Zeit fast vollständig auf die Stationierung eigener Truppen verzichtete und vielmehr den Fortbestand der städtischen Gymnasien förderte, die ihrerseits den Kern militärischer Bürgerkontingente ausbildeten – für die Sicherung der Insel selbst, fast niemals zum Einsatz in Übersee. Dieses ressourcensparende Konzept, eingeführt um den Preis wiederholter Aufstände der selbstbewussten Sikelioten, scheint das Gymnasion mehr denn je zum symbolischen Ort städtischen Eigenbewusstseins gemacht zu haben. Erst die Bürgerkriege und massive Veteranendeduktionen des Augustus ins einstige Machtzentrum des Sextus Pompeius gaben der Provinz ein neues, unscheinbareres Profil.41

39 Überblick zur kaiserzeitlichen Lage: Millar 1993. 40 Zu diesem „New Hellenism of Italy“ Bowersock 1995; die in Strab. 6,1, 2 p. 253 geschilderte Zurückdrängung einer griechischen Lebensweise auf Tarent, Rhegion und ­Neapel sei gezielt überzeichnet (vorsichtiger Simon 2011, 380 – 390). Modernes Beispiel für eine formbare, hochgradig synthetische Tradition mit starkem Rückbindungsbedürfnis bei Malkin 2001a, 17f. (kulturelle Selbsterfindung der Huronen in Kanada). Klassisch zum Thema Hobsbawm/ Ranger 1983. Zu Augustus’ Interesse an einer griechischen Rückbesinnung – unter Hadrian programmatisch aufgenommen (und umgedeutet?) in der Vermächtnisszene bei Sueton (Aug. 98,2f.), wo Römer und Griechen die Kleidung tauschen – vgl. oben S. 211f. Kampanien im 2. Jh. n. Chr.: Ferrary 2011, 19 (mit Übersicht). 41 Forciertes Eigenbewusstsein, „a direct consequence of Roman rule“ (Prag 2007, 69), „a lively sense of independent political – and military – identity“ im Hintergrund der Aufstände bis 210 v. Chr. (76) „If the gymnasion strengthened civic élite identities, so

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Noch weiter westlich verlor das als Verbündeter Roms lange so wichtige Massalia viel von seiner Strahlkraft, als es nach der Niederlage 49 v. Chr. ein (rechtlich weiterhin autonomer, aber materiell beschnittener) Sonderfall inmitten der Gallia Narbonensis wurde. Gleichwohl hielt es sich, modern gesprochen, als ‚Leuchtturm‘ griechischer Kultur und Bildung bis in augusteische Zeit und hatte seinen hellenischen Charakter erst Mitte des 6. Jh. n. Chr. verloren. Weder schriftliche Überlieferung noch Inschriften geben nähere Auskunft über die iberisch-griechisch-römische Stadt Emporiae und ihre kaiserzeitliche ‚Leitkultur‘ jenseits des Rechtsstatus als municipium; Strabon charakterisiert die Verfassung als teils barbarisch, teils hellenisch. Wie das Häuflein anderer griechischer Siedlungen auf der Iberischen Halbinsel bewegte es sich unter den Kaisern rasch aus dem Horizont dessen heraus, was Fergus Millar als „central zone“ der griechischen Welt charakterisiert hat: die römischen Provinzen Achaia, Macedonia, Asia, Bithynia-Pontus und die Landschaft Lykien.42 Auf dem Gebiet von Illyricum, soweit es später zur Provinz Dalmatia geschlagen wurde, standen die kleinen, obendrein erst seit dem 4. Jh. gegründeten Poleis entlang der Adria, soweit sie nicht ohnehin eher illyrisch als griechisch geprägt waren, schon während der letzten zwei Jahrhunderte der Republik unter dem Einfluss eines massiven Zustroms italischer Siedler in ihre Umgebung. Hier blieb auf lange Sicht – anders als an der römischen Schwarzmeerküste bis zur Donaumündung – wenig von einem griechischen Selbstverständnis übrig.43 In der Osthälfte der mediterranen Welt gab der Gebietszuschnitt der hellenistischen Königreiche, langfristig gesehen, meist auch die römische Zuordnung der markant griechischen Städte auf ihren Territorien vor. Mit Autonomierechten

too did military activity.“ (ebd., 98). Um die Gymnasien zentrierte Belege für lokale Truppen: 87 – 96; Umbruch ab der Mitte des 1. Jh.: ebd., 95f.; Stone 2002. 42 Massalia: in Caesars Triumphzug eigens gedemütigt (Cic. off. 2,27f.; zur Anziehung auf studienwillige Römer vgl. Strab. 4,1,5 p. 181. Hellenizität verloren: Agathias 1,2,2. Vgl. Lomas 2004a; Kaldellis 2008,26. Emporiae: Plin. n. h. 3,22; Strab. 34, ,8 p. 159f.; zur Identitätenfrage auf der Iberischen Halbinsel vgl. jetzt die Beiträge in Caballos/ Lefebvre 2011. „central zone“: Millar 1993, 243 (eventuell gehöre auch der Rest Kleinasiens noch dazu); er verweist a. a. O. 233; 242 nur ganz beiläufig auf den Westrand der griechischen Welt (jetzt behandelt in Lomas 2004). 43 Nachwirkender griechischer Einfluss in Süddalmatien (laut Plin. n. h. 3,144 nur noch eine deficiens memoria): Wilkes 1969, 193; 233; 237; 256 (zur Kolonisationsphase a. a. O. 2 – 12); Alföldy 2004, 214f.

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waren die neuen Herren durchaus zurückhaltend und besserten im Zuge ihrer Übernahme den Status von Königsstädten auch dann nicht auf, wenn sie einen besonders griechischen Charakter aufwiesen. Im Fall der Kyrenaika summierten sich (relativ) flächendeckende griechische Besiedlung der Pentapolis und ein regionales Sonderbewusstsein, die schlechte Anbindung zum ptolemaiischen Kernland sowie der dynastische Zufall, der zur politischen Eigenständigkeit geführt hatte, immerhin zu genügend Eigenheiten, um die Errichtung der Provinz Creta et Cyrene zu rechtfertigen. Zwischenfälle wie der jüdische Aufstand 115 – 117 n. Chr. und seine Zerstörungen sollten den Kaisern Gelegenheit geben, das griechische Element gezielt in den Vordergrund zu stellen. Im Fall der Dekapolis – die laut einer Hypothese immerhin geschlossen den Weg in den römischen Provinzverband Syriens antrat, um dort mehr von ihrem Charakter zu bewahren – war dieses Zusammengehörigkeitsgefühl weniger markant oder (gegenüber Rzbhzom) doch weniger erfolgreich. Gleichwohl rettete auch sie Teile ihres Sonderstatus in die römische Ordnung hinüber.44 Dagegen rückten die politischen Umstände den äußersten Osten und Nord­ osten ferner denn je. Der dauerhafte Gegensatz zum Partherreich belastete die Kontakte zu so bedeutenden griechischen Gemeinschaften wie Seleukeia am Tigris; weniger stark galt dies für hellenistische Gründungen oder nachträglich hellenisierte Städte (etwa Samosata) in den zahlreichen Klientelstaaten Roms. Im Fall des schon länger bestehenden Bosporanischen Reiches bewirkte vielleicht die Gewichtsverlagerung vom Handel mit dem europäischen Griechenland, voran Athen, auf die Kontakte zu Kleinasien und den skythischen Nachbarn eine Vergrößerung des Abstandes – insofern hatte sich das gut zwanzig­jährige Zwischenspiel der pontischen Herrschaft bis 63 v. Chr. unvermutet nachhaltig ausgewirkt.45 Noch stärker fiel der Schatten von Mithradates VI . auf Kleinasien selbst und auf dessen dichtes Netz reicher griechischer Siedlungen. Für die römische Expansion ins östliche Mittelmeer spielten die verbündeten Städte und die von ihnen gestellten auxilia eine bis heute unterschätzte Rolle, sobald es um die Behauptung der einmal unter Kontrolle gebrachten Regionen und ihres unmittelbaren Umfeldes ging – mit allen Folgen für Lokalstolz und bleibendes

44 Kyrenaika: Reynolds 1978. Dekapolis: So Wenning 1994; vgl. generell Bietenhard 1977. Zur kaiserzeitlichen Privilegienpolitik im Osten Guerber 2009. 45 Arsakiden- und Bosporanisches Reich: Millar 1993, 242 zum Forschungsdesiderat.

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Militärpotential. Im antirömisch-antiitalischen Massaker 88 v. Chr. wandten sich die Bewohner der Halbinsel fast ausnahmslos gegen die ‚Kolonialrömer‘ in ihrer Mitte. Der Schock der ‚Vesper von Ephesos‘ rührte an jahrzehntealte Reserven der siegreichen Republik, die Hand zur eroberten griechischen Welt auszustrecken – und die Konsequenzen sollten das römische Verhältnis zu allen Griechen betreffen.46 Materiell und sozial waren die Konsequenzen nach Sullas Strafgericht paradoxerweise eher günstig für manche Täter und ihre Nachkommen: eine Annäherung der ansässigen Oberschichten an die römische durch Heiraten, gemeinsame Feste und die Übernahme römischer Praktiken der gehobenen Alltagskultur, in der ihnen die wieder sesshaft werdenden Römer bereitwillig entgegenkamen. Der Erholung von Roms wichtigster Steuerquelle nutzte dies ebenso, wie es eine Wiederholung der Gewalterfahrung wirksam verhinderte und einen Keil zwischen Volk und Oligarchie trieb; schon hier machte sich zwischen lokalen und römischen Eliten aber (als Hypothek der Massaker und der römischen Racheakte) ein bleibendes Gefühl der Getrenntheit bemerkbar, das der wirklichen Verschmelzung beider Gruppen, so praktisch sie gewesen wäre, bleibend im Weg stand.47 Die Geschichte der griechischen Städte insgesamt – genauer, der meist um Städte zentriert entstandenen Personenverbände griechischer Bürger – während der Kaiserzeit entwickelte sich in all diesen Regionen, wie auch in Griechenland/Achaia, sehr weitgehend als Geschichte der Beziehungen zwischen Stadt und Kaiser. Privilegiert blieben sie im Ostteil des Reiches schon rein praktisch insofern, als die verschiedenen Spielarten der Polisverfassung niemals ernsthafte Konkurrenz durch römische Stadtrechtsformen erhielten; im Gegenteil fiel die kleine Zahl der Koloniededuktionen rasch hinter die der kaiserlichen Neugründungen griechisch verfasster Städte zurück. Für die Frage der griechischen Identität inner- wie außerhalb Griechenlands zentral wurde natürlich die Neudefinition der städtischen wie regionalen Zusammengehörigkeit in den miteinander verbundenen Ausdrucksformen: Feste und Feiern, 46 Völlig überzeugend vermutet Prag 2007, 86 für den Osten generell ein ähnliches Sicherheitsmodell wie im Fall Siziliens. Vgl. nur den Paradefall der rhodischen Flotte als Hauptsicherung gegen Piraterie und rivalisierende Seemächte (einführend Berthold 1984). Unschlüssigkeit Roms im Verhältnis zu den Griechen: Ferrary 1988. 47 Alcock 2007 mit dem Fazit: „Rather than reifying hatred in marble or concrete, eastern elites – together – moved away from the mob, but toward each other.“ (18; vgl. 16f. zu „a sense of cultural caution“ infolge der Massaker als bleibendem Hindernis.)

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Elitendarstellung in Bildern und Inschriften, Euergetismus der Oberschichten, ihrer personell-rechtlichen Anbindung an Rom und die reichsweite Elite sowie der Gegenwart des Kaisers durch kultische Verehrung und permanente Bezugnahme. Dieser Rahmen an inszeniertem Zusammenhalt mit Rom und untereinander (zugleich ein Rahmen aus importierten Kulturelementen) schloss nicht viel weniger als die Hälfte der Reichsbevölkerung ein. Was die ‚Griechen‘ unter ihnen ausmachte und definierte, war teils schon im Moment der römischen Eroberung ein trennender Faktor zwischen ‚Griechen‘ hier und ‚Griechen‘ dort, teils entwickelte es sich in der Folgezeit dazu. Letzte Feinjustierungen erfolgten erst im Laufe des Prinzipats; so kamen die Kykladen nicht lange vor der zweiten Hälfte des 2. Jh. n. Chr. zur Provinz Asia – wie neuerdings vorgeschlagen worden ist, durch Hadrian, der sie als den Ostprovinzen ‚näher‘ betrachtet habe.48

5. Einigende Besonderheiten Achaias: die strukturelle Geschlossenheit Bis die römische Zentralgewalt administrativ mit dem Problem des griechischen Kernlands fertig wurde – und das Resultat, die ‚von oben‘ verfügte erste griechische Einigung überhaupt, zum Fokus einer gesamtgriechischen Identität werden konnte –, vergingen nach der faktischen Unterwerfung 146 v. Chr. weit über 100 Jahre. Die fortgesetzte Expansion im Mittelmeerbecken ließ die Halbinsel bald so sehr in die Tiefen des römischen Machtbereichs geraten, dass ihre Lage hinter den hochmilitarisierten Außenprovinzen und an den Hauptverkehrsachsen potentiell der des italischen Kernlandes 48 Städtediplomatie: Grundgedanke von Millar 1993 (dort 239f. zu kaiserlichen Neugründungen; 246f.: eigentlich „communities“, nicht „cities“). Kernelemente des kaiserzeitlichen Städtelebens: a. a. O. 249; die graeco-römische Polis als „the primary form of identity for perhaps 30 million people“ (254). Ähnlich Woolf, 1994 (mit ergiebiger Literatur) zum griechisch-östlichen Beharrungsvermögen, was Sprachgebrauch, lokale Selbstverwaltung, kulturelles Selbstgefühl angeht, in Kombination mit neuen sozialen Praktiken: „competitive euergetism, civic and cultic monumentality and the enhancement of personal status and identity through the acquisition and display of expensive possessions. These institutions were common to west and east, but Greeks used them to remain Greek“ (117). Zur separierenden Wirkung umgekehrt Jones 2004, 20: „To be a Hellene in Egypt, to have passed the epicrisis and to share in the gymnastic culture of the elite, was different from being one of the Hellenes of Asia or Bithynia, who found political expression in their provincial council.“ Kykladen: Kantor 2009a.

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ähnelte. Mehr noch als unter den hellenistischen Herrschern wurde ihr Kurs von außen bestimmt; Griechenland blieb hochurbanisierte, hochkultivierte Peripherie. Angesichts seiner merklich geringeren Wirtschaftskraft kann man sich allerdings fragen, ob der Zustrom römischer negotiatores dort – aufs Ganze gesehen – je so spektakulär ausfiel wie in Kleinasien, ungeachtet beträchtlicher Ansammlungen etwa auf Delos oder in Gestalt römischer Kultur- und Bildungsmigranten in Athen. Römer außerhalb dieser wenigen Schwerpunkte oder der touristisch lockenden Zentren wie Sparta traf man üblicherweise auf der Durchreise. Auch nach dem Ende der Bürgerkriege kam es keineswegs dazu, dass sich – abseits der Kolonien in Korinth und Patrai – massenhaft Italiker ansiedelten. Sogar der Landkauf durch Senatoren oder die Aneignung durch den Kaiser selbst hielt sich in weitaus engeren Grenzen als anderswo – ein wesentliches Bindeglied zwischen Provinzen und Zentrum fiel damit unüblich schwach aus.49 Die Einwohner jenes Griechenlands, dessen Großteil zur Provinz Achaia formiert wurde (wohl 27 v. Chr., wobei Thessalien bei Macedonia verblieb), hatten nie solche Untaten an Römern verübt wie die Griechen Kleinasiens, waren aber tiefer und gründlicher in die Kriege der späten Republik gezogen worden: als Schlachtfeld des 1. Mithridatischen Krieges und Aufmarschzone Sullas zum italischen Bürgerkrieg von 83/82; als Schauplatz der Entscheidungen zwischen Caesarianern und Caesargegnern von 48 bis 42 v. Chr. ebenso wie im letzten Konflikt zwischen Octavian und Antonius bis 31. Obendrein hatten die Nöte Griechenlands weder mit Mithradates VI. noch mit dem Achaiischen Krieg angefangen. Knapp zwei Dutzend Städte und zwei Koina, die ozolischen Lokrer und die Eleutherolakones, waren von regelmäßigen Steuerzahlungen ausgenommen, während die Kriegsverlierer schon seit 146 tributpflichtig gewesen waren, wie es dem Rest spätestens mit der Provinzgründung erging. Zerstörungen, Raubbau an Menschen, kriegswichtigen Ressourcen und Finanzen hatten Achaia damit nachhaltig, unmittelbar und (direkte Kriegsschäden ausgenommen, die ungleich verteilt, doch dafür massiv waren) auf ganzer

49 Grundlegend Alcock 1989 und Cambridge 1993. Zwangseinigung und Kontingenz des geschaffenen Gebildes: Alcock 1993, 129 („The triumph of Rome led to the creation of Greece.“) vgl. 15f. Kein massiver Besitzerwechsel in römisch-italische Hand: Alcock 1989, 8; 1993, 72 – 77. Quantitative Studien, insbesondere vergleichende, zur Durchdringung von Hellas und Kleinasien (vgl. Kirbihler 2007) fehlen bislang.

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Fläche getroffen. Der Wiederaufstieg begann damit von einem tieferen Punkt aus als jenseits der Ägäis.50 Durch die geringere Leistungskraft der Poleis und Koina, einzeln wie aufs Ganze gesehen, war es außerdem eine Erholung, die von vornherein mühsam zu werden drohte. Unfreiwillig erschwert wurde sie durch einen tiefgreifenden Wandel in Erscheinungsbild und Verständnis der Städte seit augusteischer Zeit. Die Fülle an öffentlichen Bauten, die zu einer ‚ordentlichen‘, blühenden Stadt gehörten (und selbst in den prosperierenden Regionen Kleinasiens erst im späten 1. und besonders im 2. Jh. n. Chr. flächendeckend auftauchten), war schwer oder gar nicht bezahlbar für die dreistellige Zahl mittlerer und kleiner, freier oder tributpflichtiger Einzelpoleis und Bundesorganisationen, die sich in die kleinräumig zergliederten griechischen Landschaften teilten.51 Wenn sich in Bithynien das gutsituierte Byzantion offiziell an Plinius den Jüngeren wandte, um jährliche Kosten von 13.000 Sesterzen für Routinegesandtschaften an den Kaiser und den Statthalter des für den Schwarzmeerhandel wichtigen Moesien einzusparen, wird der Kostendruck für bloße Städtchen in Achaia deutlich, die in Korinth oder gar Rom einen Grenzstreit mit Nachbarn durchstehen mussten. Städtische Mittel versagten, finanzkräftige Euergeten nach dem neuen Modell ließen sich ebenfalls nicht ohne weiteres auftreiben – und konnten die Lokalpolitik, gerade weil sie so rar waren, einschneidender prägen, als das einer Mehrzahl um die Spitzenstellung wetteifernder Honoratiorenfamilien in einer reichen Stadt mit weitläufigem Umland möglich war. Auch wenn die in 50 Alcock 1993, 14: „the negative impact of warfare was both more localized and less long-lasting than is often accepted.“ Wobei die pax Romana bis 267 (a. a. O.) zu lang gerechnet ist: der Einfall der Kostoboken 170 n. Chr. (?) war zweifellos ähnlich traumatisch wie die Herulerinvasion (zum Zeitansatz Birley 1987, 164f., 168). Zu den verschiedenen finanziellen Niveaus der Privilegierung (civitates liberae (bzw. liberae et immunes/ foederatae) Bernhardt 1982. Kostendruck des neuen Standards urbaner Kultur: Alcock 1993, 145 – 151. 51 Besonders prägnant Millar 1993, 240: „[E]ven the Greek cities tended to exhibit a range of ‘Graeco-Roman’ features: theatres, usually of the ‘Roman’ type with a raised stage; temples on a raised podium, with frontal axis; occasional amphitheatres; and more often perhaps theatres adapted to accommodate gladiatorial shows or wild-beast hunts; baths and colonnaded streets“. Genuin römische Bautypen und -techniken werden sinnbildlich für die Stadt überhaupt: Spawforth 2012, 208 – 210. Positive Seite der kleinräumigen Gliederung (so Alcock 1993, 144f.) sei eine geringere Interventionswahrscheinlichkeit Roms. 207 – 232. Zu den Privilegierungsgraden nun ausführlich Guerber 2009.

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Korinth, Athen und Sparta ansässigen Magnaten ihre Förderung für kleinere Orte, an denen sie begütert waren, nicht einfach einstellten, verteilte sich der Segen sehr ungleich.52 Eine pragmatische Reaktion hätte in einer Verkleinerung der Einheiten nach bekanntem Muster bestanden: in Synoikismen, Beitritten zu Koina oder der Aufgabe der Eigenständigkeit. Dazu ist es in den wenigsten Fällen gekommen, und die dramatische Ausnahme – die Gründung von Nikopolis – stellt nicht zufällig einen Eingriff Roms dar. Hier war offensichtlich die Grenze des Hinnehmbaren erreicht, und auch eingebunden in die Abhängigkeiten der Provinzherrschaft oder des reduzierten Handlungsspielraums einer civitas libera ertrugen die Poleis lieber die Nöte einer prekären Eigenexistenz auf der Suche nach teurer Infrastruktur. Wie weit Rom eine ‚Flurbereinigung‘ der politischen Landschaft überhaupt wünschte oder erlaubt hätte, ist eine Frage für sich – einiges spricht gegen Effizienzerwägungen dieser Art. Zwar kam es im Lauf der Zeit zu einer Art ‚Städtesterben‘, das sich vom 2. Jh. an offenbar beschleunigte, aber weder Rom noch die Betroffenen scheinen die Eigenexistenz aufgegeben zu haben, ehe dies unvermeidlich wurde.53 Wirklich zerrissen oder umgestaltet wurden die gewachsenen Strukturen nur in wenigen Fällen. Die Neubesiedlung und territoriale Ausstattung von Korinth, das nach seiner Gründung durch Caesar bald zur mit Abstand größten Stadt Achaias von vielleicht 80.000 Einwohnern heranwuchs, hatte natürlich Folgen für das Umland. Noch massiver wirkte sich eine Generation später die Anlage der colonia von Patrai auf dem Gebiet des Achaiischen Bundes und des durch Synoikismos – von noch nicht geklärten Ausmaßen – entstan­denen Nikopolis auf aitolischem Gebiet aus; hierfür veränderten Zenturiationen,

52 Byzantion: Plin. ep. 10,43f.; Grenzkonflikt als Gewinnchance: Alcock 1993,152f.; für die dort erwähnte Möglichkeit von Konflikten um städtisches Ansehen gibt sie aus Achaia nicht zufällig keine Belege (dazu unten S. 264 – 67). Der Antrittsbesuch von Koroneia bei Antoninus Pius wurde genutzt, um eine Grenzentscheidung gegen Thisbe anzubahnen… die aber erst 140 fiel (IG VII 2870, i + iii = Oliver 1989, 263. 271 Nr. 115, dazu Millar 1992, 436), Euergesie durch Abwesende: Alcock 1993, 156f. 53 Keine Effizienzgesichtspunkte: Alcock 1993, 131; s. u. S. 284 – 87 (Formierte griechische Gesellschaft). Arten der Autonomieaufgabe: Alcock 1993, 153f. (die dort genannte Sympolitie wirkte kaum kostensparend). Swain 1996, 233f. möchte die Synoikismos-Pläne Dion Chrysostomos’ für seine Heimat Prusa (or. 45,13f.), immerhin nicht von vornherein als Phantasie betrachten.

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Kultverpflanzungen und die Aufgabe von Poleis die Landschaft und das Leben Tausender ihrer Einwohner tiefgreifend. Strafmaßnahmen gegen alte Feinde Roms (in mancher Hinsicht die aktivsten Elemente der politischen Szene Griechenlands) und der Zwang zur Intervention in besonders mitgenommenen Regionen gingen hier Hand in Hand – ein Politikstil des Augustus, der an sein Vorgehen als Triumvir in Italien erinnert.54 Das Bild des flachen Landes, der Chora, veränderte sich dennoch einschneidend. Die Arbeiten Susan Alcocks zur Landschaft Achaias nach der römischen Eroberung haben ein verblüffend einheitliches (und nicht unumstrittenes) Bild gezeichnet, was Flächennutzung und Siedlungsstruktur betrifft. In allen bis dahin durch Detailsurveys untersuchten Regionen beobachtete sie – mit teils beträchtlichen Schwankungen – eine Ausdünnung der ländlichen Fundorte kleinster Größe von der hellenistischen zur römischen Zeit, wenngleich diese quantitative Abnahme in Boiotien und der südlichen Argolis schon in der zweiten Hälfte des 3. Jh. v. Chr. eingesetzt hatte. Ziemlich sicher verbirgt sich dahinter teils das Verschwinden kleinen und kleinsten Landbesitzes, teils eine Bevölkerungskonzentration in den Städten und größeren Siedlungen. Das toposhafte Bild erzählender Quellen von entvölkerten Landstrichen hat kein Pendant in der Fundlage (und war nie als statistische Aussage gedacht), doch zumindest in Boiotien kam es zur Schrumpfung, teils sogar zum Verschwinden ganzer Städte. Zu rechnen ist auch mit Migration in die wenigen attraktiven Zentren (voran Korinth, Athen und Sparta) oder gleich nach Italien. Gesichert ist ein genereller Bevölkerungsrückgang gegenüber der vorrömischen Periode, der sich zum Teil durch den ökonomischen Druck auf die Einzelfamilie erklären ließe, ihre Kinderzahl geringer zu halten. Zwar gab, wer in die Städte oder stadtnahe Siedlungen ohne eigene Zentralfunktion auswich, nicht zwangsläufig sein Land auf, sondern vielleicht nur einen Sommerwohnsitz; er konnte als Ackerbürger die Patronage der städtischen Eliten suchen, von ihrem Euergetismus profitieren und zusätzliche Einkünfte durch Nebentätigkeiten (etwa im Baubereich) erzielen – insbesondere in Form von Bargeld, das auf dem Land so notorisch knapp war wie für Steuerzahlungen an die römische Obrigkeit 54 Neugründungen: Alcock 1993, 133 – 141 (Korinth: 158 – 160); Racheaspekt und Handlungsbedarf: 141 – 144. Noch Pausanias (6,12,8; 8,27,1; 8,33,1; 9,14,4) singt das Lob des ‚guten‘ Synoikismos Megalopolis zum Nachteil des neubelebten Korinth (5,1,2; 5,25,1) und des angeblich völlig gewaltsam entstandenen Nikopolis (5,23,3; 7,18,8f.; 10,38,4; Swain 1996, 353f. Zur Semantik von Paus. 8,27,1 jetzt Hutton 2009).

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unentbehrlich. Gleichwohl wurden Randlagen und schlechte Böden, soweit die Daten aussagekräftig sind, nicht länger oder doch extensiver als früher bewirtschaftet – und das Land präsentierte sich menschenleerer als früher. Hinter dem reichsweiten Trend zur Produktionssteigerung blieb es zurück.55 Eher kontinuierlich und an Größe wie an Qualität der Ausstattung zunehmend sind dagegen ländliche Siedlungsspuren mit auffällig wertvollem Inventar – Reichtum wurde nunmehr zur Schau gestellt, was früher unüblich gewesen war. Sehr wahrscheinlich vergrößerte sich im Zuge dieser Veränderungen der Grundbesitz der einzelnen Reichen spürbar, ohne dass die nicht-riesengroßen Landgüter einfach verschwanden und die einfache Landbevölkerung komplett entwurzelt wurde. Während die Konkurrenz des kleinen Kreises aus Großgrundbesitzern auf die Größe der Kleinbauern­ familien drückte, profitierte sie zugleich vom Bevölkerungsrückgang durch den Erwerb neuer Wirtschafts­flächen, ohne senatorische Mitbieter fürchten zu müssen. Wozu es in Griechenland überraschenderweise nicht kam, war 55 Zustandsübersicht nach Surveys: Alcock 1993, 37 – 48; ausführliche Grundsatzkritik am Modell: Rousset 2004 (zur Validität der Surveys und deren stark divergierender Periodisierung: 365 – 371), der angesichts der schmalen Quellenbasis ein „sentiment de surinterpretation“ gestand (371) und Alcocks Befund hauptsächlich als Modell gelten lassen wollte (v. a. 378f.). Zahl der Fundorte sinkt: Alcock 1989, 14f. Argolis: 1993, 40. 42; als Sondereffekt könnte Malaria die Fundleere rund um den KopaïsSee erklären (1993, 89 vgl. 38 Abb. 8 – 10; Rückgang von Thespiai, Verschwinden von Askra, H ­ aliartos, Siedlungen im Tal von Nemea: 97f. Böotien blieb dennoch dichter besiedelt als etwa der ager Veientanus: 54). Schwund der Kleinbesitzer, „rural nucleation”: 1989; 16 – 18; 1993, 58 – 63. Flächendeckender Wandel: 1989, 22f.; während das opuntische Lokris relativ verschont blieb (40), zeigt ganz Achaia „a considerable degree of rural abandonment“ (49) und verlor viele Höfe rund um Megalopolis noch im 1.-2. Jh. n. Chr. (44; 46) Ortswechsel, Auswanderung: 1993, 157 – 160. Wirtschaftschancen stadtsässiger Bauern: 1989, 32f.; 1993, 105 – 114 (stadtnahe Wohnsitze ohne eigene Funktion als Unterzentren: 102 – 105). Extensive Nutzung: 25f. (28f., vgl. 1993, 85 – 87 : strategisch für Großgrundbesitzer eher vertretbar). Entvölkerungsberichte als literarischer Index für schlechte Zeiten: Alcock 1993, 25 – 27; der Euboikos des Dion Chrysostomos mit seiner ländlich-idyllischen Motivik hat eine analoge Aussageabsicht (30). Zur herkömmlichen Sichtweise vgl. nur Cabanes 2001, der bei aller Quellenskepsis (318 f.) resümiert, es habe eine „katastrophale Lage“ geherrscht (319); nur langsam gebessert dank kaiserlicher Förderung der Landwirtschaft (320f.). Kein Rückgang als „demographic collapse“, aber unleugbare „population attrition“ (Alcock 1993, 89). Agrarproduktion steigt anderswo: Alcock 1993, 220 – 223.

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offenbar die Spezialisierung auf besonders lukrative Exportgüter; dagegen dürften die Reichen – aus finanziellen Motiven ebenso wie dem Prestigefaktor zuliebe – vermehrt auf Viehhaltung gesetzt haben. Der Tiefpunkt der demographischen wie ökonomischen Entwicklung war fast überall im 1. Jh. n. Chr. erreicht; Erholungszeichen zeigen sich während der folgenden beiden Jahrhunderte vor allem in Lakonien und auf der Halbinsel Methana (Argolis), ehe nach 300 vielerorts eine spürbare Prosperität eintrat. Das spätantike Griechenland sollte, auch dank einer regelrechten Flucht aufs Land, wieder einen freundlicheren Anblick bieten.56 Die Situation auf dem griechischen Festland war damit ebenso flächendeckend wie charakteristisch – Ökonomie und Bevölkerung in anderen römischen Provinzen schlugen ganz andere Wege ein. Was hieß diese Siedlungsstruktur für die Bezugspunkte der sozialen und kulturellen Identität? Mit der Schwächung der dörflich-ländlichen Ebene dürften wir eine steigende Identifikation mit dem stärker denn je dominierenden städtischen Zentrum (dem Asty, je nachdem mit dem Poliszentrum identisch) einerseits, der Familie andererseits erwarten. Der Zuzug und die vermehrte Konkurrenz um städtische Vorteile konnten außer sozialer Unruhe allerdings Fremdheitsgefühle und Ängste vor einer ‚Verwässerung‘ der Identität als Städter aufkommen lassen: Bei gleicher oder sinkender Gesamtzahl der regionalen Einwohnerschaft wurden die Städte voller, der Wohnraum teurer. Immerhin waren die Zuziehenden von Märkten und Festen her bekannte Gesichter; das Geld, das sie in Umlauf brachten, konzentrierte Vermögen in der Stadt – aber die Gemeinde insgesamt wurde nicht reicher davon (falls sie keine ausgesprochen große Stadt war), geschweige denn ihre unteren und mittleren Bevölkerungsschichten. Zufällig überliefert ist der Verweis auf eine lange Serie kaiserlicher Entscheidungen zu Findelkindern (threptoi)

56 Große Anwesen: Alcock 1989, 18 – 22; 1993, 63 – 71; eine numerische Zunahme von „villas“ im weitesten Sinn ist nicht gesichert, sehr wohl dagegen „a new rank of élite expenditure and dominance in the countryside.“ (1989, 22), wobei steigender demonstrativer Konsum nicht unbedingt mehr Vermögen anzeigt (1993, 77). Druck der großen Güter: 1989, 30f. vgl. 1993, 90f.; kein Verschwinden des Kleinbesitzes, aber „a shift upwards in average estate sizes“ (1989, 32, Hervorhebung im Original). Keine intensive Spezialproduktion: 1989, 23f.; 1993, 80 – 85; Weidewirtschaft (archäologisch noch undokumentiert): 1993, 87f. Spätantiker Aufschwung und Vorläufer: Alcock 1993, 48f. (Methana: 42f.); Rolle des Steuerdrucks: 219f.

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in Achaia und dessen Städten, die Plinius der Jüngere für Fälle in Bithynien nutzen wollte; immerhin denkbar wäre, dass es hier zu vermehrten Aussetzungen – als Geburtenkontrolle – kam und deshalb zu einem besonders großen Konvolut obrigkeitlicher Entscheidungen.57 Ein weiterer Faktor bestand in der tendenziell stärkeren Bindung eines Zugezogenen, landlos oder nicht, an seinen Patron – je nach Sichtweise des Betroffenen interpretierbar als Schwächung oder Aufwertung der eigenen Person im Sozialgefüge. Das Leben als Bürgergemeinde wiederum vollzog sich – politisch vertreten, artikuliert und definiert – nie ohne die Schicht der Wohlhabenden und bald überhaupt nur noch durch deren kleinen Personenkreis. Seinerseits war der Patron durch gestreuten Landbesitz häufig in mehreren Regionen zugleich oder gar in anderen Gebieten des Imperiums präsent … mit allen Folgen, die das für die Identifikation mit dem ‚Stammsitz‘ und dessen Interessen haben konnte. Das kaiserzeitliche Griechenland hatte eine sozial recht dynamische Gesellschaft, aber die Dynamik äußerte sich besonders als Umverteilung an die schon Aufgestiegenen.58

57 Alcock 1989, 34, mit besonderem Verweis auf Kreta: „In the fundamental areas of land tenure and land use, Achaia can now be perceived as quite unlike other parts of the Greek east, let alone provinces further afield.“ Dominanz des asty über Um- und Hinterland, Landleben für die Masse unattraktiver: Alcock 1993, 93f.; 117f. Wohlstandskonzentration in den Zentren und bei ihren Eliten: 115 – 117. Aussetzungen: Plin. ep. 10,65,3 nennt 1. einen Brief des Augustus betreffend Andania in Messenien, 2. Vespasians Brief an Sparta, 4. einen des Titus an Sparta und Achaia, 5. einen Domitians an den procos. Achaiae Avidius Nigrinus (PIR² A 1407) und den Proconsul (auch von Achaia? So Millar ²1992, 323 Anm. 63) Armenius Brochus (PIR² A 1057; Birley 2000, 38). Zur Dokumentationsfrage Kantor 2009, 260 – 262. 58 Schlüsselrolle der Reichen: vgl. Alcock 1993, 79: „increasing social stratification and growing economic polarization within provincial society“. Diversifikation: neben den lakonischen Voluseni und Eurykliden in Arkadien oder dem Korinther L. Licinius Anteros auf der Halbinsel Methana (SEG 51 (2001), 430) dominiert hier natürlich Herodes Atticus mit Land an mindestens acht Orten in Achaia, dazu in Ägypten und Italien (Alcock 1993, 78 mit Anm. 63). Sozialdynamik: 1993, 216; 223f.

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6. Stadt und Polis in Achaia unter kaiserzeitlichen Bedingungen Was genau die Identität einer Stadt ausmacht, ist in der Praxis nicht leicht zu entscheiden.59 Als beinahe so wichtig wie die Tatsache, „daß die Konstruktion einer kollektiven Identität ein dynamischer Prozeß ist“, bezeichnete Angelos Chaniotis in einer kleinasiatischen Fallstudie die Charakteristika „Kon­ kurrenzgeist und Wettstreit“ – mehr denn je gelte dies für die griechischen Poleis in Hellenismus und Prinzipat, „Perioden der Nivellierung politischer, gesellschaftlicher und kultureller Partikularitäten“.60 Die Pflege und (je nachdem) Neuentwicklung des Einmaligen, Unverwechselbaren – und die Wahl der richtigen, der gut kommunizierbaren ‚Alleinstellungsmerkmale‘ – waren existen­tiell. Für die Untertanen besiegter Reiche schlug die Stunde der Rückbesinnung auf ihr engeres Umfeld, als von Rom aus neue Provinz- und Gebietsgrenzen gezogen wurden; für Griechenland, nach wie vor ein politisches Mosaik, klang der Weckruf deutlich schärfer.61 Nicht allen politischen Eliten Griechenlands war so schnell aufgegangen, wie stark ihr eigenes Überleben, aber auch das ihrer Städte am Wohlverhalten gegenüber Rom hing. Die hohe Zahl bildungshungriger Römer, die im nachsullanischen Athen auf Monate oder Jahre, wenn nicht gar (wie Pomponius Atticus) dauerhaft ihren Lebensmittelpunkt wählten, steht sicher im Zusammenhang mit dem oligarchischen Regime, das Sulla errichtet hatte, und mehr noch seinen Trägern, die sich auf Dauer für Rom und gegen die Mehrheit der Einwohner entschieden – ohne der Parteinahme in künftigen Bürgerkriegen damit zu entgehen.

59 Ein Beispiel: Schon in hellenistischer Zeit gehört es zum guten Ton, einen stadtansässigen Philosophen zu haben (Haake 2007, v. a. 271 – 285). 60 „daß die…“: Chaniotis 2003, 84. „Konkurrenzgeist…“: 72; „Perioden…“: 73. Weitere Fallbeispiele aus Milet und Stratonikeia: Chaniotis 2004. Zur Schlüsselrolle der Gemeinsamkeits- und Differenzmerkmale bei der Konstruktion von Identitäten vgl. grundlegend Gehrke 2010. 61 Förderung des Lokalbezuges durch Auflösung politischer Großgebilde und Zerreißen ethnisch-geographischer Zusammenhänge: Ando 2010, v. a. 33 zu Strab. 13,4,12). Mit kuriosen Folgen: „The high Roman empire thus represents an extraordinary moment in the history of governmentality, in which a kaleidoscopic potential for identity formation was realised and yet conduced a singular and peculiarly Roman social order.“ (20f.) Zum Phänomen insgesamt Nörr 1969.

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Die ausgesprochen langlebigen Aristokratenfamilien, die sich in den wenigen großen Zentren Achaias die Macht teilten, konnten dank ihrer überschaubaren Zahl zeitweilig zu regelrechten Dynasten aufsteigen und sich weit von örtlichen Rivalen wie auch den Lokaleliten kleinerer Städte absetzen – und auch das unterscheidet die Provinz von den Verhältnissen Kleinasiens. Im der Nachbarprovinz Macedonia gab es ebenfalls weder eine vergleichbare Abschließung einer Führungsschicht noch Ansätze zur Monopolisierung der Führungspositionen in den Metropolen Philippi, Beroia oder Thessalonike. Besonders markant ist das Beispiel der Eurykliden von Sparta, die erst 136/37 ausstarben, oder der ihnen verbundenen – und einer stärkeren Konkurrenz ausgesetzten – Familie des Herodes Atticus. ‚Konkurrenz‘ hieß dabei, dass die Claudii aus Marathon sich die wichtigsten städtischen Ämter in Athen mit drei anderen Familien teilen mussten.62 Im Fall der Eurykliden bestand bis in neronische Zeit geradezu eine ‚Belehnung‘ mit der Herrschaft über Sparta in Form einer Prokuratur, bis sie nach dem Bürgerkrieg 68/69 n. Chr. wieder auf eine Stufe mit den übrigen führenden Familien zurückfielen. An ihrer weit über Sparta hinaus fühlbaren Präsenz änderte das materiell wohl wenig. Ihr letzter Vertreter, C. Iulius Eurycles Herculanus, stieg unter Hadrian zum Statthalter in dessen Heimatprovinz Baetica auf und führte zuvor (unter bewusstem Eingehen auf die lakedaimonische Vergangenheit) eine Legion.63 Solche Persönlichkeiten waren in ihren Heimatstädten unersetzlich (und unentrinnbar); überregional sah es aber kaum anders aus. Zumindest in zahlreichen anderen Provinzen achteten die Kaiser einigermaßen darauf, keine 62 Elitenkonzentration: Alcock 1993, 155f. Macedonia: Bartels 2008, 159 – 176; 198 – 200. Herodes: Ameling 1983; Rivalen (die Claudii aus Melite, die Flavii aus Paiania und die Aelii aus Phaleron) und Funktionen: Cabanes 2001, 329. Siehe jetzt Kuhn 2012 zur Konkurrenz mit den Quintilii um lokale Vorrangstellung in den ‚Erbhöfen‘ beider Familien und um den Einfluss auf Reichsebene. 63 Zum Stammbaum der Eurykliden Spawforth 1978, 260: „Never before had so many of the Eastern Mediterranean’s major local and regional potentates been meshed together in this way.“ Bowersock 1961) zum Gründer (PIR² I 301); wahrscheinlich mit Landbesitz nahe Megalopolis seit Anfang des 1. Jh. n. Chr.: Spawforth 1978, 253. Herculanus: PIR² I 302; Spawforth 1978, 252; 255f. Statthalter: Perea 2005. Zu beiden Familien und Hadrians Personalpolitik Birley 1997. Etwas verzeichnet Cabanes 2001, 330, „die spartanische Bürgerschaft“ habe sich gegen die „faktische[] Tyrannis“ gewehrt; Spitze und Hauptinteressentin dieser Opposition, kaum aus reinem Patriotismus, ist die Brasidas-Dynastie.

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Kumulation von Stadtbürgerrechten und Ratsstimmen aufkommen zu lassen; in Achaia aber war es jetzt kein Problem mehr, sich an mehreren Orten zugleich mit beachtlichem Grundbesitz zu versehen und damit eine der wichtigsten Bedingungen für einen Platz unter den Bouleuten zu schaffen. Im Gegenteil mussten die Einwohner dankbar sein, sich von auswärtigen Euergeten aus den wenigen Provinzzentren fördern zu lassen, die ihr Gesicht nur zu besonderen Anlässen zeigten. Andere Maßnahmen und bautechnische Entwicklungen, die von Rom ausgingen oder gefördert wurden, trugen mindestens nicht bei, das städtische Eigenbewusstsein zu schärfen. Während das Straßennetz sich merklich verbesserte und seit Traian stark ausgebaut wurde, griffen die vielen neuen Aquädukte, die gerade den Boom öffentlicher Bauten im 2. Jh. mitprägten, rücksichtslos über die Polisgrenzen hinweg, die man gerade im Hellenismus besonders eifersüchtig markiert und mehr denn je auch rituell besetzt hatte. Dieses Verfahren hatte seine eigene Symbolik: „boundaries – however well-marked and internally defended – on one level had become illusory, easily overridden by outside authority“.64 Zwiespältig war die Bilanz, was die religiöse Seite der lokalen und regionalen Identitäten anging. Bis unter Augustus kam es zur Verpflanzung von Kulten (etwa nach Nikopolis), während Kultbilder aus unterschiedlichsten Motiven innerhalb Griechenlands oder nach Italien verschleppt wurden: als Kriegsbeute, Sammelobjekt oder Belohnung für treue Verbündete. Neben dieser Zerstörung religiöser Bezugsgrößen, die durchaus als gezielte Strafmaßnahme und Demonstration der Machtverhältnisse erscheint, stand in scheinbarem Widerspruch schon früh die demonstrative Pflege der Kulttradition. Eine wahrhaft augusteische Restaurationswelle in attischen Heiligtümern an mindestens 52 Orten wirkt wie ein Echo auf die Besetzung der römischen Sakrallandschaft durch den Princeps; zeitgleich verpflanzte man klassische Tempelarchitektur auf die Athener Agora – pietätvoll und zerstörerisch zugleich sah sie sich zum sakralen Zentrum uminterpretiert. Auf dem Land überlebten – besonders, wo sich prominente Gönner der Heiligtümer fanden – auch und gerade jene Kulte, die mit der Markierung der Polisterritorien verknüpft waren, oft sogar dort, wo die zugehörige Stadt verlassen war; hohes Alter wirkte hier als

64 Straßen: Alcock 1993, 121; Aquädukte: 124 – 126 (stark relativiert durch Rousset 2004, 375f.). „boundaries…“: a. a. O.  126 – 128.

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besonderer Magnet für Spenden und Stiftungen. Susan Alcock machte auf den wichtigen Umstand aufmerksam, dass die religiöse Sphäre es weiterhin erlaubte, das Territorium als geschlossen und unverletzlich zu inszenieren, so sehr es in politischen Fragen nun den römischen Herrschaftsakten offenstand. Eine unverändert produktive – und auch in Griechenland belegte – Form der Traditionspflege waren schließlich Gedenktage, die mit religiösen Festen assoziiert und inhaltlich wie im Ablauf den mythisch fundierten Feiern angeglichen waren – je nachdem veritable „Kampfmittel im natürlichen Widerstand gegen die Uniformität und die totale Assimilation“.65 Interventionsfrei blieb die religiöse Sphäre natürlich gerade nicht. Die Welle von Umwidmungen älterer Statuen und Denkmäler auf die Kaiser und ihre Familien war ebenso nachhaltig wie die Präsenz des Princeps in neugesetzten Ehren- und Votivstatuen auf Plätzen und in alten Heiligtümern – flankiert von Gesten kaiserlicher liberalitas zugunsten alter (und jetzt oftmals neu gedeuteter) Kultorte. Der eigentliche Kaiserkult okkupierte bedeutende Räume in den großen Städten, wo sich auch seine wichtigsten Feste abspielten; die – wohl eher symbolisch denn als reale urbane Erweiterung – neu angelegte ‚Hadriansstadt‘ von Athen war der Gipfel dieser Entwicklung, so wie der Antinooskult sich im letzten Herrschaftsjahrzehnt Hadrians als eine Art Seitentrieb der Kaiserverehrung darstellte, zumindest was die implizite Loyalitätsgeste anging. Für den Kaiser oder unter Bezug auf ihn, auch wo sie sich selbst Denkmäler setzten, bauten gerade die achaiischen Magnaten. Wer zu ihnen aufblickte – wie zu tun er sich gedrängt sah, besonders wenn sich Festprozessionen nach S­ tatusgruppen formierten oder das Publikum sich um die Ehrenplätze scharte –, bekam ihre

65 Eingriffe in die Kulte treffen „an essential part of civic self-definition“: Alcock 1993, 178; Demütigung und „symbolic violence“, die Zwietracht stiften soll: 179f. Restaurationen (IG II² 1035; letztes Jahrzehnt v. Chr.?) und Tempelversetzungen auf die Agora: Alcock 1993, 191 – 196. Fortdauer ländlicher Kulte: 1993, 202 – 210; Rolle von Gönnern: 210 – 212, Altersvorteil dank „rampant archaism of Greek life under the empire“ (201). Kult als Feld städtischer Selbstbehauptung: 214. Gedenkfeiern: Chaniotis 1991; Zitat 142. Analog beschrieb Elsner 1992, 5 den Autor als „a guide to the formation of Greek religious identity as a form of resistance to the realities of Roman rule.“ Gegen die Interpretation als Widerstand oder Beharrungskraft Rousset 2004, 377 mangels entsprechender Quellenäußerungen. Zum hohen Stellenwert der Kulte im Wertekanon von Euergeteninschriften der Argolis und Lakoniens in römischer Zeit ausführlich Lafond 2006.

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enge Verbindung zur Mitte des Reiches, also auch ihre Rolle als Träger delegierter Macht, mit vor Augen gestellt.66 Ähnliches geschah mit der Münzprägung. Das Fortbestehen hunderter Prägestätten der Städte und Koina im Osten ist schon an sich ein Phänomen, bedenkt man das Auslaufen aller übrigen Lokalprägungen (Spanien, Afrika) schon unter den frühen Julio-Claudiern – stattdessen wuchs die Zahl der prägenden griechischen Poleis weiter an und brachte eine Vielfalt von Bildtypen und Themen hervor, unter denen historische wie (vom ausgehenden 1. Jh. an) mythische Stadtvergangenheit voranstanden. Auf wen dieser Spielraum zur Selbstentfaltung zurückging, war allerdings ebenso deutlich: nur Chios, Tyrus und – eine besonders interessante Ausnahme – Athen ließen Namen und Bild des Kaisers auf ihren Münzen systematisch weg, die übrigen Städte beschränkten ihr eigenes Programm auf die Rückseite. Was sich dort an Innovationen fand, verbreitete sich vom prosperierenden Westen Kleinasiens aus, nicht etwa aus Achaia.67 Auch eine ‚Außenpolitik‘ der Städte, ob frei oder tributpflichtig, gab es bekanntlich – und sie wurde zur schweren Last. Wenn Tiberius einer Bittgesandtschaft des durch ein Erdbeben zerstörten Aigion am Golf von Korinth entsprach und im Senat eine fünfjährige Steuerfreiheit erwirkte, fielen für Aigion zunächst einmal die Reisekosten der Delegation an. Wohl eher, weil der Fall so pittoresk war, erwähnt Strabon einen Fischer aus Gyaros, der sich im Namen der Insel rudernd auf den Weg zu Octavian machte; so billig kamen Bittsteller sonst nicht weg. Delphi, das schließlich nicht irgendein Ort war, hatte hohe Privilegien zu verlieren (und gegen den Zugriff der Amphiktyonie zu verteidigen); der Inschriftendichte zufolge, die sich auf dem Niveau der kaiserlichen

66 Umwidmungen: Alcock 1993, 196 – 98; Kaiserikonographie und -ehrung in der Fläche: 181 – 86; zum Kaiserkult eingehend Kantiréa 2007. Kaiserliche Spenden als Faktoren kultisch-identitärer Neugestaltung im 2. Jh.: Galli 2008. Hadriansstadt, Antinoos: Alcock 1993, 184. 186 – 189; Bauten der Elite: 189 – 191. Ziel der hadrianischen Bauten: „to signal the cultural exceptionality of Athens in the view of the imperial state“ (Spawforth 2012,48). Selbstwahrnehmung der Polis und ihrer Sozialstruktur im Fest: beispielhaft van Nijf 2001, 331 – 333; Stephan 2002, 115 – 140. 67 Städteprägungen: Millar 1993, 243; jetzt ausführlich Weiß 2004 mit instruktiver Literaturauswahl. Der Spitzenwert lag bei über 360 Städten unter Septimius Severus (Millar a. a. O., ohne Kaiserbild: RPC I 1, 41). Kaiserbezug, Asia und Bithynien als ‚Trendsetter‘: Weiß 2004, 181f.; Aufschwung der Gründungsmythen: a. a. O. 186 – 196.

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Korrespondenzen mit Athen selbst bewegt, gab es im diplomatischen Kampf gegen den Bedeutungsverlust kaum Atempausen.68 Das alles half wenig, falls aus kaiserlicher Sicht Handeln geboten war – und bei solchen Interventionen, so gut sie gemeint waren, erwiesen sich die lokalen Restbestände an Autonomie als porös. Wenn Marc Aurel den Zugang zum Rat der 500 und zum Areopag wieder strikt auf Personen mit freigeborenen Vorfahren einengte und darauf verwies, es sei hier zu Missbräuchen gekommen, oder wenn gar Augustus die so oft von ihm gegängelten Athener 21 v. Chr. am „Verkauf “ ihres Bürgerrechts hinderte (also schlicht an dessen Verleihung in der Hoffnung auf unmittelbare Gegenleistungen), dann beanspruchte der Kaiser, besser zu wissen, was ein Athener war und sein sollte, als die Athener selbst, die damit ‚vor sich selbst in Schutz genommen wurden‘ und nicht das letzte Wort über ihr Selbstverständnis als Bürger behielten. Noch dazu vollzog sich diese Maßnahme, ganz im Stil der römischen Censur gedacht, aus der Sicht der ‚Geschützten‘ als monarchischer Akt. Der verbleibende Abstand der freien Athener zu einer unfreien Stadt wie Alexandreia, deren Bürgerrecht der Kaiser schlicht verschenkte, war in dieser Hinsicht prekär. Andere Bedrohungen konnten aus dem Kreis der Einwohner selbst erwachsen: auch in autonomen Poleis stand Bürgern wie Nichtbürgern vielfach der Gang zum Statthalter oder gar zum Kaiser frei, wenn sie Nachteile von der Lokalgerichtsbarkeit befürchteten – je angesehener und reicher sie waren, desto eher. Den römischen Obrigkeiten wurde einiges an Selbstbeschränkung und rechtlichen Vorkehrungen abverlangt, diesen Rechtsweg nicht zu leicht begehbar zu machen.69 68 Aigion: Tac. ann. 4,13,1. 11: Gyaros 29 v. Chr.: Strab. 10,5,3 p. 485 (Bitte um Steueraussetzung). Delphi (und Athen): einführend Millar ²1992, 449 – 451. Neben ‚Pflichtterminen‘ (Antrittsbesuch bei Hadrian; dessen Antwort 118: Fouilles de Delphes 3.4 (1970), 301 = Oliver 1989, 156 – 159 Nr. 62) stand die Notwendigkeit, außer der Reihe seine Loyalität zu bekunden, so bei Septimius Severus nach dem Sieg über Pescennius Niger (Antwort von 197 und Bestätigung der Privilegien: FdD 3.4 (1970), 329 = Oliver 1989, 434 – 436 Nr. 215). Amphiktyonen: etwa SIG ³ 821, Brief des procos. Achaiae nach erfolgreicher Einschaltung Traians durch Delphi (vgl. das Fragment FdD 3.4 (1970), 287 = Oliver 1989, 132 – 135 Nr. 44 (vgl. 135f. Nr. 45), in dem Traian zusätzlich auch den zuständigen Procurator instruiert). 69 Marc Aurel: Oliver 1989, 366 – 388 Nr. 184 von 174/75; anknüpfend an ein Brieffragment von 165 (Oliver 1989, 355 – 357 Nr. 173). Augustus: Cass. Dio 54, 7,2, bezeichnenderweise im Kontext von Belohnungen und Strafmaßnahmen; Spawforth 2012, 81 mit Lit. Grundlegend zum Gerichtswesen in Achaia unf Asia jetzt Fournier 2010; Fallbeispiele zur

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7. Neue Wege, griechisch zu sein? Konzepte und Personen der Oberschicht Seit der Zeit Caesars und der Triumvirn sind auf dem griechischen Festland führende Bürger aus der reichsten Gesellschaftsschicht anzutreffen, die sys­ tematisch das römische Bürgerrecht erwerben und sich in eine Vermittlerrolle zwischen Bevölkerung und imperialer Macht begeben; die oft beschriebene Enthaltsamkeit der griechischen Elite bis weit ins 1. Jh. n. Chr. sollte also relativiert werden. Kritische Töne gegenüber diesem Verhalten fehlen allerdings nicht. Von einem Ansturm auf Senatssitze und Ritterämter kann in Achaia noch um das Jahr 100 nicht die Rede sein; die relative Armut des europäischen Griechenlands begünstigte vielleicht seine Herausstellung als das eigentliche Hellas, nicht aber das Heranwachsen eines kopfstarken Anteils an den ­Reichseliten. Eine anderswo wichtige Vermittlerfunktion der Oberschichten war im Fall Achaias nicht ganz so offensichtlich, die kulturelle – die soziale Elite lebte hier nicht etwa Tür an Tür mit einer Bevölkerungsmehrheit ‚barbarischer‘ Herkunft, sondern war, wenn überhaupt, lediglich durch ihren Bildungshintergrund ‚griechischer‘ als die anderen. Gleichzeitig war sie römischen Denk- und Verhaltensmustern – bewusst übernommen oder nicht – ungleich stärker ausgesetzt als einfache Griechen; das brachte ihr die Vorteile wie die Spannungen einer zweifachen Möglichkeit zur Selbstbeschreibung.70

Kompetenzverteilung zwischen Polis und Statthalter/ Kaiser, oft zugunsten der Städte: Harter-Uibopuu 2012, v. a. 67; 71 – 73. 70 Anfang der ‚willigen‘ Aristokratie: Ferrary 2001. Spawforth 2012, 42f. zählt zehn „provincial grandees“ und geht von einer hohen Dunkelziffer aus. Tugend der Armut: a. a. O. 229f.; um 100 gab es außer Senatorenfamilien aus Athen, Sparta, Messene, Thespiai noch Ritterfamilien in Delphi, Epidauros, Argos. (47f.; hinzu kamen Einwohner der Kolonien Korinth und Patrai). Elite: „Roman political identity“, soweit sie sich auf neue Karrieremuster aus Rom einlassen und Interessengleich mit Rom nutzen, aber kollidierende „loyalty to the ideal of Greece“ (Swain 1996, 70f.). die griechischen Eliten im Osten „in many ways the most Romanized“ und „the most Greek“: Preston 2001, 91. Unmut verrät sich etwa bei Artemidor, der den Erwerb des römischen Bürgerrechts als Enthauptung visualisiert: Bowersock 2004, 57 – 59, v. a. zu Artemid. 1,35 u. a. mit dem Fazit: „Overall Artemidorus’ perspective on Rome and the Romans could not be farther removed from the upwardly mobile society of elites and sophists […] We can only infer that Artemidorus stood outside their milieu and disapproved of it.” (58f.) Eine Strukturanalyse der konkreten sozialen Pendants zu unserem Begriffsfeld ‚Elite/ Oberschicht(en)’ für Achaia nach dem Vorbild von Bartels 2008 – gestützt auf

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So demonstrierten die griechischen Oberschichten vor ihren römischen Standesgenossen (und Statthaltern) ihren kulturellen Sonderstatus, vor den einfachen griechischen Mitbürgern ihre geistige Überlegenheit, unter sich die Selbstgewissheit, ihren Status zu Recht innezuhaben – um dessen Wahrung es bei all diesen Auftritten natürlich ging. Wie flüssig oder abrupt die Wechsel in der Selbstdarstellung erfolgten, ist eines der interessantesten Probleme überhaupt – kippte ein sozialer Schalter vom „Greek mode“ (samt Vergangenheitsstolz und betont ornamentaler Sprechweise) in einen „Roman mode“ (mit Bekundungen der Imperiumstreue und guten Worten für die römische Herrschaft) und zurück? Oder verfügten zumindest die prominentesten Vertreter Griechenlands über ein hellenisches Standbein und ein römisches Spielbein, beide stets präsent und bei Bedarf zum Rollentausch verfügbar? Die so emphatisch auftretenden Sophisten des 2. Jh. n. Chr. lebten dermaßen tief in einer römischen Welt (und halfen selbst mit, sie noch römischer zu machen), dass sie ihre griechischen Charakterzüge herauskehren, nicht aber verabsolutieren und die römischen höchstens verleugnen konnten.71 Unter einem Aspekt zumindest war die Hellenität der Eliten von Achaia kein großer Erfolg. Plutarch als Schriftsteller und Philosoph, Herodes Atticus als Redner stehen etwas allein da; nach 250 n. Chr. werden qualitätvolle hellenische Literaturzeugnisse aus Hellas überhaupt selten. Dekadenztheorien sind sicher unangebracht; zu kurz greift aber die Erklärung, es habe – auch dank kaiserlicher Förderung – zu viele verlockende Ämter oder Chancen zum Euergetismus gegeben, um noch mit mühsamem Bücherschreiben Prestige zu suchen.72 In der Provinz Asia waren solche öffentlichen Positionen kaum die a. a. O. 15 – 94 erarbeiteten literarischen Selbstdeutungen im hellenistischen Osten – bleibt vorläufig ein Desiderat. 71 Variationen eines „image that would justify their rank and influence“: Hinds/ Schmitz 2007, 9; vgl. 11 für die Idee des ‚Umschaltens‘. Zur parallelen Gegenwart beider Elemente vgl. Krasser 2007, 43f. mit Verweis auf das bilingual beschriftete und bebilderte Grabmal des Philopappos (OGIS 409 – 413); Gleason 2010, 161 sieht Herodes Atticus als Bauherrn in einem fortlaufenden Verständigungsprozeß mit sich selbst, „in a form of meditation about his bicultural marriage and, ultimately, about his own bicultural identity.” Vgl. auch Woolf 1996, 125f.: „The increasing insistence of the writers of the Second Sophistic that Greeks were special, and hence deserving of privileged treatment, masked and responded to their progressive incorporation into a world that was increasingly an artefact of Roman power.“ 72 Rückgang der Literatur: Swain 1996, 4f.; Motive: Spawforth 2012, 270.

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dünner gesät, bei völlig vergleichbarem Bildungsstand. Ein Teil der Antwort liegt wohl in der spezifischen Struktur der griechischen Führungsschicht, mit stark konzentriertem Vermögen (Herodes Atticus war zweifellos um einiges reicher als Polemon und Aelius Aristides, beide keine armen Leute, und nahm mit Hilfe seines Vaters als corrector Hadrians in Alexandreia Troas ganz beiläufig den Euergetismuswettbewerb mit den dort führenden Quintilii auf), aber auffällig kleinem Gesamtumfang und hoher Zentralisierung auf ganz wenige Orte. Für den Kreis der πεπαιδευμένοι insgesamt darf man Ähnliches annehmen. Dümmer oder träger waren die Griechen nicht, es gab – im Durchschnitt pro Stadt wie in absoluten Zahlen – nur zu wenige, die in den passenden Verhältnissen lebten, um ihr Land kulturell zu bereichern.73 Was Festlandseliten und die übrige hellenische Welt möglicherweise außerdem unterschied, war (dem ersten Eindruck nach) Art und Ausmaß der Präsenz von Frauen im öffentlichen Raum. Regionale Unterschiede im ‚Stil‘ ihres Auftretens zu erarbeiten – mit allen Konsequenzen, die das für die soziale Rolle der weiblichen Elitenmitglieder haben mag – wäre ein Thema für sich; zumindest neugierig macht der Befund für die Kykladen, wo Stifterinnen in der Kaiserzeit nicht mehr in eigenem Namen auftreten und durchweg an männliche Familienangehörige ‚angebunden‘ erscheinen. Die teils sehr selbstbewussten epigraphischen Auftritte von Frauen, die wir aus Kleinasien kennen, suggerieren solche programmatische Zurücknahme weitaus weniger.74 Eine weitere Hypothek für die Städte Griechenlands mag in den erwähnten überregionalen Kontakten ihrer Eliten gelegen haben – ein Novum, das sie ganz anders mit Beschlag belegte, als es ein hellenistischer Herrscher gekonnt hätte. Ganz neue Sorgen erwuchsen zum einen aus der Frage nach der Vereinbarkeit von römischem und lokalem Bürgerrecht, die Augustus allerdings zügig zugunsten einer Kumulation entschied – um diesen wichtigen Transmissionsriemen seiner Herrschaft nicht zu zerreißen –, zum anderen aus dem Zuordnungsproblem, welche Bürgerpflichten galten, wenn Herkunfts- und Wohnort nicht zusammenfielen. Vorwiegend betraf das natürlich die regional mobile,

73 Herodes als auswärtiger Euerget: Kuhn 2012, 424 – 426. 74 Grundlegend van Bremen 1986. ‚Wertewandel‘: Stavrianopoulou 2006, 199 – 257; Resümee 326 – 328.

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in mehreren Städten außerhalb ihrer origo begüterte und mit Verwandtschaft gesegnete Oberschicht.75 Dion Chrysostomos und Plutarch beschwerten sich über ein sinkendes Interesse der Großen an ‚ihren‘ Städten: gerade die Besten ziehe es in römische Dienste, als Prokuratoren etwa, und andere trieben aus bloßer Langeweile ein bisschen Lokalpolitik und gäben dieses Hobby ebenso leicht wieder auf. Ein Senatssitz oder ein Posten im Reichsdienst löste die Ortsbindung nicht unbedingt, relativierte sie aber; in geringerer Weise konnte das für das provinzweite Koinon oder dessen regionale Pendants gelten – mit der Aussicht, dass sich der Bezugspunkt entsprechend auf eine höhere Ebene verlagerte. Mehrfachbürgerrechte boten diese Möglichkeit nicht; in beiden Fällen – und generell bei den führenden Persönlichkeiten im römischen Achaia – sollte man fragen, ob sie sich mit ihrer Stadt oder nicht umgekehrt die Stadt mit sich identifizierten … Rom ging je nach Provinz gegen solche Entwicklungen vor, aber mit einiger Lässigkeit.76 Der in römischer Zeit weiter steigende Organisationsgrad unter Athleten, Künstlern und Mitwirkenden an Festen generell – deren Zahl in der griechischen Welt förmlich explodierte – veränderte sicher die Selbstwahrnehmung des wichtigen Kreises der ‚Berufssportler‘ unter ihnen und mag die ‚Heimatbindung‘ manches hauptberuflichen Ringers oder Poeten gelockert haben. Der Dauerstreit, ob man sich seine Siegesprämien selbst abholen musste oder 75 Augusteische Regelung zur civitas Romana (SEG 9 (1939), 8, Z. 55 – 62 = Oliver 1989, 43; 47f.; 52 – 54 Nr. 10; das sog. 3. Edikt aus Kyrene): Millar 1983, 84f. = 350 – 52; erst für das 3. Jh. n. Chr. ist die erbliche Lösung der Senatorenfamilien aus ihrer origo bezeugt (89f. = 360). Zum Kalkül Ando 2010, 41f. „Local identity and local knowledge under the Roman empire were thus crafted through constant negotiation and regular reference to the superordinate structures of the empire itself. These structures had both universalising and particularising aspects – the emperor and his laws were shared; ties to province and district were not. […] The product of all this was an imperial subject.“ (45) 76 Abwandernde Eliten: Plut. praec. ger. r. p. 18 = mor. 814d; Hobby-Lokalpolitik: 2 = mor. 798c-d; Dion Chrys. or. 34 K.,34f.; dazu Kienast 1971, 71. Zum kumulativen Bürgerrecht vgl. jetzt die Beiträge in Heller/ Pont 2012. Die Einhaltung der lex Pompeia für Bithynia-Pontus, die Mehrfachbürgerschaften innerhalb der Provinz verbot (wodurch multiple Ratsmitgliedschaften entstanden waren), setzte Plinius zwar auf Weisung ­Traians wieder durch, doch blieben die bisher erworbenen Ratssitze ausdrücklich verschont (Plin. ep. 10,115).

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vom Heimatort zu den nächsten Wettkampforten nachschicken lassen konnte, erscheint allerdings als Frage der Finanzen, nicht so sehr der Entwurzelung.77 Nach wie vor beteiligten sich jedoch gerade auch die ortsansässigen Prominenten sehr ernsthaft und mit laut verkündetem Erfolg an den Agonen (die sie also nicht zuletzt für den eigenen Ruhm stifteten); die weniger erlauchten Gewinner blieben zumindest auf kleinasiatischen Straßen und Plätzen geradezu unsichtbar.78 Für die Städte fielen auch sonst reichlich materielle Vorteile ab, vorneweg ein massives materielles Engagement ihrer führenden Männer im Sinne des Euergetismus; überrepräsentiert erscheinen – und das gibt zu denken – die Bezüge zum Kaiserkult. Die Nahbeziehung zum Princeps, die Vermittlerrolle stand im Vordergrund und wies aus dem innerstädtischen Kontext heraus. Auch das Ansehen bei den Mitbürgern war nicht abzutrennen vom Ansehen beim Kaiser und vom Ansehen des Kaisers, das seine amici vor den Einwohnern beglaubigte. Anders konnte es auch nicht sein, wenn der Herrscher eine seiner reichsweit wichtigsten Funktionen ausüben sollte, durch die der Prinzipat gleichzeitig die vielen regionalen Gesellschaftstypen des römischen Herrschaftsbereichs miteinander kompatibel in einem stabilen Zusammenhang hielt: die kaiserliche Zentralstellung als letzter Wertmaßstab und vergabestärkste Verteilungsstelle von individuellem Sozialprestige innerhalb der Reichseliten. Sie ist ein Zeichen der steigenden Leistung Roms als soziales Übersetzungszentrum, als Impulsgeber für die Eliten rund ums Mittelmeer; sie zwang deren Angehörige 77 Überlokale Aktivität, Feste: Stephan 2002, 168 – 71 am Beispiel Kleinasiens. Die bindungslösende Wirkung der Theorodokie, die Stephan aufzählt, leuchtet nicht ganz ein; wie bei der Proxenie wäre wohl eher von einer privilegierten ‚gatekeeper‘-Funktion des geehrten Prominenten im Zuge der Kontakte zwischen Städten zu sprechen. Preisauszahlung: vgl. Petzl/ Schwertheim 2006, 59 – 61; 95 – 100 zu AE 2006, 1403a Z. 49 – 51. 78 Zur Rolle der örtlichen Prominenz grundlegend Pleket 1975 und 1992; Gleason 1995; van Nijf 2001 und 2004. Monopolisierung des öffentlichen Raums: van Nijf 2001, 321 – 327; „the glittering prices for artistic and athletic achievement – or at least public commemoration of such successes – tended to go to those best fitted to receive them: the members of the leading families“ (324). Bilanz: „Despite occasional subsidies or individual sponsorships for talented youngsters from outside the elite, who will have moved on to the international athletics scene, most local athletes must have come from well-to-do families, who could afford to spend the time and money needed for a lasting athletic career.“ (325). Sozial diskreditierende Mittel gehörten vielleicht zum Repertoire, vgl. künftig Fündling (im Druck).

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umgekehrt in die römische ‚Währungsunion‘, die auch in Prestigefragen eine klare Hierarchie der Bezugsebenen vorgab: Stadt, Provinz, Reich …79 Eine Schlüsselrolle kam – mehr noch als zu anderen Zeiten – der griechischen Oberschicht zu … vielleicht ohne dass ihr dies zuerst vollständig klar war. Zwischen Griechen und Römern bestand hier ein Übersetzungsproblem: Was aus griechischer Sicht ein bloßer Wechsel der Staatsform zu aristokratisch-oligarchischen Verhältnissen war, nahm sich in römischen Augen als überfällige Neugründung der sozialen Ordnung auf der einzig tragfähigen Basis aus.80 Sache dieser Lokaleliten war es in vielen Fällen, sich um die erwünschte Vergegenwärtigung der großen Vergangenheit zu kümmern, die im Fall ­Spartas ein Resultat irgendwo zwischen Themenpark und Mysteriendrama zeitigte. Augustus hätte eher von einer Wehrhaftmachung und Rückbesinnung auf alte Werte gesprochen; die berühmte rituelle Auspeitschung am Altar der Artemis Orthia, eine blutige Touristenattraktion, war vielleicht eine augusteische Zutat zur Agoge, die man ihrerseits wohl zwischen 146 und 78 v. Chr. wiederbelebt hatte. Diese nachempfundene ‚klassisch‘-spartanische Erziehung durchlief später Herodes Atticus wie auch schon sein Vater – biologisch wie familiär eine Kombination aus ‚klassischem‘ Athen und ‚klassischem‘ Sparta und insofern zwei Idealgriechen. Unter Prominenten kleineren Formats wurde es Mode, sich genealogisch an große Namen der Vergangenheit anzuhängen.81 Wie athenisch aber wären die beiden Senatoren in den Augen eines Griechen des 5. Jh. v. Chr. gewesen? Gerade Herodes gab sich mit einfachen Antworten nicht zufrieden. Nicht zuletzt durch seine Heirat mit einer Patrizierin wuchs er weit aus der nur-hellenischen Bezugsebene hinaus und legte sich weder darauf fest, ‚nur‘ der führende Mann Athens zu sein, noch auf ein Selbstverständnis als Konsular

79 Zentral zum Thema Quaß 1993. Nützliche Zusammenstellung: Quaß 1982, dort mit „Anhänglichkeit“ an die „Heimatgemeinden“ (191) aus „Einsatzbereitschaft und Opferwillen“ begründet (198). Kaiserkult: a. a. O. 211 – 213; dokumentiert werden solle „ihre persönliche Verbindung mit Rom und ein dadurch begründetes Verhältnis besonderer Verehrung und Loyalität zum Kaiser und zur römischen Macht“ (212). Zur Verteilerfunktion des Kaisers in Prestigefragen Lendon 1997. 80 ‚Übersetzungsproblem‘ der Regierungsform: Woolf 1996, 124. 81 „communal recreation, or re-enactment, of the past“ in Sparta: Millar 1993, 251. Ausführlich Kennell 1995; Spawforth 2012, 86 – 100, Auspeitschung und Eurykles 92 – 95. Schöne Liste aufgegriffener klassischer Namen und Abstammungen bei Touloumakos 1971, 55 – 58.

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und Freund von Kaisern. Die Bildsymbolik wie die Inschriften vieler seiner Bauten erkundeten, was er denn nun sei – beides zugleich und je nachdem das eine stärker als das andere.82 Der neue ‚Freiheitsgrad‘ im Selbstverständnis brachte neue Angreifbarkeit mit sich. Die Animositäten zwischen den Athenern und Herodes (dessen Vater bereits turbulente Zeiten erlebt hatte) wuchsen über die Jahre, statt sich abzuschleifen. Sicher war es für sie leichter, gegen den erdrückend großen Mann zu prozessieren, weil er in vielen Beziehungen keiner mehr von ihnen war und nicht einmal in ganz Griechenland eine ebenbürtige Braut gefunden hatte. Das tränenreiche Staatsbegräbnis des Herodes in Athen vollzog sich, wenn wir ­Philostrat glauben, ebenso gegen fortdauernde Kritik wie gegen den Willen des Toten, der in seinem Rückzugsort Marathon hatte ruhen wollen. Den Konflikt angefacht hatte die Unterstützung der von Herodes provozierten Quintilius-Brüder Maximus und Condianus – nun aus einer offiziellen Position in der Lage, sich zu rächen – für die Athener. Und von römischer Seite spielten in der Mordanklage durch Regillas Bruder Ap. Annius Atilius Bradua neben dem Versuch, Besitzstreitigkeiten um Regillas Vermögen auszutragen, vielleicht auch gewisse ‚Abstoßungsreaktionen‘ gegen den Schwager mit.83 Soll man die forcierte Vergangenheitsbindung als Reaktion zur Selbstbehauptung oder als aus dem Westen übernommene Agenda ansprechen? Kulturelle Elemente wie die Deklamation über historische Themen (mit hohem Fiktionsgehalt) kamen tatsächlich als Mode vom Tiber, wurden aber umgehend nostrifiziert und erscheinen in der Zweiten Sophistik als tragendes Element. Weniger stark als ‚immer schon griechisch‘ zu empfinden war vielleicht die Übernahme

82 Herodes: Spawforth 2012, 101f.; ausführlich Gleason 2010 am Beispiel der als Gedenkbauten für Regilla geplanten oder umfunktionierten Monumente in Olympia, Marathon und an der Via Appia. „Herodes’ identity […] was fluid, his self-fashioning a work-inprogress.“ (a. a. O. 160) 83 Athener: Philostr. VS 2,1 p. 566 (Begräbnis); 562 (Marathon als Exil); 549 (bei zahlreichen Schuldnern seines Vaters und deshalb „den Athenern“ schlechthin verhasst). Der Bericht verschleiert die führende Rolle von Herodes’ vornehmem Rivalen Ti. Claudius Demostratos aus Melite. Bradua (PIR² A 636): Philostr. VS 1,2 p. 555f.; Regillas Erbe: Gleason 2010, 156 zu VS p. 558. Vgl. a. a. O. 126: „In this period, at the upper reaches of society, Greek and Roman identities interpenetrated, but were not fused.“ Analoger ikonographischer Befund: Smith 1998; aus Sprachuntersuchungen: Rizakis 2008. ­Quintilii: Kuhn 2012, 445 – 448.

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des Klientelsystems mit römischer Etikette, Weihungen an den Patron eingeschlossen. Ob jede einzelne mythisch-religiöse Lokaltradition vor ihrer Förderung auf Anschlussfähigkeit hin abgeklopft wurde, ist eine andere Frage; das überforderte zweifellos die Zugriffsmöglichkeiten des Princeps. Anders als bei der Forderung von Lateinkenntnissen an neue römische Bürger im Osten, die einige Jahrzehnte mit ziemlichem Nachdruck verfolgt wurde – doch markiert das Auftauchen des ‚Palastsekretariates‘ ab epistulis Graecis ein Abrücken von der sehr catonischen Position, Bittsteller hätten gefälligst Latein zu sprechen –, gab es von vornherein Spielräume bei der erst recht zentralen Forderung nach moralischer Integrität: Eurykles von Sparta hatte eine Vergangenheit als Pirat.84 Die Ambivalenzen setzen sich fort. Die Agonistik, in römischen Augen lange suspekt, wurde von Augustus als der virtus dienende Ertüchtigung freundlich gesehen; wenn Domitian in Rom den – schon im Namen ‚staatstragenden‘ – agon Capitolinus stiftete, handelte er sicher nicht aus reiner Griechenlandschwärmerei. Andererseits war die Teilnahme an Wettkämpfen mindestens ein halbes Jahrtausend älter, ebenso ihr sozialer Charme für Mitglieder der jeweiligen Oberschichten.85 Doch sie hatten einen neuen integralen B ­ estandteil:

84 Deklamationen: Spawforth 2012, 39 (gern zu den Perserkriegen: 127 – 129); a. a. O. 59 – 86 interpretiert er das Agrippeion in Athen als Bau zur Multiplikation der (von vornherein eher staatstragend-entpolitisierten) Deklamationskunst, gezielt auf die Athener wie die ‚exil‘-römischen Zuhörer. Attizismus der Zweiten Sophistik generell „broadly an aspect of Romanization“: Spawforth 2001, 378; für Stephan 2002, 208 – 215 im Gegenteil ein erfolgreicher griechischer Brückenschlag zur Vergangenheit und deshalb gerade in Kleinasien so vital. Liste von Statuenweihungen durch amici und Abhängige: Spawforth 2012, 50f. Anm. 218. Wiederbelebung von Kulten, Mythen, Traditionen, durch die römische Brille gesehen: a. a. O.  142 – 206. ab ep. Graecis, ständig seit 166, vielleicht schon seit 127:Fündling 2006, 2, 985 (vgl. 743f.) mit Lit. Honoratioren von „personal worth, and specifically moral fitness“: Spawforth 2012, 44; Pirat Eurykles: Plut. Ant. 67, 2 – 4. 85 Agonistik positiv gesehen: Spawforth 2012, 132f.; Augustus und Domitian 238. Vgl. neben der in Anm. 74 zitierten Literatur van Nijf 2005 zum Musterfall des vornehmen Spartaners P. Aelius Damokratidas, der Ende des 2 Jh. als lebenslanger Agoranomos, Euerget und erfolgreicher Athlet bei den Eleutheria in Plataiai glänzte (IG V 2, 553; Bradford 1977, 120 s. v. Damokratidas 3). Vgl. v. a. van Nijf 2005, 279 – 281 zur fortwirkenden Bedeutung der Athletik für das Männlichkeitsideal und – vereint mit dem Gymnasion – für dessen erzieherische Weitergabe. Neuinterpretation durch die Römer: „même si l’athlétisme continua à signaler une identité culturelle grecque, il avait aussi un rôle distinct à jouer

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Elemente des Kaiserkults waren nunmehr fester Bestandteil der vier panhellenischen Feiern und drangen in so gut wie jedes lokale Fest vor. So rief die Bürgerschaft und Festgemeinde, formiert um die einheimischen Eliten, die große griechische Vergangenheit auf, bezog sich aber im selben Atemzug (oft schon durch den Namen des Festes) auf den Kaiser, der somit dem Glanz des alten Hellas nie fern war.86 Erst unter Nero etablierte sich der Kaiserkult offenbar auf der Ebene des gesamtachaiischen Koinon; der Euryklide C. Iulius Spartiaticus ist als erster Archiereus belegt.87 Die Sprache, die die Städtevertreter auf ihren Zusammenkünften, ob koinon- oder provinzweit, anschlugen, ist uns kaum noch greifbar – allerdings wäre ihr Aussagewert begrenzt. Was würden moderate, konfliktfreie Töne signalisieren, Gemeinsinn und gemeinsame Perspektiven, nunmehr auf überregionaler Ebene gesucht und ausgedrückt, oder die Suche nach einer starken, weil nicht sofort angreifbaren Position für die eigene Stadt? So oder so war der kleine Kreis der führenden Familien hier noch mehr unter sich als zuhause und mit affirmativen Akten gegenüber Kaiser und Reich beschäftigt. Lag unter dieser Decke der Konformität und Anschlussfähigkeit – in Achaia oder in anderen Provinzen des Imperiums – eine unerklärte „résistance morale“ der griechischen Oberschicht gegen Rom, wie besonders Paul Veyne vertreten hat?88 Unstrittig ist, dass extrem gemischte Gefühle noch geraume Zeit nach der Eroberung das Verhältnis bestimmten. Die massive Privilegierung der griechischen Oligarchien – teils aus ‚Klassensolidarität‘ des Senats, wenn man so will, teils aufgrund der bis heute gültigen Faustregel, dass mehrheitsgetragene Führungen eine unerwünschte Dynamik in bilaterale Beziehungen bringen – hatte im Demos vieler Poleis ausgesprochenen Römerhass geschürt, den wir im begeisterten Empfang quer durch alle sozialen Schichten für die pontischen Truppen nach ihrer Landung in Griechenland 88/87 v. Chr. greifen können (und von dem die kaiserzeitlichen Eliten ihre Vorfahren nach Kräften dans la romanisation du monde grec.“ (a. a. O. 283) Fazit 289: für die Oberschichten „l’athlétisme grec était une façon grecque de faire le Romain.“ 86 Kaiserbezug: van Nijf 2001, v. a. 318 – 320. 87 Spawforth 1995 zu SIG³ 790. Zur Prosopographie der Archiereis, namentlich des achaiischen Koinon und von Athen, vgl. Camia 2008. 88 Veyne 1992 (Zitat 517); dagegen u. a. Stephan 2002, 239 – 260. Bilanz von Veyne 1992, 517: „l’identité grecque est restée insoluble dans l’Empire et plus hostile aux Romains qu’on ne le dit aujourd’hui“.

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exkulpierten). Wie lange er anhielt, ist schwerer zu verfolgen; die Motive der wenigen Aufstände, von denen wir hören, sind selten genannt. Durchaus wahrscheinlich ist, dass die Feindseligkeit gegen Rom vielerorts das Verschwinden der demagogisch-demokratischen Politikoption überlebte, das ihr die Ausdrucksmöglichkeit nahm. Schon vor Beginn des Prinzipats war sie damit wenn nicht unterdrückt, so doch geknebelt.89 Dramatische Signale einer ‚Überfremdung‘, die sie hätten schüren können, gab es nicht. Selbst das als Kolonie römischer Bürger wiedergegründete Korinth, Wirtschaftszentrum der Provinz und zusätzlich der Brennpunkt ihres Kaiserkultes, war auf lange Sicht kein Brückenkopf der Romanisierung (wie auch immer man sie definieren will) und blieb nicht einmal eine lateinische Sprachinsel, sondern kehrte in seinen Inschriften unter Hadrian zum Griechischen zurück.90 Damit blieben als Träger und Sprachrohre einer Nichtintegriertbarkeit der Griechen im Wesentlichen nur ihre Vornehmen übrig, an denen es war, anachronistisch gesprochen die Vereinbarkeit oder Nichtvereinbarkeit der römischen Herrschaft mit ihrer Identität zu benennen. Simon Swain sah die Integrationsbereitschaft der Eliten, soweit sie reichte, ans Wahrnehmen offenkundiger Vorteile geknüpft: Rom bestärkte und brauchte sie, das römische Bürgerrecht erwies sich als nützlich und die Kaiserherrschaft, besonders im seit 96 demonstrierten Stil, sagte ihnen sehr zu. In Veynes Augen arrangierten sie sich weit bedingter: Ja zum Kaiser als ihrem persönlichen Beschützer, nein zum Reich und zu Rom. Die offenkundige Schwierigkeit – der steigende Anteil von Amtsträgern der Reichselite aus dem gesamten griechischen Osten, auch wo es nicht um den bloßen Kaiserkult ging – ist damit aber noch nicht überwunden. Wenn es übrigens einerseits die stillschweigende Regel gegeben hätte, keinen Hellenen zum Kaiser zu machen, andererseits eine innere Distanz der Griechen zu Rom, warum haben Statthalter mit hellenistischen Wurzeln kein Kapital daraus geschlagen? Avidius Cassius hatte alle Voraussetzungen, um die hellenistische Karte zu spielen, und hätte den Zulauf kampfwilliger Bevölkerungsmassen bitter nötig gehabt, aber von antirömischen Zungenschlägen lesen wir im Umfeld des Jahres 175 nichts. Sie hätten, zu laut vorgetragen, die regulären Truppen mit Sicherheit verprellt, doch

89 Zwischen Sulla und ca. 31/27 v. Chr. unterdrückter Hass des Demos: Veyne 1992, 520 – 526. 90 Alcock 1993, 166 – 169. Für die Zweifel am von der älteren Literatur gezeichneten Bild vgl. Habicht 1995, 302.

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auch an zivile Adressaten wie die Griechen unter den Alexandrinern erging kein solcher Appell.91 Der klassische Text, die Rhodosrede des Dion Chrysostomos, ist lästigerweise ein Sonderfall: Nicht nur war die Insel wohlhabend und stolz auf ihre Tradition, sie hatte im ausgehenden 1. Jh. n. Chr. auch ein langes Hin und Her zwischen Unabhängigkeit und Tributpflicht erlebt – und vielleicht weiter vor sich. Der staatstragende Dion, der einige Reden in offiziöser Funktion gehalten haben dürfte, war insofern gut beraten, einige säuerliche Töne in den Redetext zu integrieren, wenn er die Rhodier darauf festlegen wollte, stolzes, aber gegenwartstaugliches Vorbild aller Griechen zu sein. Seinem Sozialstatus wie seiner Bildungsbiographie nach hatte der Sophist – seiner Rolle nach Ratgeber und Vermittler in beiden Richtungen – je nach Bedarf und Situation aber die Möglichkeit, sich als Angehöriger oder als Außenseiter der römischen Kultur (und Macht) darzustellen … und er nutzte beide, keineswegs als einziger.92 91 Gespaltenes Verhältnis der Oberschicht: Swain 1996, 88f. („however close individuals got to Rome, overall we notice a certain distance, a resistance to integration“); Veyne 1992, 557 – 564 (der anregende Vergleich mit Österreich-Ungarn a. a. O. 563 würde aber ein gehöriges Maß an Kaisertreue implizieren). Der „interdit tacite“ gegen hellenische Kaiser: a. a. O. 530; vielleicht durchbrochen nur von Domitius Alexander 308 und Procopius 365. Hier überrascht das Fehlen von C. Avidius Cassius, durch seinen Vater Heliodorus (PIR² A 1405 = H 51) zweifellos aus hellenistischem Milieu stammend, von den diversen Ansprüchen auf königliche Abstammung zu schweigen (Literatur bei Fündling 2006, 2, 746f. vgl. 806). Der hochdubiose Cassius-Brief in der Historia Augusta (Avid. 14,1 – 8) verteidigt die Usurpation nur unter Bezug auf Marc Aurels philosophische Interessen (vgl. 3,5) und den Niedergang der disciplina (laut Avid. 5,10 bringt der Statthalter die Graecanici milites in Syrien auf Vordermann, ist dem Autor also gar nicht selbst als Grieche präsent!), während der mutmaßlich echte Brief des Cassius an Alexandreia (SB 10295 = Oliver 1989, 388 – 390 Nr. 185) auf jeden antirömischen Beiklang verzichtet, sondern ausschließlich die Rolle der Soldaten preist. Von Enthusiasmus unter der griechischen Elite fehlt jede Spur (berühmt ist die Geringschätzung durch Herodes Atticus: Philostr. VS 2,1 p. 563). 92 Vgl. Veyne 1992, v. a. 509 – 511, zu den Schlüsselpassagen Dion. Chrys. or. 31 K., 125 (Definition des Istzustandes als εἰρήνη καὶ δουλεία); 157 – 160 (Verächtlichwerden der Griechen). Rhodos sei für Dion so wichtig, weil es am ehesten die Voraussetzungen zur Selbstbehauptung mitbringe (a. a. O. 541f.); Rat zur Eintracht, um die Römer möglichst weit draußenzuhalten: a. a. O. 553. Als Warnung vor einem nostalgischen Fixiertsein auf die ‚goldene Zeit‘ Neros gedeutet von Stenger 2010, 403 – 411, leider ohne Auseinandersetzung mit Veynes Lesart (Datierungsproblem 402f.; Stenger favorisiert die ersten

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Rom bedingungslos zu lieben war eine andere Sache als sich gewinnbringend einzufügen; Pausanias zeigt Strategien, wie sich das, was man an Rom – retrospektiv wie in der Gegenwart – hassen oder verachten konnte und wollte, abspalten und auf einzelne Objekte eingrenzen ließ: Nicht alle Römer sind wie Sulla, soviel konnte man zugeben. Antirömische Vorurteile wie Grobschlächtigkeit, Unbildung oder Habgier wurden weiterhin liebevoll gepflegt, selbst von einem Modephänomen wie Galen, das die heimischen Sophisten sonst attackierte. Auch dass sich der attizistische Sprachpurismus (den Galen zu Recht für lachhaft erklärte) besonders im gezielten Meiden und Verhöhnen lateinischer Lehnwörter äußern würde, hätten sich die römischen Lobredner alles Attischen seit Cicero kaum träumen lassen. Sogar Arrian, amicus Hadrians und als Inbegriff einer Senatskarriere jedes Dissidententums unverdächtig, aber beseelt vom Wunsch, ein zweiter Xenophon zu sein, erlag der Versuchung, in seiner Ektaxis konsequent die Legionäre, die er gegen die Alanen hatte aufmarschieren lassen, zu Hopliten zu machen. Lukian hätte seine Freude daran gehabt – und machte es bei Gelegenheit nicht anders. Die Marotte, selbst Maße und Datumsangaben in vorrömische Begriffe rückzuübersetzen, stiftete Gemeinschaftsgefühl und Verwirrung zugleich. Mitunter grenzte sie an Bosheit, wenn etwa Pausanias gewichtig ‚verriet‘, jeder Römer habe mindestens drei Namen oder sogar noch mehr.

Jahre Vespasians). Wichtig die Warnung von Whitmarsh 2001, 305: „Each literary articulation of Greekness […] needs to be interpreted in context, in the light of the aims and ambitions of the actor in question, and not simply to be taken as an expression of ethnic unrest.“ Die Charakteristik des Dion Chrysostomos, „both integral and marginal to the structures of Roman power“ (a. a. O. 294), mal in der Rolle des wichtigen Politikers, mal des weltentsagenden Weisen, stimmt vielsagend überein mit dem Befund von Preston 2001. Demnach urteilt Plutarch in den Quaestiones Romanae als Grieche über Rom als zeitlose Größe (unter Ausblendung der imperialen Gegenwart: a. a. O. 110), erklärt Rom aber den Griechen im Gewand des eingeweihten Rom-Kenners. Womit man sagen könnte „that Plutarch was both inside and outside Roman culture, or that he was more of an insider to Greek culture than to Roman.“ (118f.) Zur Berater- und ‚brokerage‘-Funktion der Sophisten Flinterman 2004; die Deutung ihrer Auftritte als symbolisches Kommunizieren und Behaupten des eigenen sozialen Vorrangs bei Schmitz 1997, 197 – 218; 230f. verkürzt die Sprechsituationen unglücklicherweise um die realpolitische Basis dieser Ansprüche – samt dem signifikant häufigen Bezug auf den Kaiser in seiner ‚Zentralbank‘-Funktion als Maßstab, Garant und Verteiler von persönlichem wie gruppenspezifischem Sozialprestige.

Griechenlands Identitäten in den Grenzen des Prinzipats 249

Einen lebenden Reichsbewohner ohne dieses Expertenwissen zu finden wäre eine Kunst gewesen.93 Es gab durchaus Gegenreaktionen gegen diese Art Vergangenheitssprache: der Grammatiker Telephos von Pergamon, Autor lokalhistorischer Werke, die den örtlichen Augustustempel ebenso zum Thema hatten wie die A ­ ttalidenherrschaft, fand das reinste Griechisch demonstrativ bei Homer. Dass ­Antoninus Pius ausgerechnet diesen Mann, für den die Welt nicht bei Chaironeia stehenge­blieben war, zum Erzieher des jungen Lucius Verus gemacht haben soll, könnte eine subtile Rache an exponierten Sophisten wie Polemon sein, der dem Kaiser übel mitgespielt hatte.94 Wie Dion Chrysostomos scheint auch Plutarch eine Art (nicht ganz freiwilliges) Subsidiaritätsprinzip zu vertreten: größtmögliche Autonomie durch Standhalten gegenüber der Versuchung, Rom immer wieder einzuschalten, oft ohne Not, und damit die eigenen Handlungsspielräume zu beschneiden. Dauerkontakte in Form von Gesandtschaften seien eine weitere gefährliche Variante: Gehe nicht zu deinem Fürst, wenn du nicht gerufen wirst.95

93 Sulla: Paus. 1,20,7; doch vgl. Bowie 1996, 220: das Schema des kulturlosen Römers fehle bei Pausanias. Vorurteile gegen Rom: schöne Zusammenstellung bei Veyne 1992, 531f.; Galen: Swain 1996, 362f.; 378f.; Jones 2012, 416f Abwehrcharakter des Attizismus: Swain 1996, 535. Arrian: a. a. O. 246; Bowie 1970, 193. Onomastisches ‚Geheimnis‘: Paus. 7,7,8 („oder mehr“ ist im Jahrhundert der polyonymen Senatoren – nicht zuletzt aus dem griechischen Osten! – eine sinnvolle ‚Präzisierung‘). Die Verstellung, die die Existenz von ‚Römern‘ (auch griechischen) in Griechenland negiert, erscheint fast als Spiegelbild Ciceros, der so tut, als wäre der Name Polyklet nutzloser Wissensballast (Verr. 2,4,5). – An den Mahnungen, die v. a. Jones 2004 gegen die Tendenz richtete, eine monolithisch griechische (und folglich antirömische) Identität im Fall von Pausanias zu diagnostizieren, bleibt festzuhalten. 94 Telephos (Hinweis bei Swain 1996, 55f.) : FGrHist 505; Erzieher: HA Ver. 2,5. Polemon: Philostr. VS 1,25 p. 534f.; vgl. Fündling 2008, 32. 95 Möglichst wenig Kontakt zu Rom oder zum Statthalter suchen, um die Polis nicht noch weiter „zu erniedrigen“: Plut. mor. 814e-816a = praec. ger. reip. 19. Analog Dion Chrys. or. 34 K.,38 an die Tarsier: die örtlichen „Großen“ ziehen die Römer in ihre Querelen hinein und schwächen dadurch am Ende alle lokalen Instanzen (dazu Kienast 1971, 77 – 79) – wie Dion möglicherweise am eigenen Leib erlebte, als zwei alte Widersacher den Statthalter Plinius in den Streit mit ihm hineinzogen (vgl. Plin. ep. 10, 81f.; Swain 1996, 172; 237 – 239). Dions Rat, die Armen einzubinden (or. 34,23), schon um für die von Rom gewollte Ruhe in der Stadt zu sorgen, scheint sich auf derselben Ebene zu

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Wie tiefgreifend Rom die Möglichkeiten verändert hatte, von Hellas und dem Griechischsein zu sprechen, ist auf allen Gebieten überdeutlich. Beinahe ein Trost könnte es sein, dass die Griechen ihre radikale Verunsicherung gelegentlich an Rom zurückgaben: wenn Römer anderen Römern zu griechisch erschienen. Hadrian, der einen eigenwilligen Schritt unternahm, die griechische Identität festzulegen, ist das beste Beispiel.96

8. Hadrians Panhellenion – ein aufschlussreiches Scheitern? Kaiserliche Lieblingsideen ziehen das Interesse der historischen Forschung zwangsläufig auf sich. So klar wie in wenigen anderen Fällen – Traians massiver Ausbau der von Nerva begonnenen Alimentarstiftungen wäre ein Beispiel – ist im Fall Hadrians ein symbolträchtiger Akt, der noch dazu große Teile des Reichsgebietes betraf (oder potentiell betreffen konnte), mit der Herrschaftszeit und sogar der Persönlichkeit eines einzelnen Princeps verbunden. Beispiellos wirkt aber auch die Folgenlosigkeit; der panhellenische Impuls, der nach allem Gesagten doch den Nerv der Zeit und der angesprochenen griechischen Kulturwelt hätte treffen sollen, verlor sich offenbar schon kurz nach seiner (in den Details noch nicht abschließend geklärten) Gründungsphase. Mit ­bloßem Desinteresse des Nachfolgers allein, dem Wegfall aktiver Förderung und der kaiserlichen Erwartungshaltung, ist wohl nicht erklärt, weswegen die so feierlich gegründete Institution sich als Schlag ins Wasser erwies. Die letzte bekannte Neuaufnahme eines Mitglieds fällt unter Antoninus Pius; die Spuren des Fortwirkens der Panhellenen, die bis ins 3. Jh. reichen, nehmen sich aber bekanntermaßen bescheiden aus, denkt man an die noch anhaltende Welle von Selbstzeugnissen der Städte und ihrer führenden Vertreter.97 So kontrovers wie der Charakter des Gremiums und seine intendierte wie tatsächliche Funktion – dazu später mehr – sind die Motive des Aeliers diskutiert worden, über seine zahlreichen Projekte in und für Athen und das griechische bewegen. Zu den Konzepten ‚falscher‘ und ‚richtiger‘ politischer Tätigkeit Bartels 2008, 69 – 76. 96 Römische Verunsicherung: Goldhill 2001a, 10 – 12: 97 Zu Indizien für eine komplizierte, eher langgezogene Anlaufphase vgl. Wörrle 1992, v. a. 343f.; Nigdelis 1996, v. a. 131f. Letzte Aufnahme: Spawforth/ Walker 1985, 81; Liste der Archonten und Panhellenen: a. a. O. 84 – 86, ergänzend zu Follet 1976, 126 – 134.

Griechenlands Identitäten in den Grenzen des Prinzipats 251

Festland hinaus auch dieses Gebilde zu installieren. Die letzte Ursache, fast das Selbstverständlichste am Hadrianbild überhaupt – sein Philhellenismus, den ihm kein Grieche abgestritten hätte – erklärt für sich genommen nichts, weswegen in jüngsten Beiträgen gleich die Existenz ‚rein‘ persönlicher Motive schlechthin bezweifelt wird.98 Über eine als wohlwollend und respektvoll empfindbare Grundhaltung gegenüber der griechischen Kulturtradition hinaus enthält der Begriff keine Festlegung; er war keine unveränderliche ‚Bildungsreligion‘ und schloss nicht aus, dass verschiedene Kaiser, die aus griechischer Sicht so erschienen, höchst unterschiedlich agierten. Auf der ‚Empfängerseite‘ war philhellēn auch nur ein je konkret zu füllender Lobestitel wie euergetēs, so sehr es eine gute Sache war, wenn ein Kaiser etwas für Griechenland übrig hatte.99 Um die genauen Modalitäten der Entstehung wird weiter heftig gestritten.100 Gegen Cassius Dios Behauptung einer Initiative ‚von unten‘, für die der Name

98 Spawforth 2012, 242f. Persönliche Motive zu suchen sei „tempting, but simplistic“ (242), Hadrians gesamte Griechenlandpolitik sei konsequent unter der numismatisch verbreiteten Devise Hadrianus Augustus zu verstehen, wie auch der res gestae-artigen Wohltaten-Bericht in Athen nahelege (243 zu Paus. 1,5,5; ein noch direkteres Pendant ließe sich als Ausstattung des Mausoleums in Rom selbst vermuten: Fündling 2006, 2, 900 K 416). Nicht mehr angestrebt sei im 2. Jh. naturgemäß der „culturally divisive impact“ (Spawforth 2012,273) der augusteischen Hellenitätsformel. 99 Aufmerksamkeit Hadrians für Athen: selbst aus spätantik-römischer Sicht noch berichtenswert (HA Hadr. 13,1.4; dazu Fündling 2006, 2, 627 – 635 K 279 – 282; 648 – 650 K 291f.). Kein fest formuliertes Philhellenismus-Konzept unter Römern: Woolf 1996, 132f., sondern jeweils „selected and defined in relation to a range of Roman, rather than Greek, cultural preoccupations“, in jedem Fall aber „not a softness or indulgence towards Greeks, an uncritical and undiscriminating acceptance of Greek culture“ (135); Hadrians Interessenschwerpunkte seien „intellectual and religious where Nero’s were musical and athletic“ (134); hier wird man angesichts des massiven Ausbaus der Festkultur und der überregionalen Agone große Abstriche machen. 100 Lokale, von H. „geduldete“ Initiative gemäß Cass. Dio 69 (68), 16,2; akzeptiert von Jones 1996; Ferrary 2001, 33; ablehnend Spawforth 1999; Stephan 2002, 216. Romeo 2002, 22 sah die Idee in der „imperial entourage“; Hadrian habe Athen als Sitz ausgesucht, sich des „public support of the Greeks“ vergewissert (wer genau ist gemeint, geographisch wie sozial?) und den Plan 131/32 vom Senat billigen lassen, als die Auswahlverfahren schon „an advanced stage“ erreicht hätten. Führende Rolle Polemons angesichts des ethnozentrischen Tonfalls von Physiognomika 35 und des Auftritts am Olympieion (a. a. O. 32 – 34). Fortgesetzter Widerspruch kam von A. J. S. Spawforth, der anfangs die Städte an der Ägäis in einer Schlüsselrolle sah (Spawforth 1999, 339 – 344), nun aber

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Polemons genannt worden ist, steht der Bericht des Dekrets von Thyateira, der Hadrian in einer dominierenden Rolle darstellt – wie man es beim Dank an einen Kaiser, dem solche Wohltaten ohnehin letztendlich zugeschrieben werden mussten, allerdings auch nicht anders erwartet hätte.101 Relativ sicher ist das Ergebnis, zumindest die festgelegte Rangordnung unter den 33 bisher bekannten Mitgliedern.102 Am klarsten zeigt es sich in Hadrians Schreiben nach Kyrene, das den Kyrenäern zwei Sitze zuspricht, Ptolemaïs Barke angesichts seines suspekten unhellenischen Beinamens (und dank der Proteste aus Kyrene) dagegen nur einen. Die Städte in Achaia belegten in dieser Versammlung die Ehrenplätze, gefolgt von deren Gründungen, dann an letzter Stelle die nicht klar zuweisbaren Siedlungen ethnischer Griechen. Von der Paideia-Definition des Hellenismus zeigt sich hier keine Spur – wofür prominente ‚Bildungsgriechen‘ ohne passenden Familiennamen sich vielleicht durch Totschweigen gerächt haben. Bis heute gibt es keinerlei Spuren von Mitgliedschaft für die Westhälfte des Imperiums, Ägypten oder den Nahen Osten.103 Doch sogar die ‚gesetzten‘ Mitglieder vom griechischen Festland (ob auch sie sich mitunter eigens bewerben mussten, bleibt unklar) sind merkwürdig unterrepräsentiert. Die augusteische Neugründung Korinth, die in diesen Jahren aufhörte, lateinische Inschriften zu setzen, ist im Panhellenion bezeugt,

einen kaiserlichen Alleingang vermutet (ders. 2012, 249 – 251). Ähnlich Buraselis 2006, 53: der kaiserliche „Kohärenzanstoß“ involviere die „weitere Beratung Hadrians mit seinen griechischen Freunden“, sei aber eine Einzelentscheidung: „Der Kaiser führte höchstens einen Dialog mit seinem eigenen Ideal des klassischen Griechentums […]“. 101 Thyateira (SEG 47, 163): für Spawforth 2012, 249 (der AE 1999, 1479 folgt) der Beweis von Hadrians (ausschließlicher?) Initiative; Dios Bemerkung sei eine „polite fiction“ (251). Mit Sánchez 2001, 434f. sieht Spawforth 2012, 251f. jetzt in der Inschrift aus Delphi von 125 (Fouilles de Delphes 3.4 1970), Nr.78I die vom Kaiser verworfene Empfehlung einer Senatskommission zur Ausweitung der Amphiktyonie, die sie fälschlich als concilium Graeciae betrachtet habe. Mitwirkung des Senats „sehr wahrscheinlich“ für Buraselis 2006, 53. 102 Karte: Romeo 2002, 23. 103 Hadrian an Kyrene, 135/36 n. Chr.: Oliver 1989, 275 – 278 Nr. 120, verbessert durch SEG 46 (1996), 2206; vgl. Romeo 2002, 26f.. Aufnahmekriterien: Spawforth 2012, 252 – 255. Schweigen potentieller „cultural Greeks“ (Aelius Aristides, Pausanias?) gegenüber möglichem Beispiel durch Polemon und Philostrat: Romeo 2002. Etwas verwunderlich ist „die Treue zu Rom“ als Aufnahmekriterium, nicht zuletzt mangels Gelegenheiten zum Verrat (Bergmann 2010, 252).

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aber von Nikopolis und Patrai, die voller ethnischer Griechen stecken, hören wir bislang nichts – und nur die ‚Retortenstadt‘ Nikopolis könnte aus formalen Gründen fehlen, falls Hadrian ausgerechnet einem Werk seines exemplum Augustus die Aufnahme verweigern wollte.104 Wie die zum Beitritt Eingeladenen in Kleinasien dachten, ist umstritten – für die größten Städte wohl zu Unrecht. Weder daheim noch in Athen gibt es bislang irgendeinen Beleg für ein Interesse von Smyrna, Pergamon oder ­Ephesos – angesichts der Inschriftendichte dürfen wir dies mit aller Vorsicht als schwerwiegendes Indiz nehmen, dass sie im Panhellenion fehlten. Ursachen dafür sind plausibel benannt worden: die Position in der zweiten Reihe, die ihnen gemäß dem Abstammungsmodell zugewiesen worden wäre, entsprach in keiner Weise dem Selbstverständnis dieser Metropolen, die mit ihrem geschmähten ‚asianischen‘ Redestil sogar ostentativ auf sich aufmerksam machten. Falls wirklich Smyrnas großer Euerget Polemon führend sowohl bei der Konzeption des Panhellenion als auch beim Pochen auf die mythisch-historischen Städtegenealogien war, hatte er sich verkalkuliert: Smyrna, im fertigen hadrianischen Modell bestenfalls auf der zweiten Stufe, blieb draußen. Wer zugriff, das waren die Städte der kleinasiatischen ‚zweiten Garnitur‘. Ethnische Makedonen waren für Hadrian griechisch genug, um die makedonischen Kolonien in Kleinasien zuzulassen; Konstrukte einer hellenischen Gründung, auch hochproblematische wie im Fall von Aizanoi und Sardeis, gingen gnädig durch. Es ist auffällig, wie viele Städte, deren Überlieferung sich uneins war, wer sie gegründet hatte, und die einen ‚Overkill‘ an Hellenizität unternahmen, nun unter jenen waren, die stolz Panhellenen entsandten.105 104 Die mutmaßlichen „automatic or ‚charter‘ members“: Romeo 2002, 23. Mit der Hellenisierung des ‚römischen‘ Korinth vgl. den Wechsel der colonia Alexandreia Troas – selbst kein nachweisliches Mitglied im Panhellenion – zu einer konsequent griechischen Selbstinterpretation (Kuhn 2012, 440 – 442). 105 Trotzig-selbstbewusste Kleinasiaten nach der „demonisation“ durch Rom und dem Abklingen der offiziellen Schützenhilfe für den Attizismus nach 14 n. Chr.: Ferrary 2011, 14 – 16 („impatience“ über die Privilegien für Athen und Achaia) unter Verweis auf die Spitzen in Dion. Chrys. or. 51,117 (an die Rhodier); Philostr. epist. 34 und den Zusatztitel „Panionios“ für Hadrian in ionischen Städten (IvEph 1501, Milet I,2 Nr. 20; L. Robert, Hellenica III, 86 – 89 (Teos); Konjektur in SEG 51, 1598 aus Klaros). Ähnlich nun auch Spawforth 2012, 240f. vgl. 261; in einem gewissen Widerspruch zur von Spawforth 2001, 379 konstatierten schnellen Anpassung an das römisch umdefinierte Hellenismus-Paradigma. Inschriftenlage: zurückhaltender zur Belastbarkeit Ferrary 2001, 33.

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Nicht so belastbar sind die Belege für die Westhälfte des Reiches, wo die griechischen Wurzeln ohnehin nur ‚unter anderem‘ gepflegt wurden und bei bestimmten Rechts- und Statusfragen wie dem Aufstieg zu Municipien oder Kolonien eher lästig fielen. Man kann sich das Neapel oder Puteoli des 2. Jh. schon deshalb kaum als bereit zu einer Mitgliedschaft zweiter Klasse im ­Panhellenion vorstellen, weil die ansässigen Eliten in Italien stärker als irgendwo sonst mit Angehörigen der Reichselite durchsetzt waren.106 Das rege Interesse in der Kyrenaika dagegen ist nur zu erklärlich: Erstens hatten die Verwüstungen des jüdischen Aufstandes sicher dazu beigetragen, dass die Polisbürger sich wieder stärker von den anderen Einwohnern (nicht allein den dezimierten Juden) abgrenzten, zum anderen ließen Hadrians noch anhaltende Wiederaufbaumaßnahmen kaum eine andere Entscheidung zu.107 Die hauptsächliche Funktion des Panhellenions gibt nach wie vor die meisten Rätsel auf. Fest stehen dürfte, dass Rom – Hadrian bildete da keine Ausnahme – weit entfernt war, eine politische Selbstverwaltung für große Teile der griechischen Reichsbevölkerung zu installieren, noch dazu quer zu den bestehenden Provinzgrenzen. Die große Mehrheit folgt heute der Ansicht, dass Makedonen: Romeo 2002, 28; dubiose Gründungen: 29f. (irreführend ist der Verweis 30f. auf Smyrna, dem es zwar ebenfalls gelang, autochthon und hellenisch zugleich zu sein, das aber im Panhellenion fehlt). Smyrna, „in reality the most vibrant city of contemporary Greekness“ (36), als Entstehungsort genealogischer Konstrukte wie des ethnozentrischen Hellenismus: a. a. O. 35 – 37 (ohne Kommentar auf den absehbaren Platz in der ‚Hackordnung‘ des Panhellenions). Die Attalidengründung Eumeneia kam mit ihren vorgeblich achaiischen Wurzeln ebenfalls durch (Weiß 2000). Auch Perge fehlt bislang in auffälliger Weise (wichtiger Hinweis von Weiß 2004, 194 Anm. 24). Überkomplette Gründungsgeschichten: die Auswahl von Strubbe 1986, 269 nennt u. a. Nikaia, Dorylaeion, Pergamon, Magnesia, Milet, Tralleis und Synnada. Vgl. Kuhn 2012, 439 – 442 zur verbalen Attacke des Herodes Atticus auf die von Marc Aurel begünstigten Quintilii (Philostr. VS 1,25 p. 559), die exakt das Qualitätsgefälle zwischen ‚echten‘ Griechen und hellenisierten Gemeinschaften minderer Güte (in diesem Fall hellenisierten Römern oder Italikern der Oberschichten!) zu evozieren scheint. 106 Richtig Ferrary 2011, 20: die bilaterale Annäherung zwischen Tarent und Sparta gehe eher auf den Modetrend zum Hellenistisch-Genealogischen allgemein zurück als auf das Panhellenion. Ein echter „conflit de hiérarchies“ (a. a. O.) hätte aber nur in Prestige­ dingen entstehen können; politisch-rechtlich war Italien natürlich besser gestellt als jede peregrine civitas im Reichsgebiet. 107 Kein Munizipalstatus (oder ius Latii) für polisverfasste Städte: Hinweis bei Millar 1992, 407.

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die symbolische Seite im Vordergrund stand, kulturelle Verbundenheit und religiöse Gemeinschaft zu Zwecken des Kaiserkults und der Ausrichtung von Agonen. Je nach Gewichtung gilt das kultische Element als die Hauptaufgabe schlechthin, fast wie in einem ins Riesenhafte vergrößerten Koinon.108 Etwas respektloser gesehen stellt sich das Panhellenion zudem als Subvention für Athen sowie als ideelle Aufwertung Athens im Besonderen und Achaias im Allgemeinen dar. Hierin den alleinigen Existenzgrund zu sehen, verbietet sich wohl – was nicht heißt, diese Auswirkung wäre in den Augen Hadrians wie der Zeitgenossen nebensächlich gewesen. Dass die Bauten des Aeliers und zwei neue panhellenische Agone Athens Rolle als kulturelles Zentrum schon ohne die neue Organisation (und die mit ihr verknüpften Panhellenien als Wettkampf Nr. 3) beachtlich gestärkt hatten, steht außer Frage.109 Wenn es um die Wirkungsabsicht geht, scheint es vertretbar, im Panhellenion zudem eine Art imperialer Ordnungsmaßnahme im Kulturellen zu sehen: Mit 108 Grundlegend: Spawforth/ Walker 1985 und 1986; Willers 1990 (v. a. zur Einbettung in die Athener Topographie); Jones 1996; Spawforth 1999. Keine Selbstverwaltung: S­ pawforth/ Walker 1985, 81. Kulturell-religiöser Fokus: Konsens seit Jones 1996 und Spawforth 1999; zustimmend u. a. Ferrary 2001, 32f.; 2011, 14. Anders Buraselis 2006, Hadrians „Hauptzweck […] war wohl, im stets kulturell stark sonderbewußten und differenzierten Osten den Zusammenhalt des Griechentums unter kaiserlicher Ägide und mit der Loyalität zum Kaiser als Mittelpunkt zu fördern.“ Ähnlich schon Touloumakos 1971, 43: „Instrument zur inneren Festigung der östlichen Hälfte des römischen Reiches“. Eine Art Blitzableiter vermutete Sheppard 1986, 239: „an attempt to divert Greek national feeling into cultural and ceremonial channels, yoking it to the imperial system more effectively than the sometimes disaffected and quarrelsome provincial Koina had done.“ Nur entzünden sich die Streitigkeiten in den Koina, ob um materielle oder Statusfragen, nicht an Fragen der Hellenizität; wo nach diesem Modell durch Hadrian Konfliktstoff entzogen würde, ist unklar. An lokale Herrschaftslegitimation dachte Swain 1996, 75: „a representation of the living experience of the Greek elite with respect to the past.“ Kaiserkult zentral: Jones 1996, 35; 43 – 46. 109 Netzwerktheoretisch argumentierte Doukellis 2007. Woolf 1996, 134 zitiert den Vorschlag „that it was intended primarily to benefit Athens (or less likely Achaia, rather than the Greeks as a whole)“. Feste, Spiele: Spawforth 2012, 247f. van Nijf 2005, 284: Hadrian macht aus Athen, bisher agonistisch im Schatten, mit einem Satz auch „la capitale sportive du monde grec“; wobei die kaiserzeitlichen Agone als eine graeco-römische „pratique hybride“ zu betrachten seien (289). Allerdings eine Praxis, die auf ‚genuin‘ römischem Boden nur mit spärlichen Gastspielen vertreten war; geographisch gesehen waren Agone griechische Heimspiele.

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dem Sitz Athen und der streng radialen Ausrichtung auf Achaia bekam Griechenland (in seinem römischen Zuschnitt) die Funktion eines Zentrums für das ‚kulturelle Imperium‘ der griechischen Welt (unter römischen Existenzbedingungen und Verwaltungsformen) zugewiesen, in dem sich das Griechische schlechthin (nach römischer Definition) manifestierte. Der Appell an diese neuerklärte Peripherie hätte dann darin bestanden, sich stärker denn je auf ihr kulturelles Kernland auszurichten – und die Zentrierung ihrerseits womöglich die Bindung an Rom und den Westen verstärken sollen.110 Die Schwierigkeiten selbst bei einem solchen Verständnis sind beträchtlich. Als markanter Fall einer „reassertion of historic and mythological identity“ hätte die Neugründung eigentlich florieren müssen … oder zumindest können, in Harmonie mit Maßnahmen wie der Rückbenennung von Mantineia, die der Vergangenheit ebenso zu verdanken war wie dem Bezug zu Antinoos.111 Sie ist zugleich ein faszinierendes Beispiel, wie Hadrian historische Bruchlinien einfach überbaute. Seine Liebe zu Antinoos machte das ‚historische Unrecht‘ der Diadochen an der arkadischen Stadt rückgängig; auf dem Schlachtfeld jedoch, für das sie bekannt war, setzte er Epameinondas eine neue Grabstele, gegen den die Arkader damals gekämpft hatten.112 Zur Erklärung für das Scheitern des Panhellenions ist die Diagnose eines mangelnden Enthusiasmus der Griechen gestellt worden, auch in der verschärften Form regelrechten Unwillens. Andere Stimmen erklären energisch, im Gegenteil hätten sie die Chance darin gesehen, „sich aus der bishe­ rigen Bedeutungslosigkeit und dem Status untertäniger Provinzen zu lösen und gleichberechtigt zum ewigen Bestand des Reiches beizutragen“. Wie auch immer sie das hätten tun sollen – das Fiasko bleibt eine Tatsache.113 110 In dieser Richtung ausbaubar die z. B. von Woolf 1996, 134 zitierte Ansicht: „intended as an affirmation of the Greeks’ place in the empire”. Grundlegend hier Willers 1990, 7; 97 – 99, aufgegriffen von Swain 1996, 75f. 111 Millar 1993, 250. 112 Mantineia: Paus. 8,9,7; 8,10,2 (Name 8,8,12); Epameinondas: 8,11,8. 113 So Spawforth 1999; als „verzerrtes Bild“ der Gründung zurückgewiesen von Bergmann 2010, 251: „Die Initiative stieß zumindest in hadrianischer Zeit tatsächlich auf Begeisterung.“ „sich aus…“: Ebda. Hier stoßen wir auf das methodische Problem, dass Mangel an Begeisterung sich in Statuensetzungen ebenso wenig nachweisen lässt wie der Unterschied zwischen ‚echter‘ oder in irgendeiner Weise ‚künstlicher‘ Begeisterung – oder ob es in Rom registriert worden wäre, wenn eine Stadt es unterließ, den für Athen sehr schmeichelhaften Bildtyp zu übernehmen. Sprechend ist die Verwendung im Kontext des Herodes-­Nymphäums, als einer der wenigen nachhadrianischen Belege (a. a. O. 264 – 266, Kat.- Nr. 6* und 7). Zum

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Vor der Frage nach den Ursachen dieses Fehlschlags empfiehlt sich die Überlegung, in welchem Bezugsrahmen – oder als welches ‚Format‘ – die Zeitgenossen das ihnen ‚angebotene‘ Panhellenion je nach Region und sozialer Gruppe wahrnehmen mussten. Dass sich nicht jeder in gleicher Weise im Modell des Panhellenion wiederfand, versteht sich von selbst, und das galt nicht bloß auf der Ebene der Städte, wo potentielle Gewinner und Verlierer sich mischten.114 Die Hadrian eng verbundenen Spitzen der Provinzaristokratie von Achaia mochten sich durch die Botschaft in ihrem Selbstgefühl bestärkt sehen; zunächst öffnete sich ihnen ein weiteres Forum zur Selbstdarstellung – Herodes Atticus übernahm als Erster das Amt des Archon –, und sowohl die Aufnahmeverhandlungen wie das Zusammenwirken der verschiedenen Abgesandten schuf für diese Elite mittel- bis langfristig die Perspektive, ihre Patronage auf einige anerkannte Panhellenenstädte und deren Aristokratien ausdehnen zu können. Ein Senator römisch-italischer Prägung wäre nicht anders verfahren.115 Ansonsten geschah die Kreation inmitten einer an überlokalen Zusammenschlüssen schon reichen Landschaft. Das additive Prinzip beim Schaffen vermuteten Anlass, dem Bar-Kochba-Krieg seit 132 (a. a. O. 254 – 258), sind andere Impulse mitzusehen: die 123 beigelegte Krise mit den Parthern (a. a. O. 256; Fündling 2006, 616 – 619; als reaktivierter Eindruck, nicht aber Anlass zu werten: Bergmann a. a. O. 258) braucht theoretisch nicht die letzte gewesen zu sein (vor dem Krieg von 161 kam es zu weiteren: HA Pius 12,2; Fündling 2008, 63 mit 192 Anm. 14 zur ca. 145 datierten Krise), und ein Element der drohenden Invasion der Alanen 136 war das parthische Mißtrauen gegenüber Roms Klientelstaaten (Fündling 2006, 702) – eine Eskalation wäre also völlig möglich gewesen. Ins Spektrum der Statuensetzungen (selbst wenn wir alle „innerhalb von höchstens sechs Jahren“ ansetzen: Bergmann 2010, 254, später zugespitzt auf die Zeit „während oder unmittelbar nach dem Konflikt“: 255) gehört folglich ein Wandel der jeweils möglichen Bedrohungsgefühle. Ein Enddatum des Aufstandes nennt sie nicht; generell angenommen wird als offizielles – nicht tatsächliches – Ende die zweite Jahreshälfte 135 (Überblick: Fündling 2006, 678). So ernst der Krieg war und vielleicht wahrgenommen wurde, so interessant ist die von Bergmann a. a. O. 256f. herausgearbeitete Geste eines wehrhaften Friedens. Damit würde sich die Statue zwanglos in Hadrians gesamte Selbstdarstellung seit 117 einordnen (die 257 vorgeschlagene Prolepse der spätantiken Dauer-Sieghaftigkeit ist nicht so überzeugend). 114 Spawforth 2012, 262: „[T]he Hadrianic promotion of old Greece […] could be an opportunity to some, an affront to others.“ Als Verlierer zählt Woolf 1996, 134 beispielhaft Alexandreia, Ephesos, Korinth und Delphi auf. 115 Herodes: Philostr. VS 2,1 p. 549; für ihn auch als ersten Agonotheten der Panhellenia 137 n. Chr. Ameling 1983, 2,12.

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neuer Gremien war ja nicht neu – das Zusammentreten zum Provin­zialKoinon von Achaia hatte die alten regionalen Koina ergänzt, nicht aufgehoben. Moderne, eher technische Perspektiven haben das Panhellenion als Ersatzorganisation für die Delphische Amphiktyonie oder ältere panhellenische Initiativen gesehen, aber schon wegen der abweichenden Kultaufgaben der Amphiktyonen geht eine solche Gleichung nicht auf. Es gab nichts mit einem vergleichbaren Einzugsbereich oder Aufgabenfeld, soweit wir wissen, ehe Hadrian kam.116 Darin lag bei näherem Hinsehen eine konzeptionelle Schwachstelle. Festlandsgriechen wie Inselbewohner oder Honoratioren aus Kleinasien hatten für Hadrians Pläne keine Interpretationshilfe in Gestalt eines Präzedenzfalls. Es gab Organisationen mit dem Kaiser als Schirmherrn, die sich quer zur politischen Struktur über den gesamten hellenistisch durchdrungenen Teil des Imperiums erstreckten, aber dabei handelte es sich um die Athleten- und Technitensynoden. Trotz des Eliteanteils am Sport war diese Interessenvertretung kaum ein attraktives Vorbild für den Zusammenschluss ganzer Städte – doch es ist kaum ein Zufall und wohl nicht nur eine Frage des athletischen Terminkalenders, dass Hadrian in den Brieffunden von Alexandreia Troas seine Förderung auch dieser im wahrsten Sinne panhellenischen Instanz weit vorantrieb.117

116 Für die Theorie ‚echter‘ und ‚angemaßter‘ panhellenischer Organisationen vor Hadrian zuletzt Oliver 1978; nach Widerspruch von Jones 1996 widerlegt durch Ferrary 2001, v. a. 34f. Während die Rolle der Amphiktyonie als Probelauf für das Panhellenion neuerdings umstritten ist (vgl. Anm. 97; dafür Romeo 2002, 25), gibt es schon länger Stimmen gegen die Annahme, dass die Stimmenverteilung gemäß der fragmentiert erhaltenen Inschrift aus Delphi (Fouilles de Delphes 3.4 (1970), 302 = Oliver 1989, 183 – 190 Nr. 75) je von ­Hadrian umgesetzt wurde (Spawforth 1999, 342). Wenn ja, ist der Schritt hin zum bei Paus. 10,8,4f. überlieferten Zustand „an interesting feature of the Antonine age“, das Sparta aus dem Rat verbannt und Athens hadrianzeitliches Gewicht (von unbekanntem Ausmaß) auf gerade eine Stimme senkt. Dafür gehen je 6 Stimmen an das ‚unklassische‘ Nikopolis sowie Thessalien und die Makedonen, beide nun ‚auswärtige‘ Mächte (Antoninus Pius wäre als Initiator eine ganz plausible Vermutung). Ein anderes Forum mit gesamtgriechischem Charakter, der Hellenenbund in Plataiai mit seinem Fest der Eleutheria, wird als seit und wegen Hadrian verfallend betrachtet: Jung 2006, 377; zur Frage der Kontinuität zum Bund von 479 v. Chr. Hartmann 2010, 319 – 327. Kein Nieder­gang laut Strubbe 1986, 282 – 84. 117 Zur Ordnung der Festabfolge in AE 2006, 1403b vgl. besonders Slater 2008; Schmidt 2009. Bekannte Panhellenion-Städte sind unter den 15 genannten Wettkampforten

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Die Kaiserkult-Komponente und Hadrians persönliches Engagement für die Gründung hatten andererseits eine klare ‚Signalfunktion‘: Hier gab es neue, zusätzliche Prestigepositionen für alle Delegierten, die ideal geeignet waren, ein Nahverhältnis zu Hadrian zu demonstrieren. Ein konkreter Bedarf, eine ‚Marktlücke‘ für ein solches Gremium zeigte sich darin allein noch nicht. Auf kaiserliche Signale zur Loyalitätsbekundung einzugehen war Routine, der tiefere Sinn dahinter brauchte sich nicht unbedingt zu erschließen, erst recht nicht, da Hadrian sich (wiewohl unerhört freigebig) in den Bahnen mehr als eines Jahrhunderts kaiserlicher Begünstigungspolitik im Sinne der römischen „vision hiérarchique“ bewegte, für ein Griechenland mit Athen an der Spitze, was Rechtsvergaben und materielle Zuwendungen anging. Aber falls die Panhellenen sich einen besseren Zugang zu Hadrian sicherten als bisher, hatten sie nur wenige Jahre Zeit dazu – unter seinen Nachfolgern blieb die Wertschätzung ihrer Würde kaum so hoch wie vor 138. Für die Prominentesten unter ihnen ist kaum vorstellbar, dass sie sich in Fragen des kaiserlichen Gehörs noch dramatisch verbessern konnten. Und sollten die Orte, die sie vertraten, ihr Eigenleben nun intensivieren oder stärker in die neue Institution verlagern?118 Umgekehrt verwässerte Hadrian die ‚enge‘ Gleichsetzung von ‚Griechen‘ mit ‚Bewohner Griechenlands‘, die sich in der Praxis etabliert hatte, ohne anderseits an den weitgefassten kulturellen Hellenizitätsbegriff (Grieche ist, wer als Grieche lebt) anzuknüpfen. Er setzte sich in verwirrender Weise zwischen beide Stühle, den der ‚Eteohellenen‘ (um ein schreckliches Wort zu prägen) wie den der Paideia-Hellenen. Warum sollten die Panhellenen in den Koina von Achaia und von Asia sich an eine Panhellenismus-Definition gewöhnen, die ihnen allen fremd war, wenn nicht missfiel? Die Alltagssprache tat es möglicherweise nicht.119

von höchster Bedeutung zwar vertreten (nämlich Athen, Korinth – für Isthmia – und Argos), aber beileibe nicht überrepräsentiert. 118 „vision hiérarchique“: Ferrary 2011,13; vgl. van Nijf 2005, 284: „Hadrien ne restaura pas une Athènes telle qu’elle était, mais telle qu’elle devait être du point de vue des Romains.“ Panhellenion als Fortführung dieser Linie: Ferrary 2011, 11; für Swain 1996, 76: „presumably another way of tying the Greek elite into the Empire.“ 119 Vgl. Eus. h. e. 4,26,10 mit einer Liste von Briefen des Antoninus Pius an Larissa, Thessalonike, Athen und „alle Hellenen“. Das Koinon von Asia gemeint sahen Barnes 1968, 37f., Ferrary 2001, 35 Anm. 86 gegen Spawforth/ Walker 1985, 83f.

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Das Panhellenion musste sich behaupten gegen die lokale Zugehörigkeit, die verschiedenen ethnischen Herkunftsgeschichten (griechisch, ‚barbarisch‘ oder gemischt), die verschiedenen Gründungsmythen (ebenso), deren Zuwachs es ebenso spiegelte wie vorantrieb 120 – und in erster Linie gegen die numehr fest etablierte Provinzstruktur. Kein anderer als Hadrians großes Vorbild A ­ ugustus hatte die religiöse Bindung an Kaiser und Reichszentrum dermaßen mit dem Provinzzuschnitt parallel gesetzt, dass soziale Prominenz, Aktivität im früher gern ‚Provinziallandtag‘ genannten Koinon und Engagement für den Kaiser­ kult längst in eins fielen. Die Zuordnung zu diesen Einheiten (keineswegs immer, aber überwiegend deckungsgleich mit den Provinzgrenzen, wie sie sich darstellten) hatte über ein Jahrhundert Zeit gehabt, sich als festes Denkschema wie als Bühne der persönlichen und familiären Selbstinszenierung zu etablieren. Wenn es die Koina gab, wofür brauchte man eine Instanz, die zwar neue Ehrenfunktionen bereitstellte, zwar den Vorteil hatte, ungeliebte Nachbargemeinden vielleicht aussperren zu können, die aber gleichzeitig eine Trennlinie quer durch die eng verknüpften Oberschichten jeder Provinz zog und verschwägerte Familien in nicht panhellenenwürdigen Städten abzuwerten drohte? Kyrene brauchte Ptolemaïs vielleicht noch. Je ernster man das neue soziale Netzwerk nahm, desto desintegrativer würde es sich auf das Zusammenspiel der Provinzeliten auswirken, die Städterivalität um ein eher erratisches Muster bereichern. Gegen einen problematischen Statthalter würde auch weiterhin das Koinon protestieren, sicher nicht das Panhellenion. Also war es zumindest unpraktisch, im Koinon einander des Panhellenions wegen ferner zu stehen als vorher. Konnte es auch Konflikte zwischen der ‚griechischen‘ und der ‚römischen‘ Identitätskomponente seiner Mitglieder schüren? Aus griechischer Sicht stellte sich die Frage bestimmt nicht, obwohl das ‚Römische‘ des Konzepts als Grund für seinen Misserfolg benannt worden ist; eher taugte sie als Stoff für Unmut unter der Senatsmehrheit in der Westhälfte des Reiches (wo man eine Nivellierung Italiens genug – und mit Indizien – fürchtete, um jeder noch so ideellen

120 Panhellenion als „Produkt“ und Katalysator der mythischen Selbstvergewisserung zugleich: Weiß 2004, 196 (vgl. 193 zum erneuten Anwachsen mythologischer Themen und Motive auf städtischen Münzen seit Hadrian). Die erste große Expansion städtischer Selbstdeutungen im Mythos fällt wohl nicht zufällig in die Zeit Domitians, die Hadrian tiefer als bisher bemerkt geprägt hat (vgl. Fündling 2006, 1, 259; 275).

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Aufwertung von Achaia oder sonst einer Provinz sehr skeptisch zu begegnen).121 Ein Iulius Eurycles oder Herodes Atticus war in seiner Eigenschaft als römischer Bürger und Senator viel zu engagiert, um sich daraus ‚zurückzuziehen‘, aber deshalb konnte man ihm es nicht weniger unterstellen. Falls die in jüngster Zeit geäußerte Vermutung zutrifft, ein lange unterschätzter Statuentypus Hadrians im Brustpanzer gebe entweder das Kultbild des Panhellenion oder doch einen Grundtyp der seinem Stifter gesetzten Votivstatuen wieder, hätte das hinsichtlich der Romanitas Hadrians beruhigend wirken können … sofern es dann wiederum den Griechen nicht zu römisch erschien. Was im Übrigen für das gesamte Konzept gelten konnte, zu ihrem Gebrauch eine Stufen­folge zu entwerfen, wer sie waren und wo sie standen.122 Anscheinend zeigt sich im Versuch, das Panhellenion in (und als Fluchtpunkt für) dieses komplexe Bild einzupassen, was Caspar Battegay „das konstitutive Paradox der Repräsentation an sich“ nennt: „Sobald eine Figur etabliert ist, die 121 Unbeliebtheit als Versuch, Griechenland nach römischem Ideal neuzuschaffen: Swain 1996, 76. Ferrary 2011, 17 vermutete, Hadrian habe die Westgriechen ausgespart, um „la primauté absolue de l’Italie“ nicht zu gefährden – mit den Münzen der Provinzserie und vor allem der Einsetzung der legati in Italien war er aber schon im Begriff, diese zumindest abzuschwächen. Vgl. Eck 1991. 122 „Romanity“ der Gründung führe zur „patchiness of the Greek reception of the ­Panhellenion“ (Spawforth 2012, 249), „submission to which […] signalled a subject community’s acceptance of Roman cultural authority.“ (255). Panzerstatuen vom ­Hierapytna-Typ: Bergmann 2010 zufolge durch die Symbolsprache, die bewußt doppeldeutig auf Roms aeternitas wie auf die dauerhaft-siegreiche Verbindung von Rom und Athen hin zu lesen sei, „Zeuge par excellence für Hadrians integrative Reichspo­ litik“ (240). Bergmanns Identifikation des in Athen zu suchenden Originals (234f.) mit dem Kultbild des Panhellenions selbst (a. a. O. 252f.) überträgt Spawforth 2012, 255 – 261 alternativ auf die Votivstatuen. Zentral sei „the sculptural emphasis on the martial role of the emperor as protector of humanitas“ (259), auch als Reaktion auf den proble­ma­ tischen Herrschaftsantritt von 117. Woolf 1996, 134: „Remedy or homage, the ­Panhellenion celebrated Hadrian’s Greeks.“ Nur zwei der 17 bei Bergmann 2010 aufgeführten Exemplare des Statuentypus sind nachhadrianisch zu datieren (a. a. O. 251f. Anm. 106). Be­ruhigungsfunktion in beide Richtungen: „die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen des Panhellenion“ für griechische betrachter, „während dem Römer jegliches Mißtrauen, das er angesichts des großen Engagements Hadrians in den Provinzen und vor allem im griechischen Osten empfunden haben mag, genommen wurde.“ (a. a. O. 252) Werden sollte. Wozu der Römer in den Osten hätte reisen müssen: genau eine bekannte Statue westlicher als Griechenland und die Kyrenaika, siehe Karte Abb. 11 S. 234).

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Identität herstellen und garantieren soll, zeigt sie auch schon wieder deren innere Brüchigkeit.“123 Ensembles aus Begriffen und Symbolen erreichen temporär ein imposantes Maß an Geschlossenheit, aber die Einzelelemente machen sich über kurz oder lang störend (und vielstimmig) bemerkbar. Dies gilt auch für die persönliche Integration von römischer Lebensordnung und griechischer Kultur, sei es (mit unterschiedlichen Schwerpunkten) in Gestalt eines griechischen ­Magnaten oder eines römischen Kaisers. Da eine einzelne Identifikationsfigur gar nicht alles Nötige harmonisch in sich vereinen konnte, selbst wenn sie diesen Ehrgeiz hatte – zählte sie zu den wenigen führenden Männern in Achaia, musste sie schon wieder zu ‚römisch‘ für die Darstellung eines Nur-Griechen sein –, galt der Satz des skeptischen Aristokraten Goethe: „Allen zu gefallen ist unmöglich.“ Stärker noch gilt dies für Hadrians Versuche, die kaiserzeitlich-griechische Welt in ein Gefüge zu bringen, das einerseits in einer ganz neuen formalen Festschreibung auf Unveränderlichkeit angelegt war, andererseits die Handschrift des augenblicklichen Princeps trug, also zeitgebunden war – und noch dazu in der Wertschätzung der Einzelmitglieder von den Verhältnissen der Zeit und dem Prestige­bedürfnis der Mehrheit außerhalb Achaias dermaßen abwich, wie es kaum erträglich scheint: Hadrian stieß an die Grenzen des Möglichen. Für die Konstruktion einer geschlossenen griechischen Vergangenheit gelten solche Grenzen ebenso wie für die Konstruktion eines klar umrissenen griechischen Raumes.

9. Rivalität, Vitalität? Städtekonkurrenz und die formierte griechische Identitätslandschaft Je philhellenischer die römische Politik sich gab, desto intensiver schrieb und deutete sie die Symbole der Kultur um, der sie ihre Reverenz erwies. Als ­Phylenheros und an Dutzenden Orten gefeierter Neugründer wurde ­Hadrian – aggressiv, ob er wollte, oder nicht – Teil jenes Griechenlands, das er stärken wollte, und verwischte die Konturen des Vorgefundenen gerade mit seiner Initiative, sie klarer nachzuziehen. Für seine Vorgänger wie Nachfolger galt das Gleiche.124

123 Battegay 2012, 16. 124 „For all that Roman imperialism in Greece may not have been overtly interventionist, it was nonetheless highly intrusive“ (Alcock 1993, 171; Hervorhebungen im Orig.).

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Ob sich gegen Roms Eingriffe eine Fundamentalopposition bildete, sei sie nun ideologisch oder gewaltbereit, ist umstritten.125 Man wird sich schwer tun, etwa die Bauprojekte, die die öffentlichen Räume Athens stellenweise bis zur Unkenntlichkeit veränderten – während die ‚Römische Agora‘ in die Höhe wuchs, wurde der Begegnungsraum des Demos auf der alten Agora planmäßig zugebaut und räumlich ebenso wie in der politischen Praxis beseitigt –, mit verstreuten Unruhenachrichten aus augusteischer Zeit zu verbinden. Doch der augusteische Bauboom – Initiativen des Kaiserhauses ebenso wie die Bauten der hochstehenden lokalen amici, die häufig dem Kaiserkult affin oder direkt gewidmet waren – war in seiner Rezeption nicht eindimensional festgelegt, war nicht entweder Fremdbestimmung oder willkommene Bereicherung des Stadtbildes. Wenn eine Stadt auf ihre Kaisertempel einen gewissen Stolz entwickelte, wie nehmen wir die partielle Differenzierung nach römischem Octroi und gestärktem Selbstwertgefühl vor?126 Die Identitätspflege als potentieller Unruheherd steht gelegentlich sehr wohl am Horizont der Eliten. Ihrerseits hatten sie sowohl mit der Gefahr, beneidet zu werden, wie mit möglichen Folgen ihrer Rivalität untereinander zu rechnen. Was Aelius Aristides in seiner Romrede themenbedingt als Tatsache hinstellte, reduzierte sich, an die Städte von Asia gesprochen, zur bloßen Empfehlung – falls sie Rom gefallen wollten.127 In Achaia war die Warnung vielleicht unnötig, die meiste Zeit zumindest. Josephus warf Eurykles von Sparta vor, bis zu seiner Verbannung durch Augustus „Achaia mit στάσις erfüllt zu haben“. Möglich wäre – wie bei der Verbannung seines Sohnes C. Iulius Laco – ein Schüren der Adelsrivalitäten in den lakonischen Bundesstädten, um Rückhalt gegen die innerspartanische Konkurrenz der Brasidas-Dynastie zu gewinnen. Vor Augustus’ Winter in Griechenland

125 Keine Aufstände oder „clear ideological ‘resistance’“: Millar 1993, 249. Anders und etwas zu suggestiv Spawforth 2012, 264: „the diversion of elite funding into the recreation and maintenance of archaistic rituals could be socially divisive, and on rare occasions […] perhaps explosively so.“ (264). 126 Agora in Athen: Alcock 1993, 93 – 95. Aktivitäten zur Zeit des Augustus generell: ­Spawforth 2012, 207 – 232; ‚entgegenkommende‘ Stiftungen in Athen: 81 – 86; in Sparta: 118 – 130 (Theater und eventuell die Perserstoa); 220 (von Eurykles gestiftete Tempel für Caesar und Augustus). 127 Aristid. or. 24 K., 65.69: Eintracht verwirklicht; or. 33 K.,73: dringend angeraten (vgl. Swain 1996, 291).

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22/21 v. Chr. war es in Athen zu einer romfeindlichen Szene gekommen: eine Athenastatue fand sich gen Rom gedreht und mit blutverschmiertem Mund. Spätantike Quellen sprechen von weiteren Unruhen etwa 13 n. Chr., und etwa zur selben Zeit ist ein kaiserlicher Legat in Athen präsent.128 Faszinierend ist Plutarchs Warnung, mit dem Aufruf an die Städter, ihre großen Altvorderen nachzuahmen, erzeuge man Aufstände – „wie in Pergamon unter Nero, in Rhodos unter Domitian und in Thessalien unter Augustus“. Eine letzte Nachricht betrifft Antoninus Pius: in Achaia etiam atque Aegyptum rebelliones repressit. Ursachen und Anstifter (Peregrinus Proteus selbst ist ins Gespräch gebracht worden) laden zu Spekulationen ein.129 Die Liste sprichwörtlich harter und aggressiver Städterivalitäten in der Kaiser­ zeit ist lang.130 Zu den langlebigen Feindschaften, die sich während der Bürger­ kriege (und seltener auch im Frieden) in offener Gewalt entluden, zählen Smyrna gegen Ephesos und Pergamon in Asia, Byzantion gegen Perinthos und natürlich Nikomedeia gegen Nikaia in Bithynia-Pontus (Nikaia schloss sogar eine symbolische Allianz mit Byzantion, was umgekehrt Perinthier und Nikomedier zusammenführte).131 Zwischen Tarsos und Mallos in Kilikien herrschte 128 Eurykles: Jos. BJ 1,531 vgl. AJ 16,310; nach Bowersock 1961, 116 zwischen 7 und 2 v. Chr. Laco (PIR² I 372): Tac. ann. 6,18 (Heimkehr wohl unter Claudius: Bowersock 1961, 117). Zur Auseinandersetzung Kennell 1999, 201 – 205. Athen: Cass. Dio 54,7,2f. vgl. Plut. Reg. et imp. apophth., Aug. 13 = Mor. 207 f; zweites Ereignis: Eus. chron. 197,4 ad ann. 9, p. 170 Helm; Oros. 6,22,2; Paulus Diaconus, Hist. Misc. 7 (Migne, PL 95), 861c, vgl. IG II² 3233. Ausführlich Hoff 1989. 129 „wie…“: Plut. praec. ger. rei p. 17 = mor. 814c; Hinweis bei Veyne 1992, 540. HA Pius 5,5: Hüttl 1936, 320 mit Anm. 483 verwies auf Luc. de morte Peregr. 19; Barnes 1978, 46 führte AE 1929, 21 = SEG 11 (1950), 501 aus Sparta an (wo Z. 7 die Rede von νεοτερισμοί ist); skeptisch Callu 1992, 152 Anm. 54. Veyne 1992, 527 Anm. 69; 540 Anm. 141 dachte an eine unbekannte Stadt, Spawforth 2001, 392 an mögliche Folgen der Diskrepanz zwischen hadrianischer Vergangenheitspolitik und der Niedergangsgeschichte Griechenlands. 130 Dion Chrys. or. 34 K., 48 nannte vor seinen tarsischen Zuhörern (in deren Streit mit Mallos) Aigaier und Einwohner von Prusa, Apameia und Antiochia, Smyrna und ­Ephesos (Tarsos gegen Anazarbos sparte er delikaterweise aus). Handliche Aufzählungen von Streitfällen: Syme 1981 (mit zahlreichen Fällen von ‚Symbiose‘); Sheppard 1986, 237; Strubbe 1986, 255. Ausführlich für Kleinasien jetzt Heller 2006. 131 Smyrna-Ephesos: um Neokorie und Metropolitanfunktion; schönes Zeugnis SIG³ 849, Brief des Antoninus Pius, dazu Robert 1977, 21f. Eingehend zur flavierzeitlichen Rivalität Dräger 1990, 107 – 200. Aus Asia vgl. auch Laodikeia am Lykos gegen Unbekannt

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unter Traian wegen Grenzstreitigkeiten so böses Blut, dass Dion Chrysostomos die Tarsier vor einer römischen Militärintervention warnte. In Syrien stand Antiocheia gegen Laodikeia und Berytos gegen Tyros.132 Die Römer nannten solche Streitigkeiten „griechische Sünden“, Ἑλλενικὰ ἁμαρτήματα, so tadelte wieder Dion in der Rede an Nikaia; Herodian schlug mit Bemerkungen über den Bürgerkrieg von 192/93 in dieselbe Kerbe: dies eben sei „eine alte Krankheit der Griechen“, habe die Halbinsel ausgezehrt und sei später „auf die bei uns florierenden Städte“ übergesprungen.133 Dabei waren massive Auseinandersetzungen beileibe kein griechisches Privileg. In Tripolitanien begegnet der veritable Krieg von Oea gegen Lepcis Magna im Bürgerkriegsjahr 69, das im vermeintlich friedlichen Gallien die Krise zwischen Lugdunum und Vienna sah.134 Natürlich nahmen Territorialkonflikte längst nicht immer solche Formen an. Interessant nur, dass die „griechischen Sünden“ zwischen Städten in Griechenland zumindest in ihrer Extremform fehlen … so wohldokumentiert Auseinandersetzungen an sich auch sind. Eine scheinbare Ausnahme bildet der Streit zwischen Megara und Athen, in dem die Athener von den Kleinen Pythien ausgesperrt worden waren, „so als wäre der berühmte Beschluß gegen sie erst kürzlich ergangen“; der Sophist Marcus von Byzantion legt das bei. Philostrats Aorist ἐστασίαζον lässt jedoch die Möglichkeit offen, den Dissens nicht als punktuell, sondern als einen schon länger (jahrzehntelang?) anhaltenden Zustand zu sehen. Es könnte sich ohne weiteres um sozusagen antiquarische Animositäten wegen des megarischen Psephisma handeln, in denen – auch das ist sprechend – der Kernort der Bildungs- und Vergangenheitslandschaft siegt.135 (erwähnt Robert 1977, 22, Ärger eines hochrangigen römischen Briefschreibers über ματαία φιλονεικεία: IK 49 (IvLaodikeia 1), 42 – 44 Nr. 10. Klassisch zu Nikomedeia: Robert 1977; ergänzt durch Drolet 2004. 132 Tarsos: Dion Chrys. or. 34,11f.; Kienast/Castritius 1971 für Kienast 1972, 74 während des Aufmarsches gegen die Parther 112/13 in offizieller Mission gesprochen (zustimmend Veyne 1999, 560). Berytos: Hdn. 3,3,3; 3,6,9; Antiocheia: vgl. Fündling 2006,2,668f. mit Lit. zu HA Hadr. 13,10. 133 Dion Chrys. or. 38 K., 38 (ähnlich Aristid. or. 42 D., 535f. = 23 K., 73f.). Städtestreit ἐν πᾶσι ταῖς ἔθνεσιν (Hdn. 3,7,7): ἀρχαῖον τοῦτο πάθος Ἑλλήνων (3,7,8), übertragen ἐς τὰς καθ᾿ ἡμᾶς ἀκμαζούσας πόλεις (3,7,9). 134 Oea: Tac. hist. 4,50; Lugdunum: Tac. hist. 1,65; dazu Syme 1981 = 1988, 75f. 135 Grenzstreitigkeiten: vgl. Burton 2000, in dessen Liste (206 – 208) aus Achaia immerhin acht von 88 bezeugten Fällen kommen – die Zahl sollte allerdings auf fünf reduziert werden, da die als Nr. 67 – 70 aufgeführten Konflikte unter Beteiligung Delphis

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Diese Eigenheit erklärt sich teilweise sicher aus der Armut. Im Konkurrenzrepertoire der achaiischen Städte fehlt das ‚Spitzenprodukt‘ unter den Städten Kleinasiens, die Neokorie; mit der nötigen Schnelligkeit hätten sich Athen, Sparta und Korinth auch gar keinen Wettbewerb an Tempelbauten liefern können. Vom Gerangel um das Prädikat metropolis auf der Grundlage solcher Prachtbauten verlautet aber ebenfalls nichts – dabei lagen solche Rangstreitigkeiten möglicherweise bei jeder Zusammenkunft auf Provinzebene in der Luft. Die Frage scheint sich gar nicht gestellt zu haben. Ob ein weiteres Konkurrenzfeld, die in Achaia sehr wohl belegte, weit weniger kostspielige Entsendung und Aufnahme von Festgesandtschaften anderer Städte, die weiter östlich geläufigen Mechanismen spiegelt, bliebe zu untersuchen.136 Ein gewisser Brückenschlag zum ‚Markt‘ der kleinasiatischen Prestigeduelle gelang auf dem Feld der von Augustus bis in die 270er Jahre belegten Homonoia-Münzen, mit denen zwei Städte (seltener eine Stadt und ein Koinon) einander ihrer Anerkennung versicherten. Der Verbindlichkeitsgrad dieser Bekundungen ist umstritten.137 Nur in wenigen Fällen griffen sie jedenfalls über Asia hinaus; ein isolierter Fall dieser Praxis liegt vielleicht als ‚Paket‘ entschieden wurden und mit einiger Wahrscheinlichkeit untereinander Verknüpfungen aufwiesen (vgl. a. a. O. 202f.). „so als…“: Phil. VS 1,24 p. 529 (ὥσπερ ἄπτι τοῦ πινακίου ἐπ᾿ αὐτοὺς γεγραμμένου). W. C. Wright (Cambridge, Mass./ London 1921), p. 106 übersetzt: „were still keeping up their quarrel“. Eine Initative Hadrians, des einzigen in dieser Vita genannten Kaisers, für die Schlichtermission ist denkbar. 136 Burrell 2004; kurz zu Kleinasien einschließlich der Theorodokie Stephan 2002, 140 – 149. Periodische Reibereien zu Provinzfesten der Koina/ conventus: so Merkelbach 1978. Auf die ökonomische Logik hinter der Konkurrenz um Feste und Titel (147) und besonders deren Rolle in der Kommunikation mit dem Kaiser (148f.) verwies Stephan 2002. Neokorie und Kaisernähe als Themen der Münzprägung: Weiß 2004, 183. 137 Homonoia: Als Rechtsakte, die quasi eine Isopolitie herstellten, gedeutet von Kienast 1964 mit dem wichtigen Hinweis 64 Anm. 49 auf die programmatische Forderung nach Aussöhnung von Städten in der Maecenasrede (Cass. Dio 52,37,10). Dagegen Franke 1968, 23f.; Nollé/ Nollé 1994, die dahinter einen – in seiner Art ja ebenfalls bindenden – öffentlichen Vollzug mit starken Unterschieden an Herzlichkeit und Entgegenkommen sehen; so auch Swain 1996, 181 (eine „ideological industry“, Fabrikantin von „loose proposals to pursue concord and amity“). Die Replik von Kienast 1995 verwies auf materielle Vorteile der Gemeinsamkeit und Spuren langer Verhandlungen in mehreren epigraphischen Zeugnissen. Mit einem breiten Motivspektrum je nach Einzelfall

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in Macedonia zwischen Beroia und Thessalonike vor, die einen Konflikt – um die Neokorie? – beilegten. Sicher nicht auf Gegenseitigkeit beruhten die Homonoia-Prägungen von Smyrna für Rom, Athen und Sparta; im Fall Athens sollte unter Commodus eindeutig die von den Smyrnäern beanspruchte Gründungsbeziehung gefeiert werden – und nicht zufällig entspricht dem eine Geste Smyrnas an die Nummer 2 in der von Rom etablierten innerhellenischen Rangfolge. Special relationships solcher Art demonstrierte auch Side, als es für Delphi prägte, wohl als Hinweis auf die eigenen isopythischen Spiele in Absetzung gegen die Intimfeindin Perge. Nebenbei sind Schlägereien bei Festen eine der Formen, wie Städterivalität die breite Bevölkerung involvieren kann.138 Auseinandersetzungen zwischen den Poleis werden in der Rückschau „als Bürgerkriege empfunden“, und wenn die Griechen der Kaiserzeit Vorurteile über sich selbst und ihre Vorfahren äußerten, dann zählte die Streitsucht dazu, mit der Hellas – so Plutarch – seiner eigenen Versklavung vorgearbeitet hatte.139 Aus einer noch späteren Zeit heraus lässt sich fragen, ob zur oft beschworenen und eingeschärften Friedfertigkeit – die in Achaia anscheinend besser funktionierte als anderswo – nicht auch eine negative Komponente gehört. Zum Fall der jahrzehntelangen Sticheleien zwischen Perge und Side, die sie durch das turbulente 3. Jh. hindurch begleiteten, vermerkte Peter Weiß, „wie stark sich durch die Krisenzeit hindurch im Osten der typische Bürger- und Individualstolz der Städte und ihre Identifizierung mit Kaiser und Reich gehalten haben“. Nach Weiß’ Deutung standen die Einwohner Achaias in dieser Hinsicht auf charakteristische Weise zurück. Und das, so schärfte ein Wortführer nach dem anderen ein, war höchste Zeit.140

(von Streitschlichtung bis zu intensiven Handelsbeziehungen) rechnete Sheppard 1984. Ausgewogen Weiß 2004, 190 mit Anm. 16. 138 Beroia/ Thessalonike: H. Gaebler, Zur Münzkunde Makedoniens IV: Makedonien in der Kaiserzeit. Zeitschrift für Numismatik 24 (1904), 245 – 338; dort 331 – 336. Hinweis bei Sheppard 1986, 235f. Zum 3. Jh. vgl. Ziegler 1988. Smyrna zu Athen: vgl. Sheppard 1986, 233 Anm. 30; Side für Delphi: Franke/ Nollé 1997, Nr. 1926 – 1938; vgl. Stephan 2002, 154. Entladung bei Festen: Stephan 2002, 156 – 158. 139 Plut. Flam. 11; Zitat: Touloumakos 1971, 72. 140 Weiß 1991; Zitat 353. Aus der Sicht der (laut den Pergäern und SEG 34 (1984), 1306 unter Tacitus unterlegenen) Rivalin Nollé 1990.

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10. Pausanias: Das ‚griechische Griechenland‘ aus der Sicht eines lydischen Griechen Im Werk des Pausanias zeigt sich das ganze Dilemma. Griechische Geschichte jenseits der Landschaft aus Sakralorten, Riten und Denkmälern ist bei ihm – nach den Mythen und vor den Persern – zu weiten Teilen Konfliktgeschichte. Der Preis, beim Beschreiben der Heiligtümer jene Votivgaben und Schatzhäuser schlicht zu unterschlagen, die den abgestoßenen Jacob Burckhardt in Delphi „das große monumentale Museum des Hasses von Griechen gegen Griechen“ erkennen ließen, war Pausanias zu hoch – es wäre nicht genug übrig geblieben. Er bereist und sucht die festen Grenzen zwischen den Poleis, geographisch wie mythologisch, die er dann verbal markiert; dazu muss er sie mitunter erst herstellen. In bester herodoteischer Tradition geht er Unstimmigkeiten wie den Mythenstreit um die Herkunft der Phliousier an, um klare Verhältnisse zwischen Phlious und Sikyon zu schaffen, zumindest im Kopf des Lesers. Im Duell zwischen Homer und argivischen Lokalsagen gewinnt natürlich Homer; Hauptfeindin der Klarheit aber scheint „die geschichtsunkundige Menge“ zu sein, die in Athen Theseus für den Gründer der Demokratie hält, weil die Dramen es so hinstellen, oder die Ciceroni von Argos nötigt, im Streit mit den Epidauriern um das Grab der Hyrnetho eine unhaltbare Version zu verbreiten. Die Gebildeten können „der vielen“ wegen leider nicht, wie sie wollen.141 Konflikte aber sind eigentlich gerade nicht, was Pausanias in seiner – geistigen, wie man leicht vergisst – Heimat wiederfinden will. In der Zeit vor der Galaterinvasion (in den düsteren Tagen des Hellenismus also) seien die Griechen „nicht mehr“ zusammen gewesen (wann sie das je waren, erfährt der Leser nicht – vielleicht 480 v. Chr.), sondern „jeder für sich“, was solches Unheil angezogen habe.142 Ein kleines Flämmchen des Zusammenhalts flackert in mythologischer Zeit auf Aigina: Dort habe Aiakos während einer landesweiten Dürre dem panhellenischen Zeus geopfert, wie gleich zweimal erzählt wird.143 Ansonsten ist über Handlungen von oder für alle Griechen nicht viel

141 Burckhardt 2002, 233. Grenzen: Alcock 1996, 244. Phlious: Paus. 2,12,3 – 13,2. Homer: 2,21,8 – 10. Theseus: 1,3,2; Hyrnetho: 2,23,3.6 (Swain 1996, 73 sah dahinter auch römische Touristen). 142 Paus. 7,6,8f. 143 Paus. 1,44,9; 2.29.7f.

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zu erzählen. Schon das garantiert, dass der öfters diagnostizierte ‚Patriotismus‘ des Autors gründlich gebrochen ausfällt.144 Literarisch war es möglich, die vielen griechischen Alternativwelten auf einen Nenner zu bringen, die Disharmonie zwischen den real existierenden Poleis in eine fortlaufende Erzählung zu überführen – das Theben in Pausanias’ Bericht kann sich ja nicht sträuben, falls seine maximalen Gebietsansprüche nicht respektiert werden. Im Gegenteil, alle stehen an jenem Platz, der ihnen zukommt – und wie Jas Elsner am Beispiel Messeniens gezeigt hat, ist das für Pausanias, einen Vertreter des Autochthoniegedankens, die höchstmögliche Existenzform, eine Heimkehr zu sich selbst. Historisch gesehen konnte man einige Rosinen aus dem Teig picken – das wenige, was von der hellenistischen Geschichte Griechenlands vorkommt, spricht für sich. Die Gallier fallen ein und werden von Apollon vernichtend geschlagen; so wiederholt sich der Perser­sieg der Griechen, their finest hour, inmitten einer Epoche der Ohnmacht. Zur Liste der bei Plataiai kämpfenden Poleis gehört auch die Reihe derer, die es nicht mehr gibt. Ausgerechnet die Wirren der Gegenwart ließen die alten Zeiten zu Pausanias’ Freude wieder aufleben: Mnesiboulos, Sieger in der 235. Olympiade, fiel unter Marc Aurel gegen die einfallenden Kostoboken; fast genau ein Jahrhundert später sollte es Dexippos vergönnt sein, gegen einen Haufen Heruler, die Athen bedrohten, den Miltiades zu spielen – sagte er zumindest. Der Genuss von Chronisten und Teilnehmern an solchen Momenten des Gleichzeitigwerdens mit ihrem Ideal ist unverkennbar – auch weil der Bruch mit ihrem sonstigen Leben es ebenso war.145 144 Pausanias, der ‚Außenseiter‘ aus der Gegend von Magnesia (der von den Lydern, nicht aber von den Griechen als „wir“ spricht: Jones 2004, 16), schaltet immerhin in 7,2,1 – 5,13 einen ausführlichen Exkurs zur Kolonisation Ioniens ein (Elsner 1992, 7 ließ ihn „his own native land“ Achaia bereisen; Hervorhebung im Orig.). Der Hinweis von Jones 2004, 17 auf Pausanias’ „remarkably cool appraisals of Greek history“ trifft insofern völlig zu; seine Grundposition „that this supposed Hellenic patriotism, sometimes assumed to be equivalent to Hellenism, is a chimera“ (14), schlägt aber ins Gegenextrem. Zur laufenden Diskussion um Pausanias’ Romfeindschaft vgl. nur die reichhaltige Literaturauswahl bei Hutton 2009, 622 Anm. 1. 145 Messenier: Elsner 1992, 15f. Plataiai: Paus. 5,23,1 – 3. Mnesiboulos: 10,34, (Denkmal in Elateia); Dexippos: FGrHist 100 F 28,6; dazu Millar 1969 (nur wurde Athen dieses Mal geplündert). Vgl. Ewald 2004, 256 – 263 zur prominenten Rolle der Schlachtszenen auf den ca. 1500 bekannten attischen Sarkophagen (enstanden zwischen der Zeit Hadrians und der Mitte des 3. Jh.: a. a. O. 231), deren Wertaussagen über „the well-trained warrior’s

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Die Thermopylen und Leonidas stehen in der Heldengalerie dieses imaginären Griechenland höher als Marathon und Miltiades – und sogar als ­Achilleus; der Symbolwert der persönlichen Leistung, das Selbstlos-Integrative, zählt demnach mehr als die größtmögliche andreia einerseits und der sprichwörtlich unverhoffte Sieg (aber ein Sieg von Athenern für Athener) auf der anderen Seite. Elf Namen sind es, mit denen Pausanias einen späteren Exkurs über Philopoimen beschließt, der beinahe mit Plutarchs einschlägiger Biographie konkurriert. Der Achaier ist der letzte „vortreffliche Mann“ in der Reihe dieser „Wohltäter für die Gesamtheit von Hellas“. Vortrefflichkeit besteht, wie die Auswahl verrät, entweder im Besiegen fremder Eindringlinge oder im Brechen einer innerhellenischen Hegemonie, jedenfalls im Zusammenstehen aller. Wie deutlich zu den Fremden inzwischen auch die Makedonen gerechnet werden, zeigt sich an Pausanias’ Ankündigung, die Teilnahme der Arkader an Kriegen zu verzeichnen, ob nun mit oder gegen „die Griechen“ – das „gegen“ bezieht sich, wie später deutlich wird, auf Chaironeia, so als wäre es ein verunglücktes Plataiai.146 Mal haben äußere (oder nach außen projizierte) Feinde solche Verarmungen an Identität bewirkt, mitunter hat sie die eigene, interne Geschichte produziert: Weil die Messenier so lange nicht im eigenen Land wohnen konnten (die Heloten zählen nicht), haben sie viel von ihrer Geschichte vergessen, und andere konnten ihre Denkmäler und Mythen usurpieren. Niemand anders als Pausanias selbst tritt an, das zu ändern, und sein Geschichtsüberblick sollte eher ein ‚messenischer Logos‘ heißen. Um reinen Wissensdurst geht es nicht bei dieser Erzählung von Zerstreuung (und Sklaverei), Widerstand, Heimkehr und Freiheit. Sie gipfelt in der Intervention eines pangriechischen Helden (­Philopoimen), aber ihr Leitmotiv – ebenso wie die entscheidende Kraft bei der Wendung zum Guten – ist nichts anderes als die verbissen gewahrte

body“ sich anachronistisch ausnehmen (a. a. O. 261). Ihre Beliebtheit auch im Westen (aus Philhellenismus oder als Hochpreisprodukt? a. a. O. 266f.) ist ein bemerkenswerter Exporterfolg dieses demonstrativ hellenischen Objekttyps. 146 Leonidas, Achilleus, Miltiades: Paus. 3,4,7; Philopoimen: 8,49,1 – 51,8, „Wohltäter“, die Liste: 8,52,1. (Die Liste: Miltiades, Leonidas, Themistokles, Xanthippos, Leotychidas, Kimon, Konon, Epameinondas, Leosthenes, Aratos, Philopoimen. Epameinondas bekommt mit 9,13,1 – 15,6 eine eigene Vita; die Vorbildwirkung Plutarchs für die beiden letzten Positionen darf vorausgesetzt werden, während Leosthenes in der Phokion-Vita zumindest erwähnt ist.) Zur Ausrichtung Jones 2004, 17.

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Kontinuität über hoffnungslose Jahrhunderte hinweg. Mit einer überraschenden Pointe: „Offenbar“ hätten die Messenier nichts von ihren Bräuchen aufgegeben und sogar das allerreinste Dorisch von allen behalten. Diese Selbstbehauptung allein – und sie ist nun in der Tat ‚mythisch‘ – macht den guten, ja triumphalen Ausgang der Geschichte möglich. Es fällt schwer, dahinter kein exemplum für eine griechische Renaissance zu vermuten.147 Die Gegenwart war in Pausanias’ Beschreibung durchaus nicht vergessen – in vielsagender Weise. Wenn es Erfolgsgeschichten zu erzählen gibt, erzählt er sie ebenso wie das Wüstliegen berühmter Städte; zum verschlafenen Megara merkt er eigens an, allein diese Polis in ganz Griechenland sei selbst durch Hadrians Wohltaten nicht zu neuer Prosperität gelangt.148 Sein Lob für das Wirken dieses Kaisers – die restaurierten und vollendeten Bauten, die an Städte zurückgegebenen Namen und Rechte – durchdringt weite Teile des Buches, aber fast nie erwähnt es die Weihgeschenke und Inschriften, mit denen Hadrian die ganze Fläche Achaias förmlich überzog, und vom Panhellenion findet sich kein Wort.149 Noch lauter ist das Schweigen, wo die griechischen Magnaten der ­Kaiserzeit 147 Geschichtsarme Messenier: Paus. 3,15,2; die Erzählung: 4,4,4 – 4,29,13. Sprachreinheit, Kontinuität: 4,27,10f. (287 Jahre, die längste Pausanias bekannte Exilzeit – und wenig kürzer als der Abstand zwischen ihm und 146 v. Chr.). Was ein Messenier ist, bildete real seit dem Moment der Unabhängigkeit von Sparta ein Problem: zum 5./4. Jh. vgl. Figueira 1999. Ein großes Thema auch bei der Neuinterpretation in augusteischer Zeit: Spawforth 2012, 179 – 186; Architektur a. a. O.  211 – 217. 148 Nicht-Blüte Megaras (Bowie 1996, 215f.): Paus. 1,36,3. 149 Pausanias und Hadrian: Bowie 1996, 221 – 225; Ausgespartes: 224f. – eine Ausnahme ist das Nest Kynaitha, wohl weil es darüber sonst wenig zu sagen gäbe; nur der Reisekaiser ist auch hier präsent (Paus. 8,19,1). Grund der Erwähnungen sei „Hadrian’s own sympathy with the Hellenic heritage“ bzw. „his attempts to preserve its monuments as well as revitalise its institutions.“ (Bowie 1996, 230 – aber warum dann nichts zum ­Panhellenion?) Vielleicht etwas unterschätzt ist a. a. O. 226 der sehr geschlossene Exkurs Paus. 8,43,3f. zu Antoninus Pius, der neben der Historia Augusta die längste erhaltene Beschreibung seiner Herrschaft überhaupt darstellt – Pius kommt sonst zwar praktisch nicht vor, aber für eine Pflichtübung ist die Passage reichlich lang, besonders verglichen mit der Gesamtwürdigung Hadrians (wenn auch an prominenter Stelle: Paus. 1,5,5). Möglicherweise liegt ein Reflex der offiziösen Erinnerungspolitik Marc Aurels während der Jahre 169 – 174 vor: Die Existenz von Lucius Verus ist ebenso wenig erwähnt wie der gewonnene Partherkrieg; die ehrenvolle Vignette für Antoninus und Marc Aurels Vorstellung als ‚Antoninus II.‘ treffen den persönlichen Geschmack des Kaisers (vgl. Fündling 2009, v. a. 237; 246; 255f.).

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auftreten (sollten). Herodes Atticus begegnet schlicht als „ein Athener“, über dessen soziale Rolle weiter nichts verlautet; auch Eurykles in Sparta sieht sich auf den bloßen Namen reduziert, während Philopappos sogar anonym bleibt. Ihre wichtigsten Bauten, die die Stadtlandschaften prägen, erscheinen, nicht aber das Nymphäum des Herodes in Olympia. Es liegt nahe, das Bauprogramm als einen Grund dafür zu sehen – die ins Bild gesetzte Nahbeziehung von Herodes und Regilla mit dem Kaiserhaus, die optisch halbe Monarchen aus ihnen macht, kann Pausanias nicht zugesagt haben. Herodes wie Eurykles auf das Format von citoyens zurechtzustutzen, bewegt sich auf einer Linie damit, ‚König‘ Philopappos, den Monarchenenkel, mit seinem von Herrscherstatuen strotzenden Monument ganz zu unterschlagen – Könige gehören nicht zum ‚richtigen‘ Griechenland, wie Pausanias’ Makedonenaversion verdeutlicht. Für die Stiftungen des Eurykles in Sparta fällt ein Kommentar ab, wie sehr die beiden Tempel den Eindruck der Agora verändert hätten – ob das Verschweigen von Agrippas analogen Eingriffen in Athen nun als Strafe oder als Schonung gemeint ist (er war ein Römer und ‚wusste es nicht besser‘), gelobt zu fühlen brauchte sich Eurykles nicht.150 Auch sonst wird der hellenische Anteil am eigenen Unglück besonders direkt angesprochen: Da die Entwicklung des Achaiischen Bundes bei Pausanias zugleich die Geschichte der griechisch-römischen Beziehungen schreibt, sind und bleiben die achaiischen Politiker (außer Polybios) schuld an der Katastrophe, und der Exkurs endet mit Roms Entscheidung, sich zu „erbarmen“ und den Poleis einige Rechte wiederzugeben. Und wiederum sind die Spitzen gegen die Römer subtiler: Verbunden mit dem Lob für Polybios, der den römischen Zorn besänftigte, erwähnt ein Nebensatz die großen Zerstörungen in Megalopolis; zwar wird der schlechten achaiischen Politik die Verantwortung dafür zugeschrieben, dass es keine Stadtmauern mehr in ganz Griechenland gebe, Korinth nicht von Korinthern besiedelt ist und große Teile seiner Traditionen 150 Herodes: Paus. 1,19,6; 2,1,7; 6,21,1; 10,31,1. Fehlen des Nymphäums: Bowie 1996, 226f.; von Hitzl 1991, 1 Anm. 3 (mit älterer Literatur) mit einem Olympiabesuch des Pausanias vor Baubeginn erklärt (rechnet aber gleichwohl mit späteren Aktualisierungen!); ein absichtliches Verschweigen unterstellte ihm „einen zu eigenständigen Geschmack“. Eurykles (die Tempel: Paus. 3,11,4) für eine Verewigung „unusually oblique“ behandelt: Bowie 1996, 227; vgl. 230: die Befunde „resist any pattern that I can discern“. Vgl. Paus. 1,26,1 (Freude an den Aufständen Athens gegen Demetrios Poliorketes); 1,29,10 („gute Gesinnung“ als Synonym für tyrannen- und makedonenfeindliches Verhalten).

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verloren oder erst spät erneuert hat – aber wer hat Korinth zerstört und die Mauern geschleift? Ähnlich verdächtig sind die ‚Entschuldigungen‘ für Sullas Zerstörung von Athen 86 v. Chr.: Zum einen war die Belagerung durch Unruhestifter provoziert, zum anderen war Sulla kein typischer Römer. Es ließen sich kraftvollere Entlastungsversuche denken. Ein böses Wort über Mithradates VI. kann man bei Pausanias lange suchen, die Siegeszeichen jener anderen Schlacht bei Chaironeia werden schmallippig erwähnt und bei der Beschreibung von Orchomenos wird Sullas zweiter Sieg mit keiner Silbe angedeutet – da gab es offenbar nichts zu feiern.151 Abseits des Lobes auf Marc Aurel und seine zwei Vorgänger handelt Pausanias die römischen Bauten und Statuen in Olympia verräterischerweise in einem Atemzug mit den Schenkungen diverser ‚Ausländer‘ ab: der Seleukiden, eines Etruskerkönigs usw., aber gewiss nicht als ‚unsere‘ Herrscher. Das Entfremdungsgefühl wird inszeniert – in Megara etwa finde sich „ein altes Heiligtum, in dem jetzt Statuen römischer Kaiser stehen“, Seite an Seite neben einer Artemis „aus der Zeit der Perserkriege“. Dieser ausdrückliche Hinweis auf Griechenlands größte Zeit macht den Stilbruch fast zum Sakrileg an der Tradition. Ihm korrespondiert ein Kommentar zur Nachhaltigkeit solcher Attacken: Zu Pausanias’ Zeit hatten die wenigen Einwohner von Mykene die Augustusstatue vor ihrem Heraion bereits zum „Orestes“ umgedeutet. In vieler Hinsicht blieb, was gewesen war, eine unbeglichene Rechnung, mit dem Rom von einst und jetzt wie mit den zerstrittenen Griechen der Vorzeit.152

11. Probleme der quasi-mythisierten Vergangenheit Die große Vergangenheit der Griechen veränderte sich in römischer Zeit auf subtile Weise, mochte ihr Wert auch offiziell bekräftigt werden. Am sprechendsten ist der Umgang mit der athenischen Demokratie, einer eher lästigen historischen Tatsache, erst recht ihrer Erfolge wegen. Seit Dionysios von ­Halikarnassos begegnet folgerichtig eine großzügige Übertragung des Begriffs

151 Achaiischer Bund: Paus. 7,7,1 – 17,4; Polybios, Zerstörungen: 8,30,8f. Korinth: 2,1,2 (vgl. 2,2,2,; 2,3,5 zur Tradition). Sulla: 1,20,4 – 7; Tropaia in Chaironeia: 9,40,7; Schlacht von Orchomenos: fehlt in 8,13f. 152 Olympia: Paus. 5,12,4 – 8; Megara: 1,40,2; Mykene: 2,17,3.

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auf ausgesprochen oligarchische Systeme; Aelius Aristides konnte ihn, unscharf und wohlklingend, wie er nun war, für den Prinzipat selbst benutzen. Zur Zeit des Pausanias war das Thema schon erledigt genug, um eine frontale Behandlung zuzulassen: Athen sei so erstaunlich, weil es als einziger Staat nicht unter der Demokratie gelitten habe (das zeige, wie sehr die Götter es liebten), und Isokrates wird hauptsächlich wegen einer Tugend gelobt: seiner Politikferne. Umgekehrt reduzierte sich das Vorbildliche an Demosthenes für Pausanias auf … dessen Unbestechlichkeit in der Harpalos-Affäre von 324 (der Areopag hatte es anders gesehen). Wie griechisch ist es, ein unpolitisches Wesen zu sein?153 Unterm Strich wurde den Griechen damit von außen vermittelt, worin ihr Griechischsein bestand. Das ging nicht ohne römische Überheblichkeit ab. Auch sonst ist das von Spawforth entworfene Bild das eines höchst einseitigen Austausches: Unter geschickter Ausnutzung griechischer Reflexe (wie des Stolzes auf die Barbarenabwehr in den Perserkriegen) wurden die Eliten in Achaia, die auserkorenen Exklusivpartner für Herrschaft und Zusammenwirken, zur Weitergabe des neuinterpretierten – und insofern fremdgesteuerten – Selbstbildes angehalten. Selbst sie, geschweige denn die Hellenen zweiter Klasse, reagierten nicht umgehend enthusiastisch.154 Ein wichtiger Test- und Streitfall ist, wie schon vorgeführt, Pausanias, dessen Griechenland – räumlich wie begrifflich – nicht nur ohne weiteres mit den neu geschaffenen Provinzgrenzen deckungsgleich, sondern in irritierendem Umfang das Griechenland vor dem traumatischen Jahr 336 v. Chr. geblieben zu 153 „The Greek past functioned as a common framework of communication between the Greeks and their rulers.“ (Swain 1996, 67) Verwässerter Demokratiebegriff: Swain 1996, 27; 281 (zu Aristid. or. 26 K., 86 – 89). Gesegnetes Athen: Paus. 4,35,5 vgl. 1,17,1; Isokrates: 1,18,8; Demosthenes: 2,33,3 – 5. 154 Spawforth 2012,2: „a ‘re-hellenising’ under Roman influence of Hellenism itself “. Missionarische Züge: a. a. O. 32 mit Verweis auf den Titel corrector für senatorische Sondergesandte; „a ‘preachy’ approach to Roman imperial governance over Greeks“. Rolle der Eliten: „to promote Roman ideological themes which glorified the traditions of their own poleis: Athenian artes, the Spartan disciplina, the Persian Wars.“ (57; vgl. 231: „the recreation, in a certain way and on Roman terms, of Classical Greece.“) Vgl. 103 – 138 zur Wiederbelebung von Salamis, Plataiai und den Bezügen zu Actium und den Parthern; kritisch hierzu Galinsky 2012): die Actium-Motivik finde sich oft bei Freigelassenen, die ihren Sozialstatus, nicht etwa Barbarenabwehr bekunden wollten. – Reserven aus kriegsbedingter Verbitterung in Achaia und Alexandreia (nicht aber in Kleinasien): Spawforth 2001, 379.

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sein scheint. Ob dem kleinasiatischen Beobachter das Empfinden zugeschrieben werden soll, in den Grenzen Achaias bestehe eine griechische Einheit auf ethnischer Basis, ist ungeklärt.155 Noch brennender ist die Frage, wieso die Bauten und Veränderungen von Philipp II. bis zur Gegenwart geradezu widerwillig behandelt werden. Pausanias’ Bitterkeit angesichts der römischen Eroberung ist unverkennbar (und weckt Zweifel, wie versöhnt gerade die Bildungsschicht der gesamten griechischen Welt mit ihr war). Der Abstand zwischen der Größe des einstigen Griechenlands, die dank Hadrians Aufmerksamkeiten nähergerückt und mehr denn je anerkannt schien, und der bescheidenen Rolle Achaias konnte extreme Unzufriedenheit mit den daran mitschuldigen Griechen und den daran bis heute schuldigen Römern auslösen. Den Siegern wurde nichts geschenkt.156 Dass Isokrates nach der Schlacht bei Chaironeia Selbstmord begangen hatte, war in Pausanias’ Urteil seine zweite herausragende Eigenschaft; diese Schlacht, schrieb er anderswo, habe alle Griechen auf allen Seiten versklavt.157 ­Chaironeia als Zäsur war aber keine Erfindung der Kaiserzeit; schon Eratosthenes soll mit dem Tod Philipps II. eine Epoche der Weltgeschichte abgeschlossen haben, mit Alexanders Tod gleich die nächste. Tatsächlich ging das politische Leben Griechenlands mit Kriegen, Allianzen und Machtwechseln weiter, und ob makedonische Garnisonstruppen wirklich tiefer und ganz anders eingriffen als persische Subsidien, entzieht sich der Logik eines späteren Betrachters. Für die Griechen blieb der Schock, ihr Leben nach eigenen Spielregeln diesmal nicht erfolgreich verteidigt zu haben. Dass man sich mit den ‚auswärtigen‘ ­Hegemonialmächten 155 Hellas bei Pausanias lediglich „a collection of poleis under the umbrella of Roman rule“ im Wissen, dass es auch anderswo griechische ‚Konkurrenz‘ zu einem Alleinvertretungsanspruch gebe: Konstan 2001, 41f. (gegen Elsner 1992, 18f.); vgl. 43: „Greek ethnic sensibility […] was now predicated on a shared but not necessarily exclusive sense of tradition.“ 156 Swain 1996, 353: „In sum I find it hard to believe that Pausanias is not antipathetic to Roman rule in Greece“; verhaltener Konstan 2001, 41: Pausanias „subtly finessed the issue of Roman domination by evoking a picture of Greece that was in its primary contours more than four centuries old.“ Spawforth 2001, 392: „[T]he Hadrianic celebration of Classical Greece was inherently two-edged, since it almost compelled the simultaneous contemplation of Greece’s loss of greatness and Rome’s decisive hand in its decline.“ (392) Luzide Übersicht des römisch-griechischen Beziehungsdramas nach Pausanias: Swain 1996, 334 – 338. 157 Isokrates: Paus. 1,18,8; Rolle Chaironeias: 1,25,3 (somit ist auch die Klippe der leider mit Philipp II. verbündeten Griechen umschifft).

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durchaus arrangiert hatte und geleisteter Widerstand selten heroische Züge hatte, wirkte aus der Rückschau vielleicht schockierender.158 Das Gefühl, 338 oder spätestens 146 v. Chr. sei eine Welt zusammengebrochen, war in der Weltsicht der uns erhaltenen griechischen Quellen übermächtig, die Sehnsucht nach dieser Welt ebenso. Vielsagend ist, wie regelmäßig der griechische Roman in Welten und Zeiten spielt, in denen Rom nicht vorkommt, dabei aber Verschwörungs- und Unruheängste aus der Gegenwart in die Handlung eindringen. Josephus entwischt – neben Stereotypen über geschwätzige, prozesssüchtige Griechen, die auf ein römisches Publikum berechnet sind – die Klage, seinen griechischen Mithistorikern sei die Zeit, in der sie lebten, egal (oder ihnen fehle zumindest das Können, sie in Worte zu fassen). Wenigstens für aktuelle Modethemen galt das nicht. Hellenistische Geschichte war allerdings ein herzlich unattraktives Thema; schon eher wandte man sich der Lokal­ historie zu, in einer sehr ‚heimatgeschichtlichen‘ Ausprägung – und wieder erhielt Athen mit Abstand die meiste Aufmerksamkeit. Historiker, die mehr als eine Region, aber weniger als die bekannte Welt im Auge hatten, hörten spätestens bei Alexander auf.159 Bloße Geschichtsvergessenheit war das nicht, sondern eine selektive Nähe zu verschiedenen Zeiten. Unter Marc Aurel geht Pausanias davon aus (oder stellt sich doch so), niemand wisse mehr, dass Traian einen Daker- und einen Partherkrieg geführt hat; sehr viel anders liest es sich auch nicht, wenn er erklärt, die Attalidenkönige und Ptolemaios I. hätten „in älterer Zeit“ gelebt und heute lese man nicht einmal die zeitgenössischen Geschichtsschreiber. So ist das klassische Griechenland weniger ‚lange her‘ als der Hellenismus oder ein 158 Clem. Alex. strom. 1,21 p. 138,1 – 3 = FGrHist 241 F 1a; dazu Geus 2001, 314f. Verweis auf 338 v. Chr. als „the Eratosthenian ending of Greek history“: Connolly 2007, 28. 159 Zu 146 v. Chr. als ‚Stunde Null‘ Henderson 2001. Roman: Swain 1996, 110 – 113; 116f. Jos. BJ praef. 16 (γνησίοις [sc. Ἕλλησιν] πρὸς μὲν τὰ λήμματα καὶ τὰς δίκας κέχηνεν εὐθέως τὸ στόμα καὶ γλῶσσα λέλυται…). Klassisch zur Historiographie Bowie 1970 mit der Kernthese, die Beschäftigung mit der unabhängigen Vergangenheit erlaube den kaiserzeitlichen Griechen erst die Anerkennung der römischen Herrschaft (209: „most Greeks were in no sense anti-Roman“; Hervorhebung im Orig.). Wenig zum Hellenismus: 179f.; Lokalhistorie: 184 – 88 (wenige Titel vom griechischen Festland, insgesamt weniger als in hellenistischer Zeit); Athen: 195f. „No Greek seems to have been tempted to write a recent history of the Greek world (as a whole) and only the Greek world […]“ (181). Zu ergänzen durch das Material in Chaniotis 1988. Mit ähnlicher Ausrichtung Desideri 2002.

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zwei Generationen alter Konflikt. In den Deklamationen der Zweiten Sophistik wiederholt sich dieser selektive Zugriff eindrucksvoll; nach Alexander gibt es wenig bis nichts an reizvollen Themen.160 Roms Rolle in der Weltgeschichte, insbesondere der griechischen, zu erklären war eine Herausforderung, die mit Polybios nicht erledigt war. Während Dionysios von Halikarnassos Rom zu einer au fond griechischen Stadt erklärt hatte, die Weltherrschaft also letztendlich in der Familie blieb, operierte Plutarch mit der Idee einer göttlichen Vorsehung, die Rom als Garantin der Prosperität – an erster Stelle für Hellas – auf den Plan gerufen habe. Dion Chrysostomos sah es nicht ganz so heiter: Die Welt sei in langsamem Niedergang, Rom ein Teil des Verfallsprozesses; immerhin könnte es den Griechen ohne die Römer noch schlechter gehen. Sein selbsterklärter Nachkomme Cassius Dio schrieb Weltgeschichte als Geschichte Roms.161 Umgekehrt behandelten auch – und vor allem – die Römer Griechenlands wichtigstes Kapitel als abgeschlossen. Folgt man Cicero, so waren die römischen Erben der großen griechischen Vergangenheit aufgerufen, deren Zeichen und Spuren an den alten Schauplätzen wiederzufinden – und sie in ihrer Weise fortzusetzen. Schon in der ausgehenden Republik konnte man Griechenland als Erinnerungslandschaft betrachten. Die immer lauteren Verweise der zeitgenössischen Griechen entwickelten hier möglicherweise einen Bumerang­ effekt: Statt sich gegenüber den angesprochenen Römern ins richtige Licht einer strahlenden Vergangenheit zu setzen, evozierten sie in römischen Ohren bevorzugt die materielle wie moralische Fallhöhe zwischen den Marathonsiegern und jenen Erben, denen eigene Größe per definitionem abging, kam sie doch selbstverständlich in der Gegenwart Rom allein zu.162 Zu den Gewinnern gehören konnte weit eher, wer neben (oder anstatt) einer großen Vergangenheit

160 Paus. 5,13,5 (Traian); 1,6,1 (Attaliden). Deklamationsthemen: vgl. die nützlichen Tabellen in Bowie 2004, 82f. 161 Plutarch: Swain 1996, 161; Dion: a. a. O. 204 – 206. Vgl. Bowie 1970, 176 – 178 zum Aufleben welthistorischen Interesses im mittleren 2. Jh. nach einem Abbruch unter Augustus. Einen schicksalhaften Verfall, beinahe als Naturprozess, neben schuldhafter Verwüstung kennt auch Pausanias (8,35,1 – 4; vgl. 2,7,1 zu Sikyon, 9,7,6 zu Theben und die berühmte Beschreibung des winzigen Panopeus in 10,4,1). 162 Baroin 2005, 203 – 205 zu Cic. de or. 3,43; leg. 2,4; fin. 5,6, wo Athen durchweg etwas Abgeschlossenes ist: „En quelque sorte, ce sont eux les véritables Athéniens «modernes».“ (205) Reiseziel der Römer „une Grèce imaginaire, plus que géographique, une

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eine – notfalls fadenscheinige – mythologische Nahbeziehung zu Rom vorwies; Antoninus Pius mochte nicht unbedingt glauben, dass E ­ uander aus Pallanteion kam, aber er zeigte sich offiziell bereit, das dem Städtchen zugutezuhalten. Hier schimmert durch, wie stark das griechische Betonen großer Vorfahren und verflossenen Ruhms – das der römischen Gegenwart ihren Anspruch, beider Erbschaft angetreten zu haben, nicht streitig machte – mit den Bedürfnissen Roms harmonierte.163 Die Nutzlosigkeit einer Geschichte, die sich den eigenen Identitätsbedürfnissen nicht anpasst, kann frustrieren. Nichts lag unter dem Aspekt der Sinnstiftung näher (und war dennoch angesichts der hohen Qualität der griechischen Historiographie erstaunlicher), als die störenden Epochen bis auf einige nützliche Episoden wie als nicht geschehen zu betrachten und das griechische kulturelle Gedächtnis auf die Klassik wie auf eine Heroenzeit zu beziehen, die unwiederbringlich, aber der Gegenwart innerlich näher verwandt war als ihre unmittelbaren Folgen. Die bei (und – vermeintlich – von) Philipp und Alexander mitten in ihren Widersprüchen und blutigen Konflikten gekappte Geschichte konnte überbaut, musealisiert, harmonisiert werden – nicht aus einem lockeren Verhältnis zur Wahrheit, sondern gerade weil es nötiger denn je schien, eine große Vergangenheit zu haben, die das eigene Sinnbedürfnis tragen konnte.164 Genau das war der Neuanfang, den es im praktischen Leben nicht hatte geben können. Näher betrachtet war die Überführung historischer Vergangenheit in Vorzeit, in ein Einst mit mythischer Funktion für das kaiserzeitliche Jetzt, in Grèce traitée comme le lieu d’une mémoire idéale.“ (191) Erbanspruch gegen Fallhöhe: Woolf 1996, 132. 163 Pallanteion: Paus. 8,43,1f.; zur Mobilisierung ‚historisch-mythologischen Kapitals‘ Alcock 1993, 160 – 164. 164 Einen schönen Fall brachial harmonisierter Vergangenheit behandelt Alonso 1988 (Hinweis bei Alcock 1996, 248) u. a. in Gestalt des „Revolutionsmuseums“ von ­Chihuahua, das die Todfeinde des Bürgerkriegs in Nordmexiko als gemeinsame Kämpfer für die mexikanische Nation Seite an Seite stellt. „Difference is suffocated and dissolved in the all encompassing [sic] embrace of national and revolutionary fraternity.“ (43) „ ‘the Revolution’ as a unitary and integrated phenomenon […] is critical to the imagining of the nation and to the legitimation project of the modern Mexican state.“ (44) Umgekehrt gilt: „Pasts which cannot be incorporated are excluded by national history.“ Hier geht es um die Erzeugung der Geschichte eines gelungenen Durchbruchs, allerdings in einem modernen Zeitrahmen (Taylor 2000, 67 – 71; zum vormodernen Zeitengefüge vgl. unten Anm. 163.

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einer ‚modernen‘ Erinnerungskultur ein beinahe bizarres, aber faszinierendes kollektives Experiment. Es hätte jederzeit an Widerspruch von drinnen oder draußen scheitern können – aber das römische Interesse, die Griechen existentiell auf die Zeit von Themistokles bis Demosthenes festzulegen, deckte sich mit dem griechischen. Erst das erlaubte die vielleicht einmalige Ausprägung einer Erinnerungs- als Vergangenheitskultur.165

165 Elsner 1992, 19 spricht etwas mehrdeutig davon, Roms Eroberung schaffe die Möglichkeit zu „the myth of a free Greece in the past“, in dessen Rahmen sich Pausanias – an heiligen Orten – auf die Suche nach „a self which was outside history“ begebe (20). In der kaiserzeitlichen Geschichtskonstruktion funktioniert die Klassik, als wäre sie die stets gleich ferne mythische Frühzeit einer mündlichen Erinnerungskultur, ohne dass man den Inhalt dieser Erinnerung mythisiert: Die Historiker von Herodot bis Xenophon werden kanonischer denn je, nicht etwa durch Erbaulich-Legendäres ersetzt. Alcock 1996, 259 sprach schon präziser von „ritual time“, einer Zeit, die mit signifikanten Ereignissen gefüllt ist, auf die man rekurriert: „Events in ritual time are ever-present and ever-powerful, to be returned to again and again in ritual communication and commemorative acts.“ Während andere Zeiten als irrelevant beiseitegelassen werden (259f.), in Alcocks Sicht, um „a more profound, nuanced resistance to Rome“ zu erreichen. Ähnlich der Diskussionsbeitrag Ø. Andersen (zu Bowie 1996, dort 237): „Insignificant time is blank space.“ Andersen vermutete als Erklärung „a residue of an oral and traditional, nonlinear mode of conceiving past time“. Vgl. Hinds/ Schmitz 2007, 3:„a particular culture of belatedness“. In der Terminologie Jan Assmanns haben wir es mit einer Gesellschaft zu tun, die ihren „Mythos“ (im Sinne einer „fundierenden Geschichte“ verstanden) aus dem Bereich der historischen Vergangenheit bezieht (Assmann 1999, 75 – 77), diesem Vergangenheitsausschnitt jedoch sowohl fundierende (hier: den kulturellen Vorrang der Griechen begründende) als auch kontrapräsentische Züge unterlegt (nämlich die Erfahrung eines Abstiegs von der Klassik zur Gegenwart, die sich darin als kritikwürdig erweist; vgl. ebd. 78 – 80). In der Terminologie Charkes Taylors liegt eine Form von „höheren Zeiten“ vor, deren spezifische sinngebende Funktion die „säkulare Zeit“ der weiteren (hier griechischen) Geschichte prägt und belanglos erscheinen lässt, soweit ihr Bezug auf die übergeordnete Zeit nicht hervortritt (Taylor 2000, besonders 43f.; vgl. 48f. zu Mircea Eliades Begriff „Zeit der Ursprünge“) – in unserem Fall wäre der Keltensieg vor Delphi (s. o. S. 269) eine geglückte und sinnhaltige Kontaktnahme, ein Gegenwärtigwerden. Die zur Traditionsbildung sonst fast nicht mehr verwertbare Zeit nach 338/323 v. Chr. schafft jenen tiefen – und hier vor allem breiten – Graben, wie er nötig ist, um dem Davor „die Züge eines Heroischen Zeitalters“ zu verleihen (Assmann 1999, 79). Angesichts der Mittel, durch die etwa die spätzeitlichen Ägypter oder das entstehende Judentum der Exilszeit ihre Erinnerung – und damit ihre Identitäten – unter den Bedingungen von

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12. Epilog: Die formierte griechische Gesellschaft Das Vorhandensein oder Fehlen von Selbstbehauptung im neudefinierten Griechenland ist nicht mit einem Ja oder Nein abzutun. Autonomie im Kleinmaßstab gab es, wenn man die Umdeutung des Begriffs ‚Autonomie‘ in die zeittypischen und politisch möglichen Formen hinnimmt. Eifersüchtige Verteidigung gegen Rom gab es, soweit man an das Feld der Vergangenheit denkt – wobei diese Art, Eigenheiten herauszustellen, bei den Römern offene Türen einrannte. Widerstand oder zum Handeln drängenden Hass gegen Rom gab es in gravierendem Umfang allem Anschein nach nicht, nur eine gewisse Widersetzlichkeit, ein Pflegen antirömischer Aversionen, das aber nicht die Ebene der politischen Praxis erreichte. Für das Selbstverständnis eines Griechen heißt das: Er konnte sich mehr – und vielleicht präziser als vor der römischen Eroberung – als Grieche fühlen, nicht zuletzt weil dieser Prozess beträchtliche Teile der griechisch-hellenistischen Welt hinter dem Horizont dieser Wahrnehmung verschwinden ließ. Vieles an Kultur und Institutionen in den östlichen Provinzen war auf ein forciertes Selbstverständnis als Hellenen geradezu hingeordnet; zur kontingenten Entscheidung, wie die Provinzgrenzen von Achaia verliefen, gesellte sich eine Anzahl von Gemeinsamkeiten, die sich in etwa mit der so beschriebenen Fläche deckte, voran die relative Armut und die eng verflochtene Gruppe führender Familien. Insofern hatten die behaupteten und kultivierten Unterschiede zwischen ‚eigentlichen‘ Griechen eines mit Achaia zusammenfallenden Kern­landes und den – sei es ethnisch, sei es kulturell definierten – Griechen anderswo zumindest Anhaltspunkte in der Realität. Worin es bestand und wie wichtig es war, Griechen zu sein und zu bleiben, wurde nun reger denn je diskutiert, mehr von Stimmen der reichen ‚Peripherie‘ als im ‚Zentrum‘ selbst. Geklärt war – und weiterverhandelt wurde – diese Identitätsfrage sozusagen auf dem Papier, das Rom zugeschnitten und geliefert hatte; das musste aber nicht zwangsläufig stören. Man war Grieche im Unterschied zu und in partieller Ohnmacht, Fremdherrschaft und kulturellem Druck von außen ‚sturmfest‘ machten (a. a. O. 177 – 190; 206 – 210), ist es auch unter diesem Aspekt legitim, wenn nicht von Widerstand, so doch von ausgeprägtem kulturellem Beharrungswillen und -vermögen zu sprechen. Die näheren Umstände dieser – nach dem Rückbezug der archaischen Zeit auf die homerisch gesehene Heroenepoche – zweiten „Kontinuitätsfiktion“ (a. a. O. 274) der griechischen Geschichte sind bei weitem noch nicht ausgeleuchtet.

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Überlegenheit gegenüber Rom; man war in Alltagsdingen, sozial und rechtlich oft genug Römer, je weiter hinauf es in der Gesellschaft ging, desto mehr – das entzog einer aktiven, zielgerichteten Feindschaft die Basis, ohne die geliebten Ressentiments zu stören. Die seit langem gültige praktische Nebenbedingung des Griecheseins – nämlich kleinräumig, territorial, ethnisch zu denken und zu handeln – wurde umgestaltet, unter römischem Druck, und das in Achaia markanter als anderswo. Die Städterivalität, zuvor ein blutiger Gegenstand griechischer Alltagsgeschichte, flaute hier dramatisch ab … aus unserer Sicht ein Gewinn an Lebensqualität, den nicht jeder Grieche so gesehen haben wird. Dabei half (dürfen wir vermuten) die Konsolidierung der Eliten, relativ gut vernetzt, von Stadt zu Stadt reibungsfrei, innerhalb der eigenen Mauern durchaus in gespannten Verhältnissen lebend, aber numerisch kleiner als etwa in den prosperierenden Städten Kleinasiens. Ein Feld, das sich gerade durch diese Dämpfung der Polis-Identitäten weiter denn je eröffnete, war natürlich die gesamtgriechische Selbstdeutung. Spuren des Eroberungstraumas sind unverkennbar – in der Tendenz, alles Geschehen zwischen dem Ende der Poliswelt und der kaiserzeitlichen Gegenwart, so wohlüberliefert es war, nur vage als ‚dark ages‘ zur Kenntnis zu nehmen, mit denen kein Staat zu machen war, weil die Selbstbestimmung fehlte. Das Bedürfnis nach Zeugnissen hellenischer Einheit und Geschlossenheit nicht nur im Kulturellen erzwang eine selektive, ja antihistorische Lektüre der als allein erinnernswert empfundenen Glanzzeiten im 5. und 4. Jh. – oder aber ein wiederholtes schmerzliches Nacherleben des Scheiterns dieser panhellenischen ‚Mission‘ der Poliswelt. Ihrerseits geistert diese Geschichtsteleologie weit über das 19. Jh. hinaus durch die moderne Historiographie – dem Nationalstaatsgedanken kongenial, wie sie war, und beflügelt durch die kaiserzeitlichen Versuche, dem real existierenden Achaia (einem Artefakt römischer Verwaltungspraxis) eine kombinierte Kultur-, Abstammungs- und Absichtsgemeinschaft zu hinterlegen, die es aus einem bloßen Objekt der Geschichte nachträglich und rückwirkend zum – historisch unverzichtbaren – Subjekt aufwertete. Der Umfang, in dem die griechische Vergangenheit Nahrung für das von Rom geförderte Einheits- und Besonderheitsgefühl liefern konnte, war inhaltlich und zeitlich begrenzt, viel begrenzter als der kulturelle Grundstock für den Stolz auf die griechischen Errungenschaften und Gemeinsamkeiten im weitesten Sinn. Eine mögliche Reaktion wäre ein Nachholbedürfnis gewesen: der Ansatz, gewisse kaiserliche Respektsgesten mehr als wörtlich zu nehmen – ein ‚griechischer Patriotismus‘ nicht im Sinne eines ‚Los von Rom‘, wohl aber als

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Drängen auf einen flächendeckenden Sonderstatus innerhalb des Imperiums. Die potentielle Trägerschicht, überschaubar groß und an die Ebene der Heimatpolis nur noch locker gebunden, stand durchaus bereit – bekanntlich tat sie nichts dergleichen, soweit wir wissen, und kam gar nicht auf den Gedanken. Selbst Neros aus dem Rahmen fallende Griechenlandreise änderte daran nichts. Sie hatte sicher mehr mit der Person Nero als den Griechen zu tun, so teuer sie ihm als die Erfinder der artes waren; der Versuch, die Rolle des P ­ rinceps in Rom zu lassen und die eigene Natur als außergewöhnlicher Mensch mitzunehmen, war aus Neros Sicht ganz folgerichtig, und er suchte das wahre Publikum, nicht unbedingt das wahre Hellas.166 Der sparsame Vespasian nahm Neros Freiheitsgeschenk an ganz Achaia nicht allein wegen des Steuerausfalls zurück. Es handelte sich um ein D ­ anaergeschenk im doppelten Sinn: Die Folgen, wenn eine provinzgroße Fläche aus civitates liberae entstand, waren allzu unkalkulierbar. Eine Entwicklung hin zu mehr Freiheit im alten Verständnis (inklusive der Freiheit, einander an die Kehle zu gehen) hätte Aufmerksamkeit gebunden und Interventionen verlangt, die Rom sich leicht ersparen konnte. Noch bedrohlicher wäre das Aufkommen einer übergeordneten Instanz gewesen, eines Klientelstaates in strategischer Position vor den Toren Italiens. Statt Neros Spuren zu folgen, erweiterte ­Hadrian – wie er es sah – die ideelle Machtstellung Griechenlands und bereicherte einen Ort nach dem anderen. Quellenbedingt, aber nicht unverdient steht er in der Geschichte der wiederkehrenden Aufmerksamkeiten für Griechenland und das Griechische im Vordergrund. Wo er mehr denn je in den Bereich des Programmatischen vordrang, mit einer symbolischen Ordnung der griechischen Welt, zentriert um das glorreich-ärmliche Achaia (fast als hätte es sich um die vieldiskutierten Rangklassen der kaiserlichen amici gehandelt), überzog der eigensinnige Princeps seine Möglichkeiten, Status entgegen der Realität festzuschreiben, und schuf selbst in den Augen der Begünstigten wohl nichts weiter als ein zusätzliches Honoratiorengremium unter vielen.167

166 Nero in Griechenland: für Spawforth 2012, 236 – 238 gemeint als „self-distancing from the official narrative“ (237) unter dem Einfluss kleinasiatisch-achaimenidischer Herrschaftsideen. Wenn man herrschaftsideologische Vorbilder suchen möchte (was nicht zwingend ist), dann vielleicht eher in der persönlichen Einmaligkeit hellenistischer Könige. 167 Zur umstrittenen Hierarchisierung der kaiserlichen salutatio Winterling 1999, 127 – 135.

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Die Zeit des gern als Philhellene bezeichneten Gallienus wäre eine ideale nächste Station mit der Frage, wo ‚die Griechen‘ des mittleren 3. Jh. innerhalb des Reiches und gegenüber ‚den Römern‘ standen. Unglücklicherweise verraten die spärlichen Quellen wenig über die Fortsetzung dieser Geschichte.168 Ist Rom hellenisiert worden? Wurde umgekehrt Griechenland von einem autonomen Organismus zu einer Art Zellorganelle im imperialen Verbund umfunktioniert, mit eigener Erbsubstanz, aber instrumentalisiert und modifiziert durch den vereinnahmenden Besitzer?169 Beide Fragen greifen zu kurz. Achaia zumindest ‚war‘ nicht Griechenland, als die Kaiserzeit begann: Erst sie machte beide Begriffe deckungsgleich. Aus diesem Blickwinkel ist die Schärfung und Spezialisierung des griechischen Selbstbildes beinahe ein Teilaspekt der Provinzialisierung.170 Das so bezeichnete Territorium sah sich durch eine Kombination aus materiellen Gemeinsamkeiten und (deutlich stärkerem) politisch-kulturellem Druck dazu gedrängt, sich mit dem ‚eigentlichen‘ Griechenland identisch zu setzen und vorwiegend dessen Erbe zu pflegen. Was den Griechen noch möglich war, demonstrierte Pausanias: die Vorgaben durch eine nachträgliche ‚freie‘ Entscheidung vergessen zu machen oder zu unterlaufen; das echt Griechische immer neu zu diskutieren; die Möbel in jener Wohnung, die einem innerhalb des größeren hellenischen Hauses abgeteilt und zugewiesen war, verschieben – und gegenüber den Nachbarn mit Fug und Recht auf seine Sonderrolle zu pochen. Der neue Eigentümer hatte ein Auge auf diese Vorgänge und legte allzu oft mit Hand an. Ludwig Erhard verkündete 1965 das Wahlkampfziel einer „Formierten Gesellschaft“ als Überwindung von Klassen- und Verbandsinteressen samt ihren offen ausgetragenen Gegensätzen durch Gemeinsinn „aus […] dem wachsenden Bewußtsein der schicksalhaften Verbundenheit aller mit allen“ – ein Slogan, der binnen kurzem in die Feindbilder der DDR und der Neuen Linken einging,

168 Grundlegend jetzt Goltz/ Hartmann 2008 mit reicher Literatur. 169 So Spawforth 2012, 274: „an imperial Romanity which juxtaposes Roman elements with Greek to create common ground between western and eastern elites […] a Romanity signalled from above and emerging from the west.“ Vgl. dagegen Dupont 2003, 42: „La Grèce ne fut jamais plus grecque que sous l’Empire romain même si cette « grécité » était l’invention des vainqueurs.“ 170 Grundlegend zum Begriff die Beiträge in von Hesberg 1995.

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nicht aber in die Politik der CDU/CSU.171 Analog könnte man aus römischer Sicht von einer – technisch gesehen weithin erfolgreich verwirklichten – „formierten griechischen Identität“ sprechen: einem praktisch zur Ruhe gebrachten Problem in einem als Ganzes gedachten, als Ganzes aber auch handlungsunfähigen Griechenland, dessen angestammte politische Untereinheiten mediatisiert und auf jenen Platz verwiesen waren, den sie aus römischer Sicht ‚verdienten‘. Modernem Konzept und antikem Vorgang gemeinsam ist zumindest die Aversion gegen Dauerkonflikte und deren Überwindung durch ein reibungsärmeres, auf die Betonung und den moralischen Vorrang des Gemeinsamen eingeschworenes System, in dem die unruhigen Zwischeninstanzen zwischen Zentrale und Bevölkerung (als deren Naturzustand der Konsens gedacht ist) viel von ihrer Bedeutung abgeben. Nur ging Rom, als es die Poleis von Akteuren zu Verwaltungseinheiten herabstufte, mit Zwang und Drohungen vor. Das engere griechische Verbundenheitsgefühl, das seiner Herkunft nach römisch war, entstand bei all seinem liebevoll gepflegten Stolz, indem man sich in diese Sachzwänge fügte.

171 „aus…“: L. Erhard, Rede auf dem XIII . CDU -Parteitag im März 1965 in Düsseldorf. Archiv der Gegenwart 1965, S. 11776. Zum Konzept (immerhin memoriert auf den Seiten der Konrad-Adenauer-Stiftung: http://www.kas.de/wf/de/71.8787/, aufgerufen am 11.10.2012) teils emphatisch Schott 1982; Habermann 1988, v. a. 40 – 42 mit der Vermutung, der Gedanke habe infolge „jahrhundertelanger Zerklüftung durch Kleinstaaterei und Konfessionalismus“ in Deutschland nicht verfangen (41). Beispielhaft genannt für die anhaltende Aversionsträchtigkeit des Begriffs sei die Definition als „das absolute Diktat der Monopolbourgeoisie über die ihrer Organisationen und Interessenvertretungen beraubte Arbeiterklasse und die demokratischen Kräfte“ (http://www.juramagazin. de/formierte-gesellschaft; aufgerufen am 11.10.2012). Verhaltener als „Antipluralismus“ gekennzeichnet von Wolfrum 2007, 218f.

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Autorenverzeichnis Frank Daubner Dr. phil. Frank Daubner, Studium in [email protected] ­Göttingen, Thessaloniki und Köln, ist seit Oktober 2013 Fellow am Kulturwissenschaftlichen Kolleg der Universität Konstanz. David Engels Prof. Dr. phil. David Engels, Studium in [email protected] Aachen, ist seit 2008 Titulaire de la chaire d’histoire romaine an der Université Libre de Bruxelles. Dorit Engster Dr. phil. Dorit Engster, Studium in [email protected] ­Göttingen und Cambridge, ist seit 2006 Lehrkraft für besondere Aufgaben an der ­Universität ­Göttingen. Klaus Freitag Prof. Dr. phil. Klaus Freitag, Studium in [email protected] Siegen und Münster, ist seit 2009 Professor für Alte Geschichte an der RWTH Aachen. Jörg Fündling Dr. phil. Jörg Fündling, Studium in Bonn, [email protected] ist seit 2008 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Alte Geschichte der RWTH ­Aachen. Linda-Marie Günther Prof. Dr. phil. Linda-Marie Günther, ­ [email protected] Studium in Berlin und Hamburg, ist seit 1999 ­Professorin für Griechische Geschichte an der Ruhr Universität Bochum. Christoph Michels Dr. phil. Christoph Michels, Studium in [email protected] ­Bochum, Frankfurt und Innsbruck, ist seit 2009 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Alte Geschichte der RWTH Aachen. Klaus Tausend Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. phil. Klaus ­Tausend, [email protected] Studium in Graz, ist außerordentlicher ​ ­Professor am Institut für Alte Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz und Mitglied des dort angesiedelten „Zentrums Antike“. Sabine Tausend Ao.Univ.-Prof. Mag. Dr. phil. Sabine ­Tausend, [email protected] Studium in Graz, ist außerordentliche ­Professorin und Leiterin des Instituts für Alte Geschichte und Altertumskunde an der ­Karl-Franzens-Universität Graz.

Register

Personen und Gottheiten A Aelius Aristides  239, 252, 263, 274 Agis III.  37, 39 – 41, 43, 44 – 46 Alexander III. (der Große)  7, 11, 28, 37 – 39, 41 – 45, 47, 126, 127, 130, 275 – 278 Alkaios von Messene  11 Antigonos Doson  131, 136, 152, 159, 160 Antigonos Gonatas  132, 133, 151 Antigonos Monophthalmos  130, 135 Antigonos von Karystos  84, 86 Antipater  36, 39 – 41, 43 – 47 Antoninus Pius  226, 249, 250, 258, 259, 264, 271, 278 Apollon  82, 85, 86, 132, 133, 269 Aratos von Sikyon  131, 151 – 153, 157, 158 – 162, 164, 171, 180, 198, 270 Aristainos von Dyme  166, 170, 175, 177, 178 Aristomachos von Argos  153, 157, 158, 161 Aristomenes  156, 157 Aristophanes von Byzanz  67, 69, 71, 72 Arrian  42, 47, 248 Artemis  139, 156, 242, 273 Athenaios  72, 73, 76, 79, 81, 85, 86 Attalos I.  86, 88, 141 Attalos II.  86 Augustus/Octavian  210, 212, 215, 219, 224, 227, 230, 233, 235, 236, 239, 242, 244, 253, 260, 263, 264, 266, 277 B Bellerophon  51, 60, 63

C Cassius Dio  217, 251, 277 Chairon von Pellene  39, 41, 181 Cicero, M. Tullius  211, 212, 248, 249, 277 D Demetrias  130, 132 – 134 Demetrios Poliorketes  81, 130, 133, 152, 272 Demosthenes  36, 39, 82, 126, 274, 279 Diodor von Athen  67, 75, 92 Dion Chrysostomos  226, 228, 240, 247 – 249, 265, 277 Dion, Sohn des Hipparinos  61 Dionysios I.  58 Dionysios von Halikarnassos  63, 71, 273, 277 Diophanes von Mytilene  168, 170, 175, 177 Domitian  230, 244, 260, 264 E Epameinondas  32, 33, 256, 270 Eratosthenes  67, 77, 275 Eumenes II.  88, 141, 172, 185 Eurykles von Sparta  242, 244, 263, 272 F Favorinus von Arelate  204, 216 Flamininus, T. Quinctius  8, 111, 138, 166 – 169 G Gracchus, Ti. Sempronius  113, 114

298 Register

H Hadrian  131, 203, 212, 213, 219, 223, 232, 234, 236, 239, 246, 248, 250 – 262, 266, 269, 271, 275, 282 Herodes Atticus  204, 230, 232, 238, 239, 242, 243, 247, 254, 257, 261, 272 Herodot  31, 54, 66, 67, 73, 83, 84, 92, 218, 279 Homer  67, 76, 249, 268 I Isokrates  90, 213, 274, 275 K Kallikrates  182 – 192 Kassander  127, 132 Kassope  117 – 119 Kleitomachos aus Theben  11, 12 Kleomenes III.  54, 158 – 161, 176 Kritolaos (Achaier)  195 – 197 L Leonidas  54, 270 Lydiadas  152, 153, 157 – 159 Lykortas  149, 171, 175 – 178, 180 – 183, 186 – 188, 192 Lysimachos  130, 134, 135 M Marc Aurel  236, 247, 254, 269, 271, 273, 276 Miltiades  269, 270 Mithradates VI.  221, 224, 273 Molosser  103, 104, 110 N Neanthes von Kyzikos  77, 86, 87 Nero  245, 247, 251, 264, 282 P Panaitios von Rhodos  69, 71 – 73, 88, 89

Pausanias  35, 68, 74, 134, 135, 143, 156, 190, 191, 194, 201, 203, 204, 227, 248, 249, 252, 268 – 277, 279, 283 Perseus von Makedonien  11, 106, 111, 184 – 187 Philipp II. von Makedonien  35 – 37, 40, 47, 127, 130, 275, 278 Philipp V. von Makedonien  15, 46, 111, 130, 162, 163, 165 – 167, 184 Philopappos  238, 272 Philopoimen  149, 164 – 168, 170, 171, 173, 175 – 178, 180, 188, 192, 198, 270 Platon  61, 62, 90 Plutarch  41, 45, 51, 69, 78, 79, 151, 153, 159, 164, 176, 209, 211, 238, 240, 248, 249, 264, 267, 270, 277 Polemon von Ilion  13, 65, 68 – 90, 92, 216, 239, 249, 251 – 253 Polybios  11, 12, 55, 107, 110 – 113, 119, 126, 128, 141, 142, 149, 151, 152, 158, 159, 161, 162, 165, 166, 171 – 173, 175, 177 – 183, 186 – 190, 192, 195 – 198, 272, 273, 277 Ptolemaios II.  52, 62, 131 Ptolemaios IV.  11, 12, 136, 137, 172 S Spartiaticus, C. Iulius  245 Sulla  222, 224, 231, 246, 248, 273 T Telephos von Pergamon  249 Theokrit  13, 51 – 55, 57, 61 – 63 Tiberius  113, 114, 235 Timoleon  51, 52, 58 – 60, 62 Traian  233, 236, 240, 250, 265, 276 V Vespasian  230, 248, 282 Z Zeus  30, 33, 66, 78, 114, 150, 154, 155, 157, 170, 173, 180, 268

Orte und Regionen 299

Orte und Regionen A Achaia (Landschaft und Provinz) /Achaiischer Bund  14, 20, 29, 34, 39, 40, 45, 141, 149, 150 – 152, 154, 155, 158, 162, 163, 166, 167, 171, 172, 179, 181 – 184, 186 – 189, 194, 202 – 204, 211, 218, 220, 222 – 228, 230 – 233, 235 – 238, 240, 245, 252, 253, 255 – 259, 261 – 267, 269, 271 – 274, 275, 280 – 283 Ägäis  8, 54, 225, 251 Aigina  141, 152, 268 Aigion  150, 170, 235 Aitolien/Aitolischer Bund  102, 107, 137, 151, 154, 158, 162, 168 Alexandreia (Ägypten)  13, 51, 52, 61 – 63, 65, 67, 68, 72, 85, 236, 247, 257, 274 Alexandreia Troas  130, 212, 239, 253, 258 Argos  20, 35, 40, 59, 152, 153, 155, 157, 159 – 161, 163, 165 – 167, 170, 180, 193, 237, 259, 268 Arkadien, Arkadischer Bund  19, 20, 30 – 36, 39 – 41, 45 – 47, 152, 157, 158, 170, 230 Athamania  109, 113 Athen, Athener  8, 9, 33, 34, 37 – 39, 54, 56 – 58, 62, 65, 67, 69, 72, 73, 75, 77, 80, 81, 85, 87, 92, 128, 131, 141, 168, 190, 191, 205, 211, 212, 221, 224, 226, 227, 231, – 237, 242 – 245, 250, 251, 253, 255, 256, 258, 259, 261, 263, 264, 265 – 270, 272 – 274, 276, 277 B Babylon  43, 44, 47, 88, 89 Bithynien/Bithynier  106, 211, 215, 225, 230, 235 Boiotien/Boiotischer Bund  33, 227 Brundisium  108 Butrint  102, 113, 114, 117, 119 Byzantion  225, 264, 265 C Chaironeia  35, 143, 249, 270, 273, 275

Chaonen  101, 104, 105, 110, 114 D Delphi  72, 75, 83, 84, 87, 165, 235, 236, 237, 252, 257, 258, 265 – 279 Dodona  85, 108 Dyme  127, 129, 130, 150, 158, 166 E Elateia  138 – 140, 142 – 144 Elis  20, 32 – 34, 36, 39, 40, 45, 85, 86, 118, 169, 185 Entella  142, 144 Ephesos  67, 134, 214, 222, 253, 257, 264 Epiros/Epirotischer Bund  99, 101 – 103, 105, 107, 109 – 114, 115, 118 G Galater  88, 211 Galen  210, 248 Gitana  105 – 108, 115 I Ilion  13, 65, 68 – 70, 73, 75, 76, 85, 92 Italien  8, 58, 72, 76, 99, 105, 110, 111, 173, 219, 227, 230, 233, 254, 260, 261, 282 K Kassandreia  127, 128, 132, 134 Kebren  130 Kolophon  134, – 136, 138 Korinth  13, 20, 25, 29, 31, 32, 35, 45, 51, 53, 57 – 61, 63, 82, 151, 153, 159, 160 – 166, 167, 180, 193, 196, 224 – 227, 235, 237, 246, 252, 253, 257, 259, 266, 272, 273 Korinthischer Bund  35, 37, 39, 47, 127 Korkyra  99, 109, 110, 114 Kreta, kretisch  37, 38, 142, 189, 211, 230 Kyrene  252, 260 Kytenion  136, 137, 142

300 Register

L Lakedaimon.  Siehe Sparta Lebedos  134 – 136 Lyttos  142 M Macedonia (Provinz)  220, 224, 232, 267 Magnesia am Mäander  56, 108, 129, 135, 254, 269 Makedonien  15, 36, 37, 39, 43, 47, 99, 103, 150, 160, 161, 164 – 166, 167, 172, 184, 188, 267 Mantineia  32, 34, 35, 40, 46, 47, 131, 151, 159, 161, 165, 256 Marathon  232, 243, 270 Massalia  220 Megalopolis  33, 36, 39 – 41, 44 – 47, 152, 157 – 160, 162, 163, 166, 170, 171, 176, 190, 227, 228, 232, 272 Messene  10, 11, 35, 156, 157, 163, 168, 175, 180, 182, 185, 237 Milet, Milesier  53, 54, 56, 57, 65, 125, 231, 254 N Nikaia  115, 214, 254, 264, 265 O Olympia  11, 12, 34, 164, 168, 243, 272, 273 Olynth  127, 128 Orchomenos  20, 23 – 25, 29, 31 – 33, 40, 160, 161, 193, 273 P Patrai  150, 158, 224, 226, 237, 253 Pellene  20, 23, 31, 34, 38 – 41, 162 Pergamon  65, 71, 85, 86 – 89, 185, 249, 253, 254, 264 Perge  254, 267 Pheneos  13, 14, 19, 20, 23 – 31, 33, 34, 40, 47 Phoinike  107, 108, 110 – 113 Plataiai  29, 31, 244, 258, 269, 270, 274 Poteidaia  127

Prasaiben/Prasaibenbund  101, 102, 113, 114, 116, 117, 119 Ptolemaïs Barke  252, 260 R Rhodos  56, 67 – 69, 71, 72, 128, 136, 189, 247, 264 Rom  7, 8, 12, 14, 79, 88, 99, 111 – 113, 118, 126, 138, 149, 150, 163, 165 – 169, 174 – 179, 182 – 185, 187 – 198, 203, 206 – 212, 215 – 227, 231, 233, 237, 240 – 242, 244 – 254, 256, 257, 261, 263, 264, 267, 272, 273, 275, 276 – 284 S Sardeis  55, 253 Side  267 Sikyon  20, 69 – 71, 75, 78, 80, 81, 84, 130, 131, 151, 152, 161, 164, 189, 191, 268, 277 Sizilien  8, 54, 57 – 59, 62, 72, 76, 82, 142, 222 Smyrna  135, 215, 253, 254, 264, 267 Sparta, Spartaner  8, 14, 20, 29, 31, 32, 34 – 39, 41 – 46, 69, 75, 82, 150, 152, 155 – 158, 160 – 163, 165, 167, 168, 172, 174 – 182, 184, 190 – 194, 196, 197, 211, 212, 224, 226, 227, 230, 232, 237, 242, 244, 254, 258, 263, 264, 266, 267, 271, 272, 274 Stymphalos  20, 23, 25, 31, 46, 138, 139, 140, 143, 172 Syrakus  13, 51 – 53, 55 – 59, 61 – 63, 201 T Tegea  30 – 36, 40, 45, 46, 160, 161, 165, 195 Teos  117, 135 Thasos  211 Theben  11, 12, 33 – 36, 38, 45, 127, 269, 277 Thesprotia, Thesprotier  104, 105, 107, 110 Thessalien  111, 224, 258, 264 U Unteritalien  8, 58, 105, 110 X Xanthos/Lykien  136 – 138, 215, 220