Artivismus: Kunst und Aktion im Alltag der Stadt [1. Aufl.] 9783839430354

Artivism, the combination of art and social action in public space, is often mentioned in the same breath as the great r

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German Pages 278 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Stadt selber machen!
Empowerment
„Die Straße“ – ein Erinnerungsort
Kunst, Performance, Aktion
15 Minuten
Die Initiative aktion ./. arbeitsunrecht e.V.
Subjektive Schulkarte, Nadelmethode, Autofotografie
Tunnelkultur
Die offenen Arme und geschlossenen Türen einer Stadt
Biografiearbeit und Stadtspaziergang
Zwischen Analyse und Aktion
„Bekar Odalarι“ – „Junggesellen-Räume“ in Istanbul
„Grounded Research“
Stadt – Aktion – Forschung – Kunst
Soziale Aktivierung
Spurensuche
Ästhetische Bewegungskunst in urbanen Räumen
Stadtmusik
Hereinspaziert! Urban Culture und Urban Gardening
Crossing Reality: Die Kunst des Christian Hasucha
Lebenskunst
Lebenskunst
Lebenskunst
Lebenskunst
Lebenskunst
Bildnachweise (nach Autor*innen)
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Artivismus: Kunst und Aktion im Alltag der Stadt [1. Aufl.]
 9783839430354

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Lilo Schmitz (Hg.) Artivismus

Urban Studies

Lilo Schmitz (Hg.)

Artivismus Kunst und Aktion im Alltag der Stadt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Straßenecke in Istanbul: Lilo Schmitz, Paste-Up-Junge: ALIAS (Berlin) Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3035-0 PDF-ISBN 978-3-8394-3035-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung

Lilo Schmitz | 9 Stadt selber machen! Protest, Bewegung und DIY-Urbanismus

Alexander Flohé | 17 Empowerment Schatzsuche in urbanen Räumen

Norbert Herriger | 21 „Die Straße“ – ein Erinnerungsort Zur Produktion von Raum zwischen Militärdiktatur und Gezi-Park

Derya Firat | 27 Kunst, Performance, Aktion

Ein Gespräch mit Erdem Gündüz | 39 15 Minuten

Banu Beyer | 47 Die Initiative aktion ./. arbeitsunrecht e.V.

Jessica Reisner | 53 Subjektive Schulkarte, Nadelmethode, Autofotografie Methoden, mit denen Kinder ihre Schule als Lebensort beschreiben

Ulrich Deinet | 59 Tunnelkultur

Anne Mommertz | 69

Die offenen Arme und geschlossenen Türen einer Stadt Ein Projekt zur Beheimatung und Retro-Beheimatung

Lilo Schmitz | 81 Biografiearbeit und Stadtspaziergang

Nurdagül Özmen | 87 Zwischen Analyse und Aktion Methodologische Verortungen und praktische Einsichten sozialräumlicher Handlungsforschung mit Älteren

Christian Bleck & Anne van Rießen | 95 „Bekar Odalarι“ – „Junggesellen-Räume“ in Istanbul Ein Blick auf die Stadt aus soziologischer und fotografischer Perspektive

Gamze Toksoy (Text) & Altan Bal (Fotos) | 111 „Grounded Research“ Forschung als Intervention

Thomas Münch & Kai Hauprich | 123 Stadt – Aktion – Forschung – Kunst

Jonny Bauer | 143 Soziale Aktivierung Das Cafeteria-Projekt

Peter Bünder & Volker Schulz | 153 Spurensuche Ein Projekt in Düsseldorf-Derendorf

Fabian Chyle & Volker Schulz | 161 Ästhetische Bewegungskunst in urbanen Räumen Prozesse selbstorganisierten Lernens und ästhetischer Selbstinszenierungen im Sport

Harald Michels | 179

Stadtmusik

Hubert Minkenberg | 193 Hereinspaziert! Urban Culture und Urban Gardening Kollaborative Arbeit mit Studierenden

Swantje Lichtenstein & Maria Schleiner | 205 Crossing Reality: Die Kunst des Christian Hasucha Interventionen zwischen Neckarsulm und Plüschow

Johanna Schenkel | 213 Lebenskunst

Carsten Johannisbauer | 223 Lebenskunst

Monika Bremen & Hans-Jörg Blondiau | 233 Lebenskunst

Jessica Reisner | 239 Lebenskunst

Pascal Blondiau | 249 Lebenskunst

Pero | 257 Bildnachweise (nach Autor*innen) | 267 Autor*innen | 271

Einleitung L ILO S CHMITZ

Artivismus – dieses Kunst-Wort, das mir zum ersten Mal durch Peter Weigel vom ZKM begegnete, konstatiert, feiert, beschwört die Annäherung von Kunst und sozialer Bewegung und Aktion. Was für Peter Weigel als Künstler „die erste wirklich neue Kunstrichtung des 21. Jahrhunderts“ ist, ist für viele Aktivist*innen eine neue Art, kämpferisch und ästhetisch zugleich gegen Krieg, Ökonomisierung des Alltagslebens, Vertreibung aus dem öffentlichen Raum aktiv zu werden, kurz: mit politischen und künstlerischen Mitteln einen Kampf für das gute Leben zu führen. Stadt und soziale Bewegung – das heißt auch spektakuläre Auseinandersetzung. Der Kampf um die Städte tobt – große Plätze in Metropolen werden besetzt, Menschenmassen bleiben, trotzen Tränengas und Wasserwerfern. Die Occupy-Bewegung geht in die Zentren der Macht. Doch die Auseinandersetzung darum „Wem gehört die Stadt?“, die letztendlich meint „Wem gehört die Welt?“ und „Wem gehören die Menschen, ihr Alltag, ihr Leben?“ wird nicht nur laut und spektakulär, sondern auch tagtäglich und beharrlich im Alltag der Stadt geführt. Wem gehört der öffentliche Raum? Was dürfen Menschen nutzen? Was sollten sie fordern? Wo sind sie zuhause, wo können sie mitgestalten? Wenn der öffentliche Raum der Ökonomie gehört, beschränkt dies das Leben der Menschen auf ein Dasein in Hamsterrad (Arbeit) und Hamsterkäfig (Zuhause): Der Mensch ist ausschließlich als Mittel zum Zweck, als Produzent*in oder Konsument*in interessant. Menschen zahlen für ihre Wohnung, die sie aus Sicht der Ökonomie nur verlassen sollten, wenn sie produzieren oder konsumieren. Im öffentlichen Raum halten sie sich auf, um zur Arbeit zu fahren, einzukaufen oder bezahlte Freizeitaktivitäten als Kund*innen wahrzunehmen.

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Dem gegenüber fordern soziale Bewegungen das Menschenrecht auf Raum, Entfaltung und Aneignung ein. In phantasievoller und beharrlicher Weise investieren Menschen Zeit, Kraft und Einfälle, um Teilhabe an und Nutzung von öffentlichem Raum weiter zu treiben. Sie holen Menschen aus der Isolation ihrer Hamsterkäfige, wo sie gebannt vor dem gleichförmigen Fernsehprogramm sitzen und zerren sie ans Licht und in das Gewimmel der ungeordneten Straße. Die Aktivitäten sozialer Bewegungen, die schon die 70er Jahre kennzeichneten, sind im neuen Jahrtausend anders. Sie sind bunter, fröhlicher, weniger miesepetrig, weniger besserwisserisch. Sie sind ästhetik-bewusst, sie sind künstlerischer geworden, während viele Kunst sich sozial engagiert. Artivismus findet auf einem Kontinuum zwischen Kunst und Aktivismus statt, die in unterschiedlichen Anteilen auch die Beiträge in diesem Band kennzeichnen: An einem Ende des Kontinuums die Kunst: Artivist*innen nutzen Sprache und Medien der Kunst, um Straße und Alltag neu zu gestalten und zu konfigurieren und ihre Botschaften ästhetisch zu formen und zu präsentieren. Am anderen Ende des Kontinuums die soziale Aktion: Agitation, Kampf für Menschenrechte, für Bleiberecht, gegen Ausgrenzung und Armut. In bunter Fülle schlagen die Beiträge dieses Bandes einen Bogen und stellen Akteur*innen der Rückeroberung der Städte und des Alltags vor.

G RUNDLEGENDES Alexander Flohé stellt in seinem grundlegenden Beitrag den Rahmen vor, in dem soziale Bewegungen heute agieren. Kunst, Phantasie und Aktion beherrschen gut gelaunt, aber auch kämpferisch die Szene. Mut schöpfen zeitgenössische soziale Bewegungen aus einer neuen Perspektive: dem Empowerment. Norbert Herriger, einer der „Väter“ des Empowermentgedankens in Deutschland, ruft auf zur Mut machenden „Schatzsuche“ im urbanen Dschungel.

E INLEITUNG | 11

S OZIALE AKTION

UND

M ENSCHENRECHT

Die ersten Beiträge des Buchs beschäftigen sich mit aktivem politischen Handeln und Widerstand, der mit klaren politischen Forderungen verknüpft ist, dem alltäglichen Kampf für Bürger- und Menschenrechte: Eine der Quellen des Muts für das tägliche Handeln ist die Kraft, die Menschen aus der Erinnerung schöpfen. Erinnerung ist aber kein Container mit festen Bestandteilen der Vergangenheit, die nur abgerufen werden müssten. Erinnerung spricht immer aus dem Jetzt und beeinflusst das Jetzt. Sie wird immer neu gebildet im Licht aktueller Erfahrung und hilft zukünftiges Handeln zu strukturieren. Derya Firat aus der soziologischen Abteilung der Mimar Sinan Universität in Istanbul erforscht die Erinnerungen der Menschen in der Türkei an die Militärdiktatur der 80er Jahre. In einer vor wenigen Jahren groß angelegten Untersuchung präsentierten sich die Erinnerungen eher bedrückend und pessimistisch. Es ist nichts zu machen – das war eher das Fazit der Befragten. Interessant war eine Nachuntersuchung, die nach den die Türkei in jeder Hinsicht erschütternden Gezi-ParkProtesten stattfand. Die Macht und Aufbruchsstimmung dieser Proteste, die nicht nur Istanbul, sondern das ganze Land erfassten, veränderte ganz offensichtlich auch die Erinnerungen an die Zeit der Militärdiktatur: Die Befragten erinnerten Unterstützung, Phantasie und Widerstand der Bevölkerung gegen die entmüdigende Militärdiktatur. Eine der Symbolfiguren für die Phantasie des Widerstands am Gezi Park und am Taksim Platz wurde der Tänzer und Choreograph Erdem Gündüz, der sich als „Duranadam“, als „Standing Man“ den Polizisten am Taksim-Platz stundenlang gegenüber stellte und dabei von vielen Bürger*innen unterstützt wurde. In einem Interview spricht er über seine Aktion, seine Performances und die schwierige Position von Künstler*innen in der Türkei heute. Die Aktion von Erdem Gündüz inspirierte viele ähnliche Aktionen auf der ganzen Welt – keine Nachahmung, so Gündüz, sondern jedes Mal wieder originell und neu im neuen Kontext. Eine dieser Aktionen fand in Karlsruhe statt, wo vor dem ZKM jede Woche Menschen eine Viertelstunde lang reglos standen. Über dieses Projekt und seine Weiterführung in einer Performance berichtet Banu Beyer. Als türkeistämmige Mitarbeiterin am ZKM drückt sie mit ihrer Performance ihre Gefühle von Nähe, Ferne, Solidarität aus, indem sie ein mit Stacheldraht besetztes Shirt („vicdan hirkasi“) trägt.

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Bewegungen gegen soziales Unrecht tun auf der ganzen Welt wichtige Arbeit für die Gesellschaft. Jessica Reisner stellt als Aktivistin die Initiative aktion ./. arbeitsunrecht vor, die gegen Ausbeutung im Arbeitsleben als moderne Formen der Sklaverei und organisierte Bekämpfung von Betriebsräten und Gewerkschaften aufsteht und mit phantasiereichen Aktionen moderne Ausbeuter*innen – hoffentlich – das Fürchten lehrt.

ALT

UND

J UNG

Die Aneignung von Räumen durch Kinder und Jugendliche ist das Spezialgebiet von Ulrich Deinet, der ein Projekt angewandter Forschung beschreibt, das Kinder dabei unterstützt, ihren Lebensraum Offene Ganztagsschule zu beschreiben, zu erleben und sich dadurch anzueignen. Aneignung von Raum ist kein Prozess, der irgendwann abgeschlossen ist, sondern muss stets erneuert und belebt werden. Die Düsseldorfer Künstlerin Anne Mommertz beschreibt in ihrem Beitrag, wie ältere Menschen öffentliche Orte besetzen und sich durch Aktionen die Orte wieder aneignen, die im Laufe der Jahre für sie zum „Angstraum“ geworden sind. Doch nicht nur aktuelle Erlebnisse, auch der Rückblick auf die Vergangenheit kann Kraft und Mut geben: Wenn gelungene Aneignungs- und Beheimatungsprozesse thematisiert, in Wort und Bild gefasst und bei einem Stadtspaziergang belebt und aktuell verankert werden, stärkt dies im Sinne von Empowerment das Erleben der Gegenwart und den Rückblick auf ein sinnvoll gelebtes Leben. Die Beiträge von mir, Lilo Schmitz und Nurdagül Özmen beschreiben Grundlagen und Facetten dieses Projekts, das Özmen speziell im Licht der Biografie-Arbeit beleuchtet. Wie Forschung zur Aneignung Menschen stärken und in Richtung soziale Aktion bewegen kann, dokumentieren Christian Bleck und Anne van Rießen. Ihr Forschungsprojekt, das ältere Menschen anregt ihre Stadtteile zu erforschen, hat aktivierend gewirkt und Willen zum Engagement erzeugt.

ARM

UND

R EICH

Gamze Toksoy von der Mimar Sinan Universität in Istanbul beschreibt die Lebenswelten von Müll- und Papiersammlern in Istanbul. Sie forschte zu-

E INLEITUNG | 13

sammen mit dem Fotografen Altan Bal, der das Leben in den Wohnräumen der Müllsammler, den sogenannten „Junggesellen-Zimmern“ betroffen und zugleich respektvoll in eindrucksvollen Fotos eingefangen hat. In diesen „Junggesellenzimmern“ leben die Müllverwerter unter prekären Bedingungen, um für ihre Familien im entfernten Anatolien Geld zu erwirtschaften. Armut und Prekariat sind auch in Deutschland mancherorts anzutreffen. Thomas Münch und Kai Hauprich haben in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe und bei Betroffenen die Lebensbedingungen neu eingereister Menschen aus Rumänien und Bulgarien in Köln untersucht. Sie ermitteln, wie Politik Mängel erzeugt und schürt, während unter den Ärmsten der Armen und ihren Betreuer*innen Verständnis, Solidarität und Freundschaft sich mutig gegen verarmende Strukturen stellt.

B ÜRGER

NEHMEN SICH IHRE

S TADT

In Zeiten ökonomiebetonten Wettbewerbs der Städte um Image, Unternehmensansiedlung und Tourismus schildert der Düsseldorfer Künstler Carsten Johannisbauer alias Jonny Bauer, wie Bürger sich ihre Stadt phantasievoll, kämpferisch und gut gelaunt zurückholen durch Geschenk-Aktionen, Urban Gardening, Street Art und – in ironischer Überhöhung des ‚höher, schneller, weiter‘ durch das Grillen der längsten vegetarischen Grillwurst der Welt mit Eintrag ins Guinness Buch der Rekorde. Auch ein Universitätscampus muss angeeignet werden, wollen die Studierenden wirklich den Raum nutzen, bewohnen und sich dort beheimaten. Wo – dem Trend zu teurem Convenience-food folgend eine billige und gemütliche Cafeteria geschlossen wird, um Latte Macchiato to go Platz zu machen, mischen sich die Studierenden von Peter Bünder und Volker Schulz ein, beleben die alte geschlossene „Cafete“ wieder und lernen nicht fürs Seminar, sondern fürs Leben. Das Performance-Projekt von Fabian Chyle und Volker Schulz ermuntert die Studierenden, sich bereits jetzt einzumischen im Stadtteil Derendorf, in den ihre Hochschule in wenigen Monaten umziehen wird. Wie verändert der Zuzug der Hochschule den Stadtteil, wie trägt die Hochschule ungewollt zur Gentrifizierung, Vertreibung und Mietenerhöhung bei und wie kann ein Performance-Projekt künstlerisch und engagiert diese Situati-

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on bearbeiten? Das diskutieren Volker Schulz und Fabian Chyle in einem Gespräch. Junge und alte Menschen erobern sich ihre Stadt durch Bewegung und Geschicklichkeit. Vorbei ist anscheinend die Zeit des Wohnzimmer-Aerobic vor dem Videogerät. Walken, Joggen, Skaten, Slack-Lines, Parcouring und Tanz im öffentlichen Raum zeugen von einer Nutzung von Plätzen, Luft und Licht, aus der jenseits von aller Fitness-Vermarktung Abenteuerlust und Freude am Körper und an der Bewegung spricht. Harald Michels zeigt als Experte für Erlebnispädagogik die neuen Trends der Aneignung durch Bewegung in den öffentlichen Räumen der Stadt auf. Doch nicht nur Bewegung, auch Musik für alle erobert die Straßen und Plätze. Das offene und öffentliche Singen für alle, besonders für die, die meinen nicht singen zu können, begeistert die Menschen. Rhythmus hält Einzug auf der Straße, mit Sambagruppen, mit selbstgebauten Instrumenten, es wird improvisiert und gejamt. Hier ist neben Musikschulen, Hausmusik und vereinsstrukturierten Chören und Musikgruppen eine ganz eigene offene Bewegung entstanden, wie Hubert Minkenberg in seinem praxisbezogenen Beitrag voller Anregungen ausführt.

K UNST

ÜBERALL

Wo langweilige Grünflächen oder harter Asphalt herrschen, tobt das Guerilla-Gardening, das die Natur als Schmuck sowie gutes Essen in die Stadt zurückholt. Swantje Lichtenstein und Maria Schleiner haben mit dem Projekt eines Hochschulgartens den Studierenden Gelegenheit gegeben zu erleben, wie sich Raum und Ortsbezug verändern, wenn Menschen gestaltend eingreifen und einen Garten mit Skulpturen, aus Abfall selbst gebauten Möbeln und Pflanzen schaffen. Statt der Hochschule, durch die sich Studierende sonst anonym und ohne Spuren zu hinterlassen bewegen, gestalten Farbe und Materialien, Pflanzen, Luft und Wetter neue Landschaften, Plätze zum Chillen sowie Arbeiten, Anregung, Freude und Ruhepol für das Auge. Wie anders wirkt die Hochschule, wenn sie eigensinnig und mit eigenen Händen gestaltet wird! Völlig neue Perspektiven auf Vorhandenes schafft auch der Berliner Künstler Hasucha, der, was Guerilla-Gardening-Projekte im Kleinen versuchen, mutig, radikal, ironisch spielerisch und konfrontierend in gewagten

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Landschaftsveränderungen in Szene setzt. Ganze Straßenpartien und Teile von Häusern werden von ihrem ursprünglichen Standort wegbewegt und entwickeln in neuem Kontext eine ganz neue Sprache, sprechen zum Betrachter in persönlichen erstaunlichen Botschaften und überraschen das Raumerleben. Johanna Schenkel brennt dafür Hasuchas Werk in einem Film zu dokumentieren. Ihr Film-Entwurf in diesem Band überzeugt.

L EBENSKUNST Soziale und kulturelle Bewegungen, die Menschen, ihre Rechte, ihre Öffentlichkeit, ihre Alltagskultur erkämpfen und sich Stadt wieder aneignen, werden im Alltag von engagierten Menschen getragen. Mir sind in meinem Leben einige davon begegnet. So verschieden sie sind: wütend oder bestens gelaunt, wortreich und wortkarg, jung und alt, haben sie doch eines gemeinsam: Sie leben eine Utopie und öffnen Räume für Menschen. Sie brennen für ihr Projekt, sie begeistern Menschen, sie bringen sie in Kontakt. Sie opfern Stunden und Tage ihrer Freizeit. Geld und Karriere sind ihnen nicht wichtig, sie sind bescheiden. Sechs dieser Aktivist*innen des Alltags, die mich besonders beeindruckt haben, möchte ich in diesem Band stellvertretend mit ihrem Alltag vorstellen. Es sind nicht einzelne Projekte, die besonders herausstechen, sondern Jahre und Jahrzehnte voller „Lebenskunst“. Ohne Menschen wie diese wären Kunst und Aktion in der Stadt nicht denkbar. Wie definieren diese Held*innen des Alltags ihr Wirken? Ich habe allen die gleichen 25 Fragen vorgelegt und sie gebeten, das zu beantworten, was ihnen wichtig erscheint. In den Interviews treten auf: Carsten Johannisbauer, Düsseldorfer Künstler, Grafiker, Autor und Konzeptkünstler und Musiker. Hans-Jörg Blondiau und Monika Bremen, die den größten Teil ihrer Freizeit dem Kinoverein ZOOM widmen, der der Kleinstadt Brühl ihr Kino wiedergeschenkt hat. Jessica Reisner ist Aktivistin in sozialen Bewegungen, wo immer sie ist. Sie engagiert sich in ihrer Umgebung, wo immer sie kann und streitet aktuell mit Wort und Musik für arbeitsunrecht und gegen das union busting. Pascal Blondiau widmet sein Leben der Musik. Jahrelang Radiomacher, DJ und heute als Betreuer von Live-Musik-Veranstaltungen im Gebäude 9, hört er, legt er auf, vernetzt Musiker*innen und Clubs, bringt

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Menschen rund um Musik zusammen. Immer bescheiden leistet er dabei Unschätzbares für die Musik in der Stadt. Pero lebt auf Gomera und neuerdings einige Monate des Jahres in Köln. Seine Entscheidung auf einer kleinen Insel mit nicht sehr reicher Bevölkerung ausschließlich Künstler zu sein und davon zu leben, ist radikal, freiheitlich und imponierend. Diese Lebenskünstler wurden beispielhaft für viele andere interviewt, die kämpferisch und humorvoll, bescheiden und anspruchsvoll, diszipliniert und kreativ Kunst und Aktion in den Alltag der Stadt tragen. Artivist*innen entdecken und nutzen fantasievoll Freiräume und Ressourcen, ohne aufzuhören, Ansprüche zu stellen und zu fordern. Geld ist ihnen nicht das Wichtigste, sie sind nicht käuflich. Aber sie fordern, was allen zusteht – Teilhabe, Mitbestimmung, Sichtbar-Sein. Dieses Buch will einen Abglanz dieser Vielfalt zeigen.

Stadt selber machen! Protest, Bewegung und DIY-Urbanismus A LEXANDER F LOHÉ

Soziale Bewegungen und Protest haben immer schon ihren zentralen Ort in den Städten. Angesichts weitreichender neoliberaler Umstrukturierungen hat die Quantität und die Qualität der Aktionen und Proteste in den letzten Jahren deutlich zugenommen und es können neue Formen und Praktiken zur Durchsetzung von Rechten, Wünschen und Ideen auf der Ebene der Stadt erfahren werden. Die Stadt war und ist ein Konfliktfeld, ein Mobilisierungs- und Experimentierraum, eine Bühne. So sind mit der Besetzung von öffentlichen Plätzen, mit dem Austausch und dem Ausharren „temporäre Räume demokratischen Experimentierens“ entstanden. Es entstand eine Infrastruktur, „die es erlaubte, die Besetzungen aufrechtzuerhalten und damit den öffentlichen Raum als Wohnraum und Forum des Souveräns neu zu erfinden. Küchen und Bibliotheken, Sanitäts- und Entspannungszelte waren genauso wichtige Bestandteile dieser Infrastruktur wie die Schlafzelte und die täglichen Versammlungen. Die Bilder der übervollen Plätze, auf denen sich große Menschenmengen mit Handzeichen verständigen, lassen ahnen, welche Ermutigung die Erfahrung einer Gemeinschaft auslöst, die sich trotzig selbst organisiert.“ (Teune 2012: 33). Auf den Plätzen entstanden – beispielsweise in den durch die Occupy-Bewegung bekanntgewordenen Asambleas – nicht nur „radikaldemokratische Ort gemeinsamer politischer Deliberation und Aktion, sondern bereits Strukturen alternativer öffentlicher Daseinsvorsorge“ (Mayer 2014: 37).

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Diese weltweit an verschiedenen Orten zu vernehmende Ausrufe und Forderungen „Platz Da!“ oder „Recht auf Stadt!“ lassen sich sicherlich nicht so einfach gleichsetzen. Und doch ist hier ein Trend zu sehen, der mit „Wiederaneignung von Stadt und Raum“ noch unscharf beschrieben ist, aber in der Selbst-Organisation, in dem gemeinschaftlichen, solidarischen Handeln und in dem (politischen) Engagement durch oft widerständige Praktiken eine hohe Übereinstimmung erfährt. Ob es – wie beschrieben – um Proteste gesamtgesellschaftlicher Ausrichtung geht oder um eine Wiederaneignung im Sinne eines Selbermachens von Stadt.

DIY-U RBANISMUS : K REATIVE M IKROPRAKTIKEN Wenn es um Wiederaneignung geht, sind – unter der Maßgabe einer selbsttätigen, gemeinschaftlichen Aneignung der Stadt durch ihre Bürger – vielfältige Formen, Prozesse und Praktiken gemeint: So nutzen lokale Initiativen, Stadtteilgruppen/-organisationen, spontane Vereinigungen und Assoziationen den städtischen Raum für ihre Aktionen und erschaffen sozialen öffentlichen Raum durch ihre Praktiken wie beispielsweise Performances, Meetings, Straßentheater aber auch durch Demonstrationen oder eben durch Occupationen. Die Leute erblicken in ihrer Stadt, ihrem urbanen Umfeld einen Möglichkeits- und Handlungsraum, der sich aneignen und gestalten lässt (vgl. Flohé/Schmitz 2014). Partizipation und entsprechende „Zugänge“ zum Engagement werden wesentlich auf der lokalen Ebene (dem „Lernort der Demokratie“) geöffnet, die sich zu einem wahren Experimentierfeld für neue Formen von Beteiligung und Aktionismus entwickelt hat. Die lokale Ebene verfügt nicht nur über eine spezielle Nähe zu konkreten Problemen, sondern markiert des Weiteren jenen Bereich, in dem die Bestrebungen und das Engagement der Bewohner besonders sinnfällig ansetzen können. Bastian Lange und Malte Bergmann sehen die aktuellen Proteste und Aktionen in der Stadt als „Artikulationsort von konkreten Sorgen breiter Bevölkerungsgruppen“ und sehen die Herausbildung eines „Netzwerkes, in dem Bürger die Sorge um den Charakter ihrer Stadt in Protest verwandeln“ (Lange/Bergmann 2011: 9). Als vitaler und vitalisierender Raum gewinnt die Stadt für kreative Stadtakteure an neuer Bedeutung: Ob Gartenanlagen auf Brachen, Häkeln für Laternen, Malen auf Stromkästen, Verfremdung von Werbung oder

S TADT

SELBER MACHEN!

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Flashmob-Kissenschlachten im öffentliche Raum – ein Mitmachurbanismus, ein DIY-Urbanismus, ein Urbanismus von unten greift um sich. Man könnte diese Aktionen auch eine „Wette auf den Gemeinsinn“ nennen. Denn bei allem Tatendrang geht es vielen der Aktivisten nicht allein um eine Um- und Aufwertung, die sich materiell auszahlt, sondern um ein soziales Vermögen, um Quartiere, die den Einzelnen herausziehen aus seinem Eigennutzdenken. „Häufig handelt es sich um einfache Ideen, die umstandslos zu realisieren sind: im Park nebenan neue Tischtennisplatten zu installieren, an der nächsten Kreuzung eine kleine Tauschbücherei einzurichten (etwa in einer ausgedienten Telefonzelle), auf öffentlichem Grund mehr Obstbäume zu pflanzen, an den Bushaltestellen neue Bänke zu platzieren oder mehr Fahrradständer aufzustellen.“ (Rauterberg 2013) Es geht nicht nur um Dissens, Kampf und Konflikt, wie in den Urbanriots zum Ausdruck kommt, sondern – wie Margit Mayer in Bezug auf Antonio Negri anmerkt – „um eine breite Palette von Mikro- bzw. sog. InfraPraktiken, d.h. widerständige urbane Handlungen, die von ,guerilla gardening‘ über Flash Mobs zur Besetzung öffentlicher Parks bis zur Umwidmung von Autostraßen zu Fußballfeldern reichen. Obwohl zum Teil kaum sichtbar oder unscheinbar, so kumulieren diese Praktiken in dieser Perspektive doch zu irreversiblen Schwellen, aus denen allmählich kollektives politisches oder sogar revolutionäres Bewusstsein entsteht.“ (Mayer 2014: 35) Der neue Mitmachurbanismus, dieses „Stadt selber machen“ macht aus den Bewohnern der Stadt, die oftmals nur noch Besucher der Stadt sind wieder Benutzer der Stadt. Oder anders: Aus Stadtkonsumenten werden Stadtproduzenten, die oftmals am Rande der Legalität agieren, zivilen Ungehorsam zeigen, aber mit Überzeugung und Spaß bei der Sache sind. Und die sich im besten Sinne für ein „Recht auf Stadt“ einsetzen. Und auch wenn sich die Bewegungen, die Proteste und die Aktionen eines DIY-Urbanismus auf unterschiedliche Vorhaben, politische Strukturen und Kräfteverhältnisse sowie die dazu gehörigen Ressourcen- und Sachfragen beziehen, „ihnen gemeinsam ist die demokratietheoretische Frage: Welches Mitsprache- und Partizipationsrecht haben Menschen in demokratisch verfassten Ländern eigentlich unter den momentanen sozioökonomischen Umbrüchen?“ (Lange/Bergmann 2011: 10) Geht es in den aktuellen Protesten, Bewegungen und neuen Formen eines DIY-Urbanismus um Fragen der Partizipation, der Deliberation, Fragen der Mit-Wirkung, Mit-Bestimmung und Mit-Gestaltung, dann geht es um

20 | A LEXANDER F LOHÉ

ein normatives Konzept, was unter Urbanität zu verstehen ist und was mit dem Aufruf „Stadt selber machen“ gemeint ist: „Diese neuen Praxen, die ein normatives Konzept von Urbanität vorwegnehmen, welches sowohl ein radikaldemokratisches Insistieren auf offene – für alle offene – politischen Strukturen umfasst, als auch eine Polis, an deren Produktion und Reproduktion alle Anwesenden beteiligt sind, sind heute in großen Teilen der verschiedenen Varianten städtischer Bewegungen präsent: sowohl in denen, die sich primär um städtische Räume und soziale Infrastrukturen kümmern, also gegen Gentrifizierung und Vertreibung mobilisieren und für menschenwürdige und nachhaltige Versorgung; als auch in den Krisenprotesten und Anti-Autoritätsbewegungen, den globalisierungskritischen wie den klimapolitischen Bewegungen – die sich mehr oder weniger mit den speziellen urbanen Manifestationen dieser Krisen vor Ort auseinander setzen.“ (Mayer 2014: 38)

L ITERATUR Flohé, Alexander/Schmitz, Lilo (2014): Hilfe, die Hochschulen kommen. Turbogentrifizierung und die Ansiedlung von Hochschulen. In: taz. Die Tageszeitung, 29.01.2014, Nr. 10322, 36. Jg., S. 18. Lange, Bastian/Bergmann, Malte (2011): Eigensinnige Geographien. In: Lange, Bastian/Bergmann, Malte (Hg.), Eigensinnige Geographien: städtische Raumaneignungen als Ausdruck gesellschaftlicher Teilhabe. Wiesbaden: VS Verlag, S. 9-32. Mayer, Margit (2014): Soziale Bewegungen in Städten – städtische soziale Bewegungen. In: Gestring, Norbert et al. (Hg.), Stadt und soziale Bewegungen, Stadt, Raum und Gesellschaft. Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 25-42. Rauterberg, Hanno (2013): Raus auf die Straße! In: Die Zeit, 26.10.2013, Nr. 43, http://www.zeit.de/2013/43/Vorabdruck-Hanno-Rauterberg-Wirsind-die-Stadt (20.02.2015). Teune, Simon (2012): Das produktive Moment der Krise. Platzbesetzungen als Laboratorien der Demokratie. In: WZB-Mitteilungen, Nr. 137, September 2012, S. 32-34.

Empowerment Schatzsuche in urbanen Räumen N ORBERT H ERRIGER

Es ist nicht einfach, den gemeinsamen Nenner all der Projekte aufzufinden, die in diesem Buch vorgestellt werden. Vielleicht ist es dies: Menschen gehen auf Entdeckungsreisen, sie treten auf eine öffentliche Bühne, entwickeln bunte Muster von Kreativität und mischen sich mit phantasievollen künstlerischen Produktionen ein. Und in diesen Formen der Teilhabe entdecken sie neue Stärken und Fähigkeiten, machen die Erfahrung, dass sie mit eigenen Ressourcen die Umwelt und sich selbst gestalten können. Anders formuliert: Die produktive Kraft dieser Projekte dokumentiert sich vor allem darin, dass sie Menschen die stärkende Erfahrung von Selbstwirksamkeit vermitteln. In der Literatur werden Projekte dieser Art mit dem Begriff „Empowerment“ bezeichnet. Ich werde in den folgenden Anmerkungen das Konzept Empowerment vorstellen und Anschlussstellen für eine kreative Pädagogik der „Ressourcen-Schatzsuche“ skizzieren. Machen wir uns also auf eine Spurensuche „in Sachen Empowerment“.

E MPOWERMENT : D ER B LICK S TÄRKEN , R ESSOURCEN

AUF

F ÄHIGKEITEN ,

Die Gegenwartsdiagnosen, mit denen die Stadtforschung die Wirklichkeit unserer Städte heute beschreibt, haben einen pessimistischen Grundton: Der wissenschaftliche Blick auf die Stadt-Gemeinschaften ist in weiten Passa-

22 | N ORBERT H ERRIGER

gen von einem Defizit-Blick auf Orte und Menschen geprägt. Negative Szenarien von der Wiederkehr verschärfter Armut, vom baulichen Niedergang abseits der in Hochglanz-Architektur eingekleideten Stadtzentren und von überforderten Nachbarschaften bestimmen die forscherische Sicht. Die Folge dieses Defizit-Blicks aber ist, dass die vorhandenen Lebensfähigkeiten und die bunt-kreativen Alltagskompetenzen der Menschen, denen wir in diesen Räumen begegnen, ihre produktiven Ressourcen von Lebensbewältigung und Lebenskraft aus dem Blick geraten. Das Empowerment-Konzept formuliert hier eine „andere Sicht der Dinge“. „Die Menschen stärken“, „Ressourcen fördern“, „personale und soziale Kompetenzen (weiter-)entwickeln“ – Stichworte wie diese verweisen auf die zentrale Botschaft des Empowerment-Gedankens. In der Literatur finden sich viele Versuche, das was Empowerment ausmacht (wörtlich übersetzt: „Selbstbemächtigung“, „Selbstbefähigung“, „Stärkung der Eigenkräfte“), auf den Begriff zu bringen. Gemeinsam ist allen Definitionsangeboten eines: Der Begriff Empowerment steht heute für alle solchen Arbeitsansätze und Projekte, die die Menschen zur Entdeckung der eigenen Stärken ermutigen und ihnen Hilfestellungen bei der Aneignung von Selbstbestimmung und Lebensautonomie vermitteln wollen. Ziel der EmpowermentProjekte ist es, die vorhandenen (wenn auch vielfach verschütteten) Fähigkeiten der Menschen zu kräftigen und Ressourcen freizusetzen, mit deren Hilfe sie die eigenen Lebenswege und Lebensräume selbstbestimmt gestalten können. Von dieser noch allgemeinen Definition ist es nicht weit, das zu bestimmen, was Empowerment in der sozialräumlichen Arbeit bedeutet: Empowerment-Arbeit – mit Blick auf urbane Räume – zielt auf die Förderung von kollektiven Ressourcen „vor Ort“, auf die Förderung jener vielfältigen Stärken, Fähigkeiten und Talente von Quartiersbewohnern also, die im kooperativen Handeln von Hausgemeinschaften, Nachbarschaften und lokalen Aktionsgruppen entstehen und wachsen. Die Bewohner gerade auch in benachteiligten Stadtquartieren sollen den Mut finden, ihre Stimme zu erheben, eigene Ressourcen zu entdecken und ihre Lebensverhältnisse aktiv zu gestalten – sie sind aufgerufen, zu Aktivposten in der Gestaltung der eigenen sozialräumlichen Lebenswirklichkeit zu werden.

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S CHATZSUCHE „ VOR O RT “: D IE ARCHÄOLOGIE DER R ESSOURCEN Die künstlerischen Aktionen, Projekte und Produktionen, deren phantasievolle Ergebnisse in diesem Buch dokumentiert sind, sind kreative Beispiele für eine produktive sozialräumliche Archäologie von Ressourcen. Wir können hier drei Zugänge zu dieser Schatzsuche unterscheiden: 1. Historische Schätze ausgraben In die Alleen, Plätze, Parks, Gebäude einer Stadt ist lebendige Geschichte eingeschrieben. Schatzsuche ist hier zunächst einmal historische Spurensuche. Für die Bewohner, die in Zeitreisen in die Stadtgeschichte eintauchen, bedeutet dies, dass sie Teil eines „Zeitpfeils“ werden, der aus der Vergangenheit in die Zukunft weist. Die stadtgeschichtliche Schatzsuche ruft Vergangenheitsbilder und subjektive Erinnerungen in den Köpfen der Menschen wach. Und zugleich vermittelt sie ihnen eine bedeutsame Ortsidentität – die stärkende Erfahrung, Teil einer zeit-räumlichen Kontinuität zu sein, aus der sich das Gefühl des „Beheimatet-Seins“ wie auch die subjektive Verantwortung für Zukunftsentwicklungen schöpfen. Zeitzeugen-Interviews, Drei-Generationen-Gespräche, die photographische Chronographie von Stadtentwicklungen und stadthistorische Erkundungen für Kinder – dies und mehr sind Sprungbretter für eine solche ressourcenorientierte geschichtliche Spurensuche. 2. Aktuell verfügbare soziale Ressourcen entdecken Die Schatzsuche geht des Weiteren auf die Suche nach Ressourcepersonen im Stadtteil, deren Fähigkeiten und Talente „ansteckend“ sein können. Ein Beispiel aus eigener Praxis: In dem Düsseldorfer Projekt „Stadtteilmütter“ ist es gelungen, gut integrierte Frauen aus der türkischen Gemeinde als Multiplikatorinnen zu gewinnen. Sie begleiten jene Mütter, die noch fremd in der neuen Heimat sind und die vielfach recht isoliert und verhäuslicht leben, gemeinsam mit ihren Kindern über die Schwellen der Kindertagesstätte zu treten, und wirken als Tutorinnen für Mutter-Kind-Sprachkurse. Auf diese Weise vermitteln sie diesen Müttern wie Kindern nicht nur eine grundlegende Sprachlichkeit der Integration; sie werden Projektionsfläche für Hoffnung und schlagen Zündfunken der sozialen Vernetzung. Und noch ein weiterer Aspekt ist hier zu benennen: Eine soziale Stadt der Bürger be-

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darf einer tragenden Infrastruktur für bürgerschaftliches Engagement. Sie muss Menschen – wo immer möglich – miteinander in Kontakt bringen, sie muss ihre Bürger einladen, sich in sinnerfüllte bürgerschaftliche Aktivitäten einzubinden und hier ihre Talente zu investieren. Kontaktstellen für ziviles Engagement, Bürgerbüros, Freiwilligenagenturen sind die Orte, an denen sich diese (ansonsten brachliegenden) Bürger-Ressourcen miteinander vernetzen und in solidarischer Gemeinschaftlichkeit Kraft gewinnen. 3. Neue kollektive Ressourcen entwickeln Empowerment möchte schließlich und vor allem neue kollektive Ressourcen-Schätze entstehen lassen. Ein Blick auf die Agenda der vielfältigen Stadtentwicklungsprojekte, die gegenwärtig in der Erprobung stehen, lässt vor allem zwei Aktionsstrategien erkennen, die diesem Ziel einer Förderung sozialräumlicher Ressourcen dienen: Vernetzung, soziale Unterstützung, „embedding“: Empowerment im sozialen Raum zielt zum einen auf das Stiften von neuen Netzwerken und Bürgergemeinschaften. Vor allem dort, wo die Resignation, die Demoralisierung und die Entmutigung der Bewohner einen autonomen Prozess der Selbstorganisation erschweren, dort ist es die Aufgabe eines beruflich tätigen „Schatzsuchers“, Brücken zwischen Menschen zu schlagen und Anstöße für eine solidarische Vernetzung zu geben. In vielfältigen Aktionen und kreativen Inszenierungen begegnen sich Menschen mit vergleichbaren Anliegen und Betroffenheiten, sie fassen Mut und machen sich auf den individuellen Weg der Gestaltung ihrer eigenen Lebenswelt. Gelingt es auf diese behutsame und nicht-bevormundende Weise, ein buntes Patchwork von Netzwerken zu stimulieren, die von Vertrauen und Vertrautheit, von Solidarität und wechselseitiger Anerkennung getragen sind, so mehrt sich das soziale Kapital des Stadtteils und der gesamten Stadt. Die Bewohner entwickeln ein Gefühl der Zugehörigkeit und der Verbundenheit über Generationengrenzen und ethnische Barrieren hinweg („embedding“), sie treten aus dem Schatten einer amtlichen Fürsorglichkeit hinaus in eigene Verantwortungsrollen und werden so zu Aktivposten in der Gestaltung ihrer erweiterten sozialen und räumlichen Umwelt. Politikfähigkeit, Interessenorganisation, politische Einmischung: Empowerment zielt zum anderen auf die Stärkung von politischer Bürgerbeteiligung. Gefragt sind hier Gegenrezepte gegen den resignativen Rückzug der Bürger ins Private. Gefragt ist ein strittiges Sich-Einmischen der Bürger –

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ihre aktive Einflussnahme auf kommunale Belange, auf soziale Dienstleistungsprogramme und lokale Politikvorhaben. Empowerment zielt hier also auf eine Bekräftigung der Politikfähigkeit der Bewohnerschaft. Modellhafte Partizipationsverfahren wie z.B. die Bürgerbeiräte eröffnen hier neue Perspektiven: Sie sehen die Einberufung von Beiräten auf der Leitungsebene der sozialen Dienste wie auch auf der Ebene der lokalpolitischen Ausschüsse vor, in denen engagierte und in der Regel zugleich problembetroffene Bürger ein formales Mandat ausüben und auf diese Weise auch im administrativ-politischen Raum zu „Experten in eigener Sache“ werden (z.B. Bürgerbeirat für Soziale Sicherung; Beirat für die Belange von Menschen mit Behinderung; Beirat für Fragen der gemeindlichen psychosozialen Versorgung; Beirat für kommunale Seniorenarbeit). Auf diesem oft zunächst unsicheren und mit vielen Stolpersteinen gepflasterten Weg in die politische Selbstbestimmung verlassen die Menschen die ausgetretenen Pfade erlernter Hilflosigkeit. Sie gewinnen – gemeinsam mit anderen – Zuversicht und übernehmen Regie und Verantwortung in der Gestaltung lokaler Lebensverhältnisse.

R ESSOURCEN -S CHATZSUCHER : M ETHODISCHE P ROFILE Die Suche nach bürgerschaftlichen Ressourcen darf sich nicht in punktuellen Aktionen erschöpfen – es bedarf vielmehr zeitlicher Kontinuität, Geduld und Nachhaltigkeit. Personales Rückgrat einer solchen Arbeit sind u.a. die „Stadtteilmanager“, die in vielen Städten und Gemeinden mit der Ressourcen-Schatzsuche betraut sind. Und ohne Zweifel: Die Tätigkeit dieser professionellen Ressourcen-Schatzsucher erfordert ein besonderes Maß an methodischem Geschick. Unerlässliches Handwerkszeug ist hier eine hohe Sensibilität für die sich verändernden Bedarfe, Interessen und Ressourcen der Bewohnerschaft („was ist den Bewohnern wichtig“, „welche Ideen haben sie“, „welche lokalen Ressourcenpersonen und Multiplikatoren können mit ins Boot geholt werden“ usw.). Die Bedarfs- und Ressourcendiagnostik ist eine erste Komponente im Kompetenzprofil des Schatzsuchers. Hinzu kommen weitere Bausteine einer spezifischen Professionalität: eine gute Portion an pädagogischer Phantasie, Networking-Kompetenz beim Anstiften von zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation und bürgerschaftlichem

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Engagement und nicht zuletzt eine Mut machende Unterstützung der Bewohner beim Aufbau von vielfältig-bunten Partizipations- und Beteiligungsformen. Insgesamt ergibt sich somit ein höchst ansprüchliches Profil beruflicher Qualifikationen, Fähigkeiten und Kompetenzen, das Grundstoff für die Tätigkeit als Schatzsucher ist.

W IE

WEITER ?

G ENERATIONENDIALOG

Schließen wir mit einem kurzen Ausblick. Wie kann es weitergehen? Was fehlt, das sind nach meiner Einschätzung Orte und Gelegenheiten, die es möglich machen, in einen Ressourcen-Dialog quer durch die Generationen einzutreten. Hilfreich ist hier die Idee des Generationendialogs: Die biografischen Erfahrungsschätze einzelner Stadtbewohner, ihre erinnerte Lebensgeschichte wird hier zu einer Erzählung für ein junges Publikum. Beispiele für diese generationenübergreifende Erinnerungsarbeit sind u.a. die Schreibwerkstatt der Generationen, das Erzählcafé, das biografische Interview von Zeit-, Augen- und Ohrenzeugen durch Schüler. Gemeinsam ist diesen unterschiedlichen Varianten von Erinnerungsgemeinschaften der Ausgangspunkt: Am Anfang stehen historische Fundstücke, von denen ein Erzählanreiz ausgeht (alte Fotos, Familienalben, Spielzeug, Zeugnisse, Schulhefte und längst verloren geglaubte Tagebücher, historische Stadtansichten, alte Zeitungen, Archivmaterial u.a.m.). Die Auseinandersetzung mit diesen Vergangenheitsfundstücken ist Rohstoff für das erinnernde Gespräch. Für die ältere Generation wird so das längst Vergessene wieder wach, gemeinsame Erinnerungen schaffen ein inneres Band. Und für junge Menschen eröffnet sich zugleich die Möglichkeit, an die Geschichte der Menschen, Orte und Räume anzudocken, denen sie alltäglich begegnen.

W EITERFÜHRENDE L ITERATUR Herriger, Norbert (2014): Internet-Portal www.empowerment.de, 8. ergänzte und erweiterte Auflage, Mai 2014. Herriger, Norbert (2014): Empowerment in der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. 5. Auflage, Stuttgart: Kohlhammer.

„Die Straße“ – ein Erinnerungsort Zur Produktion von Raum zwischen Militärdiktatur und Gezi-Park D ERYA F IRAT

Am 12. September 1980 putschte die Armee in der Türkei. Damit riss nach dem Militärputsch von 1960 und 1971 das Militär zum dritten Mal in der Geschichte der Republik die Macht an sich. Drei Jahre später ergab sich eine verheerende Bilanz: 650.000 Menschen waren verhaftet worden, mehr als 500 Todesurteile waren gesprochen und 50 Menschen hingerichtet worden. 1.683.000 Menschen standen auf schwarzen Listen und 30.000 Menschen wurden ins Exil geschickt (TBMM 2012). Zusätzlich wurden fast 24.000 NGOs zerstört, alle politischen Parteien aufgelöst und die wichtigsten Zeitungen zensiert. Etwa 13.400 Beamte wurden gezwungen einen vorzeitigen Ruhestand zu beantragen. Als Ergebnis dieses harschen Militärregimes veränderte sich das politische Klima in der Türkei und statt der politischen Massenmobilisierung und der Straßenproteste der 70er begann eine Ära der „Depolitisierung“. Dass heute Menschen wieder politisch aktiv werden und die Straßen besetzen, sollte im Kontext der Erinnerung an diese Vergangenheit betrachtet werden. Mehr als 30 Jahre sind seit dem Militärputsch vergangen und das Bedürfnis ist groß, dieses ungeschriebene Kapitel der Geschichte der Türkei zu betrachten und zu diskutieren. In diesem Beitrag wird untersucht, welche speziellen „Erinnerungsorte“ die Zeit der Militärdiktatur geschaffen hat und welche Verbindungen zu heutigen Protestbewegungen wie dem Gezi-Park zu ziehen sind.

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O RTE

DES KOLLEKTIVEN

G EDÄCHTNISSES

In modernen Gesellschaften haben Massenmedien die Wahrnehmung von Zeit und Geschichte so verändert, dass sie sich auf das Gegenwärtige und Aktuelle beschränkt, während sich Kontinuität und Dauer eher in Ort und Raum materialisieren. Pierre Nora stellt in diesem Zusammenhang die These auf, dass die Tatsache, dass heute so viel über Erinnerungen gesprochen wird, eigentlich bedeutet, dass sie als solche nicht mehr existieren. Nach Nora sind die traditionellen Milieus mit ihrem Bewusstsein von Kontinuität und Geschichte (milieux de mémoire) ersetzt durch „Erinnerungsorte“ (lieux de mémoire) als fragmentarische „Einbrüche des Heiligen in eine entzauberte Welt“ (Nora 1984: 7). Soziale Gruppen und Institutionen der unterschiedlichsten Art stützen und schaffen in einer de-ritualisierten Welt ihre Identität durch Erinnerungsorte. Dies gilt für etablierte Institutionen wie Kirchen, den Staat, die Familie, die so ihre Werte effektiv weitergeben. Aber auch ethnische oder ländliche Gruppen, die viele Erinnerungen, aber wenig Geschichte haben, nutzen Erinnerungsorte, um sich Geschichte zu schaffen. All diese Gruppen schaffen Erinnerungsorte, seien sie öffentlich oder privat, hegemoniale Räume oder Räume der Macht, nachrangig, säkular oder heilig. Erinnerungsorte können sein: Monumente, bedeutende Personen, Museen, Archive, Symbole, Ereignisse, Institutionen, Geschichten – in jedem Fall manifestieren sie Bedeutung, sowohl abstrakt als auch konkret, sind aber dabei nicht statisch, sondern auch offen für Wandel und Manipulation. In jedem Erinnerungsort koexistieren materielle, symbolische und funktionale Dimensionen der Erinnerung. Betrachtet man die Beziehung zwischen Zeit, Raum und Erinnerung aus soziologischer Perspektive, beschäftigt sich Maurice Halbwachs (1994) besonders mit Raum. Für ihn sind Zeit und Raum die beiden Hauptdimensionen, durch die sich das kollektive Gedächtnis entfaltet. Gruppen wie z.B. religiöse Gruppen (Halbwachs 2008) versuchen Einheit und Kontinuität herzustellen, indem sie für die Identität wichtige Orte aktiv konstruieren. Repräsente der Vergangenheit sind nicht einfach da wie ein Buch, das nur aufgeschlagen werden muss, sondern werden aktiv immer neu konstruiert, was sie auch ein wenig unvollkommen, undefiniert und offen für Wandel macht.

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Erinnerungen sind nie isoliert und abgeschlossen, sondern existieren als soziale Erinnerungen. Auch wenn ein Individuum seine Erinnerungen alleine abruft, tut er/sie das nur im Kontext seiner sozialen Welt, als Teil des kollektiven Gedächtnisses der Gesellschaft, zu der das Individuum gehört. Und als Konsequenz erinnern Individuen nur das, was in ihrem sozialen Kontext akzeptiert oder erwünscht ist. Die Vergangenheit muss also (genau wie die Zukunft) rein interpretiert, geformt und konstruiert werden, und zwar im Einklang mit sozialen Erwartungen. Die so entstandenen Erinnerungen einen und bestärken die Gruppe. Immer wieder produziert aber das gleiche historische Ereignis unterschiedliche kollektive Erinnerungen je nach kulturellem Rahmen der sozialen Gruppe. Es gibt so viele kollektive Gedächtnisse wie es soziale Gruppen gibt. Gruppen besitzen konkurrierende Narrative und ganz unterschiedliche Erinnerungen, Deutungen und Erinnerungsorte.

E RINNERUNGEN IN DER T ÜRKEI

AN DIE

M ILITÄRDIKTATUR

Dieses Kapitel basiert auf einer Feldforschung im Rahmen des Projekts „Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis: Der 12. September“ (= Tag des Militärputschs 1980). Dieses Projekt sollte die Wichtigkeit des Militärputschs dieses Tages zeigen und zu dem Prozess der Aussöhnung mit der traumatischen Vergangenheit beitragen. Zur Methodologie unserer Feldforschung: Um die Erinnerung zu unterstützten, stellten wir die Imitation einer Tageszeitung aus der Zeit des Putsches her. Wir nannten sie „Die Stimme der Türkei“ und sie enthielt eine Sammlung von Bildern und Artikeln aus der Zeit zwischen 1978 und 1981, die wir aus verschiedenen linken, rechten und bürgerlichen Zeitungen der Zeit entnommen hatten. Da die von uns hergestellte Zeitung nur den Zeitgeist beschwören, aber nicht inhaltlich informieren wollte, wurden nur die Titel und Untertitel der Artikel abgedruckt, während die Texte selbst durch einen klassischen Layout-text (lore ipsum) simuliert wurden. Da das Projekt sich nicht nur mit politischen Auswirkungen des Putsches befasste, sondern gerade mit den Auswirkungen auf den Alltag, wurden auch feuilletonistische Artikel aufgenommen mit Themen wie Kultur, Erziehung oder Sport. Diese Zeitungs-Collage

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fand viel positive Resonanz bei den Teilnehmer*innen unserer Untersuchung und unterstützte unsere Forschung immens. Wir führten insgesamt 150 halbstrukturierte Interviews mit Teilnehmer*innen, die wir stichprobenartig aus verschiedenen Städten und Regionen der Türkei ausgewählt hatten. Vertreten waren unterschiedliche Altersgruppen sowie unterschiedlicher Klassen- und ethnischer Hintergrund. Wir berücksichtigten auch politische Ausrichtungen, indem wir Menschen durch das gesamte politische Spektrum interviewten, solche, die sich offen als links bezeichneten, oder als graue Wölfe (nationalistisch und extrem rechts) oder als islamistisch aus der vor-80er Periode, aber auch solche, die sich als „neutral“ bezeichnen. Wir hatten Teilnehmer*innen aus den Geburtsjahrgängen 38, 48, 58, 68, 78, aber auch Menschen, die nach dem Putsch geboren worden waren (1998 und 2008). Unsere Feldforschung zeigt viele verschiedene Erinnerungsorte, die aufgrund der politischen Transformationen in der Türkei vor und nach dem Militärputsch entstanden, sowohl aus den 60er/70er Jahren wie aus den 80er Jahren. Am signifikantesten für die Erinnerungen der 70er waren die großen Kämpfe für Gewerkschaftsrechte, die um die Pläne der Regierung entbrannten, neue und restriktive Gesetze für Gewerkschaften zu schaffen. Als Antwort auf diese Pläne hatten Hunderttausende Arbeiter spontan die Arbeit niedergelegt und die Straßen von Istanbul besetzt. Als Konsequenz dieses Streiks, der am 15. Juni begann und seinen Höhepunkt am 16. Juni 1970 hatte, stoppte die Regierung die Pläne für das neue Gesetz. Ein weiterer Erinnerungsort der 70er Jahre waren die weißen Renaults, die in der Zeit typischerweise von Zivil- und Geheimpolizisten benutzt wurden, und die viele der Interviewten an Verhaftungen und Folter vor dem Putsch erinnerten. Und schließlich erinnerten viele Deniz Gezmis und den grünen Parka, womit zwei Erinnerungsorte der 60er und 70er zusammen gebracht wurden. Gezmis war ein Revolutionär und Anführer der Studentenbewegung der Türkei in den späten 60ern und wird oft in einem grünen Parka dargestellt. Grüne Parkas wurden wiederum in den 70ern in der Türkei oft von militanten Linken getragen. Gezmis, den einige als den Che Guevara der Türkei betrachten, wurde 1972 mit seinen Kameraden Hüseyin Inan und Yusuf Aslan hingerichtet. Dies waren Beispiele für gewalttätige Ereignisse, die vor dem Putsch stattfanden. Drei Erinnerungsorte, die sich speziell um Ereignisse des Putschs vom 12. September 1980 drehen, sind die Straße als Symbol eines

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geteilten städtischen politischen Raums, der Taksim als spezieller Erinnerungsort der türkischen Linken und das Gefängnis von Diyarbakir als ein Ort der kollektiven Erinnerung für Kurden. Festzuhalten ist auch, dass jeder Erinnerungsort, den sich unsere Gesprächspartner*innen ins Gedächtnis rufen, nicht nur als materieller, konkreter und geografischer Ort auftaucht, sondern auch als abstrakte und intellektuelle Erinnerung auftritt.

„D IE S TRASSE “ Ausdrücke wie „auf der Straße präsent sein“, „die Straße stürmen“ „Zuflucht Straße/Straße einnehmen“ markieren den Jargon der sozialen und politischen Bewegungen in der Türkei. Schon in den 70ern waren die politischen Bewegungen der Türkei nicht nur durch Lebendigkeit und Popularität, sondern auch durch ihren klaren Raum-Bezug charakterisiert. Die Straßen stellten Grenzen dar, die Städte von rebellischen Hinterland-Zonen abgrenzten, Regierungsbezirke von häuslichen Vierteln, Universitäten von Einkaufszonen und waren auch Räume, die angeeignet werden konnten. Auf den Straßen wurden Slogans, Poster und Flyer verteilt, Barrikaden im Zug von Straßenprotesten aufgestellt und die Besetzung von Fabriken, Schulen und Universitäten weitete sich auf die Straße als öffentlichen Raum aus. Die Machthaber in der Türkei erkannten die wichtige Bedeutung, die die Straße für politische Bewegungen hatte und setzten alles daran, im und nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 die Straßen zu räumen, zu transformieren und zu kontrollieren. Mit dem Putsch erschien das Militär mit seinen Panzern auf der Straße. Es folgten Sperrstunden. Jeglicher Protest wurde von den Straßen verbannt und Graffitis wurden von den Wänden entfernt. Öffentliche Plätze wurden mit riesigen Nationalflaggen bekleidet und Straßennamen wurden geändert. Zur gleichen Zeit wurde der städtische Raum so umgebaut und in seinem Zuschnitt so verändert, dass er für Massenproteste wenig geeignet war. In verschiedenen Landesteilen wurde der Ausnahme- und Belagerungs-Zustand ausgerufen und der Notstand verkündet und mit diesen Instrumenten die Freiheitsrechte empfindlich beschnitten. Jede einzelne dieser Maßnahmen zerstörte die Beziehung der Bürger zum physischen Raum der Straße. Einer unserer Interviewten, ein 56 Jahre alter Ingenieur aus Izmir berichtet, wie nach dem Putsch die Graffitis

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übermalt wurden, aber noch lange unter der neuen Farbe durchschimmerten. Ein 50-jähriger Arbeiter aus Yozgat erinnert sich an die Ausgangssperren, die willkürlichen Ausweiskontrollen und wie er auf der Straße ständig von Polizei angehalten wurde: „Wer bist du? Wohin gehst du?“ Diese Erlebnisse berichten unsere Gesprächspartner nicht vom Hörensagen, sondern haben sie selbst erlebt. Eine 60-jähriger Lehrer aus Datca berichtet, wie er eine Ausgangssperre abwarten musste, um nach Marmaris fahren zu können, wo er Dinge zu erledigen hatte. Trotz des Endes der Ausgangssperre wurde sein Fahrzeug von der Gendarmerie aufgehalten. „Alle mussten mit erhobenen Händen aussteigen, es gab Leibesvisitationen und alles. Es herrschte Kriegsrecht. Überall waren Soldaten, an allen Ecken.“ Wie diese Zeitzeugen-Berichte nahelegen, rief diese Umorganisation der politischen Arena einen Prozess der Depolitisierung hervor. Das neue politische Regime zielte auf die Kontrolle öffentlichen Raums. Die Machthaber wollten ihn umordnen und auch die Verbindung der Menschen zu diesen Räumen zerstören. Die willkürliche Kontrolle der Ausweise, strikte Ausgangssperren und „Säuberung“ der Straßen signalisierten eine neues repressives Regime und plötzlich fühlten sich die Leute nicht mehr sicher auf „der Straße“. So verdorrten mit der Zeit auch die Beziehungen verschiedener politischer Bewegungen zur Straße. Statt auf die Straße zu gehen, beschränkte sich das Repertoire politischer Aktion auf Presseerklärungen. „Politisch sein“ und „politisch agieren“ war negativ konnotiert und eine Atmosphäre der Angst ergriff die Gesellschaft. Es kam zur „Evakuierung der Straße“ in den 1980er Jahren. Diese angstbesetzte, entfremdete Atmosphäre der Militärdiktatur spricht aus den Worten eines Dokumentarfilmers, den wir in Istanbul interviewten: „Die Ära des 12. Septembers, das ist für mich Einsamkeit, Pessimismus, Niedergedrücktheit, ein Vorhang aus Nebel. Die Romane, die Zeitungsberichte, die diese Zeit zum Thema haben, sind alle so. Ein grauer Nebelvorhang, der den Diskurs der Menschen verändert. Niedergedrücktheit, Einsamkeit, aber ohne jede schöpferische Kraft, sondern voll Angst. Ich weiß nicht, aber ich denke, auch ich trage noch Spuren davon in mir.“ Fast alle Interviewten, die die 1970er Jahre in der Türkei erlebt haben, berichteten, wie wichtig die Straße sowohl für das Alltagsleben als auch das politische Leben damals war. Ihre Narrative zur Vergangenheit sind in Bil-

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der der Straße gefasst. Sowohl linke als auch rechte Militante assoziieren ihre politische Präsenz und ihr politisches Engagement oft direkt mit der Straße: die Straße bildet die Szene für ihre heroischen Erzählungen und den Rahmen, in dem sich politische Identitäten formen. Selbst für die Menschen, die nie politisch aktiv waren, hat die Straße eine symbolische Funktion. Sie berichten über den Wandel des Straßenbildes nach dem Putsch – das Entfernen der politischen Graffitis, das Anbringen der riesigen Nationalfahnen, das Aufstellen der Atatürk-Statuen und die Umbenennung von Straßen. Angesichts all dieser Erinnerungen können wir sicher annehmen, dass die Straße als Symbol städtischen politischen Raums die Funktion eines Erinnerungsortes für die ganze Türkei hat. Seine fortdauernde Bedeutung ist eingeschrieben in die Narrative zum Militärputsch, die nach wie vor zirkulieren. So ist die Straße viel mehr als die Ruine einer längst verflossenen Vergangenheit. Wechselseitige Prozesse der Erinnerung und des Vergessens koexistieren, je nachdem, ob Erinnerungen abgefragt und aufgefrischt oder aber gänzlich verdrängt werden. Die letzten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Feiern und Demonstrationen zum 1. Mai, der TEKEL-Widerstand gegen die Privatisierung staatlicher Unternehmen, die Proteste gegen städtische Erneuerungsprojekte wie der Gezi Park oder das Emek-Kino spielen sich alle im öffentlichen städtischem Raum ab. Parallel zu anderen zeitgenössischen Bewegungen in Tunesien, Ägypten und Lybien oder den Occupy-Bewegungen in Europa und den USA zeigt auch die alltägliche politische Praxis in der Türkei, dass die Straße bei oppositionellen Bewegungen als bedeutsamer Widerstandsraum zurückverlangt und besetzt wird.

D IE G EZI P ARK -P ROTESTE UND „ DIE P RODUKTION VON R AUM “ Wenn Sozialwissenschaftler*innen die Beziehung zwischen Gesellschaft und Raum untersuchen, betonen sie soziale Auseinandersetzungen. In der Geschichte waren soziale Bewegungen und politische Kämpfe immer untrennbarer Bestandteil der Beziehung zwischen Raum und Gesellschaft. Der marxistische Soziologie Henry Lefebvre behandelt beginnend mit seinem 1968 veröffentlichten Werk „Le droit a la ville“ bis zum Buch „La

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production de l’espace“ von 1974 den städtischen Raum im Kontext dieser Kämpfe. Die Hauptthese in der „La production de l’espace“ von 1974 ist, dass jede Form von Produktion nicht nur ihre sozialen Beziehungen, sondern auch ihren eigenen Raum und ihre eigene Zeit hervorbringt und sich so verwirklicht. Nach Lefebvre ist Raum ein soziales Produkt und dieser produzierte Raum ist sowohl ein Produktionsmittel als auch ein Kontrollmittel (Lefebvre 1991: 26). Es macht Sinn, die neoliberalen Politiken, die seit den 1980ern in der Türkei verwirklicht werden und ihre transformativen Effekte auf städtische Plätze und Straßen in diesem Licht zu betrachten. Sozialer Raum bei Lefebvre ist immer Raum, der bestimmte Dinge erlaubt, andere verbietet, bestimmte Aktionen einlädt und andere unterdrückt, der einige frische Aktionen zulässt, andere unterbindet (Lefebvre 1991). Als Beispiel aus der Türkei kann die negative Konnotation von Politik und Organisationen betrachtet werden, die Atmosphäre der Angst, die die Gesellschaft umgibt, die Trennung sozialer Bewegungen von ihren Wurzeln auf der Straße, die Reduktion des „Protest-Repertoires“ auf Presseverlautbarungen und das jahrelange Verbot auf dem Taksim-Platz Mai-Kundgebungen abzuhalten. Nach Lefevre beginnt die ständige Produktion von Raum nie von einer tabula rasa. Jede Produktionsform hat für ihn ihren speziellen Raum; der Wandel von einer Produktionsform zur nächsten ist begleitet von der Produktion eines neuen Raumes. Im Übergangsstadium zwischen zwei Produktionsformen werden frische Räume geschaffen, geplant und organisiert (Lefebvre 1991). Ohne Zweifel sind die Versuche der AKP, Räume umzustrukturieren, um eigene Ziele zu erreichen (wie die irrsinnigen „städtischen Erneuerungsprojekte“ wie Marmaray Metro-Linie, die dritte BosporusBrücke, der Canal Istanbul, die von Institutionen wie TOKI, der staatlichen Baugesellschaft, ausgeführt und geplant werden) zahllos und können hier unmöglich alle aufgezählt werden. Wir erwähnen hier nur den Umbau des Taksim-Platzes zu einer Fußgängerzone mit dem dazugehörigen Wiederaufbau der Artillerie-Kaserne auf dem Gelände des Taksim Gezi-Parks. Diese Bebauung sollte stattfinden, obwohl das Projekt vom 6. Verwaltungsgericht Istanbul gestoppt worden war und die Behörde für Denkmalschutz des 2. Distrikts das Projekt ablehnte. Die Gezi-Park-Proteste im Jahre 2013 begannen als Versuch die Intervention der Regierung in den öffentlichen Raum zu verhindern. Die Gründungsmitglieder der Taksim Solidarität hatten das Projekt vor Gericht gebracht und forderten eine Änderung der

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Pläne, die die Artillerie-Kaserne wieder aufbauen wollten und durch Mauern und Tunneleingänge den Zugang von Fußgängern zum Platz begrenzen und kontrollieren wollten. Dies verkündeten sie in einer Pressekonferenz am 6. Juni 2012 im Gezi Park. „Der Taksim-Platz war das erste städtische Planungsprojekt der jungen Republik und vielleicht auch das wichtigste. Taksim ist der Platz der Arbeit und der Demokratie, wo wir alle unsere öffentlichen Feste und Festivals feiern, wo wir unsere Freude, unsere Reaktionen ausdrücken und unsere Rechte einfordern. Wir sind alle hier, um den Taksim-Platz zu schützen, denn Taksim gehört uns allen.“ Mit dieser Pressekonferenz fing es an und führte zur Erfahrung einer „Gegenöffentlichkeit“ am Taksim und Gezi-Park, wo 19 Tage lang die staatliche Macht fast ganz aufgelöst war und Grundbedürfnisse wie Sicherheit, Gesundheit, Wohnung und Essen kollektiv und solidarisch erfüllt wurden. Der Gezi Park-Widerstand war das, was Lefebvre als Kritik an den Ideologien, Spaltungen und Repräsentationen von Raum bezeichnet; er trat auf gegen die „méconnaisance“ – die Täuschung und Blendung durch die Mächtigen. Sicher müssen die Gezi Park-Proteste im Zusammenhang mit den anderen Kämpfen um Raum und städtischen Raum gesehen werden, den Protesten gegen städtische Erneuerungsprojekte und die hydroelektrischen Turbinen, den Widerstand gegen Tekel und das Emek-Kino, der Kampf um die Maifeier auf dem Taksim-Platz. In diesem Zusammenhang gewinnt auch Levebvres Auffassung, dass Klassenkampf, der ganz anders stattfindet als früher, heute mehr denn je in Raum eingeschrieben ist. Wenn auf der ersten Pressekonferenz erklärt wurde, dass der TaksimPlatz seit Beginn des Widerstandes begriffen wurde als der Platz der Arbeit und Demokratie, wo Menschen feiern, ihrer Freude Ausdruck geben, Ereignisse kommentieren und ihre Forderungen stellen, dann bezieht sich das auf die Position von Taksim im kollektiven Gedächtnis. Menschen, die vom Widerstand am Gezi Park sprachen, bezogen sich immer wieder auf die Geschichte des Taksim bei den Maifeiern und den Revolten der Republik „Taksim ist einer der wichtigsten Plätze des Kampfs der Türkei für Freiheit und Arbeit. Das war sowohl der Regierung als auch den Arbeitenden immer bewusst. Deshalb wurden dort Demonstrationen verboten. Vielleicht war es eine Koinzidenz, dass Gezi Park beim Taksim liegt, aber dass der Gezi Park einen solchen Zulauf erfuhr, hat damit zu tun, dass der Taksim seit den 70er Jahren der traditionelle Platz für die Feiern zum 1. Mai ist. Wenn der Gezi Park nicht am Taksim, sondern in Kasimpasa läge, wäre

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er wohl kaum so groß geworden. Das war physiologisch gesehen wichtig.“ (Ingenieur, 61, 15.12.2014) Wie wir heute sehen können, bildet der Taksim Platz den Rahmen für ein räumliches und zeitliches Gedächtnis gegen die Regierung. In der sozialen Vorstellung ist der Platz der Raum des Widerstands, auf der symbolischen Ebene ist er der öffentliche Raum der Kritik an der Regierung. Dies macht uns deutlich, dass wir es hier mit einem Prozess der GedächtnisAuffrischung und der Wieder-Erinnerung von Vergessenem zu tun haben.

Nach Lefebvre kämpft jede soziale Kraft darum den Raum zu verändern und dieser Kampf versucht oft eine Spur zu hinterlassen, einen Beweis der Existenz im Raum. Dies zeigt die Transformation öffentlicher Schilder während der Gezi-Proteste (die Schilder in Izmir und Ankara zeigten als Richtung „Taksim“, die Schilder in Taksim zeigten als Richtung „Revolution“), aus der Tunali Hilmi Straße wurde „Tomali“ (=„Wasserwerfer“) Hilmi, aus „Baustelle“ wurde „Konfliktstelle“. Graffitis kehrten an die Wände zurück, nur lebensfroher und kreativer als in den 70ern. Die großen Städte

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wurden re-markiert durch Barrikaden, Krankenstationen, Widerstandspunkte und Treffpunkte. Dies alles hinterließ Spuren im Raum und im Gedächtnis, auch wenn die Orte später zwangsgesäubert wurden. Die „kognitiven Landkarten“ der Städte hatten sich während der Gezi Park-Proteste verschoben. Dort galt die Bosporus-Brücke plötzlich als Fußgänger-Brücke, der Gezi Park und der Kugulu Park in Ankara als CampingPlätze, das Divan Hotel und die Valide Sultan Moschee als Krankenstationen. Dieses „Mapping“, das den physischen Raum durch Gerechtigkeitsempfinden neu strukturierte, trennte auch die protestfreundlichen Räume von den Räumen der Regierungs-Mitläufer. Hören wir, was Lefebvre dazu sagt: „Gruppen, Klassen und Fraktionen von Klassen können sich nicht konstituieren oder einander als Subjekte erkennen, ehe sie keinen Raum hervorbringen [...] was nicht in einen geeigneten Raum investiert ist, scheitert und es bleiben nur nutzlose Zeichen und Bedeutungen. Räumliche Investition, die Produktion von Raum, hat nichts zufälliges, es ist eine Sache auf Leben und Tod.“ (1991: 416-417) Der Gezi Park mit seinen Küchen, Bibliotheken, Kindergärten, Krankenstationen, unabhängigem Fernsehen und Radio, Workshops, Garten, Bühne und alternativen Energien hat ein neues Leben geformt. Hier wurde der Müll kollektiv gesammelt, Geld verlor seine Macht, Hierarchie, Autorität und Polizei gab es nicht mehr. Dieses neue Leben „transformierte den Alltag“ (Lefebvre 1991,442). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Gezi Park-Proteste die städtischen Straßen wiederbelebt haben. Die seit der Zeit der Militärdiktatur verschütteten Erinnerungen wurden wieder erweckt und die Straßen als Ort des kollektiven Gedächtnisses neu erinnert und von jungen Menschen aktiv gelebt als Aneignung und von öffentlichem Raum und Kampf; Kampf nicht nur im Gezi Park, am Taksim, sondern an vielen anderen Plätzen, Straßen und Parks im Land. Das Geheimnis, dass die sozialen Bewegungen der 70er Jahre begriffen hatten und das in der Erinnerung an den Kampf weiter lebt, ist wieder deutlich geworden: „Transformation der Gesellschaft“ und „Transformation des Alltags“ kann nur dann geschehen, wenn Besitz und Verwaltung von Raum kollektiv geschieht (Lefebvre 1991: 422). Übersetzung: Lilo Schmitz

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L ITERATUR Halbwachs, Maurice (1994): Les cadres sociaux de la mémoire. Paris: Albin Michel. Halbwachs, Maurice (2008): La topographie légendaire des évangiles en Terre sainte, étude de mémoire collective. Paris: Puf. Lefebvre Henri (1972): Le droit à la ville suivi de Espace et politique, Paris: Anthropos (coll. Points). Lefebvre Henri (1974): La production de l’espace, Paris: Anthropos. Nora, Pierre (1984): Les lieux de mémoire. Vol. 3: La République. Paris: Gallimard. TBMM-Grand National Assembly of Turkey (2012): Report of the Parliamentary Investigation Commission for the Coups and the Memorandums. Vol. 1. Ankara: TBMM.

Kunst, Performance, Aktion E IN G ESPRÄCH MIT E RDEM G ÜNDÜZ

Während der Gezi-Park-Proteste in Istanbul wurde der Tänzer und Choreograf Erdem Gündüz bekannt, weil er mit seiner Performance „Standing Man“ sich in der aufgeheizten Stimmung von Polizeigewalt und Protest stundenlang stumm und bewegungslos der Staatsmacht entgegenstellte. Er blieb nicht lange alleine. Das Bild der regungslos stehenden Protestierenden in Istanbul ging um die Welt und inspirierte ähnliche Aktionen, so zum Beispiel die Aktion von Banu Beyer am ZKM in Karlsruhe (s. ihren Beitrag in diesem Band). Das Gespräch mit Erdem Gündüz führte Lilo Schmitz 2014 in Istanbul.

Über Kunst Ich bin Künstler. Durch welche Kunst du dich ausdrückst, ist egal. Kunst ist dein Ausdrucksmittel. Du musst nur das finden, was dich antreibt. Ich habe mich mit Musik beschäftigt, mit Tanz und Performance. Wenn ich einmal aufhöre zu tanzen, werde ich vielleicht Bildhauer. Ein Künstler berechnet und kalkuliert nicht. Er ist neugierig auf seine eigenen Ergebnisse. Wenn du als Künstler schon vorher weißt, wie dein Ergebnis aussehen wird: warum machst du es dann? Wenn du zum Beispiel ein Bild malst und vorher schon weißt, wie es aussehen wird, warum malst du es dann? Ein Künstler ist immer in einem Forschungsprozess. Künstler suchen noch etwas anderes, das man mit Logik und Regeln nicht finden kann. Das

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möchten sie abbilden. Sie möchten einfangen, was das Auge nicht sehen kann, was mit Vernunft und Logik nicht zu erreichen ist. Wie in meiner Performance „Mauer“ im Werftgelände von Gebze, die den Gegensatz von Wand und Raum zum Thema hat. Dass Mauern schwer einzureißen sind, weiß jeder – man denke nur an die Berliner Mauer. Aber der Tänzer sieht mehr: Er schaut nach dem Unsichtbaren und lauscht auf das Unhörbare. Ein wenig wie die Schamanen. Auch schamanisches Wissen ist nicht kognitiv, sondern intuitiv. Kunst und Reproduktion, Intertextualität und Hypertextualität Als Künstler bemühe ich mich absichtlich um Reproduktion, wenn ich eine Arbeit mache. Seit der Konzeptkunst ist für mich die Frage nach Original oder Kopie obsolet. Alles ist Reproduktion. Meine Performance „Standing Man“ hat viele Menschen inspiriert. Ich freue mich über alle Menschen, die sich angeregt fühlen und Ähnliches tun. Für mich ist das keine Nachahmung. Jeder produziert wieder ein Original. In jedem neuen Kontext wird die Performance wieder eine neue Performance. Ich denke an Julia Kristeva mit ihrem Intertextualismus. In meiner Performance „Is there an Art Council in Turkey“ sage ich zum Beispiel auf Englisch: „At the end everybody will die.“ Und auf Türkisch der Sprecher: „Her canli ölümü tadacak.“ Auf Deutsch: „Jedes lebendige Wesen wird den Tod erfahren.“ – er liest also den Text der Aufschrift am Friedhof Zincirlikuyu. Dieses Zitat im ganz anderen Kontext ist damit eher Neuproduktion als Reproduktion. duranadam – standingman Das lange stumme Stehen auf dem Taksim-Platz ist ein gutes Beispiel dafür, wie ich als Künstler mit Intertextualität arbeite. Der Taksim Platz hat seine Geschichte. Für mich ist der Taksim einer der wenigen Plätze, auf dem meine Stimme vielleicht gehört wird. Hypertextualismus und Intertextualität meint hier konkret: Vielleicht weil der Taksim-Platz eine solche Geschichte hat, hat mein Stehen auf dem TaksimPlatz einen besonderen Sinn gemacht. 19 Tage lang haben die Menschen im Gezi-Park und auf dem Taksim Widerstand gezeigt und danach habe ich

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dort gestanden. So wird in der Kunst eine Bedeutung durch eine andere Bedeutung überlagert und es ergibt sich eine größere Struktur. Durch die Polizeiaktionen hat der Taksim den Charakter eines verbotenen Platzes bekommen. Ja, ich bin auf einen verbotenen Platz gegangen, als hätte ich ihn besetzt, vielleicht so wie wall street occupy. Aber es war von mir nicht ausdrücklich geplant, weder als Occupy-Aktion noch sonstwie. Ich bin nur hingegangen, und der Ort hat seine Wirkung auf mich entfaltet. Ich hatte auch Glück, denn normalerweise riegelt die Polizei diesen Ort ab, aber als ich hinging, war der Platz gerade nicht abgesperrt, und nachdem ich mich als erster hingestellt hatte, konnte die Polizei nicht wieder abriegeln. Und so wurde es zu einer Art Besetzung. Und ich habe die Regeln der Performance einfach weitergegeben. „Da habt ihr die Regeln. Sie gehören euch. Ich habe die Regeln gesetzt, aber sie waren ganz kinderleicht: Du bleibst einfach regungslos stehen und sprichst nicht. Und ich bin auf dem Taksim-Platz durchaus unterstützt worden. Das habe ich auch in jener Nacht gesagt, um Viertel nach zwei, als es zu Ende war: Der „standing man“ ist nicht eine Person, habe ich gesagt, sondern jeder. Ich bin ein Bürger dieses Landes und als sein Bürger habe ich meinen Widerstand gezeigt. Und das hat den Leuten vielleicht Mut gemacht. Ich weiß es nicht. So ist das für mich, denn die individuellen Gründe eines jeden sind anders. Mein Grund war möglicherweise, dass das Atatürk Kulturzentrum geschlossen wurde. Bei einem anderen ist vielleicht sein Vater getötet worden oder in einer Fabrik vergiftet worden oder hat seinen Arm verloren bei einem Arbeitsunfall. So hat jeder seinen eigenen Grund und das ist wichtig. Deshalb ist auch das Stehen der Menschen in Karlsruhe wichtig. Sie sagen, dass sie wegen einer Idee dort stehen. Das ist sehr schön. Kunstförderung Ich wehre mich dagegen, dass Menschen beurteilen wollen, was Kunst ist und was nicht, was förderungswürdig und was nicht. Wer soll denn sagen, diese künstlerische Arbeit ist gut und diese ist nicht gut, diese Arbeit unterstützen wir, diese schlechte Arbeit unterstützen wir nicht. Wer soll das wie entscheiden? Wer seid ihr, dass ihr das entscheidet? Ob ein Werk schön, ob es gut oder hässlich ist, das sind Gedanken und Ideen von vorgestern. Wenn es heißt: „Ah, das ist sehr schön.“ Was ist dann das Schöne daran? Oder: „Ah, das ist sehr hässlich.“ Was ist dann das Hässliche daran?

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Solche Begriffe gibt es eigentlich nicht mehr. Nach Marcel Duchamp, nach der Konzeptkunst, der Conceptual Art sind sie obsolet geworden, aber in der Türkei heißt es immer noch: Das ist schön. Das ist hässlich. Das hier unterstützen wir und das hier unterstützen wir nicht. Ich bin auch nicht dafür, dass spezielle Gruppen von Künstlern unterstützt werden. In Deutschland gibt es zum Beispiel eine besondere „Migranten-Kunst“ – was soll das sein? Ob Migranten Kunst machen oder andere Leute, das darf keine Rolle spielen. Es spielt aber eine Rolle, wenn man sich bei Wettbewerben und um Förderung bemüht. Dass ein Künstler gefördert wird, weil er Migrant ist und ein anderer nicht, weil er kein Migrant ist, das gefällt mir nicht. Ich bin gegen diese Etikettierungen und Essentialisierungen. Kunst ist für alle da, alle können Kunst machen, das denke ich. Es geht letztlich um Lebenskunst in unserer Welt. Kunst und Ökonomie: „Is there any Art Council in Turkey?“ Mit diesen Fragen beschäftigt sich eine Performance, die in immer neuen Schöpfungen eine Kunstförderung für alle in der Türkei fordert. Meine Performance „Is there any Art Council“ habe ich auf der Straße aufgeführt, beim Tunnel in Beyoglu und ich lese dort so etwas wie ein Manifest vor: „One, love is everywhere. Two, at the end, everybody will die. Three, my last piece was bad. Four, how can one be sure if it is a piece of art work or not? Five, what is the relation between me and the object of arts? Six, is there any art council in turkey?“ das lese ich Absatz für Absatz vor, wie die Avantgarte-Künstler früher. Bei dieser Performance nehme ich natürlich keinen Eintritt und sammele kein Geld, denn Kunst darf nichts sein, was verkauft wird. Das ist der einzige Weg, wie Kunst sich nicht ans System verkauft. Der Arbeiter geht arbeiten, aber der hochbezahlte Manager ist derjenige, der sich mit seinem Geld Kunst kauft und meint, damit Status zu kaufen, ganz so wie es Adorno in seinen Werken zur Kulturindustrie beschrieben hat. Adorno schreibt in seinen Texten der Frankfurter Schule, dass man nur von außerhalb diesem System etwas entgegen setzen kann, aber dass man sich im Grunde nicht außerhalb dieses Systems bewegen kann, weil das System auch die umfasst, die sich außerhalb des Systems zu bewegen glauben. Ich sage dazu, dass man vielleicht ein neues System, eine neue Sichtweise, ein neues Verständ-

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nis schaffen muss, dessen Regeln nicht vom System, sondern von den Individuen gesetzt werden müssen. Mit dieser Performance habe ich etwa vor zwei Jahren angefangen. Damals gab es in der Türkei keinerlei Kunst-Rat als Institution. Ich dachte an eine Institution, an die sich einzelne Künstler wenden können, um gefördert zu werden. Dieses Institut könnte dann das Geld demjenigen geben, der eine Performance oder Aufführung macht, der ein Theater eröffnen will oder ein Festival organisieren möchte. Oder diejenigen, die ihre Arbeiten in Europa bekannt machen möchten, könnten Geld für eine DVD-Produktion und eine Unterstützung für die Versandkosten erhalten. Für all das brauchen die Künstler*innen ein kleines Budget und deshalb braucht es eine Institution, an die sich die Künstler*innen wenden können. Die derzeitige Förderung des Kulturministeriums sieht so aus (die Vorschriften dazu wurden 2007 verändert), dass du als einzelne/r Künstler*in gar keinen Antrag auf Unterstützung stellen kannst. Die Regierung müsste eigentlich unabhängige Institutionen fördern, die sich aus unabhängigen Personen bilden und deren Gründung anregen. Der Fiskus muss für Kunst Geld bereithalten genau wie beispielsweise für Gesundheit, aber wie wird damit umgegangen: Dich kenne ich, dir gebe ich Geld. Und so darf es nicht sein. Auch dieses Projekt beschäftigt sich mit der Neuproduktion, mit der Reproduktion. Als Plakat ist zum Beispiel der Tod Marats nachgestellt. Man sieht – zum Beispiel bei Facebook® – ein Bild mit dem bekannten Motiv vom Tode Marats, aber auf dem Foto, das bin ich, da bin ich zu sehen. In der Reproduktion „Is there any Art Council“ wird nicht nur die Bewegung immer wieder und wieder von neuem reproduziert, sondern auch der Text wieder neu produziert, denn ich spiele auf Englisch. Und immer jemand anders liest die Übersetzung ins Türkische. Dieser helfende Schauspieler – ich nenne ihn Gast – gibt dem Text seine eigene Färbung und dadurch wird der Text neu produziert. Als Gast ist schon ein Franzose aufgetreten, ein Amerikaner. Die Proben haben wir mit einem Freund aus China gemacht, wir haben es auch schon mit einem Freund gemacht, der aus Deutschland kommt, ein Deutscher, der in der Türkei lebt. Wenn diese Menschen auf Türkisch lesen, wird es sehr interessant, denn sie schaffen die Sprache gleichsam neu.

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Kunst im öffentlichen Raum Für Kunst im öffentlichen Raum gibt es zwei wichtige Gründe: Solche Kunst ist für den Künstler leichter zu finanzieren. Wenn ich eine Bühne mieten will, brauche ich Geld, ich muss den Strom bezahlen, muss Flyer drucken lassen, Plakate, Poster. Um Publikum zu gewinnen, musst du schon einiges in Werbung investieren. Auf der Straße ist das nicht so. Zum Beispiel führe ich meine Performance „is there any art council“ im öffentlichen Raum, auf der Straße durch. Ich habe sie dreimal auf der IstiklalStrasse beim Tunnel durchgeführt. Der zweite wichtige Grund: Auf der Straße erreichst du Menschen, die du sonst nicht erreichen würdest. Sie kommen nämlich einfach vorbei. Du läufst mit deiner Kunst den Leuten hinterher. Das ist nicht das Gleiche, wie wenn sie zu dir kommen. Du läufst ihnen nach, weil Kunst eben für jeden ist, nicht nur für ein Elite-Publikum. Während einer meiner Aufführung von etwa 15 bis 17 Minuten kommt sicher dreimal das Ordnungsamt mit seinen Wagen vorbeigefahren, aber was solls? Wir müssen die Menschen erreichen. Die Umstände heute sind für die Menschen widrig. Wie soll man leben in TOKI-Hochhäusern des staatlichen Wohnungsbaus? 20 Stockwerke, auf jedem Stock vier Wohnungen, da leben die Menschen wie die Hühner in der Legebatterie. Und für Grün und eine lebenswerte Umgebung bleibt kein Raum in Istanbul. Die Menschen müssen daran erinnert werden, was wichtig ist: Intuition, Kreativität, Liebe – das sind die wichtigen Dinge. Vielleicht muss man, wie Rodin gesagt hat, erst Mensch sein, bevor man ein Künstler wird. Man soll ein freudiges Leben führen – a joyful life. Das ist meine Lebensphilosophie. Übersetzung: Lilo Schmitz

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Quelle: Gündüz, Erdem: Performance „Is there any Art Council in Turkey?” http://vimeo.com/98334304; Webseite: www.erdemgunduz.org

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„Mein himmelblauer Mantel glänzt silbern, wie ein Kettenhemd, das einen verletzlichen Körper beschützen soll. An der Innenseite kitzeln die spitzen Enden eines feinen Silberdrahts meine Haut böse. Ich habe diese Stacheln selbst geknüpft. Sie kratzen meine Haut und meine Seele. Der Schmerz ist fast lieblich und hält mich wach. Ich transportiere den Schmerz hierher, wo ich bin, aus der ganzen Welt, wo ich nicht bin und sein kann.“ Vicdan Hırkası / Performance 2013, vor dem ZKM

Die Wurzeln des Begriffs Hirka (Mantel) liegen in der arabischen Sprache. Er wird für eine islamische Reliquie, Hirka-i Saadet (Glücksmantel), benutzt. Es wird behauptet, dass diese Reliquie einst dem Propheten Mohammed gehörte. Später bereicherte der Mantel jeden, der ihn legitimiert anzog mit seinem Heiligtum bzw. beschützte die Nachkommen des Propheten. Der Taksim Platz in Istanbul hatte Schmerzen. Istanbul ist eine Megastadt, die Millionen von Menschen umschließt. Der Taksim trägt die Legitimation der zentralste Platz des modernen Istanbul zu sein, trotz der Größe des Stadtraumes. Das liegt an seiner politischen Vergangenheit seit den 1950er Jahren: Tausende Proteste fanden dort statt und viele Regierungen, die Polizei oder die Armee demonstrierten dort ihre Macht durch Gewalt. Der Gezi-Park, mitten in diesem Platz, eine kleine Oase aus hundert Bäumen, symbolisiert die versöhnliche Seite dieser Geschichte und gleichzeitig der Menschen, die dort agieren. Zuletzt wieder im Mai 2013 wurde der einzige friedvolle Ort innerhalb dieses hektischen Platzes Zielscheibe der unsensiblen Pläne der Regierung Erdogans, die versuchte eine stille Abspra-

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che zu zerstören. Taksim sollte ein anderes Gesicht bekommen. Viele Menschen, unter ihnen viele junge Istanbuler, protestierten gegen diese Zerstörung, denn der Ort gehörte ihnen. Die Antwort des Staates war gnadenlos brutal. Ich bin in Istanbul geboren, Teile von mir sind scheinbar noch dort, obwohl ich mich in Istanbul längst nicht mehr zu Hause fühle. Das Geschehen beobachtete ich aus Karlsruhe, wo ich jetzt lebe, fühlte mich, im Angesicht der Katastrophe, furchtbar abgeschottet von der Türkei. Ich versuchte mich mit Hilfe aller möglichen digitalen Netzwerke mit meinem (alten) Ort zu verbinden. Ich sah eine junge und energische Generation mit der Forderung nach Empathie, Recht und Gerechtigkeit und eine massive und sinnlose Polizeigewalt. Ich lebte während dieser Zeit im Internet, wo ich meine Freunde, deren Kinder und den Widerstand begleiten konnte. Ich konnte sogar helfen. Ich leitete Informationen im Internet weiter: Ärzte und Anwälte wollten Demonstranten helfen und gaben ihre Telefonnummern im Internet frei, Eltern suchten ihre Kinder, die auf Seitenstraßen verloren gingen, es wurden schmerzlindernde Rezepte gegen Tränengas ausgetauscht. Ich machte mit. Im Internet sind Karlsruhe, Istanbul und viele andere Orte der Welt ganz dicht beieinander. Ich konnte meine Fühler durch meinen Computer strecken und überall sein. Am 18. Juni 2013 stand Erdem Gündüz, ein Performance-Künstler und Tänzer, acht Stunden auf dem Taksim-Platz und gab dem Wort „Stehen“ eine politische Bedeutung. Nach einem brutalen Räumungseinsatz der Polizei stand er plötzlich da, ohne Regung, seine Blicke auf das Atatürk-Kulturzentrum und das dort hängende Atatürk-Porträt gerichtet. Seine angeblich nichtsfordernde Haltung des Stehens verwirrte die eingefahrene Denkweise der Polizei, da sie eine ganz neue Sprache sprach. Die Polizisten waren hilflos und ich war fasziniert. Alle Netzwerke waren mit seinen Bildern überfüllt. Im Vergleich zu ähnlichen Protestformen, z.B. Sitzblockaden, wirkte das einsame Stehen des Künstlers vorerst leichter, mobiler und für die Polizei aus diesem Grund nicht bedrohlich. Dennoch verbarg die Handlung von Gündüz eine totale Verknüpfung zum Ort des Geschehens. Durch die stille körperliche Präsenz erreichte die Aktion eine Aufdringlichkeit, die universell wirkte. Die fehlende „Aussprache“ ließ eine Art Bildsprache entstehen, die jeder verstehen konnte. Diese Bildsprache gehört zu einer global-vernetzen Generation, die stetig im Internet visuelle Informationen austauscht.

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In kürzester Zeit wurde Erdem Gündüz als „Duran Adam“ oder „Standing Man“ durch die medialen Netzwerke als Künstler weltweit berühmt. Die Bekanntheit und die Aktualität der Stehaktion lieferte mir eine symbolische Handlung, um die Ereignisse des Gezi-Parks nach Karlsruhe, an meinen Lebensort zu holen. Sie eröffnete eine Möglichkeit des Austauschs und der Verknüpfung zwischen Orten, die mir gehören.

„Die Stehenden von Karlsruhe“ sind Teilnehmer einer offenen politischen Bürger-Aktion, die vom 21.06.2013 bis 27.06.2014, jeden Freitag um 14 Uhr auf dem Vorplatz des Zentrums für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe stattfand und immer in Form von 15 Minuten „Still-Stehen“ durchgeführt wurde. Ich habe den ersten Termin eines stehenden Protests in Karlsruhe am 21.06.2013 als eine einmalige künstlerische Solidaritätsaktion initiiert und wollte dabei Erdem Gündüz zitieren. Der Standort der Aktion, vor dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie, war bedeutungsvoll, ein Ort der Künste, des positiven und reflektierten Denkens, vergleichbar mit dem verloren gegangenen Atatürk Kulturzentrum am Taksim-Platz. Für mich war die Aktion sehr ergreifend. Wir standen in einer Gemeinschaft, in mehreren Reihen, still und regungslos nebeneinander und hinter-

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einander. Es kamen immer mehr Menschen dazu. Das Gesamtbild nach außen wirkte wie eine Skulptur. Daraus entstand ein Gefühl von Zusammengehörigkeit und Entschlossenheit. Bereits an diesem Termin zeigte sich, dass die teilnehmenden Karlsruher Bürger diese Aktion jeden Freitag an diesem Ort fortführen möchten. Die Aktion in Karlsruhe entwickelte als „Stehender Protest“ neue Aspekte, daher sehe ich sie als eine Weiterentwicklung von „Duran Adam“. Wenn man um die gleiche Zeit wiederholt an einem Ort steht und schaut, lernt man diesen Ort kennen. Ein paar Monate lang standen wir vor dem Eingang des ZKM, zwischen 14:00 und 14:15 Uhr. Die Sonne war immer hinter uns und ich weiß, wie viele Zentimeter sich ein Schatten in 15 Minuten mit der Sonne bewegt. Wenn man um die gleiche Zeit wiederholt an einem Ort still steht und schaut, begegnet man Menschen, die dort agieren. Im Herbst standen wir zehn Meter weiter, an einem sonnigeren Ort. Die Mitarbeiter des Gartenbauamts fuhren hier jeden Freitag durch, sie fuhren Umwege, da wir auf ihrem Weg standen. Sie wollten unsere Aktion nicht stören. Diese Freiheit, die eigene Meinung öffentlich äußern zu dürfen, ohne Bedrohung durch Polizei oder Andersdenkende, ist der große Unterschied zur Situation in der Türkei und in vielen anderen Ländern der Welt, der beim Stehen hier in Karlsruhe neben der Festung der Bundesanwaltschaft ganz deutlich ins Bewusstsein rückt.

Da wir während der Aktion still waren, tauschten wir unsere Gedanken vorher oder nachher aus. Wir fanden die unterschiedlichen persönlichen Beweggründe für einen solchen Protest sehr spannend. So entstand das

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Buch* „wir stehen. was uns bewegt“ mit Beiträgen und Porträts von vielen Teilnehmern. Mit diesen Beiträgen und durch unsere Diskussionen haben wir erkannt, dass „das Stehen“ von Taksim politisch/inhaltlich ebenso nach Karlsruhe angekommen war und von dort in den Gedanken weiter gewandert ist. In dieser Phase habe ich über Facebook Erdem Gündüz kennengelernt und ihn in Istanbul getroffen. Die konsequente Durchführung unseres stehenden Protestes über Monate hinweg hat ihn so beeindruckt, dass er im April 2014 unsere Aktion besuchte und mit uns stand. Die Stehenden von Karlsruhe wurden in Karlsruhe eine Zeit lang ein Begriff für politisches Engagement und Hartnäckigkeit, dabei haben sie den Platz vor dem ZKM neu geprägt und ihm ein Stück Geschichte eingeschrieben. „Ich öffne einen schwarzen Karton und hole ein hellblaues T-Shirt, das in pinkfarbenes Seidenpapier gewickelt war heraus. Im Karton ist auch eine Metallzange und eine Rolle feiner silberner Draht. Ich schneide ca. 2 cm Draht ab und knote dieses von außen nach innen, wie Stacheln. Ich ziehe das T-Shirt über und stelle mich hin zu den Anderen.“ Vicdan Hırkası, Auszug aus dem Performancetagebuch 2013

Am Freitag 26.07.2013 führte ich während unserer Steh-Aktion eine Performance durch. Ich nannte die Performance und das T-Shirt, das ich bei der Performance anzog „Vicdan Hırkası“. Das ist Türkisch und bedeutet wörtlich „Mantel des Gewissens“. Vicdan Hırkası stellt meinen inneren Zustand dar, der ambivalent und schmerzlich ist. Die beinhaltet dieses Privileg aber auch Verantwortung. Ich kenne die Geschichte des Hırka-i Saadet von meiner Oma und hatte ihn als Kind bei einer Klassenfahrt im Topkapi Saray gesehen, wo er zuletzt dem Osmanischen Sultan und dem letzten Kalif zur Verfügung stand. Mein Glücksmantel ist ein Abbild meines Bewusstseins gegenüber meinem Ursprungsland, das ich verlassen habe. Es bedeutet aber keine Selbstkasteiung oder Heimweh, denn der Schmerz erinnert mich ebenso an die Gründe, warum ich das Land verlassen habe.

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„wir stehen. was uns bewegt“, hg. v. Banu Beyer, 2013, Karlsruhe. Nicht käuflich, Versand auf Anfrage.

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„Mein himmelblauer Mantel glänzt silbern, wie ein Kettenhemd, das einen verletzlichen Körper beschützen soll. An der Innenseite kitzeln die spitzen Enden eines feinen Silberdrahts meine Haut böse. Ich habe diese Stacheln selbst geknüpft. Sie kratzen meine Haut und meine Seele. Der Schmerz ist fast lieblich und hält mich wach. Ich transportiere den Schmerz hierher, wo ich bin, aus der ganzen Welt, wo ich nicht bin und sein kann. Denn hier bin ich und nicht einsam in der Reihe, Schmerz ist teilbar ebenso wie die Verantwortung für die Welt.“ Vicdan Hırkası, Auszug aus dem Performancetagebuch 2013

Die Initiative aktion ./. arbeitsunrecht e.V. J ESSICA R EISNER

Wir sind ein Zusammenschluss von ArbeiterInnnen und Angestellten, Betriebsratsmitgliedern und GewerkschafterInnen, von JournalistInnen, RechtsanwältInnen und BürgerInnen, die sich gegen Union Busting engagieren. Der Begriff Union Busting stammt aus dem Englischen und steht für professionelle Gewerkschaftsbekämpfung, aber auch die Be- und Verhinderung der Arbeit von Betriebsräten. Die aktion ./. arbeitsunrecht e.V. sammelt Wissen und praktische Erfahrungen über aggressive Arbeitgeber und ihre professionellen Helfer, deren Strategien und Netzwerke. Wir sind dabei, eine bundesweite Organisation aufzubauen, die kontinuierliche Aufklärungsarbeit und Kampagnenführung gegen aggressive Akteure und deren Methoden leisten kann. Wir haben uns im Januar 2014 als eingetragener Verein konstituiert. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir bereits über zwei Jahr intensive Recherchen für eine Studie zu „Union-Busting in Deutschland“ betrieben. Die Studie ist von der IG-Metall-nahen Otto-Brenner-Stiftung finanziert und im Mai 2014 publiziert worden. Die Autoren der Studie Werner Rügemer und Elmar Wigand aus Köln sind Mitbegründer des Vereins und des Blogs www. arbeitsunrecht.de, wo Fälle gesammelt und Aktionen bekannt gemacht werden. Mit der Studie „Union Busting in Deutschland – Die Bekämpfung von Betriebsräten und Gewerkschaften als professionelle Dienstleistung“ wurde erstmals dargelegt, dass es eine ganze Dienstleistungsbranche gibt, die Unternehmer dabei unterstützt, engagierte und couragierte ArbeitnehmerInnen aus Betrieben zu entfernen. Was sich so technisch anhört, bedeutet für die

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Betroffenen, dass massive Maßnahmen gegen sie ergriffen werden, die darauf abzielen, die Betroffenen so zu zermürben, dass sie ihren Arbeitsplatz letztlich gegen eine Abfindung räumen. Wir haben etliche Fälle dokumentiert, die zeigen, wie Lohnabhängige, die auf ihre Mitbestimmungsrechte pochen, mit Wellen konstruierter Abmahnungen und Kündigungen überzogen werden, um sie zu zermürben und trotz Kündigungsschutz aus der Firma zu bekommen. Dazu kommen nicht selten weitere Klagen wie Schadensersatzforderungen. Im Betrieb leiden die Betroffenen derweil unter schikanösen Versetzungen, unter durch Führungskräfte initiiertem Mobbing und Isolation von ihren Kollegen. Denen wird z.B. in der Branche der Einzelhandels-Discounter oft schlichtweg verboten, Betroffene auch nur zu grüßen. Wer sich dennoch mit der Zielperson der Union Buster unterhält, muss anschließend sofort beim Führungspersonal zum Rapport antreten und sich rechtfertigen. Oft werden Detekteien mit der Bespitzelung von Betriebsratsmitgliedern beauftragt. Wir haben sowohl offene Beschattungen durch Detektive gefunden, die so angelegt sind, dass die Betroffenen wissen sollten, dass sie auf Schritt und Tritt verfolgt werden, als auch verdeckte Bespitzelungen. Letztere sollen Material beschaffen, das für Kündigung interpretiert werden kann, zum Beispiel, wenn ein Betriebsratsvorsitzender trotz Krankmeldung seinen Rasen mäht. In einem massiven Fall, in dem der Betriebsratsvorsitzende bereits 14 Mal gekündigt wurde, schickte man sogar eine Detektivin zu dessen Arzt, um die Glaubwürdigkeit einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu untergraben. Kniffe und Methoden, wie z.B. dass Abmahnungen und Kündigungen immer pünktlich zum Urlaubsantritt, vor Feiertage und Wochenenden zugestellt werden, sorgen dafür, dass das Vorgehen des Arbeitgebers die Lohnabhängigen bis tief in das Privatleben hinein trifft. Das soll es auch. Denn Ziel der Methode ist auch, persönliche Bindungen, nicht nur zu KollegInnen, sondern auch im persönlichen und familiären Rahmen zu stören. Das Gremium Betriebsrat kann ebenfalls sehr effektiv von seiner eigentlichen Bestimmung abgehalten werden, in dem der Unternehmer trotz gesetzlicher Verpflichtungen, zum Beispiel dem Anspruch auf Schulungen, Räume und Arbeitsmittel nicht gerecht wird. Bei all diesen Maßnahmen zur Drangsalierung und Zermürbung suchen Unternehmer und Personaler Unterstützung in speziellen Seminaren. Sie besuchen für mehrere tausend Euro Schulungen mit so bemerkenswerten Seminartiteln wie: „Kündigung der Unkündbaren“, „So zeigen Sie Ihrem

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Betriebsrat die rote Karte – Kündigungen richtig vorbereiten“, aber auch „Geht nicht, gibt’s nicht: Kündigung von Schwangeren“. Hier referieren JuristInnen, die sich damit gleichzeitig neue Klientel für ihre Kanzleien heranziehen. Uns ist es ein großes Bedürfnis, die hier Verantwortlichen namentlich bekannt zu machen. Wir finden die derzeitige Berichterstattung, in der oft betroffene Betriebsratsmitglieder und ihre Anwälte mit vollen Namen genannt werden, verantwortliche Führungskräfte und deren Berater jedoch nicht, unerträglich. Unsere Recherchen zeigten, dass es Kanzleien gibt, die Schulungen und Rechtsvertretung von Arbeitgebern gegen ihre Betriebsräte zu einem wichtigen Geschäftssegment ihres Angebots ausgebaut haben. Da wären neben der Kanzlei Schreiner & Partner aus Attendorn, die vor allem durch einschlägige Arbeitgeber-Seminare in unseren Fokus gerückt ist, auch juristische Dickschiffe wie die Wirtschaftskanzleien CMS Hasche Sigle, Hogan Lovells, Taylor Wessing, oder die aggressiven Mittelständler Buse Heberer Fromm zu nennen. Außerdem einzelne Anwälte wie zum Beispiel Jan Tibor Lelley, Paul Stefan Freiling, Helmut Naujoks. Union Buster beraten die Unternehmen aber nicht nur, sondern lenken und planen Prozesse. Neben Rechtsanwälten und Wirtschaftskanzleien gehören dazu auch Detektive, PR-Agenturen, Unternehmensberater, aber auch Tarnkappen-Institute mit einem wissenschaftlichen Anspruch, den wir durchaus anzweifeln. Das wären z.B. das IZA in Bonn oder das ZAAR in München. Sie treten als unabhängige Uni-Institute auf, obwohl sie von Unterverbänden oder Großkonzernen bezahlt werden. Sie entwerfen Konzepte, schreiben Studien für Gesetzesänderungen und sind Stichwortgeber für Alpha-Journalisten und Politiker. Sie verändern die Rahmenbedingungen in der Arbeitswelt. Drastische gesellschaftliche Einschnitte wie die Agenda 2010 sind auf ihren Einfluss zurückzuführen. Die rot-grüne Bundesregierung berief damals die Unternehmensberater McKinsey, Roland Berger und die Bertelsmann Stiftung in die Hartz IV-Kommission. Die neuen Arbeitsagenturen und Jobcenter und ihre Methoden wurden von Unternehmensberatern wie Accenture designed. Auch im Jahr 2015 sind Anti-Arbeitsrechts-Strategen auf höchster Ebene am Werk, etwa rund um die Gesetzes-Initiative zur angeblichen „Tarifeinheit“, die das verkrüppelte Streikrecht in Deutschland noch weiter einschränken soll. Die Deutsche Bundesbahn z.B. beauftragte

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das Schweizer Schranner Negotiation Institute in der Auseinandersetzung mit der Gewerkschaft der Lokomotivführer. Gegen das Streikrecht trommeln aber auch Wirtschaftsweise wie Wolfgang Franz, Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), die Carl-Friedrich-von Weizäcker-Stiftung, die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) und viele andere unternehmerfreundliche Verbände und Institute. Ein wichtiger Player ist der Star der deutschen Arbeitgeber-Anwälte, Thomas Ubber (Allen & Overy), der Deutsche Bahn, Lufthansa, Fraport und andere gegen die Gewerkschaften GDL, Cockpit und Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF) vertritt. Um dem Primat der Unternehmerinteressen etwas entgegenzusetzen, reicht es den Mitgliedern der Initiative aktion ./. arbeitsunrecht aber nicht, nur auf wissenschaftliche Arbeit und Aufklärung zu setzen. 2014 haben wir zum ersten Mal eine Kundgebung anlässlich der 7. Arbeitgeber-Tage in Hamburg organisiert. Diese jährliche Unternehmer- und Führungskräfte-Seminar wird vom Verlag Norman Rentrop und dessen Tochter bwr-media, ausgerichtet. Die Programm-Broschüren enthalten Union Busting reinsten Wassers. In vielen Städten, allen voran Stuttgart und Nürnberg, aber auch Berlin und München, wurde gegen Arbeitgeber-Seminare der Kanzlei Schreiner & Partner mobilisiert. Schon jetzt zeitigt der Protest Erfolge: Schreiner + Partner geben die Veranstaltungsorte der Seminare nicht mehr öffentlich bekannt. Hotels, die Räume für solche Seminare zur Verfügung stellen, geraten unter Druck, manche distanzieren sich gar. An den Protesten und Aktionen beteiligen sich verschiedene Gruppen und Solidaritäts-Komitees. Wir möchten gerne noch mehr solcher Solidaritäts-Komitees gründen. Ziel ist der Aufbau eines bundesweiten Netzwerkes von engagierten Einzelpersonen und Gruppen, die im Ernstfall aktiv werden. Nur mit Leuten vor Ort ist es möglich, den Kampf einer Belegschaft oder eines Betriebsrats wirkungsvoll zu unterstützen.

J URISTISCHES S PERRFEUER : D AS G ERICHT ALS K AMPF -T ERRAIN Neben Solidaritäts-Aktionen, die den Konflikt öffentlich machen, ist auch die Begleitung von Gerichtsprozessen wichtig. Auch hier hat es in den letzten Jahren schon Bewegung gegeben, die aber noch weit vom nötigen Auf-

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bäumen gegen die bisherige Praxis ist. Unternehmer bewegen sich mit den oben geschriebenen Methoden nicht nur am Rande der Legalität, sondern betreiben auch institutionellen Rechtsmissbrauch. Indem die Möglichkeit ausgeschöpft wird, Unmengen substanzloser Abmahnungen und Kündigungen auszusprechen, sowie weitere Klagen gegen Beschäftigte vom Zaun zu reißen, werden die Arbeitsgerichte zu unfreiwilligen Helfern der Union Buster. Bei vielen Abmahnungen und Kündigungen ist vom juristischen Standpunkt aus vollkommen klar, dass sie vor Gericht keinen Bestand haben werden. Trotzdem erfüllen sie ihren Zweck. Das Gremium Betriebsrat ist mit Gerichts- und Anwaltsterminen beschäftigt, anstatt Betriebsratsarbeit für die Belegschaft zu machen. Die einzelnen Betroffenen wiederum sind ebenfalls bis an der Grenze der Belastbarkeit und manchmal auch darüber hinaus gestresst. Wir haben Fälle von Herzinfarkten, Hörstürzen und Depressionen dokumentiert. Es ist also nicht falsch zu sagen, dass manche Union Buster über Leichen gehen würden, um Betriebe betriebsratsfrei zu halten. Unternehmer Fil Filipov, ein ehemaliger Manager der Baumaschinen-Heuschrecke Terex hat laut NDR-Bericht sagenhafte 793 Verfahren vor dem Arbeitsgericht Oldenburg verursacht, weil er die deutsche Mitbestimmung und die IG Metall nicht akzeptiert. Zuletzt machten die Franchisenehmer von Burger King, Ergün Yildiz und Alexander Kolobov durch hunderte von Arbeitsrechts-Verfahren auf sich aufmerksam. Kein Wunder also, wenn sich Richter an Arbeits-, Landesarbeits- und dem Bundesarbeitsgericht von Unternehmern missbraucht fühlen. Richter in arbeitsrechtlichen Verfahren waren bisher kaum an Publikum und eine intensive Berichtserstattung über Verfahren gewöhnt. Es ist relativ neu für sie, dass ihre Verhandlungen nun oft von interessierten und solidarischen BürgerInnen begleitet werden. Wir hoffen, dass das in Zukunft noch viel öfter der Fall sein wird.

D IE S PIELREGELN

ÄNDERN

Arbeitsrechte sind Menschenrechte, die z.B. in den Kernnormen der Internationalen Arbeitsorganisation, einer Unterorganisation der UNO, festgehalten und von Deutschland ratifiziert sind. Dagegen zu verstoßen ist kein Kavaliersdelikt.

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Auch gängige Rechtsprechung oder jahrzehntelagen Gesetzeslage können wir ändern. Nehmen wir folgende Beispiele: Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit 1997 (!) strafbar. Voran gegangen sind 25 Jahre gesellschaftlichen und politischen Kampfes. Eine ähnliche Veränderung der Wahrnehmung sehen wir im Steuerrecht. Es hat lange gedauert und die Urteile gegen Steuerhinterzieher sind alles andere als befriedigend, aber immerhin gibt es jetzt jährlich zehntausende von Selbstanzeigen aus Kreisen der unanständigen Reichen und Wohlhabenden. Die Mitglieder der Initiative aktion ./. arbeitsunrecht wollen, dass Unternehmer, die gegen Arbeitnehmerrechte verstoßen, dafür zu Rechenschaft gezogen werden. Behinderung der Betriebsratsarbeit ist nach §119 Betriebsverfassungs-Gesetz eine Straftat, die mit bis zu einem Jahr Strafvollzug geahndet werden kann. Doch nichts passiert. Wir wollen, dass es zu entsprechenden Urteilen kommt.

Subjektive Schulkarte, Nadelmethode, Autofotografie Methoden, mit denen Kinder ihre Schule als Lebensort beschreiben U LRICH D EINET

G ANZTAGSSCHULE

ALS WICHTIGSTER AUSSERFAMILIÄRER L EBENSORT VIELER

K INDER

In Düsseldorf besuchen mehr als die Hälfte aller Kinder im Primarbereich eine Ganztagsschule, die in NRW als Offene Ganztagsschule im Primarbereich in einer engen Kooperation von Schule und Trägern (meist aus der Jugendhilfe) organisiert ist. Bis 16 Uhr ist die Schule heute der Ort, an dem sich Kinder außerhalb ihrer Familien tagsüber aufhalten. Deshalb ist die Frage von großer Bedeutung, wie die Kinder diesen Ort wahrnehmen, welche Bedeutungen sie den einzelnen Räumen und dem Schulgelände, besonders dem Schulhof geben, welche Nutzungen sie entwickeln usw. Dies ist zum einen ein wichtiger Schritt in der notwendigen Beteiligung der Kinder an der Weiterentwicklung des Ganztags und seiner konkreten Gestaltung an der einzelnen Schule und kann auch Grundlage sein für Gestaltungsprozesse, die vielerorts aufgrund der Veränderung von Schule vom Halbtag zum Ganztag aber auch aufgrund der Renovierungsbedürftigkeit vieler Schulen notwendig sind. Dafür spielt die Eingebundenheit und die Öffnung der Schule in den jeweiligen Sozialraum als Stadtteil eine große Rolle.

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Mack u.a. kamen schon 2003 in ihrer vergleichenden Untersuchung „Schule, Stadtteil, Lebenswelt“ von Schulen in sechs Regionen zu der Einschätzung, „dass auch die Aneignungsqualität des schulischen Raums betrachtet werden und danach gefragt werden muss, ob und in welcher Form schulische Räume selbstbestimmtes Aneignungshandeln von Kindern und Jugendlichen zulassen“ (Mack u.a., 2003, S.215).

Schule und besonders die Ganztagsschule ist also selbst auch Ort der informellen Bildung; „Aneignung“ als subjektive Seite der informellen Bildung findet auch am Ort der Schule statt. Die Wissensvermittlung als gesellschaftliche Funktionszuschreibung von Schule und anderen Institutionen steht der Aneignungsfunktion gegenüber, die in der Schule einen Teil der subjektiven Lebenswelt und des Sozialraums von Kindern und Jugendlichen darstellt. Mack u.a. betonen ebenfalls die soziale Funktion der Schule und konstatieren, „[…] dass Schule auch über den Unterricht hinaus als Aufenthalts-, Arbeits- und Lebensraum von Schülerinnen und Schülern nachgefragt ist“ (Mack u.a. 2003, S. 224).

Auf der Grundlage dieser Einschätzung empfehlen die Autoren eine intensivere Nutzung der Räume. Um diese soziale Funktion der Schule tatsächlich ausfüllen zu können, fehlt meiner Einschätzung nach der Blick auf die Kinder als wesentliche Akteure. Die im Folgenden skizzierten Methoden und das Beispiel zeigen, dass Kinder als Experten ihrer Lebenswelt einen ganz eigenen Blick haben und deshalb in die Entwicklung von Schule als Lebensort einbezogen werden sollten.

K INDER UND J UGENDLICHE IHRER L EBENSWELT

ALS

E XPERTEN /- INNEN

Die Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen in die sozialräumliche Öffnung und Gestaltung von Schule als Lebensort kann auf vielfältige Weise erreicht werden. Im Folgenden werden dazu Methoden aus dem Reper-

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toire der qualitativen Sozialforschung vorgestellt, die als Aktionsforschung oder Feldforschung Kinder und Jugendliche als die Experten ihrer Lebenswelt sieht. Die Methoden sind gleichzeitig analytisch (um die Sicht der Kinder zu erheben), animierend (aktivieren die Kinder, machen Spaß) und in hohem Maße partizipativ (die Kinder sind die Experten und werden entsprechend ernst genommen). So stellt etwa die Stadtteilbegehung mit Kindern und/oder Jugendlichen eine zentrale Methode zur Erforschung der lebensweltlichen Sicht bestimmter Orte in einem Stadtteil und der subjektiven Bedeutung, die diese für sie haben, dar. Mit einer kleinen Gruppe von Heranwachsenden wird der Stadtteil auf einer von ihnen eingeschlagenen Route begangen und zugleich ihre Interpretationen der sozialräumlichen Qualitäten dieser Räume mittels Diktiergerät und Fotoapparat dokumentiert. Solche Begehungen können auch für den schulischen Zusammenhang genutzt werden und beziehen sich dann sowohl auf das Schulareal als auch auf das jeweilige Umfeld, bzw. den Stadtteil, in dem eine Schule liegt. Solche Begehungen können auch mit anderen Methoden vorbereitet werden, etwa durch die Nadelmethode (s.u.) oder subjektive Schulkarten (s.u.) und machen sehr gut die subjektiven Bedeutung von einzelnen Orten, Räumen im Schulareal deutlich, ihre Wahrnehmung, ihre Umwidmungen etc., die auch für eine Gesamtinterpretation der Schule interessant sind. Unter dem Aspekt der sehr stark geschlechtsspezifisch unterschiedlich ausgeprägten Wahrnehmung und Nutzung in dieser Altersstufe sollten solche Begehungen mit Mädchen und Jungen getrennt durchgeführt werden, um die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Nutzungen stärker in den Blick nehmen zu können. Wichtig ist es, die Begehungen gut zu dokumentieren, nicht nur für die spätere Interpretation, sondern auch um in einer Gruppendiskussion mit den Kindern noch einmal die abgegangenen Orte, Stellen, Räume etc. gemeinsam anzuschauen und die Kommentare der Kinder möglichst genau zu dokumentieren. Subjektive Schulkarte Eine weitere Methode im Bereich der hier zugrunde liegenden Methoden ist die subjektive Landkarte, die zur „subjektiven Schulkarte“ weiterentwickelt wurde. Mit Hilfe der subjektiven Landkarte können z.B. Schulwege nachgezeichnet werden, Spielräume außerhalb der Schule in den Blick genom-

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men werden, um so den Blick der Kinder auf den gesamten Sozialraum und den fußläufigen Raum um die Schule herum zu richten. Auch hier könnten die Kinder als Experten ihrer Lebenswelten in Quartiersbegehungen, ähnlich wie bei den Schulbegehungen einbezogen werden. Dabei wird es immer Unterschiede zwischen Kindern geben, die in unmittelbarer Nähe der Schule wohnen und Kindern, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder Privat-PKW’s zur Schule gebracht werden. Aber auch diese Kinder haben einen Blick auf den Sozialraum, haben Wahrnehmungen etc. Die subjektive Schulkarte stellt eine Abwandlung der Methode der subjektiven Landkarte (http://www.sozialraum.de/subjektive-landkarten.php, Zugriff 04.08.2014) dar: Die Kinder werden einzeln gebeten, auf einer Schulskizze mit Hilfe verschieden farbiger Stifte einzelne Stellen zu markieren, wobei die Farben unterschiedliche Bedeutungen haben z.B. für beliebte Orte, für unbeliebte Orte, für unbekannte Bereiche z.B. in größeren Schularealen etc. Die Kinder bemalen die Skizzen mit den unterschiedlichen Farben und stellen diese dann ebenfalls in einer Gruppendiskussion einzeln vor; dies kann aber auch im Einzelkontakt zwischen Forscher/innen und Kindern geschehen. Autofotografie mit Kindern Bei dieser Methode erhalten Kinder und Jugendliche Einwegkameras und eine Instruktion für eine etwa einwöchige Fotodokumentation, die sie selbstständig vornehmen. Im Gegensatz zur nach wie vor ungleichmäßigen Ausstattung mit Handys, die dann während des Projektes zu unschönen Konkurrenzen der Kinder und Vergleichen führt, ist der Einsatz von Einwegkameras für die Kinder neu und stellt damit eine für sie interessante Situation dar. Dabei müssen ihnen die Funktionsweisen einer Einwegkamera erklärt werden, da sie heute keine Kameras mehr ohne Zoom, Display etc. kennen. Die Instruktion (z.B. eine Geschichte über den bevorstehenden Besuch eines Menschen an der Schule) versucht, eine gewisse Fokussierung ihres Blickwinkels zu erreichen, allerdings nicht in einer zu strukturierten Weise. Die Auswertung erfolgt nach der Entwicklung der Fotos, ähnlich wie oben in einer Gruppendiskussion, in der die Kinder ihre Fotos vorstellen und jedes Foto mit einem Kommentar versehen. Dies ist deshalb wichtig,

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um die Interpretation der Kinder, ihr Verständnis der fotografierten Orte deutlich werden zu lassen und im Gespräch zu verstehen.

In einem Projekt mit einer Grundschule in Düsseldorf (s.u.) werden diese Aspekte etwas deutlich: Die Originalität der kindlichen Sichtweise, ihre im positiven Sinne beeindruckende Naivität und ihre – der Entwicklungsphase der konkreten Operationen – entsprechenden Vorschläge etc. Unsere Erfahrung zeigt, dass die Kinder sehr positiv reagieren wenn sie als Experten ihrer Lebenswelten wahrgenommen und von Erwachsenen mit einbezogen werden. Auch wenn die Ergebnisse sicher nicht überschätzt werden dürfen und auch sehr ortsbezogen sein werden, besteht meiner Ansicht nach der große Wert der Hereinnahme dieser Perspektive darin, die Kinder als Akteure im Schulraum wahrzunehmen und damit wegzukommen von einer weitgehend durch Erwachsene und Fachleute verplanten Schullandschaft, in der Kinder und Jugendliche allenfalls als Abnehmer und Nutzer entsprechender Leistungen vorkommen.

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Nadelmethode Diese Methode kann für vielfältige Themengebiete und verschiedene Altersgruppen eingesetzt werden. Für die Realisierung benötigt man verschiedenfarbige Stecknadeln mit passender Legende, sowie einen Stadtplan, der z.B. den Stadtteil, in dem eine Schule liegt, mit allen nötigen Details zeigt wie Spielplätze etc. Dieser Stadtplan muss groß genug ausgedruckt sein und auf eine Styroporplatte aufgeklebt werden, sodass die Kinder in einer kleinen Gruppe davor stehen können, es geht hier nicht um eine Einzelarbeit mit kleinen Stadtkarten. Die Stecknadeln werden von den Schülerinnen und Schülern auf die Karte gesteckt, um bestimmte Orte zu markieren (z.B. Lieblingsorte). Kommentare der Kinder werden auf Zettel geschrieben und zusammen mit den Nadeln an die Karte geheftet. So entsteht ein differenziertes Bild von den markierten Orten.

E XEMPLARISCHE E RGEBNISSE In einem gemeinsamen Projekt zwischen Fachhochschule Düsseldorf und einer Grundschule im Stadtteil Derendorf haben 30 Studierende im Rahmen eines Seminars (Bildungslandschaften) mit Hilfe unterschiedlicher Methoden, insbesondere Kinder, aber auch Eltern befragt und mit partizipativen

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Methoden in die Vorbereitung eines späteren Projektes zur Gestaltung der Schule einbezogen. Die Ergebnisse des Projektes können Aufschluss darüber geben, wie besonders die Kinder Schule, Schulgelände und den Stadtteil als Sozialraum erleben und wie sie einzelne Bereiche wahrnehmen. Eingesetzt wurden dabei die oben skizzierten Methoden. Beteiligt wurden alle dritten und vierten Klassen, sodass eine breite Einbeziehung der Schülerinnen und Schüler möglich war. Die Ergebnisse der unterschiedlichen Methoden können als eine Grundlage für die geplante Gestaltung der Schule und ihres Geländes genutzt werden. Folgende Kommentare wurden von den Kindern zu einzelnen Bereichen gegeben: •







Der sog. Dschungel, welcher lediglich von Jungen genannt wird, erhält aufgrund des herumliegenden Mülls und Drecks Kritik: „So viel Müll“. Hier fällt auf, dass die befragten Jungen häufiger als die befragten Mädchen das Thema Sauberkeit ansprechen (vgl. Kommentare zu den Spielen auf dem Boden vor der OGS bzw. die Kommentare zu den WCs). Das Klettergerüst sowie die WCs erhielten die meisten negativen Bewertungen. Wobei das WC ausschließlich negative Bewertungen bekam. Beim Klettergerüst nannten ausschließlich die Mädchen positive Dinge, wie z.B. „Macht Spaß“ oder auch „Alle Geräte können unterschiedlich genutzt werden“. Verbesserungswünsche der Mädchen waren eine Schaukel oder eine größere Rutsche. Anders als bisher, äußerten hier die Jungen vor allem Sicherheitsbedenken, wie der Kommentar verdeutlicht: „Ist nicht abgesichert, man fällt“. Diese Kommentare, wie sich im Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern herausstellte, wurden aufgrund persönlicher Erfahrungen geäußert. Bei den WCs fällt auf, dass fünf der sechs negativen Bewertungen von Jungen stammten, die sich über die Sauberkeit dort beschwerten, wie z.B. „So viel Pipi auf dem Boden“. Der Kommentar eines Mädchens bezieht sich ebenfalls auf die Sauberkeit, jedoch wird hier nicht der Zustand an sich bemängelt. Vielmehr werden diejenigen kritisiert, die sich um die Sauberkeit kümmern sollten: „WC Agent passt nicht auf“. Es wurde geäußert, dass ihnen ein „richtiges Fußballfeld mit Kunstrasen, oder wenigstens Gummiboden“ besser gefallen würde. Sie äußerten, dass sie nicht richtig spielen könnten, „da noch nicht einmal weiße Streifen da sind“. Zudem wurde darauf hingedeutet, dass sich die Jun-

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gen oft auf dem Steinboden Verletzungen (wie z.B. Schürfwunden) zufügten, wenn sie richtig Fußball spielten. Ebenfalls würden die Jungen sich auch über „richtige Tore“ freuen („Was ist ein Fußballfeld schon ohne Tore?“). Als Tore nutzen die Jungen ihre eigenen Kleidungsstücke, um einen bestimmten Bereich abzugrenzen. Dadurch werden ihre Kleidungsstücke verschmutzt. Laut Aussage von zwei Jungen, finden die Eltern das nicht gut und „schimpfen deshalb auch voll oft“. Eine andere Ecke des Schulhofes dient ebenfalls als Fußballfeld. Es handelt sich um den Bereich des Seiteneingangs. Diese Nische dient den Jungen nach ihrer Aussage optimal als Fußballfeld, da dieser Bereich von zwei Wänden und einem Metallzaun abgegrenzt ist. „Hier spielen wir auch gerne Fußball, nur blöd ist, dass das Spielfeld hier kleiner ist“. Ferner bemängelten die Jungen, dass sich an einer der Wände Fensterscheiben befinden, welche durch die Schüsse schmutzig würden oder nach ihrer Befürchtung sogar kaputt gehen könnten. Ein Dach, welches zwischen den Gebäuden in der Nische steht, wird von den Jungen als „Ballverschwender“ benannt, da auf diesem Dach meistens die Fußbälle landen, wenn die Kinder hoch schießen. Der „Ballverschwender“ wurde als „unnütz“ erklärt, da die Kinder dort eh immer nass werden und dieser somit nicht als ideale Überdachung diene. Das Klettergerüst gilt bei den Jungen als sehr beliebt. Sie erklärten, dass alle Kinder gerne daran spielten. Die Brücke des Klettergerüstes wird viel bespielt, nur „geht die Kette von der Brücke immer so schnell kaputt“. Die Jungen wünschen sich hierbei eine Lösung des Problems. Ebenfalls beliebt ist die „Hangel“ an dem Klettergerüst. „Die Hangel ist schon sehr cool, aber es wäre besser wenn die weg kommt, weil sich schon voll viele daran wehgetan haben“. Ein anderer Vorschlag war, dass diese durch einen anderen Gegenstand ausgetauscht wird. Nach diesem Vorschlag kamen die Kinder ins Schwärmen und äußerten, dass eine Rutsche „vielleicht sogar mit einer Kurve oder Looping“ gefallen würde. Ein Verbesserungsvorschlag, bei dem sich ebenfalls alle Jungen einig waren, sind Schaukeln. Auf dem Gelände stehen Sitzbänke aus Holz; die Bänke wurden von den Mädchen als „Möchtegern-Bänke“ bezeichnet. Auf Nachfrage der Studierenden folgte folgende Antwort: „Die Bänke sind schief und locker. Man kann da gar nicht richtig drauf sitzen, weil ich Angst habe da

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runterzufallen. Und ich habe schon mal darauf gesessen und habe mir die Hose kaputt gemacht, weil das Holz so kaputt ist. Ich hab auch schon mal gesehen, wie ein Mädchen ein Stück Holz im Finger hatte. Eigentlich kann man da gar nicht drauf sitzen.“ Im Weiteren wurden die Bänke als „wackelig“, „scheiße“, „kaputt“, und „unbequem“, beschrieben. Die Bänke werden im Allgemeinen als „gute Idee“ empfunden, jedoch würden sich die Kinder über Erneuerungen freuen.

F AZIT Die Dritt- und Viertklässler machen keine unrealistischen, utopischen Vorschläge, die nicht realisiert werden könnten. Sie beziehen sich sehr konkret auf die Gegebenheiten, schildern genau, wie sie diese erleben und machen auch entsprechende Verbesserungsvorschläge. Über die Methoden bekommen die Erwachsenen einen Einblick in die kindliche Lebenswelt, in das kindliche Erleben von Schule! Dabei wird die Funktion von Schule als Lebensort überdeutlich: In vielen Anmerkungen, Äußerungen, Fotos etc. werden besonders die Seiten der Schule dargestellt, die mit dem sozialen Leben der Kinder zu tun haben: Pause, Spielen, Freunde, Orte auf dem Schulhof etc. stehen im Vordergrund. Die Kinder sind in der Lage, konkrete Hinweise auf einzelne Problempunkte zu geben und entsprechende Verbesserungsvorschläge zu machen. Konfliktorte (z.B. zwischen Kita und Grundschule) werden deutlich, Problembereiche werden offen benannt (Schultoiletten). In vielen Beispielen wird auch deutlich, wie die Kinder versuchen, den Ort der Schule so gut wie möglich zu nutzen, sich Spielräume zu verschaffen (dabei auch von anderen gestört werden!), Dinge „umnutzen“ und auch Regeln umgehen, um die Schule insgesamt für sich als Raum nutzbar zu machen. Das Projekt zeigt, dass man über mediale Methoden die Blickwinkel der Kinder sichtbar machen kann, sei es über Fotos, Karten etc. Auch wenn nur wenige konkrete Verbesserungsvorschläge gemacht wurden, die im Rahmen der Gestaltung der Schule aufgegriffen werden könnten, gibt es doch viele Hinweise im Vorfeld! Wenn es zu einer Renovierung der Schule kommt, sollten die Kinder von vornherein einbezogen werden: Die Ergebnisse unseres Projektes zeigen deutlich, dass sie als Expert/innen ihrer Le-

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benswelt eine eigene Stimme haben und diese auch konstruktiv einbringen können. Für eine konkretere Gestaltungsphase müssen über die skizzierten auch andere Methoden der Partizipation einbezogen werden wie z.B. ein Kinderparlament, die Bildung einer Expertengruppe der Kinder als Planer und Mitgestalter in einer Renovierungsphase oder eher eine projektbezogene Beteiligung der Kinder, wenn es um die Gestaltung bestimmter Bereiche etc. geht. Alle Methoden sind mit Kindern machbar und erprobt, haben Vor- und Nachteile und müssen von den Erwachsenen und Fachleuten entsprechend entwickelt und begleitet werden (vgl. hierzu besonders die Methodensammlung von Waldemar Stande im Literaturverzeichnis).

L ITERATUR /I NTERNETQUELLEN Bradna, M./Meinecke, A./Schalkhausser, S./Stolz, H.-J./Täubig, V./Thomas, F. (2010): Lokale Bildungslandschaften in Kooperation von Ganztagsschule und Jugendhilfe. Abschlussbericht (unveröffentlicht). Deinet, U. (2005) (Hg.): „Sozialräumliche Jugendarbeit. Grundlagen, Methoden, Praxiskonzepte“, 2., völlig überarbeitete Auflage, Wiesbaden: VS. Deinet,U./Icking, M./Leifheit, E./Dummann, J. (2010): „Jugendarbeit zeigt Profil in der Kooperation mit Schule“, in der Reihe „Soziale Arbeit und Sozialer Raum“ (Hg. Ulrich Deinet) Bd. 2, Leverkusen: Barbara Budrich. Deinet U. (2010): Sozialräumliche Jugendarbeit. Grundlagen, Methoden, Praxiskonzepte, 3., überarbeitete Auflage, Wiesbaden: VS. Deinet, U./Icking, M. (2010) (Hg.): Jugendhilfe und Schule, Analysen und Konzepte für die kommunale Kooperation, 2. Auflage, Leverkusen: Barbara Budrich. Deinet, U./Richard K. (2013): Subjektive Landkarten. http://www.sozial raum.de/subjektive-landkarten.php, Zugriff 02.12.2013. Mack, W./Raab, E./Rademacker, H. (2003): Schule, Stadtteil, Lebenswelt. Eine empirische Untersuchung. Opladen: Leske + Budrich. www.sozialraum.de (Methodensammlung), http://www.sozialraum.de/sub jektive-landkarten.php, Zugriff: 04.08.2014.

Tunnelkultur A NNE M OMMERTZ

D ER

ÖFFENTLICHE S TADTRAUM , UNBEKANNTES G EBIET Jeder Quadratmeter im öffentlichen Raum hat seine spezifischen, oft vom nächsten Quadratmeter abweichenden Öffentlichkeitsqualitäten. Es ist vielleicht auf den ersten Blick nicht sichtbar, wie sich ein Stück Bürgersteig, öffentlicher Rasen oder eine Bushaltestelle von tausenden anderen unterscheidet. Und doch haben vielfältige Parameter Auswirkungen auf die wie auch immer gearteten Nutzungsmöglichkeiten eines Ortes im öffentlichen Raum. Um nur ganz kurz das Spektrum anzureißen, sei hier genannt: Himmelsrichtung (woher kommt die Sonne, der Schatten, wann), Windverhalten/Kleinklima, Frequentierung durch naheliegende Firmen, Schulen, Bahnhöfe, Kinos, Sporthallen, städtische Einrichtungen, Firmen mit Schichtarbeit oder Bürozeiten, Haltestellen, Zugangswege zu solchen, die sich an bestimmten Stellen kreuzen, unter Umständen von Fußgängerüberwegen und -ampeln reguliert, Wochentag-Wochenend-Nutzungen von Parkplätzen etc., Dichte der Besiedlung, Abstand zur nächsten Toilette, Kneipe oder zum nächsten Büdchen (Kiosk), Sitzmöglichkeit, Begrenzung oder Nicht-Begrenzung/Größe des Raumes, Geräuschkulisse durch Straßen, Fabriken, Baustellen etc. zu bestimmten Zeiten, Akustik, Bodenmaterial, Gerüche von Müll, Urin, Gewässern, Industrie, Natur etc., aber auch die Geschichte und die Geschichten des Ortes, sein Ruf usw. Außerdem ist längst nicht jeder öffentliche Ort in der Stadt wirklich öffentlicher Stadt-

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raum. Ein Parkplatz oder eine Haltestelle unterstehen oft den Regeln und Vorschriften der Betreiber. Einen großen Erfahrungsschatz zum Lesen und Kennen von Orten haben Straßenkünstler und -verkäufer und ich möchte hier erwähnen, dass ich von solchen viel lernen konnte.

D ER

ÖFFENTLICHE

R AUM

ALS

K ULTUR -B ODEN

Ich lebe in Düsseldorf, wo ich seit vielen Jahren als Künstlerin im öffentlichen Raum experimentiere und arbeite. Mich interessiert die oder eine Kultur des öffentlichen Raumes, also die öffentliche, unkommerzielle Nutzung unseres gemeinsamen Lebensraumes. Kultur fängt für meine Begriffe da an, wo man sich austauscht, wo Formen, Sprachen und Gewohnheiten des Umgangs sich herausbilden, verändern, wachsen, um schließlich in unglaublich komplexe Rituale, den Bau riesiger Skulpturen, Museen, Sportarenen, Bankgebäuden etc. zu münden. Wenn jede Kultur in ihrer Basis die Pflege (cultivare = pflegen, anbauen) und Entwicklung einer lebendigen Kommunikation einer Gemeinschaft ist, so entsteht sie im nicht privaten Raum, also im archaischsten Sinne draußen. Die digitale Gesellschaft braucht natürlich für ihre Kommunikation, also im grade umrissenen Sinne, für ihre Kultur, längst nicht mehr die Parkbank oder den realen Marktplatz. Wer sich langweilt, kommunizieren möchte, muss nicht mehr rausgehen. Wer auf einer Parkbank sitzt, gerät in Verdacht, die Schule oder den Job zu schwänzen. Früher einmal mag der Stadtraum belebter, wohnlicher, weniger durch den Straßenverkehr geprägt gewesen sein. Die Nutzung des öffentlichen Raumes, unabhängig von kommerziellen Zielen, ist in unserer Kultur in den Hintergrund gerückt. Damit verschwindet auch leicht die Identität mit dem Wohnort, dem Viertel, der Lebensumgebung.

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W O SIND S IE

ZU

H AUSE ?

An diesem Punkt habe ich angefangen zu forschen. Die Frage: Wo bin ich / sind wir/sind Sie zu Hause? Immer noch findet ein sehr großer Teil der Leute, die ich frage, ein Zuhause wertvoll und erstrebenswert. Bei Befragungen und Projekten dazu, was sich hinter diesem nicht ganz einfach zu definierenden Begriff des „Zuhauses“ eigentlich verbirgt, kam ich zusammenfassend auf: 1. Identität, 2. Zugehörigkeit zu einer Gruppe (Familie oder andere), 3. gewohnte, bekannte Umgebung. Seitdem experimentiere ich im öffentlichen Stadtraum auf der Suche nach zeit- und ortsspezifischen, heute passenden Formen für diese drei Bedürfnisse, Formen für „gemeinsam einen Ort für sich in Anspruch nehmen“. Damit möchte ich der digitalen Entwicklung unserer Kultur keineswegs etwas entgegensetzten, vielmehr etwas hinzufügen, was einem Menschen mit Neugier auf Menschen, Orte und Situationen und einem Wunsch nach „Zuhause“, wie ich es bin, ein Bedürfnis ist. Ich stelle immer wieder fest: Ich bin es nicht alleine.

M ETHODE „K ENNEN DURCH B ESETZEN “

LERNEN EINES

O RTES

Am besten, man packt ein paar Klappstühle unter den Arm und setzt sich erst einmal für eine Stunde vor die Tür, an den Ort, den man sich aussucht, vielleicht zum Vergleich noch mal ein paar Meter weiter, auch mal zu einer anderen Tages- oder Wochenzeit. Dabei kommen dann meist von ganz alleine die herrlichsten Ideen, was man vor Ort mal machen könnte, was dieser Ort mal bräuchte. Diese Ideen kommen aus dem, was man sieht und erlebt, aus der Situation, aus der Spezialität des Ortes und der Nutzer heraus. Oft kommen erste Kontakte zustande. Vielleicht ist der Leserin oder dem Leser an diesem Punkt unklar, warum überhaupt sich mit einem Hocker irgendwo auf den Bürgersteig setzen. Zur Entschärfung setze man sich zu mehreren. Zur Erläuterung: Ich setze hier einfach voraus, dass man sich für Kultur im öffentlichen Raum im weitesten Sinne begeistern kann. Das üblichere Vorgehen ist vielleicht, dass man mit einem fertigen Programm, einer Aktions-Idee, einer Kampagne, einem Fragebogen oder was

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auch immer in den öffentlichen Raum hinein läuft und dann merkt, dass man in einem launischen, unberechenbaren, oft abweisenden Gebiet unterwegs ist, was die Sache sehr anstrengend machen kann – oder es klappt wunderbar, alles super. Aber das liegt vielleicht nicht nur an der besonders guten Idee, dem allen einleuchtenden Ziel, sondern hat auch viel mit dem richtigen Ort zur richtigen Zeit mit herrlichem Wetter etc. (siehe oben) zu tun. Da es mir bei meiner Arbeit um Kultur im öffentlichen Stadtraum an sich geht und diese sich nur aus den Orten und Menschen selbst entwickeln kann, habe ich bei dieser ersten „Besetzung“ eines Ortes noch keine Vorstellung, was dort passieren wird. Aber auch der, der mit einem klar gesteckten Ziel in die Öffentlichkeit treten möchte, hat sicher Vorteile davon, den Raum auf diese Art zu erforschen. Vor allem, wenn eine lange Planung auf nur einen Tag, einen Ort zusteuert, kann es sehr schade sein, wenn man die Parameter dieses Ortes falsch einschätzt, Schwierigkeiten und Möglichkeiten übersieht.

P RAXISBEISPIEL „ANGSTRÖHRE “ Hier möchte ich beispielhaft ein solches Kultur-Experiment beschreiben, dass sich seit 2012 in einem Fußgängertunnel im Düsseldorfer Süden (zwischen einem Arbeiter- und Industrieviertel mit schwindender Industrie und einem Stadtteil mit eigenem Zentrum) entwickelt hat und das zu einem interessanten Kultur-Pflänzchen herangewachsen ist. Tunnel und Unterführungen waren schon häufiger mein Aktionsraum. Sie werden mir vorgestellt als Problem-Orte, für die man händeringend nach Ideen sucht. Gleichzeitig bieten sie Schutz vor einem Regenschauer, machen also recht unabhängig vom Wetter, was im öffentlichen Raum in unseren Breiten ein großer Vorteil sein kann. Zusätzlich ist eine oft vorhandene buchstäbliche Unumgänglichkeit eine Garantie für Publikum: Da der Passant, der durch einen Tunnel gehen muss, um von A nach B zu gelangen, nichts oder jedenfalls nichts Interessantes erwartet, wird er das, was man ihm bietet oder zumutet, recht offen aufnehmen. Natürlich ist aber auch jeder Tunnel anders, im Sinne des ersten Abschnittes dieses Aufsatzes.

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Im Frühjahr 2012 wurde ich eingeladen, das Projekt „Kultur mobil“ von drei zentren plus1 im Süden Düsseldorfs zu unterstützen, bei dem Senioren in Kleingruppen eigene Kulturaktionen in ihrem Viertel planten. Im großen Stuhlkreis saßen vier Leute neben mir, die sich spontan einer Idee anschlossen: Wir wollen was mit der „Angströhre“ machen. Ich wusste gar nicht, wo und was die „Angströhre“ war, aber wir setzten uns zusammen und ich erfuhr, „Angströhre“ wurde ein Fußgängertunnel genannt, der die Düsseldorfer Stadtviertel Benrath und Paulsmühle unter mehreren Bahngleisen hindurch verbindet. Wir verabredeten uns auf meinen Vorschlag hin mit Klappstühlen zu einem ersten „Besetzen“ in diesem Tunnel, um zu überlegen, was man tun könnte. Der Eingang zur „Angströhre“ an der Friedhofstraße auf der Benrather Seite liegt hinter einer breiten Autobahn-Brücke, unter der man hindurchgehen muss, an parkenden Autos vorbei. Kommt man in den Tunnel, kann man das andere Ende nicht sehen, weil der Tunnel abschüssig ist, um dann wieder anzusteigen. Außerdem hat er eine Kurve, bevor man den Ausgang zur Paulsmühlenstraße auf der anderen Seite erreicht. Die Angströhre hat entgegen meiner ersten Vorstellungen grade, glatte Seitenwände (Beton), die orange angestrichen und mit Graffitis besprüht sind. Zwischen den verschieden hohen Decken, auf denen die Gleise queren, sind zwei offene Abschnitte, durch die das Tageslicht einfällt. Ab und zu zerreißt ein Schnellzug sehr plötzlich die Ruhe so, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen kann. Es sind eigentlich ständig Passanten zu Fuß oder mit Fahrrad unterwegs.

1

zentren plus Düsseldorf laut Internetseite der Stadt Düsseldorf: Die „zentren plus“ in Düsseldorf beraten individuell und persönlich zu allen Fragen rund um das Leben im Alter. Sie helfen, neue soziale Kontakte aufzubauen und bieten eine Vielzahl an Freizeit-, Gesundheits-, Kultur- und Bildungsangeboten, wie zum Beispiel gemeinsame Theaterbesuche oder PC-Kurse. Sie verstehen sich aber auch als Treffpunkte für Ältere, in denen einfach nur geplauscht oder Skat gespielt werden kann. Sie vermitteln Dienstleistungen, wie zum Beispiel Hol- und Bringdienste oder Essen auf Rädern. Manche „zentren plus“ haben auch einen preiswerten Mittagstisch im Angebot. Sie zeigen Wege auf, trotz Hilfe- und Pflegebedürftigkeit so lange wie möglich in der eigenen Wohnung zu leben. Individuelle Hilfen werden koordiniert und auf Wunsch werden Hausbesuche durchgeführt.

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Ein Herr aus der Gruppe und ich haben ca. acht Klappstühle mitgebracht, im Auto, welches man gut auf dem davor liegenden Parkplatz abstellen konnte. Wir waren fünf Personen und setzten uns erst mal an die tiefste Stelle, mitten in den Tunnel. Da der Tunnel nur ca. vier Meter schmal ist, bildeten wir eine Stuhlreihe entlang der Wand, um die Passanten nicht zu behindern. Später rutschen wir in einen nach oben offenen Abschnitt, in den gerade die Sonne fiel. Es kamen viele Menschen vorbei, die zum größeren Teil neugierig fragten, sich teilweise auch zu uns auf die zusätzlichen Klappstühle setzten und ihre Ideen beitrugen zu der Frage, was man in diesem Tunnel machen könnte. Natürlich gab es viele Kommentare zur angstvollen Atmosphäre im Tunnel, vor allem nachts und im Winter, über den Müll und die Graffitis wurde geschimpft und über Fahrradfahrer, die nicht absteigen würden und durch das Gefälle viel zu schnell um die Kurve kommend für die Fußgänger eine Gefahr seien. Einige Leute kannten sich als Nachbarn oder über gemeinsame Aktivitäten im zentrum plus Benrath. Eine Frau, die seit 80 Jahren den Tunnel nutzte, brachte Kekse. Eine Seniorin aus unserer Gruppe hatte Kaffee dabei. Die Stimmung war wider ersten Erwartungen nicht unangenehm, beinahe euphorisch und nach zwei Stunden hatten wir folgende Ideen-Liste notiert: Im Tunnel • • • • • • • • • • • • • • •

singen, schreien, Sit in/Café/Treffen einmal in der Woche, fluten, mit Karpfen oder Piranhas, die Wände schöner anmalen/bunt gestalten, die Wände von Kindern anmalen lassen, die längste Tunneltheke-Aktion, Spiele, Stühle aufstellen, Tunnel-Tango, Pflanzentausch-Börse, Geschichten aus dem Tunnel erzählen, Kunst im Tunnel, Fotoausstellung (z.B. „Ich kann nur Köpfe“), Trödelmarkt,

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• • • • • • • • • •

große gemütliche Sitzbank, z.B. wie auf Cuba aus angestrichenem Gusseisen (erst mal als Bild aufhängen), hängender Garten, Strickrunde, Mittwoch Vormittag, historische Ausstellung zu Benrath-Paulsmühle, Bewegungsmelder für zusätzliche Effekte, Musik, Tunnelpaten, Selbstverteidigungskurs/Angebot im Tunnel, 22.00 Uhr-Treffen, Krimi-Lesung.

Wir trennten uns mit dem festen Vorhaben, die Ideen im Laufe des Jahres umzusetzen. Es wurden feste monatliche Treffen verabredet, um zu planen. Diese fanden (und finden) nicht im schmalen Tunnel statt, denn als Gesprächsrunde ist man im Tunnel zu sperrig, würde Passanten behindern. Das zentrum plus Benrath in der Nähe bot sich an. Zur Idee „Strickrunde mittwochs vormittags“ hatte sich diekt beim ersten „Besetzen“ eine interessierte Gruppe verabredet, teilweise aus einer be-

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stehenden Strickrunde im zentrum plus Benrath, teilweise aus der Gruppe der „Tunnel-Aktivisten“. Die Strick-Gruppe trifft sich seit Mai 2012 alle zwei Wochen am Mittwoch um 11.00 Uhr (von Frühjahr bis Herbst). Vorbeikommende bleiben gerne stehen, es entsteht ein kleines Gespräch. Jeder ist willkommen und bekommt auch gerne die Grundlagen der Strick-Kunst gezeigt, auch, wie man eine Ferse strickt.

Als Nächstes wurde im Juli mit guten Beziehungen aus der Gruppe zur Open-Air-Tango-Szene „Tango im Tunnel“ umgesetzt. Mit dieser Aktion haben wir Leute aus dem Viertel und aus ganz Düsseldorf motiviert. Erstaunlich war, wie gut die Tango-Eleganz sich in den Tunnel integrierte. Der Tunnel bekam eine ganz neue Note! Der Tanzboden, glatter Asphalt, wurde als recht passabel für das Tanzen beurteilt.

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Aus der Idee „Musik“ wurde als erstes ein Sopran-Spinnett-Konzert entwickelt, welches die neue Tunnel-Atmosphäre noch einmal unterstrich. Das Spinnett lässt sich leicht transportieren, die Beine kann man abschrauben und es ist viel kleiner und leichter als ein Klavier. Die Akustik des Tunnels erwies sich als sehr gut, wenn man die Unterbrechungen durch Schnellzüge als besondere Tunnelnote akzeptieren wollte. Das Publikum konnte auf Klappstühlen platznehmen, die wir im ansteigenden Bereich auf einer Hälfte des Weges aufgestellt hatten, so dass Passanten weiter durchgehen, aber auch stehenbleiben und sich setzen konnten. Die Vorstellung war gut besetzt! Über die lokale Presse wurde unsere Veranstaltungen fast immer gut angekündigt und auch häufig besprochen, so dass auch dadurch das Publikum und das Organisationsteam wuchsen. Die Organisation bestand bei allen Aktionen aus der Anmeldung beim Ordnungsamt, der Heranschaffung des nötigen, möglichst einfach gehaltenen Equipments und der Öffentlichkeitsarbeit, auch mit Aushängen am Tunnel, in Einrichtungen und Geschäften der Umgebung.

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Die Aufgaben wurden in der „Tunnel-Gruppe“, wie das Organisationsteam schon bald hieß, verteilt. Bei den monatlichen Treffen brachten alle ihre Kenntnisse, Beziehungen und Ideen ein, die das Umsetzen und Weiterentwickeln von Tunnel-Kultur-Aktionen möglich machten. Die Finanzierung, größtenteils meiner Arbeit, lief über das Kultur-Mobil-Projekt. In den nächsten Monaten wurden die folgenden Aktionen im Tunnel umgesetzt: Verschiedene Phantasie-Bank-Modelle im Maßstab 1:1 aus Pappe wurden gebaut und im Tunnel getestet. Es gab den Tunnel-Trödel, das offene Singen im Tunnel mit Akkordeon-Begleitung, eine Klangschalen-Performance zum Mitmachen, eine Fotoausstellung entlang der Wände mit Portraits, die im Tunnel fotografiert worden waren, die längste Tunnel-Theke und als Dauerbrenner das Stricken im Tunnel. Das Anmalen der Wände von Kinderhand stieß bei den Behörden auf Widerstand. Zuständigkeiten und anderer Bürokratiekram machten diese Idee zu einer zähen Geschichte, die wir aufgeben mussten, obwohl sich nach den ersten Zeitungsartikeln auch die Bezirkspolitik immer mehr für uns und auch für den Tunnel und seine Probleme stark machte. Der Tunnel war wieder in aller Munde. Ein Teil der Tunnelgruppe hatte genau darauf gehofft.

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Die Aktionen brachten aber in erster Linie den Mitmachenden selber positive Erfahrungen im Sinne von Identität, Zugehörigkeit zu einer Gruppe und dem Verhältnis zur gewohnten, bekannten Umgebung, wie ich sie im zweiten Abschnitt dieses Aufsatzes im Zusammenhang mit dem ZuhauseBegriff nannte. Der Tunnel wurde „unser“ Tunnel und veränderte sein Bild, das negative Bild wurde mit positiven Erfahrungen durchmischt. Der nun schon über 100 Jahre alte Tunnel mit seiner Problematik konnte aber nicht aus der Welt geschafft werden. In 2013 nahm die „Tunnelgruppe“ dies mit viel Humor und drehte einen kleinen Film „Der Tunnel ist weg“. Hierfür gab es Unterstützung von professionellen Theaterleuten im Rahmen des Projektes „Kultur-mobil“ 2013. Mit finanzieller Unterstützung der Bezirksvertretung und der Diakonie, Träger des zentrum plus Benrath, konnten auch weitere Aktionen über das Jahr verwirklicht werden: Zwei Lesungen, auch bei Schnee und Eis mit Decken für das Publikum, ein Selbstverteidigungsschnupperkurs, zwei Fotoausstellungen: Bilder des Paulsmühleviertels, das sich grade einem starken Strukturwandel unterzieht und „Stille Örtchen“, „Gesund durch den Tunnel“, ein kostenloser Gesundheitscheck einer Apotheke im Tunnel und natürlich das Stricken alle zwei Wochen. Es kam die Idee auf, dem Tunnel einen Namen zu geben, der der so negativ klingenden „Angströhre“ etwas entgegen setzen könnte. Der Tunnel hat keine offizielle Straßenbezeichnung. Also sammelten wir beim Stricken im Tunnel Namensvorschläge der Passanten, unter denen schließlich abgestimmt wurde. 2014 folgte die Taufe des Tunnels in „Pauli-Tunnel“ mit selbst gemachten Schildern. Die Gruppe bemüht sich darum, dass der Name auch offiziell eingeführt wird. Eine Apotheke in Benrath mit dem Namen Pauli-Apotheke meldete sich bereitwillig als Pate. Der Film „Der Tunnel ist weg“ wurde vor dem Tunnel open air aufgeführt. Hierbei unterstützte uns die Polizei Düsseldorf mit dem Hinweis, dass die Aktionen ein gutes Beispiel für aktive Kriminal-Prävention der Bürger sei! Tunnel-Kegeln mit speziellen Regeln für den Tunnel wurde entwickelt: Wir kegeln gegen das Gefälle, so dass die Kugel von selber wieder zurückkommt. Bei den Tunnelspielen gab es außer dem Kegeln auch noch eine Regatta mit selbst gebauten Booten an langen Schnüren, die man um die Wette aufwickelte. Außerdem wurde eine Frühlingslesung, ein Quiz mit alten Fotos von Paulsmühle, eine Ausstellung „Das Badeleben vor 100 Jahren“ mit alten Postkarten organisiert und

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schließlich konnte nach längerem Tüfteln das Espressomobil eingeweiht werden: Ein Einkaufstrollie, den man vor Ort zu einer Espressobar ausklappen kann. Seitdem genießen die Passanten frischen Espresso bei unseren Aktivitäten und der ganze Tunnel duftet nach Kaffee!

E IN S TÜCKCHEN

NEUE

S TADT -K ULTUR

Es haben nicht alle Aktionen gleich gut funktioniert. Manche Tage und Uhrzeiten eignen sich besser als andere, z.B. ist der Samstagmorgen besonders schlecht frequentiert, so dass die Aktionen Tunnel-Flohmarkt und „Gesund durch den Tunnel“ schlecht besucht waren. Die Abende haben wir nur selten genutzt, da die organisierenden Senioren sich damit nicht anfreunden konnten. Die Tunnel-Gruppe ist offen. Es kommen neue Leute dazu, andere gehen. Durch die guten Erfahrungen bewegen sich die Akteure inzwischen mit einem gewissen Selbstverständnis im Tunnel. Manchmal sind wir wenige, dann wieder sehr viele. Unerlässlich ist die Moderation, ein fester Ansprechpartner. Der Tunnel hat nicht nur einen neuen Namen, sondern auch ein neues Image bekommen. Es gibt sogar Leute, die sagen, dass sie die Angst beim Durchgehen vergessen haben, da sie jetzt ans Kegeln oder Ähnliches denken. Laut Polizei passieren real nicht besonders viele kriminelle Übergriffe im Pauli-Tunnel. Die Identifikation vieler Anwohner mit ihrem Viertel und ihrem Tunnel ist einfacher, positiver geworden. Schon alleine, dass die Zeitung sich so oft für diesen Ort interessiert, ändert das Selbstverständnis. Für die Akteure der Tunnel-Gruppe ist ganz sicher ein Stück Identität und Zugehörigkeitsgefühl entstanden, ein Stück Lebensqualität, eben Kultur.

Die offenen Arme und geschlossenen Türen einer Stadt Ein Projekt zur Beheimatung und Retro-Beheimatung L ILO S CHMITZ

L EBENSLANGE S ESSHAFTIGKEIT U MZUG DIE REGEL

IST DIE

AUSNAHME –

Dass Menschen von Natur aus sesshaft sind und eine einzige Heimat haben, ist eine Mär. Heirat und Familiengründung, Flucht und Vertreibung, Neugier und Angst, Liebe und Abenteuerlust, bittere Not und Wissensdurst, Arbeit und Freizeit – all das und mehr führt Menschen an neue Orte, an denen sie sich beheimaten müssen, soll es ihnen wohl ergehen. Beheimatung in der Kindheit Die Heimat der Kindheit – ob als vertrauter Rückhalt, als Meer der Verlassenheit oder beengendes Korsett erlebt, – wird uns ungefragt in die Wiege gelegt. Sie entfaltet ihre beruhigende und kraftgebende oder auch bedrohliche und zermürbende Kraft manchmal ein Leben lang. Wie Kinder und Jugendliche sich immer weitere Kreise jenseits ihrer Kleinfamilie erschließen, wie sie sich in Nachbarschaft und Schule, Freizeit und Stadt neue Räume und Lebenswelten aneignen und sich beheimaten, ist eindrucksvoll belegt (vgl. z.B. Deinet 2014 und den Beitrag von Ulrich Deinet in diesem Band).

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Beheimatung im Erwachsenenalter 1: Die Grundüberzeugungen Aber wie beheimaten sich junge und ältere Erwachsene, wenn sie sich an einem neuen Ort niederlassen? Inspiriert vom Salutogenese-Konzept und auf der Grundlage ihrer eigenen Forschungen geht die Psychologin Beate Mitzscherlich (1997, 2001) von drei Kennzeichen einer geglückten Beheimatung aus: • • •

Sense of community: Das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, einem Milieu, einem gesellschaftlichen Umfeld, Sense of control: Die Überzeugung, etwas bewirken und ändern zu können, Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten zu haben, Sense of coherence: Die Überzeugung, auch (vielleicht gerade) an diesem Ort ein sinnvolles Leben zu führen, passend zum Lebensentwurf und Frucht passender Entscheidungen, die akzeptiert werden oder selbst getroffen wurden.

Beheimatung Im Erwachsenenalter 2: Die Aneignung öffentlichen Raums Über die psychologisch fundierten Grundüberzeugungen hinaus, die Beate Mitzscherlich als Voraussetzungen für eine gelungene Beheimatung betrachtet, bedeutet für mich eine gelungene Beheimatung auch die Aneignung von öffentlichem Raum. Die Frage „Wem gehört die Stadt?“ meint nicht nur „Wer darf wo wohnen?“, sondern auch: „Wer nutzt wie Straßen und Plätze, Parks und öffentliche Einrichtungen? Wer prägt das Straßenbild und wer muss sich verstecken? Wie sieht die selbstbewusste Ortsbezogenheit jenseits von Wohnung und Arbeitsplatz aus?“ Beheimatung alleine in der Privatwohnung oder in der Fabrik kann nicht geschehen. Aus diesem Grunde können sich auch Strafgefangene vielleicht noch im Gefängnis, aber nicht in der Stadt beheimaten, in der ihr Gefängnis liegt. Wo der Integrationsdiskurs zumindest alltagstheoretisch suggeriert: Gelungene Integration und Beheimatung ist, wenn ein zugezogener Mensch nicht (mehr) auffällt, möchte ich in Fortführung von Mitzscherlichs Kategorien den Satz wagen: Eine Stadt, die sich durch meinen Zuzug nicht verändert, kann nicht meine Heimat sein.

D IE OFFENEN A RME EINER S TADT | 83

D AS P ROJEKT Ein Lehr-Forschungsprojekt des Forschungsschwerpunkts „Beruf und Burnout-Prävention“ rekonstruiert in gemeinsamen Stadtspaziergängen mit älteren Zuwanderer*innen Strategien und Orte der Beheimatung in Städten des Rheinlands. In den 60er und 70er Jahren sind viele Menschen ins Rheinland zugewandert und haben sich in Städten und Stadtteilen beheimatet. Jenseits von Wohnung und Arbeitsstelle haben die Zuwanderer*innen Plätze und Wege, Läden und Cafés, Parks und Picknickplätze, Bahnhöfe und Fußballfelder für sich entdeckt, sich angeeignet und mitgestaltet. In komplexen Prozessen der Wechselwirkung haben die „offenen Arme“ der Stadt die Neuankömmlinge willkommen geheißen und die Neuankömmlinge ihrerseits diese Orte gestaltet und verändert. Mit „geschlossenen Türen“ hat die Stadt aber auch ihr abweisendes Gesicht gezeigt, versperrte Orte, die von den Neuankömmlingen ignoriert, respektiert, boykottiert oder lachend okkupiert wurden. Für das Projekt sprechen die Studierenden ältere Zuwander*innen der 60er und 70er Jahre an, die gemeinsam mit Freund*innen am Projekt teilnehmen. In flanierenden Stadtteilspaziergängen mit kleinen Gruppen von drei bis vier Personen werden Erinnerungen geweckt und Geschichten lebendig. Mindestens eine unserer Studierenden spricht die Kindheits- und Jugendsprache der Gruppe. Der teilnehmenden Gruppe werden die Fragestellungen des Projekts erläutert: „Wo außerhalb Ihrer Wohnung und außerhalb der Arbeitsstelle/Fabrik haben Sie sich in Ihrer Stadt/ Ihrem Stadtteil beheimatet?“ Beispiele werden genannt: „Wo haben Sie zum Beispiel eingekauft, Post erledigt, Freunde besucht, telefoniert, Landsleute und Kolleg*innen getroffen, Kaffee und Tee getrunken, sich erholt? Was waren Ihre Spazierwege, wo haben Sie Zeitungen besorgt, Feste gefeiert, sind religiös aktiv geworden... kurz: Wo haben Sie sich beheimatet?“ und: „Welche Türen waren eher verschlossen, wo wollten/konnten Sie nicht hingehen? Wie haben Sie das gelöst?“ Diese Fragen werden nicht in einem Interview im geschlossenen Raum gestellt, sondern der flanierende Stadtspaziergang begibt sich an genau die besprochenen Orte, die zu den Menschen sprechen.

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Künstlerische Forschung: Die Studierenden dokumentieren den Stadtspaziergang und die Beteiligten in einem Fotobuch oder Dokumentarfilm. Fotobücher und Filme halten dabei nicht nur die Orte und Beteiligten heute fest, sondern verwenden Archivmaterial aus den Erinnerungsfotos und Fotoalben der Beteiligten, die die ersten Jahre als Neuankömmlinge wieder lebendig werden lassen und symbolisch den Bogen von der Einreise bis heute schlagen. Je ein Exemplar der Fotobücher und DVDs gehen in den Besitz der Teilnehmenden über und sind auch für Kinder und Enkelkinder Zeugnis der Beheimatungsgeschichte.

L EBENSRÜCKSCHAU

UND

R ETROBEHEIMATUNG

In seinem Modell der lebenslangen Entwicklung beschreibt Erik Erikson Entwicklungsaufgaben verschiedener Lebensphasen. Menschen schauen nach der Phase der Voll-Erwerbstätigkeit zurück auf ihr Leben. Wenn sie enttäuscht sind und eine große Diskrepanz zwischen ihren Erwartungen und ihrer Biografie feststellen, können Verzweiflung, Lebensekel und Verstimmungen eintreten, was ich als „Lebens-Burnout“ bezeichnen möchte. Nach Erikson besteht die Aufgabe dieser Lebensphase darin, das gelebte Leben mit seinen Licht- und Schattenseiten anzunehmen, auf bewältigte und überstandene Herausforderungen stolz zu sein und das Gefühl zu entwickeln „Ich habe es so gut gemacht, wie mir möglich war.“ Der Stadtspaziergang erleichtert diesen Rückblick auf ein sinnvolles Leben („sense of coherence“), indem er von der ressourcenorientierten Fragestellung ausgeht: „Wie ist Beheimatung gelungen?“ Ganz im Sinne des Empowermentgedankens (vgl. Herriger 2014) schärft der Spaziergang bei den Teilnehmenden den Blick für die eigenen Kompetenzen, den Mut und Erfindungsreichtum der Anfangsjahre und hilft zukünftige Erzählungen zu strukturieren. Erinnerung besteht nämlich nicht aus objektiven Daten, die aus einem Gedächtniscontainer abgerufen werden, sondern wird als GegenwartsResümee im Licht aktueller Ereignisse ständig neu formuliert (vgl. Firat in diesem Band). Die Fragen des Stadtspazierganges aus der lösungs- und ressourcenorientierten Beratung mit ihrem Fokus auf gelingenden Lebenspassagen und -strategien und einem Leitsatz „Es ist nie zu spät eine glückliche Kindheit zu haben“ (Furmann 2005) unterstützen einen ressourcenorientier-

D IE OFFENEN A RME EINER S TADT | 85

ten Rückblick und leisten ihren Beitrag zu einer „Retro-Beheimatung“. Dieser Begriff erscheint mir passend, um die ständige Neuschöpfung von Heimat in der Erinnerung zu beschreiben. Wie eine Retrospektive das Lebenswerk einer Malerin oder eines Filmemachers neu betrachten und einordnen lässt, so gibt auch die Retro-Beheimatung eine neue Perspektive auf Lebenslauf und Heimat Stadt. Die Stadt spricht zu den Menschen bei der „Schatzsuche“ (Herriger in diesem Band) nach Beheimatung. Die besuchten Orte werden neu verankert in einheitliche und sinnvolle Erzählungen der Lebensgeschichte(n).

Zusätzlich hat der Stadtspaziergang auch eine aneignend-politische Dimension: Die Forschungsgruppe ist im öffentlichen Raum präsent und bekräftigt mimetisch die Aneignung durch die Zuwander*innen. Bewegen, Zei-

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gen, Diskutieren, Erinnern – all dies verändert die Teilnehmenden, die später ihren Enkelkindern Orte ihrer Beheimatung präsentieren und vermitteln können (vgl. Özmen in diesem Band). „Hier habe ich mich beheimatet, dies ist mir eine meiner Heimaten geworden“, lautet das selbstbewusste Resümee der Teilnehmer*innen unserer Stadtspaziergänge.

L ITERATUR Deinet, Ulrich (2014): Vom Aneignungskonzept zur Activity Theory. Transfer des tätigkeitsorientierten Aneignungskonzepts der kulturhistorischen Schule auf heutige Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen. socialnet Materialien 197. Erikson, Erik (1973/2003): Identität und Lebenszyklus. Berlin: Suhrkamp. Furman, Ben (2005): Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben. Dortmund: Borgmann. Herriger, Norbert (2014): Empowerment in der Sozialen Arbeit. Stuttgart: Kohlhammer. Mitzscherlich, Beate (1997): Heimat ist etwas, was ich mache: Eine psychologische Untersuchung zum individuellen Prozess von Beheimatung. Herbolzheim: Centaurus. Mitzscherlich, Beate (2001): Die psychologische Notwendigkeit von Beheimatung. In: Bucher & Gutenthaler: Heimat in einer globalisierten Welt. Wien: Öbv et hpt, S. 94-109.

Biografiearbeit und Stadtspaziergang N URDAGÜL Ö ZMEN

Seit Anbeginn der Zeit hinterlassen Menschen auf unterschiedliche Art und Weise Spuren ihrer Existenz. Höhlenmalereien, die ersten Schriften und Monumente, wie die Pyramiden der Ägypter sowie die Medien unserer Moderne, wie Fotografien und Videoaufnahmen verdeutlichen, dass der Mensch seit jeher danach strebt, sein Dasein, seine Erfahrungen, kurzum seine Biografie zu dokumentieren. Auf diese Weise ist es möglich, Anderen über die eigene begrenzte Lebenszeit hinaus in Erinnerung zu bleiben und der Angst vor dem Vergessen der eigenen Existenz entgegenzuwirken. Während früher Lebensgeschichten älterer Verwandten mündlich weiter gegeben wurden, waren schriftliche Biografien ausschließlich für den Lebensverlauf berühmter und bedeutenderer Personen reserviert. Heutzutage findet Biografiearbeit in diversen Arbeitsfeldern mit unterschiedlichen Altersgruppen ihre Anwendung. In der Literatur sind unterschiedliche Definitionen von Biografiearbeit vorzufinden. Im Rahmen dieses Beitrags wird die Definition der Erziehungswissenschaftlerin Ingrid Miethe zugrundegelegt: Biografiearbeit ist eine „strukturierte Form der Selbstreflexion in einem professionellen Setting, in dem an und mit der Biografie gearbeitet wird“ (Miethe 2011, 24). Biografisches Arbeiten zielt darauf ab, Erlebnisse und Erfahrungen in sinnvoller Weise miteinander zu verknüpfen, um Erfolge und Niederlagen als Elemente des eigenen Lebens anzunehmen und in das gegenwertige Leben zu integrieren (vgl. Hözle 2011, 47). Das Erzählen ermöglicht, die eigene Biografie in einem gesellschaftlichen und historischen Zusammenhang zu sehen, „sich sinnhaft als Bestand-

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teil eines Kontinuums zu definieren“ (Ruhe 1998, 134), sich in das gesellschaftliche Leben zu integrieren und sich als einen Teil der Gesellschaft wahrzunehmen (Miethe 2011, 22). Dies wiederum fördert ein tieferes Verständnis für das eigene Handeln. Die Aufarbeitung der Biografie kann zudem Sicherheit und Vertrauen bieten und zur Stärkung des Selbstvertrauens beitragen. Ein weiteres Ziel der Biografiearbeit ist die Aktivierung von Ressourcen. Der Rückblick auf das eigen Leben ermöglicht den Menschen, sich zu erinnern, wie er mit schwierigen Situationen umgegangen ist und welche Ressourcen er dafür verwendet hat. Diese Ressourcen sind in widrigen, und schwierigen Lebenssituationen auch aktuell „wichtige Quellen einer konstruktiven Lebensbewältigung“ (Hölzle 2011, 77).

S TADTSPAZIERGANG

ALS

B IOGRAFIEARBEIT

Biografiearbeit hat in jüngster Zeit zunehmend an Bedeutung gewonnen. Vor allem in der Altenarbeit stellt sie einen immer wichtiger werdenden Aspekt dar. Sie hilft, den Menschen in seiner Gesamtheit zu verstehen und mit Blick auf seine Biografie Verhalten und Einstellungen nachzuvollziehen. Biografiearbeit bedient sich einer breiten Fülle von methodischen Ansätzen, die in verschiedenen wissenschaftlichen Feldern (z.B. in der Therapie, Pädagogik und Soziologie) entwickelt wurden. Eine neue Möglichkeit mit Menschen biografisch zu arbeiten bietet der ressourcenorientierte Stadtspaziergang. Dieser wird zurzeit innerhalb eines Projekts des Forschungsschwerpunkts Burnout-Prävention der Hochschule Düsseldorf unter der Leitung von Lilo Schmitz durchgeführt. Das Projekt findet in Gruppen statt. Eine Gruppe besteht aus ein bis zwei Studierenden, die an dem Projekt mitarbeiten und aus drei bis vier älteren Personen, die in den 60er und 70er Jahren in das Rheinland eingewandert sind. Gegenstand der ressourcenorientierten Biografiearbeit ist die Zeit der Einwanderung. Gemeinsam werden in flanierenden Stadtspaziergängen Strategien und Orte der (Neu-)Beheimatung rekonstruiert. Dabei wird den Fragen nachgegangen, wie sich die Menschen in einem neuen Ort beheimatet haben und

B IOGRAFIEARBEIT

UND

S TADTSPAZIERGANG | 89

wie sie nach der Erwerbsphase kompetenz- und ressourcenorientiert auf ihr bisheriges Leben zurückblicken, ohne in ein „Lebens-Burnout“ (vgl. Schmitz in diesem Band) zu verfallen. Als „Lebens-Burnout“ bezeichnet Schmitz die anhaltende Frustration und den Missmut, der aus der Diskrepanz zwischen den Lebensplänen und -erwartungen einerseits und dem tatsächlichen Lebensverlauf und der -realität andererseits entsteht. Mit der Intention, eine Antwort auf die zentrale Fragestellung nach den Orten der individuellen Beheimatung zu finden, wird den teilnehmenden Gruppen die folgende Frage gestellt: •

„Wo außerhalb ihrer Wohnung und außerhalb der Arbeitsstelle haben Sie sich in Ihrer Stadt beheimatet?“

Kommt wenig Resonanz, können folgende Impulsfragen zusätzlich gestellt werden: •

• •

„Wo haben sie eingekauft, die Post erledigt, Freunde besucht, telefoniert, Landsleute und KollegInnen getroffen, Kaffee und Tee getrunken, sich erholt?“ „Was waren Ihre Spazierwege? Wo haben Sie Zeitungen besorgt, Feste gefeiert, sind religiös aktiv geworden?“ „Welche Türen waren eher verschlossen? Wo wollten/konnten Sie nicht hingehen? Wie haben Sie das gegebenenfalls gelöst?“

Diese Fragen bringen die Gruppe zu den Orten und Plätzen, die die EinwandererInnen für sich entdeckt, sich angeeignet und mitgestaltet haben. So werden Orte, wie z.B. Straßen, Wege, Läden, Cafés, Parks, Bahnhöfe, Fußballfelder, Picknick- und Spielplätze mit der Gruppe besichtigt. Mit der Aufnahme der Umgebungsreize (Gerüche, Geräusche, Berührungen, Geschmack, Gesichter, der Gebäude, Beschaffenheit der Gegend) werden im Menschen vergessen geglaubte Geschichten lebendig und Erinnerungen wach. Gleichzeitig werden die Orte in einheitliche und sinnvolle Erzählungen der Lebensgeschichten neu verankert.

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B IOGRAFIEARBEIT

UND

S TADTSPAZIERGANG | 91

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Durch die Form des Gruppeninterviews werden Gemeinsamkeiten betont und Prozesse der Resolidarisierung angestoßen, obwohl die vor mehr als 40 Jahren eingewanderten Personen sich inzwischen ganz unterschiedlich entwickelt haben. Anders als bei einem Interview in einem geschlossenen Raum wird durch den Stadtspaziergang die Zugehörigkeit der EinwanderInnen betont. Sie sind im öffentlichen Raum präsent und zeigen, dass sie dazugehören und dass dies „ihre“ Stadt ist. Denn wie jeder Mensch griffen auch die EinwandererInnen in die Umgebung ein, veränderten und gestalteten sie um und schufen damit eine andere Stadt, die es ohne sie so nicht geben würde. Die Stadtspaziergänge werden in einem Fotobuch dokumentiert. Hierfür werden die EinwanderInnen an den Orten und Plätzen, die sie für sich entdeckt, verändert und gestaltet haben, fotografiert. Zusätzlich werden diese Fotobücher mit fotografischem Archivmaterial aus den 60er und 70er Jahren und mit Fotos aus der Einwanderungszeit aus den privaten Fotoalben der Beteiligten ergänzt. Jeder Teilnehmer erhält ein Exemplar der Fotobücher. Somit sind die Fotobücher ein Zeugnis der Beheimatungsgeschichte der EinwandererInnen, die auch an die folgenden Generationen weitergegeben werden können.

S TADTSPAZIERGANG DER I CH -I NTEGRITÄT

ZUR

U NTERSTÜTZUNG

Der Psychoanalytiker und Begründer des Stufenmodells der psychosozialen Entwicklung Erik Erikson beschreibt in seinem Werk acht zentrale Konflikte, denen sich der Mensch in seinem Leben zwangsläufig stellt und die sukzessiv eine wesentliche Prägung seines Charakters zur Folge haben (epigenetisches Prinzip). Jede Stufe beinhaltet phasenspezifische Entwicklungsaufgaben, die erfolgreich zu bewältigen sind. Erikson bezeichnet diese Phasen mit jeweils zwei sich kontrastierenden Begriffen. Die Entwicklungsaufgabe der 8. und letzten Stufe bezeichnet Erikson als „Ich-Integrität vs. Verzweiflung“. Diese Phase umfasst das reife Erwachsenenalter bis zum Tode. In dieser letzten Lebensphase besteht die Aufgabe darin, eine gesunde „Ich-Integrität“ zu entwickeln. Zur Beschreibung dieses seelischen Zustandes konstatiert Erikson Bestandteile, wie die

B IOGRAFIEARBEIT

UND

S TADTSPAZIERGANG | 93

„wachsende Sicherheit des Ichs hinsichtlich seiner natürlichen Neigung zu Ordnung und Sinnerfülltheit“ (Erikson 1971, 263) oder die „Hinnahme dieses unseres einmaligen und einzigartigen Lebensweges als etwas Notwendigem und Unersetzlichem“ (ebd.). Es geht also darum, „die Einmaligkeit und Endlichkeit des Daseins zu akzeptieren und dem eigenen Lebensweg eine Abrundung zu geben, d.h. aus den persönlichen Daseinserfahrungen ein Gefühl individueller Ganzheit und Sinnhaftigkeit abzuleiten“ (Conzen 1990, 268). Gelingt diese Entwicklungsaufgabe nicht, kann daraus Verzweiflung und Lebensüberdruss resultieren. Der ressourcenorientierte Stadtspaziergang kann dabei präventiv wirken und bei der Bewältigung dieser Entwicklungsaufgabe unterstützen. Dieser kann beispielsweise mit den (Enkel-)Kindern durchgeführt werden. In flanierenden Stadtspaziergängen können Ältere auf ihr Leben zurückblicken und den (Enkel-)Kindern über ihr Leben erzählen. Dabei rufen Orte, Plätze und Gebäude vergessen geglaubte Erinnerungen wieder hervor und helfen dabei, die Erzählungen zu strukturieren: Hier haben wir ein Picknick gemacht; Hier habe ich mein Kind zum Schaukeln gebracht; Hier sind wir spazieren gegangen; An diesem Ort habe ich zum ersten Mal … Sinnvoll ist es, während des Stadtspaziergangs zu fotografieren und daraus ein Fotobuch zu erstellen. Diese Fotobücher können eine stimmige Verbundenheit mit dem eigenen Leben fördern. Der biografisch-ressourcenorientierte Stadtspaziergang unterstützt die Menschen darin, sich mit ihrem bisherigen Leben auseinanderzusetzen und bei der versöhnenden Selbstannäherung. Er hilft Menschen auf das eigene Leben zurückzuschauen und dabei die Lebensabschnitte und -erfahrungen sinnvoll miteinander zu verknüpfen. So wird es leichter, das gelebte Leben mit seinen positiven und negativen Seiten anzunehmen, auf bewältigte und überstandene Herausforderungen stolz zu sein und infolge dessen das Leben als sinnvoll zu erleben. Den Blick auf die biografisch erworbenen Kompetenzen zu lenken entspricht auch Konzepten der Resilienzförderung, der Salutogenese und dem Empowerment (vgl. Herriger in diesem Band). Mit dieser Rückschau gelingt vielleicht der Versuch sich am Ende des Lebens mit seinem Schicksal auszusöhnen und die Diskrepanz, die zwischen den Hoffnungen der Jugend und der Realität des Alters liegt, aufzu-

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heben. Daraus kann neue Lebenskraft, Freude am Leben und Zuversicht zur nächsten Generation entstehen.

S TADTSPAZIERGANG DER G ENERATIONEN

ALS

B RÜCKE

Der biografische Stadtspaziergang ist nicht nur für Ältere nützlich, sondern auch für die (Enkel-)Kinder/Nachkommen. Diese Orte, die für die (Enkel-) Kinder zuvor vermutlich nur Orte ohne jegliche Bedeutung waren, gewinnen durch die Geschichten der (Groß-)Eltern plötzlich an Relevanz. Sie geben den Kindern, in einer immer unübersichtlich werdenden Welt, Orientierung und Verortung und zeigen deren Wurzeln auf. Diese Orte werden später zu den (Enkel-)Kindern „sprechen“ und sie der erzählten Geschichten gedenken lassen, während mit der Erinnerung an den gemeinsamen Stadtspaziergang und den dabei empfundenen Gefühlen auch gleichzeitig die Emotionen gegenüber den (Groß-)Eltern mitschwingen. Vermutlich werden sie diese Geschichten wie auch die Fotobücher an die eigenen Kinder weitergeben.

L ITERATUR Conzen, Peter (1990): Erik H. Erikson und die Psychoanalyse. Systematische Gesamtdarstellung seiner theoretischen und klinischen Positionen. Heidelberg: Asanger. Erikson, Erik H. (1971): Kindheit und Gesellschaft. 4. Auflage. Stuttgart: Ernst Klett. Hölzle, Christina (2011): Gegenstand und Funktion von Biografiearbeit im Kontext Sozialer Arbeit. In Hölzle, C. & Jansen, I. (Hg.), Ressourcenorientierte Biografiearbeit. Grundlagen – Zielgruppen – Kreative Methoden. 2., durchges. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 31-54, S. 71-87. Miethe, Ingrid (2011): Biografiearbeit. Lehr- und Handbuch für Studium und Praxis. Weinheim und München: Juventa.

Zwischen Analyse und Aktion Methodologische Verortungen und praktische Einsichten sozialräumlicher Handlungsforschung mit Älteren C HRISTIAN B LECK & A NNE VAN R IESSEN „Man geht jetzt mit anderen Augen durch die Straßen nach dem Projekt.“ „Immer nur Berichte schreiben, hilft doch nix! Wir müssen den Leuten auf die Zehen treten […]“

Solche und ähnliche Aussagen (vgl. hierzu Bleck 2012, Wagner 2015) hört man immer wieder, wenn man mit Älteren partizipativ zu ‚ihrem‘ Quartier forscht. Sie bringen einerseits zum Ausdruck, dass sozialräumliche Handlungsforschung die Beteiligten anregt, Gegebenheiten und Nutzungsweisen in ihrem Wohnumfeld (neu) zu reflektieren, die sonst ‚im Alltäglichen‘ offenbar nicht (mehr) beachtet werden. Andererseits verweisen sie auf unmittelbar daran anknüpfende Motivationen der ‚realen‘ Mitwirkung und Mitgestaltung im Wohnquartier. So ist sozialräumliche Forschung, die in offenen Erhebungsformen mit den Bewohner_innen über ihre Nutzungen, Bedürfnisse und Erfahrungen im Quartier spricht und das Quartier mit ihnen gemeinsam ‚in ihrem Feld‘ analysiert, nicht nur räumlich, sondern auch inhaltlich nah an den Menschen und ihrer Lebenswelt. Dabei mag der Anspruch, auch Veränderungen im Quartier zu bewirken und sich selbst dafür zu engagieren, bei älteren Menschen stärker ausgeprägt sein als bei anderen Altersgruppen, da das Wohnumfeld im Alter räumlich, infrastrukturell, so-

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zial und symbolisch an Bedeutung gewinnt sowie mehr biografische und zeitliche Ressourcen für Engagement zur Verfügung stehen. Dieses Bedürfnis, nach der Analyse Aktionen folgen zu lassen, kollidiert nicht selten mit den beschränkten Möglichkeiten und abweichenden Handlungsrationalitäten von Forschungsprojekten, die zeitlich und personell begrenzt sind, sowie primär die Seite der ‚Analyse‘, aber weniger die der ‚Aktion‘ sehen und kennen. Dieses (Spannungs-)Verhältnis von Analyse und Aktion, das nach unseren Erfahrungen für eine sozialräumliche Handlungsforschung mit Älteren besonders charakteristisch ist, möchten wir in diesem Beitrag auf Basis unserer Erfahrung in der Anwendung von sozialräumlichen Analyse- und Beteiligungsmethoden im Forschungsprojekt ‚Soziale Ressourcen für altersgerechte Quartiere (SORAQ)‘ anhand der folgenden Gliederungspunkte in den Blick nehmen: (1) Bedeutung des Quartiers in der ‚alternden Gesellschaft‘ und Sozialen Arbeit mit Älteren (2) Hintergründe zum Forschungsprojekt ‚Soziale Ressourcen altersgerechter Quartiere (SORAQ)‘ (3) Methodologische Bezüge sozialräumlicher Handlungsforschung (4) Ausgewählte Methoden sozialräumlicher Handlungsforschung (5) Erfahrungen mit Übergängen zwischen Analyse und Aktion

(1) B EDEUTUNG DES Q UARTIERS IN DER ‚ ALTERNDEN G ESELLSCHAFT ‘ UND S OZIALEN ARBEIT MIT ÄLTEREN Angesichts der demografisch und sozialstrukturell weiter absehbaren Veränderungen unserer Gesellschaft (u.a. steigender Anteil älterer und alter Menschen, Zuwachs an Hilfs- und Pflegebedürftigkeit ebenso wie die Abnahme familiärer Unterstützungsressourcen und Pluralisierung des Alters), setzt sich in den letzten Jahren in Politik und Wissenschaft zunehmend die Erkenntnis durch, dass den damit einhergehenden Herausforderungen vor allem vor Ort in den Stadt- und Ortsteilen und im unmittelbaren Wohnumfeld der Menschen zu begegnen ist. Es geht hierbei um zukunftsfähige Quartierskonzepte, die Selbstbestimmung und soziale Teilhabe im Alter

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fördern bzw. erhalten sollen und dabei u.a. um barrierefreie/-arme Wohnungen und Wohnumgebungen, wohnortnahe Einkaufsmöglichkeiten, gesundheitliche und pflegerische Unterstützungsangebote ebenso wie um niedrigschwellige, am Gemeinwesen orientierte soziale Infrastrukturen wie Nachbarschaftshilfen, soziale Dienste und Beratungsstellen (vgl. z.B. BAGSO 2014; MGEPA NRW 2013). Nicht zuletzt sind damit auch neue Anforderungen an die Soziale Arbeit mit älteren und alten Menschen verbunden, die sich – durch ihre breiten konzeptionellen Grundlagen und Erfahrungen in der Gemeinwesen-, Stadtteil- oder Sozialraumarbeit – mit besonderer Perspektive und Kompetenz Fragen und Gestaltungsaufgaben eines nicht nur alters-, sondern generationengerechten, inklusiven und solidarischen Quartiers widmen kann und sollte. So lässt sich mit Böhnisch und Schroer (2011, S. 111) festhalten, dass sich ein Zugang für Soziale Arbeit dort anbietet, wo es „um die Wiederaneignung des Raumes im Alter als Wiederaneignung von Gesellschaft geht.“ Entsprechend des enormen Bedeutungszuwachses der Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit in den letzten 15 bis 20 Jahren orientiert sich Soziale Arbeit auch in der Arbeit mit älteren und alten Menschen zunehmend sozialräumlich und wird in Zukunft auch Exklusionsprozesse im Alter stärker sozialräumlich in den Blick nehmen (Böhnisch & Schroer 2011, S. 111). Es ist deshalb nur konsequent, wenn die in der Kinder- und Jugendarbeit erprobten sozialräumlichen Methoden (z.B. Deinet & Krisch 2003) nun auch Gegenstand von Forschungsstudien und Praxisprojekten mit Älteren werden und ausdrücklich lebensweltliche Perspektiven und sozialräumliche Nutzungen im Alter in den Fokus geraten (z.B. Knopp 2009). Ähnlich wie in der Phase der Kindheit und Jugend kommt im Alter den Nutzungsmöglichkeiten und Aufenthaltsqualitäten im Nahräumlichen besondere Bedeutung zu. Während Kinder und jüngere Jugendliche im günstigen Fall ihre Räume ausweiten und auch raumüberschreitend agieren, scheint es auf den ersten Blick so zu sein, dass sich dies im Prozess des Älterwerdens genau entgegengesetzt entwickelt. Dass dies nicht so sein muss, sondern dass hier große Aneignungspotenziale bei älteren Menschen vorhanden sind, die durch eine entsprechende Unterstützung wirksam werden können, zeigen Resultate sozialraumbezogener Forschungen mit Älteren (vgl. z.B. die Projektdarstellungen in van Rießen, Bleck & Knopp 2015).

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(2) H INTERGRÜNDE ZUM F ORSCHUNGSPROJEKT ‚S OZIALE R ESSOURCEN ALTERSGERECHTER Q UARTIERE (SORAQ)‘ Das Forschungsprojekt SORAQ hat in sieben kriteriengeleitet ausgewählten Düsseldorfer Stadtgebieten untersucht, welche sozialen Ressourcen (z.B. soziale Netzwerke und Treffpunkte) sowie infrastrukturellen Angebote und Voraussetzungen (z.B. Einkaufsmöglichkeiten und räumlich-bauliche Strukturen) für ältere Menschen in ihren Wohnquartieren von besonderer Bedeutung sind. Hierfür wurden – in einem stadtteildifferenzierten Design, das mit unterschiedlichen inhaltlichen und methodischen Ausrichtungen die Bedarfe der ausgewählten Stadtteile berücksichtigte – qualitative Interviews mit Expert_innen bzw. Schlüsselpersonen, sozialräumliche Workshops und quantitative Befragungen mit älteren Bürger_innen durchgeführt (siehe hierzu z.B. Bleck, van Rießen & Knopp 2013; Bleck, van Rießen & Schlee 2015). Der besondere Ansatzpunkt war, dass SORAQ soziale Ressourcen aus sozialräumlicher Perspektive und unter Einbindung der älteren Bewohnerschaft in den Blick genommen hat. Das Forschungsprojekt hat hierbei somit – mit dem Schwerpunkt auf qualitativen und partizipativen Erhebungszugängen – Strukturen und Gelegenheiten im Quartier untersucht, die besondere Möglichkeiten der Begegnung und Kommunikation für ältere Menschen bieten, dass also speziell die Optionen eines Quartiers zur Initiierung und Bereitstellung von Sozialkontakten von Interesse waren (siehe hierzu im Näheren: Bleck, van Rießen & Schlee 2015). Das Forschungsprojekt SORAQ wurde von August 2011 bis Juli 2014 am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Fachhochschule Düsseldorf durchgeführt und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Förderlinie ‚Soziale Innovationen für Lebensqualität im Alter (SILQUA)‘ gefördert. Kooperationspartner des Projektes SORAQ waren die Stadt Düsseldorf, insbesondere durch die Beteiligung des Amtes für soziale Sicherung und Integration sowie des Wohnungsamtes.

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(3) M ETHODOLOGISCHE B EZÜGE H ANDLUNGSFORSCHUNG

SOZIALRÄUMLICHER

In diesem Beitrag sprechen wir von ‚sozialräumlicher Handlungsforschung‘, wobei wir mit letzterem bewusst an den von Kurt Lewin geprägten Begriff anknüpfen, diesen aber nicht ausschließlich im Sinne seiner „action research“ (Lewin 1946) verstehen. Dabei knüpft unser erweitertes Verständnis von Handlungsforschung an verschiedene Überlegungen und Gegebenheiten an: In dem von uns dargestellten sozialräumlichen Forschungsprojekt haben wir ausdrücklich partizipativ feld- und praxisnah mit Älteren Handeln erforscht und damit Anregungen und Anstöße für Veränderungen vor Ort gegeben. Einige Aspekte der praktischen Umsetzung können dann aber sowohl aus Perspektive ‚der‘ Handlungsforschung als auch angesichts verschiedener theoretischer und methodischer Traditionslinien in der Analyse von sozialen Räumen (selbstkritisch) betrachtet werden (vgl. z.B. Riege & Schubert 2005, S. 7ff.). So können wir in SORAQ nur bedingt von einem gemeinsamen Erkenntnisinteresse als „dritte gemeinsame Sache“ (Bader & Ludewig 2006, S. 111, zit. n. May 2008, S. 224) ausgehen, da der entsprechende Untersuchungsgegenstand – z.B. ‚Soziale Ressourcen des Quartiers‘ – primär im Vorfeld von uns formuliert worden ist, während Handlungsforschung sich an einer gemeinsamen Problem- und Zieldefinition orientiert. Auch nutzt unser Forschungsprojekt nicht nur qualitative, sondern auch quantitative Forschungszugänge (siehe hierzu z.B. Bleck, van Rießen & Schlee 2015), die im Rahmen der Handlungs- bzw. Aktionsforschung ausdrücklich kritisch betrachtet werden (vgl. z.B. Mayring 1999, S. 36). Unser Verständnis von Handlungsforschung berücksichtigt aber durchaus die gesellschaftliche und politische Einbettung sozialer Probleme, die – so auch in unserem Forschungsprojekt – Barrieren darstellen und Grenzen setzen, wenn sich beispielsweise spezifische Wünsche und Bedarfe der Älteren nicht aufgrund von kommunalen Planungen, Gesetzen u.a. umsetzen lassen oder aufgrund gesellschaftlicher Bedingungen überhaupt erst entstanden sind. Ferner haben wir zentrale Prämissen der Handlungsforschung berücksichtigt, wenn wir den Älteren einen möglichst weitgehenden Einblick in die Voraussetzungen und Vorgehensweisen von SORAQ gegeben, die Forschung ‚gemeinsam‘ durchgeführt und insbesondere auch gemein-

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sam die Ergebnisse diskutiert haben. Unser Verständnis von sozialräumlicher Handlungsforschung zielt somit auch explizit darauf, einerseits auf die sozialräumliche Praxis gerichtetes Wissen zu generieren und andererseits die Forschung auch an den sozialraumbezogenen subjektiven Perspektiven, Bedürfnissen und Interessen der Beteiligten auszurichten. Mit dieser Erläuterung sollte die für diesen Beitrag entscheidende methodologische Ausrichtung deutlich werden. Gleichwohl darf dabei nicht übersehen werden, dass diese begriffliche und konzeptionelle Verbindung von ‚sozialräumlich‘ und ‚Handlungsforschung‘ weitere methodologische Verortungen erlaubt, die wir ebenfalls mitdenken, hier aber nur kurz benennen möchten. Sozialräumliche Handlungsforschung entspricht in unserem Verständnis ausdrücklich auch dem Stil der ‚Partizipativen Forschung‘ (z.B. Bergold & Thomas 2010). So ging es SORAQ nicht ‚nur’ darum, ältere Bürger_innen eines Quartiers zu beteiligen; vielmehr wurden sie als Expert_innen ihrer Lebenswelt in den Forschungsprozess einbezogen (van Rießen & Bleck 2014). Sozialräumliche Handlungsforschung hat auch Anteile fokussierter ethnografischer Feldforschung, wie sie beispielsweise Knoblauch (2001, S. 125ff.) beschreibt.

(4) AUSGEWÄHLTE M ETHODEN H ANDLUNGSFORSCHUNG

SOZIALRÄUMLICHER

Als zentraler methodischer Zugang, der den partizipativen, feld- und praxisnahen Forschungsstil in SORAQ ermöglichte, dienten verschiedene sozialräumliche Analyse- und Beteiligungsmethoden. Diese wurden im Rahmen von mehrtägigen Workshop-Reihen mit älteren Bürger_innen (Gruppengröße jeweils 15 bis 20 Teilnehmende) in den ausgewählten Stadtgebieten sowie in Zusammenarbeit mit den dort verorteten Begegnungszentren „zentren plus“ durchgeführt. Dabei wurden bereits aus anderen Handlungsfeldern – insbesondere der Kinder- und Jugendarbeit – bekannte sozialräumliche Methoden (vgl. z.B. Deinet & Krisch 2003; Deinet 2009; Früchtel, Budde & Cyprian 2010) für die Arbeit mit Älteren weiterentwickelt, erprobt und bewertet. Angewendet haben wir in SORAQ die Nadelmethode, Stadtteilbegehung und Subjektive Landkarte. Darüber hinaus wurden neue sozialräumliche Ansätze – die Individuelle Infrastrukturtabelle und das Strukturierte Sozialraumtagebuch – gemäß der im Rahmen des Forschungs-

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projektes interessierenden Fragestellungen für die Adressat_innengruppe der Älteren entwickelt und ebenfalls angewendet und ausgewertet. In der (Weiter-)Entwicklung der sozialräumlichen Methoden berücksichtigte SORAQ zudem erste Überlegungen und Erfahrungen zur Nutzung dieser Methoden für die Arbeit mit älteren und alten Menschen (vgl. z.B. Knopp & Deinet 2006; Knopp 2009). 4.1 Nadelmethode Mit der Nadelmethode (vgl. dazu z.B. Deinet 2009, S. 72 ff.; Bleck, van Rießen & Knopp 2013, S. 10ff.) werden besondere Orte im Stadtteil aus Sicht der Zielgruppe auf einem Stadtplanausschnitt mit Nadeln festgehalten. Im Rahmen von SORAQ wurden die älteren Bürger_innen hierfür gefragt, 1.) an welchen Orten im Stadtteil sie sich gerne aufhalten, 2.) an welchen Orten sie sich ungerne aufhalten sowie 3.) wo aus ihrer Sicht im Stadtteil Treffpunkte und Orte der Begegnung und Kommunikation sind. Diese drei Fragen wurden von den Teilnehmenden zunächst in Kleingruppen besprochen und danach die Ergebnisse in der Gesamtgruppe zusammengetragen, besprochen und auf einem Stadtplanausschnitt mit farbigen Nadeln markiert. Die Ergebnisse der Nadelmethode liegen nach unserer Erfahrung im Schwerpunkt bei den ‚nahen Themen‘ alltäglicher Erfahrungen Älterer im Quartier (Bleck, van Rießen & Knopp, 2013; Bleck, van Rießen & Schlee 2015), wozu insbesondere die Gegebenheiten (Ressourcen, Defizite und Bedarfe) im Quartier in Bezug auf ‚Mobilität‘ (z.B. fehlende Zebrastreifen oder Ampeln, zu kurze Ampelschaltungen, Anbindung mit ÖPNV), ‚Nahversorgung‘ (z.B. Lebensmittelläden, Bäckerei, Drogerie, Apotheke) sowie ‚Naherholung‘ (z.B. Parkanlagen, ‚City-Plätze‘) zählen. Gleichermaßen gibt die Nadelmethode durch die Visualisierung mit dem Stadtplanausschnitt einen guten Zugang zum Quartier aus der ‚Vogelperspektive‘, vermittelt dabei einen ersten Überblick zu relevanten Aufenthaltsorten und lässt mitunter bestimmte Quartiersstrukturen der Nutzung oder Meidung öffentlicher Räume erkennen.

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4.2 Stadtteilbegehung Stadtteilbegehungen (vgl. dazu z.B. Deinet 2009, S. 66ff; sowie Bleck, van Rießen & Knopp 2013, S. 10ff.) hatten in SORAQ das Ziel, die in der Nadelmethode festgehaltenen Orte noch einmal ‚real‘ im Stadtteil zu besichtigen und überprüfen sowie ergänzende Auffälligkeiten im Quartier festzuhalten. Hierfür wurden zuvor eine geeignete Strecke mit den Teilnehmenden abgestimmt und nach der Begehung die Ergebnisse, Erfahrungen und Besonderheiten der Begehung reflektiert. Die Stadtteilbegehung kann wohl (mit der Nadelmethode) als die am häufigsten angewendete sozialräumliche Methode bezeichnet werden, die in letzter Zeit auch häufiger für Methoden der Quartiersanalyse mit Älteren genannt wird (z.B. als ‚Quartiersspaziergang/-begehung‘ im Modulkasten des Landesbüros altengerechte Quartiere.NRW). Stadtteilbegehung (Begehung in Düsseldorf-Flingern)

Nach unseren Erfahrungen ergibt sich durch eine Begehung vor Ort eine unmittelbare sowie ‚sinnliche‘ und damit oft auch vollständigere Erfassung der Gegebenheiten eines ausgewählten Gebietes. So treten hier nicht nur Barrieren im Verkehrsraum, sondern etwa auch Unterschiede zwischen lau-

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ten und leisen Straßen oder zwischen vermüllten und begrünten Plätzen besonders ins Bewusstsein, die teils zu neuen oder differenzierteren Bewertungen von relevanten Orten führen. 4.3 Subjektive Landkarten Mit subjektiven Landkarten werden die Teilnehmenden motiviert, eine persönliche Landkarte ‚ihres Quartiers‘ zu zeichnen oder zu malen (vgl. z.B. Früchtel, Budde & Cyprian 2010, S. 127; Deinet 2009, S. 75). Im Rahmen von SORAQ war von Interesse, mit welchen besonderen Orten und inhaltlichen Bezügen sowie über welche räumlichen Zusammenhänge ältere Menschen ihre subjektive Landkarte gestalten. Da sie dazu vom eigenen Zuhause als Startpunkt ausgehen sollten, konnte damit auch das individuelle Wohnumfeld Älterer qualitativ besonders in den Blick genommen werden, was wiederum durch eine daran anschließende Gruppendiskussion erfolgte. In Bezug auf die Ergebnisse erfolgt mit den subjektiven Landkarten gewissermaßen eine Zuspitzung auf die aus individueller Sicht wichtigsten Orte und Gegebenheiten eines Sozialraums. Im Vergleich der Einzelergebnisse zeigt sich dann wiederum als Gemeinsamkeit, dass insbesondere Möglichkeiten der Nahversorgung (‚Supermarkt‘), der Naherholung (‚Grünflächen bzw. Parks‘) und der Begegnung (‚Begegnungsstätte‘) in fast allen subjektiven Landkarten der Älteren berücksichtigt werden. 4.4 Individuelle Infrastrukturtabelle Die so genannte Individuelle Infrastrukturtabelle erhebt auf individueller Ebene, welche Infrastrukturbereiche von den Teilnehmenden im Quartier in welcher Häufigkeit genutzt werden. Dabei stellt die Individuelle Infrastrukturtabelle auf einem DIN-A3-Blatt eine Tabelle mit vier Spalten und Zeilen dar: In den Spalten werden die vier verschiedenen Infrastrukturbereiche (1. Einkauf und Versorgung, 2. Ausgehen, Essen und Trinken, 3. Bildung und Kultur sowie 4. Sport und Gesundheit) und in den Zeilen die Häufigkeitsangaben („mehrmals die Woche“, „mehrmals im Monat“, „mehrmals im Jahr“ und „seltener“) der Nutzung unterschieden. Diese Infrastrukturbereiche waren in SORAQ von Interesse, da sie – die bisherigen Methoden ergänzende – Optionen der Begegnung im Quartier implizieren,

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deren Zugangsmöglichkeiten und -grenzen in den Workshops ebenfalls in Gruppendiskussionen besprochen wurden. Die Ergebnisse der Individuellen Infrastrukturtabelle zeigen durch ihre Fokussierung auf spezifische Nutzungsbereiche also auch thematisch entsprechend differenzierte Nutzungen im Quartier auf. Neben dem Nutzungsbereich und -ort wird aber auch die Nutzungshäufigkeit sichtbar. So wurde hier auch ersichtlich, dass die mit der Nadelmethode identifizierten ‚schönen Orte‘ und ‚Begegnungsorte‘ oftmals nicht denen entsprechen, die häufig von den Beteiligten genutzt werden. Ferner zeigt die Individuelle Infrastrukturtabelle auch Leerstellen im Quartier auf: Wenn beispielsweise deutlich wurde, dass kulturelle Angebote nur marginal im Quartier genutzt werden, verwies dies nicht selten darauf, dass die kulturellen Angebote des Quartiers den Beteiligten nicht bekannt oder zugänglich sind, oder dass kaum oder keine für die Beteiligten attraktiven kulturellen Angebote vorhanden waren. 4.5 Strukturierte Sozialraumtagebücher Die Strukturierten Sozialraumtagebücher – angelehnt an die Instrumente der Sozialraumtagebücher (vgl. Alisch & May o. J.) und der vorstrukturierten Tagebücher (vgl. Saup 1993) – haben das Ziel, strukturierte Informationen zu Bewegungs- und Nutzungsräumen sowie Kommunikationssituationen außerhalb der Wohnung zu erfassen. Dazu wurden ein DIN A4 großes Sozialraumtagebuch zusammen mit einer Einwegkamera, Kartenmaterial des Gebietes, Stiften und einer Tasche als Quartierserforschungsset für Senior_innen herausgegeben (QUESS) und die Teilnehmenden gebeten, über einen Zeitraum von 14 Tagen alle Aktivitäten außerhalb der eigenen Wohnung zu dokumentieren. Hierbei wurden die vorgegebenen Kategorien Anlass, Zeitraum, Ort und Ziel, Kontakte, Eindrücke und die genutzten Verkehrsmittel erfasst.

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QUESS – Quartiers-Erforschungs-Set für Senior_innen

In der Auswertung der Strukturierten Sozialraumtagebücher zeigt sich dann vor allem, dass alle alltäglichen Nutzungs- und Kommunikationsorte erfasst werden, auch jene, die bei den anderen Methoden nicht so sehr ‚im Bewusstsein‘ sind und dass damit unterschiedliche Nutzer_innentypen erkennbar werden. Ferner konnten auf Grundlage der Strukturierten Sozialraumtagebücher individuelle Bewegungsskizzen erstellt werden, die aufzeigen, wie groß der Radius der jeweiligen beteiligten Person ist. Darüber hinaus fördert das Strukturierte Sozialraumtagebuch die sozialräumliche Reflexion, da den Beteiligten durch die tägliche Dokumentation der Außenaktivitäten über einen längeren Zeitraum, subjektive Präferenzen und Nutzungen deutlich werden. Dies kann dazu führen, dass die Beteiligten positiv überrascht sind über ihre Aktivität und Vernetzung, aber auch dazu führen, dass den Beteiligten deutlich wird, dass sie kaum noch Kontakte im Quartier haben oder Angebote nutzen. Daher ist wichtig, dass auch das Strukturierte Sozialraumtagebuch letztendlich wieder in die Gesamtgruppe eingebunden wird, damit ein Raum entsteht, in dem die Resultate und Erfahrungen reflektiert werden können.

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(5) E RFAHRUNGEN MIT Ü BERGÄNGEN ANALYSE UND AKTION

ZWISCHEN

Nach dieser Erläuterung der sozialräumlichen Methoden als besondere Form sozialräumlicher Handlungsforschung möchten wir nun abschließend die eingangs angesprochenen Motivationen der Beteiligten, der Analyse Aktionen folgen zu lassen, exemplarisch akzentuieren. Denn im Verlauf aller sozialräumlichen Workshop-Reihen kamen verständlicherweise Fragen auf, was mit den Forschungsergebnissen geschieht. Nicht selten schien es so, als folgten die beteiligten Älteren Kurt Lewin’s vielzitierter Aussage: „Eine Forschung, die nichts anderes als Bücher hervorbringt, genügt nicht“ (Lewin 1953 zit. n. Popp & Thiel 2009, S. 185). So äußerte eine Gruppe Älterer den Bedarf, gemeinsam mit den Forscher_innen die Ergebnisse der Stadtbezirkskonferenz1 zu präsentieren. Damit verbunden nutzten sie gleichwohl die Möglichkeit eine weitergehende ‚Anschubfinanzierung‘ zu beantragen, um sich auch in Folge unter professioneller Begleitung mit ‚ihrem‘ Quartier auseinanderzusetzen und gemeinsam zu überlegen, welche Möglichkeiten bestehen, Bedarfe zielgerecht zu artikulieren und dann im Weiteren − hoffentlich − auch umzusetzen. Diese positive Erfahrung − das Engagement der Älteren wurde nicht nur gewürdigt, sondern auch finanziell unterstützt − regte die Gruppe an, weitere konkrete ‚Aktionen im Quartier‘ folgen zu lassen: So machten sie insbesondere auf fehlende (öffentliche) Aufenthaltsorte und -qualitäten im Quartier aufmerksam, indem sie beispielsweise eine öffentliche Parkanlage durch gezielte Aktionen ‚wiederbelebten‘ oder im Rahmen eines Sitzstreiks auf einer belebten Einkaufsstraße für ihre Belange demonstrierten. Diese ‚Aktionen im Quartier‘ − medienwirksam durch die Presse dokumentiert − führten dazu, dass einerseits das Thema ‚Aufenthaltsorte für Ältere im Quartier‘ bei allen Bewohner_innen in den Fokus rückte und die Älteren andererseits auch konkrete Forderungen durchsetzen konnten, indem sich beispielsweise die örtliche Werbegemeinschaft entschloss, finanzielle Mittel für eine bessere Aufenthaltsqualität, in Form von Bänken, bereitzustellen.

1

Die Stadtbezirkskonferenzen (bzw. ‚Stadtbezirkskonferenzen Seniorenarbeit‘) sind in Düsseldorf Gremien, die sich aus verschiedenen institutionellen Vertreter_innen des Stadtbezirks zusammensetzen, sich um die Belange Älterer ‚kümmern‘ und diese auch ‚vertreten‘.

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Auch wenn die hier geschilderten Aktionen besonders beindruckende Beispiele zeigen und ein solch intensives Engagement nicht als Regel verstanden werden kann, so haben wir im Zusammenhang mit den sozialräumlichen Workshop-Reihen immer wieder kleinere und größere Folgeaktionen von einzelnen oder mehreren Teilnehmenden erlebt, die das ‚besondere Verhältnis‘ von Analyse und Aktion in sozialräumlicher Handlungsforschung unterstreichen: Andere Beispiele wären das Anfertigen von Strickgraffiti zum Verschönern grauer City-Plätze oder der Einsatz für die Reparatur des Aufzugs am Stadtteilbahnhof. Darüber hinaus bestätigt uns der Austausch mit anderen partizipativ angelegten und sozialraumbezogenen Forschungsprojekten mit Älteren, dass die Übergänge zwischen Analyse und Aktion hier offenbar in besonderer Weise zu würdigen sind (vgl. z.B. Wagner 2015). Zusammenfassend wird deutlich, dass sozialräumliche Handlungsforschung also nicht nur die Möglichkeit bietet, über ihre Ergebnisse „lebenswelt- und praxisbasierte Evidenz“ (Bergold & Thomas 2010, S. 342) herzustellen, sondern auch die Chance ‚Möglichkeitsräume für Partizipation‘ erst zu öffnen, die auch und vielleicht gerade bei Älteren zu konsequenten Formen der Mitwirkung und -gestaltung im Quartier führen können (van Rießen & Bleck 2013). Die hier diskutierten sozialräumlichen Methoden bringen hierfür unseres Erachtens gute Voraussetzungen mit: Indem sie Ältere nicht ‚nur‘ beteiligen, sondern als Expert_innen ihres individuell konstruierten Sozialraums mitforschen lassen, fördern sie einen neuen „sozialräumlichen Blick“ (Deinet & Krisch 2003) bei den Beteiligten, der Motivation und Ideen zur Veränderung sozialräumlicher Bedingungen in eigenen Perspektiven anstoßen kann. Dies kann – wie in SORAQ auch erfahren – ferner zu Vernetzungen zwischen den beteiligten Älteren führen, die sich auch nach dem ‚Rückzug‘ der Forschung weiterhin treffen, verschiedene Projekte im Quartier umsetzen und damit auf dortige Lebensbedingungen mit ‚Eigensinn‘ Einfluss nehmen. Sozialräumliche Methoden, die den Weg zu solchen Partizipationsprozessen bereiten, orientieren sich an der Lebenswelt der Älteren und können dadurch (a) die Handlungsfähigkeit Älterer erweitern und (b) Räume zur Reflektion von – vor Ort ersichtlichen – ‚gesellschaftlichen Prozessen‘ schaffen. So entstandene Handlungsräume, können ferner eine mögliche Gegenwelt zu gesellschaftlichen Enteignungsprozessen herstellen und damit zu Orten von Autonomie und Selbstgestaltung werden.

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L ITERATUR Alisch, Monika & May, Michael (o.J.): AMIQUS. Ältere MigrantInnen im Quartier. Methoden Phase 1. Verfügbar unter: www.amiqus.de/?q= methoden [Zugriff am 15.08.13]. Bergold, Jarg & Thomas, Stefan (2010): Partizipative Forschung. In: Günter Mey & Katja Mruck (Hg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie. Wiesbaden: Springer VS, S. 333-345. Bleck, Christian (2012): Dokumentation der sozialräumlichen WorkshopReihe im zentrum plus Flingern im Rahmen des Forschungsprojektes SORAQ – Soziale Ressourcen für altersgerechte Quartiere. Düsseldorf. Verfügbar unter: http://soz-kult.fh-duesseldorf.de/forschung/forschungs projekte/soraq/downloads [Zugriff am 25.09.14]. Bleck, Christian; van Rießen, Anne & Knopp, Reinhold (2013): Der Blick Älterer auf ‚ihr Quartier‘. Methoden und Instrumente für die sozialräumliche Arbeit mit älteren Menschen. In Sozialmagazin 38. Jg., 56/2013, S. 6-17. Bleck, Christian; van Rießen, Anne & Schlee, Thorsten (2015): Soziale Ressourcen Älterer im Quartier erkennen. Über forschungsmethodische Impulse, Hürden und Blockaden in der Suche nach Begegnungs- und Kommunikationsorten älterer Menschen. In: Anne van Rießen, Christian Bleck & Reinhold Knopp (Hg.), Sozialer Raum und Alter(n). Zugänge, Verläufe und Übergänge sozialräumlicher Handlungsforschung. Wiesbaden: Springer VS. Böhnisch, Lothar & Schroer, Wolfgang (2011): Blindflüge. Versuch über die Zukunft der Sozialen Arbeit. Weinheim & München: Juventa. Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen e.V. (BAGSO) (Hg.) (2014): BAGSO-Positionspapier zur Weiterentwicklung der Pflege. Bonn. Verfügbar unter: http://www.bagso.de/publikationen/ positionen.html [Zugriff am 25.09.14]. Deinet, Ulrich (2009): Analyse- und Beteiligungsmethoden. In: Ulrich Deinet (Hg.), Methodenbuch Sozialraum. Wiesbaden: VS, S. 66-86. Deinet, Ulrich & Krisch, Richard (Hg.) (2003): Der sozialräumliche Blick der Jugendarbeit. Methoden und Bausteine zur Konzeptentwicklung und Qualifizierung. Opladen: Leske + Budrich.

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Früchtel, Frank; Budde, Wolfgang & Cyprian, Gudrun (2010): Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Fieldbook: Methoden und Techniken (2. Aufl.). Wiesbaden: VS. Knoblauch, Hubert (2001): Fokussierte Ethnographie: Soziologie, Ethnologie und die neue Welle der Ethnographie. In Sozialer Sinn 1, S. 123141. Verfügbar unter: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar6930 [Zugriff am 25.09.14]. Knopp, R. (2009): Sozialraumerkundungen mit Älteren. In: U. Deinet (Hg.): Methodenbuch Sozialraum. Wiesbaden: VS, S. 155-164. Landesbüro altengerechte Quartiere.NRW (Hg.) (o.J). Quartiersbegehung/spaziergang. Modul zum Thema ‚Sich Einbringen‘. Verfügbar unter: http://www.aq-nrw.de/modulbaukasten/modul-07-quartiersbege hung-spaziergang/modul-07-quartiersbegehung-spaziergang.html?&zei gemodul=77 [Zugriff am 25.09.2014]. Lewin, Kurt (1946): Action research and minority problems. Journal of Social Issues, 2, S. 34-64. May, Michael (2008): Die Handlungsforschung ist tot. Es lebe die Handlungsforschung. In: Michael May & Monika Alisch (Hg.), Praxisforschung im Sozialraum. Fallstudien in ländlichen und sozialen Räumen. Opladen & Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich, S. 207-238. Mayring, Philipp (1999): Einführung in die qualitative Sozialforschung. Eine Anleitung zu qualitativem Denken (4. Aufl.). Weinheim und Basel: Psychologie VerlagsUnion. Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen (MGEPA NRW) (Hg.) (2013): Masterplan altengerechte Quartiere. NRW – Strategie- und Handlungskonzept zum selbstbestimmten Leben im Alter. Düsseldorf. Popp, Reinhold & Thiel, Felicitas (2008): Forschendes Lernen. In: Anna Riegler; Sylvia Hojnik & Klaus Posch (Hg.), Soziale Arbeit zwischen Profession und Wissenschaft. Vermittlungsmöglichkeiten in der Fachhochschulausbildung. Wiesbaden: Springer VS, S. 185-196. Riege, Marlo & Schubert, Herbert (2005): Zur Analyse sozialer Räume – ein interdisziplinärer Integrationsversuch. In Marlo Riege & Herbert Schubert (Hg.), Sozialraumanalyse. Grundlagen – Methoden – Praxis (2. Auflage). Wiesbaden: VS Springer, S. 7-67.

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van Rießen, Anne & Bleck, Christian (2013): Zugänge zu ‚Möglichkeitsräumen für Partizipation‘ im Quartier? Erfahrungen mit sozialräumlichen Methoden in der Arbeit mit Älteren. In: sozialraum.de, 1/2013. van Rießen, Anne; Bleck, Christian & Knopp, Reinhold (Hg.) (2015): Sozialer Raum und Alter(n). Zugänge, Verläufe und Übergänge sozialräumlicher Handlungsforschung. Wiesbaden: Springer VS. Wagner, Bernhard (2015): Forschung als Medium zur Initiierung bürgerschaftlichen Engagements? In: A. van Rießen, C. Bleck & R. Knopp (Hg.), Sozialer Raum und Alter(n). Zugänge, Verläufe und Übergänge sozialräumlicher Handlungsforschung. Wiesbaden: Springer VS. Wahl, Hans-Werner (2002): Lebensumwelten im Alter. In Bernhard Schlag & Katrin Megel (Hg.), Mobilität und gesellschaftliche Partizipation im Alter. Stuttgart: Kohlhammer, S. 48-63. Wahl, Hans-Werner; Mollenkopf, Heidrun & Oswald, Frank (Hg.) (1999): Alte Menschen in ihrer Umwelt: Beiträge zur ökologischen Gerontologie. Wiesbaden: Westdeutscher. .

„Bekar Odalarι“ – „Junggesellen-Räume“ in Istanbul Ein Blick auf die Stadt aus soziologischer und fotografischer Perspektive G AMZE T OKSOY (T EXT ) & A LTAN B AL (F OTOS )

Etwa seit dem Jahre 2000 diskutieren in der Türkei disziplinübergreifend Wissenschaftler*innen, Künstler*innen und visuell Schaffende verstärkt über den Zusammenhang von gesellschaftlichen und städtischen Problemen, Aktivismus und künstlerischen Aktionsformen. In diesen bewegten Jahren entstand auch die Idee zu dem Projekt, das hier vorgestellt wird. Ich traf damals bei der Fotografie-Stiftung zum ersten Mal auf das Projekt „Junggesellen-Räume“ und seinen Fotografen Altan Bal. Wir fanden viele Gemeinsamkeiten und entschlossen uns zu diesem Projekt, das Perspektiven und Ausdrucksmittel unserer jeweiligen Disziplinen Fotografie und Soziologie zusammenbringen und dabei Neues schaffen sollte. Altan Bal macht Fotos, die als sozialdokumentarisch bezeichnet werden können. Sein Ziel ist, Alltag in ganz unterschiedlichen Schichten der Gesellschaft einzufangen und zu erfassen, wie verschiedene Szenen und Milieus im städtischen Raum ihren Alltag und ihre Ausdrucksformen leben. Mich wiederum interessierte, wie wir in einer Zeit und Welt voller Wandel und Umwälzungen unser sozialwissenschaftliches Handwerkszeug neu hinterfragen und erweitern können. Ich wollte theoretische und methodische Herangehensweisen weiter entwickeln, um die Stadt und die Straße zu verstehen. Aus meiner Sicht hatte die Fotografie ein großes Potenzial uns dabei zu helfen.

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D ETAILS , B ASIS

UND

R AHMEN

Schon früh hat Howard S. Becker in seinem Artikel „Photography and Sociology“ von 1974 die Brücke zwischen den beiden Disziplinen geschlagen. Beide untersuchen Gesellschaft und gehen auf Entdeckungsreise zu den verschwiegenen und unbekannten Aspekten, die die meisten nicht sehen wollen. Die schwierige Alltagsorganisation in den Modernisierungswellen der letzten 200 Jahre ans Licht zu zerren, ist sowohl das Projekt der Soziologie wie der Fotografie. (Becker 1973: 3-26). Auch unser Projekt der „Junggesellen-Zimmer“ hat das Ziel, Szenen sichtbar zu machen, die gemeinhin im städtischen Leben an den Rand gedrängt und vom Alltagsblick ferngehalten werden. Damit bildet das Projekt einen Beitrag zur visuellen Soziologie. Unser Projekt nahm seinen Ausgang mit den Fotos, mit denen Altan Bal in den Jahren 2000 bis 2003 begann, das Leben in den „Junggesellen-Zimmern“ von „Kücükpazar“ zu dokumentieren. Der Istanbuler Stadtteil zieht sich von der Süleymaniye bis nach Eminönü und weist die höchste Dichte an „Junggesellenzimmern“ auf. Bis ins byzantinische Zeitalter zurück reichen die Zeitzeugnisse, die von „Bikar Odalari“ oder „Junggesel-lenhäusern“ sprechen. Dort lebten die Menschen, die zum Arbeiten nach Istanbul kamen: Ledige, Verheiratete, Alte und Junge, nahe bei ihren Arbeitsstätten. Zeugnisse aus dem Osmanischen Reich sprechen von Tausenden Menschen. Auch heute noch bieten die „Junggesellenzimmer“ Wohnraum für die Männer, die aus unterschiedlichen Gebieten Anatoliens nach Istanbul kommen und die gezwungen sind, Arbeiten zu verrichten, deren Ertrag nicht ausreicht eine Wohnung zu mieten, zu den schlechtesten Wohnbedingungen überhaupt. Altan Bals Fotos der Zimmer und der Menschen darin sind die Sozialdokumentation eines Lebensraums. Altan Bal hatte Hunderte von Aufnahmen gesammelt und in der ersten Projektphase schaute ich sie an und machte mir Notizen. Ich formulierte Fragen, notierte Details und erstellte eine Art Liste von Alltagsbildern, die die visuelle Oberfläche mir bot. Das „Betrachten“ der Fotografien als Sozialwissenschaftlerin, die Bilder dieser Orte, an denen Individuen ihren Alltag leben, der Arbeitsbedingungen der Menschen und ihrer Beziehungen mit der Umgebung, wurde für mich eine genauso wichtige Erfahrung wie eine Feldforschung. Bei der Diskussion mit dem Fotografen deckten sich manchmal unsere Eindrücke von den Fotos, um an anderen Stellen radikal auseinander zu gehen. Besonders diese Differenzen notierte ich und hielt

„B EKAR O DALARΙ “ – „J UNGGESELLEN -RÄUME“

IN I STANBUL

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sie für mich in einer Art Feldtagebuch fest. Einige Fotos machten mich neugierig. Ich wollte sie für mich in eine Beziehung mit der Umgebung bringen und verspürte den Drang, mehr zu sehen, als das Foto bot und wir begannen mit Besuchen. Wir wurden Gast in den Zimmern selbst. Und so begann ich von innen heraus die Beziehungen der dort Lebenden untereinander zu verstehen, ihre Beziehungen zum Rest der Stadt, die Annäherungen, die Konflikte. Ich erfuhr, dass die meisten der Männer, die auf den Foto entfernt von allen familiären Bindungen erscheinen, in Wahrheit verheiratete Männer und Väter sind. „Junggesellen“ meint also hier nicht Familienstand, sondern Lebensform. Die Männer sind nach Istanbul gekommen, um den Unterhalt ihrer auf dem Land lebenden Familien zu sichern. „Junggesellenleben“ hat hier also die Bedeutung von: fern von Ehefrau und Kindern leben; Einsamkeit; provisorisches und vorübergehendes Leben. Ich wollte ich die Eigensinnigkeit der Welt zu begreifen, die uns die Fotos aus den „Junggesellen-Zimmern“ zeigten, und schauen, aus welchen sozialen Bindungen und Verankerungen diese Welt sich schuf. Dazu kombinierte ich die visuellen Informationen und Zeichen, die die Fotografien zur Verfügung stellten mit soziologischen Quellen und Begriffen, die für Stadt und Raum wichtig sind (Simmel 1972; Harvey 1990; Sennett 1990, Giddens 1991, Levebvre 1992, Savage & Warde 1993).

J EDES Z IMMER

EINE

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Die meisten „Junggesellenzimmer“ haben ganz ähnliche Merkmale. Ein typisches „Junggesellenzimmer“ ist zwischen 15 und 20 Quadratmetern groß. Dort leben mindestens sechs bis sieben Menschen, meist Verwandte, in schwierigen Verhältnissen sogar zehn oder sogar bis 15 Personen. Diese Zimmer können nur zum Schlafen und in ganz begrenztem Umfang zur Zubereitung von Mahlzeiten genutzt werden. Die Zimmer befinden sich in alten Etagenwohnungen oder heruntergekommenen Holzhäusern, die durch Trennwände in einzelne Zimmer verwandelt wurden. Die Toiletten werden mit anderen Zimmern gemeinsam genutzt. Fast keines dieser Zimmer hat eine Küche und zum Duschen benutzen die Männer die Badehäuser der Umgebung oder versuchen Wasser zu erwärmen und sich irgendwie im Zimmer zu duschen. Wenn Wäsche gewaschen werden muss oder etwas gebügelt werden muss, helfen Wäschereien und Schneiderwerkstätten in

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der Umgebung aus. Die meisten Bewohner der „Junggesellen-Zimmer“ sind während der Woche von früh bis spät damit beschäftigt Papier zu sammeln und verbringen Freizeit nur sonntags in den Zimmern.

Die meisten Bewohner gingen in den Gesprächen davon aus, dass ihre Unterkunft in den Zimmern vorläufig war. Sie hatten ihre Familien in verschiedenen Regionen Anatoliens zurück gelassen und wollten den ganzen Tag Papier sammeln, irgendwann eine bessere Arbeit finden und ihre Familien in die Großstadt nachholen – Zukunftsträume, die immer wieder hin-

„B EKAR O DALARΙ “ – „J UNGGESELLEN -RÄUME“

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ausgeschoben wurden. Dieses Deutungsmuster fand und findet sich in fast allen unseren Gesprächen mit den Bewohnern: Die Ärmlichkeit und Behelfsmäßigkeit der billigen „Junggesellen-Zimmer“ wird als ZwischenStation für Neuankömmlinge betrachtet. Aber die Lebenshaltungskosten und Arbeitsbedingungen in der Stadt haben sich verschlechtert und vor allem für unqualifizierte Arbeiter ist es äußerst schwierig, eine Unterkunft zu finden, in der sie mit ihren Familien leben könnten. Und so werden die „Junggesellen-Zimmer“, gedacht als Übergangslösung, als „Zwischen-Raum“, zur Dauer-Wohnung für Tausende von Menschen. Wir haben in den Zimmern Menschen kennengelernt, die dort seit 20 bis 25 Jahren leben. Und dennoch kennzeichnet die „Junggesellen-Zimmer“ eine Aura des Vorübergehenden, Passageren, in den Fotos durch immer wiederkehrende Details sichtbar: Nackte leere Wände, an der Wand hängt eine Plastiktüte, in der sich vielleicht Kleidung befindet oder da hängt ein Jackett. Die Feldbetten, die eines hinter dem anderen aufgereiht sind wie in einer Gemeinschaftszelle im Gefängnis, vielleicht ein Ofen, vielleicht ein Tisch. So als seien die Zimmer für ihre Bewohner ein „Zwischen-Raum“, etwas „Ding-Loses“, ein „Un-Ort“, an dem sie sich weder niederlassen können noch ihn verlassen können. Die Menschen, die in den „Junggesellen-Zimmern“ leben, haben Vieles gemeinsam: Sie leben im Elend und müssen unter den gleichen schweren Bedingungen ihren Alltag gestalten. Dennoch hat jeder Einzelne hier sein individuelles Schicksal: seinen besonderen Ort, an dem er geboren und aufgewachsen ist, die Geschichte seiner Wanderung nach Istanbul, seine Geschichte in den „Junggesellen-Zimmern“, seine Erlebnisse im Leben der Großstadt, kurz: seine eigenen individuellen Lebenserfahrungen. Diese individuellen Unterschiede in den Erzählungen zu entdecken und in den Fotografien ans Licht zu bringen verbietet simplifizierende und pauschalisierende Deutungen. Die Schwierigkeiten des Alltagslebens sind am Zustand der Zimmer gut abzulesen. Wenn wir aber etwas zu den Ressourcen erfahren wollten, wie man die Schwierigkeiten meistert, wie dort Verwandtschaft, Landsmannschaft, Freundschaft und Unterstützung gelebt wird, kurz, was das Besondere daran ist, in einem „Junggesellen-Zimmer“ seine Sozialität zu leben, dann war ein tiefergehender Blick notwendig. Unsere Gespräche und Diskussionen machten deutlich, mit wie vielen Vorurteilen auch wir uns Lebensbedingungen in Elend, Mangel und Armut nähern. Immer wieder betrachte-

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ten wir die Details der Bilder und immer wieder suchten wir das Gespräch mit den Bewohnern, um diese Vorurteile zu erschüttern.

In Alltagsvorurteilen werden die Menschen, die wir besuchten, oft als elende Gestalten betrachtet, die sich aus dem Müll ernähren, ein desorganisiertes Leben führen, gierige, gefährliche und schwache Charaktere, die man eventuell ruhigstellen sollte. Wir erfuhren, dass das Leben in den „Junggesellen-Zimmern“ sehr wohl organisiert ist, und zwar mit eigenen originellen Lebenskampf- und Überlebens-Strategien unter schwierigsten Bedingun-

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gen. Besonders in den Zimmern mit sehr vielen Bewohnern ist es, wenn der Alltag funktionieren soll, unumgänglich, dass die Bewohner untereinander eine Ordnung herstellen, jedem Einzelnen seine besonderen Verantwortlichkeiten klarmachen, und dass die Bewohner einander schützen und sich unterstützen.

Welche Maßnahmen dieses gemeinschaftliche Leben sicherstellten, das konnten wir in den Gesprächen erfahren. Was uns dazu erzählt wurde, deckte sich mit den Entdeckungen, die wir in den Fotos gemacht hatten. Dazu ein Beispiel: In einem „Junggesellen-Zimmer“ mit acht Bewohnern, die alle Verwandte waren, fiel uns beim Betrachten der Fotos auf, dass immer eine Person mit verschränkten Armen entweder im Zentrum oder am Anfang der Gruppe abgebildet war. In den Berichten wurde dieser auch als „abi“, als „älterer Bruder“ der Gruppe bezeichnet. Dieser Zimmerälteste ist verheiratet, hat vier Kinder und lebt am längsten von allen in Istanbul. Es wurde deutlich, wie viel Respekt und Verbundenheit dieser erfahrenen Person entgegengebracht wurde. Der „große Bruder“ organisierte das Geschäft des Papiersammelns und die Einnahmen und entschied in wichtigen Fragen. Ja, während die Anderen zur Arbeit gingen, ging er einkaufen und bereitete das Essen zu. Er kümmerte sich um alle Probleme der Zimmerbewohner. Wenn im Dorf jemand krank geworden war, jemand Geld brauchte, organi-

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sierte er alles Notwendige. Er verwaltete das Haushaltsgeld, zahlte die Miete, kurz: er kümmerte sich in allen Belangen um die Neuankömmlinge in der Stadt.

Vier Jahre lang fotografierten wir und führten Gespräche, sammelten Hunderte von Erzählungen, die die Fotos reflektieren und erweitern. In jedem einzelnen dieser Zimmer finden sich andere Leben, andere Migrationsgeschichten und Stadterfahrungen. Der eine war hier, um die Mitgift seiner Tochter zusammenzusparen, andere für die Versorgung ihrer Kinder auf dem Dorf. Andere wiederum hatten das Papiersammeln zu ihrem Beruf gemacht, aber fast alle thematisierten, dass sie den Menschen „draußen“ ein Ärgernis seien. Auch wir als „Gäste der Straße“ sahen unsere eigenen Vorurteile und bemühten uns, sie zu erschüttern.

V ERDIENST

AUS

P APIER

Wir untersuchten aus foto-ethnografischer Sicht die Arbeitsbedingungen und -umstände der Bewohner. Unter ihnen gab es reisende Saisonverkäufer, Straßenverkäufer, Lehrlinge, Ladenverkäufer, Kellner und andere Berufe, aber die meisten der Bewohner verdienten ihr Geld mit dem Sammeln und

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Verkaufen von Altpapier. Diese Papiersammler mit ihren typischen Wagen, die sie hinter sich her ziehen, sieht man in fast jedem Stadtteil Istanbuls. Von der übrigen Stadtbevölkerung, ob reich oder arm, wird ihr Anblick meist als peinlich empfunden und ihr Beruf, der doch wertvolle Rohstoffe der Stadt wie Glas, Papier, Plastik und anderes, recycelt, wird als schmutzige Müll-Wühlerei betrachtet. Da diese Form des Müll-Recyclings in der Türkei informelle, nicht registrierte Arbeit ist, fehlen genaue Zahlen über den Anteil dieser Arbeit an der Müllverwertung, aber es ist davon auszugehen, dass er beträchtlich ist. Und dennoch sind die Menschen, die diesen Sektor organisieren, im wirtschaftlichen Sinne „Unsichtbare“.

Die Arbeit des Papiersammelns wird von den meisten Menschen als sehr unqualifizierte Arbeit betrachtet, die spontan und ohne System betrieben wird. Die Fotografien und die Gespräche mit den Sammlern belehrten uns aber eines Besseren. Papier zu sammeln ist Daseinskampf unter härtesten Bedingungen und zugleich eine verantwortungsvolle, hoch organisierte Tätigkeit, die je nach Stadtviertel von bestimmten Sammlern organisiert wird. Die Papiersammler, die oft von fünf Uhr morgens bis tief in die Nacht arbeiten (die meisten bis zehn, elf Uhr abends) bewegen sich mit ihren Sammelkarren zumeist in gesundheitsgefährdenden Umgebungen. Das Papier,

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das sieaus dem Müll gesammelt haben, wird in Lagern entweder im Erdgeschoss oder im Eingangsbereich der „Junggesellen-Zimmer“ gesammelt, in Säcke verstaut und so verkaufsfertig bereit gehalten. Die individuell gekennzeichneten Handkarren und das gesammelte Papier zu bewachen, ist wieder eine eigene Arbeit. Um Diebstähle zu verhindern, wird das Depot nachts meist von ein bis zwei Sammlern bewacht. Der Verdienst aus dieser schweren mühseligen Arbeit ist gering (meist weit unterhalb des Mindestlohns) und die Sammler berichten, dass sie diese Arbeit tun, weil sie keine Alternative haben, die sie aber nicht aufhören zu erhoffen.

F ORSCHUNGSMÖGLICHKEITEN , G RENZEN JENSEITS DES S ICHTBAREN

UND

Unser Forschungsprojekt hat gezeigt, dass die Fotografien als Unterstützungsinstrument sozialwissenschaftlichen Methoden eine Qualität haben, die weit über andere Quellen hinausweisen. Von Beginn an waren die Fotografien forschungsleitend und sie blieben es bis zum Ende. Sozialwissenschaften oder die Soziale Arbeit können nur profitieren, wenn sie sich visuellen Materials bedienen. Die Fotografien können allen Disziplinen, die sich mit Themen wie Stadt, urbane Transformationen, Armut, Ausgren-

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zung- und Etikettierungspraktiken beschäftigen, als künstlerisches Medium dabei unterstützen, neue Denkansätze zu entwickeln. In diesem Zusammenhang werden Fotografien nicht als „Dokumente“ der Wirklichkeit betrachtet, die das Bestehende genau abbilden, sondern sie wandeln sich zu etwas, das interdisziplinär anregt, die sich wandelnde Natur des Sozialen zu verstehen und mit Details des Alltagslebens zu verbinden. Ziel der Arbeit an den „Junggesellen-Zimmern“ war von Anfang an die Sichtbarmachung dieser Menschen, die mit ihren Handkarren in der Stadt unterwegs sind, aber deren Geschichten und Erzählungen niemand kennt. Solche Bilder des dahinfließenden sozialen Stroms zu produzieren und zu verbreiten, besonders aber Bilder des Alltagslebens, das ja den Menschen gehört, wirft einige Fragen auf. Die ersten Arbeiten des Projekts wurden in unterschiedlichen Präsentationsformen unterschiedlichen Menschen gezeigt. In gemeinsamen Diskussionen konnten die Lebensbedingungen der Menschen (mit-)geteilt werden und wir konnten unsere interdisziplinäre Arbeit zwischen Sozialwissenschaft und Visualisierung erneut überdenken. Auch wenn die Menschen, die auf den Fotografien abgebildet sind, ihre Lebensbedingungen dem Rest der Stadt zeigen wollen, bleibt zu diskutieren, was solche visuellen Dokumente mit unseren Vorurteilen machen. Tragen solche Bilder und solche Forschungen nicht auch zur Genese und Verschärfung sozialer Probleme, zu Ausgrenzung und Etikettierung bei? Werden Bilder in unseren Tagen nicht zu Instrumenten der herrschenden Normen umfunktioniert? Wie steht es, wenn wir urbane Probleme, Elend, Ausbeutung zeigen und damit diese Dinge in fern von uns befindliches, fremdartiges, aber ausspionierbares Leben verwandeln? Und so zu Instrumenten von Praktiken des Othering, der „Veränderung“ werden? Solche Fragen bleiben. Wir meinen: In einer Welt der Bilder, die uns umgeben, müssen die sozialwissenschaftlichen Produkte in einen Kontext gestellt werden, der mehr leistet als die Verdeutlichung und Analyse von Problemen. Sonst werden diese sichtbaren Zeugnisse schwieriger Leben zu etwas, das am Ende ein Gefühl der Ohnmacht gegenüber den großen Problemen verstärkt. Übersetzung: Lilo Schmitz

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L ITERATUR Becker, H.S. (1974): „Photography and Sociology“, Studies in the Antropology of Visual Communication 1, 3-26, Northwestern University Press, Evanston. Collier J./Collier M. (1986): Visual Anthropology, University of New Mexico Pres, Albuquerque. Eric, M./Luc, P. (Hg.) (2011): Visual Research Methods, Sage Publication, London. Giddens, A. (1991): Modernity and Self Identity: Self and Security in the Late Modern Age, Cambridge: Polity Pres. Harvey, D. (1990): The Condition of Postmodernity, Blackwell, Oxford. Knowles, C./Sweetman, P. (2004): Picturing the Social Lanscape: Visual Method and the Sociological Imagination, Routledge, New York. Lefebvre, H. (1992): The Production of Space, Blackwell, Oxford. Pink, S. (2001): Doing Visual Ethnography: Images, Media and Representation in Research, Sage Publication, London. Prosser, J./Schwartz, D. (1998): „Photographs within the Sociological Research Process“, Image-Based Research, hg. v. Jon Prosser, Falmer Press, London. Savage, M./Warde, A. (1993): Urban Sociology, Capitalism, and Modernity, London: Macmillan. Sennet, R. (1990): The Conscience of the Eye: The Design and Social life of Cities, Faber and Faber, London. Simmel, G. (1972): On Individuality and Social Forms, hg. v. Donald, N. Levine, University of Chicago Press. Toksoy, Gamze (2005): „Fotoğrafta Sosyolojik Göz: İstanbul’da Bekar Odaları“, Haz. Aylin Dikmen Özarslan, Sanat ve Sosyoloji, Bağlam Yayınları, İstanbul. Toksoy, G./Akay, A./Bal, A. (2003): „Gelecek Demokrasi“ sergisi, Küratör: Ali Akay, Altan Bal & N. Gamze Toksoy, 10 eylül-18 Ekim 2003, Akbank Kültür Sanat Merkezi, İstanbul.

„Grounded Research“ Forschung als Intervention T HOMAS M ÜNCH & K AI H AUPRICH

P ROBLEMBESCHREIBUNG Seit dem Beitritt von Rumänien und Bulgarien zur EU im Jahr 2007 findet eine verstärkte Zuwanderung von Bürgerinnen und Bürgern der beiden Staaten in die prosperierenden Länder der EU statt (vgl. IAB 2014). Dabei lassen sich zwei sehr unterschiedliche Gruppen unterscheiden: einerseits hochqualifizierte Zuwanderer, die sich problemlos in die Ökonomie der Aufnahmeländer integrieren und andererseits Zuwanderer, denen die Integration in den Arbeitsmarkt nicht oder nur schlecht gelingt. Letztere werden dann in westdeutschen Großstädten verstärkt als Gruppen von Menschen sichtbar, die auch hier unter prekären ökonomischen und sozialen Umständen (wie z.B. Wohnungslosigkeit, Armut) leben. Sie nutzen zunehmend die lokalen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe und stellen damit die Einrichtungen mit ihren neuen, speziellen Bedarfen, wie z.B. Sprachen oder unklaren Rechtsansprüchen vor erhebliche Probleme. Die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe reagieren auf diese neuen Besuchergruppen mit einem Handlungsspektrum von gleichberechtigter Hilfe und Öffnung bis hin zu gezielten Hausverboten. Aus einer rein rechtlichen Perspektive sind Hausverbote für die Zuwanderer formal begründbar, da die Finanzierung der Einrichtungen nach § 67 SGB XII erfolgt und daher als Zielgruppe „Personen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten“ (also Wohnungslose) festgelegt sind.

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Im Fachdiskurs wird das hier beschriebene Phänomen mit dem Dsyphemismus der „Elendsmigration“ umschrieben. Damit soll ausgedrückt werden, dass sowohl ihre Lebensumstände in den Herkunftsländern, als auch ihre aktuellen Lebensumstände in Deutschland als außerordentlich problematisch zu kennzeichnen sind. Ob diese Etikettierung der Zuwanderer als „Elendsmigranten“ eine sinnvolle analytische und handlungstheoretische Perspektive beinhaltet, wird im weiteren Text diskutiert; von daher wird der Begriff immer in Anführungszeichen stehen. Die Kölner Situation im Sommer 2012 lässt sich wie folgt beschreiben: •









eine unbekannte Anzahl von „Elendsmigranten“ leben im Spannungsfeld von realer Obdachlosigkeit (Abbruchgrundstücke, Erdhöhlen, „Platte“ usw.) und prekären Wohnbedingungen wie z.B. hoher Wohndichte in einzelnen Kölner Stadtteilen wie Kalk, Ehrenfeld und Nippes; vereinzelt sind „Elendsmigranten“ im Tätigkeitsbereich Müllsammeln, Zeitungsverkauf, Prostitution, Kleinkriminalität und Betteln zu beobachten; es scheint im Stadtgebiet Köln eine Konzentration von Wohnmöglichkeiten für Zuwanderer in den Kölner Stadtteilen Kalk und Ehrenfeld zu existieren; die lokale Presse beschreibt und definiert die „Elendsmigration“ als ein sichtbares Problem und setzt damit die kommunale Sozial- und Ordnungspolitik unter Handlungszwang; niedrigschwellige Träger und Projekte der offenen Wohnungslosenhilfe sind mit ihren Existenz sichernden Primärangeboten die idealen Anlaufstellen für die „Elendsmigranten“ und stehen dadurch vor neuen quantitativen und qualitativen Herausforderungen. Viele Einrichtungen beschreiben die Situation vor dem Hintergrund ihrer knappen Ressourcen als überfordernd.

F ORSCHUNG Analog den „klassischen“ bundesdeutschen Diskursen zur Zuwanderung, wie sie der aufmerksame Beobachter seit Beginn der Zuwanderung in der BRD beobachten kann (vgl. Bade 2013), konnte auch 2012 in Köln ein öffentlicher Diskurs verfolgt werden, der das Problem primär ordnungspoli-

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tisch definierte. Dies war und ist umso kurioser, als dass es sich bei der Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien um eine EU-Binnenzuwanderung handelte und handelt, die eindeutig auf dem grundlegenden EURechtsgut der Freizügigkeit basiert. Ordnungspolitische „Sondermaßnahmen“ sind daher in diesem Kontext weitgehend ohne Rechtsgrundlage, sie können daher schlichtweg als rein populistische Abwehrstrategie auch kommunaler Politik zu gelesen werden. Die Überlebensstation GULLIVER – eine niedrigschwellige Einrichtung des Kölner Arbeitslosenzentrum KALZ e.V. (siehe: www.koelner arbeitslosenzentrum.de/gulliver/das-projekt.php) – bietet seit 2001 auf der Rückseite des Kölner Hauptbahnhofes ein Hilfsangebot für wohnungslose Menschen mit einer breiten, niedrigschwelligen Angebotspalette: Ob Duschen, Toiletten, Tagesschlafraum, Waschmaschine und Trockner, Kleiderkammer, Friseurangebot, Akkuladestation für Mobiltelefone, postalische Erreichbarkeitsadressen, Frühstück und Abendessen, Cafébereich, Info/Jobbörse und Internetnutzung an zwei Computern oder regelmäßig wechselnde Kunstausstellungen und Kulturangebote – wohnungslose Männer und Frauen finden hier an sieben Tagen die Woche ein maßgeschneidertes, partizipatives Hilfsangebot. Ab 2012 wurde für die Betreiber der Einrichtung sichtbar, dass die Nutzung der Einrichtung durch die Zuwanderer, die Überlebensstation vor neue qualitative und quantitative Herausforderungen stellt. Im Dreieck zwischen neuen Anforderungen, ordnungspolitischen Diskursen und einem empirischen Dunkelfeld (die Datenlage war zu diesem Zeitpunkt völlig unzureichend), entschied sich die Überlebensstation gemeinsam mit dem Forschungsschwerpunkt Wohlfahrtsverbände der Fachhochschule Düsseldorf den tatsächlichen Sachstand der Zuwanderung in Köln und die entsprechenden Bedarfe in den Einrichtungen der Kölner Wohnungslosenhilfe explorativ zu untersuchen. Die hier im Fortgang beschriebene Forschungskooperation zwischen einem Träger der Sozialen Arbeit und einem Forschungsschwerpunkt einer Hochschule, beruht dabei auf einer langjährigen Zusammenarbeit im Kontext des Theorie-Praxis Austausches und kleinteiliger Forschungsprojekte im Feld der Betroffenenpartizipation (vgl. Münch 2011). Ohne diese langjährige Kooperationserfahrung mit den je unterschiedlichen Logiken, Arbeitsmethoden und Diskursen ist eine intensive Forschungstätigkeit nicht zu bewältigen. Selbst mit diesen Vorerfahrungen sind Friktionen und Kontro-

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versen nicht zu vermeiden; dabei führen gerade Irritationen und Friktionen häufig zu konstruktiven Perspektivwechseln! Im Oktober 2012 bewilligte das Ministerium für Arbeit Integration und Soziales in NRW (MAIS NRW) dem Kölner Arbeitslosenzentrum KALZ e.V. die Förderung eines Praxisforschungsprojektes „Südosteuropäische ‚Elendsmigration‘“, um den Sachstand in Köln und die Bedarfe in Einrichtungen der Kölner Wohnungslosenhilfe zu untersuchen. Forschungsmethodisch wurde eine Mischung aus quantitativen und qualitativen Methoden für die Fragestellung (Mixed-Methods-Approach) als gegenstandsadäquat erachtet; eine nur rein quantitative Beschreibung hätte in konkreten Fall nur wenig oder keine Auskünfte über Motive, Problemlagen und Perspektiven der Zuwanderer ergeben und wären damit dem explorativen Charakter der Untersuchung nicht gerecht geworden. Eine rein qualitative Forschungsmethodik hingegen hätte nichts über die Proportionen der Problematik aussagen können. Sie hätte zudem die Hypothesenprüfung ausgeschlossen, die gerade in diesem von Mutmaßungen durchsetzten Diskurs von wichtiger Bedeutung ist. Mit der verwendeten Methodenmischung konnte davon ausgegangen werden, dass Oberflächenphänomene ebenso wie Tiefenmotive erhoben werden können. Gleichzeitig sollte durch die Forschungsmethode der „aktivierenden Befragung“ (sozialwissenschaftliche Methode der Befragung und Aktivierung einer Zielgruppe) den Befragten erste Teilhabemöglichkeiten eröffnet werden. Eine wesentliche Qualität des hier skizzierten Forschungsvorhabens ist sicherlich darin zu sehen, dass alle betroffenen Gruppen des Feldes (Zuwanderer, Wohnungslose und Experten) befragt wurden und die Befragungen in den lokalen Lebenswelten der Zuwanderer und Wohnungslosen durchgeführt wurden. Die Befragung erfolgte in fünf Befragungswellen: 1. Explorative problemzentrierte Interviews mit ausgewählten lokalen Ex-

pertinnen und Experten; 2. Befragung der Expertinnen und Experten in den Kölner Einrichtungen

der Wohnungslosenhilfe mittels standarisierter Fragebögen; 3. Befragung der autochthonen Wohnungslosen mittels standarisiertem Fragebogen; 4. Befragung der Zielgruppe „Elendsmigranten“ mittels standarisiertem Fragebogen;

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5. Befragung lokaler Experten der kommunalen Sozial- und Ordnungspo-

litik mittels qualitativer, leitfadengestützter Experteninterviews. Die quantitative Untersuchung wurde mit online-basierten Fragebögen und als Computer-Assisted-Personal-Interview durchgeführt. Dazu wurden die autochthonen Wohnungslosen von Szenekundigen (ehemals Wohnungslosen) „auf Platte“ mit Laptop und Surfstick aufgesucht und befragt. Im Kontext einer Forschung als Intervention war es notwendig, von Anfang an das Forschungsvorhaben frühzeitig in den entsprechenden lokalen Diskursen und Arbeitskreisen vorzustellen; das hier wahrgenommene Erkenntnisinteresse war eine notwendige Voraussetzung, um Expertinnen und Experten auf allen lokalen Ebenen gewinnen zu können.

F ORSCHUNGSERGEBNISSE Explorationsphase: In dieser Phase wurden ab Oktober problemzentrierte Interviews mit lokalen und überregionalen Expertinnen und Experten aus der Sozialen Arbeit, der Sozialverwaltung, der Sicherheitsbehörden sowie mit Wohnungslosen durchgeführt. Übereinstimmend wurden in der Explorationsphase von den Befragten folgende Einschätzungen zur Kölner Problematik abgegeben: •

• • •

Lokal existieren in den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe zunehmend Probleme mit „Elendsmigranten“ hinsichtlich der Verständigung und der quantitativen und qualitativen Bedarfe; übereinstimmend wird von einer quantitativen und qualitativen Überforderung der Einrichtungen gesprochen; eine Zunahme von Konflikten mit den Gästen und Mitarbeiterinnen wird gleichfalls beschrieben; allen befragten Expertinnen und Experten ist gemeinsam, dass sie keine empirisch fundierten Aussagen zur Quantität der Problematik geben können.

Expertenbefragung: Aufbauend auf der Exploration des Feldes und den hier angerissenen ersten Forschungsfragen und Forschungshypothesen

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wurde in der ersten Befragungswelle der Fokus auf die Expertinnen und Experten in den Einrichtungen der Kölner Wohnungslosenhilfe gelegt. Auf den online-gestützten Fragebogen antworteten 57 Expertinnen und Experten aus 28 Einrichtungen der Kölner Wohnungslosenhilfe. Damit nahmen alle niedrigschwelligen Einrichtungen und Hilfen in Köln, die von Wohnungslosen genutzt werden, an der Befragung teil! Auf die Frage „Können Sie dieses Phänomen der sogenannten Elendsmigration auch in Ihrer Einrichtung bzw. bei Ihrem Angebot beobachten?“ bzw. „Besuchen Menschen, die unter diese Gruppen fallen auch Ihre Einrichtung/Angebot?“ antworteten 86 % der Befragten mit „Ja“. Mehr als die Hälfte (53 %) gaben an, dass die Zielgruppe seit etwa drei Jahren und länger die Einrichtung besucht. Das „Problem“ der Nutzung der niedrigschwelligen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe durch Zuwanderer aus den EU-2 Staaten ist also kein Novum; vielmehr bieten die Einrichtungen in Köln – jenseits ihrer Aufgabenbeschreibung und Finanzierung – eine Nothilfe für die Zuwanderer an. Das wird auch dadurch belegt, wenn nach der Nutzungsfrequenz gefragt wird; fast die Hälfte (43 %) nutzen täglich die Einrichtungen. Eine erhebliche quantitative und qualitative Belastung der Wohnungslosenhilfe durch Zuwanderer. Es ergibt sich somit in den Kölner Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe eine klare Bestätigung der EU-2 Zuwanderung; Menschen mit rumänischer und bulgarischer Staatsbürgerschaft stellen die größten Gruppen. Die spannende Frage nach den auftretenden Problemlagen – interessant zu Beschreibung der Bedarfe und zur Entwicklung angemessener und notwendiger Hilfen für die Zielgruppe – wurde in einem entsprechenden Antwortraster abgefragt und ergab als Schwerpunkte: Wohnen, Arbeit und Gesundheit. In den Explorationsgesprächen wurde vielfach eine Zunahme von Konflikten und Gewalt in den Einrichtungen und in der Wohnungslosenszene beschrieben. Ursächlich wurde dies auf eine Konkurrenz zwischen den autochthonen Wohnungslosen und den Zuwanderern zurückgeführt. In vorletztem Fragenkomplex wollten wir durch „offene Fragen“ Aussagen zur Wohnsituation der Zuwanderer erheben, um den Blick auf das Feld zusätzlich zu weiten und dem explorativen Anspruch der Untersuchung weiter Rechnung zu tragen. Durchgängig wurden Wohnsituationen beschrieben, die sich im Kontinuum zwischen „drohender Wohnungslosig-

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keit“ und „Wohnungslosigkeit“ bewegen: „übervermietete Zimmer“, „Platte machen“, „leben im Auto, Bauwagen oder Zelt“, „Park, Brücke oder bei Freiern“ – dies sind die typischen Antworten aus diesem Fragenkomplex. Wohnungslosigkeit, so das Fazit, ist prägend für den Alltag der Zuwanderer. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es sich zwar zunächst lediglich um Beschreibungen der Experten handelt und weniger um objektiv feststellbare Sachverhalte. Jedoch werden Bogner et. al (2014: 23) folgend die Aussagen der Expertinnen und Experten als „technisches Wissen“ oder „Prozesswissen“, verstanden „das wir als (vorläufige, erste) Fakten interpretieren.“ Die konsistente Schilderung der Experten und analoge Berichte aus der lokalen Presse lassen auf einen hohen Wahrheitsgehalt schließen. Zum Ende der Expertenbefragung wurden Auskünfte über Problemlagen erhoben, die in den tagtäglichen Beratungssettings der Beratungsstellen im Fokus stehen. „Keine Arbeit, keine Wohnung, kein Geld“ ist die Zusammenfassung, die den Problemkontext am einfachsten beschreibt. Darüber hinaus werden eine Vielzahl von Problembereichen benannt: Kommunikationsprobleme, unzureichende Gesundheitsversorgung, fehlende Wohnung, Armut, Hunger, Prostitution, Gewalt – die ganze Palette exkludierter Lebensverhältnissen. Eine letzte zentrale Frage war, wie die Expertinnen und Experten die Kompatibilität ihrer Angebote mit den Bedarfen der Zielgruppe einschätzen. Die Mehrheit der Befragten (61 %) gab als Antwort, dass die Angebote in ihren Einrichtungen nicht kompatibel mit den Bedarfen der Zuwanderer sind. Dies wird erklärbar bzw. verstärkt durch die Frage nach entsprechenden Kultur- und Sprachmittlern; nur 17 % hatten in ihren Einrichtungen entsprechende Ansprechpartner; mehr als 80 % hatten keinerlei spezialisierte Ansprechpartner für die Ratsuchenden und Besuchergruppen. Auch wenn es eine Vielzahl von Arbeitskreisen und Arbeitszusammenhängen in Köln zur untersuchten Problematik gibt (so zumindest die Auskünfte auf unsere entsprechende Fragestellung), ist die unzureichende Ausstattung mit interkulturellen Expertinnen und Experten als kontraproduktiv für eine angemessene Versorgung der Zuwanderer zu bezeichnen! Die Befragung von Kölner Wohnungslosen war im Forschungskontext von Beginn an als unumgänglich erachtet worden: Wenn es denn durch die neue Zuwanderung zu Verdrängungen in den Einrichtungen der Wohnungs-

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losen kommt, müssen die wohnungslosen Menschen die hier ihren Lebensmittelpunkt haben, ganz folgerichtig in die Befragung mit einbezogen werden. Denn auf dem Hintergrund der Nutzung von Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe durch die Zuwanderer ist es forschungsmethodisch und -methodologisch sinnfällig, ortsansässige Wohnungslose nach ihren Erfahrungen zu befragen. So wurden im Dezember 2012 in Köln 102 Wohnungslose in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe und auf klassischen Treffpunkten aufgesucht und befragt. Auf die Frage „Haben sie persönliche Erfahrungen mit der Gruppe der ‚Elendsmigranten‘?“ antworteten 85 % der Befragten mit „Ja“. Die Kontakte mit der Zielgruppe erfolgen dabei zu 69 % „auf der Straße“ und zu 76 % in den Einrichtungen. Sichtbar wird an diesen Daten, dass es in Einrichtungen zu weniger Gewalt als „auf der Straße“ kommt; wesentlich erscheint uns bei der Interpretation dieser Antworten, dass durchweg die Hälfte der befragten Wohnungslosen von Konflikten, Streit und Verdrängung berichten. Die Situation in den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe und in der Lebenswelt der Wohnungslosen ist deutlich bedrängter geworden; mehr Personen müssen sich die entsprechenden Angebote teilen. Beispielhaft wird dies an den Antworten zu der teiloffenen Frage zu „Konfliktanlässen“ deutlich; auf die Frage „Bei welchem Anlass kam es auf der Straße bereits zu Konflikten?“ gab es folgende Antworten: Tabelle 1: Schilderung der Konflikte auf der Straße beschrieben durch autochthone Wohnungslose

Konfliktanlass

Schnorren Schlafplatz Flaschensammeln Job Zeitungsverkauf Konfliktanlass (Offen)

Gesamtsumme

n=68 (Mehrfachnennung)

H 26 13 8 1 7 13

Antworten Prozent 38,2% 19,1% 11,8% 1,5% 10,3% 19,1%

Prozent der Fälle 60,5% 30,2% 18,6% 2,3% 16,3% 30,2%

68

100,0%

158,1%

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Die Verschärfungen der Umstände in der Lebenswelt der Wohnungslosen führt zu Effekten: die Hälfte der Befragten gibt an, ihren „Aufenthaltsort auf der Straße“ verändert zu haben und 52 % nutzen die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe seltener. So war es forschungsmethodologisch folgerichtig, nach den positiven Erfahrungen der befragten Wohnungslosen mit den Zuwanderern zu fragen; dies auch und vor allem, um mögliche Anknüpfungspunkte für die weitere Modellphase zu erheben. Auf die Frage nach „gemeinsamen Aktivitäten mit der Personengruppe“ antworteten 21 % der befragten mit „Ja“. Gut ein Fünftel der befragten Wohnungslosen in Köln teilt sich also die Lebenswelt mit den neuen Zuwanderern; 11 % berichten auch von „Vorteilen“, die sie durch die Gruppe haben. Im letzten Fragenkomplex wurde konkret nach „Verbesserungsmöglichkeiten“ für die Zuwanderer gefragt: „Welche Ideen haben Sie, um die Lebenssituation dieser Personengruppe in Köln zu verbessern?“ lautete die Frage. Das Antwortverhalten strukturierte sich in zwei Kategorien: während ungefähr 20 % der Befragten sich – und damit analog dem politischen Mainstream – für eine Rückführung aussprachen, gab es eine Vielzahl von Verbesserungsvorschlägen in der Lebenswelt der Wohnungslosen bzw. für die Angebote der Wohnungslosenhilfe! Diese Verbesserungsvorschläge konzentrierten sich im Wesentlichen auf: • • • • •

die Verbesserung des Sozialrechtsstatus; also um die soziale Sicherung für die Zuwanderer; auf die Herstellung von adäquater Sprach- und Kulturkompetenz in den Einrichtungen; auf die Entwicklung zusätzlicher, spezialisierter Hilfsangebote nur für die Zielgruppe; die Entwicklung entsprechender Informationsmaterialien; auf Arbeitsangebote und Wohnmöglichkeiten für die Zielgruppe.

In der Gesamtheit bedeutet dies die Herstellung gleicher Lebensverhältnisse im Kontext kommunaler Sozialpolitik für die Zuwanderer.

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Auf dem Hintergrund des aktuellen politischen und medialen Diskurses zur aktuellen Zuwanderung ein deutlicher Nachweis für die sozialpolitische und lebensweltgesättigte Kompetenz der befragten Wohnungslosen – nicht Vertreibung, sondern zielgruppenspezifische Angebote für die Zuwanderer ist ihre Empfehlung! Die Befragung der Zuwanderer wurde in den Monaten Februar bis März 2013 durchgeführt. Es wurden 124 Zuwanderer mit bulgarischer und rumänischer Staatsbürgerschaft befragt. Die Befragungen wurden von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit rumänischen und bulgarischen Sprachkenntnissen (Muttersprachler) durchgeführt; alle Interviewer leben schon seit mehreren Jahren in Deutschland und verfügen über entsprechende berufliche Kompetenzen. Die Verteilung der Staatsangehörigkeit ergab zu 31 % Befragte aus Bulgarien und zu 69 % Befragte aus Rumänien. Die politische und mediale Diskussion über die Zuwanderung aus den EU-2 Staaten wird primär auf die Gruppe der Roma bzw. sogenannter „ethnischer Minderheiten“ beschränkt. Ohne an dieser Stelle auf fragwürdige Ethnisierungen, Etikettierungen und Stereotypen (Antiziganismus) einzugehen, haben wir der Zielgruppe die Frage nach der Zugehörigkeit zu einer „ethnischen Minderheit“ gestellt. 51 % der Befragten ordneten sich selbst einer „ethnischen Minderheit“ zu. Ein Viertel (26,8 %) gaben an, „bereits Vorkenntnisse in der deutschen Sprache“ zu besitzen; ein deutlicher Hinweis auf die dringende Notwendigkeit Sprachmittler in den Beratungsstellen für diese Zuwanderer vorzuhalten. Eine Notwendigkeit, die sowohl von den Experten, als auch von den Wohnungslosen betont wird. Andererseits bietet dieses Viertel an deutscher Sprachkompetenz einen sinnvollen Anknüpfungspunkt in der Lebenswelt der Zuwanderer für partizipative Hilfsangebote. Bei der Frage nach einer Berufsausbildung ergab sich ein überraschendes Bild: 37 % der Befragten gaben an, eine Berufsausbildung zu besitzen. Da an dieser Stelle des Fragebogens eine offene Antwortkategorie gegeben wurde, ergab sich ein relativ weites Spektrum von (nicht überprüften und nicht zu überprüfenden) Berufsangaben – die hiermit nachgewiesenen Ressourcen sind somit ein weiterer Anknüpfungspunkt für mögliche Hilfsangebote. Die überwiegende Mehrheit der Befragten (73 %) gab an, auf Dauer in Köln bleiben zu wollen; 12 % planten drei bis zwölf Monate, weitere 12 %

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etwa drei Monate in Köln zu bleiben. Es handelt sich also bei der Mehrzahl der Befragten um eine Zuwanderung mit langfristigen Perspektiven. Die Lebensumstände in Köln waren im Fokus des nächsten Fragekomplexes; dabei stand die Wohnsituation im Vordergrund. Addieren wir die Antwortkategorien „bei Freunden“, „auf der Straße“, „Eifelwall“, „Johanneshaus“ und „Keller/Garage“ zusammen, so sind 69 % der Befragten nach den Kriterien des Deutschen Städtetages „wohnungslos“ oder „von Wohnungslosigkeit bedroht“. Nur 2 % der Befragten gaben an, eine eigene Wohnung zu besitzen. Hier ist ein Handlungsbedarf für die kommunale Sozial- und Ordnungspolitik dringend angezeigt – die EU-2 Zuwanderer in Köln sind ein Problem für die Wohnungslosenhilfe. Wie wird der Lebensunterhalt gesichert? Diese Problematik steht im nächsten Fokus. Da 97 % der Befragten keinerlei Sozialleistungen beziehen und auch nur 3 % in Deutschland krankenversichert sind (17 % geben an, in ihrem Heimaltland krankenversichert zu sein), kommt der Frage nach der Sicherung des Lebensunterhaltes eine zentrale Rolle zu (Mehrfachnennungen): Diese „Einkommenssituation“ kann nur als „prekär“ gekennzeichnet werden. Neben „Gelegenheitsarbeiten“ sind „Flaschensammeln“ und „Betteln“ die „Haupteinnahmequellen“. Nur 5 % geben an, einer regelmäßigen Arbeit nachzugehen; immerhin rund 13 % geben an, ein Einkommen durch Prostitution zu erzielen. Die Nutzung der Wohnungslosenhilfen wurde im vorletzten Komplex abgefragt; die Ergebnisse bestätigen die Einsichten der beiden ersten Befragungswellen: Die überwiegende Mehrheit (67 %) der Befragten nutzen bzw. haben schon einmal eine Einrichtung der Wohnungslosenhilfe genutzt. Die Sicherung des Alltäglichen (Übernachten – Eifelwall / Hygiene – GULLIVER / Essen – Suppenküchen) steht deutlich im Vordergrund. 77 % der Befragten nutzen täglich eine Einrichtung der Wohnungslosenhilfe. Die hier untersuchte Zuwanderung aus den EU-2 Staaten ist ohne die Wohnungslosenhilfe nicht möglich. Hier findet eine existenzielle Absicherung der Zuwanderer durch die niedrigschwelligen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe statt. Nur 18 % berichten von Problemen mit Gästen oder Mitarbeitern in der Wohnungslosenhilfe; 22 % berichten von Problemen mit der Polizei, 9,5 % von Problemen mit dem Ordnungsamt und nur 4 % von Problemen mit an-

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deren Wohnungslosen! 72 % gaben an, mit keiner dieser Gruppen Probleme zu haben. Die Bedürfnisse dieser Befragtengruppe können wie folgt umschrieben werden: Arbeit, Wohnen, Sprachkompetenzen erwerben – danach folgen Sozialberatung, Hilfe bei Ämtergängen Grundversorgung und Gesundheit – eine deutliche Prioritätenliste. Die Aufgabenstellung für eine kommunale Sozialpolitik ist damit im hier untersuchten Kontext deutlich. Aber auch die zu erbringenden Dienstleistungen durch die Soziale Arbeit: Sprachkurse, Sozialberatung, Hilfe bei Ämtergängen – alles Beratungsangebote, die zur Kernkompetenz der Sozialen Arbeit gehören. Und zu guter Letzt die Frage nach Partizipation: „Haben Sie Interesse an einem Hilfsangebot für bulgarische und rumänische Immigranten mitzuarbeiten?“ war die letzte Frage in dieser Befragungswelle. Und über drei Viertel (77 %) beantworteten diese Frage mit „Ja“. In der Qualitativen Befragungswelle wurden mit vier ausgewählten Kölner Expertinnen und Experten (aus den Bereichen Sicherheit, soziale Sicherung, Soziale Arbeit, Zuwanderer) im Untersuchungszeitraum entsprechende leitfadengestützte Interviews geführt und dokumentiert. Die Auswertung der Interviews ergab folgende zentrale Fokussierungen: Quantitäten der Zuwanderung / „Brennpunkte“ im städtischen Raum / Ausbildungsstand der Zuwanderer / „Ethnische Gruppen“ als Untergruppen / Rechtslage der Zuwanderer / Problemlagen der Zuwanderer. In allen vier Interviews spielt die Sprachbarriere eine zentrale Rolle. Alle vier Befragten empfehlen dringend den Einsatz entsprechender Sprachund Kulturmittler bzw. entsprechender Instrumente (multilinguale Anlaufstellen, Handreichungen, Internetseiten, Web 2.0 basierte Hilfsangebote) in der Kölner Praxis der Sozial-, Jugend- und Ordnungsbehörden. Daneben wird der Zugang zum Gesundheitssystem als dringend notwendig erachtet. Zentral ist aber allen Interviews der erleichterte Zugang zur Arbeit. Alle vier appellieren deutlich an die Kölner Politik, diese neue Zuwanderung der neuen EU-Bürger sozialverträglich im Sinne einer offenen Stadtgesellschaft zu ermöglichen: „Köln ist und war immer eine offene Stadt und das soll auch so bleiben“ – so ein Schlüsselzitat!

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B EWERTUNG DER E RGEBNISSE UND H ANDLUNGSEMPFEHLUNGEN Im Selbstverständnis einer „Forschung als Intervention“ beinhaltet der abschließende Forschungsbericht (Münch/Hauprich 2013) eine Bewertung der Ergebnisse und – natürlich – auch Handlungsempfehlungen! So belegen die vorliegenden Ergebnisse sehr deutlich, dass die Zuwanderung aus den EU-2 Staaten Rumänien und Bulgarien durch eine besondere Problematik gekennzeichnet ist: Diese Form von EU-Binnenmigration, bei der aktuelle Lebensbedingungen im Herkunfts- und Aufnahmeland als prekär zu kennzeichnen sind, stellt Zuwanderer und Aufnahmegesellschaft vor besondere Herausforderungen. Denn die prekären Lebensumstände in Deutschland drängen die Zuwanderer in die niedrigschwelligen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe – und hier stellen sie in der Regel zur Zeit noch eine qualitative und quantitative Überforderung der Einrichtungen dar. So auch in Köln: Die vorliegende Untersuchung lässt sehr deutlich erkennen, dass die niedrigschwelligen Einrichtungen der Kölner Wohnungslosenhilfe – indem sie ihre Hilfsangebote den Zuwanderern zur Verfügung stellen – seit Jahren diese neue Zuwanderung ermöglichen, ohne für diese Aufgabe sachlich und fachlich adäquat ausgestattet zu sein. Die Folge ist eine Zunahme von Konflikten und Verdrängungen ebendort. Das Leben auf der Straße wird durch diese neuen Problemkonstellationen in den Einrichtungen mit weiteren Stressoren erheblich belastet – mit allen Konsequenzen für die Kölner Gesamtbevölkerung. Die EU-2 Binnenmigration ist weder durch „Ethnisierungen“, noch durch politische Kampagnen zu ignorieren oder gar „einzudämmen“. Sie ist ein politisch gewollter Bestandteil eines neuen und freizügigen Europas und muss durch entsprechende politische Entscheidungen (vgl. Deutscher Städtetag 2013) erleichtert und ermöglicht werden. Zur schnellen Problemlösung ist daher eine entsprechende qualitative und quantitative Ausstattung der Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe (Sprachmittler, Kulturmittler, spezialisierte Sozialberatung, Angebote der Grundversorgung, Qualifizierungs- und Sprachkurse) angezeigt. Diese Hilfen und Angebote müssen schnell und zielgerichtet in den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe installiert werden.

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B ESONDERE M ERKMALE DES F ORSCHUNGSPROZESSES Dass bei Forschungsvorhaben zur Zuwanderung die Zuwanderer und bei Fragestellungen zur Wohnungslosigkeit die betroffenen Wohnungslosen selbst als Experten der eigenen Lebenswelt befragt werden, kann nicht ernsthaft in Frage gestellt werden. Im konkreten Forschungsprojekt wurde analog zum betroffenen- und ressourcenorientierten Arbeitsansatzes des Kölner Arbeitslosenzentrum KALZ e.V. (Beratung für Arbeitslose, Obdachlosenrestaurant LORE, Überlebensstation GULLIVER) die Integration und Mitarbeit der zu befragenden Zielgruppen und die Fokussierung auf „Hilfe zur Selbsthilfe“ im gesamten Projektprozess als unabdingbar erachtet und eingeplant. So wurde die Befragung der Kölner Wohnungslosen durch Mitarbeiter der Überlebensstation durchgeführt, die ehemals wohnungslos waren und daher als „Experten in der Wohnungslosigkeit“ zu kennzeichnen sind. Gleiches galt für die Befragung der Zuwanderer; unterstützt von Sprach- und Kulturmittlern aus den Herkunftsländern wurden in der Lebenswelt der Zuwanderer (Notübernachtungen, wilde Zeltplätze „Platten“ usw.) die Befragungen durchgeführt. Und bereits in der Explorationsphase wurden autochthone Wohnungslose in die Expertenbefragung integriert. Die methodisch zu begründende Integration der Zielgruppen in die Forschung basiert sicher auch zu einem großen Teil auf dem Grundverständnis der Überlebensstation – das Prinzip „Die Betroffenen sind die Experten ihrer Lebenswelt“, – das dort bereits in der Vergangenheit erfolgreich und modellhaft durchgeführt wurde und zu lebensnahen, passgenauen Angeboten und deren Weiterentwicklung für und mit den betroffenen Menschen geführt hat, erleichterte diesen Forschungsansatz erheblich (vgl. Münch 2011). Ein derartiges Forschungsverständnis erleichtert einerseits den Zugang zu den Zielgruppen; andererseits sind auch hier Verfremdungs- und Verzerrungseffekte, wie sie Bourdieu bereits im „Elend der Welt“ (vgl. Bourdieu 1997: 779-822) ausführlich beschrieb, zu berücksichtigen.

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„F ORSCHUNG

ALS I NTERVENTION “

An diesem Punkt hätte das Forschungsprojekt als abgeschlossen betrachtet werden können: Die Ergebnisse liegen vor, Handlungsempfehlungen an die Politik sind gegeben – die „Wissenschaft“ hat ihren Auftrag als „Produzent von Wissen und Erkenntnis“ erfüllt! Alles Weitere kann sie jetzt der „Gesellschaft“ oder wem auch immer überlassen. Kann sie das? „Wir legen hier Zeugnisse vor, die Männer und Frauen uns hinsichtlich ihrer Existenz und ihrer Schwierigkeiten zu existieren anvertraut haben“ (Bourdieu 1997: 13) so beginnt Pierre Bourdieu sein „Elend der Welt“ und er stellt an gleicher Stelle die Anweisung Spinozas „nicht bemitleiden, nicht auslachen, nicht verabscheuen, sondern verstehen“ (a.a.O.) in den Mittelpunkt seiner Einführung „An den Leser“. Und an anderer Stelle spricht er von einer „Soziologie, die kritische Intentionen haben kann“ (Bourdieu 2013: 21) – ein Leitfaden, der sich durch das ganze Werk von Pierre Bourdieu zieht und immer trifft man bei ihm auf Positionen, in denen er das schwierige Verhältnis des Forschers zu den sozialen Bewegungen beschreibt und Positionen anempfiehlt: “Wir Forscher können zumindest davon träumen, dass ein Teil unserer Forschungen der sozialen Bewegung nützen könnte, anstatt verloren zu gehen…“ (Bourdieu 2004: 77) denn es geht immer darum, dem „Neoliberalismus geistige und kulturelle Waffen entgegenzusetzen“ (a.a.O.)! Wer also mit Bourdieu „Soziologie als Kampfsport“ versteht, sucht nach den Möglichkeiten, den ersten Rissen im Gebäude, nach Chancen den entscheidenden Griff anzusetzen, den „Königsmechanismus“ – wie Norbert Elias ihn beschreibt – zu exekutieren, um gesellschaftliche Fragen anders und kritisch beantworten zu können. So kann man „Forschung als Intervention“ dezidiert politisch lesen; als kritische Intervention und Parteinahme von Wissenschaft in gesellschaftliche Kontroversen. Und dass dies zumindest im Umkehrschluss, also affirmativ, durchaus funktioniert, dafür findet man ausreichend Beispiele in der Verknüpfung der sog. „Wirtschaftswissenschaften“ mit dem herrschenden politischen System (vgl. Streeck 2013). Man kann diese Strategie aber einfach als Auseinandersetzung mit der Frage lesen, wie denn die Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Forschung in den politischen Diskurs eingefügt werden können. Ein Blick auf „The Impact Blog“ der London SE ist aufschlussreich: Die vorgestellten Ergebnisse einer australischen Studie

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zum Thema „Impact of Social Sciences“ lassen deutlich werden, dass „academic research, while valued and considered relevant, is not being used by the majority of staff in policy decision-making“ (The Impact Blog 2015). Politische Entscheidungsträger geben als Hauptgründe für diese Abstinenz an, „that academic research is not available when needed, is difficult to access, or is not being translated in a user-friendly form for policy-makers“ (a.a.O.). Die Konsequenz aus dieser Analyse lautet den auch folgerichtig, dass vier Wege zur besseren Einflussnahme notwendig sind: •

• • •

Damit wissenschaftliche Ergebnisse in reflektierte politische Entscheidungen einfließen können, müssen sie zugänglich (formal und inhaltlich) sein. Beziehungen zwischen den Systemen Wissenschaft und Politik müssen aufgebaut und gepflegt werden. Entsprechende Kommunikationskanäle müssen regelmäßig genutzt werden. Möglichkeiten zum ganz persönlichen Treffen beider Akteursgruppen müssen angeboten werden.

Und wir würden noch ergänzen: •

Die Kompetenzbereiche und Handlungsfreiheiten von Wissenschaft einerseits und Politik andererseits müssen wechselseitig respektiert und geschützt werden.

Dann, so die australischen Kolleginnen und Kollegen, sind zumindest die Grundlagen geschaffen, dass wissenschaftliche Ergebnisse in politische Entscheidungen einfließen können. Wie kann nun diese eher pragmatische Betrachtungsweise mit der Intervention einer kritischen Sozialwissenschaft in Deckung gebracht werden? Und was, so die folgerichtige Frage, können Soziale Arbeit und Sozialwissenschaft im Kontext einer „Forschung als Intervention“ denn nun mit diesen Ergebnissen anfangen?

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P RAKTISCHE I NTERVENTION Unmittelbar nach dem Erscheinen des Projektberichtes (Münch/Hauprich 2013) begannen die entsprechenden Strategien: Gestartet wurde mit einem Exklusivbeitrag im Kölner Stadtanzeiger unter dem Titel „Gekommen um zu bleiben“ (KSTAZ 2013) in der auf einer kompletten Seite die Ergebnisse ausführlich dargestellt wurden. Der Tenor der Berichterstattung war dabei, dass es sich um eine legale und ganz „normale“ EU-Binnenwanderung aus den beiden neuen Beitrittsländern handelt. In den folgenden Wochen wurden die Autoren zu einer Vielzahl von öffentlichen und teilöffentlichen Veranstaltungen eingeladen, wo sie die Ergebnisse ihrer Studie vorstellen konnten. Dabei reichte das Spektrum von Veranstaltungen der Wohlfahrtsverbände bis hin zu den Ratsfraktionen. Mit den vorgestellten Ergebnissen wurden dem lokalen Politikdiskurs eine empirische Basis eingezogen; alle Diskussionen mussten sich nunmehr auf die Studie als Diskussionsbasis stellen, hinter die Ergebnisse und Empfehlungen konnte nicht mehr zurück gegangen werden. Das lokale Diskursfeld wurde die Studienergebnisse beschrieben und umrissen; die „Diskurshoheit“ war erreicht. Auch Schwachstellen und Unbestimmtheiten im Forschungsprozess wurden transparent diskutiert. Interessant war ab diesem Zeitpunkt die Umsetzung bzw. Nichtumsetzung der Handlungsempfehlungen; trotz „Diskurshoheit“ konnte der Kooperationspartner GULLIVER erst im zweiten Schritt auf neue Landesfördermittel zur Integration der Neuzuwanderer zugreifen. Im ersten Schritt wurden zuvorderst größere Akteure aus dem Feld der Wohlfahrtsverbände mit entsprechenden Mitteln versehen. Trotz dieser „Friktionen“ kann im Rückblick ein positives Fazit der Intervention gezogen werden: neben der „Versachlichung“ (ein ähnlich schillernder Begriff wie „ideologiefrei“) des lokalen Diskurses, wurden konkrete Verbesserungen der Situation der Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien in Köln erreicht – ein Erfolg der Sozialen Arbeit!

T RANSFER

IN DIE

S OZIALE ARBEIT

Erfreulicherweise haben sich in den vergangenen Jahren eigenständige und eigensinnige Forschungslinien in der Sozialen Arbeit herausgebildet. Gera-

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de die Fragestellungen zum „Gebrauchswert“ Sozialer Arbeit wie wir sie in der „Nutzungsforschung“ (vgl. Bareis 2012 / Graßhoff 2012 / Oelerich und Schaarschuch 2005) finden, bieten der Profession neue und weiterführende Strategien. Bei der hier vorgestellten „Forschungsintervention“ handelt es sich aber eher um eine instrumentelle Betrachtungsweise; nicht die inhaltlichen, methodischen und methodologischen Fragen der Forschung in der Sozialen Arbeit stehen dabei im Vordergrund; vielmehr geht es hier um die Frage der Wirkung von Forschung im System der Politik! Oder präziser formuliert: Wie können wir die Wirkmächtigkeit von Forschung in die Politik hinein verbessern – und dies sehr konkret auf der Ebene der lokalen Sozialpolitik? Neben den im entsprechenden Abschnitt des Textes aufgezeigten methodischen Besonderheiten in der Partizipation der Befragten, geht es hier – wenn über den Transfer in die Profession nachdenken – eher darum, den Blick der Profession auf die Möglichkeiten von kleinteiliger Forschung als Bestandteil professionellen Tun zu lenken. Am hier vorgestellten Beispiel soll deutlich werden, dass kleinteilige Forschungsvorhaben machbar sind, wesentliche Erkenntnisse über das eigene Tun bzw. die Rahmenbedingungen hervorbringen können und dass diese Ergebnisse den Prozess der lokalen Sozialpolitik beeinflussen können. Es ist dann in der Praxis von Fall zu Fall zu entscheiden, ob die eigene Forschungskompetenz als ausreichend erachtet wird, oder ob auf Kooperationen mit Fachhochschulen bzw. Hochschulen für angewandte Wissenschaft zurückgegriffen wird, um lokale Forschungsvorhaben durchzuführen. Im Sinne eines Transfers ist es daher notwendig, in der Profession den Blick für die weitere Arbeit mit den Forschungsergebnissen zu öffnen und die notwendigen Basisqualifikationen zur „Intervention mit Forschung“ zu vermitteln. Vergleichbar mit dem Feld der Öffentlichkeitsarbeit bzw. des Sozialmarketing, ist hier die Herstellung und Pflege von lokalen Netzwerken in Medien und Politik als Grundlage für „Forschung als Intervention“ unumgänglich. „Forschung als Intervention“ – so unser Fazit – ist eine sinnvolle Strategie, in der die Soziale Arbeit forscht und gleichzeitig die Forschung und ihre Ergebnisse in die Aktion mit der Politik bringt.

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Und wer hier im Hintergrund der vorgestellte Skizze die „action research“ erkennt und Kurt Lewin um die Ecke schauen sieht – der sieht ganz richtig!

L ITERATUR Bade, Klaus J. (2013): Kritik und Gewalt: Sarrazin-Debatte, „Islamkritik“ und Terror in der Einwanderungsgesellschaft. Frankfurt. Bareis, Ellen (2012): Nutzbarmachung und ihre Grenzen. In: Gunter Graßhof (Hg.): Kritisches Forschen in der Sozialen Arbeit. Wiesbaden. S. 291-314. Bogner, Alexander; Littig, Beate; Menz Wolfgang (2014): Interviews mit Experten. Eine praxisorientierte Einführung. Wiesbaden. Bourdieu, Pierre (1997): Das Elend der Welt. Konstanz. Bourdieu, Pierre (2004): Gegenfeuer. Konstanz. Bourdieu, Pierre (2013): „Inzwischen kenne ich alle Krankheiten der soziologischen Vernunft“. Pierre Bourdieu im Gespräch mit Beate Kreis, in: Brake, Anna u.a.: Empirisch arbeiten mit Bourdieu. Weinheim. S. 2034. Graßhof, Gunter (Hg.) (2012): Kritisches Forschen in der Sozialen Arbeit. Wiesbaden. Münch, Thomas/Hauprich, Kai (2013): Port GULLIVER – Forschungsprojekt Südosteuropäische Armutsmigration in Köln. Online: http://sozkult.fh-duesseldorf.de/forschung/forschungsschwerpunkte/wohlfahrts verbaende/projekte (Zugriff: 24.02.2015). IAB (2014): Zuwanderungsmonitor Bulgarien und Rumänien. Nürnberg. KSTAZ (2013): „Gekommen um zu bleiben“. Lokalausgabe vom 20.06. 2013. Köln. Lewin, Kurt (1948): Aktionsforschung. Bad-Neuheim. Münch, Thomas (2011): Partizipative Entwicklung, Begleitung und Realisierung einer Gepäckaufbewahrung in der Überlebensstation für Wohnungslose GULLIVER in Köln. Online: http://soz-kult.fh-duessedorf.de /forschung/forschungsschwerpunkte/wohlfahrtsverbaende/index_html. (Zugriff: 24.02.2015). Oelerich, Gertrud/Andreas Scharschuch (Hg.) (2005): Soziale Dienstleistungen aus Nutzersicht. Zum Gebrauchswert Sozialer Arbeit. München.

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Streeck, Wolfgang (2003): No longer the Century of Corporatism. Das Ende des ‚Bündnisses für Arbeit‘. MPIfG Working Paper 03/4 Mai 2013. Köln. Streeck, Wolfgang (2013): Gekaufte Zeit: Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Frankfurt. Streeck, Wolfgang (2014): Politische Ökonomie als Soziologie: Kann das gutgehen? In: Zeitschrift für Theoretische Soziologie 1/2014. Weinheim. S. 147-166. The Impact Blog (2015): Australien survey indicates policy-makers still have major reservation about assigning priority to academic research. LSE London. Online: http://blogs.lse.ac.uk/impactofsocialsciences/2014/ 06/13/are-policy-makers-interested-in-academic-research/ (Zugriff: 24.02.2015).

Stadt – Aktion – Forschung – Kunst J ONNY B AUER

P ROJEKTE

UND

M ETHODEN

Projekte zur Aneignung, Nutzung und Veränderung des städtischen Raumes am Beispiel des Netzwerkes „Freiräume für Bewegung“ aus Düsseldorf.

G ENTRIFIZIERUNG Raus aus der Wissenschaft, rein ins Stadtgespräch. Die Reise des stadtsoziologischen Begriffes über die Popkultur in den alltäglichen Sprachgebrauch. Angekommen am Bahnhof der Zukunft feiert der Begriff seinen Höhepunkt im Kundenmagazin der Deutsche Bahn „Mobil“ vom Sommer 2012. In einem durchschnittlichen Artikel werden die Auswüchse und Nebenwirkung der Verdrängungsprozesse und „der Stadt von oben“ kritisch beleuchtet. Nicht nur das. Aktivistinnen der Gegenbewegung wie „Recht auf Stadt“ werden positiv erwähnt. Verdrängte und Verdränger haben alle das G-Wort schon einmal gehört. Den einen macht es Angst, die anderen treibt es an!

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AUFKLÄRUNG Die Zeit der Aufklärung scheint vorbei. Das Statement ist klar. „Es ist unsere Stadt, wir schenken sie euch.“

Ein Slogan von „Freiräume für Bewegung“, einem freien Zusammenschluss von KünstlerInnen, Kunst- und Kulturvereinen, VeranstalterInnen, politischen AktivistInnen, Kreativen und Bürgerinnen aus Düsseldorf. Bemalte Fassaden, Kunst in Fabriken, Kino an Hauswänden, offene Galerien, draußen Essen mit allen, Straßenfeste, Parks ohne OSD und Vertreibung, kamerafreie Zonen, wildes Plakatieren, Sonnenblumen auf dem Mittelstreifen, Musik mit den Nachbarn, leben statt konsumieren; öffentliche Räume, die offen für alle sind! Die Straßen, Plätze und Parks gehören uns, denn die Stadt gehört allen, die darin leben.

AKTION – K UNST Dieser Text beleuchtet ein paar ausgewählte Aktionsformen um die oben genannten Ziele voranzutreiben. Bemerkenswert an der Forderung nach „Recht auf Stadt“ ist die Kreativität und der Spaß, der alt eingesessene Stadtteilbewohner und „Kreative“ zusammen aktiv werden lässt. Die Einbindung und Zusammenführung der betroffenen Gruppen, seien es Künstler die keinen bezahlbaren Atelierraum finden oder sozial schwache Familien, denen die Stadtführung nahelegt, dass für sie kein Platz in Düsseldorf ist und sie lieber nach Krefeld umsiedeln sollen, ist der entscheidende Faktor um weitreichende verbindende Aktionen durchzuführen. Sie erreichen so große Öffentlichkeit. Diese Aktionen dienen zum einen als Diskussionsanstoß, doch viel mehr ist es ein sichtbares Zeichen der Stadtbewohner die nicht länger auf politische Entscheidungen warten, sondern sich nehmen was ihnen eh schon gehört. Ihre Stadt. Stadt erlebbar machen. Stadt entdecken, entwickeln, aneignen und teilen. Dafür sind Künstler und Aktivisten wichtig. Durch ihre kreativen Arbeitsmethoden und ihr Verständnis für Räume.

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Bewohner und Besucher Düsseldorfs werden an der Pforte der Stadt, einer Unterführung hinter dem Hauptbahnhof, auf ihrem Weg in die Einkaufszone durch die riesigen gemalten Worte: „Es ist unsere Stadt, wir schenken sie euch“ begrüßt. Ein herrlicher Willkommensgruß. Von wegen „Stadt von oben.“ Im Kampf um die stärksten Investoren und die finanzkräftigsten Bewohner verkauft sich Düsseldorf als massengerechtes Modeereignis – Hauptsache es glitzert!

AKTION – D IE W ELTREKORDWURST 101 Meter, die längste vegetarisch Wurst der Welt. Der offizieller Weltrekord, abgenommen und dokumentiert im Guinness Buch der Rekorde versteht sich nicht als Nonsens Event. Den Weltrekord schenkten die Organisatoren im Rahmen von mehreren „Freiräume für Bewegung“ Aktionen stellvertretend für die Stadt dem Düsseldorfer Oberbürgermeister Dirk Elbers in Form der Urkunde und den Eintrag ins Guinness Buch der Rekorde. Die Annahme wurde verweigert. Der Kulturdezernent Hans-Georg Lohe lehnte das Geschenk mit den Worten „die Aktion mit der Wurst ist keine Kunst und ich bin somit auch nicht zuständig“ ab. Da steht er nun, der humorloseste Düsseldorfer, der als einziger ganz genau zu wissen schien, was Kunst ist. Zumindest wissen die Organisatoren jetzt was Kunst nicht ist. Über die Ablehnung hat sich die Presse wochenlang gefreut. Der Wurstskandal im Sommerloch. Und auch noch vegetarisch. Aktion Düsseldorf, Landeshauptstadt von NRW, hat sich in den letzten Jahren äußerst schwer getan mit Rekorden. Gescheiterte Bewerbungen als Austragungsort der Olympischen Spiele und der Fußball-Weltmeisterschaft, ein Binnenhafen ohne Containerterminal, und auch der Düsseldorfer Fernsehturm ist nicht der größte.

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Im aktuellen Städteranking liegt man weit hinter Hamburg und Köln. Das musste geändert werden. Durch gezielte Aufwertung würde die Stadt das erste Mal in ihrer über 700 Jahre alten Geschichte auf die Pole-Position katapultieret. Ein uneigennütziges, hohes Ziel der durchführenden Künstlergruppe. Das Ganze sollte seine Erfüllung im Rahmen des „Kunst“-EventSpektakels „Die Lange Nacht der Museen“ erfahren. Die lange Nacht erwartete wie im Vorjahr an die 30.000 Besucher. Das sollte reichen der Aktion einen besonderen Rahmen zu zimmern. Die Künstlergruppe suchte einen möglichst einfachen Rekord, da es ja eigentlich um die Schenkung an die Stadt gehen sollte. Leider hatten einige Nordengländer den Rekord der vegetarischen Bratwurst an einem Stück schon auf knapp 100 Meter geschraubt. Wenn man einmal eine Vision hat, bekommt man die nicht so leicht wieder aus Herz und Kopf. Wurst sollte Wurst bleiben. Brät in Pelle, irgendwie. Und dann rauf auf den Grill. Es mussten ja keine 200 Meter werden. 101 sollten reichen. Die Fakten Die Organisatoren entschlossen sich gegen das „selber kochen“. Wofür gibt es eine starke Industrie in Deutschland. Aber man kann kreative Denkprozesse von Künstlerkollektiven nicht mit den Mafo verseuchten Entscheidungen der Industrie vergleichen. Naivität killt Realismus. Es hagelte telefonische und schriftliche Absagen von allen deutschen Unternehmen. The Key is the Pelle: Nie hatte es ein Mensch geschafft, ein 101 Meter langen Darm aus einem Schwein oder Schaf zu schneiden. Gott selber hat kein Lebewesen mit so einem langen Verdauungssystem ausgestattet. Außerdem Tier = Non Vegetarisch. Die Wissenschaft musste her! Also geguckt was die moderne Molekularküche so zu bieten hat. Gelan, Agar-Agar, Xanthan und Lecithin schaffen verrückte Texturen, zum Beispiel die Sphärifizierung. Die Sphärifizierung ist eine Technik aus der spanischen Avantgardeküche, um verschieden große Kugeln herzustellen, wie zum Beispiel sphärischer Kaviar aus Cassislikör. Dabei geliert die Außenseite eines Cassislikör-Tropfens durch eine Reaktion von Alginsäure in ei-

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nem Kalziumsalzbad. Jetzt also nur noch Cassislikör durch vegetarisches Wurstbrät ersetzen und den Tropfen als 101 Meter lange Hülle bauen. Die Künstlergruppe fand im kleinen Twello, the Netherlands, eine Firma die einen welteinmaligen Casing´ContiProzess enwickelt hatte um auf Basis von Alginsäure eine vegetarische „Unendlichwurstpelle“ zu extrudieren, die dann in einem Kalziumsalzbad eine starke, ultrareißfeste Hülle bildet. Sie besaßen zwar keine vegetarische Brät-Rezeptur, aber dafür konnte der Produzent „Meatless“ gewonnen werden. Auch „Meatless“ hat ein großartiges, pflanzliches Faserprodukt aus Lupinen und Weizen. Irgendwo zwischen Sägespänen und Gummiabrieb, aber mit deutlich mehr Nährwert. Unter fachmännischer Anleitung gelang es das „Meatless“ Wurstbrät in eine dreißig Meter Alginathülle abzufüllen. Fest wie ein Gartenschlauch, flexibel und aufrollbar war die Versuchswurst. Next Stop: 101 Meter. Begeistert von dem High-Tech-Gartenschlauch musste nun noch die Grillsituation geklärt werden. Dann die rettende Überlegung: Der Einweggrill. Ein Einweggrill hat eine ungefähre Rostfläche von 26 cm in der Länge. 400 Stück mussten besorgt werden. Hier brennt nichts an Mehr als 200 HelferInnen meldeten sich und wurden mit einer Phantasieuniform und genauen Instruktionen ausgestattet. Menschliches Versagen: nicht zu gebrauchen. Die Wurst durfte nicht reißen. Der Weltrekord Auf einer abgesperrten Straße drängten sich dicht gestaffelt die Freiwilligen der Wurst-Army. Die Straße brannte. Die Grilltemperatur von 500° Celsius war nach 15 Minuten erreicht. Es war eine logistische und feinmotorische Glanzleistung die Wurst durch 400 Hände gleiten zu lassen. Das Wendemanöver wurde eingeleitet. Die Wende. Gelang. Die 101 Meter Weltrekord Wurst schwitzte. Der vom Guinness Buch gesandte Offizielle bekam an der 101 Meter Marke das erste Stück Rekordwurst gereicht.

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Ein Biss und Daumen hoch. Es war geschafft. An die 3000 Schaulustige verfolgten den „Event“ und freuten sich für ihre Stadt, die nun endlich mit den ganz Großen konkurrieren konnte. Es ist nicht erwiesen wie viele Milliarden Euro an Investitionen durch das Markenzeichen „official world-record“ in die Stadt flossen, aber die Stadt musste nicht wie das naheliegende Bochum die Wassertemperatur in den städtischen Bäderbetrieben um zwei Grad senken um Haushaltskosten zu sparen. Mehrere Versuche von Ordnungsamt-Beamten die Aktion frühzeitig abzubrechen schlugen aufgrund des lautstarken Unmuts der anwesenden Gäste fehl. Es wurde bis tief in die Nacht gefeiert. Rheinische Post, Tageszeitung: Die Besucherin Anja Neuhaus (21) begeisterte das Gemeinschaftserlebnis: „Das ist schon auch ein anderer Kunstbegriff“, sagte sie mit Blick auf den etablierten Kulturbetrieb.

Einschub/Schenkung § 516
 Begriff der Schenkung (Auszug) (1) Eine Zuwendung, durch die jemand aus seinem Vermögen einen anderen bereichert, ist Schenkung, wenn beide Teile darüber einig sind, dass die Zuwendung unentgeltlich erfolgt. (2) Ist die Zuwendung ohne den Willen des anderen erfolgt, so kann ihn der Zuwendende unter Bestimmung einer angemessenen Frist zur Erklärung über die Annahme auffordern. Nach dem Ablauf der Frist gilt die Schenkung als angenommen, wenn nicht der andere sie vorher abgelehnt hat. Die Initiative „Freiräume für Bewegung“ nutzte das Gesetz zum Begriff der Schenkung für viele ihrer Aktionen. Entscheidend der Faktor, das nach Ablauf der Ablehnungsfrist ein Geschenk als angenommen gilt.

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D IE G ESTALTUNG DER

EIGENEN U MWELT VERBUNDEN MIT POLITISCHEN I DEEN Das Geschenk der Gestaltung von 25 Metern der Unterführung Ellerstr./ Mintroplatz, einem der hässlichsten Orte der Stadt. Mit 400 Unterstützerinnen, Live-Musik, Kaffee und Kuchen und natürlich jeder Menge Farben im Gepäck wurde dieser wenig prestigeträchtigen Ort mit Straßenfeststimmung geentert. Graffiti-KünstlerInnen sorgten für mehrere große bunte Bilder auf den Unterführungswänden. Dies stieß bei den Anwohnern auf positive Resonanz. Es ging darum, mit vielen Leuten temporär ein Stück Stadt und dauerhaft 25 Meter Wand zu erobern und zu beleben, sowie die Repression gegen Graffiti KünstlerInnen zu thematisieren. Das Geschenk wurde im Vorfeld nicht abgelehnt und so mussten die von der Polizei gestellten Anzeigen in Nachhinein fallen gelassen werden. Es stellte sich nun auch endlich heraus, wer der Eigentümer der Unterführung ist. Jahrelang hatte sich weder die Stadt noch die Deutsche Bahn dazu geäußert. Auf den öffentlichen Druck den die Bemalungs-Aktion ausgelöst hat, schrieb die Bahn einen Brief an die AktivistInnen und die Presse, der die Künstler dazu legitimierte die Unterführung vollständig zu verschönern. Die Kosten dafür wollte die Bahn allerdings nicht übernehmen. Bei einer weiteren Aktion wurde die Unterführung fertig gestaltet. Mehr als 1.000 Besucher verfolgten das Kunstereignis an dem Künstler aus diversen Städten beteiligt waren. Im Bezug darauf wurden aufgrund durch Repression und fehlender legaler Sprühflächen entstandenen Schulden der Düsseldorfer Graffiti-Szene symbolisch der Stadt geschenkt. Ausgeschilderte Werbeflächen, Strafen für wildes Plakatieren, steril sanierte Grünflächen, Musizierverbot, Vertreibung Unliebsamer, Privatisierung – der öffentliche Raum in Düsseldorf unterliegt immer mehr den Regeln des freien Marktes. Ein Geschenk waren genauer gesagt zwölf Geschenke. Zwölf pinke Bänke zierten für einige Tage ausgewählte Plätze die symbolisch aber auch ganz konkret für Vertreibung, Ausgrenzung, Gentrifizierung und Privatisierung öffentlichen Raumes standen. Sie boten den Passanten die Möglichkeit sich diese zurückzuerobern, zu beleben und ins Gespräch zu kommen. Eine Bank wurde zum Beispiel am Bertha-von-Suttner Platz aufgestellt, der als

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Teil des Hauptbahnhofes privatisiert ist und somit starken Einschränkungen wie z.B. einem Alkoholverbot und dem Verbot nächtlichen Aufenthalts unterliegt. Zudem wurde ein Skateverbot erlassen, obwohl gerade die Skater den ansonsten eher toten Ort belebten. Symbolisch für die Stadtpolitik wurden schon nach zwei Tagen die gut genutzten Bänke vom Ordnungsamt eingesammelt. Zwischenzeitlich kamen die Bänke wieder zurück zu den Organisatoren und wurden weiter an Paten verschenkt, die dafür sorgen dass die Bänke in der Stadt stehen und öffentlich genutzt werden können. Unsere Stadt ist abwechslungsreich, kreativ, bunt und innovativ und bildet einen Kontrast zur standardisierten Franchise-Innenstadt. Neben all den Geschenken gab und gibt es noch viele andere Aktionen. Ein besonderes Ärgernis ist, dass Düsseldorf bewusst auf stetige Mietsteigerungen, Gentrifizierung und Wohnungsnot zusteuert während weiterhin lediglich neue Bürotürme – trotz immensem Büroleerstand, zahlreiche Shopping-Tempel, oder Luxusappartements entstehen. Dass es in so einer Situation denkbar schwierig ist geeignete und bezahlbare Räume für Ateliers, unkommerzielle Kultur oder Proberäume zu finden, ist klar. Und dennoch gibt es sie: die leer stehenden Häuser, Fabriken und Ladenlokale.

L EERSTANDSMELDER Aus diesem Grund haben „Freiräume für Bewegung“ eine Zeitlang auf ihrer Internetseite einen Leerstandsmelder installiert. Dieses „tool“ bei dem jeder „user“ leer stehende Orte nach Nutzbarkeit, kreativer Aneignung oder Umnutzung einstellen und einsehen kann wird auch in Hamburg von Aktivisten anboten und stark genutzt. Die Aktionsgruppen der einzelnen Städte sehen sich als Teil einer bundesweiten Bewegung, die aktuell in mehreren deutschen Großstädten entsteht und ihr Recht auf Freiräume, Gestaltung und Selbstbestimmung – kurz: auf ihre Stadt – einfordert. Die Gruppen setzen sich mit viel Energie, Spaß und Kreativität inhaltlich mit den Themen wie Recht auf Stadt, Gentrifizierung, Vertreibung, (Wieder-)Aneignung von öffentlichem Raum und den möglichen Widerstandsformen gegen das neoliberale “Unternehmen Stadt“ auseinander.

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Es findet ein Städteübergreifender Austausch der AktivistiInnen durch diverse Veranstaltungsreihen statt. Die „rosa Bänke“ findet man mittlerweile auch außerhalb von Düsseldorf, in Berlin und Hamburg.

ABSCHLIESSENDES B EISPIEL Im Kleinen zeigt sich was im Größen angedacht und praktiziert wurde. So zu beobachten bei einer spontanen Aktion einiger Eltern in Düsseldorf. Die nicht organisierte Gruppe von Eltern verschickte Briefe an die Stadt wo sie um Nachbesserung eines Spielplatzes bat, bei dem in der Bauumsetzung Steinplatten so aufgestellt wurden das sie eine enorme Verletzungsgefahr für die Kinder darstellten. Nach einem drei Viertel Jahr gab es immer noch keine Antwort seitens der zuständigen Ämter. Die Eltern gingen einen anderen Weg. Einen für sie neuen, unbetretenen Pfad. Über das Aktions-Netzwerk „Freiräume für Bewegung“ fanden sie einen Bildhauer der Kunstakademie Düsseldorf, der kurz lachte über das Anliegen um dann am helllichten Tag mit entsprechendem Werkzeug die baulichen Maßnahmen einzuleiten. Wenige Stunden später hatte sich die Kind-ungerechte Gefahrenarchitektur verabschiedet. Einfach. Praktisch. Gut. Selbstverständlich ist dies keiner Behörde aufgefallen. Was wie eine Kleinigkeit scheint, dies für den ausführenden Künstler auch ist, kann ein großer Schritt für die Eltern/Bewohner eines Stadtteils sein. Ein großer Schritt hin zu ihrer Stadt.

Q UELLEN Leerstandsmelder Hamburg: http://www.leerstandsmelder.de/hamburg Weltrekord-Wurst Videolink: http://youtu.be/ndPbQkOMl9o

Soziale Aktivierung Das Cafeteria-Projekt P ETER B ÜNDER & V OLKER S CHULZ

Wir, Peter Bünder und Volker Schulz, haben eine gemeinsame Lehrveranstaltung als Interdisziplinäres Modul im Rahmen unserer Studienordnung geplant. Es handelt sich um eine Veranstaltung im Grundstudium, die ein Thema aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Disziplinen und unterschiedlicher Lehrender behandeln sollte. Übergreifendes Ziel unseres Projekts war: Verstehen, dass soziale Arbeit davon lebt, dass Menschen sich engagieren und interessieren bzw. sich für ihre eigenen Belange einsetzen können. Wenn unsere Studierenden später mit Klient*innen Sozialer Arbeit arbeiten wollen, ist es sicher hilfreich, wenn sie während des Studiums praktisch erfahren, wie es ist, sich für die eigenen Belange einzusetzen. Als Nebeneffekt stellten wir uns vor, dass die Studierenden eine Menge wichtiger Fertigkeiten erlernen, die sie im späteren Berufsalltag nutzen können. Als Beispiel fiel uns die Cafeteria im Gebäude unseres Fachbereichs auf dem Hochschulcampus ein. Jahrzehntelang war die Cafeteria mit ihrem großen Verkaufsstand im Foyer und mit seinen Holz-Sitzgruppen das interaktive Kommunikationszentrum unseres Fachbereichs. Ohne Mitsprache des Fachbereichs und der Studierenden war die Cafeteria im Gebäude geschlossen worden. Für die geschlossene Cafeteria eröffnete das Studentenwerk in der benachbarten Universitätsbibliothek ein Lifestyle-Bistro mit teurem Convenience-Food. Teure Sushis statt Suppe, Latte Macchiato im

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Müllkleid („to go“) statt Kaffee im Porzellanbecher und mittags hundert Meter Schlange – ein Ansturm aus drei angrenzenden Gebäuden, der nicht zu bewältigen war. Wo die Studierenden und Mitarbeiter*innen früher die Beschäftigten des Studentenwerks mit Namen kannten und mit ihnen ihr Examen feierten, standen jetzt wechselnde anonyme Mitarbeiter*innen. Es fehlte der Ort für Gespräche innerhalb des Fachbereichs, für gemeinsames Essen, für Kontakte und Austausch. Die Studierenden des aktuellen ersten Jahres staunten bei den Berichten über die vergangene Cafeteria. Sie betrachteten das große Foyer mit den kommunikativen U-Bänken um runde Tische nun mit anderen Augen und wünschten sich eine eigene Cafeteria zurück, um ihren Studienalltag zu verschönern und zu bereichern. Sie waren schnell begeistert für das Projekt, die Cafeteria aus eigener Initiative wieder zu beleben. Wie immer, wenn nicht eine bestimmte Prüfung, sondern ein konkretes Projekt der Antrieb ist, verschafften sich die Studierenden in kurzer Zeit genug Wissen, um folgende Projektgruppen für Recherchen zu bilden. Projektgruppe 1: Organisatorischer Rahmen Historie: Was war früher, als es noch eine Cafeteria gab? Wie war sie organisiert? Wer waren die Betreiber*innen? Wer arbeitete dort? Wie waren diese im Verhältnis zur FH-Struktur organisiert? Wer war wirtschaftlich verantwortlich, welche Gewinne wurden gemacht? Dabei fanden die Studierenden interessante Dinge heraus: So wurde beispielsweise deutlich, dass die Betreiberfirma „Studentenwerk“ niemals Miete für die Cafeteria gezahlt hatte und auch bis heute wichtigen Raum des Fachbereichs als Lager für das schicke Bistro unentgeltlich nutzt. Die Miete für die genutzten Räumlichkeiten wurde immer ganz vom Fachbereich gezahlt, die Gewinne gehörten aber ausschließlich dem Studentenwerk. Wichtiges weiteres Ergebnis der Recherche war, dass der Fachbereich weder ein Mitspracherecht an den Cafeteria-Entscheidungen gehabt hatte noch für sich ein solches vehement eingefordert hatte. Auch öffentlichkeitswirksame oder wirtschaftlich interessante Aktionen der Fachschaft und der Studierenden (z.B. Boykott oder Besetzung durch „go-in“) waren nicht erfolgt.

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Projektgruppe 2: Gesetzlicher Rahmen Wie sehen die gesetzlichen Auflagen für eine Cafeteria aus? Wer darf ein Café eröffnen? Wer darf Lebensmittel verkaufen? Welche alternativen Möglichkeiten zum offiziellen Cafeteria-Betrieb gibt es? Dabei fanden die Studierenden heraus, dass es mehrere Möglichkeiten für das Projekt „selbstorganisierte Cafeteria“ gibt: •









1. Möglichkeit: Es handelt um ein Projekt von Studierenden für Studierende. Dazu war es praktisch, die Fachschaft des Fachbereichs mit ins Boot zu holen. Da der ASTA als Dachorganisation der Studierenden bereits ein kleines Café am zweiten Standort unterhält, wäre die Cafeteria als Zweigstelle ebenfalls zu betreiben gewesen. 2. Möglichkeit: Die Studierenden hätten einen Verein gründen können, dem automatisch beitritt, wer etwas kauft und verzehrt (auf diese Weise funktionieren auch andere Studierendentreffs und politische Clubs in Düsseldorf). 3. Möglichkeit: Existenzgründer-Programme und die Möglichkeiten einer privaten Betreiber-Firma neben dem Monopol Studentenwerk wurden ebenfalls recherchiert. 4. Möglichkeit: Selbst die Idee, McDonald mit ins Boot zu holen, wurde von einem Studierenden, der früher bei der amerikanischen Kette jobbte, vorgebracht und von ihm und seinen Mitstudierenden ernsthaft diskutiert. 5. Möglichkeit: Die Cafeteria hätte als Zweigstelle des von dem FHDozenten Walter Scheffler ins Leben gerufenen „Café Grenzenlos“ betrieben werden können. Im Café Grenzenlos in Düsseldorf-Bilk speist Arm und Reich gemeinsam, aber zu unterschiedlichen Preisen zu Mittag. Studierende recherchierten vor Ort die Möglichkeit einer Zweigstelle auf dem Uni-Campus mit dem Ergebnis: Die Crew vom „Grenzenlos“ stand dem Cafeteria-Projekt wohlwollend gegenüber. Ein Engagement scheiterte aber an den Kapazitäten des Bilker Cafés.

Bei allen zu prüfenden Varianten einer wiederbelebten Cafeteria fanden sich interessierte Studierende, die ihre Fähigkeiten und speziellen Kenntnisse anwenden und einbringen konnten.

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Projektgruppe 3: Studentenwerk, Verhandlungen zur Wiedereröffnung Diese Projektgruppe machte ihre Erfahrungen mit dem Stil, der Starrheit, den Grenzen und auch der Borniertheit eines abgesicherten Trägers mit eingefahrenen Verwaltungsstrukturen. Projektgruppe 4: Dekanat und Fachbereichsrat Diese Gruppe führte Gespräche mit dem Dekanat und bereitete einen Beschluss des Fachbereichsrates vor, der das Projekt unterstützen sollte. Der Fachbereichsrat folgte den Anregungen der Studierenden und unterstützte das Projekt durch einen formalen Beschluss. Projektgruppe 5: Räume Diese Projektgruppe führte Gespräche mit der Hausverwaltung. Ergebnis war, dass sich die Hausverwaltung für nicht zuständig erklärte. Projektgruppe 6: Einkauf und Kalkulation Diese Projektgruppe wurde aktiv, als das Projekt tatsächlich ans Verkaufen ging. Sie organisierte Service- und Verbrauchsmaterial, hatte Kontakt zu Lieferant*innen und kalkulierte die Preise, so dass in der Tat während des Betriebs der selbst organisierten Cafeteria Gewinn erwirtschaftet wurde.

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Projektgruppe 7: Werbung und Öffentlichkeitsarbeit Diese Projektgruppe entwarf, vervielfältigte und verteilte Plakate und eigene Flyer und machte Werbung für die Veranstaltungen der Cafeteria.

Projektgruppe 8: Filmdokumentation Diese Gruppe begleitete das gesamte Projekt durch eine Videodokumentation. Die Studierenden lernten Organisation von und Umgang mit Kameras, Datenträgern, Schnittplätzen und Technik und stellten schließlich einen eigenen Dokumentarfilm her, den sie öffentlich zugänglich machten (Link dazu siehe unten ,Videos zum Projekt‘). Projektgruppe 9: Befragungsgruppe Von dieser Gruppe wurden Fragebögen entworfen und verteilt. Der Rücklauf bestand aus ca. 350 Fragebögen, die von der Gruppe auch ausgewertet wurden. Zu den erstaunlichsten Dingen, die bei den Recherchen ans Licht kamen, gehörte die skandalöse Tatsache, dass dem Studentenwerk unentgeltlich und ohne Miet- oder Nutzungsvertrag seit Jahrzehnten bis heute Räume und alle dazugehörigen Kosten (Wasser, Strom, Heizung) zur Verfügung gestellt werden, die die Fachhochschule als Mieterin aus ihren Mitteln zahlt.

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Die Recherchen wurden mit der Zeit zu einem Selbstläufer. Die Lehrenden waren Begleiter und Berater. Das Seminar wurde als „Vollversammlung“ der Projektgruppen und zur gegenseitigen Information und Absprache organisiert. Im Projektseminar herrschte immer eine sehr gute Stimmung, keiner drückte sich, alle machten ihre Arbeit. Nach den Recherchen im März und April wurde in der zweiten Hälfte des Sommersemesters die selbst organisierte Cafeteria eröffnet. Unterstützende Bündnispartner*innen wie die Dekanatsassistenz konnten gewonnen werden. Kaffeemaschinen wurden ausgeliehen und die Fachschaft verkaufte dem Projekt fair gehandelten Kaffee.

Im Mai und Juni fand dann bis zum Ende des Semesters für fünf Verkaufswochen im Foyer des Gebäudes der Cafeteria-Betrieb statt. Der erzielte Gewinn zeigte, dass sich ein solcher Betrieb durchaus rechnen würde. Die Resonanz auf die Befragung war außerordentlich positiv, sowohl bei den älteren wie den jüngeren Studierenden. Noch deutlicher unterstützten die übrigen Lehrenden das Projekt. Die Studierenden erfuhren insgesamt große Wertschätzung und Ermutigung. Widerstand bis Ablehnung kam aus der Liegenschaftsabteilung der Fachhochschule, die einen Konflikt mit dem Studentenwerk scheute. Das Studentenwerk selbst schickte Späher und auch das Dekanat des Fachbereichs scheute eine Auseinandersetzung mit dem Präsidium. Die Studierenden lernten so Konflikte, Interessens- und Machtstrukturen kennen. Den theoretischen Hintergrund, die theoretische Basis des Projekts bildeten Ansätze von Aktionsforschung und das Empowerment-Konzept. Nicht

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einzeln, sondern in der Gruppe für die eigenen Anliegen einzutreten, arbeitsteilig und mit Spaß vorzugehen und die eigenen Lebensumstände in die Hand zu nehmen: damit waren zentrale Kriterien für Empowerment gegeben. Das Ziel des Seminars war aus Sicht der Lehrenden erreicht: Am Beispiel eines eigenen Anliegens zu erleben, wie man nicht ohnmächtig, sondern in einer Gruppe stark ist, weil man dort aufgehoben ist, gemeinsam agieren und sich wehren kann, wenn man Position bezieht.

F AZIT

FÜR

V OLKER S CHULZ

Die Studierenden haben exemplarisch gelernt, sich nicht alles gefallen zu lassen, Missstände nicht hinzunehmen, vorhandene Strukturen zu nutzen, aber auch Strukturen verändern zu wollen und dazu Öffentlichkeit herzustellen und zu nutzen.

F AZIT

FÜR

P ETER B ÜNDER

Die Studierenden haben gelernt aktiv zu werden, bestehende Ungerechtigkeiten anzugehen, verändern zu wollen, um so ein gesellschaftspolitisches Bewusstsein zu entwickeln. Sie haben sich das Hochschulgebäude angeeignet und sich nicht auf die für sie vorgesehenen engen und passiven Rollen dort beschränkt.

G EMEINSAMES F AZIT Die Hochschule selbst hatte mit ihrer monopolistischen Ernährungsstruktur den Anlass für das Projekt gegeben: Statt der bieder-billigen und kommunikativen Altcafeteria, die ohne Mitsprache geschlossen wurde, wurde nun in kleinstem Rahmen teures Convenience-Food in Wegwerfbehältern angeboten, und dies ohne jegliche gemeinnützige oder private Konkurrenz. Damit wurde den Studierenden ein Stück Campus entrissen und der trabantenhafte Charakter des Campus als Ort-außer-der-Stadt verfestigt und betont.

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In den Momenten der Aktion wurde dieser Ort verändert. Aktive Studierende und ihre Kund*innen redeten, die Cafeteria wurde belebt, die breite Kommunikation im Haus wurde wieder möglich.

AUSBLICK Die selbst verwaltete Cafeteria ist leider nicht geblieben. Eine kleine Kerngruppe hätte am liebsten weiter gemacht; für die meisten der Studierenden ging ihr Studium nach diesem Semester aber mit anderen Prioritäten weiter und das Interesse war erloschen. Die aktive Gruppe fand wenig Unterstützung in der Fachschaft, die sich dem Widerstand der Liegenschaftsabteilung gegenüber der Raumnutzung hätte entgegen stellen können. Geblieben ist den Studierenden die Erfahrung der temporär erfolgreichen gemeinsamen Aktion. Für den Fall, dass mehr Studierende die Cafeteria zu ihrem Kernanliegen gemacht hätten, waren bereits weitere Aktionen, auch mit einer nächsten Eskalationsstufe, diskutiert worden: Sich täglich mit Hunderten in der Schlange des chicen Cafés „ex libris“ anzustellen, ein Sit-in mit Presse bei der Präsidentin zu organisieren, mit disruptiven Taktiken die alltägliche Ordnung der Hochschule zu stören und Öffentlichkeit dazu herzustellen. Projekte wie das unsere mit ihrem großen Lern- und Transfer-Effekt können immer und überall angestoßen werden. Wo immer es in größeren sozialen Einheiten kleinere strukturelle Mängel gibt und die Idee vermittelt werden kann: Hey, diese Strukturen sind von Menschen gemacht und können daher auch von Menschen verändert werden. Es lohnt sich, sich hier zu organisieren und zu engagieren. Interview und Redaktion: Lilo Schmitz

P ROJEKTGRUPPE „C AFETERIA“ – V IDEOS ZUM P ROJEKT https://www.youtube.com/watch?v=AYN1B7AU21c&feature=youtu.be https://www.youtube.com/watch?v=EdohjO9PVww

Spurensuche Ein Projekt in Düsseldorf-Derendorf F ABIAN C HYLE & V OLKER S CHULZ ( IM G ESPRÄCH MIT L ILO S CHMITZ )

L: Schildert doch mal euer Projekt! Was habt ihr wann, wie, mit wem gemacht? V: Letztes Semester war das, im Sommer. F: Genau, es war im Sommer 2013. Es war ein Seminar, ein kombiniertes Seminar aus dem Bereich Performative Kunst und Video, wo wir zwischen April und Juni, also zweieinhalb Monate, mit zwei Gruppen von Studenten, aus dem Bereich Performative Kunst und aus dem Bereich Video, losgezogen sind, um diesen Stadtteil rund um die Baustelle der künftigen FH zu recherchieren. Das war eigentlich, ich würde mal sagen, der gröbste Rahmen. V: Und das sind fünfzig Studenten gewesen, also in jeder Gruppe fünfundzwanzig. F: Genau! Das war so der gröbste Rahmen. V: Und was die hier studieren, müssen wir dir nicht sagen, das weißt du. L: Was ich interessant finde: Waren das zwei parallele Seminare, die ihr gleichzeitig… V: Zwei parallele Seminare, die wir gleichzeitig gemacht haben. In meiner Ankündigung stand: Ein Kooperationsseminar mit dem Performance-Seminar, das haben wir schon öfter so gemacht, aber es sind zwei unabhängige Seminare. Die arbeiten auch in großen Teilen unabhängig voneinander und treffen sich dann halt erst, wenn es nötig ist.

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F: Genau! Es verhielt sich wie zwei Straßen, die zusammengeführt wurden. Ich bin mir nicht sicher, wie wir das zeitlich genau strukturiert haben, aber wir hatten die erste Seminarstunde zusammen und haben erst mal in das Thema eingeführt, und da waren die zentralen Ideen: Was heißt das überhaupt vor Ort, zu recherchieren? Und es ist ja auch anders, wenn du performativ-körperlich recherchierst, natürlich, als wenn du filmisch recherchierst. Das heißt: Worauf schaut die Kamera, worauf schaut der Körper, oder, wenn er schaut, wie hört dann der Körper, oder wie spürt dann der Körper? Und ebenso: wie spürt und hört bzw. sieht die Kamera? Und überhaupt die Idee, zu sagen: Geht mal in einen Stadtteil, wobei, das war ja noch eingegrenzt: Geht mal in die Baustelle und guckt mal: Was gibt’s denn da, also was ist denn das für ein Umfeld? Wir haben das bewusst so offen gelassen und nicht gesagt: Okay, ihr müsst jetzt das oder das, es ist ja auch ein historischer Ort, und keine uninteressante Ecke, mit einer bestimmten Bevölkerungsstruktur bzw. ökonomische Struktur. Wir haben das völlig offen gelassen, um eben nicht gleich zu sagen, also, das Thema so zu fixieren, sondern es ging darum, dass die Studenten wirklich dahingehen, das erfahren und dann die Dinge extrahieren, die für sie interessant sind. Also deswegen auch „Spurensuche“, so hieß ja das ganze Projekt. Danach haben wir sie einmal zusammengeführt und sind zusammen, ich glaube, in der fünften Seminarstunde, in den Stadtteil gefahren. Dort haben wir sie in Kleingruppen eingeteilt, dann sind losgezogen, also, immer in Fünfergruppen oder Sechsergruppen, also Halbe-Halbe, um überhaupt mal das Feld kennenzulernen, sozusagen. Danach haben wir die Seminargruppen wieder getrennt, und deine haben aus diesem Videomaterial kleine Trailers gemacht und meine haben ein Filmscript entwickelt. Das war wieder getrennt voneinander. Als nächstes haben wir sie endgültig wieder in Kleingruppen geteilt und dann musste jede Kleingruppe einen Teil dieses Filmscripts realisieren. Dann hatten wir diese fünf verschiedenen Einzelteile, die wir dann analog zu dem dramaturgischen Konzept, das die Studenten entwickelt hatten, zusammengeschnitten haben. Das ist so in etwa der grobe Ablauf. Und, ganz wichtig: und das Ganze wurde auch wieder im Stadtteil präsentiert. Das finde ich schon auch einen wichtigen Aspekt. L: Die Plakate habe ich auch gesehen.

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F: Genau! Dass das auch wieder zurückgeführt wird und dass es nicht nur ist: Wir kommen, machen und gehen wieder, sondern dass das Produkt auch wieder dorthin zurückkommt. L: Wie seid ihr eigentlich auf die Baustelle gekommen? Habt ihr euch das vorher genehmigen lassen? V: Wir sind gar nicht auf die Baustelle gekommen. Wir haben vorher gefragt, und es ist so kompliziert mit dem BLB und allem Möglichen. Es wäre nicht gegangen. Wir haben uns auf den Bauzaun beschränkt. Das wäre halt mit Helm und solchen Vorgaben. Wir haben ganz viele Fotos vom BLB bekommen, die es ja offiziell gibt, aber sie haben uns nicht rein gelassen. L: Aber ist es vielleicht auch so: wenn ihr das komplizierte Erlaubnisverfahren gegangen wärt, dann hätte das vielleicht auch Zugänglichkeit suggeriert, an einem Ort, der so unzugänglich ja gehalten wird? V: Genau! Also ich fand es auch eigentlich ganz spannend. Wir haben auch angefangen, Fotos zu machen von der Baustelle. Ich fand das sehr spannend, aber das war so kompliziert, dass selbst die…Wir sind über’s Präsidium gegangen, haben die Präsidentin gefragt, ob sie uns Geld dafür gibt und ob sie uns unterstützt, und selbst die sagte irgendwann: „Der BLB lässt euch nicht.“ Ich kann dir grad noch erzählen, was ich gemacht hab in den ersten Stunden. Ich muss immer das Übliche machen, dass ich denen halt Technik vermittele, also sie lernen halt wirklich den Umgang mit der Kamera, mit Mikrofonen, mit Stativen, das ganze Programm, also wir müssen immer erst Techniksachen machen. Sie lernen Bildgestaltung und machen dazu immer Übungen. Wenn sie diese Übungen gemacht haben, sind sie so grob in der Lage, so’n bisschen Film zu machen, also toll wird’s dann immer noch nicht, was sie tun, aber, ja, sie können dann wenigstens die Technik bedienen und sie wissen, wie man halt einige schöne Bilder macht. Das war so erst mal der Teil, mit dem ich angefangen habe. Und dazu lasse ich sie wirklich auch Übungen machen, das gibt halt so’n Katalog mit Übungen, die sie dann abarbeiten müssen, also alle Einstellungsgrößen durch, Kameraperspektiven durchprobieren. Und dann lernen sie einfach schneiden. Das passiert immer so in ersten Schritten, in den meisten Seminaren, dass sie das einfach dann von der Technik her bedienen können, und das ist ein Bisschen wie mit’m Autofahren, die Technik bedienen können, dann Verkehrsregeln lernen. Das ist immer so der Schritt. Ja, das

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L: V:

L: V:

kann man schon vergleichen, finde ich. Also in der Fahrschule lernste auch Autofahren, dass du den Schlüssel reinsteckst und wie das Ding technisch funktioniert und dann musste irgendwann mal lernen wie halt die Verkehrsregeln sind, damit man halt sich damit gescheit bewegen kann. Ja. Das ist immer so mein Anfang und Meine haben dann auch wirklich nach diesem gemeinsamen Treffen angefangen, eigene Videos zu produzieren und sich selber mit dem Thema zu beschäftigen. Also, wir haben uns im Stadtteil getroffen, in einem Café, wo wir dann halt so’ne Art Station aufgebaut haben, von wo wir dann losgegangen sind und dann halt gedreht haben, also Meine zumindest dann auch inhaltlich gearbeitet. Meine haben dann halt gedreht zu dem Thema und haben halt dann die Sachen da immer wieder angeguckt zusammen und sind wieder los und haben wieder neue Sachen gedreht. Das waren jetzt aber noch nicht eure inhaltlichen Drehbuchsachen, sondern Nein, eigene Sachen. Die sind losgegangen, haben den Stadtteil erkundet, haben den Leuten zugehört, haben daraus Geschichten entwickelt und haben die dann halt gedreht. „Geschichten entwickelt“, heißt das also auch so Spielfilmszenen oder gespielte Szenen? Nein, sie hatten eher Sachen beobachtet. Also, es gibt zum Beispiel einen kurzen Film, wie sie halt einfach ein- und ausfahrende LKWs gefilmt haben. Das ist darauf zurückzuführen, sie sind halt losgegangen, haben den Leuten auf der Straße zugehört. Das war die erste Idee, dass sie losziehen, den Leuten auf der Straße mal zuhören: Was erzählen die sich für Geschichten? Dann waren sie in einem Café zum Beispiel und in diesem Café sagten die Leute: „Das nervt total, diese LKWs, die immer rein und raus fahren, die machen einen Dreck und einen Schmutz und die fahren den ganzen Tag“. Dann haben sie sich im Nachbargebäude ins Parkhaus gestellt und haben LKWs gefilmt, wie sie da rein und raus fahren und haben daraus einen kleinen Film gemacht, was ganz spannend ist. Also, da fährt halt Tank-LKWs rein, Schutt, LKWs kommen mit Baggern drauf und so, sehr schöne Bilder gemacht. Das Ganze haben sie dann einfach mal eine Stunde, zwei beobachtet und halt daraus einen Film gemacht. Oder halt auch viele Leute, die mir erzählt haben: “Wir warten auf die Fachhochschule.“ Da haben sie halt einen Film über wartende Leute gemacht. Also, sie haben sich an den

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L: V: L: F:

L:

Bahnhof gesetzt, der gleich gegenüber ist, und haben einfach wartende Leute gefilmt. Der Film heißt dann halt „Warten“. Auf die Idee sind sie gekommen über Menschen, die sich auf der Straße oder in Geschäften erzählten: „Wir warten.“ Die haben einen Ladenbesitzer interviewt, also einfach Interviews mit Ladenbesitzern gemacht, die sagen: „Wir haben jetzt gerade hier einen Laden gemietet, wir wollen das auch vergrößern, weil morgen kommt ja die Fachhochschule, und da wollen wir viel Geld mit verdienen. Sie haben auch rausgekriegt, dass die Mieten teurer geworden sind und haben dann mal geguckt, was da so an Wohnungen freisteht. Das kam immer raus, wenn die Leute gesagt haben, hier ist ein ganzes Haus entmietet worden, weil die Fachhochschule kommt und der Vermieter renoviert jetzt und dann wollen sie es teuer vermieten. Da passiert dasselbe wie in Flingern. Das war schon echt spannend. Und dazu haben sie dann die ersten Übungsfilme gedreht, die sie auch geschnitten haben und dann allen im Seminar gezeigt haben. Dann haben wir so eine Präsentation im Seminar gemacht mit den Filmen, die meine Videoleute gemacht haben, damit die anderen ungefähr wissen, wie sowas geht. Unter „Performative Kunst“ kann ich mir wenig vorstellen. Schau dir das Video an! Was hast du ihnen für Vorgaben gegeben? Man muss das, glaube ich, ein Bisschen trennen. Es gibt einerseits diese Recherchephase und die Art, wie wir Material entwickelt haben, im weitesten Sinne. In der Recherchephase ging es ähnlich, wie das, was die Leute beim Volker gemacht haben, darum, in den Stadtteil zu gehen und ihn wirklich körperlich zu erkunden im Sinne von, was ist da an Bewegung anwesend, welche Bewegung wird erlaubt und begünstigt und welche wird vermieden. Welche Wege kannst du gehen, welche kannst du nicht gehen? Welche Wege sind verboten, welche sind erlaubt? Aber auch durch die Beobachtung der Leuten, wie sie sich bewegen. Was sind Bewegungen, die man immer wieder sieht, aber auch: Was sind Haltungen, die man immer wieder sieht und auch: Was suggerieren diese Bewegungen? Es ging in der Recherche viel um die Interdependenz von Raum und Körper. War die Recherche sozusagen analytisch: Was nehmen wir wahr? Was können wir auch beschreiben? Wäre der nächste Schritt: Wir greifen selber ein?

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F: Ja, aber davor ist noch die Frage, was den Studenten für Fantasien zu dem Ort kommen. Und dann kam auch das Thema auf: Was sind die Regeln und Konventionen in einem Raum oder einer Örtlichkeit? Was sind die Geschichten einer solchen Örtlichkeit, und zwar nicht nur die Geschichten, die wir sehen, sondern auch die Geschichten, die hinter der Fassade sind. Das hat, inhaltlich gesehen diesen Film geformt. Wir sehen die architektonische Fassade, wir sehen auch die menschliche Fassade. Aber wissen wir, was hinter der Fassade ist? Wissen wir, was in den Innenräumen ist? Was haben wir für eine Vorstellung von den Leuten, die da wohnen? Wie leben die da? Was ist, wenn du Leute anschaust, mit denen du zehn Minuten an der Bahn wartest? Da siehst du auch die Fassade, aber was spielt sich vielleicht dahinter ab? Welche inneren Dramen könnten auch an diesem Ort passieren oder sind da vielleicht schon passiert, die wir nicht sehen, die aber trotzdem irgendwie präsent sind? Das war das, was meine Studenten als Kernfragen aus dieser Recherche extrahiert haben. Dann kamen wir auf die Idee, diese Baustelle als Sinnbild für eine Struktur, die gerade entsteht, die aber noch in völligem Chaos daliegt, zu nehmen. Damals war es zumindest noch so. Jetzt ist es ja nicht mehr ganz so chaotisch. Wir haben verschiedene fktive Charaktere, Paare oder Einzelpersonen entwickelt – da waren die Studenten völlig frei – die sich durch den Stadtteil bewegen. Jeder hat seinen eigenen Weg und am Ende treffen sich alle an der Baustelle, an dieser Struktur, die im Entstehen ist. Auf diesen Wegen mussten sie auf jeden Fall Begegnungen mit anderen Gruppen haben. Die Wege sollten einerseits natürlich ein Weg durch den Stadtteil sein, den sie räumlich, architektonisch spannend finden, aber es sollte auch ein innerer Weg sein. Es sollte dabei auch eine innere Geschichte erzählt werden. V: Vom Vorgehen her war es so, dass seine Gruppe die Inhalte entwickelt hat, sich die Geschichten überlegt hat und dass wir ganz klar geteilt haben: Es gibt eine Filmcrew, das waren meine Leute. Seine Leute waren in fünf Gruppen geteilt und meine Leute waren in fünf Gruppen geteilt. Wir haben die Filmleute den Performern zugeteilt, so dass sie zusammengearbeitet haben. Die Performer haben ihre Ideen erzählt und meine Videoleute haben ihre Erfahrung erzählt: Das geht, das können wir umsetzen, das, was ihr euch ausgedacht habt, geht gar nicht, und wir überlegen uns die Bilder dazu. Die einen waren die Schauspieler, die anderen das Filmteam.

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F: Da muss ich kurz einhaken: Die waren nicht nur Schauspieler, sondern sie waren Regisseure und Schauspieler. Das ist schon wichtig. V: Das hat sich dann auch vermischt. F: Es war schon der Anspruch von meiner Seite, dass sie wirklich den Weg gestalten und nicht nur schauspielerisch, sondern auch inszenatorisch. L: Dass das ihre Verantwortung war, aber nicht nach dem Motto: Die anderen dürfen gar nichts dazu sagen? F: Genau! V: Die haben sich dann immer beraten. Manchmal kamen auch von den Videoleuten Ideen, mach doch mal so und so und mal doch mal das und das, und wenn ihr das noch so macht, dann gäbe das noch schönere Bilder. Die haben in den meisten Gruppen gut zusammengearbeitet. L: Wie beim Film auch. So stelle ich mir das Zusammenwirken von Kamerafrau und Regisseurin vor. V: Wenn die gut sind, hören die aufeinander. L: Das ist ja schon fast ein Aphorismus. F: Diese Kombiseminare zusammenzubringen, verleitet natürlich dazu „Film“ zu machen, also erzählerische Filmhandlungen zu generieren. Das war nicht so ganz im Interesse des Seminars und des Themas. Das könnte man auch machen, aber es ging mir in der vorbereitenden Einheit, in der wir daran gearbeitet haben: Was ist Performance, was ist performativ? Erst einmal nicht darum einen Erzählstrang zu entwickeln, der narrativ arbeitet. L: Weil das eher so eine Schablone ist, die man aus dem Fernsehen kennt. F: Genau! Sie haben Vorgaben bekommen wie: Es müssen auf dem Weg Stilbrüche passieren, auch genremäßig. Es kann schon erzählerisch oder dokumentarisch sein, aber es muss mindestens einmal gebrochen werden mit etwas Performativem oder Fiktionalem. Das waren zudem wichtige Fragen: Was ist Dokumentation und was ist Fiktion und wie können wir mit diesen Begrifflichkeiten arbeiten? Wann spielen wir von der Kameraeinstellung, von der Art des Filmens oder des Spielens her mit einer dokumentarischen Haltung aber machen etwas völlig Fiktives? Und genau anders herum auch. Dass man mit den Fragen spielt: Was ist Wirklichkeit, was ist Wahrheit und was ist Möglichkeit und was ist Lüge? Dass man damit sowohl in einem performativen Sinn spielt, aber auch im filmerischen Sinn.

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V: So haben wir das auch in den Übungsfilmen gemacht. Ich hab dazu Geschichten erzählen lassen: Was ist wahr, was ist und setzt das mal um. Also, einer erzählt eine Geschichte und die anderen müssen herausfinden: Ist das wahr oder gelogen? Also, jeder erzählt was von sich und möglichst überzeugend. Er kann den größten Unsinn erzählen, es kann aber auch stimmen. Das haben wir als inhaltliche Übung gemacht und das dann mal umgesetzt. L: Und die unwahrscheinlichen Sachen stimmen oft tatsächlich. F: Genau! So und das sieht man, glaube ich, auch an dem Film, denn diese Gruppen sind sehr unterschiedlich und wenn man so durch einen Film durchgeht, ist eine Gruppe sehr fiktional. Wenn sie eine innere Geschichte von einer Frau mit Esssucht darstellt, wo die Esssucht wirklich als Körper besetzt ist, was eigentlich eine innere Geschichte ist, die nach außen inszeniert wurde, aber auch so ein Weg von einem Paar, was eigentlich ganz alltäglich durch die Stadt geht, aber daneben sind seltsame Figuren, die nicht in das Stadtbild passen. V: Die Yuppies auf einer Party. F: Bis hin zu einer ganz realistischen Szene, die aber stark überdreht ist: Die Yuppies auf der Party, die dann am Morgen zu dritt aufwachen und denken: „Was ist denn hier passiert?“ Das war eigentlich noch ganz spannend, weil die Studenten es auf ganz verschiedene Arten bearbeitet haben, was dann natürlich wieder schwierig ist, wenn man das als Gesamtfilm zusammenbringen möchte, weil natürlich jede Kleingruppe ihren eigenen ästhetischen Zugang entwickelt. Das war eine Herausforderung, den ganzen Film zusammenzumontieren. V: Also, an der Stelle haben wir dann auch eingegriffen. Wir haben die fünf Gruppen ihre eigenen Filme produzieren lassen, haben ihnen aber von vornherein gesagt: das Produkt zusammensetzen – das tun wir beide. F: Die Endmontage also. V: Wir haben uns hingesetzt, haben die in einer Seminarstunde nicht mehr schneiden lassen, sondern haben uns hingesetzt und haben aus diesen fünf kleinen Filmen einen gemeinsamen gemacht. Um das alleine zu machen, dazu hätten sie sich und ihre Filme gegenseitig viel besser kennen müssen. Da hatten wir den besseren Überblick, um zu sagen: So ist das Gesamtwerk. L: So ungefähr wie Kuratoren, die eine Ausstellung zusammenbringen. V: Genau!

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L: Das überlassen die ja auch nicht mehr den Künstlern. V: Das mussten wir dann machen. V: Es ist dann so, dass jede Gruppe möglichst viele Anteile ihres Films benutzen will und da haben wir gedacht, wir sind objektiver. Also wir können das jetzt einfach selber zusammensetzen. Mit allen fünfzig Leuten hättest du das nicht machen können, denn dann hast du fünfzig Meinungen. Da haben wir uns überlegt, den Teil behalten wir uns vor. F: Interessanterweise haben sie, als sie das Konzept präsentiert haben, im Seminarraum die verschiedenen Wege aufgeklebt und die Interaktionen und irgendwann hatte man eine neue Karte des Stadtteils. Man konnte sich auch in der Endmontage gut an den Wegen orientieren, lustigerweise. Ich finde, dass die Endmontage sich an den neuen geographischen Gegebenheiten ausrichtet, die überall entstanden sind. Es war wie eine neue Kartographie, die auch die Endmontage beeinflusst hat. V: Nachdem wir das Seminar geplant hatten, war relativ klar, dass wir das Umfeld beleuchten wollen. Mit der Baustelle hatten wir relativ schnell raus: Die lassen uns da nicht rein. Und dann haben wir uns halt überlegt: dann beschränken wir uns auf die Läden. Ich bin mal rumgefahren, habe Fotografien gemacht von den Läden, die es da gibt, von den Geschäften, was es da zu kaufen gibt. Es war klar, dass wir das Umfeld mehr beleuchten wollen. F: Bei solchen Prozessen ist es natürlich immer so, dass der Ort eine Geschichte hat, dass es ein historisch aufgeladener Platz ist, wie z.B. hier mit Judendeportationen während des Dritten Reichs. Das hatten wir auch als Information rein gegeben. Die Information hat aber niemand genommen. Das hat sie nicht so interessiert. Die haben andere Sachen gesehen. L: War das ihre biografischen Vorerfahrung mit dem Thema, sozusagen als Pflichtprogramm in der Schule? F: Ja, genau! Von daher war es uns auch wichtig, dieses Bild aufzumachen, aber nicht zu sagen, das müsst ihr bearbeiten. V: Eine Gruppe war kurz auf dieses Pferd aufgesprungen, hat dann aber sofort gemerkt: Das führt zu weit. Die waren auch bei Heidi in der Arbeitsstelle Neonazismus und haben sich erkundigt. Heidi hat ein Riesenfass aufgemacht. Dann haben die gesagt, das ist zu viel. Es hätte auch den Rahmen gesprengt. Wenn du dich mit dem Umfeld beschäftigst, dann kannst du halt mit dem historischen Umfeld anfangen, aber das führt dann zu weit. Und das hat die eine Gruppe sofort wieder eingestellt.

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F: Es war auch die Herausforderung, die sicherlich zu groß geworden wäre, zu sagen, ich nehme diesen historischen Ausgangspunkt oder Inhalt, aber wie verlinke ich das dann mit diesen performativen Aspekten, was ja auch eine Vorgabe war und wie bringe ich den in die Gegenwart? Das wäre etwas gewesen, was man bildnerisch oder inszenatorisch hätte lösen müssen. Der Link… V: …hätte nicht mehr gepasst. F: Das war echt schwierig. L: Stattdessen seid ihr ja in einem anderen aktuellen Bereich der Verantwortung angekommen: die Studierenden dieser zukünftig dort arbeitenden Fachhochschule sind ja, ohne dass sie es wollen, sozusagen zu Agentinnen von Gentrifizierung geworden, wenn Wohnungen und Geschäfte schon auf sie warten. Da ist ihre Rolle ja schon vorgeschrieben. V: Mieter und Käufer. L: Genau! War das vielleicht auch ein Ziel von Euch: Wir lassen uns nicht ohnmächtig da reinsetzen, sondern wir beschäftigen uns auch damit, was für eine Rolle uns hier zugedacht ist und was die Leute da für Phantasien haben und werden vielleicht dadurch bewusster? V: So ist die Hoffnung. F: Ich habe das Gefühl, die sind sehr stark auf die Gegensätzlichkeit dieser Umgebung angesprungen. So wie sie verschiedene Ausgangspunkte genommen haben, aber auch viel auf diese Brüche, die es da in diesem kleinen Areal schon gibt. V: Zudem ist das auch sehr widersprüchlich von der Bevölkerungsstruktur her. Das ist ja Wahnsinn, was sich da so abspielt. V: Was daraus wird, das kannst uu in Flingern sehen. L: Was mich noch interessieren würde: Ihr habt das ja veröffentlicht, einmal durch ein festes Event, also ihr habt es im Stadtteil gezeigt und dann habt ihr es aber auch digital im Netz zugänglich gemacht. V: Ja, das steht Verfügung. Wir haben aber auch schon Öffentlichkeit dadurch geschaffen, dass wir diese Dreharbeiten im öffentlichen Raum gemacht haben. Das hat zu vielen lustigen Reaktionen geführt bis zu fast Hausverbot vor einer Versicherung. Wir haben halt niemanden gefragt, ob wir dürfen oder nicht, wir haben es einfach gemacht. Es hat immer zu Aufsehen geführt dadurch, dass wir es getan haben, und wenn dann das Filmteam aufbaut und die Leute sich Papiertüten über den Kopf ziehen und da irgendwie agieren, das war auch gewollt. Perfor-

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mancearbeit musst du erzählen. Das ist dann halt in dem Moment passiert und hat auch was bei den Leuten verändert. Und wir haben eine öffentliche Aufführung gemacht, haben auch den Stadtteil plakatiert, haben Flyer gedruckt. Das war auch Ziel, dass die Leute aus dem Stadtteil kommen können und sehen, was wo wie geht. Das ist vielleicht auch wichtig: Das hätte für mich noch mehr sein dürfen, aber zumindest in zwei Szenen wurden ja auch Leute in den Film integriert, der Second-Hand-Laden-Besitzer und -Verkäufer hat eine kleine Rolle, eine Bäckerin hat auch eine kleine Rolle, das heißt, das sind jetzt nicht nur unsere Studenten, sondern diese zwei Gruppen haben versucht, Leute dort zu filmen und mit ihnen zu filmen. Leute haben auch sehr viel Anstoß genommen, aber es gibt ja auch diese eine Szene, wo der an einer Straßenecke duscht, also sozusagen einen Innenraum nach außen bringt. Das ist natürlich wie ein performativer Akt im öffentlichen Raum, der da ja erst mal nicht hingehört. Von daher haben wir durchaus den Stadtteil kulturell bearbeitet. Und auch die Erfahrungen, die sie vorher gemacht haben: Da ist ja auch die Synagoge, wo immer Polizei vorsteht. Da haben sie versucht zu drehen. Das war ganz witzig, weil sie da weggeschickt wurden und auch an dieser Bank kamen sofort Security-Leute raus und haben sie weggeschickt. Da haben sie auch mal die Erfahrung machen können: Was geht denn in so einem öffentlichen Raum und wo ist eine Grenze? Ich bin da auch völlig unbedarft, ich habe dann den Leuten aus der Bank erzählt, dann müsst ihr hier absperren, wenn wir nicht drehen dürfen. Ansonsten tun wir das einfach. Das ist kein Privatgelände. Aber die wollten nicht, dass ihre Bank im Hintergrund ist. Das sind so Erfahrungen, wo ich denke, das sollen sie dann auch mal ruhig mitkriegen, dass ich mich dahinstelle und völlig resistent bin und sage: „Ruft die Polizei.“ Weil Zwänge und Verbote sieht man ja erst bei Überschreitung. Entweder die Polizei schickt uns weg. Ansonsten ist das öffentlicher Raum und wir drehen hier, und wenn ihr da eine Bank habt, ist das euer Problem, nicht unseres. Was an der Situation auch noch interessant war, es ging ja nicht nur um rechtliche Empfindlichkeiten. Da ist die Bank und eine Brücke und eine Kleingruppe hatte die ganze Gruppe inszeniert, alle hatten Papiertüten auf dem Kopf mit kleinen Sehschlitzen und sind auf dieser Brücke hin zu dem Gebäude immer im Kreis gelaufen, also zwanzig Leute in einer

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Art Hamsterrad. Also es war nicht nur so, dass die Leute nicht wollten, dass die Bank im Hintergrund ist, sondern die Leute, die dort gearbeitet haben, haben sich auch angegriffen gefühlt. Die sagten: „Wir wollen nicht, dass so was mit uns in Verbindung gebracht wird.“ Ja, weil sie so ja ihr Geld machen! Weil die sich damit total identifiziert haben. Das war auch gewollt. Da war auch ein Angegriffen sein von den Leuten selber über diesen performativen Akt oder über das, was wir da gemacht haben im Sinne von einer Art Spiegelung: „Hey, da sehe ich was, bin ich das? Bin ich auch in einem Hamsterrad?“ Die sind sofort verschwunden in der Bank. Ja, sofort! Die wussten genau, wovon die Studenten reden. Und die Performance verstärkt damit ja auch Dinge, die man aus seinem Gedächtnis abruft, die man mal bruchstückhaft mitbekommen hat, an Verschuldungskritik oder Burn-Out-Forschung. An so etwas knüpft das an. Und die Performance verstärkt das natürlich. Diese Erinnerungsverstärkung aus Bruchstücken, die sich vorher irgendwo gesät haben. Es gab viele verschiedene Triggerpunkte im Stadtteil oder in dieser Gegend. Am Ende sind wir dann einfach auf die Baustelle gegangen. Da haben wir es uns nicht nehmen lassen, keinen mehr zu fragen, sondern den Bauzaun aufzumachen. Die erste und die letzte Szene haben wir dann wirklich auf der Baustelle gedreht, nachdem Motto: Dann sollen sie halt kommen und uns wegschicken. Ist ja auch lustig. Dann hätten wir das halt auch gedreht. Also wenn irgend so ein Heinz gekommen wäre, dann hätten wir halt die Kamera genommen, hätten gesagt: „Gut, du spielst jetzt mit.“ Das ist ja ganz authentisch. Aber sie haben uns nicht weggeschickt. Sie haben uns nicht weggeschickt, nee. Also wir haben wirklich mit allen Leuten hinterm Bauzaun gestanden und unsere Studenten sagten: „Ah, wenn die jetzt kommen und uns wegschicken…“ und ich sagte: „Ja, machen wir einfach mal und gucken, was passiert. Das wäre eine schöne Nummer geworden. Schön! Mein nächstes Stichwort fürs Interview: Theoretischer Hintergrund, theoretische Basis. Da habt ihr ja schon einiges zu gesagt. Das habt ihr ja immer wieder eingeflochten. Gibt es sonst einen Bezugspunkt, auf den ihr gern verweisen würdet?

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F: Den gibt es schon. Es gibt zwei Bezugspunkte. Das eine ist der Begriff „Mockumentary“, also eine fiktive Dokumentation, was sich gut zwischen performativer Kunst und Video oder Film ansiedelt weil es beides miteinander verwebt. Und ich arbeite viel mit dem Kompositionssystem „Six Viewpoints“, das aus dem postmodernen Tanz, dem Judson Church Dance Theater und dem experimentellen Theater stammt. Das finde ich auch für diese Arbeit mit Film, aber überhaupt auch mit Menschen, die keine Erfahrung mit Performance oder mit performativem Arbeiten haben oder auch mit Bewegung, ein spannendes System. Jede performative Vorgang bzw. jeder körperliche Vorgang wird in sechs Blickwinkel unterteilt. Diese sind Raum, Zeit, Bewegung, Form oder Haltung (shape), Emotion und Geschichte und alle Vorgänge können in diese verschiedenen Parameter zerlegt werden, also dekonstruiert und wieder neu zusammengesetzt werden. Das heißt, du kannst an diesen Stellschrauben drehen. Das ist wie ein Mischpult, wo du den einen Regler hochziehen kannst und den anderen Regler runterziehen kannst und dadurch kriegst du sehr non-narrative Handlungsabläufe, die auch assoziativ sind, die nicht nur einen Eins-zu-Eins Zugang zu einer Beobachtung geben, die du aufnimmst, sondern wo du im Geschehen auch von anderen Blickwinkeln abstrahierst. Damit habe ich viel mit den Studenten gearbeitet, denn das finde ich auch performativ und filmerisch spannend – letzten Endes überschneidet es sich. Ich kann mit der Kamera sagen, ich verweile viel länger an einem Vorgang, an einem Objekt mit meinem Blick, als es mein körperlicher Blick mir erlaubt. Oder ich nehme eine ganz andere Perspektive vom Raum ein, die mein Körper normalerweise schon machen könnte, aber gewöhnlich nicht macht. Damit haben meine Studenten viel gearbeitet, also zu schauen, wie verhalten sich diese verschiedenen Viewpoints, die verschiedenen Blickwinkel zueinander? Und wie wollen wir ganz bewusst an welchen Stellschrauben drehen, damit Brüche entstehen, Brüche sowohl in der ästhetischen Gestaltung aber auch Brüche in der Wahrnehmung von diesen Vorgängen? V: Witzigerweise kann man diese sechs Punkte auch auf Video umsetzen. du beschleunigst langsamer, änderst die Perspektiven. Alles, was du mit dem Körper des Menschen machst, kannst du auch mit der Kamera machen. Das geht bis dahin, dass Leute mit der Kamera einfach im Bild stehen und mit agieren.

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F: Das ist ein gutes Theoriegebäude für diese zwei Genres. V: Bei mir sind es halt die üblichen Geschichten, also, dass sie mal selber einen Film machen, also wirklich mal vom Konsumenten zum Produzenten werden, dass sie einfach mal selber lernen, wie funktioniert Film eigentlich, mit welchen Mitteln arbeitet Fernsehen, wo werden wir betrogen, was ist wahr, was ist gelogen, dass sie so was auch einfach mal selbst erfahren. Das ist eine sehr schöne Selbsterfahrung, einen eigenen Film zu machen, also Film als Kunstform und ich habe mal selber ein Bild gemalt oder das erste Mal Klavier gespielt oder was auch immer, dass sie das erste Mal da sitzen und sagen: „Es ist jetzt mein Film.“ Das ist mir immer ganz wichtig, dass ich mich da soweit raushalten kann, dass die am Ende da sitzen und sagen, das ist mein Film. Wichtig ist das auch bei der technischen Umsetzung. Sie kriegen beigebracht, wie ich es machen würde oder wie man Bilder gestaltet oder wie man Schnitt gestaltet, aber im Endeffekt muss es ihr Produkt bleiben und das steigert, glaube ich, auch sehr das Selbstbewusstsein, dass sie mal Mama und Papa zeigen können: „Mensch, das habe ich gemacht!“ Es ist auch wirklich so, es haben sich fast zweihundert Leute, 180 waren es, haben sich das angeguckt. Wir haben für das Video nicht mehr viel Werbung gemacht, aber wir hatten auch schon mal 300 Zuschauer live, wo man halt so denkt, bei der InternetLiveübertragung gab’s dreihundert Leute. Wir haben diesmal drauf verzichtet. Sonst übertragen wir manchmal auch Sachen wirklich live ins Internet. Das ging hier technisch nicht so gut. L: Was heißt das: „Live übertragen“? V: Wir schließen vier Kameras an einen Mischer an einen Computer an und streamen das live ins Netz. L: Wie war der Stadtteil wichtig für euer Projekt und wie hat euer Projekt den Stadtteil beeinflusst? F. Es ist was total anderes, ob ich in einer grauen Wohnsiedlung versuche, einen Eingriff zu machen oder auf der Kö oder im multikulturellen oder interkulturellen Viertel. Und ich glaube schon, dass diese Formen, die die Studenten gewählt haben, die zum Teil von der Inszenierung her beinahe ins Absurd-Groteske gehen deutlich vom Stadtteil beeinflusst wurden. Eine spielt eine Figur, mit Maske und Kostüm, die eindeutig nicht in diese Zeit und diesen Raum gehört, das ist total klar, und ein andere macht zwar viel weniger mit Objekten, aber bei seiner Art des Performens ist ganz klar dass er ebenso deplatziert ist. Also ich glaube,

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der Stadtteil hat die Studenten dazu geführt, dass sie extremere Formen gewählt haben als sie es in einem anderen Stadtteil gemacht hätten, einfach weil sie sichtbar werden wollten. Das war schon interessant. Sie waren auf dem Markt, zum Beispiel, das war ganz spannend. Ja, genau, sie waren auf dem Markt in einer sehr skurrilen Performance. Sie haben den Markt entdeckt und haben festgestellt: Ja, da kann man auch was mit machen. Und haben dann was getan? So eine Nummer gedreht mit so einer Kiste. Ich glaube, sie klauen da. Klauen die da? Ja, er klaut nicht, aber er nimmt es weg. Er leiht es sich aus sozusagen. Er spielt so einen verrückten Mann, der einen inneren Wahn hat mit Eulen, die er überall sieht und die ihn einerseits erschrecken und andererseits anziehen. Das ist ein junger Student, der vom Darstellen einfach sehr skurril ist. Der macht gar nicht sehr viel, aber er fällt einfach sehr auf dadurch wie er sich bewegt, wie er schaut. Das ist der, der dann auch an der Straßenecke geduscht hat. Sie haben viel mit dieser Idee gespielt, etwas zu machen, was nicht wirklich in den Kontext passt. Das ist irgendwie deplatziert, es fällt raus aus dem Rahmen. Der Student hat da nicht so wahnsinnig viel gebraucht, sondern hat das eher über seine körperliche Performance gemacht, andere haben Objekte oder eine Verkleidung gewählt. Von daher glaube ich, das war schon eine Auswirkung des Stadtteils. Ich denke schon auch, dass so ein Eingriff, wenn er passiert, etwas macht bzw. etwas auslöst. Für mich ist es nicht so wichtig, dass die Leute verknüpfen: Oh, da kommen jetzt junge Leute, weil da eine Fachhochschule hinkommt. Ein Eingriff in den öffentlichen Raum, wo du die Konventionen, die Regeln, die Formen, die Bewegungen änderst, macht ja immer etwas in der Wahrnehmung derer, die daran partizipieren oder dieses rezipieren. Allein das ist schon eine Veränderung in dem Stadtteil und bei den Leuten, die das wahrnehmen oder die daran irgendwie beteiligt sind. Also nicht mit so einer platten politischen Botschaft, sondern Grenzüberschreitungen machen wiederum Grenzen deutlich, machen aber auch Mut, wie du sagst. Die sind immer mutiger geworden, weil Grenzüberschreitungen auch zeigen: Es passiert ja gar nicht viel, warum soll man das nicht mal wagen?

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V: Das finde ich immer ganz wichtig, dass die so was einfach mal ausprobieren, einfach mal schauen, wo gibt es Grenzen? Kann man mit zwanzig Leuten oder fünfzig bei Rot über die Ampel gehen, auch wenn die Autos hupen? Klar kann man! Man muss es einfach nur tun, denn da fährt keiner rein. Das finde ich immer ganz wichtig. Das war so eine typische Frage. Wir sind mit fünfzig Leuten von einer Straßenseite auf die andere gegangen. Da kam die Frage: Was ist, wenn die Ampel rot wird? Da habe ich gesagt: Weitergehen! Ich drehe und fertig! Da bleibt ihr nicht stehen! Da kann ich nicht schneiden zwischendrin. Da sind sie wirklich alle bei Rot über die Ampel gegangen. Also die ersten bei Grün und die anderen bei Rot. Die Autos haben gewartet. Das müssen die einfach mal ausprobieren, dass man auch mal Grenzüberschreitungen machen kann, die auch keinem wehtun. Da fährt das Auto halt bei der nächsten Grünphase, aber wir haben es im Kasten. L:. Wer könnte so was Ähnliches machen, ausprobieren? V: Das braucht einfach Menschen, die den Videoteil drehen, die eine Video-Vorerfahrung haben und auch ein bisschen Mut haben und man muss einfach das Handwerk beherrschen. Das Video-Handwerk musst du beherrschen. Ich versuche immer, dass Studenten das dann können, dass in kleinem Rahmen auch selber umsetzen können. Das ist mein Ansatz. Ich denke, die Studenten sollen das nach so einem Seminar auch selber machen können. L: An welchem Punkt brauchen solche Projekte künstlerische Profis? F: Also du bräuchtest auf jeden Fall zwei Profis hier. Es passieren ja zwei Übersetzungen. Die erste Übersetzung von der Raumwahrnehmung in die körperliche, performative Arbeit und die zweite Übersetzung von der performativen Arbeit in die filmerische Arbeit. Diese Übersetzungsleistungen kann man, glaube ich, nicht von jedem erwarten. Ich habe auch schon viele Projekte im öffentlichen Raum mit Profis gemacht. Da kommt natürlich was ganz anderes raus. Qualitativ ist das nicht so unterschiedlich, unter Umständen. Bei Menschen, die wenig Vorerfahrung mit Performance und Körperarbeit haben, ist es total wichtig zu schauen, wie die Wahrnehmung von dem Raum funktioniert und was die Wahrnehmung von dem Raum mit mir und meiner eigenen Körperwahrnehmung macht und wie ich das in einer Idee zugunsten einer Intervention verbinden kann. Um auf diese Ebene zu gehen, braucht man Leute, die Erfahrung haben mit Intervenieren im öffentlichen Raum. Das kann man jetzt nicht

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unbedingt von jedem erwarten. An dem Punkt braucht man einen Profi aus dem performativen Bereich. Ich finde, dass solche Aktionen im öffentlichen Raum supersimpel sein können. Physisch gesehen, braucht man kein Training. Aber man braucht eine gute Unterstützung und eine gute Begleitung im Sinne von: Wie funktioniert ein öffentlicher Raum? Wie arbeitet ein öffentlicher Raum? Wie funktionieren die Leute im öffentlichen Raum? Wie will ich da intervenieren? Um auf diese six Viewpoints zu kommen: Auf welcher Ebene setze ich meine Intervention an? Mache ich die nur physisch oder platziere oder verorte ich sie mehr räumlich oder in der Zeit oder eben mehr inhaltlich bzw. politisch? Während des Prozesses, in dem man das erarbeitet, muss man ganz klare Entscheidungen treffen, damit so eine Intervention auch funktioniert und auch etwas auslöst und auch lesbar wird. Vielleicht ist das, was wir ja didaktisch während des ganzen Sozialpädagogik- oder Sozialarbeitsstudium machen. Wir bilden sie ja überall zu einem Achtel oder Viertel aus, damit sie sich zutrauen, bestimmte Sachen selber zu machen, aber damit sie auch ihre Grenzen kennen und wissen, ab wo muss ich für eine gute Wirkung einen Profi, sei der Jurist oder Psychotherapeut oder was auch immer oder Künstler engagieren? Ja, das machen wir eigentlich immer. Unsere Studierenden lernen ja gar nichts gründlich hier. Was ja auch gut ist. Das werden ja Generalistinnen, die dann einen ganz anderen Blick und eine andere Flexibilität mitbringen. Beim Performance-Bereich ist es oft so, dass die Leute denken, ich muss mich bewegen können, ich muss spielen können oder ich muss tanzen können oder was auch immer. Das sind so die Bilder, die Leute haben. Aber es geht vielmehr um eine konzeptionelle Arbeit, die man leisten muss. Zum Platzieren im Kontext. Genau! Sich mit Begrifflichkeiten von Performativität auseinandersetzen. Ich glaube, das ist noch viel, viel wichtiger. Eine Stunde stehen kann jetzt erst mal jeder. Dafür muss man keine Ausbildung machen. Aber man muss halt auf die Idee kommen. Den Link zu dem Film könnt ihr mir noch geben. Habt ihr sonst Lese-, Hör-, Besuchs-, Anschau-Hinweise? Wo können Leute hingehen? Was könne Leute sich anhören?

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V: Zu dem Projekt gibt es den Link von YouTube*. Wäre schön, wenn sich den viele noch angucken. L: Würdet ihr mir noch was zu euch selbst sagen? V: Ich bin alleinerziehender Vater, was mich viel Zeit kostet und viel beschäftigt. Ansonsten mache ich gerne die Arbeit hier mit den Studierenden, Videos zu drehen, ärgere mich manchmal, dass ich kaum zu eigenen Sachen komme, weil vieles von meiner Kreativität in die Arbeit mit den Studenten einfließt. Ich denke, ich muss doch mal wieder was Eigenes tun, hab immer tolle Ideen, aber mir fehlt dann einfach die Zeit. Und auch in den Ferien fange nicht an, Videos zu machen. Das ist wie bei dem Schuster, der die eigenen Schuhe nicht besohlt. Ich bin wirklich gerne Vater und mache auch gerade die Erfahrung, dass mein ältester Sohn, von dem, was er macht, ganz viel in die Richtung geht, wie ich. Der war jetzt bei einer Videoproduktion in Hamburg und wird auch beruflich in der Richtung unterwegs sein. Da bin ich halt hauptsächlich Vater und halt Lehrer hier an der Hochschule, der dieses Fach unterrichtet, was ich echt gerne tue. Ich würde mich als Medienpädagogen bezeichnen. Obwohl es den Begriff so gar nicht gibt. F: Ich habe verschiedene berufliche- und Interessensfelder, bzw. bei mir trennt sich das nicht so wahnsinnig, Beruf und Persönliches. Ich bewege mich in dem künstlerischen Kontext von Tanz und Performance und versuche meine Erfahrungsbereiche oder meinen Wirkungsbereich immer ein Bisschen weiter auszudehnen. Zudem habe ich eine Tanz/ Bewegungstherapieausbildung gemacht und viel in diesem Bereich gearbeitet. Der ganze Bereich von körperlichen Prozessen, sowohl gestalterischer wie auch individueller und innerlicher Art ist meine Passion, die mich antreibt ganz unterschiedliche Formen annimmt. Sowohl künstlerisch wie soziokulturell wie lehrend wie therapeutisch. Und ich bin immer dabei, noch eine Schublade aufzumachen. Zu forschen: Was ist da vielleicht noch drin? Ich bin sehr neugierig.

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https://www.youtube.com/watch?v=HcbeHAKqGbg&feature=youtu.be

Ästhetische Bewegungskunst in urbanen Räumen Prozesse selbstorganisierten Lernens und ästhetischer Selbstinszenierungen im Sport H ARALD M ICHELS

Die Aneignung von urbanen Räumen wird durch die körperliche Präsenz von Menschen vollzogen. So entsteht erst durch körperlich anwesende und miteinander handelnde Menschen aus einem physikalischen Raum ein „Sozialraum“ (Kessl/Reutlinger 2007, 21). Im folgenden Beitrag werden die Dimensionen der körperlichen Präsenz und Aneignungsprozesse des urbanen Raums in den Blick genommen, indem zunächst die Verknüpfung der zunehmenden Ästhetisierung des alltäglichen Handelns mit der Entdeckung des Körpers und seinen Potentialen für die Identitätsbildung thematisiert werden. Mit der Veränderung des traditionellen Sportverständnisses veränderte sich auch das Panorama der Bewegungsaktivitäten. Ästhetische Sichtweisen und künstlerisch-schöpferische Umgangsweisen mit Körper und Bewegung fanden stärker Beachtung und erweiterten das enge Sportverständnis. Mit den „Bewegungskünstlern“ und „Trendsportlern“ lässt sich anschließend eine Brücke zwischen der Ästhetisierung des Sports, der Kunst und der Aneignung von urbanem Raum beschreiben. Beispielhaft an Trendsportmerkmalen werden Möglichkeiten und Herausforderungen für die kulturelle bewegungsorientierte Förderung abschließend heraus gearbeitet.

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ALLTÄGLICHES H ANDELN

UND

ÄSTHETIK

Der gesellschaftliche Wandel in unserer technologisierten, rationalen, postmaterialistischen Gesellschaft hat der Ästhetisierung des Alltagslebens zu einer herausgehobenen Bedeutung verholfen. Schulze (1993), der die veränderten Handlungsorientierungen in der so genannten „Erlebnisgesellschaft“ beschreibt, hebt das so genannte „erlebnisrationale Handeln“ hervor. Demnach bestimmt das „erlebnisrationale Handeln“ der Menschen in der „Erlebnisgesellschaft“ immer mehr, welche sinnlichen Erfahrungen und schönen Erlebnisse sich durch das eigene Verhalten (auch im Konsumverhalten) herstellen lassen. „Der kleinste gemeinsame Nenner von Lebensauffassungen in unserer Gesellschaft ist die Gestaltungsidee eines schönen, interessanten, subjektiv als lohnend empfundenen Lebens“, meint Schulze (ebd. 37). Die Erlebnisorientierung richtet sich auf das Schöne. „Das Schöne ist in unserem Zusammenhang ein Sammelbegriff für positiv bewertete Erlebnisse“ (ebd. 39). Diese subjektiv als positiv bewerteten Erlebnisse erlangen beim alltäglichen „Situationsmanagement“ und der Beeinflussung des eigenen Innenlebens einen zentralen Stellenwert. Verschiedene Dimensionen der Ästhetik-Diskussion (vgl. Schweppenhäuser 2007), z.B. Schönheit, Geschmack, sinnenorientierte Wahrnehmung, Mimesis und Ausdruck, fließen als Bezugspunkte des eigenen Handelns auf diese Weise mit ein. Die im Alltag handelnden Akteure werden zu Choreografen eigener ästhetischer Stilmittel, gestalten ihre eigenen Lebenswelten, indem sie Wohnungen zu Bühnen werden lassen („schöner Wohnen“), modische oder szenetypische Kleidungen und Accessoires geben dem Körper ein ästhetisch sichtbares Design („schöner und individueller Aussehen“), Musikstile und Medien werden mit der Gestaltung des eigenen Lebensstils verbunden („eigener Lebensstil“). Der Schönheitsbegriff wird dabei radikal subjektiviert (vgl. Schweppenhäuser 2007, 13), dass sich selbst der „ästhetische Gemeinsinn“ als sehr heterogenes kulturelles Produkt (Mentefakt) offenbart. Das Projekt des „schöner Lebens“ kann selbst Konturen der Gegensätzlichkeit von kulturell geprägtem geschmacklichem Gemeinsinn annehmen. Das vermeintlich Hässliche als Element subjektiver Schönheitsideale kann zum Vorschein kommen. 2011 beispielsweise wurde die „Ugly-Dance-WM“ durchgeführt, bei der die Teilnehmer*innen sich im „Hässlichtanzen“ zu einem Wettbewerb in Hamburg trafen (Spiegelonline 16.10.2010).

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K ÖRPER

UND

ÄSTHETIK

Die (Wieder-)Entdeckung des Körpers ist mit der Ästhetisierung des Alltagslebens eng verknüpft. Gugutzer (2013, 34 ff.) beschreibt den gesellschaftlich-kulturellen Kontext der veränderten Aufmerksamkeit gegenüber dem Körper. Einerseits wurde der Körper in der postindustriellen Gesellschaft zunehmend ruhiggestellt (Sitzkultur) und durch vermehrte „Kopfarbeit“ entlastet, anderseits entstand so erst ein Bedarf den Körper innerhalb von Freizeit, Konsum und Medien aufzuwerten. Der Körper eignet sich für die notwendigen Prozesse der Sinnfindung und Selbstwirksamkeitserlebnisse im Zusammenhang mit der eigenen Identitätsbildung und Lebensgestaltung. „Der eigene Körper ist immer da, auf ihn kann unmittelbar zugegriffen werden, mit und aus ihm können spür- und sichtbare Wirkungen erzielt, Sicherheit her- und Identität dargestellt werden“ (ebd. 37). Aus anthropologischer Perspektive ist der doppelte Bezugspunkt der Körper-Leib-Debatte für den Diskurs des ästhetischen Lebensstils von Bedeutung. Waren Rationalismus und Aufklärung mit einer Abwertung der Körperlichkeit verbunden, die besonders durch den Geist-Körper-Dualismus von Descartes (der Geist beherrscht den Körper) geprägt war, so wird in postmodernen Theorien das dualistische Menschenbild in Frage gestellt. Begründete 1750 bereits Baumgarten mit seiner „Aesthetica“ eine theoretische Konzeption, die das sinnliche Erkenntnisvermögen neben die rationale Erkenntnisfähigkeit hervorhob (vgl. Majetschak 2007, 19 ff.), so plädieren postmoderne Theorien verstärkt auf eine „andere Vernunft“. Als tragende Konstruktion wird eine verknüpfende Sichtweise von Vernunft und Körper, Sinnen und Emotionen, kultureller Strukturiertheit und leiblichem Eigensinn sichtbar (Gugutzer 2013, 41). Die Körperlichkeit der ästhetischen Erfahrung (Brandstätter 2008, 111 ff.) verweist einerseits auf die dem Leib eigenen sinnlichen Wahrnehmungsprozesse und die Herausbildung eines einverleibten Wissens. In phänomenologischen Ansätzen beispielsweise von Merleau-Ponty und Lindemann (vgl. Gugutzer 2013, 17, 104 ff.) wird diese Wahrnehmungsdimension des Leibes („Leibapriori“ und spürbarer Leib) ausführlich beschrieben oder auch in der Theorie von Bourdieu (vgl. ebd. 2013, 72) lässt sich im Habitusbegriff das „einverleibte Wissen“ als bedeutsames Element seiner Konzeption entdecken. Die innenorientierten Wahrnehmungsdimensionen werden mit der äußeren Umwelt verbunden. In Anlehnung an Plessner (zitiert nach Weiß/

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Norden 2013, 106) ist in diesem Zusammenhang auf die „Exzentrizität“ des Menschen zu verweisen. Der Mensch erlebt seine Umwelt und sich selbst über seine exzentrische Positionierung. „Indem er seinen Körper sowohl als Subjekt als auch als Objekt erleben kann […] ist der Mensch körperlich und geistig zugleich. […] Sein Körper hat instrumentellen Charakter, weil er ihn als Mittel erfährt und über ihn verfügen kann“ (ebd. 106). Das „Selbstbewusstsein“ wird mit einem eigenen „Körperbild“ und einem eigenen „Körperkonzept“ verbunden. Die Arbeit am eigenen Körper, von Körpermoden über Körperformungsbemühungen im Fitnessstudio bis hin zu chirurgischen Schönheitsoperationen, verdeutlicht die Instrumentalisierung der eigenen Körperlichkeit, die mit der Herstellung eines Eigen-Sinns des Lebens verbunden werden. Die Arbeit am Körper wird zur Arbeit an der eigenen Identität und der inszenierte Körper (vgl. Goffmann in Gugutzer 2013, 92 ff.) findet seine Bühnen im Alltag, besonders im öffentlichen Raum. Mit der Anbindung an Szenen und Milieus werden gleichzeitig Individualisierungsbestrebungen und Bedürfnisse nach gesellschaftlichem Anschluss bzw. nach Anerkennung und Beteiligung befriedigt.

K ÖRPERÄSTHETIK

UND

S PORT

Sport als kulturelle Formung körperlicher Aktivität bestand schon immer aus der „Disziplinierung des Körpers“ (vgl. Foucault in Gugutzer 2013, 59 ff.). Sport wird in diesem Beitrag als ein kulturell entstandenes System von körperlicher Aktivität verstanden, welches sich über die Jahrhunderte als spezifische Körper- und Bewegungspraktiken historisch und territorial bis hin zum globalen Sportsystem entwickelt hat. Nicht jede Körperaktivität, jede Körperinszenierung und jede Dimension der sinnlichen Körpererfahrung lässt sich unter dem Begriff „Sport“ subsummieren und diskutieren. Daher geht die Konstruktion bzw. Diskussion von Körper- und Bewegungskultur über den Sport hinaus, obwohl viele Dimensionen der Körperästhetik sich (inzwischen) auch auf Phänomene des modernen Sports beziehen lassen bzw. darin aufgehen. Dies gilt umso mehr, als sich das Panorama der Sportaktivitäten und das moderne Sportverständnis deutlich in den letzten 30 Jahren verändert hat. Sport bis in die 1970er Jahre orientierte sich in Deutschland fast ausschließlich an dem Verständnis des Sports, welches durch die „Versportlichung“ des Deutschen Turnens zum Ende des

ÄSTHETISCHE BEWEGUNGSKUNST IN URBANEN RÄUMEN | 183

19. Jahrhunderts als Integration des englischen Sportverständnisses gekennzeichnet war (vgl. Beckers 1993; Bette 2010, 97 ff.). Das körperliche Bewegungsverhalten nach diesem „traditionellen Sportverständnis“ wurde nach der Logik von Sieg und Niederlage inszeniert. Dieses sportliche Bewegungsverhalten wurde eingebettet in eine Konkurrenzethik des „Fair Play“ und wurde nach rationalen Gesichtspunkten organisiert und optimiert. Die Leistungsbedingungen des Sports wurden standardisiert und kontrolliert (Sportregeln, Sportplätze, Schiedsrichter), die Akteure im Sport wurden von den Zuschauern getrennt, die Bedingungen der Sportler vereinheitlicht und objektiviert und international vergleichbar gemacht sowie dokumentiert und in Organisationen des Sports institutionalisiert. Die zahlreichen individuellen Sinngebungsversuche eigener Körperund Bewegungserfahrungen haben neben dem Wettkampf- und Leistungssport, wie er sich medial vermittelt als Olympischer Sport auch in unserer Gegenwartskultur als ein Bestandteil des modernen Sportpanoramas finden lässt, eine bunte, vielfältige zum Teil auch widersprüchliche moderne Sportlandschaft entstehen lassen. Neben dem Olympischen Sport, der seine Identität durch die wettkampforientierte Logik von Sieg und Niederlage weiterhin erhält, lassen sich je nach Konstruktionsperspektive (z.B. Funktionen, Motive, Sinngebungen) Modelle des Freizeit- und Breitensports, des Gesundheits- und Rehabilitationssport; Fitness- und Wellnesssports, des Fun- und Abenteuersports usw. finden. Auch die ästhetischen Dimensionen bzw. Orientierungen sind in allen diesen Sportmodellen und Ausschnitten des modernen Sportpanoramas als mehr oder weniger bedeutsame Konstruktionsmerkmale der jeweiligen Akteure auffindbar. Vielleicht sind die ästhetischen Dimensionen für die Akteure im Gesundheits- und Rehabilitationssport nicht so bedeutsam, da eher die funktionalen Wirkungsweisen der körperlichen Aktivität in den Mittelpunkt rücken. Die gesundheitliche Wirkung von körperlicher Aktivität hängt jedoch auch oftmals von der innenorientierten Wahrnehmung des Körpers und der Bewegung ab, wie dies beispielsweise beim Yoga und dem Autogenen Training der Fall ist. Das Erleben einer schönen fließenden Bewegung beim Tai Chi oder auch der rhythmisch-zirkuläre Bewegungsfluss beim Joggen kann aus dieser Perspektive der ästhetischen Wahrnehmung thematisiert werden. Beim Fitnesssport gerät wahrscheinlich die nach Außen sichtbare

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ästhetische Qualität in den Vordergrund. Die Vorstellung vom „schönen Körper“, der gleichzeitig Vitalität, Attraktivität und Leistungsvermögen der Akteure signalisiert, stellt die äußere Darstellungswirkung des Fitnesssports in den Mittelpunkt. Diese nach Außen sichtbare Darstellung von körperlicher Aktivität tritt auch bei Bewegungskünstlern und Trendsportlern mit in den Vordergrund und wird zudem mit den Bühnen des öffentlichen Raums verbunden.

B EWEGUNGSKUNST UND URBANER R ÄUME

ANEIGNUNG

„Verglichen mit den Medien Bild und Musik, befindet sich das Medium Körper – bezogen auf eine systematische Darstellung künstlerischer Medien – auf einer anderen Ebene. Während Bild und Musik eindeutig bestimmten künstlerischen Darstellungs- und Ausdrucksformen zugerechnet werden können, fällt die Zuordnung des Körpers zu einer Kunstform wesentlich schwerer“ (Brandstätter 2008, 144). Körper bzw. Körperlichkeit ist ein Bestandteil zahlreicher Kunstformen. Musiker kommen ohne körperliche Aktivität beim Musizieren nicht aus, gleiches gilt für Theaterspieler, die ihre körperlichen Fähigkeiten trainieren und diese in ihrer körperlichen Präsenz umsetzen. In der Bildenden Kunst ist der Körper als Motiv ein Thema in Malerei und Bildhauerei und zugleich belebt körperliche Aktivität den Künstler beispielsweise beim Actionpainting eines Jackson Pollock. Auch der Diskurs, ob denn Sport Kunst sein kann, reicht von der Diskussion der antiken Olympischen Spiele über die umstrittene Körperästhetik in den Filmen von Leni Riefenstahl bis zur Begründung des Sports als „achte Kunst“ (Lenk 1985). Ohne sich an dieser Stelle in den Weiten dieser Diskussion zu verlieren, soll in diesem Beitrag ein breiter Kunstbegriff zu Grunde gelegt werden, der die mehr oder weniger bewusste Gestaltung des menschlichen Handelns mit dem Ziel einer ästhetischen Erfahrung beim Rezipienten in den Mittelpunkt stellt. Mit dieser Orientierung werden Menschen, die ihren Körper schöpferisch, kreativ gestalten zu „Körperkünstlern“ und Menschen, die körperliche Bewegungsweisen durch umgestaltete oder neugestaltete Bewegungsformen hervorbringen und einem Publikum präsentieren zu „Bewegungskünstlern“.

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Jürgen Funke beschrieb schon 1989 die mit Bewegung und körperlichen Herausforderungen experimentierenden Akteure als „Bewegungskünstler“, die ihr Können nicht in privaten Situationen praktizieren, sondern im öffentlichen Raum vor einem mehr oder weniger zufälligen Publikum zur Schau stellen. Funke (ebd. 74 f.) beschrieb Bewegungskunst u.a. mit folgenden Merkmalen: • • • •

Die Bewältigung von schwierigen Bewegungsherausforderungen, die beim Zuschauer Bewunderung hervorrufen. Die Kunsterfahrung des Bewegungskünstlers ist auch eine Unterschiedserfahrung (er kann etwas, was andere so nicht können). Das Bewertungskriterium der Bewegungskunst ist nicht Sieg oder Niederlage. Die Bewegung wird als schönes, als ästhetisches Erlebnis vom Beobachter erfahren.

Die von Funke 1989 beschriebenen Bewegungskünstler wie „Einradfahrer, Jongleure, Stadttänzer, Kunstroller, Clowns und Akrobaten“ sind immer noch und sogar verstärkt in der Stadt zu finden, beispielsweise am Kölner Dom, an der Hamburger Alster, an der Düsseldorfer Rheinpromenade oder am Hauptbahnhof. Bewegungskünstler gehören heute zum alltäglichen Stadtbild. Insofern hat sich die Hoffnung von Funke (S. 83) bestätigt, dass sich mit den Bewegungskünsten als „ästhetisches Bewegungsspiel“ die Sport- und Bewegungskultur sinnvoll erweitert und verändert hat. Der damals neue Sport drängte in die Öffentlichkeit, auf Plätze und Straßen, in Parks und Grünflächen. Sport verließ die dafür eigens konzipierten Räume und Hallen, die immer noch nach Prinzipien des wettkamporientierten Sports nach bestimmten Regeln konzipiert und für bestimmte klassische Sportarten genutzt werden. Die „Ordnung des Raums“ hat sich verändert (Kessl/Reutlinger 2007, 17) und damit ist die Entstehung des veränderten modernen Sports und der neuen Bewegungskunst auch eng mit Dimensionen der sozialräumlichen Entwicklung verknüpft. Die seit den 1990er Jahren wiederentdeckte Diskussion des „Sozialraums“ (vgl. Riege/Schubert 2012) lenkt den Blick darauf, dass ein absoluter Raumbegriff um die Funktionalität und soziale Definition des Raums zu ergänzen ist, wenn die Nutzer und Nutzung des (urbanen) Raums in den Blick genommen werden sollen. Räume, auch öffentliche Räume, sind

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nicht „wertfreie Räume“. Die „räumliche Umwelt ist gleichzeitig besetzt, gesellschaftlich definiert und funktionalisiert“ (Böhnisch 1996, 149 zitiert nach Deinet/Krisch 2012, 128). Urbane Räume sind einerseits zu einem großen Teil funktional definiert. Straßen und Bürgersteige sind Räume für den Verkehr und die Mobilität der Menschen, Einkaufsstraßen werden oft vom Verkehr „beruhigt“ und auf den Konsum in Einkaufsläden und Kauflandschaften zentriert, Parkplätze dienen dem Abstellen von Fahrzeugen, Plätze und städtische Parks dem Erholungsbedürfnis der Menschen in der Stadt, Spielplätze werden als Nischen für spielende Kinder angeboten, auf denen Fußballspielen in der Regel verboten ist, Sportplätze, meist in urbanen Randlagen, dienen dem Sporttreiben nach den Prinzipien des Olympischen Sports. Wie eingangs beschrieben wird die Aneignung von urbanen Räumen durch die körperliche Präsenz von Menschen vollzogen. So entsteht erst durch körperlich anwesende und miteinander handelnde Menschen aus einem physikalischen Raum ein „Sozialraum“ (Kessl/Reutlinger 2007, 21). Stadt als Bewegungsraum und Raum für Sport hat sich in den letzten Jahrzehnten auch im Kontext des veränderten modernen Sports vehement und zum Teil widersprüchlich verändert. Nicht nur für die innovativen Bewegungskünstler werden urbane Straßen, Plätze und Parks zu Bühne ihrer Selbstinszenierung. Selbst für eher klassische Sportaktivitäten, wie Laufen und Radfahren wird der städtische Raum zur Bewegungs- und Sportlandschaft. Urbaner Raum wird durch seine Nutzung zum Bewegungsraum (z.B. Joggen, Skaten, Radfahren, Walken, Jonglieren, Balancieren). Bette beschrieb bereits 1989 (74 ff.) das körperliche Experimentieren von Bewegungs- und Darstellungskünstlern im innerstädtischen Raum. Die Raumaneignung durch Bewegung und körperliche Exploration gehört für Kinder und Jugendliche zu einer der bedeutsamsten Umwelt und Selbsterfahrungsprozesse (vgl. Deinet/Krisch 2012; Schmidt et al 2003, 27 f.) Die Bewegungsfeindlichkeit der urbanen Lebensräume, bis hin zum Vorwurf des „Rückzugs der Straßenkultur“ im städtischen Umfeld ist eine oft beklagte Tendenz (vgl. Zimmer 2004, 21). Gleichzeitig zeugen vielfältige Praktiken gerade von Kindern und Jugendlichen davon, dass sie sich den öffentlichen Raum erobern und auch gegen Widerstände und Verbote „aneignen“. Der öffentliche Raum wird zum Experimentierfeld für sportliche Bewegungsaktivitäten. Dieser Aneignungsprozess des Raums verläuft nicht ohne Konflikte, da unterschiedliche Nutzungsarten einander stören und einschränken.

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Inline-Skater haben ein anderes Tempo als Fußgänger und Radfahrer. Wer darf wo in der Stadt ungehindert unterwegs sein? Regelungsbedarf entstand und entsteht immer wieder in diesem sich dynamisch veränderndem Feld. Mit der Zeit reagieren nun kommunale Stadtraumplaner auf diese veränderten Prozesse der bewegungsorientierten Aneignungs- und Aktivitätsprozesse und integrieren alternative Bewegungsräume im gesamten urbanen Raum. Beachflächen werden beispielsweise in Parks angelegt, Asphaltplätze in Grünanlagen mit Rampen für Skater, BMX-Radfahrer und Inliner integriert, für Slackline-Befestigungen werden spezielle Haltepfosten in den Boden eingelassen.

U RBANER T RENDSPORT ALS INSZENIERTE B EWEGUNGSKUNST UND R AUM FÜR INFORMELLES L ERNEN – M ÖGLICHKEITEN UND G RENZEN Besonders Jugendliche zeigen sich als „Bastler“ an ihrer Identität, die sich dabei der körperlichen Aktivität im urbanen Raum zuwenden. „Die Clique ist die wesentliche Sozialform, in der sich Jugendliche vor allem im öffentlichen Raum, aber auch in Institutionen und in der Jugendarbeit ihre Lebenswelt aneignen“ (Deinet/Krisch 20012, 129 f.). Besonders so genannte „Trendsportarten“ (vgl. Breuer/Michels 2003) verdeutlichen wohl am eindrucksvollsten, wie diese Raumaneignung mit den Bedürfnissen nach Erleben, Selbstinszenierung, Identitätsbildung, Autonomie, Selbstwirksamkeit, Partizipation und Zugehörigkeit verknüpft wird. Schwier (2003, 22 ff.) beschreibt die Merkmale von Trendsportarten und hebt die Trends zur Stilisierung, Beschleunigung, Virtuosität, Extremisierung, zum Event und Sampling hervor. Mit der Stilisierung werden die ästhetischen Außendimensionen der Distinktion thematisiert. Es geht nicht nur um das Sporttreiben an sich, sondern auch um Kleidung, Musik und den „richtige“ Habitus (Gugutzer 2013, 36), der in der jeweiligen Clique bzw. Szene gepflegt wird. Wer im Zusammenhang mit Prozessen der Stadtplanung diesem Aspekt Rechnung tragen will, der berücksichtigt, dass Möglichkeiten der Präsentation des Bewegungskönnens geschaffen werden. Aus dem städtischen Leben in randständige Räume verlegte Bewegungsgelegenheiten werden diesem

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Trend zur Stilisierung, der auch öffentlich sichtbar gemacht werden will, nicht gerecht. Mit dem Trend zur Beschleunigung wird ein Aspekt des Trendsports herausgehoben, der sich auf das ästhetische Bewegungsgefühl bezieht, das einerseits bei Trendsportarten als körperlich spürbares Erlebnis der Beschleunigung und des gesteigerten Tempos (z.B. beim Inlineskating, Streetsoccer, Streetdance, Parkour) entsteht und gleichzeitig nach außen (anderen Menschen/einem Publikum) als Können signalisiert werden kann. Die schnellen, temporeichen Bewegungen werden als lustvolle Bewegungsgefühle erlebt. Hier ist es im Zusammenhang mit der Stadtplanung notwendig, dass ein sozialverträgliches und gefährdungsfreies Nebeneinander von unterschiedlichen Nutzungsinteressen ausgehandelt und gestaltet werden kann. Eine Streetdance-Gruppe am Düsseldorfer Hauptbahnhof wird kaum eine Gefährdung anderer Raumnutzer darstellen, allerdings stellt sich dieses bei schnellen Skatern bereits anders dar. Raumplaner werden in diesen Fällen allerdings mit Verboten alleine nicht erfolgreich sein, da gerade das Austesten von Grenzen oder auch das Überschreiten von Grenzen bzw. Regeln den abenteuerlichen Reiz urbaner Trendsportarten ausmacht. Stadt und Raumplaner müssen hier den kommunikativen Austausch, bis hin zur Mediation, suchen und die verschiedenen Interessen einbeziehen. Der Trend zur Virtuosität bei Trendsportarten, spricht ebenfalls die ästhetische Wahrnehmung und Darstellung zugleich an, indem besondere Herausforderungen von Bewegungssituationen durch Tricks und in scheinbarer Leichtigkeit präsentierte Bewegungsfolgen erschlossen und gezeigt werden. „Ollie“, „Treflip“ und „Big Spin“ sind beispielsweise Bezeichnungen für bestimmte Tricks von Skateboardern, ein „Air Freeze“ ist eine Haltefigur auf einem Arm beim Breakdance, ein „Réverse“ ist eine 360°Drehung über ein Hindernis, um beim Parkour kontrolliert landen zu können. Neben dem „Naming“, der Entwicklung einer eigenen Symbolik und Sprache (z.B. von Tricks und Stilen), ist der Lern- und Bildungsprozess innerhalb der Trendsport-Szenen von großer Bedeutung. Caysa (2004, 138 ff.), der Rausch als grundlegende Vitalitätsstruktur unserer Kultur beschreibt, hebt hervor, dass Körpererlebniskünstler nicht einfach davon ausgehen, „dass Rausch Spaß macht, sondern dass zu diesem Spaß auch Könnerschaft, Beherrschung, Einübung gehört, und dass zum Rausch nicht nur Askese gehört, sondern Askese auch Spaß machen kann“ (ebd., 143). Diese „Könnerschaft“ der virtuosen Körpertricks und Bewegungskunststücke

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wird nicht vorwiegend im Sportunterricht in der Schule und auch nicht im Sportverein von Übungsleitern vermittelt. Diese Fähigkeiten werden in Situationen informellen Lernens erworben und weiter entwickelt. Jugendliche zeigen (präsentieren) untereinander ihre Tricks, regen zur Nachahmung an (mimetisches Lernen) und in freundschaftlichen Cliquen erklärten sich die Akteure untereinander die Ausführung, geben sich untereinander Anregungen und Hilfestellung. Trendsportakteure konstruieren dabei immer wieder neue Bewegungsformen, differenzieren bestehende Trendsportarten aus. Sie bedienen sich dabei zahlreichen Anregungen aus den Medien und des Marktes. Ohne das Internet wären bewegungsorientierte Events wie die Form des „Flashmobs“, bei denen man sich an urbanen Orten trifft, um für eine begrenzte Zeitdauer eine (bewegungsorientierte) Aktion mit performativem Charakter zu inszenieren (z.B. Akteure trafen sich zu einem Fitness – Flashmob am Marktplatz in Sehnde) kaum möglich. Auch Trendsportarten wie „Parkour“ wären über die Verbreitung im Internet wohl kaum so schnell und so weit bekannt geworden. Das Merkmal des Sampling, welches für den (Weiter-)Entwicklungsprozess von Trendsportarten genannt wurde, beschreibt den möglichen kreativen Gestaltungsprozess beim Erfinden von Trendsportarten. Weniger Nachgestaltung, sondern Um- und Neugestaltung stehen beim Sampling im Vordergrund. Durch die Neukombination bestehender Sportartenelemente entstehen neue Trendsportarten bzw. deren Ausdifferenzierungen. Skatboarding wird mit Windsurfen kombiniert und es entsteht das „Skatesurfing“, welches man heute auf großen Asphaltflächen (z.B. auf dem Tempelhofer-Feld in Berlin) finden kann. Manche eher traditionelle Sportart wird mit neuen Bewegungsformen kombiniert sowie mit einer neuen „Lebensphilosophie“ verbunden. Die Trendsportart Parkour (Witfeld et al 2010) bezieht ihre funktionalen Bewegungstricks durchaus aus dem weiten Feld des Turnsports. Allerdings finden die Saltosprünge, Hechtrollen, Klimmzüge etc. nicht in der Sporthalle, sondern explizit im urbanen Raum statt. Die architektonisch-baulichen Merkmale des urbanen Raums (z.B. Mauern, Treppen, Geländer, Brücken, Dächer) werden im Parkour nicht als unüberwindliche Hindernisse gesehen. Diese urbanen Manifestationen einer oftmals begrenzenden und bewegungsunfreundlichen Stadt werden als Herausforderungen für das eigene Bewegungskönnen definiert. Der Parkourläufer (franz.: le traceur = „der, der eine Linie zieht“) versucht die sich in den Weg stellende Hindernisse durch geeignete Bewegungsmanöver und Tricks möglichst effizient zu überwinden.

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Bei einer Spielart des Parkour, dem „Freerunning“ dagegen wird der Effizienz die Virtuosität hinzugefügt. Der Freerunner überwindet ebenfalls urbane Hindernisse, aber er legt mehr Wert auf flüssige und schöne Bewegungen.

S CHLUSSBEMERKUNG Urbane Räume können durch kreative und künstlerische Bewegungsaktivitäten und Trendsportler zu „Bewegungsräumen“ bzw. modernen „Sporträumen“ werden, die zur ästhetischen Erlebnisorientierung (Innenorientierung und Bewegungsgefühl) und der ästhetischen Darstellungsorientierung der Menschen genutzt werden. Wer urbane Räume für die Erschließung von Trendsport und Bewegungskunst möglich machen möchte, kann als Legitimation an die Funktion dieser körperlichen Aktivität als „Spielräume“ zur Identitätsgestaltung der Akteure sowie an die Prozesse der informellen Bildung anknüpfen. Gleichzeitig sind die Bewegungskunst und der Trendsport als künstlerische Gestaltungsformen in den Kontext der urbanen Stadtkultur wahrzunehmen und zu integrieren.

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L ITERATUR Beckers, Edgar (1993): Bewegungs-Kultur und Bewegung. In: Beckers, E./ Schulz, H.G. (Hg.): Sport, Bewegung, Kultur. Bielefeld: Huchler. S. 1038. Bette, Karl-Heinrich (1989): Körperspuren und Paradoxien moderner Körperlichkeit. Berlin, New York: Walter de Gruyter. Bette, Karl-Heinrich (2010): Sportsoziologie. Bielefeld: transcript. Brandstätter, Ursula (2008): Grundfragen der Ästhetik. Bild-MusikSprache-Körper. Köln, Weimar, Wien: Böhlau UTB. Breuer, Christoph/Michels, Harald (2003): Trendsport. Modelle, Orientierungen und Konsequenzen. Aachen: Meyer & Meyer. Caysa, Volker (2004): Stufen der Rauschinszenierungen im Sport. In: Sport. Inszenierung. Ereignis. Kunst. Kiel: Neumann. S. 128-149. Deinet, Ulrich/Krisch, Richard (2012): Konzepte und Methoden der Lebensräume von Kindern und Jugendlichen. In: Riege, Marlo/Schubert,

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Herbert (Hg.):Sozialraumanalyse. Grundlagen – Methoden – Programme. Köln: Sozial-Raum-Management. S. 127-138. Funke, Jürgen (1989): Bewegungskunst – ein wiederentdecktes Thema menschlicher Bewegung. In: Dietrich, Knut/Heinemann, Klaus (Hg.): Der nicht-sportliche Sport. Schorndorf: Hofmann. S. 72-83. Gugutzer, Robert (2004): Soziologie des Körpers. Bielefeld: transcript. Kessl, Fabian/Reutlinger, Christian (2007): Sozialraum. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag. Schmidt, Werner/Hartmann-Tews, Ilse/Brettschneider, Wolf-Dietrich (Hg): Erster Deutscher Kinder- und Jugendsportbericht. Schorndorf: Hofmann. Schwier, Jürgen (2003): Was ist Trendsport? In: Breuer, Christoph/ Michels, Harald (Hg.): Trendsport, Modelle Orientierungen und Konsequenzen. Aachen: Meyer & Meyer. S. 18-32. Spiegel-Online (2010): Hässlichtanz – WM. http://www.spiegel.de/ panorama/haesslichtanz-wm-je-oller-desto-doller-a-725016.html [Zugriff am 25.02.2015]. Lamprecht Markus/Murer Kurt/Stamm Hanspeter (2003): Die Genese von Trendsportarten in: Breuer, Christoph/Michels, Harald (Hg.): Trendsport, Modelle Orientierungen und Konsequenzen. Aachen: Meyer & Meyer. S. 33-50. Lenk, Hand (1985): Die achte Kunst. Leistungssport – Breitensport. Osnabrück: Fromm. Majetschak, Stefan (2007): Ästhetik zur Einführung. Hamburg: Junius. Riege, Marlo/Schubert, Herbert (Hg.) (2012): Sozialraumanalyse. Grundlagen-Methoden – Praxis. Köln: Verlag Sozial – Raum – Management. Schulze, Gerhard (1993): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt/New York: Campus. Weiß, Otmar/Norden, Gilbert (2013): Einführung in die Sportsoziologie. Münster, New York, München, Berlin: Waxmann. Witfeld, Jan/Gerling, Ilona E./Pach, Alexander (2010): Parkour und Freerunning. Entdecke deine Möglichkeiten. Aachen: Meyer & Meyer. Zimmer, Renate (2004): Handbuch der Bewegungserziehung. Freiburg, Basel, Wien: Herder.

Stadtmusik H UBERT M INKENBERG

Angesichts der zunehmenden Verstädterung unseres Landes kommt der kulturellen Arbeit in den Städten eine immer größere Bedeutung zu. Hier rücken immer mehr das Quartiersmanagement und die damit verbundene kulturelle Arbeit in den einzelnen Stadtteilen in den Mittelpunkt. Angebote im Bereich Musik spielen wegen ihres niederschwelligen Charakters und der Methodenvielfalt eine bedeutende Rolle. Der potentielle Adressatenkreis von Musik ist denkbar groß. Musik erreicht alle. In Kulturzentren, öffentlichen und privaten Musikschulen, in Volkshochschulen und Stadtteilinitiativen gibt es mittlerweile eine Fülle von Angeboten für alle Altersgruppen und für jeden kulturellen Background (vgl. Hill, 2004 S. 84ff). Eine Aufzählung der häufig anzutreffenden Angebote mag das verdeutlichen. • • • • • • • •

Rock- und Popbands, Sambabands, Trommel- und Percussions Gruppen, Singen in allen Besetzungen von Solo bis Massenchor, Konzertveranstaltungen, Instrumentenbau, Hip-Hop-Projekte, Musik und Computer.

Grundsätzlich lassen sich alle oben genannten musikalischen Aktivitäten systematisieren in die musikalischen Funktionsfelder

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1. 2. 3. 4.

Vokales Musizieren, Instrumentales Musizieren, Musikhören, Musik und Bewegung.

Ein interessanter und für den Bereich Musik in der Sozialen Arbeit überaus wertvoller Ansatz verbreitet sich zurzeit in Deutschland unter dem Namen Community Music. Aus dem englischsprachigen Raum kommend bündeln sich zurzeit die Aktivitäten in Deutschland an der Universität München im Institut für Musikpädagogik unter dem Stichwort Munich Community Music Center (MCMC). In einem 2013 in den USA erschienenen Buch wird prognostiziert, dass sich die „community music“ sicherlich in den nächsten Jahren in der ganzen Welt durchsetzen wird (Veblen et al. 2013). Im Folgenden seien zunächst die Grundprinzipien der Community Music (CM) aufgeführt; Grundpfeiler sind hierbei: Kulturelle Demokratie In Form einer Neudefinition der Rolle des Musikers in der Gesellschaft durch Engagement für ein System, das „denen eine Stimme gibt, die in der Vergangenheit vom öffentlichen Leben ausgeschlossen waren“ (http:// www.communitymusic.musikpaedagogik.uni-muenchen.de/theory/cultural_ democracy/index.html). Weiterhin die Förderung eines Bewusstseins um die Wichtigkeit der Inklusion von entrechteten und benachteiligten Einzelpersonen und Gruppen (ebd.). Persönliche Entwicklung Förderung der persönlichen sozialen Kompetenz durch Gruppenmusizieren und im musikalischen Handeln, Prozessorientierung statt hochgehängter künstlerischer Ziele. Partizipation Zugang der musikalischen Aktivitäten für alle Bevölkerungsgruppen unabhängig von Alter, Geschlecht oder Bildung. Dies alles sind Grundprinzipien, die im Einklang mit der Forderung, Bourdieus nach der Vergrößerung des kulturellen Kapitals als Möglichkeit der

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kulturellen Teilhabe und somit der gesellschaftliche Veränderung stehen (Pierre Bourdieu et al. 1987/1992). Im Gegensatz zu den englischsprachigen Ländern, aus denen die Community Music stammt, sind bei uns häufig Vereine und Verbände Träger der musikalischen Angebote, beispielweise der Deutsche Blasmusikverband oder der Deutsche Chorverband. Darüber hinaus ist vor allem in den Städten eine Unmenge von ständig wachsenden privaten Musikinitiativen zu verzeichnen. Schätzungsweise 14 Millionen Menschen in Deutschland musizieren in ihrer Freizeit, über ein Fünftel davon in den Ensembles der Chor- und Instrumentalverbände. In dieser Situation beachtlicher Potentiale fehlt es häufig noch an guten Konzepten, die im Rahmen der städtischen Kultur die nicht in Vereinen organisierten Bürger musikalisch aktivieren. Im Folgenden sollen einige Methoden und Projekte vorgestellt werden, die sich in der städtischen Kultur bewährt haben.

P ROJEKTE Kunst/Musik am/im Fluss Hier wurde durch einen örtlichen Kunstverein in einer kleineren Mittelstadt am Ufer der Ruhr über eine Strecke von fast vier Kilometer an einem ganzen Tag ein Kulturfestival unter der Beteiligung möglichst vieler Bürger veranstaltet. Im Bereich Musik gab es folgende Angebote: Klangbaum Klingende Alltagsgegenstände wurden bereitgestellt und konnten von den Passanten in einen größeren Baum am Fluss-Ufer gehängt werden. Durch Wind wurde der Baum zum Klingen gebracht. Gongwiese Hier wurde ein ganzes Gongorchester aufgebaut, das von Musikern zusammen mit Didgeridoos in regelmäßigen Abständen konzertant vorgestellt wurde. Danach gab es die Möglichkeit, die Gongs unter Anleitung der Künstler selbst zu bedienen.

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Trommelgruppe Eine schon vorherbestehende Gruppe von Trommlerinnen und Trommlern animierte die flanierenden Zuschauer zum Mittanzen und Mittrommeln. Rurmoren Das Rurmoren bestand aus einer Klangcollage aus zuvor aufgenommenen Geräuschen und Gesprächen an der Rur, in denen unter anderem der Fluss aus Sicht der Anwohner kommentiert wurde. Diese Collage wurde den Flaneuren durch versteckte Lautsprecher in einer mittleren Lautstärke als Endlosschleife vorgespielt. Chorworkshop Das Konzept wurde vom Verfasser selbst mehrmals unter anderem in Mainz, Köln und Bingen realisiert. Hierbei sollen alle am Gesang und dem gemeinsamen Singen interessierte Bürger angesprochen werden, vor allem solche, die bisher keinerlei Erfahrungen mit gemeinschaftlichen Singen gemacht haben. In den vor dem Workshop erschienenen Aufrufen und Ankündigungen in der lokalen Presse wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass zur Teilnahme am dem Workshop keinerlei musikalische Vorerfahrungen oder Notenkenntnisse vorausgesetzt werden. Dies führte in allen Workshops zu sehr hohen Anmeldezahlen, die lediglich durch die zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten begrenzt waren. In den konkreten Beispielen waren das jeweils etwa 100 Personen. Erstaunlicherweise gelang es bisher immer im Laufe dieser zwei Tage ein 90-minütiges Programm zu gestalten, das öffentlich aufgeführt werden konnte. Die Reaktionen in der Bevölkerung und in der Presse waren nahezu enthusiastisch. In einigen der genannten Städte wird diese Art von Workshop jetzt seit zehn Jahren jährlich mit steigenden Teilnehmerzahlen und großem Erfolg wiederholt. Voraussetzung für den Erfolg der Veranstaltungen ist die Auswahl der Musikstücke und die Kompetenz und Erfahrung der DozentInnen.

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ZUM

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Chaos Orchester Wie kann man mit Menschen Musik machen, die im traditionellen Sinne keine musikalische Vorbildung haben? In diesem von mir seit mehreren Jahren angebotenen Seminar sollen die Studierenden lernen vokale und instrumentale Musik herzustellen, Beispiele niederschwelliger Musik anschauen und analysieren, verschiedene Vokal- und Instrumentaltechniken kennen lernen und Leitungsfunktionen üben. Grundsätzlich lässt sich bei derartigen Seminaren zunächst mit einfachen Rhythmusübungen im Kreis der schnellste und ermutigendste Erfolg erzielen. Dabei wird geübt gleichzeitig verschiedene Dinge mit den Füßen, Händen und mit dem Mund auszuführen und damit die Unabhängigkeit zu trainieren, den permanenten Bezug zu einem Grundpuls herzustellen, die klassische Notation körperlich zu erfahren und in der Gruppe zu lernen. Arbeit mit Stimme, Lied und Gruppe „Die Stimme ist der Spiegel der Seele.“ In dieser Metapher zeigt sich die elementare, grundlegende Bedeutung der Stimme und des Gesangs für den Menschen. Im Singen wirken stimmliche, mimische und motorische Ausdrucksmittel zusammen (vgl. Brünger 1996). Singen kann heilende Wirkung haben, zur Bewältigung von Alltagsproblemen beitragen und das emotionale Gleichgewicht verbessern (Adamek 1996). In kaum einem anderen künstlerischen Medium lässt sich Gemeinschaft und Vertrauen so intensiv erleben wie beim gemeinsamen Singen; das gilt für alle Altersgruppen und wohl auch kulturübergreifend. Singen ist Musizieren mit dem körpereigenen Instrument, das wir immer mit uns tragen. Die Stimme ist neben der körperlichen Bewegung das einzige musikalische Mittel unter einer unmittelbaren und subtilen Kontrolle; gleichzeitig reagiert sie empfindlich auf vegetative Prozesse und zeigt besonders deutlich die physiologischen Wirkungen psychischer Vorgänge. Das „Gestimmtsein“, die Befindlichkeit kommt im Stimmklang oder seinen Veränderungen zum Ausdruck und spiegelt die Verfassung seines Trägers wieder: Stimme als Spiegel der Seele (s.o.). Sie kommt ohne Hilfsmittel aus und ist überall verwendbar. Die Stimme ist das vielseitigste Instrument des Menschen. Sie existiert seit Menschengedenken, unterwirft sich keiner Mode und passt sich in ih-

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ren Ausdrucksmodalitäten allenfalls den Notwendigkeiten der jeweiligen Lebenswelt an. Diese Ausdrucksmöglichkeiten der Stimme sind nahezu unbegrenzt. Zwischen den Extremen des absoluten bedeutungsfreien Klangs bis hin zur konkreten semantischen Aussage (Sprachkommunikation) lässt sich mit Hilfe der Stimme nahezu alles klanglich Vorstellbare realisieren: vom konsonantenreichen Ratterklang bis hin zur reinen LegatoVokalisierung. Durch den jederzeit abrufbaren Zugriff ist sie jedem noch so entwickeltem künstlichem Klangerzeuger weit überlegen. Die Stimme ist das vorrangigste und am häufigsten genutzte Kommunikationsmittel des Menschen und zweifellos auch der Sozialen Arbeit. Sie sichert den sozialen Austausch und übernimmt Überlebensfunktionen für die soziale Gemeinschaft. Vor allem im Bereich des voraussetzungslosen Musizierens kommt dem Singen eine besondere Rolle zu, da das Instrument Stimme von nahezu jedem Menschen zumindest in den Grundzügen beherrscht wird, und jeder – von speziellen Behinderungen einmal abgesehen – dieses Instrument immer bei sich trägt. In idealtypischer Weise werden beim Singen individuelle und soziale Fähigkeiten entwickelt und verstärkt. Singen kann wegen seines niedrigschwelligen Charakters in nahezu allen Arbeitsfeldern der sozialen Arbeit eingesetzt werden. Mit Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter können bekannte und neue Kinderlieder gesungen aber auch neue Phantasiegesänge erfunden werden. Singen kann multimedial in die Produktion kleinerer Theateraufführungen (Krippenspiele, Märchenspiele) und Verklanglichungen eingebunden werden (Wagner 1989, Gerg 1994, Hering, 1994, Lemmermann 1997, Mohr 1997). Darüber hinaus bietet sich Singen mit der Begleitung von Orffinstrumentarium oder aller Arten von Perkussionsinstrumenten an. (Zarius 1989). Grundsätzlich gilt hier, dass der Umfang der Lieder eineinhalb Oktaven nicht überschreiten sollte. Beliebter Kinderliedumfang c1 bis e2. Begleitung mit Harmonieinstrumenten oder mehrstimmiges Singen macht bis zum siebten Lebensjahr nicht viel Sinn, da Kinder bis zu diesem Alter noch nicht harmonisch hören. Glücklicherweise ist heute das Singen mit Jugendlichen bei weitem unkomplizierter geworden als noch in den siebziger Jahren, da zahlreiche Girl- und Boygroups (Take that, Bro'sis, No Angels etc.), a capellaEnsembles (Die Prinzen, Take Six) durch ihre Charterfolge die Identifikati-

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on der Jugendlichen mit gemeinsamem Singen wieder möglich gemacht haben. Musik dient in dieser Lebensphase als Identifikationsmedium und Hilfe zur Ich-Findung. Musik ist gleichzeitig Abgrenzungsmedium gegenüber der Welt der Erwachsenen. Der Geschmack von Jugendlichen orientiert sich stärker an dem der Peer Group als an dem des Elternhauses oder der Schule (Baacke 1999). Singen und Gesangsarbeit mit Jugendlichen bedarf deshalb der besonderen Sensibilisierung für die Probleme dieser Entwicklungsstufe. Ein grundsätzliches Problem in dieser Altersgruppe bleibt sicherlich die Mutation beider Geschlechter, die sich bei Mädchen in Bezug auf die stimmliche Veränderung nur schwach bemerkbar macht. Die Veränderungsprozesse des Körpers und der Stimme führen zu einer starken Verunsicherung der Jugendlichen. Da die Hauptphase des Stimmbruchs ca. sechs Wochen dauert, sollte man in dieser Zeit mit den Betroffenen überhaupt nicht singen. Als Singformen in dieser Altersgruppe bieten sich an: • • • • • • • • • •

Singen von Chart Hits mit Gitarrenbegleitung, Einstimmiges Singen von Evergreens mit Gitarrenbegleitung (Student für Europa, Liederzirkus u.ä.), Einfaches mehrstimmiges Singen von Gospel und Soul Stücken, Sologesang mit Bandbegleitung und Background vocals, Singen von Pop-, Latin- und Jazzkanons (Führe 1999, 2003, Becker 1998), Karaoke von aktuellen Hits, Hip Hop mit vokal Beat Box, Rap mit loops vom Computer oder live gespielt (Terhag 1996), Vokale Improvisationen, Liedermachen (Rizzi 1982).

Für Jugendliche ist die Authentizität der Person und der Musik besonders wichtig. Bei mangelnder Kenntnis der aktuellen Musiktrends sollte die Leitung von Gesangsaktivitäten daher besser an Szenemitglieder delegiert werden. Grundsätzlich gelten für das Repertoire und die Methodenwahl beim Singen mit Erwachsenen weitestgehend die gleichen Kriterien wie beim Singen mit Jugendlichen.

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Allerdings könnte im Bereich des Laienmusizierens die Heterogenität der Gruppen bezüglich des Alters, des Geschlechts, der musikalischen Vorkenntnisse, der Singerfahrungen, und der Hörerfahrungen Probleme bereiten. Die in der Regel professionell ausgebildeten Chorleiterinnen und Chorleiter sollten nicht vergessen, dass Singen für die meisten Menschen Freizeitbeschäftigung und Entspannung bedeutet und ihre Arbeitsweisen und die Repertoiregestaltung entsprechend abstimmen. Einen breiten Raum nimmt beim Singen mit Erwachsenen die Körperarbeit ein, die dazu dient • • • • •

die Sängerinnen und Sänger auf die neue Situation einzustellen d.h. vom Alltag hinüberzuleiten in die Singsituation, das bei vielen Menschen verloren gegangene Körpergefühl wieder herzustellen und zu sensibilisieren, alle Resonanzräume des Körpers zu erschließen und zum Klingen zu bringen, durch Partnerübungen den Kontakt in der Gruppe herzustellen und zu verbessern, Fremdsein zu überwinden und Scheu und Scham abzubauen den Atem bewusst spürbar zu machen und zu entwickeln (vgl. Gutzwiller 1997, Middendorf 1984, Rüdiger 1996).

Ein weiterer wichtiger Aspekt in der Gesangsarbeit mit Erwachsenen, der leider oft vernachlässigt wird, ist eine umfassende Stimmbildung. Ebenso wie die Muskulatur des Läufers vor dem Sprint muss die Stimme vor dem Singen auf die ungewohnten Anforderungen eingestellt werden. Sinnvoll ist es sicherlich, die Sängerinnen und Sänger auf die überaus kommunikative Bedeutung des Stimmklangs hinzuweisen und darüber aufzuklären, dass Stimmbildung die Stimme auch für den nichtmusikalischen Alltagsgebrauch trainiert (vgl. Coblenzer/Muhar 1992, Ehmann/Haasemann 1981, Feuerstein 2000, Hofbauer 1987). Grundsätzlich ist Singen und Stimmarbeit mit Erwachsenen in vielfältigster Weise vorstellbar: • • •

Chorisches Singen von Volksliedern a capella im gemischten Chor oder als Männer- oder Frauenchor, Chorisches Singen von Schlagern und Evergreens mit Begleitung, Stimmbildung,

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• • • • • • •

Einzelstimmbildung (in der Einzelbetreuung), Chorisches Singen von Volksliedern im gemischten Chor oder als Männer- oder Frauenchor mit Begleitung, Karaoke Singen, Stimmliche Improvisation, Gospel und Spirituals, Sologesang mit Band- und Chorbegleitung, Liedermachen.

Dem Singen mit alten Menschen kommt schon angesichts der Altersstruktur unserer Gesellschaft eine immer größere Bedeutung zu. Mittlerweile ist die therapeutische Wirkung von Musik und Singen besonders bei Altersdemenz nachgewiesen (Muthesius 1997). Durch die besondere Wirksamkeit der Musik (s.o.) auf das limbische System und beide Gehirnhälften stellt Musik und Singen bei Altersdemenz und Alzheimer Erkrankung manchmal den einzig wirksamen Zugang zu den alten Menschen dar. Durch Singen bekannter Lieder können Erinnerungen wach gerufen, Emotionen wiederhergestellt und Verarbeitungsprozesse in Gang gesetzt werden. Darüber hinaus führt gemeinsames Singen für alte Menschen zu einem positiven Gruppenerleben. Gute Erfahrungen werden mit regelmäßig angebotenen offenen Singkreisen gemacht. Es empfiehlt sich die Herstellung eines kleinen Liederbuchs mit vergrößerten Texten von Schlagern, Evergreens und Volksliedern mit einem großen Bekanntheitsgrad. Vocal Percussion Sänger wie Bobby McFerrin und Vokalgruppen wie „The Real Group“, und „Flying Pickets“, haben „Vocal Percussion“, eine faszinierende Art mit der Stimme Rhythmen zu erzeugen, populär gemacht. Das Groove Karaoke-Singen hilft Vocal Percussion auch als motivierende Form des Rhythmus- und Formtrainings zu entdecken. Durch das Singen der Rhythmen zum Playback wird das Timing verbessert, und „nebenbei“ das Puls-, Takt- und Formgefühl trainiert. Das Singen der Rhythmen hilft beim Lernen und Memorieren. Spielen mir perkussiv gesprochenen Wörtern macht Spaß und schult die rhythmische Kompetenz. Im Vocal Percussion Crash Kurs lernen die TeilnehmerInnen die Klangerzeugung mit Hilfe der Silbenmethode aktiv kennen. Bei dieser Methode wird jedem Klang des Schlagzeuges eine Silbe zugeordnet. Die Sil-

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ben werden zu Silbenketten aneinandergereiht und es entstehen Rhythmen. Als Einstieg wird hier ein Rockrhythmus gewählt. Schon rocken die Teilnehmer/innen mit „doon ts ka ts“ und bald wird klar, dass Vocal Percussion sehr einfach ist und schnell zu gut klingenden Ergebnissen führt. Diese Beispiele sollen nur als Anregung dienen. Der Rhythmisierung durch Vocal Percussion sind keine Grenzen gesetzt.

AUSBLICK Dies kann nur ein kleiner, lückenhafter und kurzer Ausblick auf die Möglichkeiten des gemeinsamen Musizierens in der Stadt sein. Völlig vernachlässigt habe ich in dem Beitrag das Arbeiten mit Neuen Medien. Der gesamte Bereich des Musizierens mit Hilfe von Apps, Smart Phones und jeder Form von Computer wäre einen weiteren Artikel wert. Der unten stehende Link zum Online-Kurs der Universität München zu diesem Thema mag ein kleiner Ersatz für das Fehlen dieses Themas in diesem Artikel sein. Ich hoffe in diesem Artikel Anregungen für weiteres lustvolles „Musikmachen“ gegeben zu haben und verweise im Folgenden noch einmal auf nützliche Links und Literatur zu dem Thema.

S TADTMUSIK | 203

L INKS www.musikpaedagogik.uni-muenchen.de/forschung/forsch_projekte/ community_musik1/index.html www.musikpaedagogik.uni-muenchen.de/mcmc_deutsch/index.html www.musikpaedagogik.uni-muenchen.de/onlinekurs/module/index.html www.cms.msu.edu/

L ITERATUREMPFEHLUNGEN Adamek, K. (2003): Singen als Lebenshilfe. Zur Empirie und Theorie von Alltagsbewältigung. Münster. Baacke, D. (1998): Handbuch Jugend und Musik. Opladen. Bastian, H. G. (2000): Musik(erziehung) und ihre Wirkung. Mainz. Bastian, H. G. (2001): Kinder optimal fördern…mit Musik. Mainz. Bruhn, H. (2003): Musikalische Entwicklung im Alter. In: Musiktherapeutische Umschau, 24 (2), 134-149. Burnard, P. (2012): Musical Creativities in Practice. Oxford. Clements, A. C. (2010): Alternative Approaches in Music Education: Case Studies from the Field. Lanham. De la Motte-Haber, Helga (Hg.): Musikpsychologie. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft, Band 16, Göttingen S. 66-83. Eckart-Bäcker, U. (1987): Musik in der Erwachsenenbildung. In: Außerschulische Musikerziehung. Wiesbaden. Eckart-Bäcker, U. (2001): Musik-Lernen. Theorie und Praxis. Studien zur Theorie der Musikpädagogik. Mainz. Georgii-Hemming, E., Burnard, P., Holgersen, S.-E. (2013): Professional Knowledge in Music Teacher Education. Abingdon. Gembris, H. (2002): Grundlagen musikalischer Entwicklung und Begabung, (2. Aufl.) Augsburg. Green, L. (2009): Music, Informal Learning and the School: A New Classroom Pedagogy. Farnham. Gruhn, W. (2003): Kinder brauchen Musik. Musikalität bei kleinen Kindern entfalten und fördern. Weinheim. Hartogh, Th., Wickel, H. H. (Hg.) (2004): Handbuch Musik in der sozialen Arbeit. Weinheim.

204 | H UBERT M INKENBERG

Higgins, L. (2012): Community Music. In: Theory and in Practice. New York. Higgins, L., Campbell, P.S. (2010): Free to be Musical: Group Improvisation in Music. Lanham. Kertz-Welzel, A. (2008): Matter of Comparative Music Education? Community Music in Germany. International Journal of Community Music 1, Nr. 3, S. 401-409. Kleinen, G. (1994): Die psychologische Wirklichkeit von Musik. Kassel. Kreutz, G. (2002): „Jede Sehnsucht hat eine Melodie“ Basisemotionen in der Musik und im Alltag. In: K.-E. Behne, G. Kleinen, H. de la MotteHaber, H. Maturana und B. Pörksen (Hg.), Vom Sein zum Tun. Heidelberg. Maturana, H., Varela, F., (1987): Der Baum der Erkenntnis. München. Minkenberg, H. (1991): Das Musikerleben von Kindern im Alter von fünf bis zehn Jahren. Frankfurt. Minkenberg, H. (2004): Singen. In: Th. Hartogh und H. H. Wickel (Hg.), Handbuch Musik in der sozialen Arbeit. Weinheim. Holtmeyer, G. (Hg.) (1989): Musikalische Erwachsenenbildung. Regensburg. Veblen, Kari K., Messenger, S. J., Silverman, M., Elliott, D. J. (2013): Community Music Today. Lanham, New York, Toronto, Plymouth. Wickel, H. H. (1998): Musikpädagogik in der sozialen Arbeit. Münster.

Hereinspaziert! Urban Culture und Urban Gardening Kollaborative Arbeit mit Studierenden S WANTJE L ICHTENSTEIN & M ARIA S CHLEINER „Die Vernichtung von so vielen Zäunen, von Obstgärten und Häusern und Scheunen und Ställen hat meinem Eindruck nach bewirkt, dass die Landschaft kleiner aussieht und nicht größer – so wie der Grund und Boden, den ein Haus einmal eingenommen hat, erstaunlich klein aussieht, wenn man nur noch den Grundriss vor sich hat.“ ALICE MUNRO, 2011: WOZU WOLLEN SIE DAS WISSEN?

Die eigene Umgebung und Gegend wird mit ihrer Gestaltung als eine Art des alltäglichen Handelns wahr-, und diese zunächst als nicht hinterfragbar, angenommen. Dies war die Prämisse für die Auseinandersetzung mit dem öffentlichen und privaten Raum und deren Aneignung im Rahmen eines Projektseminars mit Studierenden zum Thema „Urban Culture“. Selbst, wenn wir wissen, dass unsere Kultur durch den gegebenen Raum beeinflusst wird, ja dass durch und in diesen Räumen Kultur geschaffen wird, nehmen wir ihn nicht immer intensiv, ästhetisch oder als von uns gestaltbaren Raum wahr. Der öffentliche Raum verändert sich auf verschiedene Art und Weise, mit oder ohne unsere Beteiligung, mit oder ohne unser

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Wissen. Die Prozesse dieser Veränderung können wir – bewusst oder unbewusst – wahrnehmen, verändern und sogar in Frage stellen. Der öffentliche Raum stellt eine Erweiterung des Privatraums dar und bietet Möglichkeiten der Aneignung und gemeinsamen Eroberung des zunächst als anonym und abstrakt erlebten Raums. Durch die Aneignungsprozesse und die Wahrnehmung wird die Erweiterung des individuellen Gestaltungsraums nicht nur ausgedehnt, sondern auch für ein Außen sichtbar und damit sozial erlebbar.1 Bei der Überlegung, wie private und öffentliche Räume erleb- und gestaltbar werden, bieten sich Verfahren der künstlerischen Forschung an und sind potentiell erweiterbar und anschlussfähig, da v.a. auch neue Perspektiven, Kategorien und Ordnungssysteme eingeführt und weitergeführt werden. Diese erzeugen wiederum eine andere Art der erfahrbaren Episteme, zumal die Kunst seit den 1960er Jahren oft Verfahren entwickelt hat, die man mit dem Kunstkritiker Lawrence Alloway als post-studio production of art bezeichnen kann. Prozesscharakter und der Zugriff auf außerkünstlerische Wirklichkeit bzw. das Verschmelzen mit dieser sind Kennzeichen hiervon (in situ [vor Ort], ephemer [vergänglich], performativ [in Bewegung]).2 Zunächst handelt es sich um eine Auseinandersetzung mit bereits bestehenden Beispielen aus der zeitgenössischen Kunst, die dem Projekt in seiner Sondierungs- und Recherchephase vorangingen. Hierzu ist ein transdisziplinärer Ansatz vorteilhaft, da er den Raum möglichst weit öffnet und verschiedene ästhetische Ausdrucksfelder in ihrem Zusammenhang deutlich macht. Zusammentragen, Suchen und Finden, Erforschen, Recherche als Recycling Prozess und produktive Auseinandersetzung und Aneignung der eigenen Umgebung. Das künstlerisch-gestalterische Forschungsprojekt ging aus von einer Fragstellung, die Ästhetik und Kultur des öffentlichen Raums, der Landschaftsgestaltung in einem institutionellen Umfeld und der hierfür geeigneten Bedingungen und Ideen hinterfragt und diesen Prozess der Recherche

1

Vgl. Ralph Fischer: Walking Artists. Über die Entdeckung des Gehens in den performativen Künsten, Bielefeld: transcript 2011, S. 91-174.

2

Vgl. Lawrence Alloway: Robert Smithson’s Development, in: Artforum 11, No. 3, November 1973, S. 52-61.

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und des Experiments in einer Gestaltungsmaßnahme, nämlich der Anlage eines Gartens auf Grundlage des „Urban Gardenings“, sichtbar macht. Die Vorstellung eines Gartens als kultiviertem und privatisierten Teil der Natur galt sowohl für die Vermittlung von privatem und öffentlichen Raum als gelungenes Bild, besonders auch im institutionellen Rahmen einer Hochschule und den dort bereits angelegten, öffentlichen Grünflächen, die aber ohne Einfluss derjenigen entstehen, die sich darin zumeist bewegen, wie Studierende oder Mitarbeiter. Bei der Vorstellung davon, wie sich eine ästhetische, also sinnliche Erfahrung als künstlerische Erfahrung vermitteln lässt, spielte hierfür besonders die Fragestellung aus der künstlerischen Forschung eine bedeutende Rolle. Der Aspekt, der für das Projekt „Hereinspaziert/Urban Gardening“3 relevant wurde, ist das Verhältnis von Form und Gestaltung als Frage nach der Beziehung von Gestalt und Umgebung im Rahmen einer Forschungserfahrung auf künstlerischem Sektor, wie sie Toro Pérez formuliert: Wir können Kunsterfahrung als sinnliche Erfahrung und das Ergebnis künstlerischer Tätigkeit als sinnlich wahrnehmbare Form bezeichnen, wenn wir „Form“ nicht als feststoffliche Gestalt, sondern als Möglichkeit von Beziehung verstehen.4

Jede Forschungserfahrung sowie jede künstlerische Erfahrung entsteht nicht nur als individuelle Erfahrung, sondern innerhalb verschiedener „Netzwerke der Akteure“ (Bruno Latour) als Compositionism auf dem Gebiet einer theoretischen Konzeption der Soziologie, bei der die Interaktion von Menschen und Dingen und die Materialität der Dinge stärker berücksichtigt werden, steht auch hier die Dinghaftigkeit im Vordergrund,

3

Vgl. zum Begriff „Garten als Labor“ Cordula Kropp: Gärtner(n) ohne Grenzen: Eine neue Politik des „Sowohl-als-auch“ urbaner Gärten, in: Christa Müller (Hg.): Urban Gardening. Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt, München: oekom 2012, S. 76-87.

4

Germán Toro-Pérez: Künstlerische Forschung und Künstlerische Praxis, in: Kunst und Künstlerisch Forschung, hg. von Corina Carduff, Fiona Siegenthaler, Tan Wälchli, Zürich 2010, S. 32-41, S. 35.

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und damit die Zeitlichkeit der Interaktion zwischen Künstler und dem werdenden Werk.5

Die Gruppenarbeit und Verwirklichung der Netzwerke waren Voraussetzungen für die Arbeit im Rahmen dieses Projekts und als solche besonders relevant für das Zustandekommen und die Durchführung und Verhandlung, vor dem Hintergrund des Aspekts des Performativen: In performativen Konstellationen wird die Fokussierung auf Zeichenprozesse abgelöst durch die Fokussierung auf konkrete Materialität von räumlichen, zeitlichen Bedingungen und Gegenständen, auf Körperlichkeit und Wahrnehmungsprozesse – auf das konkrete singuläre Ereignis.6

Künstlerische Projekte im Rahmen der Künstlerischen Forschung im Bereich des öffentlichen Raumes stellen sich immer auch die Frage nach der Aneignung von Raum und künstlerischen Aneignungsprozessen. Aneignung im Sinne der Appropriationskunst stellt darüber hinaus die Frage nach Produktion und Reproduktion, von Neuerschaffung und Recycling von Kunst und Waren. Diese werden über künstlerische Projekte und Aktionen recherchiert und neu in Szene gesetzt, als künstlerische Artefakte, Installationen, Partizipation und Intervention. Diese Situationen werden als einzigartige betrachtet, um daraus einen Forschungsinhalt zu entwickeln: Nur durch die Möglichkeit einer selbstorganisierenden Entwicklung werden Singularität und damit Originalität im Forschungsprozess möglich. Der Prozess der Kunstforschung ist in hohem Maße verkörpert (embodied). Möchte man Kunstforschung in einem wissenschaftlichen Kontext nutze, muss man mit Personen zusammenarbeiten, die über die Techniken der Verkörperung, also die Künstler, verfügen. Deren

5

Martin Tröndle/Julia Warmers: Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft, Bielefeld: transript 2012, S. 170 und Bruno Latour: Das Versprechen des Konstruktivismus, in: Huber, Jörg (Hg.): Person/Schauplatz. Interventionen 12, Wien/New York: Birkhäuser 2003, S. 183-208, S. 193f.

6

Christoph Wulff/Jörg Zirfas, „Bild, Wahrnehmung, Phantasie, Performative Zusammenhänge“, in: Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg (Hg.): Ikonologie des Performativen, Paderborn: Fink Verlag 2005.

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Methoden sind nicht wie die Methoden der Wissenschaftler mehr oder weniger einfach erlernbar, sondern individuell verkörpertes Erfahrungswissen.7

Für das Projekt besonders relevant war die Anschlussfähigkeit an die gegebene Situation, als auch an die Ressourcen der Studierenden, da keine besonderen Mittel zur Verfügung standen. Das künstlerische Erfahrungswissen spielte in der Anleitung des Projekts eine wichtige Rolle und wurde ebenso spezifisch, wie individuell eingesetzt und weitergeben. Daraus ergaben sich für das künstlerische Forschungsprojekt folgende Anschlussstellen und Integrationen: 1.

2.

3.

7

Die Einbindung der Lebensumgebung und Institutionen, z.B. Arbeitsstellen, familiäre Kontexte, Stadtteilerforschungen und Entdeckungen der Studierenden. Die Studierenden haben eine andere ästhetische und funktionale Wahrnehmung und auch Bedürfnisse bezogen auf verschiedene Institutionen und bringen Erfahrungen und Möglichkeiten mit, die ins Projekt eingebunden werden konnten. Hieraus ergab sich, dass Studierende ihre Wohnquartiere/Viertel und Arbeitsstätten neu erkundeten, Material sammelten und ihre Familien und Freunde ins Projekt einbinden konnten. Die Einbindung schon existierender Projekte in der Stadt und Herstellung von Schnittstellen, Anknüpfungspunkten, Vernetzungen mit der Umgebung und damit Multiplikation der partizipierenden Gestaltung des städtischen Raumes. Die Studierenden haben durch Recherchen und Forschungsaufgaben in den ästhetischen Feldern nach Schnittstellen in der Stadt gesucht und konnten Zugänge zu Gruppen und existierenden Projekten, deren Wissen und Erfahrungswelten selbstständig erstellen. Einbindung von Ressourcen und Fähigkeiten der Studierenden, z.B. handwerkliche (Schreiner, Maurer), gestalterische, gärtnerische etc. Studierende konnten ihre eigenen Ressourcen erkennen und ins Projekt einbringen, auch wenn sie zunächst nicht als solche erkennbar waren.

Martin Tröndle: Methods of artistic research in: Kunstforschungals ästhetische Wissenschaft, in: Martin Tröndle/Julia Warmers (Hg.): Bielefeld: transcript 2012, S. 193.

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4.

5.

6.

Einbindung künstlerischer Erfahrungen und Experimente zum Projekt, als Zeichnung, Foto, Film, Dokumentation, Steinarbeiten, installative Arbeiten, Materialkunde, Miteinander, Aktionen, Entdeckungen. Neben der Anlage und dem Planen des Gartens waren Entdeckungen mit künstlerischen Medien und Materialien ein wichtiger Bestandteil des Projekts. Diese wurden angeleitet und bereitgestellt. Durch Dokumentation und Reflexion konnten sie in das Projekt integriert werden. Freie Gestaltungsräume und Erfahrungen im Umgang mit vorhandenem Material und Ressourcen. Für das Projekt war der freie Umgang ein wichtiger Aspekt der Arbeit und der Mangel an strategischer Vorbereitung wichtig. Die Anleitung von künstlerischer Seite sollte daher auch kein vorgefertigtes Bild der Anlage vor Augen haben und nach Möglichkeit nicht eingreifen, allenfalls dann, wenn Gefahren bestehen. Veränderungen und Aneignung des Außenraumes mit einfachsten Mitteln. Durch das Sichtbarmachen in einem Garten konnte die wachsende Veränderung deutlich ins Blickfeld geraten. Hierfür waren keine Mittel vorhanden, die Studierenden machten sich daran Abfälle und kostenlos zur Verfügung gestelltes Material zu benutzen, das sie auch an anderen Stellen leicht finden konnten, um den Garten anzulegen.

Die Arbeit mit dem öffentlichen Raum lässt sich an vielen Stellen beginnen, für den Kontext einer Hochschule war es sinnvoll vor Ort mit der ästhetischen Gestaltung als Forschungsprojekt zu beginnen, da dieser Raum für die Studierenden sowohl ein bekannter, als auch ein immer wieder aufgesuchter war und keine abstrakte Vorstellung. Da der Prozess der Aneignung und Gestaltung als künstlerische Forschung angelegt war, handelte es sich im Ergebnis um die Auseinandersetzung, Gestaltung und Veränderung der ästhetischen Wahrnehmung, deren Planung und Dokumentation mit den dazugehörigen Ergebnissen und einer abschließenden Präsentation und Inbesitznahme. Hierzu ist zu bemerken, dass vor dem Hintergrund der ästhetischen Erfahrung das Projekt nicht ohne künstlerische, ästhetische Begleitung abzuhalten gewesen wäre, wenn es sich um ein künstlerisches Forschungsprojekt handelt, da eine professionelle, künstlerische Wahrnehmung und Erfahrung ein essentieller Bestandteil der Arbeit sind. Aus diesem Grund ist es ratsam geeignetes Fachpersonal, nämlich Künstler und Künstlerinnen, für diese Art der Projekt- und Forschungsarbeit hinzuzuziehen.

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Denn genau hier beginnt die Vernetzung der Aktionen und Kompetenzen, nicht einer macht alles, sondern alle machen etwas gemeinsam.

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Crossing Reality: Die Kunst des Christian Hasucha Interventionen zwischen Neckarsulm und Plüschow J OHANNA S CHENKEL

E INE F ILMIDEE VON J OHANNA S CHENKEL MIT ANREGUNGEN VON J OHANNES I MDAHL UND MIT F OTOS VON C HRISTIAN H ASUCHA BONN. Der Blick wandert über den belebten Platz und verfängt sich in mittlerer Entfernung an einer lebensgroßen Figur auf einem rund drei Meter hohen Betonsockel. Im Getümmel der Autos und Menschen, die hier vorbeiziehen, wird erst beim zweiten Blick die Besonderheit dieser Statue deutlich: „Herr Individual geht“. Der Herr in Alltagskleidung tritt gemäßigten Schrittes auf einem verborgenen Laufband auf der Stelle – er nimmt von seiner Umwelt keinerlei Notiz, er geht vor sich hin und bleibt doch wo er ist, wie es sich für eine Figur auf einem Sockel gehört. BERLIN. Ein Mann trägt ein Gestell mit langen Holzlatten auf seinen Schultern. Wo immer er will, baut er aus den Bestandteilen seines „Rucksacks“ eine Bank auf. Er kann alleine darauf sitzen und liegen oder sie mit anderen teilen. „TRASBA“ ist der Name für diese tragbare Sitzbank. In Parks, vor Haltestellen, Bahnhöfen und auf Plätzen, wo Bänke verschwunden sind oder Designer Schalensitze entworfen haben, die dem Ruhebedürftigen das Liegen verweigern, ermöglicht die „TRASBA“, sich selbst den richtigen Platz zum Verweilen auszuwählen, den Standort bei Beschwer-

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den, zu viel Lärm oder wandernder Sonne zu ändern und neue Plätze auszuprobieren. BERLIN. Über das Stadtgebiet verteilt, auf Rasenflächen, Plätzen und an Wegen und Kreuzungen finden sich „16 Poller“. Die bekannten, 80 cm hohen Pfosten sind ordnungsgemäß in den Boden einbetoniert, erfüllen jedoch keine offensichtliche Funktion. Sie leiten keinen Verkehr, stellen keine Ordnung her. Im Gegenteil. Sie stehen ziemlich nutzlos in der Gegend herum, verweisen lediglich auf sich selbst und ihre Position, leisten vielleicht einem Verkehrsschild Gesellschaft. So anstoßerregend, unterschwellig, provozierend und beiläufig begegnet dem nichts ahnenden Passanten die Kunst des Berliners Christian Hasucha. Seit Jahrzehnten bespielt dieser von seinem Neuköllner Atelier aus mit seinen „Öffentlichen Interventionen“ Orte in ganz Deutschland, in Europa und in Kleinasien. Ein Kunsthistoriker meinte einmal über ihn, das sei der Mann, der die Stadt in Stücke schneide. Denn das zusammenhängende Bild, das wir von unserer Außenwelt mit allen Gewohnheiten in uns tragen, wird durch seine Aktionen ins Wanken gebracht. Als Eingriff wie mit der Schere in unser Raum-Zeit-Empfinden wirkt die „Pulheimer Rochade“, bei der Hasucha Orte tauscht: „Eine rautenförmige Fläche (25qm) an der Pulheimer Realschule wird gegen eine gleich große Fläche vor der fünf Kilomter entfernten Abtei im Ortsteil Brauweiler ausgetauscht. Straßenbeläge, Poller, Fahrradhaltebügel, Abfallkorb und ein Stück Jägerzaun wechseln für ein halbes Jahr den Standort“ – so die Projektbeschreibung Nr. 34 aus dem Werkkatalog des Künstlers. Nach Ablauf der Frist werden die Dinge sorgsam zurückgebaut, so dass nach aller beabsichtigten Verwirrung, die die Aktion ausgelöst hatte – der Aufregung, der Ablehnung, dem Interesse und der Zustimmung – die alte Ordnung wiederhergestellt wird. Die Intervention existiert nur noch in der subjektiven Erinnerung und bleibt als fotografisches Dokument erhalten. So auch bei dem Projekt Nr. 48, der „Münster-Coerde-Drehung“, bei der 100 qm eines städtischen Platzes in Münster um 180 Grad gedreht wurden – deutlich zu sehen in der Lageveränderung von Sitzbank und Streudepot sowie dem verändertem Muster der Plattierung. Den Bürgern hatte die Veränderung so gut gefallen, dass sie gegen den von Hasucha nach Ablauf von sechs Monaten geplanten Rückbau protestierten und ihn mit Rechtsmitteln verhindern wollten.

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Christian Hasucha greift zu den unterschiedlichsten Materialien, Werkzeugen und Techniken. Aus Kunststoff, Holz und Metall werden im Atelier Objekte gebaut, die sich später als „Implantate“ im öffentlichen Raum wiederfinden. Hier in Abstimmung mit den Behörden, sekundiert von Bauarbeitern mit Schaufelbaggern, da incognito in Warnweste mit Spaten, Erdbohrer und Betonmischtrog dringt er mit seinen Interventionen oft unbemerkt in unsere Alltagssphären ein. Für die „Intervention P“ stellte er kleine, eiserne Plattformen her, die er ungenehmigt in 20 cm Höhe an individuell ausgewählten Straßenmasten in Graz, Neckarsulm, Heilbronn und Köln montierte und für eine Zeit lang einem ausgewählten Kreis von Personen als Selbstpräsentationsfläche zur Verfügung stellte. Projekt Nr. 12 der Reihe trägt den Titel „System B“, wurde 1990 über zwei Stunden in Köln durchgeführt und arbeitet nur mit Menschen und Klebestreifen: „20 Akteure in alltäglicher Kleidung finden sich zu festgesetzter Zeit auf dem Bahnhofsvorplatz ein und begeben sich unverzüglich auf die dort markierten Stellen. Den individuellen Vorgaben entsprechend werden die vorgesehenen Wege in unterschiedlichen Tempi abgeschritten.“ Die alltagswidrige Choreographie durchkreuzt an dieser Stelle die Wege vorbeilaufender Berufstätiger, Touristen, Flaneure und Reisender und verwandelt den Durchgangsplatz in einen unvorhergesehenen Ort stummer Organisation und Schönheit im Jetzt, bis sich die Intervention wieder auflöst. An einer Bushaltestelle in Plüschow, einem kleinen Ort in Mecklenburg-Vorpommern, entdeckte Hasucha eine Handschrift: „Verpiss dich für immer aus diesem Dorf!“ Der rohen, zugleich jugendlich-ungelenk wirkenden Miniatur nimmt sich Hasucha an, indem er die Schrift kopiert und um ein Vielfaches vergrößert, um den unerhörten Satz nunmehr als Riesenplakat an der Autobahnbrücke prangen zu lassen, die Plüschow mit der Außenwelt verbindet. Die Spur einer enttäuschten Liebe? Und wenn schon – solch eine Aussage wird nicht gern gesehen in einem Landstrich, der sich massiv mit Fremdenfeindlichkeit auseinander setzen muss; nach Beendigung der Intervention ist nicht nur das Transparent abgehängt, sogar die Originalschrift an der Bushaltestelle findet Hasucha übermalt vor. Als neue Intervention plant Hasucha die Freilegung des Schriftzuges von der abdeckenden Farbschicht durch einen Restaurator. Projekt Nr. 35 heißt „Günters Fenster“. Der Frührentner Günter Schulz, ein Nachbar aus Hasuchas Neuköllner Hinterhof, hat die Gewohn-

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heit, auf einem Kissen lehnend den Tag über aus seinem Fenster zu schauen. Für die Intervention wird seine im ersten Stock gelegene Einzimmerwohnung inklusive seines Fensters nachgebaut und mit dem Interieur für zwei Wochen nach Mülheim an der Ruhr versetzt. Dort kann Günter aus exakt gleicher Höhe in die gleiche Himmelsrichtung auf eine belebte Fußgängerzone herunterblicken. Weil die Aktion so gut ankam, spendierte ihm ein Hotel in der Nähe die Übernachtungen. In Berlin stößt der aufmerksame Fußgänger auf eine kleine, gravierte graue Tafel, die in etwa 2,5 Meter Höhe mit zwei Nieten und einer Metallmanschette wie nach amtlicher Norm an einem Straßenmast angebracht ist. Der Wortlaut: „Hier trafen sich am 4. Januar 2000 um 16:00 Uhr K. Sakrowski und S. Breitwieser“. Hintergrund des Projekts Nr. 24, das 1995 in Köln zum ersten Mal realisiert und in Dresden 1996, in Bonn 1998 und in Berlin 1999/2000 wiederholt wurde: Alle Personen aus dem Adressverteiler einer Kunstinstitution werden eingeladen, sich mit einer anderen, unbekannten Person per Postkarte an einem frei wählbaren, öffentlich zugänglichen Ort zu verabreden. Nach dem Treffen sollen sie den Künstler wiederum per Postkarte über das Treffen in Kenntnis setzen. Ohne die Personen selbst getroffen zu haben, vermerkt Hasucha die Daten der Begegnung auf dem Schild und bringt es an der entsprechenden Stelle an. In Dresden hat sich aus der Aktion eine Ehe mit zwei Kindern ergeben, wovon der Initiator des Treffens allerdings erst 15 Jahre später erfuhr.

D ER K ÜNSTLER Christian Hasucha, Jahrgang 1955, studierte Freie Kunst an der HdK (heute UdK) in Berlin und am Sculpture Department der Chelsea School of Art in London. Geprägt hat ihn der multinationale Charakter seines Heimatbezirks Berlin-Neukölln, in den er nach dem Studienjahr in London und achtjährigem Aufenthalt in Köln zurückkehrt. Der Bezirk ist Ausgangspunkt und Spielort vieler seiner Arbeiten, wie etwa die „Die Insel“: „Ein flacher, grasbewachsener Hügel schwebt – von einigen Stützen gehalten – in drei Meter Höhe über dem Straßenpflaster. Ein Mann, der aus der Nachbarschaft zu kommen scheint, packt jeden Morgen dort oben sein Frühstück aus. Auch abends ist er da. Ab und zu bekommt er Besuch.“

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„Herr Individual geht“

„TRASBA“

„Pulheimer Rochade“

„Pulheimer Rochade“

„System B“

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„Plüschow“

„Günters Fenster“

„maintenant”

„Die Insel“

Christian Hasucha

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Bei einer anderen Arbeit, der „Tasche“, installiert Hasucha in einer bürgerlichen Neuköllner Kneipe, die sein Bruder betreibt, einen Glaskasten in ein Fenster, der von der Straße kommend weit in den Gastraum hineinragt und Vorbeigehenden, sofern sie den Kasten betreten möchten, die „rauchfreie“ Beobachtung des Geschehens im Innenraum ermöglicht. Mit einem Kopfhörer sind die Gespräche der Kneipengäste zu verfolgen. Dafür muss das Publikum aushalten, selbst exponiert zu sein. Hasucha nutzt das Milieu seines Stadtteils und forciert Grenzverwischungen, hebt Unterschiede auf zwischen Kunst und Leben, zwischen Künstlern und Nicht-Künstlern, Arbeitern und Hartz IV-Empfängern, Intellektuellen und Handwerkern. Die Projektreihe der „Öffentlichen Interventionen“ nahm im Jahre 1981 in Budapest ihren Anfang und wird laufend weitergeführt. Fast alle Interventionen hat Hasucha mit einer Anzeige in der Zeitschrift KUNSTFORUM angekündigt. Eine kurze, sachliche Beschreibung mit nüchterner Skizze und manchmal einem Foto reichen dafür. Wenn Hasucha nicht in Berlin arbeitet, macht er sich mit seinem Werkstattwagen auf den Weg und entwickelt andernorts Ideen aus seinen Beobachtungen und Erlebnissen. Sein Radius dafür reicht von Mazotos (Zypern) bis Trondheim (Norwegen), von England bis weit in den Osten Europas. Wo ein Projekt seinen Lauf nimmt, wird mit Leichtigkeit, Humor und Scharfsinn Alltagswelt und Kunst verwirbelt. Diese Kunst spricht kaum ein anderes Publikum an als den Menschen, der sie entdeckt, ohne sie gesucht zu haben. Der Künstler macht kein großes Aufheben um seine Person. Es gibt kaum Portraits; zwei Fotos in seinem Katalogbuch zeigen einen Mann in mittleren Jahren. Auf den Fotos neben seinen Arbeiten ist er allenfalls unscharf, verkleinert oder als Modellfigur zu sehen. Zurückhaltend ist Hasucha gegenüber den marktgängigen Strategien, Ritualen und Gepflogenheiten des „Kunstbetriebs“, wenngleich er eng mit Kulturinstitutionen, Galeristen und Stadtplanern zusammenarbeitet. Nicht nur verschwindet Hasucha als Person hinter seiner Kunst; er lässt die Kunst selbst nach einiger Zeit wieder verschwinden. Selbst große Arbeiten, die als Auftrag mit erheblichem Kosten- und Materialaufwand installiert werden, sind in der Regel auf Zeit angelegt. Die großformatigen Beton-Buchstaben „heute“ auf dem Acker zwischen Velen und Ramsdorf wurden nach Ablauf ihrer Fünf-Jahres-Frist zu Schotter für den Straßenbau weiterverarbeitet. Entgegen der gängigen Sicht des Publikums wird die Intervention in Hasuchas Sinne mit der Überführung in einen immateriellen

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Zustand erst vollständig, das Gefühl des Verlustes wird zum Bestandteil des Projektes. Zur rechten Zeit am Ort musste jeder sein, wer im französischen Sancy in der Auvergne im Zentralmassiv westlich von ClermontFerrand Zeuge einer besonders poetischen Variante der „heute“-Intervention mit dem Titel „maintenant“ (2008) werden wollte. Die zehn Buchstaben des Wortes schwimmen als weißer, 50 Meter langer Schriftzug auf einem Bergsee und werden so für drei Monate zu einer ans Halluzinatorische grenzenden Erscheinung, in der die Landschaft in eine Karte und die Karte in einen Augenblick der Besinnung verwandelt wird. Es funktionieren derlei Interventionen auch in der ästhetischen Übertragung des Gedankens durch die Fotografie und den Film. Mit dem richtigen Winkel, kompositorischem Aufbau und Aufnahmezeitpunkt wird das fotografische Dokument zum eigenständigen Werk, das eine Intervention auf den Punkt bringt und sie über deren endliche Dauer hinaus einem Publikum nahebringen kann. Dennoch klingen neben der Irritation, dem humorvollen Spiel und den vielen Assoziationsebenen in der begrenzten Zeitlichkeit eines Werks wie „heute“ eine gewisse Demut und Bescheidenheit an. Als ginge es nicht um den Anspruch, sich mit Kunstwerken in der Welt zu verewigen, verweist Hasucha auf die Kostbarkeit und Wertschätzung des erlebten Moments, sei dieser Moment eine Minute, ein Tag, sechs Monate oder ein halbes Leben. Bewundert und gefördert, eckt Hasuchas Kunst genauso an und wird von der Öffentlichkeit oft kontrovers aufgenommen oder diskutiert. Was bedeutet uns Kunst, wie offen oder auch verengt ist unser Blick, wenn es darum geht, sie als solche zu erkennen und anzunehmen? „Im Tun und im Entdecken sind wir alle gleich, wir sind geleitet von einer Neugier, wir lieben das Spiel und die Möglichkeiten, wir wollen uns nicht reduzieren lassen auf die Funktion und die Rationalität, die uns das Leben, der Markt, die Arbeit, die Welt bisweilen auferlegen. Die Freiheit im Sehen, Denken und Fühlen, im Machen – um die geht es, nicht um Kunst als eine hermetische und elitäre Kategorie“, meint Johannes Imdahl. Christian Hasucha selbst formuliert es lakonischer: Meine Arbeiten sollen anonym erscheinen und im Dialog mit dem Kontext stehen. Die Sprache des jeweiligen Eingriffs erschließt sich allen, die sich unbefangen nähern können und genügend Interesse aufbringen, um das Fremde in seiner Eigenart

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wahrzunehmen. Ich selbst gehöre eigentlich sehr gerne zu den Leuten, denen zufällig etwas Derartiges begegnet.

D ER F ILM – P ROJEKTBESCHREIBUNG FÜR DIE F INANZIERUNG Wir wollen über Hasuchas Arbeiten mit „Crossing Reality“ einen Dokumentarfilm drehen. Eines der bemerkenswertesten Kunstkonzepte unserer Zeit: die „Öffentlichen Interventionen“ des Künstlers Christian Hasucha sind dauerhaft nur dokumentarisch zu erfassen. Der Film soll zeigen, wie innovativ zeitgenössische Kunst in der Stadt und in der Landschaft gedacht und umgesetzt werden kann. Hasucha erscheint in seiner Arbeit als ein ebenso präziser Denker wie handwerklich aufs Anspruchsvollste arbeitender Künstler. Wir wollen ihn auf seinen Touren mit dem Werkstattwagen begleiten und ihm bei der Materialsuche, der Verarbeitung und dem Aufbau seiner Ideen zusehen. Ein wichtiger Faktor ist das Publikum, das wir befragen und einbeziehen wollen. Es sollen Freunde, Mitstreiter und Förderer zu Wort kommen. Hasucha hat auf seiner Internetseite viele Stopp-TrickAufnahmen und GIF-Animationen gestellt. Damit reanimiert er seine längst kompostierten Arbeiten und recycelt Materialien zu neuen grafischen Experimenten. Die für Hasucha typische Kombination sachlich-trockener Sprache, die er für seine Projektbeschreibungen, Skizzen und seine ProjektAnzeigen im KUNSTFORUM entwickelt hat, wollen wir im Zusammenspiel mit der spielerischen, provokativen und humorvollen Setzung seiner Interventionen mit filmischen Mitteln aufgreifen. Wir wollen das Viertel, die Stadt, die Landschaften zusammen mit Hasuchas Implantaten und Blickschleusen anders und damit neu zeigen. Es werden sich überraschende neue Perspektiven auf die Welt für die Zuschauer eröffnen, die so auf eigene Ideen für den Umgang mit ihrer Realität kommen.

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C ROSSING R EALITY : D IE K UNST DES C HRISTIAN H ASUCHA Interventionen zwischen Neckarsulm und Plüschow http://www.hasucha.de Dokumentarfilm für Kino/TV, Länge: 79 Min. Finanzierung: noch offen Kamera: Johannes Imdahl (BVK), Berlin http://www.bvkamera.org/cameraguide/detail.php?id=704 Montage Viola Rusche, Berlin – http://www.alvin-lucier-film.com/directors.html Buch und Regie Johanna Schenkel, Köln – http://www.johanna-schenkel.de Produktion DGS – Die Gesellschaft Berlin, Michael Henrichs Filmproduktion http://www.die-gesellschaft.net/cms/all-films

Lebenskunst C ARSTEN J OHANNISBAUER

Carsten Johannisbauer aka Jonny Bauer, geb. 1971, lebt und arbeitet in Düsseldorf und freut sich über zwei Kinder und eine Frau. Seit über 20 Jahren künstlerisch als Autor für Kunst-Magazine, Bücher, Filme, Stücke, als Ausstellungskurator, Siebdrucker, Konzeptkünstler und Musiker aktiv. Außerdem hält er Vorträge zur Gentrifizierungsdebatte und ist Dozent an der Fachhochschule Düsseldorf, Grafik-Design, Gastdozent an der Universität Köln, Stadtsoziologie. Zurzeit nimmt er mit der Band „Oiro“ ein neues Album auf, arbeitet mit an dem Theaterstück „BOY-Ungelöst“ für das Kampnagel-Theater, Hamburg. Sein erster Roman „Scheiternhaufen“ erscheint 2015.

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Wann hat es bei dir angefangen mit künstlerischen/ musikalischen/kulturellen Aktivitäten außerhalb von Schule und Arbeit? Während meiner Schulzeit habe ich in den Ferien immer auf Wechselschicht in einer Fabrik in Düsseldorf gejobbt. Auf Spätschicht haben die anderen Arbeiter immer gepennt, auf Klo oder direkt auf der Anlage. Mir war total langweilig, da hab ich angefangen Texte zu schreiben und Collagen aus Fotos zusammen zu stellen, die ich bei Punkkonzerten gemacht hatte. Die hatten damals, das war ca. 1988, schon gute A3 Kopierer. Nachts waren die Büros leer. Ich hing immer in dem Büro von Herrn Prost am Kopierer und der Schreibmaschine rum. Der Name stand jedenfalls auf den Aktenordnern und dem Kaffeebecher. Aus Fanhaltung zum Punk habe ich dann mein erstes Fanzine kopiert und in einer Auflage von 500 Stück für zwei D-Mark auf Konzerten verkauft. Zur selben Zeit bin ich mit Punkbands auf Tour gefahren. Damals war das eine sehr gut vernetzte DIY-Szene. Jeder kannte jeden und jeder machte irgendwas, spielte in Bands, organisierte Konzerte, brachte Fanzines oder Tapes raus, besetzte Häuser. Eine reine Konsumhaltung gab es da nicht. Und die Szene war groß. Wenn damals eine Band in einem Musikmagazin gut besprochen wurde, bekam man schon mal um die 500 Bestellungen. Auch die Konzerte waren immer gut besucht. Es herrschte eine Aufbruchsstimmung. Was hat dich ganz am Anfang inspiriert? Ich kam über das Skateboarden zum Punk. Wie bei vielen haben mir ältere Skater Tapes aufgenommen, die dann zum Soundtrack an der Rampe wurden. Unbewusst war ich fasziniert vom Leitsatz „ich mache mir mein Leben selber“. Wie erwähnt machte jeder etwas Kreatives einfach nur aus der Motivation, dass es Spaß machen sollte. Es wurde normal „aktiv“ zu sein. Das war kein großes Ding. Mit drei Freunden eine Band gründen, egal ob man ein Instrument beherrschte. Gemeinschaft und Unity wurde zu einem wichtiger Halt, gerade wenn die familiäre Situation schwierig war. Dazu kam die äußerliche und inhaltliche Abgrenzung zu Gesellschaft, Elternhaus, Schule. Wir wollten anecken und auffallen. Es gab klare Feindbilder und einen starken Zusammenhalt innerhalb der Jugendbewegungen.

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Wer waren ganz am Anfang deine Vorbilder? Meine Freunde. Ich war immer sehr begeistert und offen den Dingen gegenüber, die meine Freunde raushauten. Stars oder Idole gab es nicht. Wir dachten, wir würden das gerade erfinden. Es gab nichts vor uns. Erst viel später entdeckte ich den Bezug zu älteren Künstlergruppen. Ich habe jahrelang Konzerte veranstaltet und mich nie als Veranstalter, Organisator gesehen, sondern als ebenso wichtiges Element wie die Bands selbst. Wir haben immer Wege gesucht um das „oben“ und das „unten“ aufzubrechen. Konzertbesucher sollten keine Konsumenten sein, sondern aktive Teilnehmer, die auf der gleichen Stufe wie die Musiker stehen. Wir haben diverse Versuche unternommen dies erlebbar zu machen. Das fängt bei der Sprache an. Ich habe zum Beispiel in Texten, die ich für verschiedene Kunst/Musikmagazine geschrieben habe, immer vom „Wir“ geredet. Selbst wenn dies manchmal nicht der Wahrheit entsprach. Es war und ist mir wichtig das gemeinschaftliche Lebensgefühl hochzuhalten und zu erhöhen. Das ist die Stärke einer Bewegung. In der Gemeinschaft kann man vieles umsetzen, auch ohne Sponsoren oder Kulturförderung. Man ist unabhängig und spielt nur nach eigenen Regeln. Als wir den Kunstverein „Metzgerei Schnitzel e.V.“ gegründet haben, ging es nicht darum einen eigenen Laden zu haben. Wir hatten zu diesem Zeitpunkt schon zehn Jahre Konzerte, Filmnächte, Lesungen, Ausstellungen organisiert. Wir wussten, dass wir das können. Es ging darum einen Raum zu schaffen und ihn den Leuten (bestehend aus ca. 100 aktiven Mitgliedern) als Experimentierfeld zu überlassen. Nur dadurch konnte phantastische, ungewöhnliche Kunst entstehen. Die Verantwortung lag bei jedem Mitglied und dies wurde auch gelebt. Die Identifikation mit dem Kunstraum war so groß, dass immer von „Meinem Wohnzimmer“ gesprochen wurde. Wer hat deine Aktivitäten schon am Anfang unterstützt? Wie erwähnt habe ich immer jedwede finanzielle Förderung abgelehnt. Unsere Regeln und Motivation waren andere als die von Kulturämtern. Heute muss ich öfter viel Geld z.B. zur Realisierung von Kunstbüchern auftreiben. Dabei ist es wichtig, dass es sich nur um Geldgeber handelt und keine Kompromisse bzw. Mitsprache über Inhalt und Form gibt. Da finde ich aktuell die Idee des „crowdfunding“ gut. Bei unserem Kunstverein musste jedes Mitglied fünf Euro im Monat bezahlen. Das bedeutete, dass wir zur Finanzierung des Ladens keinen Cent

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an Einnahmen aus Getränkeverkauf oder Konzerten erwirtschaften mussten, um die Kosten zu decken. Dies garantierte absolute Unabhängigkeit. Das Kulturamt der Stadt Düsseldorf bietet den „Off-Räumen“ einen Werbemittelzuschuss von 800 Euro im Jahr an. Dafür muss man auf jeden Veranstaltungsflyer das Logo der Stadt abdrucken. Für lächerliche 800 Euro: Wie soll bitte schön die Ausstellung aussehen, die man damit finanzieren kann? So was sollte man ablehnen. Die Stadt schmückt sich gerne mit Underground-Kunst und tut so gut wie nichts für sie, was sie ja auch nicht muss. Wenn du an die Aktivitäten heute denkst: Wie vergeht bei dir eine Woche oder ein Monat? Wie viel Zeit investierst du in Kunst, Musik, Aktion in der Stadt? Mein Leben ist aufgeteilt in drei Tage Arbeit die Woche als Grafiker für den Broterwerb. Mindestens zwei volle Tage kann ich an freien Projekten arbeiten. Wobei natürlich oft die Sachen zusammen laufen. Wenn ich von einer Idee begeistert bin fange ich einfach damit an. Wenn am Ende auch Geld dabei rein kommt: gut. Wenn nicht: auch gut. Ich suche immer nach neuen Ausdrucksformen. Wenn ich etwas nicht kann, ist das kein Hinderungsgrund. Einen Versuch ist es immer wert. Da kann auch mal ein Roman entstehen oder ein Theaterstück. Ich bin ein sehr schlechter Schauspieler und muss das auch nicht mehr machen. Aber trotzdem war es geil. Meine Lebenshaltungskosten waren schon immer relativ gering. Ich spüre keinen Verzicht. Diese Haltung begründet sich auf dem DIY- Gedanken. Es war und ist so, dass, wenn du etwas Kreatives für die Gemeinschaft machst, du auch etwas zurückbekommst. Ich bezahle z.B. keinen Eintritt bei Konzerten, da ich die letzten 25 Jahre immer für Magazine geschrieben oder selber welche rausgebracht habe. Durch die Jahre kennt man sehr viele Aktivisten, überall auf der Welt. Wenn ich mit meiner Familie wie in den letzten Ferien nach Sizilien reise, kontaktiere ich vorher einen Typen, den ich über Freunde mal kurz kennengerlernt habe, der in Palermo eine Bar hat und in einer Band spielt. Da können wir dann übernachten und er zeigt uns das wahre Leben in seiner Stadt. Umgekehrt läuft das genauso.

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Ich freue mich immer sehr über Projekt-Einladungen von unterschiedlichen Leuten. Dieses Unbekannte, man schmeißt alles zusammen und schaut was dabei rauskommt. Als wir mit unserer Band die erste Single rausbringen wollten, haben wir bei einer Plattenfirma angefragt. Der Label-Boss kannte uns als Menschen und hat die Platte rausgebracht, ohne die Musik vorher gehört zu haben. Der meinte: Das muss ja gut sein, wenn der und der dabei ist. Das finde ich gut. Neulich wurde ich als Redner zu einer Diskussion über „OffRäume“ eingeladen. Einer der Organisatoren reagierte auf den Vorschlag mich einzuladen mit den Worten: „Jonny Bauer, das ist doch einer dieser Sektenführer.“ Naja, ich finde das witzig, aber man sieht, dass meine Haltung auch skeptisch oder abwertend bewertet wird. Welche Netzwerke sind dir nützlich und hilfreich? Netzwerke sind entscheidend. Ohne geht es nicht. Jeder der künstlerisch aktiv ist, muss selber entscheiden, warum und mit wem er arbeiten will. Mit dem von uns gegründeten Netzwerk „Freiräume für Bewegung“, einem Zusammenschluss von KünstlerInnen und AktivistInnen, die sich mit Verdrängungsprozessen und dem „Recht auf Stadt“ kreativ auseinander setzen, wollten wir Problem-/Projekt-bezogen Gruppen und AktivistInnen verbinden, die voneinander profitieren können und gemeinsam mehr bewegen können. Deine Lobby wird größer und deine Stimme stärker. Es ist toll zu sehen, wenn sich sehr viele unterschiedliche Leute/Gruppen für eine gemeinsames Thema, eine gemeinsame Aktion zusammen tun. Politische Haltungen treten einen Schritt zurück. Der Kunstprofessor und der Hausbesetzer machen gemeinsame Sache. Jeder bringt sein eigenes Werkzeug mit. Das hat mich extrem bereichert. Was bedeutet dir Kunst? Wie geht’s dir, Mr. Beuys? „Jeder ist ein Künstler!“ Das Leben ist die Kunst. Es ist kein Ausschnitt oder Hobby/Berufung. Ich versuche keine Trennung entstehen zu lassen. Es gibt keine Freizeit und kein Wochenende. Keine Arbeit und kein Deutschland. Und scheinbar geht es allen gut. Kunst ist Forschung zu sich selbst. Kunst sollte unabhängig von Zeichen sein und doch neue Zeichen entwickeln.

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Was sagt dir: Berufung im Gegensatz zu: Beruf? Ich habe vor Jahren ein Buch-Magazin zum Thema „Hobby“ herausgebracht, da mich die Frage stark beschäftigt hat. Ich halte nichts von dem Satz „das Hobby zum Beruf gemacht.“ Die Einleitung zum Buch war übertitelt mit „Samstag wird gebastelt.“ Man muss versuchen Leidenschaft zu entwickeln. Es ist eine Berufung zu lieben. Viele denken, ein Leben sei besonders reich, wenn es kreativ ist. Das ist Schwachsinn. Heute will jeder einen kreativen Beruf haben, etwas darstellen, das besondere Sein. Man muss nicht in der Öffentlichkeit stehen, um seine Berufung zu finden. Auch hierbei denke ich, dass gemeinschaftliches Wirken der Weg zu einer Berufung ist. Kontakt mit Menschen, Kunst, Literatur aus unterschiedlichsten sozialen Zusammenhängen hilft, sich selber anders zu betrachten und zu werten. Gemeinsames entwickeln und scheitern macht glücklich. Was bedeutet dir Geld? Ich misse nichts, ohne viel zu haben. Ich weiß auch nicht, aber ich habe noch nie Existenzängste gespürt oder die Sehnsucht etwas haben zu wollen, was ich mir nicht leisten kann. In meinem Freundeskreis geht es vielen anders. Viele können sich von dem gesellschaftlichen Druck nicht freimachen. Gerade als Künstler oder Selbstständiger kann der ständig finanziell spürbare Erfolgsdruck ganz schön zermürbend sein. Ich weiß nicht, ob man das lernen kann. Ich hoffe noch. Welche deiner Aktivitäten war besonders anstrengend? Bei manchen Projekten rücke ich vom selbstbestimmten Weg ab, indem ich mit einem Verlag oder Theater zusammenarbeiten muss oder will. Das kann schwierig sein, da der Maßstab ein anderer ist. Die Bewertung der Kunst folgt Vermarktungsstrategien. Das Produkt muss sich verkaufen. Treffend ist der Standard-Absage Texte von Verlagen nach dem Motto „Ihr Werk gefällt mir sehr gut. Leider ist der Roman bei Kiwi nicht richtig aufgehoben. Er ist kunstvoll gemacht und ich glaube, es braucht einen Lektor und einen Verlag, der genau das sieht und schätzt und dieses Besondere mit Leidenschaft verlegt.“ Wenn man an Projekten sehr lange, sagen wir mal zwei Jahre, arbeitet und die Veröffentlichung/Produktion nicht in der eigenen Hand liegt, ist das sehr anstrengend.

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Das Einsammeln von Geldern für Ausstellungen und Kunstbücher ist auch sehr undankbar und sollte so oft es geht vermieden werden. Was würdest du heute jungen Leuten raten, die sich für Kunst und Aktion in die Stadt einsetzen wollen? Spaß haben. Die gemeinsame Eroberung der Stadt und des öffentlichen Raumes durch Kunst und Aktion ist sehr vielfältig und bunt. Die Möglichkeiten des Ausprobierens sind groß. Es gibt einige Gruppen denen man sich anschließen kann wie z.B. „Recht auf Stadt“. Man kann aber auch einfach mit ein paar Freunden rausgehen und seine Stadt gestalten. Einfache Methoden wie Guerilla-Gardening sind sehr bürgernah. Das heißt: selbst die Oma von nebenan findet es schön, wenn du die Baumscheibe vor eurem Haus im Frühling bepflanzt. Obwohl es sich um einen illegalen Eingriff handelt, gibt es bei der vollzogenen Verschönerung kein Unrechtsbewusstsein. So kommt man in Kontakt mit den Nachbarn und Bewohnern eines Viertels. Der Weg soll zu dem Verständnis führen, dass dir die Stadt gehört und du selber bestimmst, wie sie aussehen soll. Übertragen: Du bestimmst, wie du leben willst. Wenn du an Düsseldorf denkst, was hast du verändert? Es ist schön, wenn du von Leuten hörst, dass du Denkanstöße geliefert hast. Das freut und ehrt mich. Dennoch ist es für mich auch immer wichtig, Dinge abzuschließen und weiterzuziehen. Wenn die Läden, die du gegründet hast, immer noch bestehen, auf ihre eigene Art und Weise, ist das toll. Wenn du zurückschaust auf mein Thema: Kunst und Aktion in die Stadt – wo hast du in all den Jahren aus deiner Sicht am meisten bewirkt? Durch mich steht die Stadt Düsseldorf im Guinness Buch der Rekorde. Wer kann das schon von sich behaupten? Düsseldorf hat zwar nicht die Elbphilharmonie, aber die längste vegetarische Bratwurst der Welt mit 101 Metern. In welcher Hinsicht hast du ganz einfach Glück gehabt? Ich habe mit vielem Glück gehabt. Glück zu erfahren, hat viel mit Teilen zu tun. Ich habe nie versucht, meine Kunst nach Erfolg oder Streuung auszu-

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richten. Ich will, egal mit welchen Mitteln, eine Geschichte erzählen. Diese Geschichte kann jeder Betrachter für sich deuten. Bei mir hat das Eine immer das Andere ergeben, ohne Plan und Ziel. Das war bei vielen meiner Weggefährten so. Vielleicht ist es Glück recht früh Leidenschaft entwickelt zu haben. Es ist die Fanhaltung, die oft zum Erfolg führt. Ich habe z.B. Kinofilmpremieren veranstaltet, wo die „Stars“ ihre Flüge und Unterbringung selbstverständlich selber bezahlt haben. Einfach, da sie gespürt haben, warum wir das machen. Ich habe keinen kommerziellen Erfolg angestrebt, sondern war einfach nur begeistert. Gerade Schauspieler und Musiker, die viel in der Öffentlichkeit stehen, sehnen sich nach „Gleichgesinnten“, die nicht die öffentliche Version interessiert, sondern der „Normalo“ dahinter. Ich brauchte z.B. für ein Kurzhörspiel den Synchronsprecher Oliver Rohrbeck (bekannt u.a. als Stimme von Justus Jonas von den „Drei ???“). Der hat seinen Part ohne Bezahlung einfach in Berlin eingesprochen und nach Düsseldorf geschickt. Das Thema Geld wurde noch nicht einmal angesprochen. Auch mit Leuten wie Dieter Hallervorden zu arbeiten, auf Fanbasis, ist kein Problem. Die freuen sich mal aus ihrer Mühle rauszukommen. Ich denke, jeder lässt sich gerne begeistern. Man sollte keine Hemmungen haben und immer den kurzen Weg gehen. Kein Management, Galeristen oder Booking-Agentur kontaktieren, sondern den direkten Kontakt zum Künstler suchen. Was sind deine besten Momente bezogen auf Kunst/Aktion in die Stadt? Das Beste ist die Durchführung. Das gemeinsame Erleben. Du hast lange an einem Projekt gearbeitet und dann ist es endlich realisiert. Die Stadt bietet unglaubliche Möglichkeiten, die Galerieräume nicht offerieren können. Der Bezug zum Ort und zum Untergrund ist sehr entscheidend und kann die Arbeit auf eine weitere Stufe heben. Du bist Teil der Stadt, sichtbar und erlebbar für alle Bewohner. Kunst im öffentlichen Raum ist vergänglich. Das ist schön. Sie verändert sich durch die Zeit, durch die Einflüsse der Natur.

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Wie kannst du Menschen ansprechen und begeistern? Ich bin sehr kommunikativ. Meine Familie kommt aus dem Ruhrgebiet. Ich lebe meinen Kindern vor einfach immer zu fragen. Ich kann mich schnell begeistern, besonders für Menschen und deren Lebensentwürfe, die mit meinem wenig gemein haben. Ich finde es spannend, wie Andere denken. Deshalb versuche ich darin einzutauchen. Das funktioniert bei künstlerischen Projekten sehr gut. Der Zugang ist einfach und spielerisch. Ich finde, wenn man von etwas begeistert ist, muss man das mitteilen. Das hat nichts mit Angeben oder Selbstdarstellung im negativen Sinne zu tun. Nur über den Einblick kann der Austausch beginnen.

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Lebenskunst M ONIKA B REMEN & H ANS -J ÖRG B LONDIAU

Hans-Jörg Blondiau lebt in Brühl. Der Steinmetz- und Steinbildhauermeister hat den väterlichen Steinmetzbetrieb übernommen und widmet seit fast 30 Jahren einen Großteil seiner freien Zeit dem ZoomKino in Brühl. 1986 aus einer Vereins-Initiative entstanden, hat der Verein, der ambitioniertes

wie

unterhaltendes

Kino in die verwaiste Kinolandschaft von Brühl gebracht hat, inzwischen 1300 Mitglieder, berühmte Open-AirSommer und zahlreiche Ehrungen für sein gutes Programm. Auch Monika Bremen lebt in Brühl. Sie arbeitet als Assistentin der Geschäftsführung der ifs internationale filmschule köln und ist dort auch zuständig für das Festivalbüro. Ihre Hobbies sind Kino, Kochen und Balkonpflanzen. Monika Bremen ist die Lebensgefährtin von Hans-Jörg Blondiau und ist in einem Großteil ihrer freien Zeit für das Brühler „Zoom“-Kino unterwegs und engagiert.

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Wann hat es bei dir angefangen mit filmischen/musikalischen/ kulturellen Aktivitäten außerhalb von Schule und Arbeit? Mo: Auch während der Schulzeit schon außerschulisches musikalisches Engagement. Nach der Schule zunächst weiter im musikalischen Bereich, diverse Chöre. Kino ab 1994. HJ: Musikalisch war ich schon immer interessiert und habe als Musikfan auch viele Live-Konzerte besucht. Mit dem Kino begann es etwa 1985. Was hat dich ganz am Anfang inspiriert? Mo: Als Jugendliche die Eltern und Freunde Wer waren ganz am Anfang deine Vorbilder? Mo: Kann mich nicht erinnern, welche gehabt zu haben. HJ: Kann mich nicht erinnern Vorbilder gehabt zu haben Wer hat deine Aktivitäten schon am Anfang unterstützt? Mo: Als Jugendliche Eltern und Freunde. In Sachen Kino mein Partner. HJ: Freunde? Wenn du an die Aktivitäten heute denkst: Wie vergeht bei dir eine Woche oder ein Monat? Wie viel Zeit investierst du in Kino oder Kultur in die Stadt? Mo: Hängt vom Bedarf ab, normalerweise mindestens ein bis zweimal pro Woche vor oder nach der Arbeit noch mal ins Kinobüro, am Wochenende auch einige Stunden. Fürs Korrekturlesen des neuen Programms wird alles stehen und liegen gelassen. Ich mache Kinoaufschlussdienst am Wochenende abwechselnd mit Hans-Jörg, Thekendienst nach Bedarf, wenn sich kein Helfer gefunden hat. Im Schnitt geschätzt ca. vier bis fünf Stunden pro Woche. Beim Open Air oder wenn neue Ausweise zu drucken sind, Mitgliederpost ansteht oder ähnliches wird es auch schon mal mehr. HJ: Hab ich noch nie nachgehalten, kann das auch nur schwer abgrenzenweil irgendwie ist immer was. Sicher zwei bis drei Stunden am Tag Wer sind heute deine Vorbilder? Mo: Keine HJ: Barry, George, Rinus, Cesar ☺ Hab keine.

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Wer unterstützt dich heute? Mo: Mein Freund, einige Vorstandskollegen HJ: Hauptsächlich Monika Wo hast du Gleichgesinnte? Mo: in der Partnerschaft, im Vorstand des Vereins, unter den Kinohelfern HJ: siehe Monika Welche Netzwerke sind dir nützlich und hilfreich? Mo: Filmschul- und Vereinskontakte und Freundeskreis. HJ: AG Kino Was bedeutet dir Kino? Mo: Zeitvertreib, Hobby, Spaß, Arbeit, Unterhaltung, Entspannung, auch mal Stress, je nachdem… HJ: Kann ich gar nicht sagen Was sagt dir: Berufung im Gegensatz zu: Beruf? Mo: Habe mein Berufsfeld nach meinen Interessen gewählt. Berufung finde ich zu hoch gegriffen, bin eher zufällig da rein gerutscht. HJ: Bin auch eher zufällig da rein gerutscht, mir macht es Spaß was zu organisieren. Jetzt ist es Kino könnte aber auch eine Kleinkunstbühne sein Was bedeutet dir Geld? Mo: Sicherheit, entspanntes Leben. HJ: Andere Sachen sind wichtiger. Was bedeutet dir Reichtum? Mo: Keine Erfahrung auf dem Gebiet, betrifft mich nicht. HJ: Wäre gerne reich. Dann könnte man noch mehr machen in Sachen Kino oder anderem. Welche deiner Kino-Aktivitäten hat dir am meisten Spaß gemacht? Mo: Die praktische Arbeit beim Umbau des Rathauskellers in ein Kino ganz am Anfang.

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Welche deiner Kino-Aktivitäten war besonders anstrengend? Mo: Die praktische Arbeit beim Umbau des Rathauskellers in ein Kino ganz am Anfang ☺ In letzter Zeit: Open Air Abende. HJ: Pflichttermine, zu denen man eigentlich keine Lust hat, die man aber machen muss. Was würdest du heute jungen Leuten raten, die sich für Kino in die Stadt einsetzen wollen? Mo: Sie sollen gerne bei uns mitmachen, sich alles angucken und mithelfen, damit sie einschätzen können, wieviel Arbeit, Zeit und Engagement nötig sind neben dem Spaß. Wir suchen dringend junge Leute, die das Kino mal übernehmen. Wenn du an Brühl denkst, was hast du verändert? Mo: Habe mitgeholfen, wieder einen Kinobetrieb zu ermöglichen. HJ: Mit ermöglicht dass es ein Kino in Brühl überhaupt gibt In welcher Hinsicht hast du ganz einfach Glück gehabt? Mo: Dass ich nach meiner Scheidung in den Kinoverein gegangen bin anstatt in den Dackelzüchterverein. War eine spontane Idee, hatte vorher nicht viel mit Kino am Hut. Ich fand die Leute nett (Renate, Hans-Jörg) und wollte mitmachen. HJ: Nachfolger in einem Familienbetrieb geworden zu sein. Was sind deine besten Momente bezogen auf Kino in die Stadt? Mo: Wenn ich sehe, wie viele Fahrräder vor dem Kino oder dem Open Air Kino stehen. HJ: Wenn’s läuft ohne große Probleme Was macht Spaß dabei? Mo: Mir wird dann bewusst, dass die alle da sind und einen schönen Abend haben, weil wir es ihnen ermöglicht haben. HJ: Alles zu organisieren

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Wann freust du dich? Mo: Siehe Frage 20 und 21 Außerdem freue ich mich für Hans-Jörg, wenn wir für unser gutes Programm ausgezeichnet werden, für das er hauptverantwortlich ist. HJ: Wenn Golden Earring nach Jahren eine Platte rausbringt und die gleich auf Platz 1 kommt ☺. Wie kannst du Menschen ansprechen und begeistern? Mo: schlecht. HJ: Wenn ich selber von der Sache überzeugt bin Was ist dir wichtig? Mo: Zeit für mich. HJ: Gesundheit

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Lebenskunst J ESSICA R EISNER

Jessica Reisner zog als Baby nach Köln und blieb dort: „Als Kämpferin hat man überall etwas zu tun. Wozu also in die Ferne schweifen, wenn ich mich da, wo ich schon bin, nützlich machen kann?“ Mit einem Mix aus beruflichen Erfahrungen von der

„Boulevard

Bio“-

Redaktion bis zur Leitung einer Wache der Johanniter-Unfall-Hilfe und langjähriger Selbständigkeit wurde die Grundlage für die momentane Aufgabe gelegt: Campaigning für aktion ./. arbeitsunrecht e.V.

Wann hat es bei dir angefangen mit politischen und kulturellen Aktivitäten außerhalb von Schule und Arbeit? Ich habe mit sechs Jahren ein Klavier geschenkt bekommen, mit sieben Jahren bin ich zum Kölner Kinderchor gegangen. Der war damals, in den 70ern, eine große Nummer, mit vielen Auftritten in ganz Deutschland. Wir sind in großen Musiksendungen im Fernsehen und Hörfunk aufgetreten,

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haben Karneval im Gürzenich gesungen und auf der Weihnachtsfeier vom 1. FC Köln 1978. Wer gut war, durfte auch an der Köln Oper Kinderrollen singen. Mit diesen zusätzlichen Proben- und Auftritts-Terminen konnte man leicht auf vier oder fünf Termine pro Woche kommen. Die Kinder und auch deren Eltern waren extrem diszipliniert. Die Kinder haben es als Privileg empfunden, in diesem Chor zu singen. Ich hätte auch gerne im katholischen Kirchenchor in der Kölner BruderKlaus-Siedlung Mülheim mitgesungen. Da wollte man mich aber nicht, weil ich evangelisch getauft war. Das habe ich dem Priester damals sehr übel genommen. Die über das Jahr eingesungenen Einnahmen wurden in gemeinsamen Sommerurlauben verprasst. Rund 60 Chor-Kinder sind dann für vier Wochen nach Klosters in die Schweiz gefahren. Das waren wunderbare Urlaube mit viel Gesang und selbstgemachter Musik. Musik aus der Konserve hatte der Chorleiter schlichtweg verboten. Das störte mich damals aber noch nicht. Zum Bruch kam es, als ich 13 war. Bei Proben zu einer Oper kam ein Junge zu spät. Zur Strafe wurde ihm die Opernrolle weggenommen. So selten, wie sich im Leben die Möglichkeit bietet, als Kind ein Solo an der Oper zu singen, war das eine furchtbare Strafe. Ich fand die Entscheidung des Chorleiters unangemessen. Jahrelang hatte der Chorjunge, genauso wie wir alle, zuverlässig und diszipliniert gearbeitet und nun sollte er wegen so einer Lässigkeit gleich seine Rolle verlieren? Plötzlich fand ich den ganzen autoritären Führungsstil des Chorleiters untragbar. Das ging hinter vorgehaltener Hand vielen so. Die meisten Chorkinder schreckten dann im entscheidenden Moment aber doch davor zurück, ihr Privileg der Chormitgliedschaft in einem revolutionären Akt gegen den Chorleiter zu riskieren. Für mich war es aber nicht mehr möglich, mich weiter in der bisherigen Form unterzuordnen und ich bin dann gegangen. Das war mit 13 Jahren letztlich auch altersgemäß. Mit ungefähr 14 war wegen des Stimmbruchs sowieso Schluss mit Kinderchor. Was hat dich ganz am Anfang inspiriert? Ich denke, mit 13 hat man schon ein gesundes Gefühl für Ungerechtigkeiten. Ich erinnere diese Phase als Bewusstwerdungsprozess, dass hinter der Fassade immer noch etwas anderes ist. Anfang der 80er ging es dann ja

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auch ziemlich hoch her. Die Grünen kamen als neuer politischer Faktor ins Spiel. Greenpeace-Aktivisten stellten sich mit Schlauchbooten Walfängern in den Weg und der erste Waldschadensbericht machte das Thema Umweltschutz populär. Es gab die Proteste gegen den Bau der Startbahn West. Ich war 1982 auf der Friedensdemonstration im Bonn, die sich gegen den NatoDoppelbeschluss wandte. Da waren eine halbe Million Leute! Dort habe ich auch zum ersten Mal gesehen, wie Demonstranten, die zuvor bewegungsunfähig an die Schilder der Polizeiketten gedrückt gewesen waren, von Polizisten hinter deren Ketten gezogen und dort verdroschen wurden. Kurze Zeit später gab es dann die Proteste gegen die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf und die große Zeit der Hausbesetzungen ging los. An Inspiration mangelte es mir als Jugendliche in der ersten Hälfte der 80er nun also wirklich nicht. Wer hat deine Aktivitäten schon am Anfang unterstützt? Als ich in unserer Kleinstadt zum ersten Mal Typen mit bunten Haaren und beschmierten Lederjacken sah, fand ich die umwerfend sexy. Ich bin das mit dem Kennenlernen dann recht zielstrebig angegangen und hatte eine wirklich schöne Zeit mit denen, inklusive Fiesta feiern im Baskenland und eigener Punk-Band. Wir sind viel durch die Gegend gefahren. Zu Konzerten und Demos. In Köln gab es das besetzte Stollwerk, später den Mauwall und die Weishausstrasse. Die Hausbesetzer haben sich viel intensiver mit Politik beschäftigt als wir. Uns Punkern war das schlicht zu anstrengend. Die Strenge und Ernsthaftigkeit der Autonomen war nichts für uns. Wenn wir da auf Konzerte gefahren sind, und vor Konzertbeginn noch jemand ansetzte, eine Ansprache an das Publikum zu halten, haben wir uns lieber draußen noch ein Bier geholt. Wir fanden alleine unsere pure Existenz schon subversiv genug und waren der Meinung, alle müssten froh sein, dass wir uns so viel Mühe geben, überall wo wir auftauchen ein bisschen Farbe reinzubringen. Aus heutiger Sicht ein wenig selbstzufrieden, aber ich hatte tatsächlich immer das Gefühl, alle freuen sich, wenn wir kommen. Damit meine ich: selbst wenn wir auf einem ganz normalen, gutbürgerlichen Straßen- oder Schützenfest auftauchten, schien es, als wenn sich die „Spießer“ darüber freuen würden, dass ihr Fest durch uns aufgewertet würde. Nach dem Motto „unser Fest war nicht langweilig, da waren sogar ganz verrückte junge Leute“.

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Wenn du an die Aktivitäten heute denkst: Wie vergeht bei dir eine Woche oder ein Monat? Wie viel Zeit investierst du in Politik? Ich mache ja genau das, was ich machen will. Dadurch verwischt die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit. Über Aufklärung und Information wollen meine KollegInnen und ich gesellschaftlichen Druck aufzubauen. Man braucht einen langen Atem, aber am Ende funktioniert es doch. Seit der Wirtschaftskrise von 2008 beschäftigen sich die Bürger mit Wirtschaftsfragen. Und das ist gut so, denn „Bürger“ kommt schließlich von „bürgen“. Sie glauben sogenannten „Experten“ nicht mehr, weil sie begriffen haben, dass eben diese angeblichen ExpertInnen die Finanzkrise erst heraufbeschworen haben. Genau diese ExpertInnen haben dann mit Bankenrettung durch Steuergelder gleich den nächsten Coup gelandet. Immer mehr BürgerInnen dämmert, dass da etwas falsch läuft. Oder nehmen wir das Beispiel Lobbyismus. Vor zehn Jahren war der Begriff so gut wie unbekannt. Aber seit sich Dank der von der SPD und den Grünen beschlossenen Agenda 2010 die Verhältnisse für große Teile der arbeitenden Bevölkerung so massiv verschlechtert haben, fragen sich immer mehr Menschen, wieso eine ganze Gesellschaft in dem Wahn lebt, den Gürtel enger schnallen zu sollen, damit auf der anderen Seite die Dividenden und Gewinne steigen. Mit dem Widerstand gegen TTIP, CETA und TISA schwappt eine riesige Bildungswelle über das Land. Vorträge zu diesen Themen sind voll mit interessierten BürgerInnen, die sich nicht mehr erzählen lassen, dass Wirtschaft und Politik zu kompliziert für sie seien. Eines der besten Bücher zu Wirtschaftsthemen, die in letzter Zeit erschienen sind, heißt schlichtweg „Schulden“. Es ist von einem Mitbegründer der occupy Wall Street Bewegung, dem Ethnologen David Graeber geschrieben. Ich selbst konzentriere mich zur Zeit mit aktion ./. arbeitsunrecht e.V. auf das Thema Union Busting. Das ist die systematische und professionelle Bekämpfung von Gewerkschaften, unabhängiger Organisierung von ArbeiterInnen sowie die Be- und Verhinderung von Betriebsratsarbeit. Wir sammeln und dokumentieren Fälle von Betriebsratsbashing, bei denen Betriebsratsmitglieder durch Ketten von konstruierten Abmahnungen und Kündigungen zermürbt werden sollen, kombiniert mit schikanösen Versetzungen, Bossing und anderen Maßnahmen der Arbeitgeber. Unser Verein, den wir im Januar 2014 gegründet haben, ist dabei, dazu ein bundesweites Netzwerk aufzubauen. Wir setzen jetzt zunehmend auch auf Aktionen, z.B. gegen Anwältinnen und Unternehmer, die Union Busting betreiben. In die di-

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rekte Aktion zu gehen ist schon alleine deshalb wichtig für uns, weil man damit seiner Wut ein Ziel geben kann. Würde man all die Schweinereien, die Vergehen gegen Arbeits- und Menschenrechte, die hier, direkt vor unseren Haustüren stattfinden, nur dokumentieren, ohne gegen die Akteure vorzugehen, würde man vermutlich krank oder verrückt werden. So aber fühlt es sich gut an, gegen die Verantwortlichen aktiv zu werden. Wir fahren deshalb ziemlich viel durch Deutschland. Was ich sehr genieße, weil wir viele beeindruckende Leute kennen lernen. Wer sind heute deine Vorbilder? Ich mag Joe Hill. Er lebte bis 1915 und war ein sehr erfolgreicher Agitator der Industrial Workers of the World, genannt die Wobblies. Ein Wanderarbeiter und sehr schaffensstarker Musiker und Texter. Obwohl seine Liedtexte die Nöte nordamerikanischer Wanderarbeiter und die Gier der Besitzenden beschreiben, sind sie sehr humorvoll. Als Agitator muss er ein ausgesprochen mitreißender Redner gewesen sein. Letztlich war er so erfolgreich, dass man beschloss, ihn aus dem Weg zu räumen und schob ihm einen Mord unter. Seine MitstreiterInnen beknieten ihn, ein Gnadengesuch zu stellen. Er antwortete, dass er nicht Gnade, sondern Gerechtigkeit fordert. Es wurde einer der größten Justizskandale der US-Geschichte. Seine Hinrichtung jährt sich 2015 zum hundertsten Mal. Aber wie es in dem Lied „I dreamed I saw Joe Hill last night“ heißt, ist es auch: „It takes more than guns to kill a man“. Seine Lieder werden heute noch gesungen. Das berührt mich sehr. Die Wobblies waren deshalb bemerkenswert und ihrer Zeit weit voraus, weil sich die Mitglieder weder um Geschlecht noch Herkunft ihrer MitstreiterInnen, Fellow Workers genannt, scherten. Es gab unter ihnen auch viele Frauen, z.B. Lucy Parsons, die durchaus als Vorbilder taugen. Lucy Parsons war die Witwe des deutschen Anarchisten Albert Parsons, der in Folge des Haymarket Aufruhrs, bei dem Arbeiter für die Verkürzung der Arbeitszeit von zwölf auf acht Stunden streikten, 1887 hingerichtet worden war. Auch ein tragischer Tod für eine bessere Welt. Lucy gehörte 1905 zu den Gründungsmitgliedern der IWW und war bis ins hohe Alter politisch aktiv. Neben solchen regelrechten Helden gibt es aber auch immer noch die ganzen namenlosen Helfer, die eine Organisation überhaupt möglich machen. Sie landen nicht in den Geschichtsbüchern. Aber da ich selbst schon

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in so vielen Gruppen aktiv war, weiß ich, wie unschätzbar ihr Beitrag zur Bewegung ist. Wer unterstützt dich heute? Meine KollegInnen und MitstreiterInnen von aktion ./. arbeitsunrecht, Freunde und Sympathisanten. Wo hast du Gleichgesinnte? Ich fühle mich unter Kapitalismuskritikern und Leuten, die sich ohne direkten Selbstzweck engagieren, sehr wohl. Und dort, wo sich Unternehmungslustige sammeln. Ich suche nach Leute, die es nicht ertragen würden, ihre Tage in sinnlosen Jobs und ihre Abende vor dem Fernseher zu verbringen. Ich finde sie in allen möglichen linken Aktions-Gruppen, wie attac, beim Stop-TTIPBündnis, bei aktion ./. arbeitsunrecht, unserer Repair-Café-Gruppe und natürlich Demonstrationen. Was bedeutet dir Politik? Was Musik und Kultur? „Kultur“ kann, wenn sie als Alibi benutzt wird, schon mal schnell nach hinten losgehen. Dann fördern Städte Events, die im Gegenzug schön handzahm bleiben. Im schlimmsten Fall geht das so weit, dass Kulturschaffende und -vereine selbst die Gentrifizierung von Stadtteilen voran treiben. Oder sich im Geifern nach Fördergeldern so lange selbst zensieren, bis die angepasste Haltung zu ihrer zweiten Natur wird. Erst kommen sie sich sehr schlau dabei vor, Gelder abzuzapfen von Stiftungen, Gewerkschaften, EU‑Töpfen, aber irgendwann gleiten sie dann auf ihrer eigenen Schleimspur. Und Politik, wie sie sich uns hier heute darstellt, ist doch ein Albtraum. Damit will ich lieber nicht allzu viel zu tun haben. Interessieren würde mich allerdings das korrumpierende Element. Was genau ist es wohl, dass Leute zu wahren Verrätern ihrer eigenen Ideale und der Wähler mutieren lässt? Musik macht mir immer noch unheimlichen Spaß, wenn sie Wut und Freude transportiert. Ich mag die kleinen Konzerte, wo für wenige Euro zwei oder drei Bands auftreten. Diese Konzerte sind für mich echt. Die Musiker sind selten Profis. Sie machen das, was sie wollen und nicht, was Ihnen ein Label oder ein Marketingexperte rät.

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Was sagt dir: Berufung im Gegensatz zu: Beruf? Wer eine Berufung hat, ist glücklich bei dem, was er tut. Das kann es in jedem Beruf, vom Installateur bis zur Hirnchirurgin, geben. Das heißt ja nicht, dass jeder Tag ein Riesenspaß ist. Aber bei der Berufung hat man wenig innere Distanz zu dem, was man beruflich macht. Man muss sich nicht quälen, um ein Soll zu erfüllen, sondern freut sich auf Arbeit, die da auf einen zukommt. Beruf klingt für mich dagegen recht leidenschaftslos. Was bedeutet dir Geld? „Nichts“ wäre eine schöne Antwort, aber wir leben ja alle nicht von Luft und Liebe. Erst ein auskömmliches Einkommen und eine gesicherte Existenz ermöglichen, sich Freiräume zu erschließen und kreativ zu werden. Es ist eine Schande, dass in einem reichen Land die Angst vor Arbeitslosigkeit und Hartz IV dazu führt, dass so viele Menschen an Depression und Burnout leiden. Not und Existenzängste machen krank, arme Menschen sterben früher. SPD und Grüne haben als damalige Bundesregierung Unternehmensberater wie Accenture und Roland Berger in die Hartz IV-Kommission geholt. Seit dem werden Steuerungsmodelle aus der Privatwirtschaft – Human Ressources, Industrie-Psychologie, Menschenführung – bei der Verwaltung und Zurichtung von Arbeitslosen angewandt. Was bedeutet dir Reichtum? Ich schätze, die Frage zielt auf materiellen Reichtum ab. Ich denke aber, echter Reichtum ist, seine Fähigkeiten zum Wohl der Gemeinschaft einsetzen zu können. Reichtum ist frei im Denken zu sein und durch Information neue Zusammenhänge zu begreifen. Reichtum ist auch, wenn man sich etwas traut und sich nicht bei jedem Konflikt wegduckt. Wenn man abends gut einschläft, weil man das Gefühl hat, sich sinnvoll und gewinnbringend engagiert zu haben. Das ist besser als schlaflose Nächte wegen Aktienpaketen zu haben, die jederzeit wegschmelzen können. So gesehen bin ich ziemlich reich, weil ich schuldenfrei bin und keine Aktienpakete habe. Welche deiner Aktivitäten war besonders anstrengend? Es fordert einen, sich jeden Tag mit Arbeitsunrecht und Unternehmerwillkür auseinander zu setzen. Es ist ein bisschen wie bei einem Arzt. Zum Orthopäden kommt ja auch keiner und sagt: „Schau mal, was ich für eine per-

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fekte Haltung habe“. Genau so selten ruft bei uns jemand an uns sagt: „Hey, ich will Euch mal erzählen, wie problemlos es in meiner Firma mit der demokratischen Mitbestimmung läuft.“ Aber ich will mich keineswegs beklagen. Wir haben ja schon Wege gefunden, unsere Wut um zu münzen und ihr ein Ziel zu geben. Was würdest du heute jungen Leuten raten, die sich für Politik einsetzen wollen? Politik klingt in meinen Ohren komisch. Ich würde ihnen eher raten, sich für eine soziale Bewegung einzusetzen und vermutlich meinst du das auch. Ich würde sagen: Baut eure eigenen Fähigkeiten gezielt aus! Bring sie ein! Entwickelt euch und wachst! Sei es nun als Anwalt, als Buchhalter, kritischer Kernphysiker oder Chemielaborant, Mediengestalter, Flugblattverteiler, Sprayer oder Allrounder. Die Möglichkeiten sind ja fast grenzenlos. Jede Gruppe freut sich über gute Leute, die Potential und Energie mitbringen. Wenn du an Brühl oder Köln oder die BRD denkst, was hast du verändert? Wir haben an den Spielregeln für Arbeitsgerichtsprozesse gedreht. Das öffentliche Bewusstsein für Vergehen von UnternehmerInnen gegen lohnabhängig Beschäftigte ist heute anders als noch vor zwei Jahren, als noch die Recherchen zum Buch "Die Fertigmacher" liefen. Immer mehr misshandelten und gefeuerten Beschäftigten wird klar, dass es sich in ihren Konflikten keineswegs um bedauerliche Einzelfälle handelt, sondern dass eine ganze Dienstleistungsbranche damit beschäftigt ist, UnternehmerInnen bei der Drangsalierung und Kündigung unliebsamer Beschäftigter zu unterstützen. 2014 gab es in mehreren Städten Proteste gegen Schulungen für Unternehmer und Führungskräfte, in denen Anleitungen zu aggressiven Strategien gegen Lohnabhängige und Betriebsratsmitglieder vermittelt werden. Wir verändern mit unserer Arbeit das gesellschaftliche Ansehen der TäterInnen, die sich mit diesen Methoden hart am Rande der Legalität bewegen. Wir brandmarken sie als Kriminelle – auch wenn Staatsanwälte und Gerichte heute noch müde gähnen. Das wird nicht so bleiben. Wir bauen ein kampagnenfähiges, bundesweites Netzwerk auf und gründen SolidaritätsKomitees. UnternehmerInnen und AnwältInnen, die glauben, über dem Gesetz zu stehen, werden sich immer mehr Anfeindungen ausgesetzt sehen.

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Wenn du zurückschaust auf mein Thema: Politik in die Stadt – wo hast du in all den Jahren aus deiner Sicht am meisten bewirkt? Als attac-Mitglied bin ich der Überzeugung, mit der jahrelangen Globalisierungs- und Kapitalismuskritik die Basis für den breiten Protest gegen die großen Freihandelsabkommen gelegt zu haben. Auf der lokalen Ebene bin ich froh, mit einigen Mitstreiterinnen ein Repair-Café in Brühl etabliert zu haben. Sicher aber habe ich als Gründungsmitglied der Initiative aktion ./. arbeitsunrecht e.V. bisher die größte messbare Wirkung erzielt. Wir wissen, dass wir schon einige Arbeitsplatzkonflikte positiv beeinflussen konnten und von Kündigung Bedrohte dadurch ihren Job behalten konnten. RichterInnen an Arbeitsgerichten und Landesarbeitsgerichten bleiben von unserer Arbeit schließlich auch nicht unberührt. Arbeitsgerichtsprozesse werden immer öfter zu Anlässen für Solidaritätsbekundungen und die Berichterstattung über die Prozesse hat sich verändert. Was sind deine besten Momente bezüglich soziale Aktion in die Stadt? Als Campaignerin ist es so, dass das beste Gefühl in mir aufwallt, wenn eine Aktion, auf die ich wochenlang hingearbeitet habe, dann endlich stattfindet. Wenn ich mich gegen Widerstände durchgesetzt habe, die Mobilisierung gelaufen ist und ich dann am Tag x nur noch hoffen kann, dass ich es gut gemacht habe und dann sehe: es läuft, es klappt, es sind Leute da … das ist ganz wunderbar! Als ich z.B. wusste, dass es gelungen war, an einem von uns initiierten Aktionstag, dem „Schwarzen Freitag für HorrorArbeitgeber und furchtbare Anwälte“, solidarische Proteste in über 15 Städten zu organisieren, war das schon ein sehr guter Moment. Oder als wir in einem Bus im Januar 2015 nach Brüssel gefahren sind und mit 40 MitstreiterInnen über 5.000 Unterschriften gegen das TTIP aus Arbeitnehmersicht in die EU-Kommission getragen haben. Was macht Spaß dabei? Solidarische Menschen kennen zu lernen. Und Menschen, denen jedes Unrechtsbewusstsein abgeht, mit Anlauf und kräftig in den Allerwertesten zu treten.

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Was rätst du Leuten, die Ähnliches in ihrer Stadt machen wollen? Ihr solltet für den Anfang nach zwei, drei wirklich guten MitstreiterInnen suchen. Dafür lohnt es sich, Plätze und Veranstaltungen aufzusuchen, an denen ihr unzufriedene Beschäftigte treffen könntet. Vielleicht könnt ihr so einen Anlass auch selbst organisieren und einen Vortrag oder eine Filmvorführung zum Thema Arbeit/Arbeitsbedingungen/Arbeitsunrecht organisieren. In der lokalen Tagespresse finden sich oft Berichte über Unternehmen, die gegen Betriebsratsmitglieder vorgehen. Hier könntet ihr versuchen, Kontakt aufnehmen und z.B. ein Solidaritätskomitee gründen. Am Anfang reichen zwei oder drei Leute. Damit hat man schon eine ganze Menge Möglichkeiten und muss es dann eben wachsen lassen. Wichtig ist, einerseits unabhängig von Parteien und Gewerkschaften zu bleiben, damit die Gruppe nicht vereinnahmt und instrumentalisiert werden kann, andererseits nie sektiererisch und besserwisserisch zu werden oder aufzutreten. Der Aufbau von Gruppen ist immer mit Irritationen verbunden. Seid gewappnet, dass gerade in der Anfangsphase viele verirrte Seelen und StadtneurotikerInnen mitmachen wollen, oder Leute, die die Gruppe übernehmen wollen. Da ist Geduld und Geschick gefragt. Lieber langsam aufbauen als zu schnell zu wachsen und dabei kaputt zu gehen. Mir hilft auch immer die Regel von Mahatma Ghandi: Erst ignorieren sie dich, dann verlachen sie dich, später bekämpfen sie dich und am Ende wirst du siegen. Was er sagen will ist, glaube ich: Geduld und Beharrlichkeit sind entscheidend am Anfang, Furchtlosigkeit und Mut, vielleicht auch Leidensfähigkeit im weiteren Verlauf. Wann freust du dich? Wenn ich am Bahnhof stehe und es wieder losgeht. Wie kannst du Menschen ansprechen und begeistern? Das sollen lieber andere beurteilen. Was ist dir noch wichtig? Ich will, dass die Lohnabhängigen sich das Thema Arbeit zurück erobern und wieder anfangen ihrerseits Forderungen zu stellen. Whistleblower genießen zu wenig Schutz. Es kann nicht sein, dass über Arbeitsbedingungen und Löhne nicht gesprochen werden darf. Die Meinungsfreiheit in der Arbeitswelt muss verteidigt werden. Zu guter Letzt möchte ich, dass kriminelle UnternehmerInnen empfindlich bestraft werden.

Lebenskunst P ASCAL B LONDIAU

Pascal Blondiau wurde in Brühl bei Köln geboren, zog 1994 nach Köln, wo er bereits in den 80ern an der Dombauhütte zum Steinmetz ausgebildet wurde und arbeitet seit ungefähr 2000 im Gebäude 9, einem der wichtigsten Clubs für Live-Musik in der Kölner Kulturlandschaft. Anfänglich als Einlass- und Thekenkraft, seit 2007 dann in Festanstellung als ‚Kümmerer‘. Hat seither schon tausenden von Musikern die Hand gegeben, den Bands Kaffee gekocht, beim Setlisten-Schreiben zugeschaut und fast immer als gute Seele zur Seite gestanden, um den Club und den Auftritt für alle zu etwas Besonderem zu machen. Er arbeitet nebenher als Freelancer auch weiterhin für zahlreiche musikalische Veranstaltungen in Köln und manchmal Europa. Von 2002 bis 2015, also seit dem Sendestart des Kölner Hochschulradios ‚Kölncampus‘, mischte er ehrenamtlich bei der Programmgestaltung des Senders und der Ausbildung vieler durchlaufender Generationen Radioazubis mit. Blondiau versteht sich als Musik-Kenner mit gutem Geschmack und bringt seit jeher ausgewählte Musik an den verschiedensten Orten zu Gehör.

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Wann hat es bei dir angefangen mit musikalischen Aktivitäten außerhalb von Schule und Arbeit? Das ist in einer Leidenschaft begründet und die wurde bei mir von außen stimuliert. Mein Bruder ist zehn Jahre älter als ich und war recht aktiv. Er war durchaus auch ein Vorbild für mich. Er hatte Kontakte z.B. zu anderen Bands, nahm mich als leidenschaftlicher Musikfan mit zu Konzerten, hat Poster aufgehängt, Schallplatten gekauft und ich habe das als jüngerer Bruder am Anfang dann auch begonnen. Mit 15 bin ich dann in den Umkreis einer Brühler Lokalität gekommen, die viele Aktivitäten betrieb. Erste Frauen, in die ich mich verliebte, haben mir neue Kreise erschlossen und ich kam aus der Schulclique heraus. Da habe ich mir kulturellen Input gesucht. Bei mir war immer schon interessant, was die Älteren gemacht haben und ich habe deren Plattensammlungen und Ideen förmlich aufgesogen. Zudem war ich auch noch bei den Pfadfindern und habe noch einen ganz anderen Input erhalten. Aus all dem habe ich mein eigenes Ding gemacht. Was hat dich ganz am Anfang inspiriert? Ich habe 13 Jahre lang ehrenamtlich Kölncampus Radio gemacht und dadurch total viele Leute kennen gelernt. 99 hat mich ein Freund angesprochen. Dass ein Hochschulradiosender aufgebaut wird. Irgendwie hatte ich zu Radio kein Verhältnis und wollte auch nie hinter einem Mikrofon stehen. Als es dann losging, hat mich mein Freund erst einmal als Techniker mit Musikkenntnissen angeworben, sozusagen als Programmfütterer. Damit hat er mich bekommen; die Musik dort habe ich digitalisiert und ins Programm eingepflegt. Nach ein bis zwei Monaten gingen die ersten Musiksendungen on air und irgendwann habe ich dann gesagt „Mach ich auch mal“. Der, der mich beim Radio reingebracht hat, hat geschafft, dass ich auch mal ans Mikro trete, obwohl ich davor Angst und Respekt hatte. Dadurch ist meine Leidenschaft fürs Radio gewachsen und ich habe zehn Jahre Radioarbeit gemacht. Meine Vernetzung in der Szene ist vor allem durch diese Radioarbeit entstanden. Die Radioarbeit, das Entwickeln von Life-Sendungen, mein eigenes Format „Lokalmatadore“, wo ich lokale Bands und Veranstalter eingeladen habe, das waren wichtige Dinge. Über das Radiomachen gelangte man auch an massenhaft neue Musik über die Bemusterung und konnte umsonst auf Konzerte gehen.

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Wer hat deine Aktivitäten schon am Anfang unterstützt? Mein Bruder. Ich habe viele Mixed Tapes gemacht, zum Beispiel fürs Café. Mein erstes DJ-Erlebnis war im Jane, einem Brühler Spätnacht-Club. Der DJ dort war auch jemand, der mich musikalisch inspirierte. Ich habe ihm immer zugeschaut und ich konnte ihn dann auch ein paarmal vertreten. Meine Eltern dachten, ich schlafe, während ich tatsächlich im Jane stand und den DJ machte. Wenn du an die Aktivitäten heute denkst: Wie vergeht bei dir eine Woche oder ein Monat? Wie viel Zeit investierst du in Musik? Das ist ganz schwer zu sagen. Ich bin Saisonarbeiter. Ich arbeite besonders in der Konzertsaison. Wir haben Saison von März bis Mai und von September bis Anfang Dezember. In dieser Zeit arbeite ich, immer wenn Konzerte sind. Ich bin sozusagen Produktionsleiter im Gebäude 9 und in der Position bist du quasi Mädchen für alles in einem Club. Ich organisiere die Betreuung der Musiker und Bands, schaue, dass sie sich wohl fühlen und gucke, dass der Laden in Ordnung ist und alles läuft. Die meisten Kollegen schauen sich kaum noch andere Konzerte an, aber ich gehe nach wie vor viel auf Konzerte. Im Job bekomme ich zwar schon viel an Musik mit, aber das Gefühl eine schöne Show woanders zu verpassen reißt nicht ab. Wer sind heute deine Vorbilder? Ich habe keine Vorbilder mehr, eher Inspiration durch Freunde. Wer unterstützt dich? Niemand. Ich bin, wie gesagt, Saisonarbeiter, aber in meiner arbeitslosen Zeit gehe ich nicht zum Arbeitsamt. Dort wird man wie ein Stück Scheiße behandelt. Lieber versuche ich so die Zeit ohne Konzerte zu überbrücken oder leihe mir was von Freunden. Vor vier Jahren habe ich noch einmal einen Antrag gestellt, aber dort wird man so furchtbar behandelt, die Zeit ist mir dafür zu schade. Wo hast du Gleichgesinnte? In meinem ganzen alltäglichen Tun und Handeln. Gleichgesinnte finde ich überall, beispielswiese die leidenschaftlich Kulturschaffenden, die unter prekären Verhältnissen leben. Auch die, die 9 to 5 einen Job haben, aber mit mir gerne auf Konzerte gehen, sind gewissermaßen Gleichgesinnte.

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Oder wenn ich irgendwo auflege, treffe ich Gleichgesinnte in all denen, die Musik mit der gleichen Leidenschaft hören. Gleichgesinnte sind super, weil du deine Freude und Leidenschaft mit jemandem teilen kannst, zusammen eine Ebene findest, die beide gleichermaßen mit Glück erfüllt. Welche Netzwerke sind dir nützlich und hilfreich? Mein arbeitsbedingtes Netzwerk. Radio ist für mich eigentlich Geschichte. Die Musikpresse-Netzwerke, die ich über die Radioarbeit aufgebaut habe. Was bedeutet dir Kunst? Schwieriges Thema. Bildende Kunst ist mir nicht so wichtig, aber Kunst im Allgemeinen bedeutet mir sehr viel. Darstellende und performative Kunst und Musik sind mir eher näher und für mich beeindruckender als bildende Kunst, die ich eher respektiere. Was sagt dir: Berufung im Gegensatz zu: Beruf? Bei 90% der Gesellschaft driftet das auseinander, bei mir ist es eine Punktlandung. Ich habe lange alle möglichen Jobs gemacht und bin über den leidenschaftlichen Weg da gelandet, wo ich in Beruf und Hobby zuhause bin. Damit verdiene ich wenig Geld – das könnte ruhig mehr sein, aber das ist mir nicht das Wichtigste. „Berufung“ wie bei einem Künstler ist es bei mir sicher nicht. Das Talent des kreativen Schaffens habe ich leider nicht und bewundere es eher. Ich bin eher aus einer Konsumentenhaltung dahin gekommen, wo ich bin. Was bedeutet dir Geld? Ich habe zu wenig davon. Das könnte mehr sein. Davon kann man sich ein gutes Leben machen: In Urlaub fahren können, sich was leisten können, was man sich nicht leisten kann. Aber ich würde für Geld nicht alles machen. Was bedeutet dir Reichtum? Reichtum an Wissen, Reichtum an Glück? Oder was? Wenn du Besitz meinst: Ich war nie reich, deshalb kann ich es nicht beurteilen. Ich wäre gerne reich an Glück, aber das ist genauso rar.

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Welche deiner Aktivitäten hat dir am meisten Spaß gemacht? Die Radioarbeit in der Anfangsphase, als ich Sendungen mit kreiert habe, der Enthusiasmus und die Freiheiten, das war toll und hat Riesenspaß gemacht. Ansonsten machen mir nach wie vor Konzerte Spaß. Da gibt es Momente, wenn du da daran teilhast, können sie dich erfüllen. Welche deiner Aktivitäten war besonders anstrengend? Auch die Radioarbeit. Jede Arbeit hat anstrengende Momente, du triffst immer wieder Leute, die dir was neiden oder ganz anderer Ansicht sind als du. Manchmal sieht die Mehrheit Dinge anders als du und du musst was verändern, das kann anstrengend sein. Auch das Leben allgemein ist manchmal anstrengend. Was würdest du heute jungen Leuten raten, die sich für Kunst und Aktion in die Stadt einsetzen wollen? Ist schwer. Heute sind andere Zeiten. Wir konnten als Langzeitstudenten noch ganz andere Dinge tun. Umstände werden schwerer, Bedingungen werden enger. Die Leute haben mehr Stress; diesen Druck sehe ich auch heute beim Hochschul-Radio. Wenn du an Köln denkst, was hast du verändert? Hm, vielleicht für ein paar Jahre die Radiolandschaft verbessert. Insgesamt habe ich Vieles mitgemacht und mitinitiiert, aber ich will meine Leistung nicht so in den Mittelpunkt stellen. Ich verdiene ja auch Geld damit, die Konzertlandschaft bunter zu gestalten. Aber andere investieren sogar ihr gutes Geld, das sie woanders erarbeitet haben, in das Risiko Konzertveranstaltungen. So weit bin ich nicht gegangen. Hätte ich mehr Geld, würde ich das vermutlich in Veranstaltungen investieren. In welcher Hinsicht hast du ganz einfach Glück gehabt? Mit der Radioarbeit, das war eine extreme Bereicherung im richtigen Moment und das habe ich nie bereut.

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Was sind deine besten Momente bezogen auf Kunst/Aktion in die Stadt? Das können Momente in unserem Club sein, Konzerte wie zum Beispiel das Weekend-Festival. Dabei zu sein ist großartig. Tolle Momente sind auch Backstage-Momente, wenn verschiedene Musiker sich da zusammenfinden, da auch mal gejammt wird oder große Musiker in einem intimen Rahmen das erste Mal zusammentreffen, das sind auf einer ganz kleinen Ebene bedeutende Momente. Das kann auch eine Aftershow-Party sein oder du überredest einen Musiker mit nach vorn an die Bar zu kommen, das sind gute Momente. Gute Momente sind immer dann, wenn eine Sympathie da ist für die Künstler vor Ort und mit denen auch eine Beziehung entsteht, die über den reinen Job hinausgeht. Was macht Spaß dabei? Wenn solche Glücksgefühl-Momente entstehen. Die tägliche Arbeit im Club ist eher ganz normal, aber wenn solche besonderen Momente entstehen, wenn aus diesem ganzen Procedere was Schönes am Abend entsteht und du bist ein Teil dessen, das ist großartig. Schön ist auch, wenn ich aufgrund meines Jobs mal Leute einladen kann und anderen eine Freude machen kann. Was rätst du Leuten, die Ähnliches in ihrer Stadt machen wollen? Finger davon lassen, denn ich hab selbst schon zu wenig Arbeit. Ich treffe aber selten Leute, die mit der gleichen Leidenschaft wie ich daran gehen. Viele Mitarbeiter eines Clubs liefern lediglich ab, oft ohne Leidenschaft. Es ist außerdem ein Job, von dem viele eine falsche Vorstellung haben. Wie kannst du Menschen ansprechen und begeistern? Über Musik, wenn ich auflege. Die Leute, mit denen ich unterwegs bin, sind selbst kulturproduktiv. Da bin ich eher ein kleines Licht. Wenn ich aber auf Leute treffe, die nicht alltäglich viel mit Kultur zu tun haben, merke ich, dass ich Leuten was abgeben kann an kultureller Leidenschaft, dass sie von mir profitieren. Ich habe auch Freunde, die schon mal nach einem Podcast gefragt haben und Ratschläge haben, wie ich meine Kenntnisse weiter verbreiten könnte. Aber da gibt es heute so viel. Ich will gar nicht mehr viel erreichen, sondern das was ich habe klein halten. Meine Lieblingsbands sehe ich lieber in einem kleinen Club als in einer großen Halle.

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Es ist schon alles so gut, wie es ist. Die schönsten Momente entstehen in der direkten Kommunikation mit dem Publikum. Was ist dir sonst noch wichtig, Pascal? Freude, Harmonie, gutes Essen, Lebensglück. Dank für deine Zeit und Geduld! (Interview: Lilo Schmitz)

Lebenskunst P ERO

Pero (Peter Stamol) in Zagreb geboren, in Deutschland gelebt und gearbeitet, seit 1994 auf La Gomera lebend und schaffend. Als freischaffender Künstler ist er seit 35 Jahren tätig und hat mit verschiedenen Materialien gearbeitet u.a. Skulpturen aus Metall, Malerei (Acryl auf Leinwand), Grafikdesign, Comics usw. Seit Jahren pflegt Pero Live-Malerei und malt Bands bei ihren Live-Musik-Auftritten. Pero begann 2006 mit seinen cARTon-Kreationen. Ausstellungen in Bilbao, Hamburg, Freiburg, Köln und natürlich La Gomera folgten. Pero kreiert Bilder und Skulpturen aus Wellpappe.

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Wann hat es bei dir angefangen mit künstlerischen Aktivitäten, auch außerhalb von Schule und Arbeit? Kunst zu machen als Lebensinhalt war eigentlich schon immer mein Traum. Schon als Kind war mir die Kunst Flucht, aber auch Notwendigkeit, einfach kreieren und machen. Was hat dich ganz am Anfang inspiriert? Ich nenne es nicht inspiriert, aber es war ein Mangel an Räumlichkeiten, an Spielzeugen und materiellen Dingen, die ich gerne gehabt hätte. Daraus hat sich als Lösung aus diesem „Nicht-Haben“ meine Fähigkeit entwickelt, Dinge zu kreieren. Ich habe damals in Zagreb gewohnt. Wer waren ganz am Anfang deine Vorbilder? Vorbilder sind eigentlich erst später gekommen, mit dem Lernen und dem Leben. Da haben mich Lehrer, Freunde, andere Künstler inspiriert und waren mir zum Teil auch Vorbilder. Wer hat deine Aktivitäten schon am Anfang unterstützt? Meine Eltern waren glücklich, dass ich mich mit meiner Welt beschäftige, also haben mich nicht abgehalten, aber auch nicht besonders unterstützt. Niemand hat mir Farben oder Materialien gekauft oder so und ich habe bereits damals gelernt, dass ich mit allem kreativ sein kann. Mein Kunstlehrer in der Schule war immer froh, wenn er aufgeweckte Kinder in der Klasse hatte. Wir waren damals zu zweit, die an Kunst interessiert waren. Beide haben wir uns gegenseitig inspiriert und der Lehrer hat uns im Kunstunterricht mehr Freiheit gegeben, uns mehr gefördert, weil er unser Talent erkannt hat. Mein Klassenkamerad ist dann irgendwann nach Amerika mit einem Stipendium gegangen, weil er so super zeichnen konnte. Dort wurde er im Kunstbereich aktiv, aber eher als Kritiker. Auch für mich war er schon in der Schulzeit ein kritisches Vorbild. Wenn du an die Aktivitäten heute denkst: Wie vergeht bei dir eine Woche oder ein Monat? Wie viel Zeit investierst du in Kunst und Aktion auf Gomera und anderswo? Früher war ich jünger und war auf der Suche. Ich hatte viele andere Interessen. Heute bin ich mehr auf die Kunst konzentriert. Ich kann nicht trennen zwischen Kunst und Alltag. Ich denke, ich beschäftige mich 10 Stunden am

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Tag mit Kunst. Reden, Ideen hören, nachdenken, Eindrücke sammeln. Wenn du kreierst, bist du bewusster, das beeinflusst das Reden. Das Reden wiederum beeinflusst dein Bewusstsein wieder, das macht dich kreativer. Ich kann also kaum zwischen Freizeit und Arbeit an meiner Kunst unterscheiden. Ich habe einen relativ strukturierten Tageslauf: aufstehen, draußen Kaffee trinken gehen, arbeiten, einen Spaziergang und nach dem Sonnenuntergang arbeite ich nicht mehr mit Material, sondern unterhalte mich mit Leuten, die ich treffe und fange Inspirationen auf. Mich kann ein Gespräch beeinflussen, eine Idee, ein Anblick. Ab Nachmittag sammele ich Inspirationen. Ich versuche einmal im Jahr aus Gomera rauszukommen. Gomera ist ja beschränkt und das hat Vor- und Nachteile, z.B. fühle ich mich hier wohl mit dem, was ich mache, weil ich dem Einfluss von Großstädten mit ihrer Kunstindustrie entgehe. Auf der anderen Seite vermisse ich die Zusammenarbeit mit Gleichdenkenden, wie ich sie in einer Stadt habe, in der viele verschiedene Künstler, auch Musiker und andere interessante Leute unterwegs sind. Ich bin neugierig auf diese Erfahrungen und versuche deshalb mindestens einmal im Jahr außerhalb von Gomera auszustellen, zu reisen, zu arbeiten. Wer sind heute deine Vorbilder? Namentlich habe ich keine, aber meine Vorbilder sind Menschen, die genauso wie ich an Kunst – was immer das ist – ernsthaft arbeiten, viel Zeit reinstecken. Wenn ich mit solchen Menschen kommuniziere und ihre Werke sehe, bekomme ich neue Eindrücke, werde aber auch bestätigt in dem, was ich tue. Mein Freund Diego als Musiker ist zum Beispiel ein Vorbild, da er – im Unterschied zu mir – sehr objektiv ist und Dinge mit Abstand beurteilen kann. Das fasziniert mich, denn er ist auch ein Künstler, hat aber eine total andere Sichtweise auf Kunst und den Alltag.

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Wer unterstützt dich? Ich mag Unabhängigkeit und versuche meine Projekte so zu machen, dass sie auf eigenen Beinen stehen, denn Unterstützung bedeutet Verpflichtung, die für einen freien kreativen Prozess hemmend sein kann. Freunde unterstützen mich natürlich. Wo hast du Gleichgesinnte? Durch mein Tun und ihr Tun kreuzen sich immer unsere Wege, im Internet wie im realen Leben. Man erkennt sich. Manchmal lerne ich auch Künstler durch das Internet kennen. Welche Netzwerke sind dir nützlich und hilfreich? Das Internet ist mir nützlich und hilfreich, denn dort suche ich gezielt nach Informationen und Dingen und kann sie viel zeitsparender bekommen als früher. Ich erhalte dort interessante Anregungen, kann passende Kontakte und weitere Informationen ausbauen. Und dort beschränke ich mich nicht auf ein bestimmtes Netzwerk. Das würde mich einschränken. Ich bin in verschiedenen Gruppen und Netzwerken und will mich nicht auf irgendetwas beschränken. Für das Internet gilt für mich immer mehr: ich suche dort nicht, ich finde dort. Was bedeutet dir Kunst? Kunst ist für mich das Synonym für Leben. Es ist uns Menschen eigen, Leben ergründen zu wollen – das ist das Bedürfnis nach Kunst und die Entstehung von dem, was als Kunst bezeichnet wird. Leben ist nicht fassbar, verändert sich jede Sekunde, da wir aber Leben erfassen, ergründen und erfüllen möchten, das eine analytisch, das andere emotional, machen und brauchen wir Kunst. Was sagt dir: Berufung im Gegensatz zu: Beruf? Beruf ist, wenn ich etwas ausübe und auswähle aus puren rationalen Gründen. Berufung geht über das Rationale hinaus. Bei Berufung fühlt man sich glücklich und sieht es als ein Teil seiner Selbst. Ein Beruf kann mich zufrieden machen „Das kann ich“, aber er ist nicht unbedingt Teil meines Wesens.

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Was bedeutet dir Geld? Geld ist Mittel zum Zweck. Philosophisch ein Ding, das ich immer wieder neu studiere und versuche dauernd in meinem Kopf neu zu kreieren. Was bedeutet dir Reichtum? Wenn ich mir Reichtum wünschen würde, dann nur, um Projekte zu verwirklichen, für die mir die materiellen Ressourcen fehlen. Reichtum wäre eine Möglichkeit das leichter zu realisieren. Welche deiner Aktivitäten hat dir am meisten Spaß gemacht? Alle – zu ihrer Zeit – das wechselt. Welche deiner Aktivitäten war besonders anstrengend? Meine erste große Skulptur und meine größte Skulptur- ein Metallbrunnen, sechs Meter hoch, drei Meter Durchmesser aus Edelstahl. Da machst du immer kleine Sachen und bekommst dann so einen Traumauftrag. Das Schweißen und die Übertragung der Techniken auf diese Größe war eine Herausforderung. Bei beiden habe ich mich gefühlt, als ob sie an mein Bein angebunden sind. Darüber hinaus haben sie mir aber auch viel Erkenntnis gebracht. Was würdest du heute jungen Leuten raten, die sich für Kunst und Aktion einsetzen wollen? Sie sollen kreieren, kreieren, Erfahrungen sammeln und tun, tun, tun, nicht nur träumen davon, denn damit gehen die Türen auf, eine nach der anderen. Da bekommt man neue Ideen und ein Gefühl für die eigene Größe und die eigenen Fähigkeiten und kann sich immer mehr konzentrieren auf das, was man erreichen will und kommt in Kontakt mit anderen Menschen. Das braucht man für die künstlerische Praxis, deren andere Ansichten und deren Meinungen. Und sie sollen nach außen gehen, in die Öffentlichkeit. Wenn du an Valle Gran Rey denkst, was hast du verändert? Ich bin stolz, weil ich einen Zusammenhang zwischen meiner Arbeit sehe und der Tatsache, dass beim Karneval hier auch immer mehr RecyclingMaterial genommen wird. Da haben sie von mir viele Anregungen aufgenommen und das war mit das wichtigste Feedback. Schau, was alles aus Abfall gemacht werden kann. Dann bin ich mit meinen Bildern und meiner

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Erfahrung hier präsent und bringe Kunst im kleinen Format als Forum an die abendlichen Treffen zum Sonnenuntergang. Durch mein Café in El Guro, durch mein immer offenes Atelier, durch Live-Malerei, wo man die Entstehung eines Bildes von Anfang bis Schluss sieht, bringe ich den Menschen eine andere Beziehung zur Kunst, kann vielleicht die eine oder andere Hemmung nehmen und Menschen zu eigener Kreativität ermuntern. Kunst ist nicht Magie – Kunst ist menschlich. Jeder kann im kreativen Sinne tätig sein. Es ist nicht nur Talent – Kunst ist Liebe. Du musst dich in Kunst verlieben. Egal, wie sich Leute kreativ betätigen: dann haben wir eine schönere und bessere Welt, weil das Bewusstsein geweckt wird. Persönliche und gesellschaftliche Dinge werden durch künstlerische Praxis verändert. Auch die Wertigkeiten. Wenn du zurückschaust auf mein Thema: Kunst und Aktion in die Stadt – wo hast du in all den Jahren aus deiner Sicht am meisten bewirkt? Auf Gomera. Da ist eine Gemeinschaft, wo Menschen schnell Fuß fassen können. Hier erreiche ich vielleicht mehr Leute als in einer Großstadt, gerade, weil es klein und begrenzt ist. Für den einzelnen Künstler sind die Schritte vielleicht nicht so groß, unser Wirkungskreis klein, aber alles ist ein wertvoller Beitrag. In Deutschland war ich in einem größeren Kreis, aber seit ich hier bin, habe ich auch ein großes Netzwerk. Ich bin auch mit jedem Jahr erfahrener, fokussierter, ernsthafter geworden und bin deshalb mit dem, was ich wirke, zufriedener. Das hängt mit meinem eigenen Wachstum zusammen, wie ein kleiner Baum, der weniger Platz braucht als ein großer Baum. In welcher Hinsicht hast du ganz einfach Glück gehabt? Ich fühle mich glücklich, dass ich lebe und dass ich lebensfroh bin. Was sind deine besten Momente bezogen auf Kunst/Aktion in die Stadt? Meine besten Momente sind, wenn ich mich eins fühle mit dem, was ich mache. Das kann ortsbezogen sein, aber das muss nicht sein. Für diese Momente arbeite ich, eine Art Erleuchtung, die aber nicht bleibt, sondern vergänglich ist.

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Was macht Spaß dabei? Manchmal bin ich allergisch gegen das Wort „Spaß“, denn Kunst vom Anfang bis zum Ende durchzuziehen, ist hart, es muss verzichtet werden, das ist nicht immer schön und leicht. Tagelang an etwas künstlerisch arbeiten und es dann als Sackgasse verwerfen, das ist zum Beispiel etwas, das keinen Spaß macht. Was rätst du Leuten, die Ähnliches machen wollen? Am Ball bleiben, bei allen Schwierigkeiten. Da wird sich entscheiden, ob es wirklich ihre Berufung ist. Hindernisse werden immer da sein und immer neue kommen, aber deshalb: Kunst ist Leben. Und alles, was wir erreichen, hat uns meistens auch etwas gekostet. Also: nicht aufgeben! Kunst braucht Kontinuität. Wann freust du dich? Freuen tue ich mich viel, aber im Zusammenhang mit Kunst: wenn ich ein Projekt zu meiner und zur Zufriedenheit der anderen zu Ende gebracht habe und dann ein neues anfangen kann – das sind die schwierigsten und die schönsten Momente, wie Geburt, Ende und Neuanfang, Abschied und Freude. Wie kannst du Menschen ansprechen und begeistern? Durch meine eigene Begeisterung dafür. Den Rest müssen sie selbst machen. Was ist dir sonst noch wichtig? Dass Menschen anders schauen, anders wertschätzen, dass künstlerischer Aktionismus unterstützt wird. Aber vielleicht sind wir gerade deshalb aktiv, weil wir nicht unterstützt werden, weil an solchen Hindernissen Menschen wachsen und kreativ werden. Dank für deine Zeit und Geduld (Interview auf La Gomera: Lilo Schmitz)

Bildnachweise (nach Autor*innen)

Bauer Guinness_Urkunde_Portrait, Foto: Anika Potzler Unorte 1, Foto: Marcel Göhmann Gardening, Foto: Freiräume für Bewegung Beyer „Wir stehen“ ZKM 2014, ©ZKM/Karlsruhe, Foto: ONUK Buchcover zu Banu Beyer (Hg.) „wir stehen. was uns bewegt“ ©Grafik/Zeichnung: Ruth Rothenstein Videostills “VicdanHırkası” ©Performance: Banu Beyer Bleck/van Rießen Sozialräumliche Methoden in Aktion im Rahmen des Forschungsprojektes SORAQ, Fotos: Christian Bleck/Anne van Rießen Blondiau Portraitfoto Pascal Blondiau: Lilo Schmitz Nachts in der Stadt. Foto: Howe Gelb Bremen/Blondiau Portraitfoto Monika Bremen und Hans-Jörg Blondiau: Lilo Schmitz Zoom-Vorstand und ehrenamtliche Helfer*innen: Foto: Dirk Morla Open Air-Szene im Brühler Rathaus-Innenhof: Foto: Dirk Morla

268 | ARTIVISMUS

Bünder/Schulz Cafeteria des Fachbereichs Sozial- und Kulturwissenschaften Videostills: Volker Schulz Deinet Fotos aus dem Schulprojekt: Ulrich Deinet Firat Straßenecke in Istanbul. Foto: Lilo Schmitz. Paste-up-Junge: ALIAS (BERLIN) Gündüz „Vücut 2“ – Foto: Gülnur Kilic Johannisbauer im Theaterstück „Stadt Erde“, Foto: Anika Potzler Michels Jonas Ludwig, Scater und Parcourer aus Brühl: Fotos: Lilo Schmitz Minkenberg Hubert Minkenberg am Flügel, Aufnahme: privat, Rechte: Hubert Minkenberg Mommertz Foto 1 und 2 : Axel Janetzky Foto 3 und 4: Anne Mommertz Özmen alle Fotos: Nurdagül Özmen Pero Pero Portrait. Foto: Johannes Friedrich Reichert, La Gomera Fotos der Kunstwerke: Pero Peter Stamol

B ILDNACHWEISE ( NACH A UTOR * INNEN ) | 269

Reisner Initiative ,aktion ./. arbeitsunrecht‘: Unterschriftenübergabe gegen TTIP aus Arbeitnehmersicht in Brüssel am 22.01.2015. Foto Frans Valenta Lebenskunst: Foto privat, Rechte: Jessica Reisner Schenkel Fotos der Kunstwerke: Christian Hasucha Schleiner/Lichtenstein: Urban Gardening, Fotos: Swantje Lichtenstein/Maria Schleiner Schmitz Stadtspaziergang in Düsseldorf, Foto: Mahdi Benthami Toksoy/Bal Junggesellenzimmer. Fotos: Altan Bal

Autor*innen

Altan Bal, studierte Fotografie an der Marmara Universität in Istanbul. Lebt und arbeitet in Istanbul. Arbeitsschwerpunkte: Künstlerische Dokumentarfotografie, Junggesellenräume, Straßensammler. Fotoband zur Lebenswelt von Lastwagenfahrern. Aktuell Foto- und Videoarbeiten. Banu Beyer, geboren in Istanbul, ist im ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Kunstvermittlerin tätig. Sie möchte ästhetische Handlungen in allen Lebensbereichen, z.B. in bürgerlich-politischen Aktionen, einbetten. Christian Bleck, Dr. phil., Dipl. Sozialarbeiter, Professor für die Wissenschaft Soziale Arbeit am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Düsseldorf. Arbeitsschwerpunkte: Sozialraumforschung, Soziale Arbeit mit älteren und alten Menschen, Wirksamkeits- und Wirkungsforschung in der Sozialen Arbeit, Kompetenzfeststellung und Evaluationsforschung am Übergang Schule-Beruf. Hans-Jörg Blondiau, Steinmetzmeister, Initiator, Mitgründer und Vorstand von ZOOM Brühler Kino, das der Kleinstadt Brühl bei Köln, einst mit mehr als 2000 Kinositzen, dann ganz ohne Kino, in zäher Arbeit ein eigenes Kino zurückgegeben hat. Pascal Blondiau, Köln, gelernter Steinmetz, widmet seinen Alltag der Musik, als langjähriger Mitarbeiter beim Hochschulradio „Kölncampus“, als hauptamtlicher Betreuer von Bands und Konzerten im Gebäude 9 in Köln und als freier DJ.

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Monika Bremen, ein Sohn, Lebensgefährtin von H.-J. Blondiau, Assistentin der Geschäftsführung der ifs internationale filmschule köln und dort auch zuständig für das Festivalbüro, Hobbies: Kino, Kochen, Balkonpflanzen. Peter Bünder, Praxis für Entwicklungsförderung für Einzelne, Paare, Familien und Gruppen in Brühl/Rheinland. Bis WS 2014-15 Professor für Erziehungswissenschaft an der HS Düsseldorf, FB Sozial- und Kulturwissenschaften. Fabian Chyle lehrt Performative Künste an der Hochschule Düsseldorf. Er studierte Tanz, Theater und Choreographie in Amsterdam, New York und San Fransisco. Er ist als Choreograph und Performer in Europa und den USA tätig. Seine künstlerischen Arbeiten sind ästhetische Grenzüberschreitungen, die verschiedene Kunstrichtungen miteinander verbinden. Ulrich Deinet, Dipl.-Pädagoge, Professur für Didaktik/Methodik der Sozialpädagogik an der Hochschule Düsseldorf, Leiter der Forschungsstelle für sozialraumorientierte Praxisforschung und Entwicklung ([email protected]); Mitherausgeber des Online-Journals „Sozialraum.de“. Arbeitsschwerpunkte: Kooperation von Jugendhilfe und Schule, Sozialräumliche Jugendarbeit, Sozialraumorientierung, Konzept- und Qualitätsentwicklung. Derya Firat, Hochschullehrerin für angewandte Soziologie an der Mimar Sinan Universität Istanbul, Studium in Paris, Arbeitsschwerpunkte: Stadtsanierung, kollektives Gedächtnis, Erinnerungsorte. Alexander Flohé ist hauptamtlich Lehrender für Stadtforschung, Kulturarbeit und Soziale Bewegungen am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Düsseldorf, Lehrbeauftragter für Stadtsoziologie an der Peter Behrens School of Architecture sowie Redakteur beim Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Berlin. Erdem Gündüz, Tänzer und Choreograf, Studium der performativen Künste an der Mimar Sinan Universität in Istanbul, zahlreiche Performances im In- und Ausland, bekannt geworden mit seiner aktivistischen

A UTOR * INNEN | 273

Performance „Standing Man“, „Duran Adam“ bei den Gezi-Park-Protesten in Istanbul. Kai Hauprich, BA Soziale Arbeit und cand. MA Soziale Arbeit – wiss. Mitarbeiter im Forschungsschwerpunkt Wohlfahrtsverbände der FHD. Norbert Herriger, seit 1992 Professor für Soziologie im Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Düsseldorf; Arbeitsschwerpunkte: Soziologie sozialer Probleme; Familien- und Kindheitssoziologie; Biografieforschung; Empowerment in der Sozialen Arbeit. Carsten Johannisbauer aka Jonny Bauer, lebt und arbeitet in Düsseldorf und freut sich über zwei Kinder und eine Frau. Seit über 20 Jahren ist er künstlerisch als Autor für Kunst-Magazine, Bücher, Filme, Stücke, als Ausstellungskurator, Siebdrucker, Konzeptkünstler und Musiker aktiv. Vorträge zur Gentrifizierungsdebatte und ist Dozent an der Hochschule Düsseldorf, Grafik-Design. Swantje Lichtenstein, Autorin, Künstlerin, Professorin für Literatur und Ästhetische Praxis an der HS Düsseldorf, arbeitet mit Text, Sprache und Sound, theoretisch und praktisch. Zuletzt erschienen: Kommentararten, Berlin 2015; Geschlecht. Schlagen von Schlage des Gedichts, Berlin 2013, Übersetzung: Vanessa Place/Robert Fitterman: Covertext. Anmerkungen zu Konzeptualismen, Berlin 2013. Harald Michels, seit 2003 Professor für „Kultur-Ästhetik-Medien insbesondere Bewegungs- und Erlebnispädagogik“ im Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Düsseldorf in zwei BA-Studiengängen sowie im Master Kultur-Ästhetik-Medien. Derzeitiger Forschungsschwerpunkt ist die Gesundheitsförderung von Jugendlichen durch gesunde Ernährung, Bewegung und Stressregulation. Im Mittelpunkt der Lehre stehen Bewegung, Sport und Erlebnis als Konzepte sowie Medien der Sozialen Arbeit. Hubert Minkenberg, Professor für Musikpädagogik an der Hochschule Düsseldorf, Musiker und Musikwissenschaftler, Komponist und Chorleiter. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Didaktik und Methodik der Popular-

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musik und der Einsatz Neuer Medien in der außerschulischen Musikpädagogik. Publikationen u.a. zu Popularmusik in der Schule für Lernbehinderte, Das Musikerleben von Kindern im Alter von fünf bis zehn Jahren, Aspekte des vokalen Musizierens von Kindern im Vorschulalter. Anne Mommertz, Düsseldorfer Künstlerin, Studium an der Stadsacademie voor toegepaste kunsten, Maastricht und an der Kunstakademie Düsseldorf, lebt und arbeitet in Düsseldorf, zahlreiche Stadtteilprojekte und Projekte im öffenntlichen Raum, Theaterprojekte. Thomas Münch, Dr. phil., Dipl. Soz. Arb. und Dipl. Päd., Professor für Verwaltung und Organisation an der Hochschule Düsseldorf, Leiter des Forschungsschwerpunktes Wohlfahrtsverbände der HD. Nurdagül Özmen, Mitarbeiterin am Forschungsschwerpunkt „Beruf und Burnout-Prävention“, Arbeitsschwerpunkte: Lebensrückblick, Beheimatung, transkulturelle Sterbe- und Trauerbegleitung. Pero (Peter Stamol), Studium Grafik-Design in Zagreb, in Deutschland gelebt und gearbeitet, seit mehr als 20 Jahren als freier Künstler auf Gomera, arbeitet mit verschiedenen Materialien, seit 2006 auch mit CartonKreationen, zahlreiche Ausstellungen, z.B. Bilbao, Hamburg, Freiburg, Köln. Jessica Reisner zog als Baby nach Köln und blieb dort: „Als Kämpferin hat man überall etwas zu tun. Wozu also in die Ferne schweifen, wenn ich mich da, wo ich schon bin, nützlich machen kann?“ Mit einem Mix aus beruflichen Erfahrungen von der „Boulevard Bio“-Redaktion bis zur Leitung einer Wache der Johanniter-Unfall-Hilfe und langjähriger Selbständigkeit wurde die Grundlage für die momentane Aufgabe gelegt: Campaigning für aktion ./. arbeitsunrecht e.V. Anne van Rießen, Dipl.-Sozialarbeiterin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Düsseldorf. Arbeitsschwerpunkte: Sozialer Raum, demografischer Wandel und alternde Gesellschaft(en), junge Erwachsene im Übergang zwischen Schule

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und Erwerbstätigkeit, Kulturpädagogik – insbesondere im Kontext des SGB II, Nutzer_innenforschung, partizipative Forschung. Johanna Schenkel, freie Autorin, geboren in Münster, 1963 Umzug mit der Familie nach Bochum, 1976 Abitur am humanistischen Gymnasium. Magister-Studium an der RUB: Geschichte bei Hans Mommsen, Kunstgeschichte bei Max Imdahl. Seit 1978 Arbeiten für Print, Radio, Film, Fernsehen, seit 2001 Dozentin in der Erwachsenenbildung. Maria Schleiner, Bildende Künstlerin, Professorin für Kultur, Ästhetik, Medien; insbesondere Bildende Kunst an der Hochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften arbeitet im Bereich von Zeichnung, Installation, Kunstpädagogische Forschungsprojekte. Aktuelles Buchprojekt: Swantje Lichtenstein & Maria Schleiner: turtle dreams, 2015. Volker Schulz, Diplom-Sozialpädagoge, seit zehn Jahren Fachlehrer für den Videobereich am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Düsseldorf, zahlreiche Videoprojekte. Lilo Schmitz, Kulturanthropologin und Sozialpädagogin, lehrt an der Hochschule Düsseldorf, Herausgeberin dieses Sammelbandes. Gamze Toksoy, Hochschullehrerin für Soziologie an der Mimar Sinan Universität in Istanbul, Arbeitsschwerpunkte: Visuelle Soziologie, Rolle des Visuellen im gesellschaftlichen Gedächtnis, Visuelles und geschlechtliche Identität.

Urban Studies Christopher Dell Epistemologie der Stadt Improvisatorische Praxis und gestalterische Diagrammatik im urbanen Kontext Januar 2016, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3275-0

Karsten Michael Drohsel Das Erbe des Flanierens Der Souveneur – ein handlungsbezogenes Konzept für urbane Erinnerungsdiskurse Dezember 2015, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3030-5

Andra Lichtenstein, Flavia Alice Mameli (Hg.|eds.) Gleisdreieck/Parklife Berlin Juli 2015, 288 Seiten, Hardcover, zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3041-1

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Urban Studies Alain Bourdin, Frank Eckardt, Andrew Wood Die ortlose Stadt Über die Virtualisierung des Urbanen 2014, 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,99 €, ISBN 978-3-8376-2746-6

Marco Thomas Bosshard, Jan-Dirk Döhling, Rebecca Janisch, Mona Motakef, Angelika Münter, Alexander Pellnitz (Hg.) Sehnsuchtsstädte Auf der Suche nach lebenswerten urbanen Räumen 2013, 286 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2429-8

Anne Huffschmid, Kathrin Wildner (Hg.) Stadtforschung aus Lateinamerika Neue urbane Szenarien: Öffentlichkeit – Territorialität – Imaginarios 2013, 464 Seiten, kart., 25,90 €, ISBN 978-3-8376-2313-0

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Urban Studies Antje Matern (Hg.) Urbane Infrastrukturlandschaften in Transformation Städte – Orte – Räume

Susana Zapke, Stefan Schmidl (Hg.) Partituren der Städte Urbanes Bewusstsein und musikalischer Ausdruck

Dezember 2015, ca. 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3088-6

2014, 146 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2577-6

Johanna Hoerning »Megastädte« zwischen Begriff und Wirklichkeit Über Raum, Planung und Alltag in großen Städten

Alenka Barber-Kersovan, Volker Kirchberg, Robin Kuchar (Hg.) Music City Musikalische Annäherungen an die »kreative Stadt« | Musical Approaches to the »Creative City«

Dezember 2015, ca. 320 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3204-0

2014, 342 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,99 €, ISBN 978-3-8376-1965-2

Corinna Hölzl Protestbewegungen und Stadtpolitik Urbane Konflikte in Santiago de Chile und Buenos Aires

Karin Wilhelm, Kerstin Gust (Hg.) Neue Städte für einen neuen Staat Die städtebauliche Erfindung des modernen Israel und der Wiederaufbau in der BRD. Eine Annäherung

September 2015, 422 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3121-0

Dominik Haubrich Sicher unsicher Eine praktikentheoretische Perspektive auf die Un-/Sicherheiten der Mittelschicht in Brasilien Juli 2015, 378 Seiten, kart., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3217-0

Judith Knabe, Anne van Rießen, Rolf Blandow (Hg.) Städtische Quartiere gestalten Kommunale Herausforderungen und Chancen im transformierten Wohlfahrtsstaat Juli 2015, 274 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2703-9

2013, 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2204-1

Sandra Maria Geschke Doing Urban Space Ganzheitliches Wohnen zwischen Raumbildung und Menschwerdung 2013, 360 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2448-9

Jörg Heiler Gelebter Raum Stadtlandschaft Taktiken für Interventionen an suburbanen Orten 2013, 352 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2198-3

Daniel Nitsch Regieren in der Sozialen Stadt Lokale Sozial- und Arbeitspolitik zwischen Aktivierung und Disziplinierung 2013, 300 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2350-5

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