Armes reiches Rußland!: Ein Mahnwort an Deutschlands Kapitalisten [Reprint 2021 ed.]
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Armes reiches Rußland! Ein M a h n w o r t an D e u t s c h l a n d s K a p i t a l i s t e n

von

Georg Bernhard.

Berlin. Druck und Verlag von Georg Reimer. 1906.

Einleitung. Als Rußland bei deutschen Kapitalisten seine letzte große Anleihe aufnahm, war es nur zu verständlich, daß der Unwille des deutschen Volkes über die absolutistische Machtherrschaft in Bußland sich in der Forderung Luft machte, die deutsche Bankwelt möge kraft ihrer finanziellen Macht dafür sorgen, daß den Wünschen der überwiegenden Mehrheit des russischen Volkes auf Herstellung einer liberalen Staatsverfassung Gehör geschenkt werde. Die Börsenpresse tat solch Begehren kurzerhand als naiv ab, und der „Börsen-Courier", der mehrere Auslassungen veröffentlichte, deren Ursprung wohl unweit der Bureaus des führenden Russenbankhauses in Deutschland zu suchen sein dürfte, schrieb am 5. Januar d. J.: „Wenn Rußland auch, wie das übrigens andere große Staaten gleichfalls tun, seine Staatsanleihen zu einem nicht unbeträchtlichen Teile in Deutschland placiert, so wird es doch jede Einmischung in seine äußeren und inneren Angelegenheiten zurückweisen und den durchaus berechtigten Standpunkt vertreten, daß es dem ausländischen Kapital freisteht, ob es Ersparnisse in russischen Anleihen anlegen will oder nicht; selbst mittlere und kleinere Staaten haben sich kaum jemals dazu verstanden, politische Konzessionen zu machen, um ihre Geldbedürfnisse zu decken, und es wäre töricht, etwas derartiges von Rußland zu verlangen." Fast jeder Satz dieses papierenen Protestes widerspricht den Tatsachen. Finanzielle Kalamitäten sind sehr wohl die Ursache sehr wichtiger politischer Konzessionen in fast allen Ländern gewesen, ja man kann sagen, daß die entscheidenden Konzessionen der meisten europäischen Staaten auf innerpolitischem Gebiete niemals gewährt worden wären, wenn nicht das Geldbedürfnis 1*



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dazu gezwungen hätte. Um nur ein Beispiel, das angesichts der russischen revolutionären Bewegung naheliegt, herauszugreifen, so wäre die Einberufung der Generalstaaten, die das akute Stadium der französischen Revolution eingeleitet hat, wohl niemals erfolgt, wenn nicht dringende Geldsorgen der Regierung den Wunsch der neu aufstrebenden Parteien unterstützt hätten. Dieses Beispiel wird dadurch besonders charakteristisch, daß wohl schon jetzt als ganz sicher anzunehmen ist, daß auch Rußland, wenn einmal der leidige Krieg, der die finanziellen Kräfte des Reiches vollkommen zerrüttet, definitiv beigelegt sein wird, die Stände wird zusammen berufen müssen, wenn es überhaupt noch darauf Wert legt, Ordnung in seine Staatswirtschaft zu bringen. Freilich, die Regierten pflegen solche politischen Konzessionen von den Regierenden in der Regel nicht aus praktischen Gründen, sondern unter der Berufung auf die ewigen Menschenrechte zu verlangen. Eine derartige Tonart kann das Ausland nicht anschlagen, und darin muß man unzweifelhaft der russenfreundlichen Presse Deutschlands recht geben: wollten die deutschen Kapitalisten in larmoyanter Weise unter Berufung anf die allgemeinen Grundsätze der Menschlichkeit und der Zivilisation von den russischen Machthabern eine Einlenkung verlangen, Rußland könnte sich nur allzu leicht dahinter verschanzen, daß es sich hier um innere Angelegenheiten handle, die das Ausland nichts angehen. Allein die deutschen Kapitalisten fordern ein Umändern der russischen Staatsverfassung aus einem Grunde, der ihnen ein Recht zu solchen Forderungen gibt; sie fordern sie, weil sie nicht länger Lust haben, einem Staate Geld anzuvertrauen, der als einziger in ganz Europa einer absoluten Willkürherrschaft untersteht, dessen Abrechnungen keinem Parlament zur Prüfung vorgelegt werden und der notorisch seine Budgets nach Grundsätzen aufstellt, die sich zwar äußerlich sehr ähnlich denen geben, die in zivilisierten Staaten dafür in Geltung sind, die in Wirklichkeit jedoch sehr weit von den Erfordernissen einer raisonablen Staatswirtschaft entfernt bleiben. Allerdings Rußland ist gewissermaßen in der Situation des tertius gaudens, und wie beißender Hohn klingt es, wenn der



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„Börsen-Courier" schreibt: „Rußland vertritt den durchaus berechtigten Standpunkt, daß es dem ausländischen Kapital freistehe, ob es Ersparnisse in russischen Anleihen anlegen will oder nicht." Gewiß, dem einzelnen Kapitalisten, der bisher noch nicht glücklicher Besitzer von russischen Anleihen ist, steht es frei, ob er gegen sein gutes Geld die schön ausgestatteten Anleihescheine des russischen Staates eintauschen will. Aber eine andere Frage ist es, inwieweit es den Kapitalsvermittlern in Frankreich, Holland und Deutschland, die bisher bereits Milliarden von Anleihen dem russischen Reiche vermittelt haben, wirklich freisteht, ob sie noch ferner Geld geben wollen oder nicht. Denn sie haben eine gewisse moralische Verantwortlichkeit auf sich geladen, sie können heute die Wirtschaft ihrer Länder nicht der Gefahr aussetzen, daß durch das plötzliche Aufhören der Kreditgewährung der russische Staat vor die Notwendigkeit der Insolvenz gestellt wird. Kommt man aber zu dem Schluß, daß diese Vermittler weiter geben müssen, um den russischen Staat über Wasser zu halten, dann ist auch die weitere Konsequenz nur allzu naheliegend, daß diese Vermittler, wollen sie nicht die neuen Millionen in den eigenen Tresors liegen lassen, alles daran setzen müssen, um so viel wie möglich von den neu geschaffenen Anleihen im Publikum abzusetzen. Die französische haute finance hat den Mut gehabt, dem russischen Staate zweimal das neue 600 Millionen Darlehn zu verweigern. Ob sie nicht schließlicii doch wird nachgeben müssen, ist eine andere Frage. Aber wir haben bereits jetzt gesehen, daß die Folge dieser Ablehnung in Paris ein neuer Pump in Deutschland war. So ganz freiwillig ist die Freigebigkeit der deutschen Bankwelt sicherlich nicht; sie fürchtet eben, daß außerordentlich ernste Konsequenzen aus dem Aufhören der Kreditwilligkeit erwachsen können. Freilich ist es nicht recht begreiflich, weshalb gerade die deutsche Finanzwelt und nicht — die eigentlich doch ebenso stark interessierte — französische sich so nachgiebig zeigen mußte. Es wäre an und für sich kein allzu großes Unglück, wenn unsere Bankwelt und unser Privatpublikum gezwungen würden,



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neues Geld nach Rußland zu schicken, um das alte zu erhalten. Auch in der Privatwirtschaft kommt es nicht selten vor, daß der Gläubiger dem Schuldner, der ein umfangreiches Geschäft betreibt, mehrfach das Kapital aufschütten muß, bis er ihn endlich geschäftlich „flügge" gemacht hat. Aber die Voraussetzung dafür ist doch, daß entweder ein Endpunkt abzusehen ist, an dem das Geschäft auf eigenen Füßen stehen kann, oder daß für das neu hineingesteckte Kapital werbende Aktiven geschaffen werden, die ihrerseits eine gewisse selbständige Garantie für die Möglichkeit der Zinszahlung und der Kapitalstilgung gewähren. Ist das bei Rußland der Fall? Seitdem Friedrich Gentz der Söldling der heiligen Allianz, seine talentvollen Reklameaufsätze für die österreichischen und russischen Anleihen verfaßte, hat es niemals an Leuten gefehlt, die entweder von der Macht des Goldes oder von der politischen Macht Rußlands geblendet, die Stärke des russischen Finanzwesens nicht begeistert genug zu schildern vermochten. Ich sehe davon ab, daß ganz selbstverständlich ein Teil der Börsenpresse für die letzten russischen Anleihen überlaut das Tamtam geschlagen hat. Wesentlicher erscheint mir, daß Leute, die einen wissenschaftlichen Ruf zu verlieren haben, wie Paul Leroy-Beaulieu 1 ) in Paris und der Wirkliche Legationsrat im Auswärtigen Amt des Deutschen Reiches und Professor an der Universität Berlin, Herr Dr. Karl Helfferich 2 ), sich bereitgefunden haben, für die russischen Finanzen in warmer Weise einzutreten, mit Argumenten allerdings, die — ebenso schwach, wie das zugrunde liegende Material — von einem einigermaßen unterrichteten Examinator als Grundlage für eine Doktorarbeit nicht als ausreichend angesehen werden würden. Bei beiden Schriftstellern wird ohne weiteres die zunehmende Besserung im Finanzwesen Rußlands und auch die Schaffung wertvoller Aktiven durch die neuen Anleihen bejaht. Mit welchem Recht, das werde ich noch eingehend untersuchen. Russische Finanzen, Neue Freie Presse, Wien, 30. April 1905, Nr. 14614. 2)

Die finanzielle Seite des Russisch-Japanischen Krieges, Marine-Rund-

schau, 1904.



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Wie steht es nun mit der anderen Angabe der Börsenpresse, daß Rußland nur, wie andere Staaten auch, Anleihen im Ausland aufnehme. Besteht zwischen den Auslandsanleihen Rußlands und denen der übrigen Staaten ein wesentlicher Unterschied? Wenn andere große europäische Staaten Anleihen im Ausland aufgenommen haben, so geschah es meist aus Gründen vorübergehender Natur. Aber auch dort, wo aus dem einen oder andern Grunde die Aufnahme von Anleihen im Ausland zu dauernden Einrichtungen wurde, konnte man doch — ich erinnere an Österreich, Italien, ja sogar an Spanien — wahrnehmen, wie allmählich das einheimische Kapital vom Ausland die Renten zurückkaufte. Rußland ist aber d a r a u f a n g e w i e s e n , seine Anleihen ins Ausland zu begeben. Selbst wenn es wollte, wäre es nicht in der Lage, seinen Geldbedarf im eigenen Lande zu decken. Die große Komödie die wir jüngst bei der Subskription der russischen inneren Anleihen wahrnehmen mußten, wo die Polizei sich sogar liebevoll nach dem Interesse ihrer Schutzbefohlenen für die innere Anleihe erkundigte und wo schließlich aus dem Ausweis der russischen Reichsbank klar hervorging, daß die Staats- und Kommunalinstitute einen wesentlichen Teil der neuen Anleihen hatten aufnehmen müssen, beweist nur allzu deutlich, daß es Rußlands Bevölkerung sowohl an der notwendigen Kapitalskraft wie auch am Vertrauen zur eigenen Regierung fehlt, die nun einmal zur Unterbringung von Anleihen durchaus notwendig sind. Doch selbst wenn die notwendige Kapitalskraft vorhanden, wäre Rußland dennoch gezwungen, seine Anleihen ins Ausland zu begeben, weil, wie ich später näher darlegen werde, nicht anders die zerbrechliche russische Goldwährung zu schützen ist und weil Rußland ohne fortwährende neue Anleihen eben nicht in der Lage wäre, seinen Zinsverpflichtungen gegen das Ausland nachzukommen. Der Beweis für diese Behauptungen ist nicht leicht zu erbringen. Denn die Eigenart des russischen Budgets läßt dessen Zahlen noch um ein Erhebliches vieldeutiger erscheinen, als es Ziffern und Statistiken ohnehin schon sind, und die Lobredner



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des russischen Budgets haben eine um so leichtere Tätigkeit, als hinter ihnen die Macht großer Finanzgruppen steht, die ihren Worten durch die Gewalt ihrer Kapitalien den Schein der Richtigkeit verleihen. Hat doch sogar der deutsche Reichskanzler im Parlament darauf hinweisen können, daß der hohe Kursstand der rassischen Anleihen dafür spreche, daß im deutschen Publikum ein starkes Vertrauen zu den russischen Finanzen lebe. Das ist nur zu einem Teil richtig, denn die hohen Kurse der russischen Renten sind im wesentlichen auf eine — vom technischen Standpunkt aus bewundernswerte — Interventionstätigkeit der beteiligten Bankgruppen zurückzuführen. Soweit bei deutschen Kapitalisten wirklich Vertrauen zu den russischen Renten vorhanden ist, ist es nicht so sehr Vertrauen gegen Rußland als eben Vertrauen auf die Tüchtigkeit und Solidität der Bankhäuser, welche diese Renten in Deutschland emitiert haben. Auf die Dauer ist freilich der gegenwärtige russische Rentenkurs auch nicht durch das große Ansehen, das diese Häuser genießen, zu halten. Nur wenn Rußland selbst einsieht, daß die Garantien, die es augenblicklich bietet, absolut ungenügend sind, kann es daran denken, auf den europäischen Märkten noch ein weiteres Publikum für seine Anleihen zu finden. Es gibt nur zwei Wege: entweder bleibt Rußland politisch ein asiatisches Despotenreich, dann wird es, um seinen Gläubigern genügende Garantie für seine Anleihen bieten zu könneu, sich dazu bequemen müssen, eine europäische Finanzkontrolle im eigenen Lande walten zu lassen. Daß es sich dem widersetzt, daß es solche Maßnahmen für schimpflich hält, ja daß die russische Regierung gar nicht wagen darf, dem Volke eine derartig erniedrigende Maßregel vorzuschlagen, setze ich als selbstverständlich voraus. Dann aber bleibt nur die Möglichkeit der parlamentarischen Kontrolle und der verfassungsmäßigen Verpflichtung in der Weise Rechnung zu legen, wie es doch selbst in solchen europäischen Staaten üblich ist, in denen keine wirklich parlamentarische Regierung, sondern nur ein Scheinkonstitutionalismus herrscht. Daß es auf dem bisherigen Wege nicht weitergeht, das haben die Schriften Schara-



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pows, Butmis, Migulins, Issajews und Peter Struwes bewiesen, und auch, was die deutschen Schriftsteller Paul Rohrbach und von der Brüggen uns nach russischen Quellen mitgeteilt haben, läßt es geradezu als unbegreiflich erscheinen, daß der deutsche Kapitalist noch ferner sein Geld in den Abgrund Rußlands hineinwirft. Mag manches, was diese Schriftsteller geschrieben haben, übertrieben sein, mag ihnen manches Mißverständnis unterlaufen sein, wenn jedoch nur die Hälfte dessen, was sie schreiben, wahr ist — und es ist meines Erachtens nichts Wesentliches widerlegt worden — so ist das Grund genug, das deutsche Publikum darauf aufmerksam zu machen, welche Gefahr es läuft, wenn es unter den augenblicklichen Umständen dem russischen Staat weitere Millionen opfert. Der Krieg zwischen Japan und Rußland hat ganz zweifellos das herrschende russische Verwaltungssystem in den Bankerott gejagt. Jetzt, wo vor aller Augen, gleichsam auf offenem Markte die Geschwüre, die den russischen Volkskörper vergiften, bloßgelegt worden sind, würde es geradezu einen Preis auf die internationale Dummheit bedeuten, wenn europäische Kapitalisten weiter tatkräftig an der jährlichen Flickarbeit der russischen Finanzminister mithelfen wollten.

I. Das russische Budget. Daß man bei der Behandlung rein volkswirtschaftlicher und finanzpolitischer Fragen, so weit sie Rußland angehen, das Gebiet der allgemeinen Staatspolitik nicht außer acht lassen darf, ja daß man förmlich zum Politisieren gedrängt wird, ergibt sich für jeden, der sich einmal ernstlich damit beschäftigt hat, die russischen Finanzverhältnisse zu studieren. Eine genaue Analyse der russischen Staatswirtschaft ist so gut wie unmöglich durch die Eigenart seines Budgets. Uber die Art, wie es zustande kommt, hat man bisher in Deutschland leider nur allzu wenig gewußt. Selbst die



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pows, Butmis, Migulins, Issajews und Peter Struwes bewiesen, und auch, was die deutschen Schriftsteller Paul Rohrbach und von der Brüggen uns nach russischen Quellen mitgeteilt haben, läßt es geradezu als unbegreiflich erscheinen, daß der deutsche Kapitalist noch ferner sein Geld in den Abgrund Rußlands hineinwirft. Mag manches, was diese Schriftsteller geschrieben haben, übertrieben sein, mag ihnen manches Mißverständnis unterlaufen sein, wenn jedoch nur die Hälfte dessen, was sie schreiben, wahr ist — und es ist meines Erachtens nichts Wesentliches widerlegt worden — so ist das Grund genug, das deutsche Publikum darauf aufmerksam zu machen, welche Gefahr es läuft, wenn es unter den augenblicklichen Umständen dem russischen Staat weitere Millionen opfert. Der Krieg zwischen Japan und Rußland hat ganz zweifellos das herrschende russische Verwaltungssystem in den Bankerott gejagt. Jetzt, wo vor aller Augen, gleichsam auf offenem Markte die Geschwüre, die den russischen Volkskörper vergiften, bloßgelegt worden sind, würde es geradezu einen Preis auf die internationale Dummheit bedeuten, wenn europäische Kapitalisten weiter tatkräftig an der jährlichen Flickarbeit der russischen Finanzminister mithelfen wollten.

I. Das russische Budget. Daß man bei der Behandlung rein volkswirtschaftlicher und finanzpolitischer Fragen, so weit sie Rußland angehen, das Gebiet der allgemeinen Staatspolitik nicht außer acht lassen darf, ja daß man förmlich zum Politisieren gedrängt wird, ergibt sich für jeden, der sich einmal ernstlich damit beschäftigt hat, die russischen Finanzverhältnisse zu studieren. Eine genaue Analyse der russischen Staatswirtschaft ist so gut wie unmöglich durch die Eigenart seines Budgets. Uber die Art, wie es zustande kommt, hat man bisher in Deutschland leider nur allzu wenig gewußt. Selbst die



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ungeheuerlichsten Anschuldigungen, welche gegen die russischen Budgetaufstellungen vorgebracht sind, konnten eine durchschlagende Beweiskraft für die Haltlosigkeit des ganzen Systems um deswillen nicht beanspruchen, weil sie sich fast immer mehr gegen die Person der einzelnen Finanzminister, besonders gegen den seine Vorgänger weit überragenden Witte richteten. Vor einiger Zeit hat nun aber Prof. v. Reusner 1 ) die Methode entschleiert, nach der in Rußland Budgets aufgestellt werden. Hier von einer Methode zu reden, geht allerdings schlecht an, jedenfalls aber ist die Art, wie das Budget in Rußland zustande kommt, charakteristisch für das ganze russische Staatswesen, das sich in seinen äußeren Formalitäten gar zu gern den Anschein eines Kulturstaates gibt und deshalb seinen einzelnen Staatsinstitutionen europäisch klingende Namen beilegt. Wie wesentlich verschieden das russische Budget von dem aller andern europäischen Staaten ist, ersieht man schon aus der folgenden Äußerung von Reusner 2 ): „Die russische Regierung huldigt der Ansicht, daß das Gebiet der Staatsfinanzen in demselben Maße als jedes andere Gebiet der öffentlichen Tätigkeit, einer öffentlichen, rechtlichen Reglementierung obliegt und daß daraus zugleich sich die unbeschränkte Staatssouveränität ausdehnt. Privatrechtliche Normen gelten für die Staatsschulden nicht." Diese Angaben Reusners lassen den Schluß zu, den er übrigens auch selbst zieht, daß die Budgethandhabung im Rußland des 20. Jahrhunderts wesentlich zurücksteht hinter der, die in den westeuropäischen Staaten zur Zeit des absoluten Polizeistaates in Geltung war. Denn der Polizeistaat und besonders der Staat des aufgeklärten Despotismus bot doch wenigstens gewisse privatrechtliche Garantien, während im russischen Reiche in Wirklichkeit der Staatsschuldner durch die Regellosigkeit und Willkür im Budgetwesen der souveränen Staatsmacht genau so in die Hand gegeben ist, wie z. B. in der Türkei vor Einführung der europäischen x

) Russiches Finanzreeht, Plutus. 2. Jahrg. S. 78 ff. *) a. a. 0. S. 81.



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Finanzkontrolle. Reusner zitiert mehrere sehr angesehene Lehrer des russischen Finanzrechts, u. a. die Professoren Lebeden und Koskunow. Der letztere namentlich schildert die Art und Weise, in der das Budget in Rußland zusammengestellt wird, sehr anschaulich. Daß jeder Minister und jede einzelne Behörde so viel wie möglich bei der Etatsfestsetzung verlangten, ist keine Eigentümlichkeit der russischen Ministerien und Behörden — das soll dem Vernehmen nach auch bei uns der Fall sein. Aber während in Deutschland z. B. das Finanzministerium eine Art ausgleichender Gerechtigkeit bildet, die nach Kräften bemüht ist, sehr oft mehr als es guttut die Wünsche der einzelnen Ressorts zu beschneiden, ist es gerade der russische Finanzminister, der, wie Reusner anführt, den Löwenanteil der Ausgaben für sich in Anspruch nimmt. Im Staatsrate schachert man um die Beteiligung. Außer dem Finanzministerium, den Ministerien des Kaiserlichen Hauses und dem Ministerium für Krieg und Marine bekommen die einzelnen Ressorts überhaupt nur etwas, wenn an ihrer Spitze ein Günstling des Zaren oder eine ganz besonders einflußreiche Persönlichkeit steht. Nach langem Hin- und Herhandeln kommt man dann schließlich dazu, dem Zaren ein „einheitliches Budget vorzulegen, das in der Praxis um den teuren Preis der ungeheuren Etatsüberschreitung verwirklicht wird". 1 ) Diese Enthüllung ist besonders interessant. Der russische Finanzminister kann sich dem Ausland gegenüber niemals genug mit den großen Uberschüssen brüsten, die er gegen die jeweiligen Etatvoranschläge herauswirtschaftet. Ich will gar nicht leugnen, daß diese Überschüsse ab und zu wirklich normal erzielt werden und dann ein erfreuliches Moment der russischen Finanzwirtschaft bilden. Aber es ist in der russischen Literatur, soweit sie ins Deutsche übertragen worden ist, schon allzu oft darauf hingewiesen worden, daß die russische Uberschußwirtschaft etwas Willkürliches ist. Die Ausführungen Koskunows weisen auch die Gründe dafür auf. Wenn nämlich das Budget, das dem Zaren Koskunow, Rassisches Staatsrecht, Band II S. 33 ff.



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vorgelegt wird, um der sogenannten „einheitlichen Gestaltung" willen von allen beteiligten Ressorts durch große Konzessionen ermöglicht wird, Konzessionen, von denen man von vornherein weiß, daß sie lediglich auf dem Papier stehen, so ist es nötig, auch die Einnahmen denkbar gering zu veranschlagen. Denn nur unter dem Schutze außerordentlicher Mehreinnahmen gegenüber den Voranschlägen ist es möglich, die riesigen Etatsüberschreitungen zu verschleiern und dann sogar noch den Eindruck hervorzurufen, als ob nur aus der allersparsamsten Wirtschaft heraus diese Mehreinnahmen sich erklären lassen. Dazu kommt noch die außerordentliche Regellosigkeit in der Durchführung des Etats. Jeder Minister versucht für seinen Teil Uberschüsse aufzuspeichern, die er an die allgemeine Staatskasse nicht ausliefert. Professor Lebeden führt Fälle an, „wo einzelne Ministerien einen Teil ihrer Einkünfte zum Fond spezieller Mittel machen und diese der Staatskasse trotz aller Forderungen der Staatskontrolle entziehen; selbst der Anspruch der Staatskassen auf diese Summen gilt den Verwaltungsbehörden schon als Verletzung ihrer eigenen Interessen. Die Verzeichnung der speziellen Mittel, die dem Bericht der Staatskontrolle beigelegt ist, läßt keinen Begriff von ihrer Entstehung und Bestimmung machen."1) So kommt das sogenannte gesetzmäßige Budget zustande und so wird es durchgeführt. Neben diesem gesetzmäßigen Budget aber gibt es, wie Reusner versichert,2) noch ein besonderes administratives, und zwar kann es zur Anwendung kommen: infolge plötzlich eingetretener polizeilicher und militärischer Umstände, die besonders schnell und geheim erledigt werden müssen; außerdem gehört zum administrativen Budget der Etat des kaiserlichen Hofes, der naturgemäß vollkommen von der Willkür des Kaisers abhängt; und endlich hat der Kaiser das Recht, auf administrativem Wege Subsidien an verschiedene Personen anzuweisen. x ) Ich zitiere nach Reusner a. a. 0. S. 80, der sich auf Lebeden, Finanzrecht, Bd, I S. 770ff. beruft. 2 ) a. a. 0 . S. 78.

— 13 — Wenn die Dinge so liegen, kann man sich allerdings nicht wundern, wenn Reusner sagt 1 ): „die russische Wissenschaft und die gebildeten Kreise wissen schon längst, daß das Budget nur ein Zierstück für das Ausland ist, ein Zierstück, das nur eine Bedeutung haben kann: es ist im besten Falle ein Musterplan dafür, wie jahraus jahrein unter dem Namen finanzieller Maßregeln die russische Staatskasse ausgeplündert wird." Ich will nicht einmal dieses harte Urteil in seinem ganzen Umfange zu dem meinigen machen; aber ich glaube, eins geht doch auf alle Fälle daraus hervor, daß nämlich das russische Budget nicht die völlige Vertrauenswürdigkeit besitzt, um es so ohne weiteres zur Grundlage finanzpolitischer Betrachtungen zu machen, wie es die Herren Leroy-Beaulieu und Prof. Helfferich getan haben. Ich bin aber weiter auf Grund eigener Wahrnehmungen der Ansicht, daß schon das, was wir von dem „gesetzmäßigen Budget" zu sehen bekommen, vollauf genügt, um der russischen Finanzgebahrung ein starkes Mißtrauen entgegenzubringen. Zunächst stört eine vergleichende Betrachtung die Tatsache, daß das russische Budget in seiner Struktur einem fortwährenden Wechsel unterworfen ist. Neue Posten treten ohne weiteres in die Kapitel, in denen bisher alte ganz andere Ausgaben verzeichnet standen. Ich verweise nur auf ein ganz charakteristisches Beispiel: Im Voranschlag für 1902 findet sich unter der Abteilung E I § 12 Paßgebühr veranschlagt mit 5 0 0 0 0 Rubel, im Voranschlag für 1903 sind die Paßgebühren durch einen Strich bezeichnet, das heißt sie sind vermutlich fortgefallen oder anderswo eingestellt. Im Voranschlag für 1904 sind die Paßgebühren gar nicht mehr aufgeführt, dafür aber ist als § 12 in die JH. Abteilung eingestellt eine Rubrik Hafengebühr mit 3,36 Millionen Rubel, daneben steht in der Vergleichsrubrik des Jahres 1903 ganz vergnügt 2,51 Millionen, wie wenn das schon seit Urväterzeiten dagestanden hätte. Der russische Etat überläßt es dem Leser, durch Vergleichung festzustellen, daß in diesem Jahre der § 15: „Verschiedene Ge!) a. a. 0. S. 80

— 14 — bühren" niedriger veranschlagt worden ist, daß also die Hafengebühr aus der Gruppe der allgemeinen Gebühr herausgenommen ist und dafür vermutlich die Paßgebühr wegen ihrer Bedeutungslosigkeit in die allgemeine Rubrik mit eingestellt wurde. Dieser Fälle zählte ich fast in jedem Budget mehrere. Und die einzige Erklärung für solche Verschiedenheit gibt die stereotype Anmerkung am Schluß des Finanzberichts: Behufs leichterer Yergleichung weisen einige Einnahmen und Ausgaben in der Rubrik für das Vorjahr andere Ziffern auf, als im Budget für dieses Jahr angegeben waren — entsprechend den bei der Bestätigung der Voranschläge für das Jahr 1901 erfolgten Änderungen in der Gruppierung der Summen." Es soll nicht geleugnet werden, daß die Budgetberichterstattung Rußlands seit dem kaiserlichen Ukas vom 4. Juni 1894 entschieden besser geworden ist. Vor diesem Ukas nahm der Finanzminister die Verteilung der Einnahmen und Ausgaben auf das ordentliche und außerordentliche Budget ganz nach Gutdünken vor, so daß vor jener Zeit eine Kontrolle und Vergleichung der Finanzen überhaupt ganz unmöglich war. Dieser Ukas bestimmt, daß in das außerordentliche Budget aufgenommen werden müssen a) in den Einnahmen: die aus Anleihen und anderen Kreditoperationen eingegangenen Summen, die sogenannte ewige Anlage in die Staatsbank, freigewordene Kapitalien oder der Erlös großen Staatsbesitzes, sowie endlich die Zahlungen, die aus Anleiherückzahlungen der Eisenbahngesellschaften resultieren; b) in den Ausgaben: die Folgen unvorhergesehener Unglücksfälle wie Krieg, Mißernte, Epidemien usw., die Kosten für die Errichtung neuer Eisenbahnlinien, sowie die Anschaffung neuer Betriebsmittel für alte Linien, die Darlehen an die Eisenbahngesellschaften und Tilgung von Staatsanleihen, die vor dem Fälligkeitstermin vorgenommen werden. Auf die Bedeutung des außerordentlichen Budgets wird später noch zurückzukommen sein; aber ein paar Worte sind doch auch hier schon am Platze. Die Teilung in außerordentliche und ordentliche Budgets ist ja Gegenstand eines ewigen Disputs zwischen den Gelehrten der Finanzwissenschaft. Es ist in der

— 15 — Tat nicht immer ohne weiteres festzustellen, ob eine Ausgabe sich als außerordentliche oder als ordentliche charakterisiert. Die Anschauung darüber wird verschieden sein, je nachdem man sich auf den Standpunkt des Ressortministers oder auf den Standpunkt des Staatsganzen stellt. Davon wird es auch abhängen, wie man den Ukas vom Jahre 1904 beurteilt. Daß der Bau neuer Eisenbahnlinien z. B. an und für sich auf den außerordentlichen Etat gehört, soll zugegeben werden; doch können derartige Ausgaben und müssen dann zu ordentlichen werden, wenn, wie das z. B. in Rußland der Fall ist und wie ich später noch ausführen werde, die ständige Erweiterung des Eisenbahnnetzes ein wesentlicher Bestandteil der allgemeinen Staatspolitik ist. Gar kein Streit kann aber darüber sein, daß die Anschaffung neuer Betriebsmittel für die alten Linien unter rein budgetrechtlichen Gesichtspunkten nicht auf den außerordentlichen Etat gehört, schon deshalb nicht, weil diese Erneuerungen unter gar keinen Umständen durch Anleihen gedeckt werden dürfen, sondern durch eine Ansammlung aus den Betriebsüberschüssen vorangegangener Jahre. Bemerkenswert ist aber weiter, daß das außerordentliche Budget Rußlands in seinen Einnahmen zum überwiegenden Teil aus den Erträgnissen von Staatsanleihen und Kreditoperationen gespeist wird. Wie Davidsohn1) angibt, lieferten die Kreditoperationen 19/2o sämtlicher außerordentlicher Summen für den Zeitabschnitt von 1832—1897. In späteren Zeitläuften hat sich dieses Verhältnis keineswegs wesentlich verschoben.

II. Die Staatsschulden Bußlands. Die Kreditoperationen und Anleihen nehmen überhaupt im russischen Budget eine Stellung ein wie kaum in einem anderen Staat. Am 1. Januar 1904 betrug die Staatsschuld Rußlands nach *) Die Finanzwirtschaft Rußlands. Leipzig, Verlag von Otto Wiegand, 1902, S. 77.

— 15 — Tat nicht immer ohne weiteres festzustellen, ob eine Ausgabe sich als außerordentliche oder als ordentliche charakterisiert. Die Anschauung darüber wird verschieden sein, je nachdem man sich auf den Standpunkt des Ressortministers oder auf den Standpunkt des Staatsganzen stellt. Davon wird es auch abhängen, wie man den Ukas vom Jahre 1904 beurteilt. Daß der Bau neuer Eisenbahnlinien z. B. an und für sich auf den außerordentlichen Etat gehört, soll zugegeben werden; doch können derartige Ausgaben und müssen dann zu ordentlichen werden, wenn, wie das z. B. in Rußland der Fall ist und wie ich später noch ausführen werde, die ständige Erweiterung des Eisenbahnnetzes ein wesentlicher Bestandteil der allgemeinen Staatspolitik ist. Gar kein Streit kann aber darüber sein, daß die Anschaffung neuer Betriebsmittel für die alten Linien unter rein budgetrechtlichen Gesichtspunkten nicht auf den außerordentlichen Etat gehört, schon deshalb nicht, weil diese Erneuerungen unter gar keinen Umständen durch Anleihen gedeckt werden dürfen, sondern durch eine Ansammlung aus den Betriebsüberschüssen vorangegangener Jahre. Bemerkenswert ist aber weiter, daß das außerordentliche Budget Rußlands in seinen Einnahmen zum überwiegenden Teil aus den Erträgnissen von Staatsanleihen und Kreditoperationen gespeist wird. Wie Davidsohn1) angibt, lieferten die Kreditoperationen 19/2o sämtlicher außerordentlicher Summen für den Zeitabschnitt von 1832—1897. In späteren Zeitläuften hat sich dieses Verhältnis keineswegs wesentlich verschoben.

II. Die Staatsschulden Bußlands. Die Kreditoperationen und Anleihen nehmen überhaupt im russischen Budget eine Stellung ein wie kaum in einem anderen Staat. Am 1. Januar 1904 betrug die Staatsschuld Rußlands nach *) Die Finanzwirtschaft Rußlands. Leipzig, Verlag von Otto Wiegand, 1902, S. 77.



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dem „Gothaer Hofkalender" 6,63 Milliarden Rubel. Sie war am 1. Januar 1905 durch den Krieg auf 7,07 Milliarden Rubel angewachsen, die Schuld hat sich also etwa seit dem Jahre 1870, wo sie rund 1,8 Milliarden betrug, um 5 Milliarden Rubel vermehrt. Rußland nimmt in bezug auf seine Verschuldung den dritten Rang unter den europäischen Staaten ein. Leroy-Beaulieu1) gibt die französischen Schulden auf über 35 Milliarden Francs an und die englischen auf ungefähr 20 Milliarden, wobei er jedoch richtig bemerkt, daß England diese Höhe erst seit dem südafrikanischen Kriege erreicht hat. In der Tat ist auch erst seit jener Zeit England stärker verschuldet als Rußland. Für 1897 beziffert Davidsohn2) die Schulden Rußlands auf 670 Millionen Pfund Sterling, Englands auf 645 Millionen Pfund Sterling. Aber selbst wenn England gar erheblich stärker verschuldet wäre, wie Rußland, so ist schon aus einem rein technischen Grunde ein einigermaßen zuverlässiger Vergleich Rußlands mit England gar nicht möglich. Während nämlich das Bestreben des englischen Staates darauf ausgeht, seine Schulden schnell und stark zu tilgen, kennt der russische Staat dieses Bestreben gar nicht, kann es auch gar nicht kennen aus Gründen, die ich später noch darlegen werde. Am 1. Januar 1904 8 ) verzinste Rußland seine Gesamtschuld im Durchschnitt netto mit 3,86 %. Inzwischen dürfte sich dieser Durchschnittszinssatz durch den ungünstigen Zinsfuß der Kriegsanleihe immerhin etwas verändert haben. Am 1. Januar 1905 war die gesamte Jahreslast des Anleihedienstes mit 302,53 Millionen Rubel veranschlagt. Wenn man die letzte Steigerung der russichen Staatsschuld ins Auge faßt — sie betrug nach Helfferich4) von 1888 bis 1904 für die verzinsliche Schuld 50% — und gleichzeitig in Betracht !) a. a. 0. ») a.a.O. S. 81. 3 ) Bulletin russe de statistique financière et de législation année 1904; livraison I p. 33. a. a. 0. S. 1042.

— 17 — zieht, daß im Jahre 1886 für den Anleihedienst 264,5 Millionen, 1905, wie oben angegeben, 302,53 Millionen nötig waren, so muß man zugeben, daß die Erhöhung der Zinslast verhältnismäßig recht gering gewesen ist. Der Grund hierfür ist in den großen Konversionen Rußlands zu Beginn des neuen Jahrhunderts zu suchen, anläßlich deren es Rußland möglich war, das Nominale der Staatsschuld erheblich zu vermehren, dagegen nicht unwesentliche Zinsersparnisse durchzusetzen. Dadurch hat die innere Natur des Anleihedienstes natürlich eine durchgreifende Veränderung erfahren. Mit Recht weist Helfferich darauf hin, daß im Jahre 1888 vom gesamten Anleihedienst 53 Millionen Rubel auf die Amortisation und 213,2 Millionen Rubel auf die Zinsen entfielen, während vom Voranschlag für 1904 nur 24,3 Millionen Rubel für die Amortisation und 264,5 Millionen Rubel für die Verzinsung der Schuld vorgesehen waren. Charakteristisch für Rußland ist es übrigens, daß es nicht, wie die westlichen Staaten Europas, soweit sie in finanzieller Beziehung als first rate gelten, die Konversionsmöglichkeit dazu benutzten, das Land zu entlasten, sondern vielmehr dazu, die Summe, die es durch die Konversion jährlich hätte ersparen können, gleich in der Ausgabe neuer Anleihen zu kapitalisieren. Ein Teil dieser neuen Titres hat allerdings wohl als Konversionsprämie ausgegeben werden müssen, aber insgesamt hat Rußland 275 Millionen nominal neuer Nominalschulden aus der Konversion geschaffen. Eine Jahreslast für Zinsen uud Amortisation des Schuldkapitals in Höhe von 302 Millionen Rubel ist gewiß stattlich, und man kann über diese Summe nicht so hinwegvoltigieren, wie Herr Leroy-Beaulieu es in dem mehrfach von mir herangezogenen Artikel tut. Herr Leroy-Beaulieu hat sich eine Theorie zurechtgelegt, wonach eine Staatsschuld „erst dann beunruhigend wird, wenn die jährliche Belastung, die sie den Staaten auferlegt, 35—40°/o des Betrages der budgetmäßigen Einnahmehilfsquellen übersteigt". Diese Prozentsätze entspringen einer rein theoretischen Auffassung der Dinge. Es kommt doch ganz wesentlich B e r n h a r d , Rußland.

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darauf an, woraus die Einnahmen sieh zusammensetzen und wie die Wirtschaftsverfassung des betreffenden Landes aussieht. Herr Leroy-Beaulieu berechnet, daß die Annuität der russischen Staatsschuld am 1. Januar 1905 kaum 1 5 % der Staatseinnahmen, die im Budget für 1903 ausgewiesen sind, ausmachen. Ich sehe ganz davon ab, daß diese Schuld inzwischen ja noch ganz erheblich gewachsen ist, während die russischen Einnahmen durch den Krieg eine bedenkliche Schmälerung erfahren haben. Aber selbst wenn man Herrn Leroy-Beaulieus Grundlage anerkennt, so hat seine Rechnung ein Loch, das er zu einem Teil allerdings bereits selbst zustopft: Das russische Budget ist nämlich kein Nettobudget, sondern ein Bruttobudget, es stellt ins Ordinarium die Einnahmen von den Staatsregalien und Steuern ohne die Kosten ein, die ihre Realisierung verursacht. Herr Leroy - Beaulieu sieht sich daher bereits genötigt, von den Einnahmen für 1903 316,92 Millionen Rubel Betriebsausgaben des Staatsbahnnetzes, sowie 99,5 Millionen Rubel Ausgaben für Verbesserungen und endlich 170,59 Millionen Betriebskosten des Branntweinmonopols, alles zusammen mit 586 Millionen Rubel in Abzug zu bringen und erhält dann eine Budgeteinnahmeziffer von 1471 Millionen Rubel. Nach seiner Berechnung bedingt dann der jährliche Schuldendienst einen Satz von etwa 2 1 % der so berechneten Nettoeinnahmen. Ganz stimmt auch diese Rechnung nicht. Zunächst berechnet er die Einnahmen einschließlich der Uberschüsse aus der vorjährigen Finanzgebahrung in Höhe von 25 Millionen Rubel. Einen derartigen Vortrag aber kann man unmöglich einbeziehen, wenn man das r e g u l ä r e Prozentverhältnis zwischen den Aufwendungen für den Anleihedienst und den Einnahmen im Ordinarium ausrechnen will. Leroy-Beaulieu dürfte also hier nur die Summe von 2031 Millionen Rubel in Ansatz bringen. Will man genau rechnen, so darf man sich nicht damit begnügen, die von Leroy-Beaulieu in Anrechnung gebrachten Summen abzusetzen, sondern muß genau diejenigen Ausgaben berechnen, die von den Bruttoeinnahmen des Budgets abzusetzen

— 19 — sind, um ihnen den Charakter von Nettoeinnahmen zu geben. Das sind — ich berechne, da ich das realisierte Budget nicht zur Hand habe, aus dem Voranschlag für 1904 — folgende Posten: Finanzministerium. Mill.Rubel Herstellung von Wertpapieren und von Stempelpapier 2,37 Ausgaben beim fiskalischen Branntweinverkauf 172,56 Vorarbeiten zur Weiterausdehnung des fiskalischen Branntweinverkaufs 3,09 Anmietung von Gebäuden und Baukosten, Wirtschaftsausgaben für das Zollwesen und Betriebsausgaben 9,06

L a n d w i r t s c h a f t s - und Domänenministerium. Bau- und Wirtschaftsbetriebsausgaben Landschaftliche Grundsteuer und Kommunalsteuer für Domänen, Land und Forsten

22,69 6,67

Ministerium des Innern. Unterhalt der Poststationen 5,— Unterhalt der Kroneanlagen im Post- und Telegraphenressort und Erweiterung der Telegraphen- und Telephonlinie 6,06 Unterhalt der Wasserwege und Chausseen 27,17 Ausgaben für den Betrieb der Staatseisenbahn 329,23 Zur Verstärkung und Verbesserung der Eisenbahnen 66,18 Zur Beschaffung von Rollenmaterial und Bedarfsgegenständen für die Staatsbahn • 43,54

H a u p t v e r w a l t u n g für H a n d e l s - , Schiffahrts- und Hafenwesen. Wirtschaftliche Betriebsausgaben

10,67

Justizministerium. Mit der Ausübung der Justizpflege verbundene Ausgaben . . . .

1,05 704,79

Zieht man den so erhaltenen Betrag von rund 705 Millionen von den Bruttoeinnahmen, die auf 1,98 Milliarden veranschlagt sind, ab, so erhält man als Nettoergebnis 1,275 Milliarden. Nun sind pro 1904 an Zahlungen für die Staatsanleihen 289,3



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Millionen veranschlagt, also beinahe 2 3 % der Nettoeinnahmen. Das ist allerdings von der Grenze, die Leroy-Beaulieu für gefährlich hält, noch ziemlich weit entfernt. Aber ich glaube doch, man muß hier berücksichtigen, daß in Wahrheit die russische Staatsschuld viel höher ist. Besonders kann man nicht ohne Beachtung lassen, daß der russische Staat für ganz erhebliche Beträge von Obligationen, die seitens der Privatbahn ausgegeben wurden, Garantien übernommen hat. Die Lasten aus solchen Garantien sind, in den Voranschlag für das Jahr 1904 mit 20 Millionen Rubel eingestellt. Diese Summe muß doch selbstverständlich bei der Berechnung der Staatsschuld mit in Ansatz gebracht werden. Dann aber ergibt sich für den Schuldendienst die Summe von rund 310 Millionen, d. h. etwa 2 5 % der Nettoeinnahmen. Wie ich später zeigen werde, ist die Entwicklung der russischen Privatbahnen vor der Hand absolut nicht so, daß man auf eine Abnahme der jährlichen Verpflichtung des russischen Staates aus den Garantien für sie rechnen kann, sondern es liegt im Gegenteil die Vermutung nahe, daß die Garantiezuschüsse im Laufe der Jahre wenigstens für die nächste Zeit sich noch erheblich erhöhen können. Außerdem kommt aber endlich bei einer Vergleichung der russischen Staatsschuld mit der eines anderen Staates in Frage, daß die Kreditbillets der russischen Reichsbank eine unverzinsliche Schuld des russischen Staates darstellen. Dadurch, daß sich der Staat dieser irregulären in einem konstitutionellen Staat überhaupt nicht vorkommenden Mittel zur Geldbeschaffung bedient, ermäßigt sich natürlich die Annuität, die er bei regulärer Finanzgebahrung für den Dienst seiner wirklichen Staatsschuld aufzuwenden gezwungen wäre. Gleichzeitig aber ist er durch die Anwendung der Notenpresse in der Lage, seinen wahren Verschuldungsstand niedriger darzustellen, also zu verschleiern. Bevor ich auf diese Höhe der russischen Verschuldung, auf die sich, wie ich soeben nachgewiesen zu haben glaube, ein genauer Schluß aus der Annuitätsziffer gar nicht ziehen läßt, übergehe, scheinen mir noch ein paar Worte am Platz, die die Leroy-



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Beaulieusche schematische Prozentrechnung in ihrer ganzen Haltlosigkeit kennzeichnen. Nach dem definitivem Ordinarium des Budgets von 1903 sind die Einnahmen mit 2,03 Milliarden beziffert. Wie setzen sich diese Einnahmen nun zusammen? Die direkten Steuern repräsentieren 6,7%, die indirekten Steuern 21,7%, die Regalien und Monopole 29,9 °/ 0 und die Eisenbahnen ergeben 28°/o. Ein relativ günstiges Bild. Nur fälscht es die Tatsachen. In Wirklichkeit erfordern nämlich die russischen Eisenbahnen, wie später zu zeigen sein wird, Zuschüsse und bringen keine Gewinne. Die Regalien und Monopole kommen in Wirklichkeit zu einem wesentlichen Teil einer indirekten Besteuerung des Konsums gleich, da der Staat es absolut in der Hand hat, die Monopolpreise festzusetzen, wie er sie für richtig hält. Aber am meisten kennzeichnend ist es, daß die direkten Steuern nur 6,7%, die indirekten Steuern beinahe einen viermal so großen Teil der Einnahmen erbringen. Aus dieser Gegenüberstellung, ergibt sich schon ohne weiteres, wie irrig es ist, die finanziellen Verhältnisse eines Staates nach dem Prozentsatz zu berechnen, der das Verhältnis der Ausgaben für die Staatsschuld zu den Gesamteinnahmen ausdrückt. Es kommt doch im wesentlichen darauf an, wie diese Ausgaben aufgebracht werden und wie die ganze wirtschaftliche Lage der Bevölkerung dadurch affiziert wird.

III. Die Ursachen der Verschuldung. Wenn man die außerordentlich geschickt zusammengestellten Ausführungen der offiziösen russischen Finanzagenten überliest, so fragt man sich erstaunt, wofür denn Rußland eigentlich seine Schulden aufgenommen hat. Helffericherklärt sich mit der von russischer Seite aufgestellten Berechnung vollkommen einverstanden, wonach die ordentlichen Etats des russischen Reichs in den Jahren i) a. a. 0. S. 1043.



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Beaulieusche schematische Prozentrechnung in ihrer ganzen Haltlosigkeit kennzeichnen. Nach dem definitivem Ordinarium des Budgets von 1903 sind die Einnahmen mit 2,03 Milliarden beziffert. Wie setzen sich diese Einnahmen nun zusammen? Die direkten Steuern repräsentieren 6,7%, die indirekten Steuern 21,7%, die Regalien und Monopole 29,9 °/ 0 und die Eisenbahnen ergeben 28°/o. Ein relativ günstiges Bild. Nur fälscht es die Tatsachen. In Wirklichkeit erfordern nämlich die russischen Eisenbahnen, wie später zu zeigen sein wird, Zuschüsse und bringen keine Gewinne. Die Regalien und Monopole kommen in Wirklichkeit zu einem wesentlichen Teil einer indirekten Besteuerung des Konsums gleich, da der Staat es absolut in der Hand hat, die Monopolpreise festzusetzen, wie er sie für richtig hält. Aber am meisten kennzeichnend ist es, daß die direkten Steuern nur 6,7%, die indirekten Steuern beinahe einen viermal so großen Teil der Einnahmen erbringen. Aus dieser Gegenüberstellung, ergibt sich schon ohne weiteres, wie irrig es ist, die finanziellen Verhältnisse eines Staates nach dem Prozentsatz zu berechnen, der das Verhältnis der Ausgaben für die Staatsschuld zu den Gesamteinnahmen ausdrückt. Es kommt doch im wesentlichen darauf an, wie diese Ausgaben aufgebracht werden und wie die ganze wirtschaftliche Lage der Bevölkerung dadurch affiziert wird.

III. Die Ursachen der Verschuldung. Wenn man die außerordentlich geschickt zusammengestellten Ausführungen der offiziösen russischen Finanzagenten überliest, so fragt man sich erstaunt, wofür denn Rußland eigentlich seine Schulden aufgenommen hat. Helffericherklärt sich mit der von russischer Seite aufgestellten Berechnung vollkommen einverstanden, wonach die ordentlichen Etats des russischen Reichs in den Jahren i) a. a. 0. S. 1043.



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1892 bis 1901 Uberschüsse von insgesamt mehr als einer Milliarde Rubel abgeworfen haben, die in der Hauptsache für die Deckung der Erweiterungskosten des Eisenbahnnetzes verwandt wurde. Nach seiner Annahme sind also die Eisenbahnen aus den Überschüssen der ordentlichen Etats gebaut. Der Uberschuß des ordentlichen Etats versteht sich inklusive der Deckung der Anleiheannuität, so daß man nach der Äußerung der journalistischen Vertreter Rußlands, denen auch Helfferich recht gibt, annehmen muß, die Eisenbahnkosten und die Annuität der Staatsschuld würden aus dem ordentlichen Etat bestritten. Wofür denn aber, so fragt man sich, die vielen Anleihen? Nach einer Ubersicht, die sich in einer offiziösen russischen Kundgebung1) präsentiert, betrugen nun die Ausgaben des außerordentlichen Etats in den Jahren 1893 bis 1902 insgesamt 2,75 Milliarden Rubel. Davon benötigte die Staatsbahn rund eine Milliarde; die Einnahmen des außerordentlichen Etats, deren Natur sofort näher untersucht werden wird, beliefen sich auf 1,16 Milliarden. Darnach könnte man allerdings annehmen, daß gerade die Summe der Eisenbahnkosten aus den Uberschüssen des ordentlichen Etats zu decken war und gedeckt worden ist. Aber hier tritt die eigentümliche Etatsaufmachung des russischen Reiches als täuschendes und verschleierndes Moment der Kritik entgegen. Rußland operiert ständig mit enormen Uberschüssen des ordentlichen Budgets. Dieser Uberschuß war im Jahre 1893 2 ) mit 44 Millionen Rubel eingestellt, erreichte im Jahre 1898 seinen Höhepunkt mit 237,88 Millionen und ist 1902 mit 122,97 Millionen angegeben. Dieser hohe Überschuß wird dadurch erzielt, daß nach dem Ukas von 1894 zwar die Posten für Neubewaffnung der Armee dem o r d e n t l i c h e n Etat überwiesen sind, dafür aber in die Ausgaben

Bulletiii russe de statistique financière et de législation année 1904, livraison I. 2)

St. Petersburg 1904, p. 163.

Ich arbeite hier absichtlich mit den Zahlen für die Etats von 1893

bis 1902, weil über sie eine offiziöse russische Bearbeitung existiert, während eine solche für die neueren Etats noch nicht vorliegt.

— 23 — des a u ß e r o r d e n t l i c h e n Etats sämtliche Kosten für die Erweiterung bei älteren und dem Bau neuer Linien eingestellt werden. Diese Ausgaben gehören zweifellos nicht in den außerordentlichen Etat und zwar unter zwei Gesichtspunkten: Zunächst ist in Betracht zu ziehen, daß die Ausgaben sich zu einem ganz erheblichen Teil auf den Ausbau der sibirischen Bahn beziehen. Nachdem man einmal diesen Bahnbau beschlossen hatte, wurde die Ausgabe für deren einzelne Strecken zweifellos zu einer ordentlichen. Denn angesichts der erheblichen strategischen Wichtigkeit, welche diese Linie für das russische Reich haben sollte, wäre es ganz unmöglich gewesen, sie unvollendet liegen zu lassen. Es mußte also weiter gebaut werden. Dazu kommt aber noch, daß der Bahnbau der sibirischen Linie eine wesentliche Konsequenz der gesamten russischen Reichspolitik ist. Nicht nur die sibirische Bahn, sondern fast die gesamten russischen Bahnlinien der letzten Zeit sind gebaut worden, um Rußland strategisch in den Stand zu setzen, seine Machtstellung in Ostasien zu behaupten. Man kann mithin sagen, daß eigentlich der Bau der sibirischen Bahn und der anderer östlicher Bahnen genau denselben Zwecken diente, wie die Bewaffnung der Armee. Es handelte sich dabei eben um eine Erhöhung der Schlagfertigkeit des Heeres. Wenn man nun die übrigen Heeresausgaben dem ordentlichen Etat überwies, so hätte man folgerichtig ebenso mit den Ausgaben für die Eisenbahn verfahren müssen. Auch die russischen Offiziösen scheinen derselben Ansicht zu sein: Im Bulletin russe 1 ) für 1904 finde ich eine Zusammenstellung der „Bestandteile des außerordentlichen Budgets, die ohne Nachteil im ordentlichen Budget hätte figurieren können". Uber ihnen figurieren für die Jahre 1893 und 1894, in denen der oben zitierte kaiserliche Budgetukas noch nicht wirksam war, die Ausgaben für Eisenbahnen und Häfen und die Neubewaffnung der Armee, für die späteren Jahre bis 1902 fast nur die Ausgaben für die Eisenbahn. Auch das soll den Eindruck erwecken, als ob diese Ausgaben zwar auf dem außeri) S. 164.

— 24 — ordentlichen Budget figurieren, in Wirklichkeit aber durch die Überschüsse des ordentlichen Budgets gedeckt worden sind, so daß ihre Aufführung im außerordentlichen Etat lediglich eine Buchungssache sei. Zunächst ist es nicht ohne Interesse, den Uberschuß, der im ordentlichen Budget ausgewiesen wird, einmal mit diesen sogenannten „ ordentlichen Ausgaben aus dem außerordentlichen Budget" zusammenzustellen, um daraus zu ersehen, wie denn eigentlich das wirkliche Resultat des ordentlichen Budgets sich ausnimmt. Das ist ersichtlich aus der nachfolgenden Tabelle: Nomineller Uberschuß im ordentlichen Budget 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902

44,16 109,28 135,12 197,12 129,66 237,99 217,69 208,69 169,92 122,97

Ordentliche Ausgaben aus dem Wirkliches Resultat des ordentaußerordentlichen Budgets lichen Budget 100,37 129,04 95,77 132,31 129,19 239,51 108,11 164,74 101,04 184,69

— 56,16 - 19,76 39,35 64,81 0,47 — 1,63 109,58 43,95

Î Î -

68,88

61,72

Die Tabelle zeigt, daß in vier von diesen zehn Jahren das ordentliche Budget, wenn man die Ausgaben für Eisenbahnen einrechnet, in Wirklichkeit einen Zuschuß erforderte und keinen Uberschuß erbrachte. Freilich sind auch Jahre darunter, die noch immer ganz respektable Überschüsse erbringen. Ein wesentlich anderes Bild aber bietet sich uns, wenn wir einmal in logischer Weise das ordentliche und außerordentliche Budget zusammenstellen. Rußland pflegt bei der Deckung seines Budgets immer mit dem „Überschuß der Reichsrentei" zu manipulieren. Dieser „freie Barbestand", wie die offizielle Bezeichnung dafür lautet, ist die geheimnisvolle Hilfsquelle, aus der stets zu einem großen Teil die Mittel zur Deckung des wirklichen Defizits

— 25 — genommen werden. Charakteristisch dafür, zu welchen Irrtümern dieser Posten führt, ist eine Zuschrift, die am 27. Januar dieses Jahres die „Frankfurter Zeitung" veröffentlichte. In ihr hieß es u. a.: „Wer die russischen Finanzverhältnisse mit Aufmerksamkeit studiert, kann sich der Tatsache nicht verschließen, daß fortdauernd (ganz abgesehen von den privaten Gesellschaften) auch vom Staate große Eisenbahnbauten durchgeführt werden, für welche die Mittel aus den ordentlichen Einnahmen des Budgets genommen werden. Es geschieht dies in der Weise, daß aus den Kassebeständen Gelder zur Begleichung aus dem außerordentlichen Budget angewiesen werden. Diese Barbestände verdanken aber ihre Entstehung sowie ihre Neuauffüllung dem Umstand, daß das realisierte Budget, d. h. die Effektiveinnahmen stets wesentlich größere als die sehr vorsichtig aufgestellten Voranschläge sind. Diesem Umstand ist es auch zu danken, daß für ein so enormes Werk, wie der Bau der sibirischen Eisenbahn, keine Anleihen aufgegenommen wurden." In ihrer Replik gegen diese Zuschrift weist die Frankfurter Zeitung sehr richtig darauf hin, daß dieser freie Barbestand zu einem erheblichen Teile durch den Erlös von Anleihen entstanden sind. Die russische Regierung nimmt nämlich nur in ganz seltenen Fällen zu speziellen Zwecken Anleihen auf; sie läßt vielmehr den Erlös der Anleihen, soweit er im Budget überhaupt Verbuchung findet (was natürlich nicht unbedingt nötig ist, wenn eine Anleihe nicht zu budgetmäßigen Zwecken verwandt wird) dem freien Barbestand der Reichsrentei zufließen. Und mit diesem freien Barbestand, dem allerdings auch die Uberschüsse aus den Budgets zugeführt werden, alimentiert er dann, falls es nötig ist, das außerordentliche Budget. Die Frankfurter Zeitung hat zweifellos völlig recht, wenn sie sagt, Rußland brauchte sich gar nicht zu genieren, für ein Riesenwerk, wie es die sibirische Eisenbahn ist, eine Anleihe aufzunehmen. Aber Rußland müßte es dann offen eingestehen und nicht fortwährend so tun, als ob wirklich aus reellen Uberschüssen der ordentlichen Etats diese Riesenbauten bestritten worden sind. Tatsächlich ist das nicht der Fall gewesen, und das wird uns sofort



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klar, wenn wir uns die einzelnen Titel des außerordentlichen Etats ansehen. In den Jahren 1893 bis 1902 hatte Rußland auf dem außerordentlichen Etat eine Einnahme von 1,16 Milliarden.1) Davon stammten allein 1,02 Milliarden aus Anleihen. Berücksichtigt man dies, so stellen sich zunächst die Ziffern des außerordentlichen Budgets ganz anders, wie sie offiziell angegeben werden: Außerordentliche Budgets.

1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902

Einnahmen ans Anleihen

Nominelles Ergebnis

Wirkliches Defizit

162,59 5,74 156,41 25,87 32,34 77,65 174,15 28,95 157,48 197,04

+ 60,79 — 85,01 —220,73 -211,81 —162,36 -326,12 —137,69 —301,22 — 45,45 —162,90

101,80 90,75 377,14 237,68 184,70 403,77 311,84 330,17 202.93 359.94

Die Tabelle zeigt in der zweiten Spalte das nominelle Ergebnis des außerordentlichen Budgets, so wie es aus den offiziösen Zusammenstellungen2) zu ermitteln ist. Davon habe ich die Einnahmeposten aus Anleihen (Spalte 1) abgezogen, so daß in der dritten Spalte das wirkliche Defizit des außerordentlichen Budgets in die Erscheinung tritt. Nur mit diesem so gewonnenen Budgetresultat darf man arbeiten, wenn man ein wirkliches Bild der russischen Finanzen entrollen will. Denn wenn wir nun, wie das in der folgenden Tabelle geschieht, den Überschuß im ordentlichen Budget und das wirkliche Defizit des außerordentlichen Budget gegenüberstellen, so ergibt sich, daß per Saldo ein ganz erheblicher Betrag in jedem Jahr durch Anleihen zu decken gewesen ist: !) Bulletin russe 1904 Seite 163. 2 ) Bulletin russe Seite 149ff. und 1613.

— 27 —

1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902

Nomineller Überschuß im ordentlichen Budget

Wirkliches Defizit des außerordentlichen Budgets

Notwendige Anleihe zur Deckung des Gesamtdefizits

44,16 109,78 135,12 197,12 129,66 237,88 217,69 208,09 169,92 122,97

101,89 90,75 377,14 237,68 184,79 403,77 311,84 330,17 207.93 359.94

57,64 18.53 242,02 40.54 55,04 165,89 94,15 121,48 33,01 236,97

Das Gesamtresultat aus dieser Tabelle können wir also dahin zusammenfassen, daß Rußland in dem Zeitraum von 1893 bis 1902 rund 1,06 Milliarden Rubel Anleihe insgesamt zur Herstellung seines finanziellen Gleichgewichts hat aufnehmen müssen. Wie Rußland nun auf die verschiedenen Jahre seine Anleihen-Transaktionen verteilt hat, das ist in der Sache selbst ganz gleichgültig; ebenso gleichgültig aber ist es auch, für welche Positionen oder für welchen Bedarf man diese Anleihen ansetzen will. Da, wie oben gezeigt, gerade der Betrag von einer Milliarde Rubel für den Eisenbahnbau notwendig war, so wird man jedenfalls nicht sagen können, die Eisenbahnen sind aus den Überschüssen des ordentlichen Etats gedeckt worden. Denn dann käme man gar zu dem Resultat, daß Rußland zur Deckung ordentlicher jährlichen Ausgaben Anleihen habe aufnehmen müssen. Bei manchem anderen Staat könnte man sagen, daß er nur hätte mit dem Eisenbahnbau sparsamer vorzugehen brauchen, um zu einem erheblichen Teil oder gar ganz die Anleihen zu sparen. Allein bei Rußland ist das aus dem vorhin schon berührten Grunde einfach nicht möglich gewesen. Die ganze erhoffte zukünftige Machtposition des russischen Staates — hier sieht man wieder, wie eng Politik und Finanzwirtschaft ineinandergreifen — beruhte zu einem erheblichen Teil eben auf der schnellen Fertigstellung der östlichen Eisenbahnen und deshalb ist auch eine der Folgerungen gründlich falsch, die Leroy-Beaulieu zieht.



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Leroy-Beaulieu, der ein fanatischer Manchesterapostel ist und gegen das Prinzip der Staatsbahnen agitiert, billigt es durchaus nicht, daß Rußland in eigener Regie gebaut hat und meint auch, daß Rußlands finanzielle Position ohne die Bahn heut viel günstiger wäre. Gewiß, das ist schon richtig, und wenn im gegebenen Falle der Franzose seinen eigenen Landsleuten eine derartige Epistel lesen würde, so könnte sich darüber theoretisch diskutieren lassen. Aber bei Rußland kann man die ganze Sache nicht theoretisch diskutieren. Ob sich überhaupt eine Privatgesellschaft bereitgefunden hätte, eine Bahn wie die sibirische zu bauen, erscheint mir mehr als fraglich; aber selbst wenn sie ins Leben getreten wäre, so hätte sie von Rußland ganz enorme Konzessionen und Garantien verlangt, die aller Wahrscheinlichkeit nach das russische Budget mindestens so schwer belasten würden, wie heut die Annuität für die Anleihe. Rußland hatte gar keine andere Wahl, als die Bahn selbst zu bauen; der Bahnbau ist deshalb als ein ganz notwendiges Übel zu betrachten. Und man kann aus den jetzigen russischen Budgetverhältnissen nicht die Konsequenz ziehen, daß, wenn Rußland die Bahn nicht gebaut, es die Anleihe erspart hätte. Vielmehr muß man sagen: da R u ß l a n d u n t e r d e m Z w a n g e seines politischen Ehrgeizes seine Bahnen bauen mußte, w ä r e es o h n e die N e u a u f n a h m e von A n l e i h e n gar n i c h t in der L a g e g e w e s e n , s e i n e Z i n s v e r p f l i c h t u n g e n zu e r f ü l l e n . Schon aus dem soeben Ausgeführten geht hervor, mit welcher außerordentlichen Vorsicht man den „alleruntertänigsten Berichten" des russischen Finanzministeriums gegenübertreten muß, der den freien Bestand der Reichsrentei eintreten läßt, wenn die definitive Deckung durch Anleihen verheimlicht werden soll. Jm Jahre 1902 ließ der Finanzminister Witte jenen berüchtigten Bericht erscheinen, der unter andern auch Helfferich die Grundlage für seine Expektorationen gegeben hat und der dazu bestimmt war, den Kaiser- und den Auslandsgläubigern gegenüber die ökonomische und finanzielle Lage Rußlands als überaus glänzend hinzustellen. Als dieser Bericht erschien, hatte in der auswärtigen Presse lediglich der Londoner „Economist" den Mut, zu konstatieren,

— 29 — daß durch solche Ziffern das Vertrauen zu den russischen Finanzen geradezu untergraben werden muß. Mag sein, daß damals für die Gegnerschaft dieses Blattes gewisse politische Gründe mitgesprochen haben mögen. Aber es gewinnt doch einen sehr hohen Grad von Wahrscheinlichkeit, daß dieser glänzende Etatsbericht im wesentlichen dazu beitragen sollte, die Aufnahme der neuen Anleihen in Berlin und Paris zu erleichtern. Was von diesen Schönfärbereien zu halten ist, das hat niemand schlagender nachgewiesen als der bekannte russische Nationalökonom und Staatsrat Georg v o n B u t m i in eirier „Erläuterungsschrift zur alleruntertänigsten Berichterstattung des Finanzministers über das Reichsbudget für das Jahr 1902." x ) Dieses Aktenstück, das vom 25. Februar 1902 datiert ist, kann schon deshalb Anspruch auf eine ernste Beachtung erheben, weil es mit Genehmigung der russischen Zensur im Druck erschienen ist. Noch mehr spricht allerdings für seine Richtigkeit, daß einer weiteren Denkschrift 2 ) über den Bericht über das Jahr 1903, die Butmi verfaßte, die Genehmigung der Zensur versagt worden ist. Ich werde auf diese beiden Denkschriften noch vielfach zurückkommen müssen, an dieser Stelle interessiert es mich hauptsächlich, daß Butmi zu denselben Resultaten, zu denen ich für die Jahre 1893 bis 1903 gekommen bin, auch für die Budgets von 1902 und 1903 auf einem andern Wege gelangt. Er stellt zwei Berechnungen auf, 3 ) als deren Resultat sich ergibt, daß „die Berliner Anleihe zur Deckung des Defizits im Budget für das Jahr 1903 und die Pariser Anleihe zur Deckung der außerordentlichen Ausgaben für das Jahr 1902 unumgänglich waren". Gerade für diese beiden Jahre hatte Herr Witte in höchst mysteriöser Weise mit dem freien Barbestand der Reichsrentei operiert und es hat sich eben nachher herausgestellt, daß d i e s e r f r e i e B a r b e s t a n d einer Deutsch veröffentlicht in der „Finanzchronik" London, Jahrgang 1903, Seite 188 ff. 2 ) Sie ist in deutscher Sprache erschienen, Finanzchronik, London, Seite 736 ff. 3 ) Finanzchronik 1903, Seite 741.

— 30 — r e c h t e r h e b l i c h e n A u f f ü l l u n g durch n e u e A n l e i h e n b e d u r f t h a t t e , um für die B e d a r f s d e c k u n g a u s r e i c h e n d zu sein. Man darf nun aber nicht annehmen, daß lediglich das reelle Finanzbedürfnis des Landes oder der Bau der Eisenbahnen die einzigen Verschuldungquellen des russischen Reiches ausmachen — zweifellos ist Rußland durch die viel und laut gepriesene und vom rein technischen Standpunkt aus auch glänzend durchgeführte Valutaregulierung in das Schuldenmachen hineingetrieben worden. Wenn vom russischen Reichtum die Rede ist, so wird ständig auf den enormen Goldbestand der russischen Reichsbank hingewiesen. Der erscheint allerdings auf den ersten flüchtigen Blick recht imposant, und es gibt wenige Leute, die nicht ohne weiteres auf ihn hereinfallen. So weist auch Helfferich1) darauf hin, daß der Barvorrat der russischen Bank im Durchschnitt des Jahres 1903 sich auf 803,5 Millionen Rubel belief, wovon 724,3 Millionen Rubel in Gold vorhanden waren. Dazu kamen an Goldwechsel auf das Ausland und Goldguthaben 79,4 Millionen Rubel. Das ergibt eine Notendeckung von 882,9 Millionen Rubel, denen nur 580 Millionen Rubel Notenumlauf gegenüberstanden. Für den Notenumlauf und die täglich fälligen Guthaben zeigte sich eine bare Deckung von 72,8 vom Hundert, ebenso wie bei der Bank von Frankreich, während die deutsche Reichsbank nur eine Deckung von 52,3 °/o, die Bank von England gar nur eine solche von 43,5 % aufzuweisen hatten. Leroy-Beaulieu zieht den Ausweis der russischen Bank vom 8. März 1905 als Beweis heran, laut welchem das Institut 2,4 Milliarden Francs in Gold vorrätig hatte, dazu seien dann noch 310 Millionen Francs an Außenständen im Ausland zu rechnen. Zu dem Zeitpunkt, den Leroy-Beaulieu heranzieht, beträgt allerdings der Notenumlauf bereits 2,43 Milliarden, so daß hier schon eine kleine Unterdeckung vorhanden war.2) Wie sieht es nun aber mit diesem russischen Goldschatz in 1) a. a. 0., Seite 1047. 2 ) Die Leroy-Beaulieusche Auffassung ist von anderen Autoren völlig kritiklos übernommen worden. Vgl. z. B. Artikel Börsenmai, Zukunft, 13. Jahrgang, Seite 304.

— 31 — Wirklichkeit aus? In letzter Zeit hat eine Polemik des Londoner Schriftstellers L u c i a n Wolf mit dem russischen Finanzministerium einiges Aufsehen erregt: Wolf hatte den russischen Goldschatz mit dem Geldschrank der Humberts verglichen, das russische Finanzministerium forderte ihn infolgedessen auf, sich nach Petersburg zu bemühen, um sich von dem wirklichen Vorhandensein dieses Schatzes zu überzeugen. Das ist charakteristisch für die Art, wie man von Petersburg aus ernsten Einwänden zu begegnen pflegt. Ich will mir das Gleichnis Wolfs keineswegs zu eigen machen, aber ich möchte doch darauf hinweisen, daß zweifellos auch im Geldschrank der Humberts sich Die zuzeiten eine ganze Menge Geld befunden haben wird. Frage war bloß, welche große Verpflichtungen sie gegenüber diesen Goldbeständen zu erfüllen hatten. So lange jemand wie Rußland immer neues Geld im Ausland aufnehmen muß, um aus den neuen Anleihen die Zinsen der alten zu bezahlen, so lange ist der Goldbestand eben als nicht reell anzusehen. In Wirklichkeit müßte Rußland nämlich, um seinen Verpflichtungen gegenüber dem Auslande gerecht werden zu können, einen viel erheblicheren Goldbestand aufzuweisen haben. Helfferich1) berechnet an der Hand diverser Schätzungen, daß die Schulden Rußlands im Ausland 12 Milliarden Francs betragen. Nun gibt aber Helfferich an anderer Stelle 2 ) an, daß Rußland Ende 1903 einen Goldbestand von 1,058 Milliarden Rubel und dann 787 Millionen Rubel Goldmünzen im Verkehr aufzuweisen hat, d. h. Rußland verfügte Ende 1903 über einen Goldschatz von insgesamt rund 5 Milliarden Francs. Ins Land gekommen sind seit der ganzen Zeit, wo Rußland Schulden kontrahiert, insgesamt also 12 Milliarden Francs ausländisches Gold, vorhanden sind 5 Milliarden, d. h., es sind 7 Milliarden von diesem Gold wieder abgeflossen. Ich halte es daher für absolut unanfechtbar, wenn Russophob3) zu dem Resultat kommt: „Die Tatsache, daß Rußland dem Ausland etwa !) a. a. 0 . , Seite 1036. a. a. 0 . , Seite 1046. 3 ) Russische Finanzlegende. Plutus, I. Jahrgang, Seite 861.

2)

— 32 — 12 Milliarden schuldet, aber nur etwa 5 Milliarden Francs Gold besitzt, beweist zwingend, da Rußland nirgends Gläubiger des Auslands ist, daß im Durchschnitt der Jahre Rußlands Kreditposten nicht ausreichend gewesen sind, den Debetposten zu begnügen. R u ß l a n d ist a u c h in F r i e d e n s z e i t e n g e z w u n g e n , i m m e r von n e u e m im A u s l a n d Geld a n z u l e i h e n , wenn es seine V a l u t a a u f r e c h t e r h a l t e n will. Zu dem gleichen Resultat muß man kommen, wenn man die jährliche Summe berechnet, die Rußland notwendigerweise an Gold an das Ausland abzuführen hat. Nach einer Aufstellung des russischen Wirklichen Geheimen Finanzrats von S c h w a n e b a c h , die sich bei Rohrbach findet,1) hat Rußland an das Ausland jährlich zu entrichten: 170 Millionen Rubel Anleihezinsen 60 16

„ „

„ „

jährliche Ausgaben von Russen im Ausland Ausgaben der Regierung im Ausland für Armee und Marine

24





Erträgnisse von in Rußland angelegten Kapitalien.

Das macht insgesamt etwa 216 Millionen Rubel, die jährlich in Gold ans Ausland gezahlt werden müssen. Dabei ist aber noch nicht einmal berücksichtigt, daß auch für die Vermittlung der fremden Handelsschiffahrt Tribut ans Ausland gezahlt wird. Goldeinnahmen vom Ausland hat Rußland lediglich durch den Export. Die russische Handelsbilanz ist nun allerdings aktiv. Sie betrug (in Millionen Rubel nach dem „Gothaer Hofkalender"):

1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903

Einfuhr

Ausfuhr

Überschuß

659,6 538,5 689,8 560,0 617,5 650,5 626,4 593,4 527,0 640,0

668,7 689,1 689,9 726.6 732.7 627,0 716.4 761.5 825,0 902,0

109,2 150,6 100,1 166,6 115,2 23,5 90,0 164,0 298,0 362,0

Das Finanzsystem Witte, Seite 69.

— 33 — Aus diesen Zahlen, die den {inländischen Handel nicht mit enthalten, ergibt sich, daß in den 'meisten Jahren bei weitem nicht der Überschuß erreicht wird, der zur Begleichung der ausländischen Goldverpflichtungen notwendig ist. Selbst einschließlich der beiden letzten sehr günstigen Jahre ergibt sich ein Durchschnitt von nur 175 Millionen Rubel. Das bedeutet also, daß Rußland g e z w u n g e n ist, im D u r c h s c h n i t t 85 Millionen Rubel Gold j ä h r l i c h ins A u s l a n d abzuführen. Dabei ist aber die Schwanebachsche Aufstellung zugrunde gelegt, die nur Minimalziffern nennt und eine ganze Reihe von besonderen Abgaben nicht berücksichtigt. Ferner muß man natürlich in Betracht ziehen, daß seit der Zeit, da Schwanebach seine Aufstellung machte, die Goldverpflichtungen Rußlands ans Ausland noch ganz erheblich gestiegen sind. Bekanntlich beruht der überwiegende Teil der russischen Ausfuhr auf dem Getreideexport. Über die volkswirtschaftliche Bedeutung dieser Tatsache werde ich mich in einem späteren Kapitel noch ausführlich zu äußern haben; hier sei nur darauf hingewiesen, daß deshalb die außerordentlich günstigen Überschußziffern der Jahre 1902 und 1903 nicht sonderlich ins Gewicht fallen können. Denn beide Jahre brachten zufällig gute Ernteerträgnisse und gleichzeitig relativ gute Preise. Wie man also auch immer die Berechnungen anstellt, so kommt man um die bittere Erkenntnis nicht herum, daß Rußland J a h r für J a h r m i n d e s t e n s 90 Millionen Rubel Anleihen im A u s l a n d a u f n e h m e n muß, bloß um seinen G o l d v e r p f l i c h t u n g e n n a c h z u k o m m e n . Wenn man gegenüber dieser Tatsache selbst einen verhältnismäßig großen Goldschatz, da er ja immer nur aus dem Erlös der Auslandsanleihen gespeist wird, als einen nicht gerade sehr zuverlässigen Fond betrachtet, so wird das nur allzu verständlich. Die russische Valutaregulierung war zweifellos eine der glänzendsten und kühnsten Taten, die irgend ein neuzeitlicher Finanzminister in den letzten 20 Jahren geleistet hat. Aber man kann sehr zweifelhaft darüber sein, ob sie Rußland zum Segen gereicht haben. Nur ganz verbohrte Fanatiker der GoldB e r n h a r d , Rußland.

3

— 34 — Währung können behaupten wollen, daß die Goldwährung unbeschadet ihrer großen gewaltigen Vorzüge, die sie aufzuweisen hat, in allen Ländern ohne weiteres zur Aufnahme kommen kann. Auch die Goldwährung — und das übersehen gerade manchesterliche Politiker so oft — ist im Fluß der währungspolitischen Erscheinungen nur eine historische Kategorie. Es gibt keinen Staat der Welt, der mit der Goldwährung angefangen hat, sie hat sich vielmehr allmählich in jedem Staatswesen entwickelt und ist bei natürlicher Entwicklung die Begleiterscheinung einer ganz bestimmten Wirtschaftsverfassung gewesen. Um eine wirklich reelle Goldwährung — keine auf der Basis des Betruges anderer oder des Selbstbetruges aufgebaute — zu haben, muß ein Land industriell zum mindesten so weit vorgeschritten sein, daß mobile Kapitalien in gewisser Höhe vorhanden sind, oder das Land selbst muß eine außerordentlich hohe Goldproduktion besitzen. In Rußland ist nichts davon der Fall. Rußland hat ein außerordentlich geringes mobiles Kapital. Man braucht ja nur daran zu erinnern, daß bis in die letzten Budgets hinein der Betrag der Kapitalrentensteuer im Lande sich nur auf 18 Millionen Rubel beläuft. Rußland ist ein Agrarland, dessen Schätze im Boden liegen und schwer zu heben sind und das mithin viel mehr für eine Silberwährung als für eine Goldwährung geeignet erscheint. Aber Rußland ist den umgekehrten Weg gegangen wie andere Staaten. Überall hat sich zunächst die Industrie entwickelt, sie hat dann die Goldwährung nach sich gezogen. Witte aber schuf zuerst die Goldwährung. Weshalb? Vielleicht hat eine nicht ganz geringe Rolle dabei die sehr richtige Erkenntnis gespielt, daß bei der unbestrittenen Herrschaft der Goldwährung im ganzen westlichen Europa ein Land mit Gold unwillkürlich besser eingeschätzt wird, als ein Land mit einer gemischten oder mit einer Silberwährung. Aber der Hauptgrund dafür ist doch finanzpolitischer Natur gewesen. Ich werde in einem späteren Kapitel ausführlich nachzuweisen haben, daß in Rußland eigentlich nie seitens der leitenden Staatsmänner Volkswirtschaftspolitik, sondern immer Finanzwirtschaftspolitik getrieben worden

— 35 — ist, daß fast alle Maßnahmen in Rußland, wenn nicht gar wie bei dem Eisenbahnbau den Erfordernissen der Landesverteidigung, einzig und allein dem Bedürfnis ihre Entstehung verdanken, das Budget im Gleichgewicht zu halten. So auch die Einführung der Solange Rußland eine, starken Schwankungen Goldwährung. ausgesetzte, Valuta hatte, war es natürlich unendlich schwer, Gleichgewicht ins Budget zu bringen. Man mußte erhebliche Summen ans Ausland bezahlen und bekam im Inland in Papier die Steuer entrichtet. Die russische Valutaregulierung verdient ja eigentlich diesen Namen kaum. Ein sehr guter Kenner Wittes und der russischen Zustände, E. von der Brüggen, urteilt über die Goldwährung folgendermaßen:1) „Man hat diese Reform den Ubergang zur Goldwährung genannt und sie wird diese Bezeichnung verdienen, wenn und solange der ,feste Glaube an die stetige Weiterentwicklung der produktiven Kräfte Rußlands', auf den Herr Witte sich beruft, nicht erschüttert wird, und zwar so lange als er nicht erschüttert wird im Auslande, wo der Zwangskurs nicht ausreicht. Diese Operation freilich barg, genau genommen, einen Staatsbankrott in sich insofern, als der Staat den Wert seines Papierrubels um ein Drittel niedriger, als er angegeben war, auf die neue Goldmünze verrechnet: die alte Goldmünze soll nicht mehr 10, sondern 15 Rubel gleichstehen, d. h. so viel, als daß die russische Regierung den russischen Rubel zu dem Goldwert einlösen will, den ihm der ausländische Kredit beilegt, ja sogar niedriger, wenn sich der Rubelkurs seit Jahren über 2,16 gehalten hat, der normale Kurs aber nur 2,06 für zwei Drittel Rubel ergeben müßte. Vorläufig hat der russische Fiskus freilich mit dieser sogenannten Devalvation einen ansehnlichen Gewinn eingestrichen, indem der Staat auf jeden Rubel ein Drittel einfach strich, gewann er ein Drittel seiner Schuld in Papiergeld und auf Papiergeld gestellter Staatswerte, was zusammen einen Gewinn von etwa 1300 Millionen Rubel ausmacht. „Politik und Finanzen in Rußland." Die Grenzboten, 12. Januar 1904, Seite 78.

3*

— 36 — Andererseits mag der Finanzminister den Rubelkurs seit Jahren mit starken Opfern gehalten haben, nun gilt es immer genug Gold bereit zu haben, um einem erwachenden Mißtrauen des Auslands in das Papiergeld entgegenzutreten, was wesentlich von der Handelsbilanz des Reiches und der Zufuhr fremden Goldes abhängen wird." Dieser letzte Satz erklärt ohne weiteres den Zusammenhang zwischen Wittes Goldwährungspolitik und seiner Industriepolitik. Ich sagte schon, überall anders ist als natürliche Grundlage der Goldwährung eine industrielle Entwicklung vorhanden gewesen. Witte schuf im Hinblick auf die Goldwährung diese industrielle Entwicklung; er umgab das russische Reich mit hohen Schutzzöllen. Von vornherein war gar nicht daran zu denken, daß Rußland etwa eine eigene kraftvolle nationale Industrie schaffen konnte. Dazu waren schon die Kommunikationen zu schlecht. Denn die Bahnen waren ja eben allzu sehr nach strategischen und zu wenig nach ökonomischen Gesichtspunkten gebaut worden. Abgesehen von allem anderen fehlte es aber an dem nötigen einheimischen Kapital. Das wollte aber gerade Witte, daß sich hinter den Zollmauern eine ausländische Industrie ansiedeln sollte, um zunächst einmal auf diese Weise Gold ins Land zu bekommen. Diesen Zweck hat er auch erreicht. Denn die belgischen, französischen, englischen, holländischen, ja auch deutschen Kapitalisten lockte es, sich vom russischen Finanzminister einen sicheren Verdienst garantieren zu lassen. Allein das erhoffte Gold kam doch recht spärlich ins Land. Vor allen Dingen aber wanderten die Dividenden zum ganz überwiegenden Teil ins Ausland. Nicht gering war schon die Zahl der nichtrussischen Arbeiter, an die die Löhne gezahlt wurden; die Kapitalisten ausländischer Provenienz aber überwogen doch so sehr, daß von den Dividenden der russischen Werke im Inland eine ganz geringe Summe verzehrt wurden. So trägt gerade die russische Industrie mit dazu bei, alljährlich Gold ins Ausland zu schaffen. Und auch wenn, wie das ja bei Kriegslieferungen z. B. geschieht, die sogenannte nationale russische Industrie in erster

— 37 — Linie protegiert wird, so ist der Enderfolg davon schließlich doch der, daß der Profit ins Ausland geschleppt wird. So ist eben Rußland aus eigener Kraft vorläufig noch lange nicht reif, die Goldverpflichtungen ans Ausland zu erfüllen. Es steht wohl heute etwas besser da als zu jener Zeit, wo das Ausland Gold verlangte und der russische Untertan in Papierrubeln bezahlte. aber dafür haben sich auch die Verpflichtungen ins Ungemessene gesteigert. So sehen wir denn, daß Rußland fortgesetzt im Ausland Anleihen aufnehmen muß, um seinen Goldverpflichtungen gegen dasselbe Ausland gerecht werden zu können. Die Valutaregulierung mag in späteren Jahren vielleicht einmal zum Segen für Rußland werden, vorläufig bildet sie mit eine ganz wesentliche Quelle der zunehmenden Verschuldung des russischen Reichsschatzes.

IY. Die Fundierung der Anleihen. Bei den Staatsanleihen läßt sich natürlich die Fundierung nicht nach denselben Maßstäben untersuchen, wie bei einer industriellen Obligation oder eines industriellen Hypothekenpfandbriefes. Aber man kann doch eine Fundierung nach zwei Richtungen verlangen. Zunächst, daß das gegenüberstehende Staatsvermögen eine gewisse Garantie für das Kapital gewährt, und dann, daß aus den Erträgnissen des Staatsvermögens ein bestimmter Teil der Zinsen bestritten werden kann. Wie steht es nun mit der Fundierung der russischen Staatsanleihe, zunächst in bezug auf den Kapitalwert? Herr Helfferich1) arbeitet hier wieder in höchst unkritischer Weise mit der Zahlengruppierung, die vom russischen Finanzminister in seinem Bericht an den Zaren für das Jahr 1902 gegeben worden ist. Herr Witte berechnet, daß die Gesamtschuld des Reichsschatzes am 1. Januar 1892 5,39 Milliarden, am 1. Januar 1902 6,5 Milliarden betragen habe, und er stellt !) a. a. 0. S. 1042.

— 37 — Linie protegiert wird, so ist der Enderfolg davon schließlich doch der, daß der Profit ins Ausland geschleppt wird. So ist eben Rußland aus eigener Kraft vorläufig noch lange nicht reif, die Goldverpflichtungen ans Ausland zu erfüllen. Es steht wohl heute etwas besser da als zu jener Zeit, wo das Ausland Gold verlangte und der russische Untertan in Papierrubeln bezahlte. aber dafür haben sich auch die Verpflichtungen ins Ungemessene gesteigert. So sehen wir denn, daß Rußland fortgesetzt im Ausland Anleihen aufnehmen muß, um seinen Goldverpflichtungen gegen dasselbe Ausland gerecht werden zu können. Die Valutaregulierung mag in späteren Jahren vielleicht einmal zum Segen für Rußland werden, vorläufig bildet sie mit eine ganz wesentliche Quelle der zunehmenden Verschuldung des russischen Reichsschatzes.

IY. Die Fundierung der Anleihen. Bei den Staatsanleihen läßt sich natürlich die Fundierung nicht nach denselben Maßstäben untersuchen, wie bei einer industriellen Obligation oder eines industriellen Hypothekenpfandbriefes. Aber man kann doch eine Fundierung nach zwei Richtungen verlangen. Zunächst, daß das gegenüberstehende Staatsvermögen eine gewisse Garantie für das Kapital gewährt, und dann, daß aus den Erträgnissen des Staatsvermögens ein bestimmter Teil der Zinsen bestritten werden kann. Wie steht es nun mit der Fundierung der russischen Staatsanleihe, zunächst in bezug auf den Kapitalwert? Herr Helfferich1) arbeitet hier wieder in höchst unkritischer Weise mit der Zahlengruppierung, die vom russischen Finanzminister in seinem Bericht an den Zaren für das Jahr 1902 gegeben worden ist. Herr Witte berechnet, daß die Gesamtschuld des Reichsschatzes am 1. Januar 1892 5,39 Milliarden, am 1. Januar 1902 6,5 Milliarden betragen habe, und er stellt !) a. a. 0. S. 1042.

— 38 — diesen Ziffern die Vermögensanlage des Reichsschatzes im Betrage von 2,36 Milliarden für den 1. Januar 1892 und 4,6 Milliarden für den 1. Januar 1902 gegenüber. Der Überschuß der Staatsschuld über die Aktiven stellte sich mithin am 1. Januar 1892 auf 3,03 Milliarden Rubel „ 1902 „ 1,88 „ 1. Verminderung 1,15 Milliarden Rubel.

Witte gibt seiner Gegenüberstellung eine Erläuterung bei, in der er bemerkt, daß zwar die Zusammenstellung der Schulden eine vollständige sei, dahingegen bei der Aufstellung des Staatsvermögens „abgesehen von allen ertraglosen staatlichen Anlagen, wie Festungsgebäuden, Kriegsschiffen, eine große Anzahl von Kapitalsanlagen nicht aufgeführt sei, so z. B. die Aufwendungen für die Häfen, die Staatsfabriken und Hüttenbetriebe, die Grundbesitzbetriebe und Forsten". Daß man Staatsvermögen, das in Festungen, Gebäuden und Kriegsschiffen angelegt ist, nicht gerade unter die Aktiven aufnehmen und den Staatsanleihen gegenüberüberstellen kann, da es sich hierbei um ertraglose Werte handelt, dürfte selbstverständlich sein. Herr Witte hat also hierbei gar nichts übriges getan. Den produktiven Anlagen aber, die wirklich fortgelassen sein sollten, steht doch andererseits die in der Schuldenübersicht nicht genannte Summe namentlich der riesigen Eisenbahngarantien gegenüber. Wie vorsichtig man gegenüber solchen Aufstellungen sein muß, ersieht man wieder aus der Erläuterungsschrift Georg v. Butmis zur Denkschrift des Finanzministers für das Jahr 1902. Ich will hier gar nicht auf die komplizierte Berechnung der Staatsschulden näher eingehen, die Butmi aufmacht, um nachzuweisen, daß Witte tatsächlich n i c h t den ganzen Betrag der wirklichen Staatsschulden den Eisenbahnen gegenübergestellt hat. Es soll mir vielmehr hier nur darauf ankommen, den wichtigsten Posten der Vermögensaufstellung zu prüfen, nämlich den Wert der Staatsbahnen. Die Staatsbahnen sind pro 1. Januar 1892 mit 950,9 Millionen „ 1. „ 1902 „ 3551,6

— 39 — unter die Aktiven eingestellt. Ihr Wert soll also mithin um 2601,1 Millionen Mark in zehn Jahren gewachsen sein. Boutmi hebt hervor, daß es hier angängig sei,*) „zur Berechnung den wirklichen Wert des Besitzstandes anzunehmen, jedoch keinesfalls die von der Regierung ausgegebenen Kostenbeträge für Bau und Instandhaltung der Staatseisenbahn, für Ankauf von Privateisenbahnen, Auswechselung von Schienen, Wiederaufbauen von abgebrannten Gebäuden, Ersatz für demolierte Eisenbahnen und ähnliche Ausgaben, welche die ungeheure Summe von 3,55 Milliarden Rubel ausmachen". Butmi schätzt den wirklichen Wert der Eisenbahnen pro Werst auf 5 0 0 0 0 Rubel und mißt mithin den am 1. Dezember 1901 betriebenen 27980 Werst europäischer und 7484 Werst asiatischer Bahn einen Vermögenswert von nur 1,77 Milliarden bei. Mithin würde die wirkliche Steigerung des Vermögenswertes in dem genannten Zeitraum nur 1,3 Milliarden Rubel ausmachen. Zu dieser Berechnung ist Butmi durch eine Umfrage gekommen, die als wirkliche Baukosten von Eisenbahnen pro Werst im Jahre 1902 folgende Daten ergab: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Erdarbeiten 3 0 0 0 — 9 000 Rubel Ballast 3 6 0 0 — 4 000 „ Schwellen und deren Legen 1 4 0 0 — 2 000 „ Schienen „ „ „ 12 000—12 000 „ Röhrendurchlässe, kleine Brücken usw. 3 0 0 0 — 3 000 „ Große Brücken 1 0 0 0 — 6 000 „ Telegraphen 3 0 0 — 300 „ Expropriation 2 0 0 — 200 „ Gebäude • . . . . 3 000— 3 0 0 0 „ Anfängliches Rollmaterial 6 0 0 0 — 6 000 „ 33 500—45 400 Rubel

Butmi bemerkt im Anschluß an diese Tabelle, daß einzelne Bahnen sich wegen der größeren Schwierigkeit, auch wegen der Aufführung größerer Brückenbauten natürlich teurer stellen werden, daß aber dagegen andere, namentlich finnländische Bahnen, viel weniger kosten. Die ganze sibirische Bahn sei nur mit !) Finanzchronik 1893. Seite 190.

— 40 — 48700 Rubel pro Werst in den Voranschlag angesetzt worden. „Wenn sogar in Wirklichkeit diese Eisenbahn viel teurer zu stehen kommen wird, so werden sich genügende Erklärungen in einer ganzen Reihe von Gründen ergeben, worunter auch Räubereien in Friedens- und Kriegszeiten, wodurch ja in jedem Falle der Kapitalwert der Bahn nicht erhöht wird." Doch selbst, wenn Rußland die Summe, die es in seine Etats eingestellt, auch in Wirklichkeit für den Eisenbahnbau bezahlt hat, so ist keineswegs berechtigt, diese ganze Summe unter die Aktiven einzustellen. Denn der Mehrwert, der über den reellen Durchschnitt bezahlt worden ist, setzt sich zum größten Teil aus gestohlenen Beträgen zusammen. Die russische Regierung wird ja wohl selbst nicht bestreiten wollen, daß in ihrem Machtbereich so viel gestohlen wird, wie sonst wohl kaum in einem Land, das sich selbst den Namen Kulturstaat beilegt. Ich halte die Angaben Russophobs *) nicht für übertrieben, „daß bei den älteren Eisenbahnbauten der Bauunternehmer durchschnittlich für den Kilometer 60 000 Mark empfangen habe, dessen Herstellung 40 000 Mark gekostet hat, wobei es ganz gleichgültig sein kann, ob der Bauunternehmer etwa die ganzen überschüssigen 20000 Mk. in seine Tasche gesteckt hat oder sie hat mit einem oberen oder unteren Beamten teilen müssen". Aber selbst wenn man von diesem Diebessold ganz absehen will, von dem die russische Regierung natürlich offiziell nichts zu wissen braucht — und auch für sie gilt ja der Grundsatz: quod non est in actis, non est in mundo — so ist doch sehr zu beachten, daß die russische Regierung jede Verbesserung der Bahn und auch die Kosten der Beschaffung rollenden Materials, die bei jeder andern Bahn aus den Erneuerungsfonds gedeckt werden, dem Kapitalwert zuschlägt. Das ist allerdings eine Buchungsmethode, die nicht nach jedermanns Geschmack ist. Eine ähnliche Unkostenaufstellung wie Butmi macht übrigens auch der Amerikaner Bacon in der Yale-Review2). Bacon hat die Plutus, Jahrgang I, Seite 878. 2) Ich habe den Originaltext nicht gesehen und muß mich bei den nach-

— 41 — russischen Bahnstrecken bereist und erklärt, daß die Schienen höchstens einen Wert von 4000 Dollar per mile hätten. Dies sei reichlich gerechnet, da die Schienen auf den Linien, die er gesehen habe, so abgebraucht waren, daß jeder Schienenübergang eine Gefahr darstelle. Nirgends habe er in Rußland eine Mile Eisenbahn gesehen, die in so gutem Zustande gewesen sei, wie in Amerika die Nebenlinien. Demidoff, welcher der russischen Regierung einen großen Teil der Schienen geliefert habe, habe die schlechtesten Schienen geliefert, welche er je in seinem Leben zu sehen bekommen habe. In Amerika rechne man bei den Schwellen auf 8 Zoll Dicke für härteres Holz und 10 Zoll für weicheres, und lege 2640 Schwellen per mile. In Rußland dagegen verwende man weiches Holz von 6 Zoll Dicke und brauche nur 2300 Schwellen per mile, das Stück könne also höchstens 25 Cents kosten, das würde also einen Gesamtkostenbetrag von 600 Dollar per mile ausmachen. Land koste höchstens 250 Dollar, da viele russische Bahnen, z. B. die sibirische, keine Endstation in großen Städten habe, vielmehr die Stationen sich außerhalb der Stadt befinden. 10 000 Dollar seien höchstens für Gradieren, Beschottern und Legen der Schienen erforderlich, so daß sich ein Preis von 15000 Dollar ergebe, mit Fracht und Stationen etwa 17000 Dollar. Die Ausrüstung kostet selbst in Amerika nur 3 250 Dollar pro mile, so daß man mit den Kosten für Ingenieure usw. auf einen Betrag von höchstens 23 000 Dollar komme (das wären etwa 58 000 Mark per Kilometer). Zum Beweise dafür, daß das nicht zu niedrig gerechnet sei, führt Bacon an, daß in Finnland sich die englische Meile nur auf 21000 Dollar stelle. Als Beweis dafür, daß die Baukosten der russischen Bahnen keinen Maßstab für ihre Bewertung als Vermögensaktivum abgeben können, möchte ich doch wenigstens noch einen Punkt hervorheben, den ich als eine Folge des russischen Schutzzollfolgenden Ausführungen auf einen, mir von befreundeter Seite zugegangenen, Auszug stützen.

— 42 — systems von Dr. N. Syrkin 1 ) angegeben finde. Syrkin weist darauf hin, daß den russischen Eisenbahnen die englischen Eisenfabriken Schienen für 75 Kopeken per Pud liefern wollten, während die Regierung bei den einheimischen Fabrikanten für 2 Rubel pro Pud gekauft hat, so daß sie in der letzten Eisenbahnbauepoche 151 Millionen Rubel mehr an Schienen ausgegeben hat, als nötig war. Schon daraus ergibt sich klar, daß die Baukosten für die russische Bahn zu teuer gewesen sein müssen. Ist es schon sehr zweifelhaft, ob selbst in den westlichen Ländern, wo jedenfalls zu reguläreren Preisen und mit weniger Nebenverdienst gebaut wird, die ganzen Kosten der Anlage dem aktiven Staatsvermögen zugeschlagen werden können, so darf nach allem, was ich vorstehend ausgeführt habe, gar kein Zweifel darüber bestehen, daß den russischen Bahnen die gesamten Baukosten als Vermögenserhöhung nicht zugeschlagen werden dürfen. Mithin ist ein integrierender Bestandteil der von Witte gegebenen Aufstellung des russischen Staatsvermögens ungenau und viel zu hoch veranschlagt. Da aber andererseits auch die Angaben über die Schulden jede Gewissenhaftigkeit vermissen lassen, namentlich die heimlichen, die versteckten Schulden die Summe der wirklich angegebenen ganz wesentlich vergrößern, und da endlich selbst nach der Berechnung des Finanzministeriums die Schulden immer noch größer sind als das aktive Staatsvermögen, so wird man nicht davon sprechen können, daß das Kapital der russischen Staatsschuld in irgend einer Weise als fundiert gelten kann. Wie steht es nun mit den Einnahmen? Wird durch sie wenigstens die Annuität der russischen Staatsschuld einigermaßen sicher fundiert? Ich möchte auch hier zunächst die Eisenbahnen einer genaueren Betrachtung unterziehen. Wir finden bei den Lobrednern der russischen Finanzwirtschaft auch hier im engen Anschluß an Herrn Witte und seine Offiziösen wichtige Ausführungen, die uns als Ausgangspunkt unserer Betrachtung dienen ) „Der Bankerott der russischen Staatswirtschaft." 16. April 1905. 4

„Die Zeit", Wien.

— 43 — sollen. Hier zeigt sich übrigens am allerbesten, wie außerordentlich leichtfertig diese Herren ihre Elaborate abgefaßt haben, wie sie selbst solche Dementis der ministeriellen Kundgebungen völlig außer Betracht gelassen haben, die aus einem Munde stammten, dem gerade von ihnen kompetenteste Bedeutung beizulegen ist — nämlich aus dem Munde des russischen Finanzministers selbst. Es ist eben von ihnen einfach ganz kritiklos die Denkschrift des russischen Finanzministers für das Jahr 1902 benutzt worden und sie haben übersehen, daß der Finanzminister selbst in einer späteren Sitzung des russischen Eeichsrates, also hochoffiziell, seine damaligen Angaben als irrig korrigiert hat. Ich möchte der Einfachheit halber zunächst Herrn LerovBeaulieus Ausführungen widerlegen. Im Budget für 1903 seien nach seiner Angabe 453 Millionen Rubel seitens der Staatsbahnen vereinnahmt, 317 Millionen für sie verausgabt worden, mithin ergebe sich ein Einnahmeüberschuß von 136 Millionen Rubel. Nun entdeckt allerdings Herr Leroy-Beaulieu selbst schon, daß das Budget auch noch „Ausgaben für Verbesserung und Verstärkung des Dienstes und für andere Bedürfnisse der Eisenbahn" in Höhe von 99,51 Millionen Rubel für das Jahr 1903 aufweist. E r meint aber, es handle sich hier um Ausgaben, welche allen Eisenbahnen der Welt gemeinsam sei und als sogenannte Kosten der Einrichtungen (dépenses des premiers établissements) angesehen werden müssen. In der Betrachtung darüber, ob man diese Einrichtungskosten als solche ansehen müsse, die von den Einnahmen abgezogen zu werden verdienen, weist er darauf hin, daß diese Kosten in England und Frankreich vielfach durch die Ausgabe von Obligationen gedeckt zu werden pflegen. Zunächst scheint mir demgegenüber erwähnenswert, daß die Praxis z. B. der englischen Bahnen diese Kosten in ihrem ganzen Umfange durch Obligationen zu decken, vielfach sehr scharf kritisiert worden ist. Aber handelt es sich denn hier überhaupt um solche Einrichtungskosten? Wenn man das wirklich annehmen wollte, so müßte es jedem Kritiker des russischen Budgets auffallen, daß diese Ausgaben so regelmäßig wiederkehren wie nur irgend ein regulärer

— 44 — Budgetposten, nämlich in jedem Jahre. Man wird deshalb wohl mit der Ansicht nicht fehlgehen, daß es sich hier keineswegs um sogenannte Einrichtungskosten handelt, sondern vielmehr um solche Ausgaben, die von allen solide geleiteten Privatbahnen aus Erneuerungsfonds oder aus dem Betriebe gedeckt, resp. als solche Ausgaben betrachtet werden, die der regelmäßigen Ergänzung im Interesse der finanziellen Prosperität und der Betriebssicherheit dienen. Diese Auffassung teilt übrigens auch die russische Reichskontrolle, denn sie bucht im Gegensatz zum Finanzministerium diese Ausgaben als Betriebsausgaben und es ist charakteristisch für die Art, in der die Lobredner der russischen Finanzen zu arbeiten belieben, daß sie anscheinend nicht einmal wissen, daß die russische Finanzkontrolle — doch auch eine ihnen gewiß maßgebliche Instanz — hier im Gegensatz zu den Auffassungen des russischen Finanzministeriums steht. Leroy-Beaulieu meint dann weiter, daß, selbst wenn man diese Ausgaben nun auch noch vom Betrage absetzte, immerhin noch ein Überschuß von 36 Millionen Rubel verbleibe, und das sei, so schließt er, „keineswegs eine quantité négligeable." Daß 36 Millionen Rubel keine quantité négligeable sind, wenn man sie als Einnahmeüberschuß aufzuweisen hat, wird jedermann Herrn Leroy-Beaulieu sicherlich bestätigen. Aber so richtig diese Behauptung an sich ist, so falsch wird sie durch folgenden Nachsatz: „Es ist unaufgeklärt, woher Lucian Wolf seine Behauptungen von der vollständigen Unproduktivität der russischen Eisenbahnen genommen hat." 36 Millionen Einnahmen bedeuten nämlich gar nichts, wenn sie nicht einmal zur Verzinsung der Schulden ausreichen, die man für den Betrieb aufgenommen hat, der diese 36 Millionen abwirft. Herr Leroy-Beaulieu hat selbst angegeben, daß etwa 4 5 % der russischen Staatsschuld aus den Eisenbahnen herrühren; er hat selbst für das Jahr 1905 die Gesamtjahreslast der russischen Anleihen, Verzinsungen und Amortisationen auf 302 Millionen Rubel berechnet. Davon machen 4 5 % die stattliche Summe von 136 Millionen Rubel aus, so daß nach Herrn Leroy-Beaulieus eigenen Berechnungen dem Nettoerträgnis von 3 6 Millionen Rubel eine Schulden-

— 45 — last von 136 Millionen Rubel gegenüberstehen würde, d. h. also der r u s s i s c h e S t a a t h a t für seine E i s e n b a h n e n rund 100 Millionen Rubel im J a h r e m e h r zu z a h l e n a l s er dafür einnimmt. Sind 36 Millionen keine quantité négligeable, so sind es 100 Millionen noch viel weniger, besonders wenn sie auf der Debetseite stehen. Allein auch diese Zahl ist noch keineswegs als autoritativ anzusehen. Herr Leroy-Beaulieu rechnet unter den Einnahmen sehr richtig den Anteil mit, den der russische Staat durch die Zahlungen der Privatbahnen vereinnahmt. Dann muß er aber schon die Gewogenheit haben, auch die Summe unter die Ausgaben einzustellen, die der russische Staat in Form von Garantiezuschüssen an diese Privatbahnen zu zahlen hat. Diese Garantie war z. B. für 1903 mit 16,19 Millionen Rubel veranschlagt; zieht man alle diese Summen in die Kalkulation, so ergibt sich folgendes Bild: Es betrugen nach den Budgetvoranschlägen die E i n n a h m e n die Rußland aus den E i s e n b a h n e n hatte, in Millionen Rubel: Staatsbahnen

Anteil an den Privatbahnen

Oblig. Zahlgn. der Privatbahnen

Zusammen

360,71 396,07 412,74 447,42

4,21 2,9 1,12 2,49

10,75 9,96 11,11 10,23

375,67 408,93 424,97 460,14

1901 1902 1903 1904

Die A u s g a b e n nach den Budgetvoranschlägen betrugen in Millionen Rubel:

1901 1902 1903 1904

Garantien

Betrieb des Staates

Verstärkungen und Verbesserungen

Rollendes Material

2,10 6,20 10,19 20,00

263,52 297,56 319,01 329,23

40,09 61,17 60,23 66,00!)

45,00 39,89 39,89 43,54

Verzinsung der Eisenbahnschuld 127,30 128,00 129,00 130,00

Zusammen

478,01 532,82 564,32 588,77

*) Hier tritt plötzlich als ganz neuer Faktor die „Bildung von Betriebskapitalien" auf.

-

46 —

Die Verzinsung der Eisenbahnschuld habe ich in dieser Tabelle sogar etwas niedriger berechnet als sie wahrscheinlich sein wird. Eine Gegenüberstellung der Einnahmen und Ausgaben in Millionen Rubel ergibt dann folgendes Resultat: Ausgaben 1901 1902 1903 1904 Insgesamt Durchschn.:

Einnahmen

102.34 123,89 139.35 128,63 494,21 123,55

375,67 408,93 424,97 460,14 1669.71 417,42

478,01 532,82 564,32 588,77 2163,92 540,97

Zuschuß

Da sehen wir denn also, daß nach den Voranschlägen der letzten vier Jahre Rußland durchschnittlich rund 123 Millionen Rubel im Jahr auf die Eisenbahnen zugezahlt hat. Dabei möchte ich noch bemerken, daß ich die Kosten, die die Reichskontrolle verursacht hat, gar nicht mit eingestellt habe. Daß durch eine Zusammenstellung der Ergebnisse in früheren Jahren meine Darstellung im Wesentlichen bestätigt wird, daß die Tendenz zu einer Verminderung der Überschüsse resp. Erzielung von Defizits aus den Eisenbahnen schon immer vorhanden gewesen ist, beweist folgende Aufstellung Wittschewskys: Einnahmen

c d O) a>c §Ol 1H l wj , ,a •P SD M o.> co H CG 'l* £ 'S ® J L i : l s '55 "8 Z K üi 2 S a ® r- eo © aW3 "'SS CO CSC8 g CO ,0 pfl

N

50,2 57.0 78.1 125,5 150.3 173.4 192,8 212,2 237,1 269,1

73,1 79,1 88,4 109,6 113,1 113.0 114,6 117.3 117.4

126.1

18,5 14,5 14,0 3,4 2,8 3.7 1,3 1,0 5.8 2,1

12,5 21,2 25,8 41,0 43.8 45.9 84,0

3.6 3.7 3,4 4,4 5,2 5,6 6,0 6,2 6.8 6,8

ö0> g ad cc» ¡3 tSl 145,4 154.3 183,9 255.4 292.6 321.5 355.7 380,5 413,0 487,4

Die Eisenbahnfinanzen Rußlands, Archivfür Eisenbahnwesen 1904, Heft3.

— 47 — Witschewskys Tabelle weist für das Jahr 1901 eine Abweichung gegen meine Zusammenstellung auf; sie ist daraus zu erklären, daß er das realisierte Budget zur Grundlage seiner Betrachtungen macht, während ich von den Budgetvoranschlägen ausgehe. Es scheint mir gerade ganz besonders wichtig zu sein, darauf hinzuweisen, daß diese Zuschüsse zu den Bahnen nicht etwa aus der, vielleicht durch widrige Umstände bestimmten, ungünstigen Realisierung des einen oder andern Budget herrühren sondern daß die Defizits sich bereits in den Voranschlägen finden. Meine Ausführungen werden nun durch alle russischen Schriftsteller, die sich ernsthaft mit den russischen Finanzen beschäftigt haben, bestätigt. Butmi 1 ) weist noch ganz besonders nach, daß die Gegenüberstellung, die der russische Finanzminister für die Jahre 1892 und 1900 macht, in allen ihren Teilen falsch und unzuverlässig ist. Herr Helfferich benutzt diese offizielle Aufstellung natürlich und stellt entsprechend den Reinertrag der Staatsbahn und die Zahlungen der Privatbahnen im Jahre 1892 mit 55,4 Millionen Rubel für das Jahr 1900 mit 139 Millionen Rubel ein. Butmi weist dem gegenüber nach, daß in den Erläuterungsberichten zum Abrechnungsbericht der Staatskontrolle sich folgende Aufstellungen befinden: A. Für d a s Jahr 1892. Einnahmen Seite 16. 1. Von Staatsbahnen (§ 23) 2. Von Privatbahnen (§ 26—31)

.

Ausgaben. 1. Zahlung für Eisenbahnschulden 2. Exploitation der Staatsbahn 3. Garantie eines Nettogewinns und Zahlung für Aktien der vom Staate gekauften Eisenbahnen, wobei jedoch die Berechnungen mit den Aktionären noch nicht abgeschlossen sind 4. Erweiterung und Verbesserung der Eisenbahnen . . 6. Kosten der Eisenbahnkontrolle J

) Finanzchronik, Seite 189.

74,41 36,69 111,10 75,44 60,24

7,88 11,80 1,36 146,72

— 48 — B. F ü r d a s J a h r 1900. Einnahmen Seite 14. 1. Von Staatsbahnen (§ 23) 2. Von Privatbahnen (§ 26—31) • Ausgaben.

361,66 12,29 373,95

1. Zahlung für Eisenbahnschulden 112,26 2. Exploitation der Staatsbahn 237,07 3. Garantie eines Nettogewinns und Zahlung für Aktien der vom Staate gekauften Eisenbahnen, wobei jedoch die Berechnungen mit den Aktionären noch nicht abgeschlossen sind 6,99 4. Erweiterungen und Verbesserungen d§r Eisenbahnen 46,41 6. Kosten der Eisenbahnkontrolle 3,87 405,60

Danach ergibt sich also, selbst nach der Rechnung der Reichskontrolle für das Jahr 1892, ein Zuschuß von 35,62 Millionen, für das Jahr 1900 einen Zuschuß von 31,66 Millionen. Nun benutzt allerdings Helfferich die Zahlen des Finanzministers in einer Aufstellung, wo dem Reinertrag der Staatsbahnen die Staatsschulden gegenüber gestellt werden. Man muß also loyalerweise alle die Posten abschreiben, die mit der Verzinsung der Staatsschuld in Zusammenhang stehen. Tut man das, so ergibt sich 1 ) für 1892 eine Nettoeinnahme von 47,7 Millionen, für 1900 eine solche von 86,6 Millionen, anstatt, wie Helfferich in enger Anlehnung an Herrn Witte angibt, von 45,4 Millionen resp. 139 Millionen. So sehen die offiziellen Zahlen der russischen Budgets aus. Wenn sich Herr Helferich die ganz leichte Mühe gemacht hätte, die Literatur über die russische Finanzen auch nur oberflächlich durchzulesen, so würde er u. a. auf ein Schriftstück gestoßen sein, das zwar in einem sozialdemokratischen Verlage erschienen, aber deshalb nicht minder authentisch ist als die offiziellen Berichte des russischen Finanzministers, die er in so überaus gutgläubiger Weise schlank exzerpiert — es ist das das Protokoll jener russischen Reichsratssitzung,2) in der Finanzminister Witte 2

Boutmi, Finanzchronik. S. 189. ) Finanzminister Witte und der russische Reichsrat über die Finanz-

— 49 — selbst zugeben mußte, daß seine Angaben, die er bisher in den alleruntertänigsten Berichten über die Entwicklung des russischen Eisenbahnwesens gemacht hatte, sich als optimistisch und falsch erwiesen haben. Ein Jahr, nachdem Herr Witte in seinem alleruntertänigsten Bericht über das Reichsbudget für das Jahr 1902, die Entwicklung des Eisenbahnwesens noch als günstig charakterisiert hatte, äußerte er nach dem •— inzwischen wohl allseitig als authentisch anerkannten — Protokoll, daß im Jahre 1900 die Zuschüsse des Staates zu den russischen Eisenbahnen 2,6 Millionen Rubel betrugen und 1901 nach der bis damals feststehenden Aufmachung der Reichskontrolle schon 32,9 Millionen Rubel betrugen. „Im laufenden Jahre dagegen," so fuhr Herr Witte fort, „wird der Verlust der Reichsrentei sowie des Eisenbahnwesens etwa 45 Millionen und im nächsten Jahr nicht weniger als 51 Millionen Rubel betragen. Schlägt man nun zu dieser Summe den Zuschuß für den Betrieb der ostchinesischen Bahn, welche am 1. Juni 1903 dem regelmäßigen Verkehr übergeben worden ist, während der zweiten Hälfte des Jahres hinzu (9 Millionen Rubel), so ergibt sich als allgemeines Resultat des Betriebs auf der Eisenbahn im Jahre 1903 ein Uberschuß der Ausgaben über die Einkünfte, welcher die ungeheure Summe von 60 Millionen Rubel beträgt. Im Jahre 1904 wird sich der Zuschuß für die letztere Linie verdoppeln und im Jahre 1905, sobald die Eisenbahn Siedleje—Bologoje und Orenburg—Taschkent dem regelmäßigen Verkehr übergeben worden sind, werden neue Zuschüsse seitens des Fiskus für diese Linien und zwar etwa 8,2 Millionen Rubel für die erste und 7,3 Millionen Rubel für die zweite, im ganzen 15,5 Millionen Rubel nötig sein. Es dürfte demnach das Defizit im Betrieb der Eisenbahnen nach 2 Jahren die Höhe von 84,5 Millionen Rubel erreichen." Vollkommen mit Recht fügt Peter Struwe, der Herausgeber jenes wichtigen dokumentarischen Beitrages zur Lotterwirtschaft läge Rußlands. Protokoll der Plenarsitzung des russischen Reichsrats vom 30. Dezember 1902 (12. Janaar 1903). Stuttgart 1903, Verlag von J. H. Dietz Nachfolger. B e r n h a r d , Rußland.

4

— 50 — eines Pseudokulturstaates am Beginn des 20. Jahrhunderts diesen Ausführungen des Eisenbahnministers in einer Anmerkung hinzu: „Noch in seinem Budgetexposê für 1900 hat Herr Witte mit sichtlicher Genugtuung hervorgehoben, daß die Eisenbahnen statt der früheren Verluste — jetzt der Reichsrentei jährlichen Gewinn abwerfen. Und am 30. Dezember 1902 datiert er schon vom Jahre 1900 eine neue Periode der Defizitwirtschaft im Eisenbahnwesen! Dieses eine Beispiel genügt, um die unehrliche Schönfärberei des ohne parlamentarische Kontrolle dastehenden mächtigen Finanzministers zu beweisen ; denn die ungünstige Entwicklung der Eisenbahn Wirtschaft mußte dem Finanzminister auch Ende 1899 völlig klar sein." Es nimmt sich wahrhaft komisch aus, wenn gegenüber diesen wirklich doch schwerwiegenden, ziffernmäßig belegten Kritiken der offiziellen Zahlen des russischen Budget Herr Leroy-Beaulieu sich noch darüber wundert, wie Herr Lucian Wolf dazu kommt, von der Unproduktivität der russischen Eisenbahnen zu sprechen. Ein interessantes Beispiel für die absolute Unglaubwürdigkeit der offiziellen russischen Zahlen, insoweit sie die Eisenbahneinnahmen betreffen, bringt auch Rohrbach noch bei,1) das zugleich eine Kritik des von Herrn Helfferich in der Hauptsache benutzten offiziösen Materials enthält: „Das russische Finanzministerium gibt seit mehreren Jahren eine Art Kommentar zum Budget unter dem Namen ,Bulletin Russe de statistique financière et de législation' heraus, um das Ausland, natürlich in einer durchaus nach dem russischen Interesse gefärbten Weise über die Details der Finanzverwaltung zu informieren. Im Jahre 1897 verkündete Herr von Witte im ,Bulletin Russe', nunmehr sei die Periode der Eisenbahndefizite vorüber und der Staat erziele aus seinem Bahnbetrieb einen Reinüberschuß. Diesen angeblichen Reinüberschuß gab der Finanzminister für 1896 auf 34,8 Millionen Rubel an. Zwei Jahre später fand sich im ,Bulletin' der Vermerk, Das Finanzsystem Witte, Sonderabdruck aus dem 1. und 2. Heft des 109. Bandes der Preußischen Jahrbücher, mit einem Nachtrag von Paul Rohrbach. Berlin 1902, Verlag von Georg Stilke.

— 51 — der Uberschuß pro 1896 sei faktisch um 6,4 Millionen kleiner, weil man das vorige Mal versehentlich eine Privateisenbahnlinie (Moskau-Brest) unter die Staatseisenbahnen gezählt hat! In dem Bericht an den Kaiser zum Budget für 1900 ist der Reingewinn der Staatsbahnen für 1896 sogar auf 11,3 Millionen Rubel gesunken. Warum? Weil Herr von Witte im ,Bulletin Russe' die beiden vorigen Male an Stelle der Verzinsung des vollen Anlagekapitals bloß die Verzinsung der formell in das Staatsschuldbuch eingeschriebenen Eisenbahnschuld gesetzt hatte. Ein wenn auch nicht großer Teil der russischen Eisenbahn ist aber ohne spezielle Bauanleihen aus laufenden Mitteln hergestellt worden und von diesem hatte das ,Bulletin Russe' zwar den Betriebsgewinn, nicht aber die Anlagekosten in Rechnung gestellt!" Doch genug der grausamen Kritik. Freuen wir uns, daß der russische Finanzminister wenigstens den Beratern der russischen Krone gegenüber offen genug gewesen ist, um auch dem Ausland einen Blick hinter die Kulissen der offiziellen Berichte zu ermöglichen; gibt er, der gewiß auch den Herren Leroy-Beaulieu und Helfferich als durchaus sachverständig erscheinen wird, doch selbst die beste Begründung für den Rückgang in den Einnahmen des russischen Eisenbahnwesens. E r sagt ausdrücklich,1) daß die H a u p t u r s a c h e der u n g ü n s t i g e n G e s t a l t u n g der r u s s i s c h e n E i . s e n b a h n w i r t s c h a f t in dem f o r c i e r t e n B a u der E i s e n b a h n e n rein p o l i t i s c h e n und s t r a t e g i s c h e n C h a r a k t e r s w ä h r e n d der l e t z t e n 1 0 — 1 5 J a h r e zu s u c h e n ist. Nachdem er ausgeführt hat, wie notwendig der Bau von Eisenbahnen, die unter ökonomischen Gesichtspunkten angelegt werden, für das Gedeihen der russischen Wirtschaft wäre, sagt er: „Von ganz anderer Bedeutung sind aber die politisch strategischen Bahnen, wo sie zurzeit nicht durch ökonomische Bedürfnisse geboten sind, und deshalb die Reichsrentei bedeutend belasten. Nun aber wurden Peter von Struve, Reichsratsprotokoll S. 10. *) Zitiert in „Rußlands Handelszoll und Industriepolitik von Peter dem Großen bis auf die Gegenwart", von Witschewsky, Berlin 1905, Ernst Siegfried Mittler und Sohn, Königliche Hofbuchhandlung, Kochstraße.

4*

— 52 — während der letzten Zeit mehrere derartige Linien gebaut: Die Novosedlitzer Zweige der südwestlichen Eisenbahn, die strategischen Linien im Königreich Polen und in Westrußland, die Ussuribahn und die zentralasiatischen Linien, die Bahn Kiew—Kowel, Witebsk— Schlobin, der südliche Zweig der ostchinesischen Eisenbahn usw. Endlich werden gegenwärtig folgende große Linien: Orenburg— Taschkent, Bologoy—Siedlitz und die Bahn bis zur persischen Grenze gebaut. Lange Zeit werden diese Bahnen selbst die Zinsen für das zum Bau derselben aufgewandte Kapital nicht decken können, einige derselben decken sogar die Betriebskosten nicht. Von ungünstigem Einfluß sind ferner auch die Verstärkung und Verbesserungen der Eisenbahnen, die ausschließlich oder hauptsächlich durch militärische Erwägungen bedingt sind. Es wurden für solche Arbeiten zu ausschließlich militärischen Zwecken aus dem Staatsschatz während der Jahre 1893 bis 1903 etwa 61 Millionen Rubel bewilligt. Außerdem wurde während derselben Jahre auf sämtlichen Linien, die zur westlichen Grenze führen (von Kursk bis nach Odessa und nach dem Königreich Polen, von Moskau und St. Petersburg ebenfalls nach dem Königreich Polen) ein zweites Gleis gelegt und die Betriebsfähigkeit, ebenfalls hauptsächlich aus strategischen Rücksichten, erheblich gesteigert. Selbstverständlich müssen alle diese ungeheuren Ausgaben die ungünstigen Verhältnisse der Eisenbahnwirtschaft beeinflussen." Man muß sich vergegenwärtigen, in welch lebhaftem Tempo die russischen Eisenbahnen vermehrt worden sind. Nach einer Aufstellung, die das russische Wegebauministerium anläßlich der Pariser Weltausstellung herausgegeben hat, betrug das russische Eisenbahnnetz im Jahre 1838 25 Werst, im Jahre 1878 21476 Werst. Vom Jahre 1878—1901 hat sich das Eisenbahnnetz mehr als verdoppelt, hat sich um über 30000 Werst vermehrt. Namentlich nachdem der russisch-türkische Krieg die strategische Unzulänglichkeit der Bahnen enthüllt hatte, wurde unter dem Ministerium Bunge von 1881 bis 1887 trotz der erheblichen Defizits im Budget das Netz von 20400 auf 25000 Werst ausgebaut und Wyschnegradski

— 53 — hatte bis zu Wittes Amtsantritt es auf die immerhin schon recht stattliche Summe von 21147 Werst gebracht. 1 ) Wie sehr der Zwang strategische Bahnen und — wie ich noch genau zeigen werde — Linien zur Forcierung der Getreideausfuhr zu bauen, auf die Einnahmeerträgnisse wirkt, kann man im einzelnen nicht genau für die Staatsbahnen selbst feststellen. Aber einen nicht uninteressanten Anhalt gewinnt man aus der Entwicklung der russischen Privatbahnen. Besonders diejenigen Gesellschaften, die vom Staat subventioniert werden, müssen sich selbstverständlich in bezug auf die Anlage neuer Linien nach den Anordnungen und Wünschen des Ministeriums des Wegebaues richten. Da ist z. B. aus einem Artikel der Frankfurter Zeitung2) zu entnehmen, daß per Werst im Jahre 1903 die Wladikawskabahn 15522, die Südostbahn 10 872, die Moskau—Kasan 10849, die Moskau—Kiew 10393, die Rjasan—Uralk 9555 und die Moskau—Windau—Rybinsk 7525 Rubel erlöst. Der Durchschnittserlös des Staatsbahnnetzes im selben Jahre betrug 1 4 1 3 5 Rubel per Werst. Um vieles günstiger stellten sich die nicht vom Staat garantierten Linien: die Warschau—Wiener Eisenbahn erzielte 3 2 0 8 2 Rubel pro Werst, die Zarskoe Selo-Bahn 3 0 1 5 2 Rubel, die Lodzer Privatbahn 3 8 4 0 1 Rubel. Wir sehen also in der Wirtschaft der russischen Privatbahnen, die von der russischen Staatsregierung „protegiert" werden, so etwas wie einen Abglanz der staatlichen russischen Eisenbahnfinanzwirtschaft, denn fast überall hat die Emission von Obligationen bei diesen Gesellschaften einen Umfang angenommen, der das finanzielle Ergebnis ganz beträchtlich zu schädigen geeignet ist. Bei einzelnen Bahnen, wie z. B. der Rjäsan-Uralskbahn ist das Mißverhältnis ein so enormes geworden, daß sie — nach ansehnlichen Superdividenden bis 1896 — seither regelmäßig ertraglos blieb und dadurch die Staatsgarantie mit großen Beträgen in Anspruch nahm. Nach alledem muß man also unbedingt bei sorgfältiger Durcharbeitung des vorliegenden Materials zu dem Schluß kommen, 1 2

) Witschewsky. a. a. 0 . S. 113. ) Russische Eisenbahn-Obligation.

27. Oktober 1904.

— 54 — daß die r u s s i s c h e n E i s e n b a h n l i n i e n nicht nur u n r e n t a b e l sind, sondern daß sie vorläufig noch dazu den russischen Staat mit ganz erheblichen Summen jährlich belasten, und daß sie für die S t a a t s s c h u l d weder in bezug auf das K a p i t a l n o c h in bezug auf die Verzinsung a l s eine e i n i g e r m a ß e n a u s r e i c h e n d e F u n d i e r u n g a n g e s e h e n w e r d e n können. Wie steht es nun mit den übrigen Einnahmequellen des russischen Staates? Auch hier findet man keineswegs das glänzende Bild bestätigt, das der russische Finanzminister in seinen Berichten fortwährend der europäischen Finanzwelt vorzaubert. Die starke Steigerung, welche z. B. die Accisen für Zucker, Zündhölzer und Naphta bei einem Vergleich der Budgets der letzten Jahre answeisen, sind zum allergrößten Teil durch ganz wesentliche Erhöhung der Steuersätze erzielt worden, nicht etwa durch ein Wachsen des Konsums. 1 ) So ist die Akzise für Zucker von 85 Kopeken auf 1,75 Rubel, für Zündhölzer von VA auf Va Kopeken, für Naphta von 4 0 bis 60 Kopeken erhöht worden, und außerdem haben die Stempelgebühren, Gewerbesteuer eine ganz wesentliche Steigerung erfahren. Ein anderer Teil der russischen Steuern, wie z. B. die Eisenbahn-, Passagier- und Eilgutsteuer, die immerhin ca. 16 Millionen Rubel im Jahre bringt, stellen eine recht empfindliche Besteuerung des Verkehrs dar. Interessant ist, daß Rußland, dessen Bergwerksreichtum so laut gepriesen gepriesen wird, das Erträgnis seiner Bergwerke im Jahre 1904 mit nur 2 8 0 0 0 0 Rubel in das Budget eingestellt. Von dem Staatsbesitztum habe ich die Eisenbahnen bereits einer ausführlichen Betrachtung unterzogen; es ist nicht ohne Interesse, noch einen Blick auf die Forsten zu werfen, die im Voranschlag 1904 mit 60,44 Millionen Erträgnis aufgeführt sind. Auch hier zeigt sich eine starke Steigerung, auf die der russische Finanzminister ausdrücklich in der alleruntertänigsten Berichterstattung des Jahres 1902 hinweist. Im Anschluß an ernsthafte rnssische Schriftsteller erklärt Boutmi: 2 ) „Das Anwachsen der r 2

) Butmi, Finanzchronik, Seite 195. ) a. a. 0 . Seite 189.

— 55 — Einkünfte aus der Forstwirtschaft entspricht in keiner Weise der Zunahme der Ausgaben für dieselbe, geht deshalb nicht aus einer Verbesserung der Forstwirtschaft hervor, sondern beruht auf einer sich immer steigernden Abforstung dank einer erhöhten Nachfrage nach Holzmaterialien und einer Preiszunahme derselben. Diese Vergrößerung der Einnahmen hängt nicht mit der Anlage von Verkehrswegen zu Forstungen zusammen, welche keine Verbindung mit den Absatzmärkten haben und mit günstigen Forstkulturen in Gegenden, welche keine Wälder besitzen, ja selbst sogar sich mit einer einfachen des forstwirtschaftlichen Betriebes — dazu sind die Ausgaben von 6—8 Kopeken für die Dessiatine des Waldes viel zu gering — sondern sie entspringen beinahe ausschließlich einer gesteigerten Abforstung solcher Wälder, welche an Eisenbahnen und Flüssen liegen, ferner einer Ausrottung wertvoller Nutzhölzer, wie Eiche, Nußbaum und Buchsbaum, letztere Gattung in zugänglichen Gegenden des Kaukasus, am Gestade des Schwarzen Meeres. Eine solche Steigerung der Einnahmen aus dem Forstbetrieb bildet eher eine Verschleuderung des in den Forsten liegenden Kapitals als ein Anwachsen desselben und deshalb haben wir keine genügende Veranlassung diesen Teil der Einnahmen als solide Garantie der Zinszahlungen für Schuldverpflichtungen zu halten. . . . "

Y. Rußlands Volkswirtschaft. Uber die Gestaltung der russischen Volkswirtschaft in den letzten zehn Jahren die naturgemäß für die Fragen der Sicherheit und Fundierung der russischen Anleihen eine ganz erhebliche Rolle spielt, ließen sich natürlich Bände schreiben; es kann aber hier nur meine Aufgabe sein, in großen Zügen ihren augenblicklichen Stand zu skizzieren. Ich habe bereits oben in einem anderen Zusammenhang das, was über die Entwicklung einer nationalen russischen Industrie zu sagen nötig war, gesagt und habe gezeigt, daß von einer russischen Industrieentwicklung im

— 55 — Einkünfte aus der Forstwirtschaft entspricht in keiner Weise der Zunahme der Ausgaben für dieselbe, geht deshalb nicht aus einer Verbesserung der Forstwirtschaft hervor, sondern beruht auf einer sich immer steigernden Abforstung dank einer erhöhten Nachfrage nach Holzmaterialien und einer Preiszunahme derselben. Diese Vergrößerung der Einnahmen hängt nicht mit der Anlage von Verkehrswegen zu Forstungen zusammen, welche keine Verbindung mit den Absatzmärkten haben und mit günstigen Forstkulturen in Gegenden, welche keine Wälder besitzen, ja selbst sogar sich mit einer einfachen des forstwirtschaftlichen Betriebes — dazu sind die Ausgaben von 6—8 Kopeken für die Dessiatine des Waldes viel zu gering — sondern sie entspringen beinahe ausschließlich einer gesteigerten Abforstung solcher Wälder, welche an Eisenbahnen und Flüssen liegen, ferner einer Ausrottung wertvoller Nutzhölzer, wie Eiche, Nußbaum und Buchsbaum, letztere Gattung in zugänglichen Gegenden des Kaukasus, am Gestade des Schwarzen Meeres. Eine solche Steigerung der Einnahmen aus dem Forstbetrieb bildet eher eine Verschleuderung des in den Forsten liegenden Kapitals als ein Anwachsen desselben und deshalb haben wir keine genügende Veranlassung diesen Teil der Einnahmen als solide Garantie der Zinszahlungen für Schuldverpflichtungen zu halten. . . . "

Y. Rußlands Volkswirtschaft. Uber die Gestaltung der russischen Volkswirtschaft in den letzten zehn Jahren die naturgemäß für die Fragen der Sicherheit und Fundierung der russischen Anleihen eine ganz erhebliche Rolle spielt, ließen sich natürlich Bände schreiben; es kann aber hier nur meine Aufgabe sein, in großen Zügen ihren augenblicklichen Stand zu skizzieren. Ich habe bereits oben in einem anderen Zusammenhang das, was über die Entwicklung einer nationalen russischen Industrie zu sagen nötig war, gesagt und habe gezeigt, daß von einer russischen Industrieentwicklung im

— 56 — großen Stile nicht die Rede sein kann. Die russische Industriepolitik ist ebenfalls als ein Teil nicht nur der russischen Staatspolitik im allgemeinen, sondern vielmehr der russischen Eisenbahnpolitik anzusehen. Schon am 17. Februar 1866 wohnte der damalige russische Kaiser in eigener Person der Sitzung des Ministerkomitee bei, in der die zu ergreifenden Maßnahmen in nähere Erwägung gezogen wurden1), „um der Situation ein Ende zu bereiten, die den Staat nötigt, alljährlich viele Millionen für die Beschaffung der Eisenbahnmaterialien dem Auslande zu opfern, während in Rußland selbst die Grundelemente zur Entwicklung der betreffenden Industriezweige ihrer Erweckung harren." Kurz vorher hatte der Finanzminister Reutern dem Kaiser ein Programm vorgelegt, wonach „das Ausland bei der Lieferung von Eisenbahnmaterialien auch keineswegs ausgeschlossen, aber alles aufgeboten werden sollte, um im Inland die Eisenindustrie insbesondere die Schienenfabrikation in die Höhe zu bringen." Das war schon an und für sich ein falsches Programm. Beim Bau der Bahnen war man schließlich doch zum allergrößten Teil auf das Ausland angewiesen. Eine vernünftige Politik hätte nicht so sehr Gewicht darauf legen müssen, schon beim Bau der Eisenbahn eine noch nicht vorhandene resp. nicht völlig erstarkte Eisenindustrie unterstützen zu wollen, als vielmehr darauf, durch den Betrieb der fertiggestellten Bahnen die produktiven Kräfte des Landes aus dem Schlummer zu wecken. Ich habe oben an einem Fall bereits gezeigt, wie sehr zum Nachteil ihrer Finanzen die russische Regierung das Material im Inland viel teurer bezahlen muß, als sie es im Ausland erhalten konnte. Aber schon damals zeigte sich in ihren Anfängen und schüchtern, was unter Wyschnegradski und Witte schließlich geradezu zum Lebenselement der ganzen russischen Handelspolitik wurde: Um das Gleichgewicht im Budget herzustellen, mußte die Einfuhr, weil sie Geld außer Landes brachte beschränkt und die Ausfuhr, Wittschewsky, Rußlands Handels-, Zoll- und Industriepolitik von Peter dem Großen bis auf die Gegenwart. Berlin 1905, Ernst Siegfried Mittler & Sohn, Königl. Hofbuchhandlung.

— 57 — weil sie Barmittel ins Ausland trug, forciert werden. Dieser in den westeuropäischen Staaten seit einem Jahrhundert bereits überwundene merkantilistische Standpunkt, der in dieser schroffen Weise nicht einmal mehr in den Agitationen unserer überzeugtesten Schutzzöllner auszuführen gewagt wird, unterwarf sich in Rußland jedes andere Prinzip. Man errichtete Schutzzölle, um eine eigene Industrie zu schaffen; freilich mit dem Erfolge, ausländisches Kapital ins Land zu ziehen, das alljährlich nicht der neuen, sondern der alten Heimat die Dividenden zutrug; man baute Bahnen, um eine extensive Machtpolitik treiben zu können und vor allem, um aus dem tiefsten Innern des Landes Getreidemengen ins Ausland zu bringen; man zwang den russischen Bauer zur Ausfuhr, um die Goldverpflichtungen ans Ausland tragen zu können. Was Rußland auch immer durch die Entwicklung seiner industriellen Produktivkräfte, die zum großen Teil weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist, gewonnen haben sollte, mehr als hundertfach ist all das verloren gegangen, durch den dauernden Schaden, den es dadurch seiner Landwirtschaft zufügte. Ein russischer Staatsmann hat treffend g e ä u ß e r t : „ W i r haben einen jährlichen Menschenzuwachs von zwei Millionen Seelen und unsere ganze Industrie beschäftigt nicht mehr als zwei Millionen Arbeiter; unsere nationale Existenz beruht noch auf lange hinaus auf der Landwirtschaft und diese hat nicht nur keine Fortschritte gemacht, sie verarmt vielmehr von Jahr zu Jahr in höherem Maße." In der Tat beruht Rußlands Stärke auf seiner Landwirtschaft. Einem Werke von Peter Lochtin über den Zustand der russischen Landwirtschaft im Vergleich mit andern Ländern2) entnehme ich, daß die landwirtschaftliche Bevölkerungsquote beträgt in: Rußland Rumänien Ungarn .

77,8 °/o 77,6 „ 76,6 „

Hugo Ganz, Die wirtschaftliche Zukunft Rußlands in „Die Nation" 27. August 1904. 2 ) Zitiert aus Rohrbach, a. a. 0 . Seite 36ff.

— 58 — Schweden 75,0 % Spanien 73,0 „ Bulgarien 72,0 „ Italien 60,0 „ Österreich 55,9 „ Nordamerika 87,3 „ Frankreich 46,0 „ Deutschland 35,6 „ Großbritannien und Irland . 17,0 „

Rohrbach1) berechnet, daß die mittlere Größe jedes einzelnen bäuerlichen Besitztums in Rußland etwas über 13 Hektar beträgt, daß man also von einem Mangel an Land jedenfalls nicht sprechen kann. Dahingegen macht der Ertrag der Ernte aus: Rußland davon Saatgut das Mittel der übrigen Länder Saat

38,8 Pud . 21,9% . 83,7 Pud 8,5 %

Ich möchte gleich an dieser Stelle noch eine Tabelle aus Rohrbach mitteilen, die die ganze Trostlosigkeit der russischen Ackerwirtschaft offenbart, In Rußland macht nämlich infolge der herrschenden wirtschaftlichen Unordnung das Brachland einen verhältnismäßig großen Prozentsatz des dem Ackerbau zur Verfügung stehenden Landes aus. Wenn man das in Betracht zieht, und außerdem noch die Aussaat berücksichtigt, ergibt sich für die Dessiatine Ernte Reinertrag nach Abzug der Aussaat für: Belgien . . . England . . . Holland . . . Dänemark . . Schweden . . Deutschland . Frankreich . . Britisch Indien Rußland . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . , . . . . . . . .

. . . . . . . . .

115,7 Pud 112,8 „ 101,8 „ 92,8 „ 94,8 „ 62,9 „ 62,5 „ 60,1 „ 23,3 „

Daß vom russischen Export der ganz überwiegende Teil aus Getreide besteht, ja, daß die Brotfrüchte eigentlich der einzige !) a. a. 0. Seite 38.

wirklich in Betracht kommende Ausfuhrfaktor der russischen Wirtschaft bilden, ist allgemein bekannt. Eine vernünftige Volkswirtschaftspolitik hätte es sich nun angelegen sein lassen müssen, gerade denjenigen Teil der Bevölkerung, der der russischen Ausfuhr,. somit also der bedeutendsten Goldquelle des Landes, die Hauptkräftigung verleiht, mit besonders liebevoller Sorgfalt zu hegen und zu pflegen; allein, wie ich schon oben angedeutet, ist eben seit Jahrzehnten in Rußland nicht mehr Volkswirtschaftspolitik, sondern lediglich noch Finanzpolitik getrieben worden, und der russische Bauer ward von allen Finanzkünstlern des russischen Reiches als Spielzeug oder, wenn man so will, als Experimentaltier betrachtet worden. Nichts kann diese Situation treffender kennzeichnen als folgende Äußerung Witschewskys: „Auch der bescheidenste Finanzkünstler kann an der Grundwahrheit sich nicht vorbeidrücken, daß das Edelmetall dem Auslande mit Ware oder mit Schuldtiteln bezahlt werden muß. Die Abneigung Wyschnegradskys gegen eine leichtfertige Vermehrung der auswärtigen Schuldverpflichtung ist sehr begreiflich, die trübe Erfahrung der russischen Finanzminister hatte insbesondere über die bedenklichen Konsequenzen von Anleihen aufgeklärt, die lediglich zum Zweck der Beschaffung eines Metallvorrates aufgenommen wurden. Wyschnegradsky verfuhr daher den Umständen angemessen, wenn er seine Goldpolitik auf die starken Wurzeln der nationalen Volkswirtschaft pflanzte, also die Getreideproduktion anspannte und die Getreideausfuhr begünstigte." Also Wyschnegradsky protegierte die Getreideausfuhr, um Gold ins Land zu ziehen, ohne Anleihen aufnehmen zu müssen. Hätte er den Bauer protegiert, hätte er die Kraft der Landwirtschaft gestärkt, hätte er den Versuch gemacht, rationelle Wirtschaftsmethoden einzuführen, um die getreidebauende Bevölkerung zum Export fähig und dauerhaft zu machen, so hätte man es diesem russischen Finanzminister zum ungeheuren Ruhm anrechnen müssen, daß in den Jahren von 1887—1891, da er am !) a. a. 0. Seite 139 und 140.



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Ruder war, der Ausfuhrüberschuß 307 Millionen Rubel Kredit durchschnittlich im Jahr betrug, während er sich unter seinem Vorgänger Bunge nur auf 65,9 Millionen Rubel Jahresdurchschnitt berechnet. Allein Wyschnegradski soll im Herbst 1891, so wird von einem russischen Schriftsteller erzählt, den Ausspruch getan haben: „Selbst werden wir zwar nicht essen, aber wir werden exportieren." Durch diese Worte gewinnt man klarer als Bände gelehrter Ausführungen es vermöchten, einen Einblick in die grobe Verirrung einer Volkswirtschaftspolitik, die lediglich nach fiskalisch-bureaukratischem Gesichtspunkte geleitet wird und geradezu statt der Wohlfahrt dem Ruin eines Volkes vorarbeiten muß. Diese Zustände sind unter Witte nicht etwa besser, sie sind schlimmer geworden, denn mit Recht ist gesagt worden, daß „seit der Einführung der Goldwährung in Rußland kaum mehr weder Agrarpolitik der Äcker wegen noch Industriepolitik der Fabriken wegen getrieben wird. Der Schutz des Goldbestandes ist der Leitstern aller handelspolitischen Maßnahmen." Wahrlich man muß, wenn man das Loblied der russischen Offiziösen und ihrer Nachschreiber hört, das sie angesichts des russischen Goldschatzes anzustimmen gewohnt sind, an den Fluch denken, der am Hort der Nibelunge klebt: Auch auf den Hort der Romanow paßt Alberichs Sang: „nun zeug' sein Zauber Tod dem, — der ihn trägt I Kein Froher soll seiner sich freu'n; keinem Glücklichen lache sein lichter Glanz; wer ihn besitzt, Den sehre Sorge, und wer ihn nicht hat, nage der Neid!"

Es erscheint mir nicht zu hart, wenn die Frankfurter Zeitung vom 8. Oktober in einer Kritik des Helfferichschen Artikels über den russischen Getreideexport ausführt: „Wie dieser betrieben wird, ist bekannt; die Regierung zwingt den Bauer zur Ausfuhr des zur Ernährung seiner Familie selbst benötigten Getreides,

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indem sie die hohen Steuerrückstände unmittelbar nach der Ernte eintreiben läßt." Und dabei steigen diese Steuerrückstände von Jahr zu Jahr. Wie Butmi angibt stiegen die bäuerlichen Steuerrückstände nach dem Bericht der Reichskontrolle von 68,6 % im im Jahre 1892 bis auf 1 2 2 , 5 % im Jahre 1901, d.h. um 78,5%. Kein Wunder, dem erschlafften russischen Boden ist immer neues Erträgnis abgezwungen worden und der russische Bauer war vor die Notwendigkeit gestellt, auch zu den niedrigsten Preisen fortgesetzt zu exportieren. Wie sehr der Erlös für das ausgeführte Getreide zurückgegangen ist, erhellt am besten aus folgender Tabelle: 1881 (Bunge) 1886 (Wyschnegradski) 1894 (Witte)

Getreideexport Erlös Mill. Pud Mill. Kop. 202,8 242,2 278,5 233,3 617,2 369,4

Erlös Kop. pro Pud 119,4 83,7 69,3

Butmi stellt einen Vergleich zwischen der Kaufkraft des deutschen und russischen Bauern an, und kommt zu dem Resultat, daß sich die Preise verschiedener Waren, in Äquivalente Roggen und Weizen umgerechnet, folgendermaßen stellen: Für Baumwolle hat der russische Bauer 2V2mal mehr zu zahlen als der deutsche, für Soda 3mal mehr, für Steinkohle 6 mal mehr, für Gußeisen 4V2mal mehr, für Zuckerraffinade 2^2 mal mehr, und für Tee 10 mal mehr, d. h. die Kaufkraft des Getreideerlöses ist geradezu erschrecklich niedrig im Verhältnis zu der Kaufkraft, die das Getreide in westeuropäischen Ländern besitzt. Es ist daher auch wohl kaum übertrieben, wenn Russophob2) gegenüber Helfferich zu dem Resultat kommt: „Wenn der Russe ebensoviel Getreide verzehren wollte wie der Deutsche, so würde nicht nur kein Export von Getreide stattzufinden haben, sondern es müßte im Gegenteil Rußland Getreide in einer Quantität einführen, welche ungefähr dem vierten Teil der russischen Ernte gleichkäme." Und in der Tat sehen wir denn auch, daß Rußland, während es !) a. a. 0 . S. 195. 2 ) Plutus, 1. Jahrg. S. 919.



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auf der einen Seite riesige Ziffern für die Eisenbahneinnahmen ins Budget einstellt, während es zunächst den Erfolg für sich hat, durch die enormen Summen, die aus dem Getreide vom Auslande erlöst werden, einen Teil seiner Goldschuld an dieses Ausland abtragen zu können, es andererseits Jahr für Jahr ganz erhebliche Unterstützungen an die notleidende bäuerliche Bevölkerung zahlen muß. Es drängt sich geradezu der Vergleich hier auf mit einem Mann, der aus dem Wucher, den er mit seiner Arbeitskraft treibt, enorme Summen alljährlich verdient, der aber einen erheblichen Teil dieser Verdienste dem Doktor und der Apotheke opfern muß. Rußlands Eisenbahnpolitik, Rußlands Währungspolitik, Dinge, die in andern Ländern zur Quelle des Wohlstands geworden sind, haben in Rußland keineswegs vermocht, die zweifellos großen Bodenschätze, die es aufzuweisen hat, zu heben und zu fördern. Die relativ geringe Entwicklung der russischen Industrie, die geringen Ziffern, die Rußland selbst in das Budget seiner Bergwerke als Einnahmeziffern einstellt, sprechen eine nur zu beredte Sprache. „Der vielgepriesene russische Reichtum gleicht den Schätzen des Spekulanten, der sein gesamtes Vermögen in Immobilien festgelegt hat und wegen eines fälligen Wechsels von tausend Mark den Konkurs anmelden muß. Rußland hat nur deshalb bis jetzt den Bankerott nicht erklären brauchen, weil seine Gläubiger nicht nur ständig das Geld zur Einlösung borgen, sondern noch mehr dazu." Rußland lebt vom Pump und die Zinsen dieses Pumpes bezahlt der russische Bauer; d. h. die wirklichen Bodenschätze Rußlands, die bereits heut zu heben sind, werden nicht gepflegt, werden nicht sorgfältig weiter entwickelt, die Bahnen dienen nicht dazu, durch die Verbindung der einzelnen Distrikte im Innern die regelmäßig wiederkehrenden schrecklichen Hungersnöte zu verhindern, sondern dazu, das kostbare russische Gut vor der Nase des hungernden Bauern hinweg ins Ausland zu schaffen, ohne daß die Manager dieser Politik auch nur den leisesten Skrupel darüber empfinden, daß im Innern viel höhere Preise als auf dem Weltmarkt zu erlösen wären.

— 63 — Dieser Art der Raubwirtschaft entspringt denn auch die geringe Zunahme des russischen Wohlstandes. Man weiß nicht recht, ob man es mit Schmerz oder mit Humor betrachten soll, daß Herr Helfferich, um diesen Wohlstand zu konstatieren, gleichfalls mit Ziffern arbeitet, die zwar in Witteschen Finanzberichten sich finden, die aber schon längst als ganz haltlose Flunkereien entschleiert worden sind. Zunächst operiert Herr Helfferich auch mit den Ziffern der Produktionszunahme, wie sie Witte angibt, wonach sich z. B. die Verarbeitung von Textilstoffen vom Jahre 1877 bis 1897 von 297,7 auf 946,3 Millionen Rubel vermehrt habe. Er weiß anscheinend nicht, daß bereits Rohrbach1) zu dieser Witteschen Berechnung folgenden Kommentar gegeben hat: „Bei der Textilindustrie entfällt in Rußland bei weitem der Löwenanteil auf die Baumwolle; hier existiert nun eine außerordentlich merkwürdige Berechnung in dem auf Grund von Material im Finanzministerium unter der Redaktion eines Herrn Blau zusammengestellten Handbuchs des Departements für Handel und Manufaktur (1896). Dieses Handbuch schätzte den Wert aller russischen Baumwollfabrikate auf 531 Millionen Rubel. Diese Ziffer ist erstaunlich, wenn man bedenkt, daß im Jahre 1896 im ganzen an überseeischer und turkestanischer Baumwolle 13V4 Millionen Pud im Werte von 124 Millionen Rubel nach Rußland gelangt sind. Von diesen 1374 Millionen Pud muß vorweg abgerechnet werden alles, was sich an unverwertbaren Abfallstoffen ergibt, das in Gestalt von Watte verbraucht wird, was auf die Herstellung gemischter Gewebe (Baumwolle mit Wolle, Baumwolle mit Seide) für die Fabrikation von Zwirn u. dergl. abgeht. Hinzu gerechnet werden muß die Einfuhr gesponnenen Garns. Alsdann ergibt sich nach Scharapow 2 ), daß der Wert der in Rußland hergestellten Baumwollgewebe die Summe von 266Va Millionen Rubel statt 531 gar nicht übersteigen kann. Der geradezu unglaubliche Fehler, den das Handbuch des Departements für Handel !) a. a. 0 . S. 17. ) Zwei Denkschriften über die russische Finanz. , Berlin 1901, von Hugo Steinitz (russisch) S. 74. a

Verlag

— 64 — und Manufaktur bei seiner Wertberechnung ergeben hat, besteht darin, daß es erstens den Wert der rohen Baumwolle, zweitens den der daraus hergestellten Gespinnste und drittens den der fertigen Stoffe — anstatt zu berücksichtigen, daß jede vorherstehende Ziffer ihrem vollen Betrage nach in der nächstfolgenden drin steckt — einfach addiert hat und das Resultat soll dann den Gesamtwert der russischen Baumwollindustrie darstellen. Am dunkelsten wird die Sache vollends da, wo im Vorwort einer späteren Publikation des Finanzministeriums: „Zusammenstellung von Daten über die russische Fabrikindustrie für das Jahr 1897" der im Jahre vorher gemachte Fehler zwar eingestanden, darauf aber „das Streben der Fabrikanten, den wahren Umfang ihrer Produkte zu verheimlichen", als ausreichende Kompensation des untergelaufenen Versehens in der Berechnung hingestellt wird. In der Denkschrift zum Budget für 1900 erscheint auch richtig wieder die auf Grund jener originellen Berechnuegsmethode gefundene kolossale Summe für den Wert aller Produkte der russischen technischen Industrie. Über diesen neuen groben Schwindel, um keinen noch stärkeren Ausspruch zu gebrauchen, wagt der russische Finanzminister in einem an den Kaiser adressierten Schriftstück den ganzen Wert aufzutischen! Es ist bezeichnend für dasjenige Maß von Verständnis und Interesse, das bei uns wie anderswo in Europa für die russischen Dinge existiert, wenn über ein derartiges Stück außerhalb Rußlands überhaupt noch nichts an die Öffentlichkeit gedrungen ist — abgesehen von der 1900 in Berlin erschienenen — jetzt fast ganz unbeachtet geblieben, in russischer Sprache gedruckten Broschüre Scharapows." Seitdem Rohrbach und ein Jahr darauf Butmi diese Dinge entschleiert haben, seitdem also in deutscher Sprache gewichtiges Material gegen die Richtigkeit der einschlägigen Ziffern vorliegt, kann die Unkenntnis der russischen Sprache Leute, die die Zahlen des russischen Finanzministers ohne eine Spur von Kritik einfach abschreiben, nicht mehr vor dem Vorwurf einer in deutschen Gelehrtenkreisen bis dato unerhörten Leichtfertigkeit schützen. Mögen sie versuchen, die Angaben Scharapows,

— 65 — Rohrbachs, Butmis und Migulins zu widerlegen, das ist ihr gutes Recht. Aber ihre Pflicht ist es, diese Schriften wenigstens zu erwähnen, besonders dann, wenn ihre Schriften, wie z. B. die des Herrn Helfferich, zu einer Zeit im Publikum verbreitet werden, wo es gilt, Deutschlands gutes Geld nach Rußland zu befördern. Genau dasselbe läßt sich über die Art sagen, wie besonders Herr Helfferich die Zunahme des Verbrauchs der russischen Bevölkerung einfach den russischen offiziösen Schriften entlehnt. Hierüber nur kurz ein paar Worte. Butmi rechnet ausführlich dem russischen Finanzminister nach, daß nicht, wie er angibt, der Zuckerkonsum pro Kopf von 1893 bis 1900 um 3 4 % , sondern nur um 9 % gestiegen ist, daß der Konsum in Petroleum im gleichen Zeitraum nicht, wie der Finanzminister berechnet, eine Steigerung um 28%, sondern eine Erhöhung um 10%, bis 1899 sogar eine Verringerung von 4,9 °/o erfahren hat, daß dagegen der nach den Angaben des Finanzministers gleichgebliebene Spirituskonsum in Wahrheit um 6 % pro Kopf sich erhöht hat. Besonders bezeichnend für Herrn Helfferichs Kritiklosigkeit scheint es mir aber zu sein, wenn er in seiner Verbrauchsberechnyng auch die Ziffern über den Verbrauch von Eisen und Stahl anführt, die von 1893 bis 1900 eine Steigerung von 25,2 auf 39,6 russische Pfund aufweisen sollen. Dies kann doch wahrhaftig nicht für die ökonomische Lage des Landes in Betracht gezogen werden angesichts der enormen Eisenbahnbauten, für die gerade in den Jahren 1893 bis 1900 kolossale Quanten Eisen verwandt sein müssen. Wenn also Herr Witte und nach ihm Herr Helfferich verkündet: „Die Steigerung des Warenkonsums und das Anwachsen der Staatseinnahmen beweisen eine Zunahme des Volkswohlstandes, die ökonomische Lage des Landes verbessert sich", so ist nach meinen ganzen obigen Ausführungen viel mehr berechtigt der Schluß, den Butmi 1 ) zieht: „Die Steigerung des Konsums ist zweifelhaft, die Vergrößerung der Staatseinnahme beweist nur i) a. a. 0. S. 197. B e r n h a r d , Rußland.

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eine Zunahme der Steuerlasten, der Ruin einer enormen Anzahl der Bevölkerung unterliegt keinem Zweifel." Wie wenig die russische Bureaukratie gewillt ist, auf die Schicksale und die Steuerkraft namentlich der landwirtschaftlichen Bevölkerung Rücksicht zu nehmen, hat neuerdings wieder ein russischer Nationalökonom, A. A. Radzig, in einem Vortrag, den er in der Petersburger ökonomischen Gesellschaft am 30. März 1905 hielt, dargelegt. 1 ) Aus dem Bericht über diesen Vortrag, der die russische Zensur passiert hat, gebe ich folgende Stellen wieder: „Mit dem Amtsantritt des Finanzministers Wyschnegradski kam ein anderer Kurs in~ unsere Finanzpolitik, denn während Finanzminister Bunge bei allen seinen Maßnahmen immer die Lage der Steuerzahler im Auge behielt, wurde unter seinem Nachfolger und später unter S. J. Witte die Steuerschraube rücksichtslos in Bewegung gesetzt; es wurde die Akzise auf Tabak, Zucker, Branntwein und Bier erhöht und die Akzise auf Petroleum und Streichhölzchen eingeführt. Auch die Zölle auf notwendige Gebrauchsartikel wurden hinaufgeschraubt, so daß es fast den Anschein hatte, als wenn es die genannten Minister darauf abgesehen hätten, Rußland zu ruinieren. Die Zollsätze für Heringe, Gußeisen, Eisen, Kupfer, Baumwolle usw. wurden hinaufgeschraubt. Der Unterschied in der Höhe der Steuerlast des Volkes ist klar aus den Einnahmebudgets der einzelnen Perioden des Ministeriums ersichtlich. So stellten sich z. B. die Staatseinnahmen unter dem Ministerium Bunges pro 1887 auf 811 Millionen Rubel und betrugen unter dem Ministerium Wyschnegradskis pro 1888 schon 97 Millionen Rubel, während das Einnahmebudget in der Zeit, wo S. J. Witte dem Finanzministerium vorstand, von 880 auf 1484 Millionen Rubel, also um mehr als 90°/0 gewachsen ist. Weder Wyschnegradski noch Witte haben es für nötig gefunden, irgend eine Steuer zu ermäßigen, sondern jeder sich bei Realisierung der Budgets ergebende Überschuß fand sofort Verwendung. Das Staatsbudget konnte nur um den Preis der Verarmung der Bevölkerung so

x)

Veröffentlicht in der Deutschen Petersburger Zeitung.

— 67 — glänzend gestaltet werden. Von einer Herabsetzung der Steuern will unser Finanzressort jedoch nichts wissen, obgleich z. B. die indirekten Steuern von 3 Rubel im Jahre 1871 auf 6 Rubel pro Kopf der Bevölkerung im Jahre 1905 gewachsen sind, sich also in etwas mehr als 30 Jahren im Verhältnis zur Bevölkerungsziffer verdoppelt, absolut genommen aber mehr als verdreifacht haben, da sie von 240 auf 759 Millionen Rubel gestiegen sind. Sich den Lebensbedingungen der Landbevölkerung zuwendend, konstatierte A. A. Radzig, daß z. B. im Kreise Balaschow nach Mitteilungen der dortigen Landschaft der Bauer aus der Landwirtschaft einen Reingewinn von 18 Rubel jährlich pro Kopf der Bevölkerung erzielt, daß der Bevölkerung aber nach Abzug der direkten Steuern im ganzen nur 8 Rubel jährlich pro Kopf verbleiben. Die Folge ist chronischer Hunger. In den meisten Kreisen des weiten russischen Reiches steht es nicht viel besser. Vor Aufstellung des Budgets pro 1903 waren S. J. Witte aus allen Teilen des Reichs Berichte über die traurige Lage des Volkes zugegangen, doch sah sich das Finanzressort trotzdem zu keinerlei Zugeständnissen veranlaßt. Die zum Teil durch Steuern, zum Teil durch Anleihen leicht gewonnenen Mittel wurden vorzugsweise zum Eisenbahn- und Städtebau verwandt. Dem hohen Einnahmebudget verdanken Dalni, Port Arthur und die Sibirische Bahn ihre Entstehung. Wenn die hierzu verwandten Mittel dem Dorfe nicht entzogen worden wären, gäbe es heute keine Armut unter der Landbevölkerung."

VI. Schluß. Ich habe in meiner Darstellung der russischen Finanzverhältnisse absichtlich nur von den Zeiten des Friedens für Rußland gesprochen, also von einer normalen Epoche. Ich habe ferner fast ausschließlich solches Material benutzt, das bereits seit langem der deutschen Kritik in deutscher Sprache vorlag. Um so ungeheuerlicher erscheint es, daß diese Daten so gut wie gar 6*

— 67 — glänzend gestaltet werden. Von einer Herabsetzung der Steuern will unser Finanzressort jedoch nichts wissen, obgleich z. B. die indirekten Steuern von 3 Rubel im Jahre 1871 auf 6 Rubel pro Kopf der Bevölkerung im Jahre 1905 gewachsen sind, sich also in etwas mehr als 30 Jahren im Verhältnis zur Bevölkerungsziffer verdoppelt, absolut genommen aber mehr als verdreifacht haben, da sie von 240 auf 759 Millionen Rubel gestiegen sind. Sich den Lebensbedingungen der Landbevölkerung zuwendend, konstatierte A. A. Radzig, daß z. B. im Kreise Balaschow nach Mitteilungen der dortigen Landschaft der Bauer aus der Landwirtschaft einen Reingewinn von 18 Rubel jährlich pro Kopf der Bevölkerung erzielt, daß der Bevölkerung aber nach Abzug der direkten Steuern im ganzen nur 8 Rubel jährlich pro Kopf verbleiben. Die Folge ist chronischer Hunger. In den meisten Kreisen des weiten russischen Reiches steht es nicht viel besser. Vor Aufstellung des Budgets pro 1903 waren S. J. Witte aus allen Teilen des Reichs Berichte über die traurige Lage des Volkes zugegangen, doch sah sich das Finanzressort trotzdem zu keinerlei Zugeständnissen veranlaßt. Die zum Teil durch Steuern, zum Teil durch Anleihen leicht gewonnenen Mittel wurden vorzugsweise zum Eisenbahn- und Städtebau verwandt. Dem hohen Einnahmebudget verdanken Dalni, Port Arthur und die Sibirische Bahn ihre Entstehung. Wenn die hierzu verwandten Mittel dem Dorfe nicht entzogen worden wären, gäbe es heute keine Armut unter der Landbevölkerung."

VI. Schluß. Ich habe in meiner Darstellung der russischen Finanzverhältnisse absichtlich nur von den Zeiten des Friedens für Rußland gesprochen, also von einer normalen Epoche. Ich habe ferner fast ausschließlich solches Material benutzt, das bereits seit langem der deutschen Kritik in deutscher Sprache vorlag. Um so ungeheuerlicher erscheint es, daß diese Daten so gut wie gar 6*



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nicht bekannt sind, daß es möglich war, trotz ihrer viele Millionen russischer Anleihen immer von neuem wieder in Deutschland abzusetzen und daß sich sogar trotz ihrer deutsche und französische Gelehrte gefunden haben, die mit.den alten Blendern des russischen Finanzministeriums, ohne Furcht, ertappt zu werden, zu operieren wagten. Inzwischen hat sich nun die Lage Rußlands noch viel ernster gestaltet: Der Krieg hat bis jetzt eine Milliarde neuer Anleihen erfordert, die unter teilweise recht harten Bedingungen aufgenommen werden mußten. Die Notenpresse hat in recht bedenklicher Weise gearbeitet und in den Budgetaufstellungen für das Jahr 1905 zeigt sich bereits der deutlich erkennbare Einfluß des Krieges, noch mehr freilich in der Realisierung des Budgets für 1904, die u. a. eine — vorläufig eingestandene — Verminderung der Zolleinnahmen um 23,1 Millionen aufweist. In dem oben bereits zitierten Vortrage des Nationalökonomen Radzig wird über den Einfluß des Krieges auf die Finanzlage des russischen Staates ausgeführt: „Auf den ersten Blick scheint die Lage unserer Staatsfinanzen allerdings günstig zu sein, doch darf nicht vergessen werden, daß des Krieges wegen bereits Anleihen im Betrage von 881 Millionen Rubel1) aufgenommen sind. Der Krieg kostet uns jetzt schon über eine Milliarde, und um unseren Goldvorrat nicht schwinden zu sehen, sind wir genötigt, immer neue Anleihen aufzunehmen, denn mit Steuererhöhungen läßt sich jetzt nichts mehr erreichen, weil die Steuern ohnehin auf das höchste Maß heraufgeschraubt sind. Von der trotzdem vorgenommenen Steuererhöhung wird aber nur ein Ertrag von 18 Millionen Rubel erInzwischen ist dieser Betrag erheblich gestiegen. Die Frankfurter Zeitung stellte am 19. Mai 1905 die bisher gegebenen Kriegsanleihen folgendermaßen zusammen: Mai Herbst Januar Mörz Mai

1904 1904 1905 1905 1905

6 % Schatzbons Rub. 300 Millionen begeben in Frankreich. 3,6°/o Schatzpapiere „ 150 „ « i m Inland. 4V2 Anleihe „ 231,5 „ „ i n Deutschland. 6 % innere Anleihe „ 200 „ „ im Inland. Schatzwechsel „150 „ „ i n Deutschland.

— 69 — wartet. Die im Umlauf befindlichen Kreditbillete im Betrag von 970 Millionen Rubel sind durch einen Goldfonds von 890 Millionen Rubel und 112 Millionen Gold im Ausland gedeckt. Eine weitere Emission von Kreditbilleten im Betrage von 2 9 0 — 3 0 0 Millionen Rubel könnte jetzt allerdings nach den für die Deckung bestehenden Erfindungen vorgenommen werden, doch würden, wie wir vielfach gesehen haben, daß Kreditbillette nicht mehr voll eingelöst werden, dann zunächst Forderungen auf Einlösung des Papieres mit Geld gar nicht gemacht werden, doch müßte — weil der Effektivbestand des Geldes dem Betrage der Kreditbillete nicht mehr Rubel für Rubel entsprechen würde — die Einwechselung bald eingestellt werden, was Schwankungen des Rubelkurses zur Folge haben müßte. Wir könnten uns also nur durch Anleihen forthelfen. Den Krieg fortsetzen hieße somit neue Schulden auf die alten häufen. 1 ) . . . . Wir begannen den Krieg bei einer glänzenden Lage unserer Finanzen, die jedoch nicht im Uberfluß, sondern im Hunger des Bauern ihren Ursprung hatte. Wenn die Landbevölkerung 100 Rubel pro Kopf der Bevölkerung zu verzehren hätte, so wäre die Politik S. J . Wittes noch verständlich gewesen, während es jetzt überhaupt nicht zu begreifen ist, wie der Bauer noch Steuern zahlen kann. . . . Es sind haltlose Zustände eingetreten, die sich durch neue Steuern immer noch schwieriger gestalten. Wenn das so weiter geht, so steht Rußland vor dem Ruin . . . " In der Tat scheint man nun doch langsam auch in den Sphären der russischen Regierung eingesehen zu haben, daß mit Steuererhöhungen nichts mehr auszurichten ist. Man hat sich vorläufig mit Neuanleihen geholfen. Aber man diskutiert jetzt schon ganz offen die Frage der Veräußerung gerade der besten russischen Eisenbahnen an Privatgesellschaften, und die Gerüchte dar-

Ist inzwischen eingetreten. Als Radzig vor der Petersburger volkswirtschaftlichen Gesellschaft diese Ausführungen machte, war die verderbenbringende Katastrophe über Rojestschwenskys Geschwader noch nicht hereingebrochen.

— 70 — über wollen trotz aller offiziösen Dementis nicht verstummen. Der lange unterdrückt gewesene „Syn Otetschestwa"*) schließt eine Betrachtung über die Möglichkeit solcher Verpachtung oder Veräußerung mit den Worten: „Wenn es eine Art Verpachtung oder Verpfändung sein soll, so beginnen wir uns jetzt der Lage der Türken oder Personen zu nähern, welche nicht imstande sind, ihre Staatsregale für sich selbst auszunutzen. Wenn es so weit kommt, daß man sein Besitztum unter dem Hammer verkauft, so ist der Kredit offenbar verloren und man kann auf keine unabhängige wirtschaftliche Existenz mehr rechnen. Wenn wir aber unseren Kredit tatsächlich verloren haben und unser Finanzministerium keinen andern Weg sieht, als zum Verkauf des Nationaleigentums zu schreiten, so dürfte es nicht zu spät sein, vorher noch ein anderes Mittel zu versuchen. Der Kredit basiert bekanntlich auf dem Vertrauen zum Finanzministerium, über das er im Staat verfügt; ist dieser Kredit erschüttert, so bedeutet das, daß unsere Kreditoren die Solidität unseres Finanzsystems anzweifeln, folglich müssen wir zur Wiedererlangung unserer Kreditfähigkeit unser Finanzsystem ändern. Das ist natürlich keine leichte Aufgabe, da das Finanzsystem stets ein Produkt der bestehenden Staatsordnung ist. Das leibeigene Rußland hatte die Kopfsteuer, das bureaukratisch-agrarische Regime die indirekten Steuern und die Staatsmonopole. Jetzt stehen wir vor dem Übergang zum demokratischen System, dem der Einkommensteuer. Das wird aber erst mit der Einberufung der Volksvertretung möglich sein, deshalb war es falsch, schon jetzt mit dem Verkauf des Nationalbesitzes zu beginnen, sondern weit richtiger, politische Bedingungen zu schaffen, die unsern Staatskredit heben, den unsere Bureaukratie verloren hat." Diese Ausführungen des russischen Blattes bringen mich zu dem Ausgangspunkt meiner Betrachtungen zurück. Wie in keinem Lande, so ist es auch in Rußland nicht angängig, die Wirtschaftsformen von der Staatsverfassung und die Kreditfähigkeit von Zitiert nach der Vossischen Zeitung vom 23. Mai 1905.

— 71 — dieser zu trennen. Alle Betrachtungen über die russische Finanzwirtschaft müssen schließlich immer wieder in eine Betrachtung der politischen Verhältnisse münden. Es mag in finanzpolitischer Hinsicht gleichgültig sein, ob ein Staat in der Form der konstitutionellen Monarchie oder in der Form der Republik organisiert ist. Aber zwischen diesen beiden Staatsformen und einer autokratischen Monarchie mit so außerordentlich weitgehender Herrschergewalt, wie sie der russische Kaiser besitzt, klafft ein gar nicht zu überbrückender Riß. Diese Autokratie muß, selbst wo sie sich nicht zu Fälschungen von der Art der auf diesen Blättern aufgedeckten hinreißen läßt, die wirtschaftliche Entwickelung eines Landes beeinflussen, muß sie hemmen, muß namentlich einer fortschrittlichen Entfaltung der Produktivkräfte überall Fußangeln in den Weg legen. Wie kann man überhaupt noch zu einer Wirtschaft Vertrauen haben, bei der man ja nie weiß, was im höheren Staatsinteresse von der regierenden Bureaukratie geheimgehalten wird, was von ihr künstlich beeinflußt ist, um unberufenen Augen den Einblick in die wahren Verhältnisse zu versperren. In der Vossischen Zeitung vom 20. Juli 1904 ist aus einer Schrift des bekannten Professors an der Universität Charkow, des Herrn Peter Migulin, über die russische Bankpolitik ein interessanter Beleg für diese Auffassung zitiert worden. Da schreibt Migulin über die russische Staatsbank: „So wie heute kann die Staatsbank auf die Dauer nicht bleiben, weder unsere Währung noch unsere innere Finanz, noch unser Staatskredit können als geregelt betrachtet werden, so lange die zentralstaatliche Emissionsbank mit statutenwidrigen Operationen überhäuft ist, die gar nicht bekanntgemacht werden, von denen man gar nicht weiß, ob die Übertretung der Statuten mit allerhöchster Genehmigung geschehen ist Unzweifelhaft werden die Statuten ungeheuerlich verletzt, obwohl kein einziger Paragraph weder auf dem Wege der Gesetzgebung, noch durch einen allerhöchsten Erlaß außer Kraft gesetzt ist. Aber kann man sich unter solchen Umständen auf dieses oder ein anderes Gesetz verlassen?" Noch viel deutlicher als dieses Zitat aus dem Werk Migulins

— 72 — spricht sich Butmi aus. 1 ) Er zeigt deutlich, wie willkürlich durch die Allmacht der Bureaukratie die Berichterstattung, wie willkürlich die Geschäftshandhabung der russischen Staatsbank ist. Man hat auf den unveränderten Diskontsatz der russischen Reichsbank in der letzten kritischen Konjunkturperiode hingewiesen. Demgegenüber aber stellt Butmi fest: 2 ) „Unsere Reichsbank verkürzt einfach die Kredite und macht willkürlich dem Diskont Schwierigkeiten gemäß den Instruktionen des Finanzministers, ohne auf die Anforderungen des Marktes Rücksicht zu nehmen, sie bedarf deshalb keiner Erhöhung des Diskontsatzes." Über die künstliche Beeinflussung der Börse durch die Bureaukratie sagt Butmi an derselben Stelle:' „Eine sehr mäßige Erhöhung der Börsenkurse, der zinsen- und dividendentragenden Papiere erklärt sich durchaus nicht durch eine Verbesserung der Lage, die in Wirklichkeit gar nicht vorhanden ist, sondern durch die Maßnahmen einer künstlichen Einwirkung seitens des Finanzministers, wobei die Verluste, die die Inhaber der Börsenwerte tragen sollten, auf die Reichsbank, das Reichsrentamt und die Sparkasse übertragen werden, d. h. eigentlich auf dieselben Steuerzahler, welche dazu berufen sind, lautlos die lautverkündeten Erfolge zu bezahlen, die so oder anders von unserem Finanzministerium erreicht werden. Viele industrielle Unternehmungen, deren Leiter es nicht verstanden haben, die Gunst des Finanzministeriums zu erwerben, haben ihre Existenz eingebüßt Was diejenigen Unternehmungen anbetrifft, sowohl Banken als auch industrielle Unternehmungen, welche vom Finanzminister gnädigst zu den „lebensfähigen" gerechnet werden, so werden zu deren Unterstützung jegliche Maßregeln eines sorgfältigen Schutzes getroffen. Im Jahre 1901 hat die Staatsbank Industrielle Darlehen im Werte von 77 1 / / 2 Millionen Rubel ausgeteilt und hat an diesen Darlehen einen Verlust von 6,4 Millionen Rubel erlitten Die Kurse der Eisenbahn-Obligationen und der Pfandbriefe werden von den

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a. a. 0 . Finanzchronik S. 743. ) a. a. 0 . S. 743.

— 73 — Sparkassen unterstützt, welche von der Regierung nicht garantierte Obligationen einkauft, im Gegensatz zum Grundprinzip der Staatssparkassen, welche verlangen, daß die Kapitalien ausschließlich in Staatspapieren oder in Papieren, die vom Staat garantiert sind, angelegt werden." Butmi äußert sich dann weiter ausführlich über die Art, in der willkürlich Enqueten veranstaltet, willkürlich solche vereitelt oder ihre Ergebnisse verheimlicht werden. Ein treffendes Beispiel für diese Art hat übrigens der schon oben erwähnte russische Staatsmann Herrn Hugo Ganzerzählt. Es handelt sich in seiner Erzählung um die Komitees, die zur Hebung der bäuerlichen Wirtschaft und für die Regelung der Kreditfrage einberufen waren. Der Staatsmann äußert sich: „Was soll ich Ihnen sagen? Unsere Komitees haben offenherzig gearbeitet. Es waren Adlige, wohlgesinnte Patrioten, die an den Enqueten zur Hebung der Volkswirtschaft teilgenommen haben. Das Material ist nur in 300 Exemplaren gedruckt, der Öffentlichkeit unzugänglich. Das Resultat der in unserem Auftrag unternommenen Enquete aber war die Verhaftung der offenherzigsten, aufrichtigsten Kritiker. Halten Sie das für eine Ermutigung der patriotischen Wirksamkeit? Unsere Kaufleute und Semstwos haben ohne einen Kopeken staatlicher Unterstützung in sechs Jahren 136 Schulen eröffnet mit vier Millionen Rubeln jährlicher Ausgaben. Der Instinkt für das, was nötig ist, ist also vorhanden. Man brauchte die Gesellschaft nur gewähren zu lassen, und auch wir wären imstande, wenn auch vielleicht in langsamerem Tempo, dieselbe Entwicklung durchzumachen, die Deutschland seit dreißig Jahren mit so ungeheuerem Erfolg durchgemacht hat, von einem von der Witterung abhängigen Agrarstaat zum mächtigen Industriestaat. Aber Deutschland ist ein Rechtsstaat, und wir sind ein Polizeistaat. Deutschland hat einen Mittelstand, wir haben keinen, und die Bildung eines solchen wird mit allen Mitteln verhindert. Die kaufmännischen Schulen werden drangsaliert, weil sie dem Finanz!) „Die Nation". 27. August 1904, S. 755.

— 74 — ministerium unterstellt sind, in dem natürlich ein anderer Geist herrscht. Ein ungeheures materielles Opfer bringen die Kaufmannschaften, die ja außer den vier Millionen Erhaltungskosten noch fünf Millionen Rubel jährlich für die Herstellung der Baulichkeiten ausgeben, um autonom zu bleiben, den Lehrkörper und die Inspektion in den Händen zu behalten und sich elastischer den lokalen Bedürfnissen anpassen zu können. Dies Opfer wird nicht beachtet und jede Regung der freien Initiative argwöhnisch unterdrückt." Ist dem gegenüber nicht die Äußerung Reusners1) berechtigt: „Der absolutistische Staat ist ganz und gar unfähig, die Staatswirtschaft zu leiten. Jedes Land wird durch den Absolutismus unbedingt an den Rand des Bankerottes gebracht. Das gegenwärtige Rußland macht in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Trotz seines finanziellen Prestiges, trotz aller Reichtümer, die sich im Schöße des ungeheuren Reiches bergen, ist die russische Regierung dennoch nicht in der Lage, den wirtschaftlichen Aufgaben des Landes nachzukommen, und sieht sich gezwungen, den Weg bedenklicher Operationen und völligen offiziellen Zusammenbruches zu gehen." Nimmt man nun zu alledem noch die sich mehrenden Zeichen der schmählichsten Korruption unter dem russischen Beamten, — man denke nur an die Annonze aus der Voss. Zeitung vom 29. Dezember 1904, durch die „ein akademisch gebildeter Herr, der im russischen Marineministerium die besten Verbindungen hat, sich Firmen und Erfindern, ,die was liefern wollen' empfiehlt," und endlich jene Veröffentlichung im „Vorwärts" vom 1. April 1905, die den Brief des ersten Aufsichtsratsvorsitzenden einer französischen Lokomotivenfabrik an einen russischen Vermittler enthält, in dem ganz ungeniert wegen der Schmiergelder verhandelt wird, die der Vermittler für die Ubervorteilung des russischen Staates erhalten soll, — so erhält man geradezu ein grauenhaftes Bild von der moralischen Verseuchung, die der Bureaukratismus in Rußland hervorgerufen hat. Wer einem !) „Plutus", II. Jahrg. S. 78.

— 75 — solchen Lande sein Geld gibt, der darf sich später über Verluste nicht beklagen, er kann sich auch sich selbst gegenüber nicht mit dem Hinweis auf die glänzende Darlegung der russischen Finanzverhältnisse von anderer Seite entschuldigen. Zweifellos ist Rußland ein reiches Land, ja, es ist sogar nicht einmal ausgeschlossen, daß die schweren Sünden der russischen Bureaukratie bei vernünftiger Wirtschaft wieder gutgemacht werden könnten — aber dazu ist eben durchaus notwendig, daß die Staatsgläubiger einen Einblick bekommen in die Finanzgebahrung wie sie ist. Nicht aber darf ihnen ferner der bloße Anblick, der in Rußland ja traditionell aufgerichteten Potemkinschen Kulissen genügen. D e r n a t ü r l i c h e R e i c h t u m e i n e s L a n d e s h a t e i n e n Wert v o n w e n i g m e h r a l s N u l l , w e n n d i e s e R e i c h t ü m e r n i c h t r a t i o n e l l v e r w e r t e t w e r d e n . Und daß m a n w e d e r in die Ratio der r u s s i s c h e n V e r w a l t u n g n o c h in ihre E h r l i c h k e i t a u c h nur e i n i g e s V e r t r a u e n s e t z e n darf, g l a u b e i c h ü b e r z e u g e n d in d e n v e r s c h i e d e n e n K a p i t e l n d i e s e r S c h r i f t n a c h g e w i e s e n zu h a b e n . Daß die autokratisch - bureaukratische Verwaltung des russischen Reiches das schlimmste befürchten läßt und daß den Gläubigern bei einem Fortbestehen dieser Verwaltung nach dem Kriege recht unangenehme Überraschungen bevorstehen können, sagt nur allzu deutlich der warmherzige Patriot und frühere russische Professor M. von Reusner, den ich schon mehrfach zitierte: x) „Die Finanzverwaltung ist der Staat selbst im Vollbesitze seiner höheren Rechte. Indem sie sich verpflichtet, die Schulden zu zahlen, macht sie für sich folgenden Vorbehalt: solange es im Interesse des Staates erforderlich ist! Es kann aber mitunter im Interese des absolutistischen Staates liegen, die Tilgung der Schuld einzustellen, zu verändern oder aufzuschieben. Ein Staatsbankerott ist oft das einzige Mittel, um die Kauf- und produktiven Kräfte der absoluten Monarchie retten zu können. Und wenn eine solche finanzielle

!) Plutus, II. Jahrg., S. 81.

— 76 — „Charlatanerie" in den konstitutionellen Staaten dank der Kontrolle des Parlaments und dank der öffentlichen Meinung undurchführbar ist, so hat es damit in Rußland eine ganz andere Bewandtnis. Die absolutistische Bureaukratie kann in ihrem eigenen Interesse sich sehr leicht für diesen schrecklichen Schritt entschließen. Ja, sie hat tausenderlei Mittel, um nach und nach den Staatsbankerott zu bereiten, während nach außen hin alles in vorzüglicher Weise geordnet scheint, während offizielle Berichte alle möglichen Fortschritte, Reservefonds usw. verkünden." * * *

Nachdem ich die vorliegende Schrift bis zu diesem Punkt geführt hatte, haben sich die Folgen der Vernichtung der russischen Flotte durch die japanischen Kriegsschiffe bemerkbar gemacht. In der Umgebung des Zaren, die sich so lange, selbst noch unter dem erschütternden Eindruck der Seekatastrophe allen Bestrebungen auf Friedensschluß hartnäckig widersetzte, hat endlich doch die Erkenntnis gesiegt, daß eine weitere Fortsetzung des Schlachtens nur der revolutionären Strömung im eigenen Lande nützen könne. Man will also Frieden schließen. Hat man aber den Krieg nicht ohne die Hilfe des ausländischen Kapitals führen können, so kann man ohne seine wirksame Hilfe auch nicht Frieden schließen. Japan verlangt eine Kriegsentschädigung, und wenn sie schließlich auch nicht in Höhe von 4 Milliarden Mark, wie der Sieger jetzt fordert, bewilligt werden wird, zu 2 Milliarden wird sich Se. Majestät der Herrscher aller Reussen wohl verstehen müssen. Mindestens die gleiche Summe wird nötig sein, um den Schaden wieder gut zu machen, der der Flotte und dem Heer durch die feindlichen Streitkräfte zugefügt worden ist. Und gar nicht berechnen läßt sich die Summe, die das Land braucht, um vorläufig auch nur notdürftig seine Volkswirtschaft in Funktion zu setzen. Man kann deshalb getrost sagen, daß Rußland, das bereits während des Krieges rund 1 Milliarde Rubel hat Schulden kontrahieren müssen, binnen ganz kurzer

— 77 — Frist weitere 21/2 Milliarden Rubel wird aufnehmen müssen. Das bedeutet ein Wachstum der russischen Verschuldung auf insgesamt beinahe 10 Milliarden Rubel. Damit hätte Rußland den Verschuldungsstand des englischen Reiches bei weitem überholt. Ist Rußland nun in der Lage für die Verzinsung und Amortisation dieser Schuldenlast eine Garantie übernehmen zu können? Ich behaupte: Nein. Ich bin in den vorstehenden Kapiteln zu dem Resultat gekommen: 1. Kein r u s s i s c h e s Budget, das während der letzten 15 Jahre der Öffentlichkeit übergeben worden ist, verdient in bezug auf seine t e c h n i s c h e Durchführung und in bezug auf Wahrhaftigkeit seiner Angaben irgend w e l c h e s Vertrauen. 2. Die A n l e i h e n des r u s s i s c h e n Reiches haben eine Höhe erreicht, die in gar keinem Verhältnis mehr zur L e i s t u n g s f ä h i g k e i t der russischen Bevölkerung steht. 3. D i e s e Anleihen sind nur zu einem ganz geringen Teil zu produktiven Zwecken a u f g e n o m m e n worden, größtenteils waren sie n o t w e n d i g um das Budget ins G l e i c h g e w i c h t zu bringen oder um die Goldwährung vor dem Zusammenbruch zu bewahren. 4. Die r u s s i s c h e n E i s e n b a h n e n bilden kein werbendes sondern ein f r e s s e n d e s Staatsvermögen. Sie sind unter militärischen, aber nicht ökonomischen Gesichtspunkten gebaut worden. Sie repräsentieren lange nicht den Aktivwert, mit dem s i e in die Staatsbilanz e i n g e s e t z t sind. 5. Rußlands Forsten befinden sich in einem desolaten Zustand. 6. D a s Rückgrat der russischen Volkswirtschaft, der Ackerbau, ist den rein f i n a n z i e l l e n Interessen der einzelnen Finanzminister g e o p f e r t worden. Der Getreideexport wird zu unlohnenden Preisen forciert,

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der r u s s i s c h e B a u e r ist n i c h t in der L a g e , die d r ü c k e n den S t e u e r n a u f z u b r i n g e n . 7. D i e A n g a b e n über den F o r t s c h r i t t der r u s s i s c h e n Industrieentwicklung, die Minister Witte publiziert h a t , s i n d in den w e s e n t l i c h s t e n T e i l e n f a l s c h und irreführend. 8. D a s r u s s i s c h e B a n k w e s e n w i r d w i l l k ü r l i c h g e l e i t e t und b i e t e t gar k e i n e G a r a n t i e n d a f ü r , daß es s t ü r m i s c h e n Z e i t e n g e w a c h s e n ist. In diesen Verhältnissen ist durch den Krieg keine Besserung sondern eine Verschlechterung eingetreten. Die Kriegsschiffe sind zerstört worden und befestigte Häfen sind in Feindes Hand gefallen oder werden dem Feinde überlassen werden müssen. Die östlichen Eisenbahnen haben sich als strategisch unzulänglich erwiesen. Der ideale Wert, den man ihnen beimaß, ist jetzt nicht mehr vorhanden, nachdem die asiatische Machtpolitik, zu deren Unterstützung sie gebaut waren, kläglich gescheitert ist. Die Aktiven sind also vermindert, die Passiven aber sollen vermehrt werden. Wie man dem verwüsteten Volkskörper neue Kräfte abgewinnen will, ist tief verschleiertes Geheimnis der russischen Bureaukratie. Es wird einfach unmöglich sein in der bisherigen Weise weiter zu wirtschaften. Durch die Presse ist die Nachricht gegangen, die russische Regierung habe einen Gelehrten mit dem Studium der Couponkürzungen europäischer Staaten betraut. Soll schon jetzt die Reusnersche Voraussage sich bewahrheiten? Vorläufig — so glaube ich — handelt sich's nur um einen Schreckschuß, der den Staatsbankerott für den Fall ankündigen soll, daß die europäischen Finanzherren zugeknöpfte Taschen zeigen sollten. Hat man das neue Geld erst im Lande, dann wird schon das weitere folgen. Rußland kann seine Milliardenschulden in Zukunft nicht verzinsen, wenn die alte Bureaukratie am Ruder bleibt. Nur wenn eine völlige Umgestaltung der russischen Volkswirtschaft erfolgt, ist die latente Kraft, die in den Schätzen des russischen Landes liegt, fruchtbar zu machen.

— 79 — Diese wirtschaftliche Umgestaltung ist aber ohne eine freiheitliche politische Verfassung undenkbar. Die westeuropäischen Finanzmächte laden eine schwere Verantwortung auf sich, wenn sie nicht rechtzeitig Garantien für die ihnen anvertrauten Ersparnisse ihrer Volksgenossen fordern: Entschließt sich Rußland nicht, mit der verlodderten Bureaukratenund Günstlingswirtschaft aufzuräumen, so bleibt nichts weiter übrig als die Einsetzung einer europäischen Finanzkontrolle. Es wäre eine ganz falsche Taktik, wollte man jetzt nachgeben, um Rußland zu hindern, seinen Gläubigern die Krallen zu zeigen. Denn mit dem Rechenstift kann man bereits heute den Zeitpunkt bestimmen, wo zu dem alten Geld das neue verloren sein wird. Tut die F i n a n z w e l t W e s t e u r o p a s j e t z t i h r e S c h u l d i g k e i t n i c h t , so muß der V e r s u c h , d a s r u s s i s c h e D a n a i d e n f a ß zu f ü l l e n , mit einer f u r c h t b a r e n K a t a s t r o p h e enden.