Deutschlands politische Parteien und das Ministerium Bismarck, I.: Ein Beitrag zur vaterlichen Geschichte [Reprint 2021 ed.] 9783112388921, 9783112388914


206 41 20MB

German Pages 269 [272] Year 1878

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Vorwort
Erstes Kapitel. Die politischen Parteien in Preußen von 1848 bis 1858
Zweites Kapitel. Die neue Aera und die Entstehung der deutschen Fortschrittspartei
Drittes Kapitel. Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis zum Kriege von 1866
Viertes Kapitel. Die Entstehung der nationalliberalen Partei; der Landtag von 1866 bis 1867 und der konstitnirende norddeutsche Reichstag
Fünftes Kapitel. Die konservativen und die liberalen Parteien von Mitte 1867 bis zum französischen Kriege
Sechstes Kapitel. Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.
Siebentes Kapitel. Fürst Bismarck und seine Stellung zu den politischen Parteien im April 1874
Anhang Programme und Aufrufe der politischen Parteien von 1875 bis 1877
Inhaltsverzeichnis
Recommend Papers

Deutschlands politische Parteien und das Ministerium Bismarck, I.: Ein Beitrag zur vaterlichen Geschichte [Reprint 2021 ed.]
 9783112388921, 9783112388914

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

♦ M ♦

II

und das

Minißknum Kismarck. Ein Beitrag zur vaterländischen Geschichte mit einem

Vorwort über die gegenwärtige Lanzlerkrisis. Von

Ludolf Parisius, Mitglied des Preuß. Abgeordnetenhauses.

I.

Berlin, 1878. Verlag von Z. Guttcntag (D. Collin).



Vorwort. "Die Veranlassung zu einer Arbeit, deren ersten für sich selbstständigen Theil ich hier veröffentliche, boten die letzten Wahlen zum Deutschen Reichstage, bei denen mir vom geschäftsführenden Ausschüsse des Zentral-

wahlkomites der deutschen Fortschrittspartei die spezielle Leitung seines Bureaus übertragen war. Zn der von deinselbcn herausgegebenen Reichs-

tags-Wahlkorrespondenz (Nr. 24 vom 21. Januar 1877) richtete ich an

alle Parteigenossen die Bitte, mir die in den einzelnen Wahlkreisen ver­ breiteten, für die Wahlbewegung wesentlichen Schriftstücke freundlichst zu übermitteln. Zur Motivirung der Bitte bemerkte ich: Bei der letzten Wahlbewegung habe sich der Mangel einer Geschichte unserer politischen herausgestellt; unser altes FortschrittsparteiProgramm z. B. sei in keinem gedruckten Buche zu finden, und wer Agrarier oder Sozialdemokraten bekämpfen wolle, müsse das Material

Parteien als hemmend

mühsam zusammensuchen; dieser Umstand, sowie die Besorgniß, daß gewisse

Geschichtsschreiber

über

die

letzte

Wahlbewegung

und

voraufgegangene Reichstagssession dereinst dem deutschen Volke

die

eben

solche Märchen aufbinden könnten, wie dies über die Konfliktszett geschehen, habe mich zu dem Entschlüsse veranlaßt, eine eingehende

quellenmäßige Geschichte der gegenwärtigen Wahlbewegung und der in derselben thätigen politischen Parteien zu schreiben. Nicht ohne Einfluß auf diesen Entschluß war die Erwägung gewesen, daß ich bereits 1874 meinen damaligen Fraktionsgenossen im Deutschen Reichstage und Preußischen Abgeordnetenhause auf deren Aufforderung

eine freilich sehr bedingte Zusage gegeben hatte, mich an eine geschicht­

liche Darstellung der ersten zehn Jahre der deutschen Fortschrittspartei wagen zu wollen.

Die Zusage zu erfüllen hatte ich bisher keine Muße

gefunden, aber zu einer theilweisen Erfüllung konnte der jetzige Ent­ schluß führen.

Ich hatte die Schwierigkeiten meines Vorhabens erheblich unter­ schätzt.

Was ich jetzt biete, giebt sich keineswegs für eine Geschichte *

IV

Borwort.

der politischen Parteien Deutschlands aus, sondern nur für einen bescheidenen Beitrag zu derselben.

Dennoch hoffe ich, damit

nicht blos meinen Parteigenoffen, sondern Jedermann, der sich ernst­ haft um Politik kümmert, einen Dienst zu erweisen. Es ist kaum

glaublich, wie schnell in unsern Tagen wichtige Ereignisse, die sich auf die innere Politik unseres Vaterlandes beziehen, in Vergessenheit ge­ rathen, — wie schwer Ursache und Wirkung derselben zu erforschen

sind und wie leicht sie im Zeitalter des Reptilienfonds in ein dichtes

Lügennetz verstrickt werden. Meine Schrift soll vergeffene Urkunden und Thatsachen wieder in das Gedächtniß der jetzigen Generation zurück­ Sie enthält unter Andern alle wichtigeren Programme oder programmartigen Erklärungen und Aufrufe der politischen Parteien Deutschlands, und wenn schon meine Darstellung zur Geschichte der letzteren in der Hauptsache mit der Annahme des Septennats im April 1874 abbricht, so theile ich doch, um die praktische Brauchbarkeit des Buches zu erhöhen, in einem Anhänge die in den Zähren 1875 bis 1877 veröffentlichten Schriftstücke jener Art mit.

rufen*).

Bei dem Entschluß, mit dem ersten Theil des Buches gesondert

Anfang Dezember vor die Oeffentlichkeit zu treten, war vornehmlich der Gesichtspunkt maßgebend, daß das unklare Verhältniß des Reichs­ kanzlers zu den Ministern und zur Volksvertretung allmälig eine schlimme

Verwirrung unserer ganzen innern Politik herbeigeführt hat, und zu einer schnellen für die nächste Zukunft unseres Vaterlandes verhängnißvollen Entscheidung hindrängt. Wer die Lehren der Vergangenheit

beherzigen will, wird in diesem Buche manches finden über den Weg, auf welchem allein wir in Zukunft zu einer endlichen befriedigenden

Ordnung unserer staatlichen Verhältnisse gelangen können. Ueber die Stellung, welche das liberale Bürgerthum Deutschlands zu den gegenwärtigen Versuchen, das Ziel ohne gründliche Reformen

zu erreichen, einzunehmen hat, glaube ich den Lesern schuldig zu sein, mich im Vorwort rückhaltlos zu äußern, auf die Gefahr hin — daß der Ausgang der Krisis meine Befürchtungen oder meine Hoffnungen als irrig oder übertrieben erscheinen läßt.

*) Das Programm der nationalliberalen Partei (S. 99) gehört auch zu den verschollenen Urkunden. Ich kann auf Grund meiner persönlichen Nachfragen be­ haupten: Die wenigsten Mitglieder der nationalliberalen Fraktionen im Reichstage und Abgeordnetenhaus« missen heutigen Tages von der Existenz, geschweige vom Inhalte desselben etwas. In den politischen Parteikämpfen der letzten Jahre ist das

Programm niemals auch nur erwähnt worden.

Die Kanzlerkrisis.

V

„28ir wissen nicht, wie die nächste Zukunft sich entfalten wird, nur so viel ist gewiß, daß unser Staatswesen eben in einer ernsten und

tiefgehenden Krisis begriffen ist, einer Krisis, deren Umfang schon durch die Thatsache klar gelegt wird, daß es der leitende Minister selbst

ist, dessen Verbleiben im Amt oder dessen Ausscheiden im Augenblick in Frage steht." So sprach sich am 25. November das unter der verantwortlichen Redaktion des nationalliberalen Reichstags­ abgeordneten Dernbürg stehende Hauptorgan der nationalliberalen Partei, die National-Zeitung, in einem der vielen Leitartikel aus, in denen sie das aller Welt unbegreifliche Verhalten jener Partei „gegen­ über der inneren Lage" zu rechtfertigen sucht.

Allerdings, wenn es sich wirklich um den definitiven Rücktritt Bis­ marcks vom Reichskanzleramte handelt, so muß nach nationalliberaler

Auffassung das deutsche Reich in seinen Grundvesten erschüttert sein. Hat doch ein großer Theil der Presse, nicht zum mindesten die der nationalliberalen Partei, seit Zähren in immer gesteigertem Maße mit dem Fürsten einen förmlichen Heroenkultus getrieben, gleichsam als ob

es eine Sünde, ein Verbrechen gegen die Religion sei, in ihm einen sterblichen Menschen zu erblicken oder gar für möglich zu halten, daß

er aus Krankheit oder körperlicher Ermüdung oder Altersschwäche ge­

nöthigt werden könnte, sein Amt bei Lebzeiten niederzulegen. Und doch müssen wir uns darauf gefaßt machen, auch diesen „Mi­ nister von Gottes Gnaden"*) scheiden zu sehen.

Seit seiner schweren Erkrankung vom März 1874 hat er den größten Theil des Jahres aus­

wärts von Berlin verbracht, und wenn sein Gesundheitszustand sich

auch in den letzten Zähren äußerlich erheblich gebessert hat, so ist doch *) „Bismarck ist der Minister von Gottes Gnaden; er hat ein Reich ge­ gründet und ist mit diesem Reiche innig verwachsen; er steht gleichsam nominatim in der deutschen Reichsverfaffung. Kein Mensch kann sich ernstlich vorstellen, daß Ungunst von Oben ihn stürzen, oder gar, daß er einem parlamentarischen Mißtrauens­ votum unterliegen sollte. Wir haben uns sogar daran gewöhnt, uns von Barzin aus regieren zu lassen, und dieses pommersche Dorf oder Rtttergut macht zeitweilig Berlin die Ehre streitig, Hauptstadt von Deutschland zu sein. Deutschland will von Bismarck regiert sein und verzichtet auch nicht darauf, selbst wenn er Krankheit vorschützt; es will dann lieber ein bischen weniger regiert sein, als von einem Andern.... Ein solcher Grad von Popularität, wie Bismarcks, ist, in Deutschland wenigstens, noch niemals erreicht worden; ebensowenig als jemals eine ministerielle Stellung in einem nicht absolutistischen Staate mit solchen Aemtern und Machtbe­ fugnissen ausgestattet war, wie die feinige." So der nationalliberale H. B. Oppen­ heim in der Gegenwart (Nr. 19 vom 12. Mai 1877 „Die Friktionen des Reichs­

kanzlers").

VI

Vorwort.

eine Reizbarkeit der Nerven zurückgeblieben, die den amtlichen und außer­

amtlichen Verkehr mit ihm sehr erschwert.

Aber hat er nicht, wie jeder

Andere, der auf eine lange Reihe arbeits- und sorgenvoller Jahre zurück­

blickt, das volle Anrecht darauf, Nerven zu haben und schlechte Laune zu zeigen und sich über die Dummheit der Menschen zu ärgern, und schließlich zu sagen: Laßt mich in Ruhe, ich will nicht mehr!? Wer aber meinen sollte, Bismarck werde aus Freude an der Macht,

an dem Einfluß seiner Stellung sich niemals entschließen können, diese aufzugeben, — der verkennt seine Natur. Bismarck hat niemals An­ lage zum „Streber" gehabt; in seinen Briefen aus der Diplomatenzeit verrieth er schon oft das „Heimweh nach Land, Wald und Faulheit"

— nach der geräuschlosen Thätigkeit in Feld und Wald, und sprach verächtlich von dem Verdacht, in den er gerathen könnte, er hätte Ab­ sichten „auf den Schwindel" Minister zu werden; als das Ministerium

der neuen Aera kam,

dachte er ohne Bangen daran, sich „unter die und als Landjunker im Herrenhause „ohne durch irgend eine amtliche Fessel genirt zu sein, gewiffermaßen in politischen Schwimmhosen" in „frischem ehrlichen Kampf" seine Schuldigkeit zu thun.*) Noch im Januar 1862 hatte er vor dem Ministerium Furcht wie vor kaltem Bade; er meinte seit seiner Krankheit (1859) sei er geistig so matt geworden, daß ihm die Kanonen von Schönhausen zurückzuziehcn"

Spannkraft für bewegte Verhältniffe verloren gegangen sei; vor drei

Jahren hätte er noch einen brauchbaren Minister abgegeben, jetzt komme

er sich im Gedanken daran vor, wie ein kranker Kunstreiter.*)

Und

als er noch nicht ein Jahr Minister gewesen war, in der Fülle seiner

Manneskraft, schreibt der 48 jährige von Carlsbad, Gastein und Baden

aus an seine Gattin von dem Heimweh, im stillen Pommern zu sein und die ganze Ministerwelt hinter sich zu lasten, und von der rechten

Sehnsucht nach faulen Tagen und nach dem Leben eines recht­ schaffenen Landedelmannes.**)

*) Briefe vom 28. Zuni 1854 (Hesekiel S. 206), vom April 1857 (das. S. 385), vom 12. November 1858 (das. S. 215).

**) Briefe vom Januar 1862, vom 7. u. 28. Juli und 28. August u. 4. Sep­ tember 1863 bei Hesekiel S. 242, 292, 294, 296.

August 1863 geschriebenen Briefe heißt es z. B.:

In dem zu Baden am 28.

„Ich wollte, irgmd eine Intrigue

setzte ein anderes Ministerium durch, daß ich mit Ehren diesem ununterbrochenen Tintenstrom den Rücken drehen und still auf dem Lande leben könnte; die Ruhe­

losigkeit der Existenz ist unerträglich, seit 10 Wochen im Wirthshaus« Schreiberdienste und in Berlin wieder; es ist kein Leben für einen rechtschaffenen Landedelmann, und ich sehe einen Wohlthäter in jedem, der mich zu stürzen sucht."

Die Kanzlerkrisis.

So damals vor 15 Zähren.

VII

Zetzt aber, wo er mit wirklich siechem

Körper sich diesem Leben einen großen Theil des Zahres hindurch in voller Unabhängigkeit mit ganzer Liebe hingiebt und nach echter Land­ edelmannes Art sogar kleine Fehden mit Polizei und Landrath, mit

den Gerichten und der Bezirksregierung nicht scheut, damit der gesunde Aerger nicht fehle, — jetzt kommen die klugen Leute unter seinen Freunden und wollen bezweifeln, daß es ihm rechter Ernst sei mit seinen Abschiedsgesuchen.*) Das letzte Abschiedsgesuch des Reichskanzlers datirt von Ende März 1877.

Wahrscheinlich veranlaßt durch einen Streit mit dem Marine­

minister von Stosch, der sich durch eine Aeußerung Bismarcks in der Reichstagssitzung vom 10. März 1877 beleidigt fühlte,**) erbat er den Abschied, unterstützt durch ärztliche Gutachten, wonach sein kranker *) Sehr bezeichnend ist ein Ausspruch Bismarcks vom 1. Februar 1868 im preußischen Abgeordnetenhause: „Wenn der Herr Vorredner (Twesten) versucht hat, aus seiner Kenntniß meines Charakters zu beurtheilen, was ich unter ge­ wissen Umständen thun würde und wie ich mich benehmen würde, wenn ich meine Entlassung gefordert habe, und dieselbe mir nicht bewilligt worden wäre, so beurtheilt mich der Herr Vorredner doch ganz entschieden falsch, und zeigt, daß er mich weniger kennt, als ich geglaubt habe. Ich würde meine Entlassung nie zu einerKomödie fordern, sondern wenn ich sie fordere, dann will ich auch, bevor ich etwa wieder eintrete, erst sehen, wie es Andere an meiner Stelle machen." In diesem Falle hatte Bismarck dem Abgeordnetenhause mit seiner Entlassung gedroht, sobald die ge­ forderte Abfindung der depossedirten Fürsten abgelehnt werden sollte, und auf einen Appell des Abg. Lasker an seinen Patriotismus erklärt: Lasker überschätze mensch­ liche Kräfte, wenn er annehme, daß es irgend einer Persönlichkeit auf die Dauer möglich sei, mit der einen Hand sich eine erhebliche Anzahl der bedeutendsten Kapa­ zitäten dieses Landes und die Erschwerungen, die sie ihm in den Weg werfen, ab­ zuwehren, ganz abgesehen von den andern widerstrebenden Kräften, die außerhalb dieses Hauses lägen, und mit der andern Hand das Ruder eines Staates, wie der jetzige preußische sei, zu führen; es sei das eine Maschine, in deren Friktion jede Persönlichkeit nach einiger Frist zu Grunde gehen müsse. **) Bismarck entgegnete bei der ersten Berathung des Budgets dem Abg. Eugen Richter: Derselbe fühle sich ermuthigt durch einem Erfolg, den er im Jahr zuvor der Marineverwaltung gegenüber mit überraschender Leichtigkeit erfochten habe. Diese habe damals einen monatelangen Kampf geführt, um eine höhere Forde­ rung als die im Budget eingestellt gewesene von der Reichsfinanzverwaltung durch­ zusetzen. Er (Bismarck) habe endlich vermöge seiner verfassungsmäßigen Berechtigung für die mindere Summe entschieden, und daher nicht erwarten können, „daß die Autorität oder die Ueberredungsgabe des Herrn Richter (Hagen) um so viel stärker" als die feinige auf die Marineverwaltung wirken würden, daß sie bereits in der ersten Sitzung einsah, mit einem noch geringeren Satz auskommen zu können, als dem von ihm schließlich bewilligten und im Anfang bestrittenen. Solche Vorgänge würden sich nicht wiederholen.

VIII

Vorwort.

Körper bei weiterer Führung der Geschäfte nach menschlicher Berech­

nung in wenigen Zähren zu Grunde gehen werde.

Der Kaiser hat

ihn durch die eindringlichsten Aufforderungen, ihn in seinem hohen

Alter nicht zu verlassen, nicht zur förmlichen Zurücknahme seines Ge­ suches bewegen können. Endlich hat er sich damit begnügt, vorläufig durch Erlaß des Kaisers vom 8. April 1877 auf unbestimmte Zeit Urlaub zu erhalten und sich nicht blos in der preußischen Minister­

präsidentschaft, sondern auch im Reichskanzleramte vertreten zu lassen, in letzterem freilich unter Fortbestand seiner eigenen konstitutionellen Ver­ antwortlichkeit.*)

Seitdem leitet er nicht blos die äußern Angelegen­

heiten, sondern auch alle bedeutenderen inneren Angelegenheiten von Varzin aus. Seine Bemühungen, die „Friktionen" außerhalb des Reichstags zu beseitigen und sich gleichzeitig eine feste zuverlässige Mehrheit im Reichstage und im preußischen Abgeordnetenhause zu schaffen (s. unten S. 203) hat er keineswegs eingestellt, sondern eher verdoppelt, und anscheinend in der Absicht, gehorsam dem Wunsche des Kaisers demselben bis an das Ende seines thatenreichen Lebens seinen Beistand nicht zu entziehen, und zu diesem Behufe (da „er leider ge­ nöthigt ist, nicht die volle ganze Kraft darauf verwenden zu können")**) den Reichskanzler-Urlaub zu einer dauernden Reichsinstitution auszu­ bilden.

Befänden wir uns in gleicher Lage, wie im Frühjahr 1874, wo für freisinnige Anschauungen in den wirthschaftlichen Fragen eine voll­ ständige Garantie in der Person des Reichskanzleramts-Präsidenten Minister Delbrück gegeben war und in Preußen die freisinnige Re­ form der inneren Verwaltung in regelmäßigem, wenn auch langsamen

Fluß zu sein schien, so würden liberaler Seits dagegen schwere Be­ denken kaum geltend gemacht werden, — wenigstens dann nicht, wenn die Regulirung des Reichskanzler-Urlaubs wesentlich dahin ginge, daß der Reichskanzler die Oberleitung der auswärtigen Angelegenheiten, die

sein eigentliches Fach sind,***) beibehielte, und in Ansehung der innern *) Schreiben Bismarcks vom 11, April 1877 an den Reichstagspräsidenten von

Forkenbeck (Stenograph. Bericht des Reichstags, Seite 369, Sitzung vom 11. April); Schreiben des Vizepräsidenten des Staatsministeriums Camphausen vom 25. Ok­

tober 1877

an den Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Bennigsen (Ste­

nographischer Bericht des Abgeordnetenhauses, Seite 17, Sitzung vom 26. Oktober). **) Camphausen im Abgeordnetenhaus am 26. Oktober 1877, Stenograph.

Bericht S. 28. ***) Bismarck selbst sagte im Abgeordnetenhaus gegen Twesten im Januar 1866: „Mir sind die auswärtigen Dinge an sich Zweck und stehen mir höher als die übrigen."

IX

Die Kanzlerkisis.

deutschen und preußischen Angelegenheiten es unterließe, sie durch stoß­ weise Einwirkungen von Varzin aus,

von der früher eingehaltenen

Bahn gesunder Reformen abzulenken.

Allein dem ist nicht so.

Wir

sind vielmehr seit 1874 durch den Reichskanzler so sehr in mehr als einer Beziehung in eine rückwärts gehende Strömung getrieben worden,

daß man fast annehmen muß, Bismarck halte es für seine letzte Mission, mit Aufgebot aller Kräfte die inneren Angelegenheiten Deutschlands und Preußens in solchen Stand zu setzen, daß künftig nach seinem Abgänge konservative Personen im konservativen Geiste die Geschäfte

zu führen vermöchten. Eine Kette von Thatsachen drängt auf diese Vermuthung hin. Wir wollen nur die wichtigsten heroorheben. Was zunächst die inneren An­ gelegenheiten Preußens anlangt, so hat vor der Landtagssession von

1875 Bismarck auf Anrathen des Herrn von Sybel das Staats­

ministerium zu dem Beschluß veranlaßt, vor der Hand die Verwaltungs­ reform nicht auf Rheinland und Westfalen auszudchnen und dieser

Beschluß ist, trotzdem das Abgeordnetenhaus gegen denselben gerichtete

Anträge des Abgeordneten Virchow am 11. Februar 1875 (mit 292 gegen 28 Stimmen) und am 23. Februar 1876 angenommen hat, nie­ mals wieder aufgehoben.

Zn der Frühjahrssession 1875 wurde die

Provinzialordnung für die Kreisordnungs-Provinzen, die den Wünschen

der Konservativen entsprach, mit ganzer Wucht durchgedrückt.

Zn der

Session 1876 gestattete man dem Herrenhause die Städteordnung schei­

tern zu lassen — und jetzt hat Bismarck den letzten Kollegen aus der Konfliktszeit, den konservativen Grafen Eulenburg über die „zu liberale Städteordnung", auf die er nicht verzichten wollte, plötzlich zu Fall ge­

bracht, und Städteordnung und Landgemeindeordnung sind aus dem

Inzwischen ist durch die Synodalordnung die evangelische Kirche der Herrschaft der Orthodoxie

Rahmen der Reformgesetze ausgeschlossen*).

überliefert worden, — durch ein Gesetz, für welches eine Mehrheit durch *) Nachdem die obenstehenden Ausführungen bereits gesetzt waren, hat der Mi­ nister Friedenthal im Namen der Staatsregierung, entgegen seinen früheren Er­ klärungen, in Aussicht gestellt, daß man in einigen Jahren Städteorduung und Landgemeindeordnung vornehme und über's Zahr die Kreisordnung und Provinzial­ ordnung für Rheinland und Westfalen vorlege. (Erklärung vom 4. Dezember 1877). Diese Erfolge des festen Auftretens der deutschen Fortschrittspartei ändern in der Hauptsache gar nichts. Wer über's Zahr Minister des Innern ist, weiß Niemand, und wie die Kreisordnungen für Rheinland und Westfalen, oder gar die Land­ gemeindeordnung für die östlichen Provinzen aussehen werden, die innerhalb der nächsten drei Zahre vorgelegt werden, das hängt lediglich davon ab, ob und wie weit Fürst Bismarck seine Pläne durchsetzt.

X

Vorwort.

die Herren Wehrenpfennig u. Genoffen mit Hilfe des Schreckens­ rufes, im Fall der Ablehnung werde Minister Falk ohne alle Weiterung beseitigt und ein Hochorthodoxer an seine Stelle gesetzt werden, hinter

den Kouliffen mühsam zusammengetrommelt wurde. In den Angelegenheiten des deutschen Reichs trat Bismarck mit

seinen Reaktionsplänen erst im

Herbst 1875

deutlich

hervor.

Am

20. November von Varzin zurückgekehrt, hielt er schon zwei Tage dar­ auf seine erste große Rede über die Nothwendigkeit der Steuerreform durch möglichste Verringerung, wenn nicht vollständige Beseitigung der matrikularen Umlagen und Aufbringung des Staatsbedarfs möglichst ausschließlich durch indirekte Steuern. Um dieselbe Zeit trat der Reichs­ kanzler vor den Reichstag mit seiner Strafgesetznovelle, welche der Ab­

geordnete Hänel für „einen schweren, durch nichts gerechtfertigten An­ griff auf die Grundlagen unserer verfassungsmäßigen Zustände im Reich und in jedem Einzelstaate" erklärte, — für einen schweren, durch nichts zu rechtfertigenden Angriff „auf diejenigen Grundsätze, welche alle liberalen Parteien seit 10 bis 20 Zähren als ein unverrücktes Ziel vor Augen haben". — Endlich wurde neben jenem nur angckündigten Steuerreform­ plane fast gleichzeitig der große Plan, sämmtliche Eisenbahnen in Reichs­ eisenbahnen zu verwandeln, nicht blos angekündigt, sondern sofort in Angriff genommen.

Ein verhältnißmäßig harmloses Gesetz, wodurch

die Preußische Staatsregierung ermächtigt wurde, das Eigenthum des

Staats an Eisenbahnen kaufweise auf das Deutsche Reich zu übertragen, wurde in der zweiten Hälfte des Monats März in das Preußische

Abgeordnetenhaus eingebracht.

Beide Pläne gleichen sich darin, daß

sie die Macht des Reichstages in Betreff der Steuer- und Anleihe­

bewilligungen,

ja

sein ganzes Budgetrecht auf einen hohlen Schein

herabdrücken. Für das Reichseisenbahnprojekt hat dieses der Abgeord­ nete Eugen Richter in jener Rede vom 26. April 1876 (Abgeord­

netenhaus, stenographische Berichte S. 1035), deren Wirkungen vorzugs­ weise die vorläufige Vertagung des ganzen Projekts zu verdanken ist, in so überzeugender Weise nachgewiesen,

daß der Reichskanzler, der

durch das plötzliche Ausscheiden Delbrück's mißtrauisch gewordenen Volksvertretung gegenüber, — der Mehrheit für seinen Entwurf sicher,

— für gut befand, nur mit dem Scherze zu antworten, er glaube nicht, daß uns „die deutsche Freiheit und Einheit auf der ersten Reichsloko­

motive davon fahren werde".

Von dem Steuerreformplan hat der

Reichskanzler selbst in seiner Rede vom 10. März 1877, in welcher er

die dazu erforderlichen Vorlagen dem Reichstage für die nächste Session

XI

Die Kanzlerkrisis.

bestimmt ankündigte, ausdrücklich

anerkannt,

daß die Durchführung

desselbm die Macht der Volksvertretung schädigen werde; „ich glaube

nicht", rief er mit Bezug auf die abzuschaffenden Matrikularumlagen

dem Reichstage zu, „daß Sie blos um der parlamentarischen Machtfrage willen unbequeme Steuern behalten wollen", und

tröstete ihn sodann mit dem wenig beruhigenden Ausspruch, einer verfaffungstreuen Regierung gegenüber genüge ja das Ausgabenbewilli­

gungsrecht, und einer der Verfaffung nicht treuen Regierung gegenüber gäbe es überhaupt keine Garantiern. Aber damit nicht genug, — auch auf demjenigen Gebiete, auf welchem er sich mit Vorliebe oftmals als Dilettant bezeichnete und auf dem er seit Beginn seines Ministeriums durch das Verdienst D elbrück's ununterbrochen Erfolge erzielt hatte, auf dem Gebiete der Zoll- und

Handelspolitik, traten seit 1875 allerlei Anzeichen einer bevorstehenden Wandelung hervor. Zwar in Ansehung der Eisenzölle scheiterten die Agitationen der schutzzöllnerischen Interessenten

an der Festigkeit des

Reichstags, — allein durch die Betrachtungen, welche der Reichskanzler

bei Gelegenheit der Richt er' schen Interpellation am 5. Dezember 1876 im Reichstage über die Zollbeziehungen zu Rußland anstellte und durch

den Vorschlag der Retorsionszölle ward bereits offenbar, was durch das, was wir heute über den Gang der Zoll-Verhandlungen mit OesterreichUngarn erfahren,

anscheinend bestätigt wird, — daß nämlich unsere

deutsche Handelspolitik die altbewährten preußischen Grundsätze über

Bord geworfen hat und seitdem in ein gefährliches Schwanken gerathen

ist, welches einen die deutschen Interessen schwer schädigenden Schiff­ bruch als nahe bevorstehend anzukündigen scheint.

Freilich wenn das

Deutsche Reich zum Schutzzollsystem übergehen sollte, so würde auch

dadurch die Kraft der Volksvertretung erheblich verringert werden; — Schutzzölle und indirekte Steuern haben für das Verhältniß der Re­ gierung zum Parlament die gleiche Wirkung.*) Dem zweiten Theil dieses Buches bleibt vorbehalten, im Einzelnen nachzuweisen, mit welchem Eifer, mit welcher eisernen Zähigkeit Bis­

marck seine wirthschaftlichen Reaktionspläne seit 1875 bis auf den heutigen Tag verfolgt hat. Wurde er auf dem geraden Wege zurück­

geschlagen, versuchte er das Ziel auf einem Umwege zu erreichen.

Nach-

*) Entsprechend seinen Plaudereien über die Wirkungen der Schlacht- und Mahl­

steuer auf Brot- und Fleischpreise (Reichstagssitzung vom 13. März 1877) hat Bis­

marck in dem Gesetzentwurf über die Gemeindeabgaben die Umkehr von den alten Grundsätzen der Regierung durch den Vorschlag der Wiedereinführung der kommu­

nalen Schlachtsteuer deklariren lassen.

XII

Vorwort.

dem z. B. das vom Preußischen Landtage genehmigte Reichseisenbahn­ projekt vorläufig zurückgestellt ist, weil keine Reichstagsmehrheit dafür zu beschaffen, werden inzwischen alle „verkrachten" Eisenbahnen mit Hilfe

des immer gefügiger gewordenen Landtags für den Preußischen Staat zusammengekauft. Anfänglich hatte Bismarck wohl kaum befürchtet, daß ihm die Durch­ Der Abgang Delbrück's scheint ihn überrascht zu haben. Delbrück hielt es nicht

führung seiner Pläne so sehr erschwert werden würde.

mit seiner Ehre vereinbar, die Geschäfte des Landes entgegen denjenigen

wirthschastlichen Grundsätzen zu führen, die er in einer langen arbeits­

Freilich ging er „aus Gesundheitsrücksichten", unmittelbar bevor das Eisenbahn-Verkaufsgesetz in dem Preußischen Abgeordnetenhause zur Berathung gelangte. Ein Mann der stillen geräuschlosen Arbeit, abhold jedem Unfrieden und Streit, konnte er keine Lust haben, gegen den Reichskanzler, bessert ge­ vollen Beamtenlaufbahn erprobt befunden hatte.

waltige Energie in Verfolgung seiner staatsmännischen Ziele er bewun­

dern gelernt hatte, einen vergeblichen Prinzipienstreit aufzunehmen.

Er

„räumte stillschweigend das Schlachtfeld" *), sobald er sich überzeugte,

daß Bismarck den ganzen zuerst durch die Rede vom 22. November 1875 angekündigten Plan in dasjenige politische Programm ausgenommen hatte, bessert Durchführung er für patriotische Pflicht erachtete. Delbrück's Rücktritt erleichterte es dem Reichskanzler, einen Theil Die

der „Friktionen" zu beseitigen, über die er so ost geklagt hatte.

Ernennung des Großherzoglich hessischen Ministerpräsidenten Hofmann zum Präsidenten des Reichskanzleramtes und die Ernennung dieses und

des früheren mecklenburgischen Minister von Bülow, des Staats­ sekretärs des Auswärtigen Amts zu preußischen Ministern und Mit­ gliedern des nach Stimmenmehrheit beschließenden preußischen Staats­

ministeriums sicherte ihm in allen Fällen, wo er es wünschte, auch wenn er abwesend war, die Mehrheit und förderte seinen Einfluß int Bundes­ rath. Uebrigens weiß er mit letzterer Körperschaft, deren Rechte er dem

Reichstag gegenüber sorgfältig hütet, trefflich fertig zu werden. Politische Motive waren und sind es, welche Bismarck bewegen, wirthschastlichen Reaktionsplänen seine ganze Thatkraft zu widmen.

Es

fällt uns nicht ein, zu bezweifeln, daß er fest überzeugt ist, die Ver­

wandlung aller Eisenbahnen in Reichseisenbahnen sei für den Verkehr *) Bismarck s Abgeordnetenhaus - Rede vom 26. April 1876 steht damit nicht im Widerspruch, da es sich nicht um eine einzelne bedeutende Frage, sondern um ein ganzes System handelte.

Die Kanzlerkrisis.

XIII

vortheilhast, daß er ferner von seinen alten freihändlcrischen Anschauungen einigermaßen zurückgekommen ist, daß er endlich — nicht blos durch

Vergleichung der Größe der Berliner Semmeln vor und nach Auf­ hebung der Mahlsteuer, und durch Vergleichung der Güte und des Preises der Berliner Rinderfilets vor und nach Aufhebung der Schlacht­ steuer, sondern auch durch weniger oberflächliche Studien über diese

Fragen — zu dem Ergebniß gelangt ist, es sei dem Volke zu seiner

wirthschaftlichen Hebung nützlicher, „bequeme Steuern" zu zahlen, nicht zu merken, wie viel es steuert, anstatt die Pfennige für das Steueramt zurückzulegen. Allein es hieße die Größe und den Pa­ triotismus des Mannes weit unterschätzen, wollte man ihm zutrauen,

er könne um solcher Nützlichkeitsgründe willen die ruhige gleichmäßige Entwickelung der deutschen Verhältnisse durch radikales Vorgehen in

Frage stellen. Nein! — er gelangte im Sommer 1875, zu einer Zeit, wo — wie die Thronrede vom 27. Oktober besagte, „die dauernde Er­ haltung des Friedens nach menschlichem Ermessen gesicherter war, als sie es jemals in den letzten zwanzig Zähren vor der Herstellung des Deutschen Reiches gewesen ist", wo also der Zeitpunkt günstig erschien, mit dem innern Ausbau des Reichs vorzugehen, — bei der staats­ männischen Erwägung, was nach dieser Richtung hin am dringendsten noth thue in Angriff zu nehmen, zu dem seiner Vergangenheit und den damaligen Zeitverhältniffen durchaus entsprechenden Ergebniß:

die friedliche Entwickelung des Deutschen Reiches unter dem kai­

serlichen Szepter der Hohenzollern, die Einheit, Unabhängigkeit, Macht und Stärke des deutschen Vaterlandes sei für alle Ge­ fahren der Zukunft ausreichend sichergestellt, wenn es gelinge,

das Reich finanziell zu sichern gegen den Unverstand des Volkes und seiner Vertreter.*) *) Bismarck hatte sein Amt zum 1. April 1875 niederlegen wollen; auf seine neuen Pläne waren jedenfalls das Anwachsen der Klerikalen und der Sozialdemokratie, sowie die Schmähungen der Kreuzzeitung (Ende Zuni 1875) nicht ohne Einfluß. Wer heute die Rede Bismarck's vom 22. November 1875 liest, wird staunen, mit welcher Offenheit er sich über seine prinzipielle Stellung zu der .Herkules­ arbeit" der „totalen Steuerreform inklusive der Zollreform" äußerte. Er geht von dem Grundsatz aus, daß die Mittel, deren das Reich bedarf, so aufgebracht werden müssen, wie es den Steuerzahlenden am bequemstm und am leichtesten und .für die Befestigung, die Konsolidirung des Reichs am nützlichsten ist." Er entwickelt dann, daß die Matrikularumlagen nicht zu den das Reich konsolidirenden Mitteln gehörten. Das Reich träfen Verstimmungen oder ein starker Druck parla­ mentarischer Machtprobe u. dgl. empfindlicher, als den Partikularstaat. Er tritt später dem Motive entgegen, daß das Bewilligungsrecht eines Satzes der Matrikular-

XIV

Vorwort.

Der alte Kampf also ist es, der Kampf für den Scheinkonstitutionalismus gegen wirkliche Rechte der Volksver­ tretung,

der

alte Kampf

der Konservativen gegen die

Liberalen, wie er geführt ist, so lange es in Deutschland politische Parteien giebt.**)

Aber für uns, für die Feinde des Scheinkonstitutionalismus ist die Aussicht, daß wir den Angriff bald siegreich zurückschlagen werden, keineswegs gesichert.

Bei einem großen Theile des deutschen Bürger-

thums haben die rothen und schwarzen Gespenster ihre Schuldigkeit

gethan;

schwache Gemüther sind in Angst und Furcht gejagt, daß sie

in Jedem, der einen Stimmzettel für einen Kandidaten des Zentrums

oder der Sozialisten abgegeben hat, einen wirklichen Staats- und Reichs­ feind, also einen Menschen erblicken, der auf die Gelegenheit lauert, den Staat und das Reich in Trümmer zu schlagen, sei es um einen

Kirchenstaat daraus zu machen, sei es um eine Republik unter einem

sozialistischen Präsidenten zu errichten. Bei Liberalen dieser Richtung wird die Neigung, die Volksvertretung in ihrem Verhältniß zur Staatsgewalt zu stärken, oder die Abneigung vor dem verderblichen Pfade des Schein­ konstitutionalismus auf ein Minimum gesunken sein. Gefährlich für uns ist ferner, daß der Kampf auftritt unter der Verschleierung einer volkswirthschaftlichen Zweckmäßigkeitsfrage, — und noch dazu in einer Zeit schwerer wirthschaftlicher Kalamität, wo alle diejenigen, die in ihrer wirthschaftlichen Existenz erschüttert sind, nach jedem Strohhalm greifen, um sich aus der Noth herauszuziehen, und die Schuld an ihrem Rück­

gänge auf irgend welche Staatseinrichtungen werfen möchten. Eine feste entschiedene Stellung gegen Bismarck's Pläne hat von

deren erstem Auftauchen bis heute nur die deutsche Fortschrittspartei eingenommen. Ihre ganze Vergangenheit, die von ihr in den wirth-

schastlichen wie in den politischen Fragen stets vertretenen Grundsätze mußten sie hier zu rückhaltloser Opposition bewegen. Um keinen Zweifel zu laffen, verkündet die eine Deklaration des Parteiprogrammes ent­ haltende Erklärung vom 24. März 1877 (s. S. 225), abgesehen von

beiträge eine parlamentarische Machtfrage werde.

„Die Macht des Reichstags beruht

auf Recht/ Gesetz und Verfassung; eine nicht bewilligte Ausgabe wird ganz sicher

nicht geleistet, und mit einer Regierung, die unbewilligte Ausgaben zu leisten ge­ sonnen ist, wird auf die Dauer kein Auskommen sein" u. s. w.

Mit denselben

Gründen kann man fast jede Verfassungsbestimmung bekämpfen, die dem Volke oder seiner Vertretung Garantien gegenüber der Regierung geben sollen.

*) s. unten Seite 202 und folgende.

Die Kanzlerkrisis.

XV

der Ablehnung des Reichseisenbahnprojektes, unter demjenigen, was die

Partei erstrebt: Vertheilung der Steuerlast nach Maßgabe der Steuerkrast, daher möglichste Einschränkung der indirekten Steuern, insbe­

sondere Aufhebung der Salzsteuer. Vereinfachung des

Zolltarifs; fortschreitende Verminde­

rung der die inländische Konsumtion und Produktion schädigenden

Grenzzölle unter Berücksichtigung unserer industriellen Verhältnisse. Jährliche Steuerbewilligung durch den Reichstag, deshalb vor­ läufige Beibehaltung der Matrikularbeiträge unter An­

nahme eines gerechteren Vertheilungsmaßstabes und bis zum Er­ sätze derselben durch eine direkte Eine

quotisirte Reichssteuer.*)

ähnliche oppositionelle Haltung gegen Bismarck's Pläne, wie

bie deutsche Fortschrittspartei einnimmt, würde man bei dem weit über­ wiegenden Theile der nationalliberalen Partei voraussetzen müssen, wenn

man die frühere Stellung ihrer Führer zu den einschlagcnden politischen und wirthschaftlichen Fragen oder gar das alte verschollene Programm

der Partei für maßgebend erachten könnte.

Reichsjustizgesetzen keinen Anstand

Wie die Partei bei den

nahm, ohne Besinnen auf die im

Programm vom Juni 1867 geforderte Ausdehnung der Geschworenen*) Richter sagte im Abgeordnetenhause am 2. November 1877 gegen den Hülfsarbeiter im Handelsministerium Abgeordneten Freiherrn von Zedlitz (freikons.), der den Bismarck'schen Steuerreformplan, wie er und seine Partei sich ihn ausmalen, vorgetragen hatte: „$)ie Steuerreform ist nur ein anderer Name für die Steuer­ vermehrung, für den Versuch, dem Volke eine höhere Steuerlast aufzulegen. Das Verdienst nicht blos meiner Partei, sondern auch meiner Nachbarn im Reichstage be­ steht darin, sich solcher Steuervermehrung widersetzt zu haben, an der Hand der Matrikularbeiträge, an der Hand desjenigen Rechts, das uns hier leider fehlt, näm­ lich die Einnahmen jährlich zu bewilligen, einen Theil der Einnahmen zu haben, der der jährlichen Beschlußfassung des Hauses unterliegt. Gerade weil der Reichskanzler und weil man im Reichstage die Bedeutung der Matrikularbeiträge erkennt, daß sie eine Handhabe sind, einen Knopf auf den Beutel zu halten, — eben darum sollen nun die Matrikularbeiträge beseitigt werden. Es ist der Angriff auf das konstitu­ tionelle Recht, eines der wenigen und letzten konstitutionellen Rechte, die dem Reichs­ tage noch erhalten sind, damit alsdann so recht aus dem Vollen gewirthschaftet werden kann, damit der Fürst Bismarck seine absolute Regierung im Reiche durch­ führen kann, auch gegen den Einfluß, den sich der Reichstag zur Zeit noch auf die Finanzen bewahrt hat, an der Hand seines Rechts, die Matrikularbeiträge festzusetzen. Auch in diesem Punkte will der Reichskanzler nicht mehr durch die Beschlußfassung des Reichstages gehindert werden. Das ist der offene, durch und durch reaktionäre Plan, der verfolgt wird, wir müssen erwarten, daß man sich im Lande durch die Maske einer Steuerreform über die wirkliche Tragweite dieses Plans nicht wird täuschen lassen."

XVI

Vorwort.

gerichte auf alle politischen Strafsachen zu verzichten, so würde sie sich jetzt schwerlich daran erinnern, daß jenes ihr Programm unter den „nunmehr gleichzeitig und gleichmäßig zu erstrebenden", wesentlichen, — die „allein sichere Grundlage des öffentlichen Rechts" gewährenden Reformen „namentlich und vor allem" die Vervollständigung des

Budgetrechts forderte, „damit der Volksvertretung der volle Einfluß auf die Staatsgeschäfte zufalle". Jenes Programm hat längst keinen andern Werth mehr, als zu beweisen, daß die heutige nationalliberale

Partei mit der von 1867 als Partei fast nichts gemein hat. — Was wir auf frühere Aussprüche ihrer angesehenen Führer in den einschla­ genden Fragen zu geben haben, wird die Zukunft lehren.

Die Entscheidung würde nahe bevorstehen, wenn sie dem preußischen Aber der Reichstag mit seiner weit zweifel­

Abgeordnetenhause obläge.

hafteren Mehrheit hat die Entscheidung, und bei allem was bis jetzt seit Anfang Oktober oder gar noch früher zwischen dem Kanzler oder dessen Beauftragten einerseits, und nationalliberalen Parteiführern, ins­ besondere dem Abgeordnetenhaus-Präsidenten von Bennigsen, ande­

rerseits, über die Lösung der Schwierigkeiten der innern Lage und über den Bismarck'schen Steuerreformplän verhandelt sein mag, kann doch nur die Voraussetzung gemacht sein, daß für die daraus etwa hervor­

gehenden Abmachungen

eine Mehrheit des Reichstags — sei es des

gegenwärtigen, sei es eines durch Auflösung neu zu beschaffenden —

mit Entschiedenheit eintritt.

Wenn wir nun, der Thatsache jener Unterhandlungen näher tretend, alle zweifelhaften Gerüchte außer Acht lassen und uns, beim Mangel aller Beziehungen zu den direkt betheiligten Männern, darauf beschrän­ ken, aus sorgfältiger Beobachtung der offiziösen, nationalliberalen und

konservativen Presse, aus dem Verhalten der Minister, der konservativen und nationalliberalen Parteiführer im Abgeordnetenhause (das Gros der Nationalliberalen weiß selbstverständlich, wie bei allen früheren Kom­

promissen, absolut nichts) vorsichtige Schlußfolgerungen zu ziehen, so können wir als feststehend annehmen, daß der Reichskanzler schon bei seiner Beurlaubung im Frühjahre dem Herrn v. Bennigsen eine

Betheiligung der Nationalliberalen an der Regierung in Aussicht gestellt hat, daß die Verhandlungen mit ihm im Oktober wieder

ausgenommen und bald nach Beurlaubung des Grafen Eulenburg wieder abgebrochen sind. Fürst Bismarck und die nationalliberale Partei behandeln sich — um das treffende Wort Richter's anzuwenden —

feit längerem gegenseitig dilatorisch.

Allein bei diesem Verfahren

ist nur der große Unterschied, daß Bismarck genau weiß, was er will

XVII

Die Kanzlerkrisis.

und wie weit er von seinen Forderungen etwas gegen Zugeständnisse drangeben wird, während die Nationalliberalen sich ohne jeden festen

Plan — langend und bangend in schwebender Pein — von der Strö­

mung hin- und hertreiben lassen.

Die Ueberlegenheit, die Bismarck als

Diplomat allen europäischen Diplomaten gegenüber stets und immerdar

bewiesen hat, bürgt dafür, daß es ihm leicht geworden sein würde, wie

so oft, auch hier, die Nationalliberalen von einem Zugeständniß zum andern zu bringen, wenn es sich blos um irgend welche Abstimmun­ gen gehandelt hätte.

Hier aber wurde von

einzelnen hervorragenden

Männern die Uebernahme schwerer Pflichten gefordert, deren Verant­

wortlichkeit nur bei dauernder Unterstützung durch eine große politische Partei des Landes zu tragen ist; und war in dieser Beziehung Verlaß

auf eine Partei, die schon lange der Uebereinstimmung in den wichtig­ sten politischen Grundsätzen und damit des ersten Kennzeichens jeder politischen Partei entbehrte?*)

Daneben aber stand

die Fortschritts­

partei auf der Wacht, als die einzige liberale Partei, welche klare liberale Grundsätze vertritt und „der liberalen Opposition feste Kadres bietet", — die wirklich liberalen Elemente, die sich noch in der nationalliberalen Partei erhalten haben, zu mahnen und immer wieder zu mahnen, „endlich ihre

zaudernde, widerspruchsvolle, herüber- und hinüberschwankende Stellung zu verlassen und ebenfalls der

drohenden Reaktion

klaren und festen Standpunkt einzunehmen".**)



gegenüber

einen

Mit Recht hob

Lask er in seiner Rede vom 27. Oktober d. Z. hervor, daß es in diesem Augenblicke nicht anlockend sei, sich zu den Sitzen im Ministerium zu

drängen, sofern man nicht Personen im Sinne habe, die unter dem

„Minister" ein Avancement zu einem höhern amtlichen Posten verstehn;

„wenn Männer von wirklichem Gewicht und politischem An­ sehen willig oder gar dringlich wären, in's Ministerium jetzt einzu-

treten, so würde kein einsichtiger Mensch im Reiche sie im Verdacht haben, daß andere als politische Pflichten sie bewegen, um einen er­ sprießlichen stetigen Gang in der Regierung vorzubereiten".

Natürlich konnte es sich nach nationalliberaler Auffassung bei Bismarck's Verhandlungen mit Bennigsen gewissermaßen nur um „vor­ bereitende"

— interimistische Uebernahme preußischer Ministerien han­

deln; ein Interimistikum, so lange dauernd, bis mit Bismarck die Neu­

gestaltung des Verhältnisses der höchsten Reichsbehörden zu den höchsten *) Man vgl. den Aufsatz: „Was heißt nationalliberal?" in Nr. 4 der fortschritt­ lichen Park. Korrespondenz vom 3. Mai 1877, welcher in Ansehung der Reichstags­ fraktion zu sehr bittern aber wahren Schlußfolgerungen gelangt. •*) Fortschrittliche Park. Korrespondenz Nr. 9 vom 22. November 1877 Seite 67. ParisiuS.

II

XVIII

Vorwort.

preußischen Behörden vereinbart war, und er sich selbst halb oder ganz

zur Ruhe setzen konnte. Aber wo sind die nationalliberalen Männer von „wirklichem Ge­

wicht und politischem Ansehen", die sich in einer so kritischen Zeit zu Ministern eignen?

Unseres Erachtens könnten in gegenwärtiger Krisis

nur drei in Betracht kommen: der Reichstagspräsident von Forken beck, Oberbürgermeister von Breslau,

der Reichstags-Vizepräsident,

vormals Präsident der bayrischen II. Kammer, Freiherr Schenk von Stauffenberg, und endlich der Präsident des preußischen Abgeord­

netenhauses, Landesdirektor von Bennigsen.*) Forkenbeck, der Mitbegründer der deutschen Fortschrittspartei und einer ihrer Führer in der preußischen Konfliktszeit, hat den Einfluß

auf die Staatsregierung und bei Hofe, ebenso aber auch auf die eigene Partei eingebüßt, seit er im Herrenhause gegen die Provinzialordnung opponirte, und im Reichstage, wenn es galt, wirksame konstitutionelle

Rechte zu vertheidigen (wie bei dem Anträge seines alten Freundes

Hoverbeck, späterem Anträge Hoffmann)**) sich nicht besann, auf

dem Präsidentenstuhle selbst da, abweichend von der Mehrheit, gegen Bismarck zu stimmen, wo derselbe mit seinem Abgang drohte. An

Forkenbeck's Berufung zu einem hohen Staatsamte würde man vielleicht dann denken, wenn man genöthigt wäre, eine Verständigung mit der deutschen Fortschrittspartei zu

suchen.

Seine diesjährigen

treuen Warnungsrufe „Zurück auf die Schanzen — zur Vertheidigung

der bedrohten Errungenschaften!"

— und

„Einigung

Bürgerthums über bestimmte greifbare Ziele!"

des liberalen

waren der national­

liberalen Presse unbequem, weil sie denselben ihre Beziehung auf die Bismarck'sche Reaktion kunstvoll fortdeuteln mußte, — und verhallten bei seinen verblendeten Parteigenossen unbeachtet.

Mehr Aussichten auf einen Ministerposten hat der bayrische Frei­

herr Schenk von Stauffenberg.

Er hat seit einigen Wochen —

vorläufig auf ein Zahr und nicht „aus Gesundheitsrücksichten", sondern wegen Erkrankung

eines Familienmitgliedes — seinen

Wohnsitz in

Berlin genommen und wird bald als Nachfolger Herzog's, des Unter­ staatssekretärs im Reichskanzleramte für Elsaß-Lothringen, bald als

Nachfolger Hofmann's in der Präsidentschaft des Reichskanzleramtes *) Der Abgeordnete Lasker kann nicht genannt werden, weil nach den christ­ lichen Anschauungen der maßgebenden Kreise israelitische und dissidentische Minister noch lange unmöglich sind. **) Reichstagssitzungen vom 18. Dezember 1874 und 9. Dezember 1875. Stauf­ fenberg und Lasker enthielten sich der Abstimmung!

Die Kanzlerkrisis.

genannt.

XIX

Er würde jedes dieser Aemter besser, als sein jetziger In­

haber ausfüllen; überdies erfreut er sich bei norddeutschen und süd­ deutschen Mgeordneten großer persönlicher Beliebtheit. Die Fortschrittspartei rechnet ihm auch seine Standhaftigkeit beim Reichsmilitärgesetz im April 1874 hoch an.

Ob aber sonst seine milde versöhnliche Natur

sich willenskräftig und zäh genug erweisen würde, reaktionären Zu-

muthungen auf die Dauer zu widerstehen, gilt bei Vielen für zweifel­ haft,

namentlich

da wo wirthschaftliche Grundsätze

mit

in Frage

kommen. In erster Linie hat jetzt von allen Nationalliberalen der Abgeord­

netenhaus-Präsident von Bennigsen Anwartschaft auf einen Mi­

nisterposten, er, der als der erste Führer der nationalliberalen Partei

anerkannt ist, seitdem die Führung der Partei der rechten Seite der­ selben anheimfiel.

Herr von Bennigsen hat in seiner Eigenschaft

als Präsident des Abgeordnetenhauses durch unparteiische und geschickte

Leitung der Geschäfte das tiefe Mißtrauen zu vermindern gewußt, welches dem ehemaligen Führer der hannoverschen Demokratie und dem Präsidenten des Nationalvereins wegen seiner politischen Haltung seit

dem konstituirenden Reichstage Seitens der Fortschrittspartei in reichem Maße zu Theil geworden ist. Außer wo es galt, hannoversche Zntereffen zu vertreten, hat er selten genug in der Opposition gegen die Re­ gierung und gegen Regierungsmaßregeln gestanden.

Nicht blos seine

begeisterten Freunde, sondern auch manche seiner Gegner erblicken in ihm den nationalliberalen Bismarck der Zukunft.

Als Mensch, gleich

Forkenbeck und Stauffenberg hochachtbar, steht ex Beiden an Redegabe, vielleicht auch an staatsmännischer Begabung voran.

Seine

auffälligste und gerade gegen Bismarck's bekannte, früher viel verkannte

Offenheit stark abstechende Eigenschaft, eine seltene Verschlossenheit, er­ schwert das Urtheil über Bennigsen, erleichtert es, ihn falsch zu

taxiren, seine Fähigkeiten zu überschätzen oder zu unterschätzen. die liberalen Polifiker ist vor allem die Frage bedeutsam:

Für

bietet Herr

von Bennigsen in seiner politischen Vergangenheit eine gewiffe Garantie dafür,

daß er als deutscher Reichsminister oder preußischer Staats­

minister sorgen werde, dem Volke seine wichtigsten und konstitutionellen Rechte zu wahren?

Diese Frage müssen wir leider verneinen.

Die

Unterschrift unter das nationalliberale Programm vom Zuni 1867

hat Herrn von Bennigsen im April 1874 nicht abgehalten, für dauernde Fixirung der Friedenspräsenzstärke des Reichsheeres zu wirken

und würde ihn in Zukunft schwerlich hindern, für den reaktionären Steuerplan Bismarck's einzutreten.

Vorwort.

XX

Was nun die Bedingungen anlangt, die zwischen Bismarck

und Bennigsen über den Eintritt nationalliberaler Männer, nament­

lich Bennigsen's selbst und wahrscheinlich auch Stauffenberg's, in die Staatsregierung zur Sprache gekommen sind, so wird Bismarck ein rückhaltloses Eintreten der Partei als solcher für die volle und

ganze Durchführung seines Steuerplans bis zur gänzlichen Beseitigung der Matrikularumlagen nicht sofort gefordert haben, denn dafür konnte Bennigsen keine Garantie übernehmen, ohne zuvor mit seinen poli­ tischen Freunden eingehend berathen zu haben.

Aus demselben Grunde

wird man auch die Zollfrage, von der weder Bismarck noch Bennigsen

mehr als dilettantische Kenntniß besitzen können, und die Bismarck nie­ mals stark betont hat, wohl mehr als offene Frage behandelt haben.

Hatte sich doch selbst Treitschke vom rechtesten Flügel der National­ liberalen stark gegen die Schutzzöllner engagirt.*) Man besprach zu­ nächst auch wol, ob an Stelle der Abschaffung der Matrikularumlagen

nicht andere Mittel existirten, die Staatsregierung gegen den Unverstand der Wähler zu sichern.

Plötzlich tauchte etwa gleichzeitig in der ganzen Reihe der offiziösen, halboffiziösen, reptilischen, konservativen und nationalliberalen Preffe der Gedanke auf, wie schön es sein müsse, wenn wir in Deutschland

und Preußen der ewigen Unruhe und Gefahr des Wählens überhoben wären und zu Reichstag und Landtag

blos

alle fünf Jahr,

statt

alle drei Jahr zu wählen brauchten. Das rothe und das schwarze Gespenst erschienen vor den Augen des Ordnung und Frieden liebenden Bürgers

und bald theilte das literarische Bureau des Staatsministeriums in seinem „Waschzettel" mit, das Staatsministerium werde einen Gesetz­

entwurf über Verlängerung der Wahlperiode des Abgeordnetenhauses von drei auf fünf Jahre wahrscheinlich in der bevorstehenden Land­

tagssession

einbringen,

da

man

den

Gedanken

in

der

liberalen

Presse, selbst in einem Theile der fortschrittlichen Presse günstig aus­ genommen habe.

Letzteres war unseres Wissens erfunden.

Seit dem

*) ,Es ist, wie die Dinge stehen, geradezu das schlimmste, was unserem deutschen Volke geschehen könnte, wenn wir heute inmitten der aufgeregten Zagd der Jnteressenten nach dem goldenen Vließ des Schutzes von oben, selber den Glauben er­ weckten, als könnte dem Deutschen etwas anderes helfen, als die eigene Arbeit, die eigene ehrliche und rüstige Thätigkeit. Das ist die große Gefahr. Wir haben durch die sozialistische Agitation die Arbeitermaffen an vielen Orten verwildern sehen, wir haben in der Großindustrie auch das Kapital verwildern und sich überbieten sehen in schwindelhaften Gründungen. Was uns Noth thut, ist eine sittliche Erstarkung, das Wiederaufleben unserer alten Handelsgewohnheiten." So v. Treitschke im Reichstage am 21. April 1877 (Sten. Ber. S. 679).

Die Kanzlerkrisis.

XXI

29. März 1867, wo im konstituirenden Reichstage die Amendements der Konservativen und Altliberalen auf 6- und 5 jährige Wahl­ perioden statt der im Entwurf vorgeschlagenen dreijährigen mit 138 gegen 127 Stimmen abgelehnt wurden, war von solchem Vorschläge nie­ mals die Rede gewesen.*) Der Zusammenhang des jetzigen Vorschlags mit den Bismarck-Bennigsen'schen Unterhandlungen wurde deutlich genug erwiesen durch einen langen Leitartikel des den staatsmännischen In­ tentionen der hannoverschen Nationalliberalen nahestehenden „Hannover­ schen Kouriers" vom 14. Oktober 1877; derselbe empfahl dringend — natürlich unter heftigen Angriffen auf die Fortschrittspartei — die Verlängerung der Wahlperiode, riech aber den Liberalen an, aus Klugheitsgründen ihre Zustimmung dazu nicht eher zu geben, als bis „die seit Zahr und Tag andauernde Regierungskrisis zu klaren und dauerversprechenden Zuständen geführt" habe, also „zu organischen Einrichtungen und zu Personalveränderungen, welche die Lösung der großen, im Reiche uitb in Preußen schwebenden Aufgaben durch das Zusammenwirken der gemäßigten liberalen und konservativen Parteien besser als bisher verbürgen"; sollte der gegencheilige Ausgang der Krisis eintreten, so würden die Liberalen durch alsbaldiges Verlängern der Wahlperiode die Möglichkeit schaffen, daß die Regierung „durch Auflösung und Ausschreibung von Neuwahlen sich unter Benutzung der augenblicklich herrschenden Abspannung und Wahlunlust auf 5 Jahre eine Mehrheit für eine Politik unentschloffenen Hinziehens oder für eine autokratische Herrschaft eines genialen Staats­ mannes sicherte." Zn der Fortschrittspartei war man von der An­ drohung dieser Rttckwärts-Revidirung der deutschen und der preußischen Verfaffung beunruhigt; sobald der Landtag zusammentrat, ward daher in der ersten Fraktionssitzung festgestellt, daß Niemand für die Ver­ längerung der Wahlperiode stimmen und die Pattei dieselbe mit allen gesetzlichen Mitteln rücksichtslos bekämpfen werde.**) Von der Verlängerung der Wahlpettode ist seitdem alles still. Ob und wie weit sie noch später in den Bismarck-Bennigsen'schen Unter*) Zm konstituirenden Reichstage wurde die Verlängerung der Wahlperiode leb­ haft bekämpft von Gneist, Miquel, Lasker und Waldeck, befürwortet hingegen von Georg von Vincke und Graf Schwerin, die wohl nicht verschmerzen konnten, daß die thatenlose Zeit der neuen Aera zufolge der Umwandlung der Volksstimmung schon in drei Jahren geendet hatte. Für die Verlängerung der Wahlperiode auf 5 Jahr (Antrag Dr. Baumstark) stimmten Bismarck und der Landrath a. D. Dr. Friedenthal, gegen dieselbe der Appellationsgerichtsrath Dr. Falk. **) Vgl. Fortschr. Parlam. Korresp. Nr. 8 vom 18. Oktober S. 57, 59 und 60 und Nr. 9 vom 22. November 1877 S. 65.

XXII

Vorwort.

Handlungen eine Rolle gespielt hat, darüber fehlt es an weiteren Anzeichen. Die Beurlaubung des Grafen Eulenburg und die Sistirung der Verwaltungsreform hat die Unterhandlungen nicht gestört. Das ergeben die Landtags-Verhandlungen vom 27. Oktober bis 2. No­ vember 1877.*) Die Nationalliberalen behielten die Resolution über ihre Forderungen auf dem Gebiete der Verwaltungsreform in der Tasche und waren über das selbstständige Vorgehen der Fortschrittspartei, die ihre Zirkel störte, erzürnt. Handelte es sich doch für die national­ liberale Partei nicht etwa darum, ein nationalliberales Ministerium zu bilden, ein Ministerium, in dem die prinzipielle Leitung den National­ liberalen zufiel, sondern in der That nur darum, sich an einem vor­ zugsweise neu- und freikonservativen Ministerium zu betheiligen, um die „regierungsfähige Mehrheit" zur Durchführung nationalkonservativer oder richtiger nationalreaktionärer Pläne herzustellen. Das hatte der „Hannoversche Kourier" am 14. Oktober treffend dargestellt. *) Man lese in der Rede des Abg. Lasker vom 27. Oktober jene dunkle, für Bismarck und die Minister jedenfalls verständliche Betrachtung über einen Minister, „der unter den heutigen Verhältnissen Deutschlands in der Verwaltung seines Ressorts dem Fürsten Bismarck an Bedeutung nahe käme, dessen Rücktritt Deutsch­ land mit Besorgniß erfüllen würde," der aber „seiner Eigenheiten wegen, mit einer ganzen Summe der wichtigsten Staatsangelegenheiten, die außerhalb seines Ressorts liegen, sich zu befassen nicht bemüßigt, oder wenig geeignet wäre." (Sten. Bericht Seite 55.) Ferner in der Rede des Abg. Lasker vom 30. Oktober, worin er von der Re­ gierung verlangte, daß sie dem Reichstage „einen solchen Plan darbiete, der ohne die Gefahr einer in den Einzelstaaten nicht kontrolirbaren Mehrbelastung das Ziel er­ reicht, und den Mißständen abhilft, welche der Dualismus zwischen dem Partikular­ finanzsystem und dem Reichsfinanzsystem herbeiführt," und zum Schluß erklärt, der jetzige Mißstand werde bleiben, bis es einem Finanz mann gelinge, einen befriedigenden Plan vorzulegen. (Sten. Berichte S. 86.)

Aus der Sitzung vom 2. November 1877 die Rede des freikonservativen Abge­ ordneten Freihr. von Zedlitz und Neukirch (der vom 1. Januar 1874 bis 1. Mai 1876 Hülfsarbeiter im Reichskanzleramte war, seitdem Hülfsarbeiter im Handels­ ministerium ist und auf Friedenthal's Empfehlung in dessen Reichstagswahl­ kreise als freikonservativ-nationalliberaler Kompromihkandidat gegen die Konservativen gewählt ist), worin dieser Abgeordnete wie bereits S. XV Anmerkung erwähnt ist, den Bismarck'schen Steuerreformplan entwickelte, wie ihn sich die freikonservativen Finanz­ gelehrten ausmalen, und den Finanzminister fast drohend aufforderte, im nächsten Reichstage in den Verhandlungen über die Herstellung des Gleichgewichts im Reichs­ haushaltsetat „mit einem fertigen und festen Plane, mit dem unweigerlichen und vor keinem Hinderniß zurückschreckenden Willen für die Durchführung desselben" einzutreten und „dafür auch die volle Autorität in die Schanze zu schlagen," — worin er endlich die Hoffnung aussprach, die nationalliberale Partei, „auf welche als die zahlreichste der in Frage kommenden Parteien in erster Linie die Verantwortlichkeit

xxni

Die Kanzlerkrists.

Sollten sich Bennigsen und seine Freunde an der Staatsregierung

betheiligen, so mußte erst Platz für sie geschaffen werden.

An sich war

dies nicht schwer, sofern es in Verbindung gebracht wurde mit der so viel geforderten anderweiten Organisation des Verhältniffes der Preu­ ßischen Minister zum Reichskanzler und seinen Beamten.

Man konnte

dabei fast alle Minister und Inhaber von Reichsämtern in ihren Stellen

belaffen, man brauchte die Refforts nur anders zu gruppiren, hier zu theilen und da zusammenzulegen und daneben eine Anzahl Männer von politischer Bedeutung als Minister ohne eine große Verwaltung einzu­ fügen.

So brauchte — und das scheint auch die nationalliberale Idee

gewesen zu sein — kein einziger zu weichen, höchstens der Reichskanzler­ amts-Präsident Hofmann, der durch sein Austreten im Reichstage

bei allen Parteien den Eindruck gemacht hatte, daß er seiner Stellung in keiner Weise gewachsen sei. Es verlohnt sich, die derzeitigen Minister darauf anzusehen, wie sie

sich in einem konservativ-liberalen Ministerium ausnehmen würden. Das Preußische Staatsministerium besteht zur Zeit einschließlich des Fürsten

Bismarck aus zehn Männern. Der Präsident des Reichskanzleramts Hofmann und der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes v. Bülow können daraus jederzeit ohne Nachtheil entfernt werden, da sie nur zum

Abstimmen hineingenommen sind und um ihre politische Meinung sich, noch Niemand gekümmert hat, auch in Zukunft, so lange Bismarck

amtirt. Niemand kümmern wird.

Von den sieben Reffortministern ist der

konservative Minister des Innern, Graf zu Eulenburg, der einzige

Minister aus der Konfliktzeit, nicht mehr in Betracht zu ziehen,, seitdem

er wegen zu großem Liberalismus beurlaubt ist.

Bei der Beurtheilung

für die gedeihliche Entwickelung des parlamentarischen Lebens durch Bildung einer regierungsfähigen Majorität' falle, werde den freikonservativen Steuerreform­ plan durchführen. (Sten. Bericht S. 133 u. 134.) Sodann die Rede des dem Minister Fried en thal ebenfalls nahestehenden neu­ konservativen Abg. Landrath von Rauchhaupt, worin dieser dem Finanzminister geradezu drohte: jetzt sei die elfte Stunde für ihn da, wenn er die Konsolidation unserer Finanzverhältnisse herbeiführen wolle, sonst werde ihn die Mehrheit des Hauses stürzen. (Sten. Bericht S. 130.) Richter, der unmittelbar nach Rauchhaupt zu Worte kam, spottete, es fehle eigentlich blos noch die Bezeichnung des Camphausen'schen Nachfolgers und fertigte dann die „Steuerreform" vom Standpunkt eines Reichstagsabgeordneten nach ihrer politischen Seite mit den in der Anmerkung S. XV abgedruckten Sätzen ab. Daß der Zedlitz'sche Plan, wie der des Reichskanzlers, an der Hand des Rechenstiftes in Zahlen dargestellt, eine ganz verkehrte Maßregel sei, hat Richter bei Vertretung seines Antrages über die Gebäudesteuer am 14. November (Sten. Bericht S. 322) nachgewiesen.

Vorwort.

XXIV

der sechs übrigen,

der Herren Camphausen, Leonhardt, Falk,

Achenbach, von Kameke und Friedenthal ist vorauszuschicken,

daß sie sammt und sonders nicht blos rechtschaffene Männer von un-

tadelhafter Lebenshaltung sind, sondern daß sie auch in ihrer Amts­ führung sich stets erwiesen als unermüdlich thätige Arbeiter, wohlwollende Vorgesetzte und mit Ernst bestrebt, ihre Verwaltung ohne Ansehn der Person nach rein sachlichen Grundsätzen maßvoll und gerecht zu führen.

Diese wahrlich in gegenwärtiger Zeit nicht leicht wiegende Anerkennung sollte ihnen kein politischer Gegner verjagen.

Betrachtet man sie nach

ihren politischen Fähigkeiten und Leistungen, so wird man vorerst den

Kriegsminister von Kameke und den Zustizminister Leonhardt aus­ zumustern haben.

Beide sind so sehr Fachmänner — hervorragmde

Fachmänner, daß aus diesem Grunde Niemand sie auf ihre politische Richtung ansieht. Der Zustizminister Leonhardt, hat es ver­ standen (s. S. 120), selbst bei der Volksvertretung vergeffen zu machen,

daß man von einem Zustizminister eine bestimmt ausgeprägte politische Meinung verlangen muß; er kann und will nur Reffortminister sein, und ist eine so ganz und gar unpolitische Natur, daß er im Reichstage und Abgeordnetenhause, wenn er politische Maßnahmen oder Gesetzent­ würfe politischen Inhalts zu vertheidigen hat, durch seine Unbeholfen­ heit und Schwerfälligkeit fast komisch wirkt.

Darnach blieben noch vier politische Reffortminister übrig.

Bei

weitem der Hervorragendste von ihnen ist der Finanzminister Camphausen (geb. 1812, seit 26. Oktober 1869 Minister), der seine parla­ mentarische Thätigkeit 1849 in der Stellung eines Geheimen Finanz­

raths als Altliberaler begann und eine ehrenvolle Beamtenlaufbahn (seit 1854 Seehandlungspräsident) im Finanzfache hinter sich hat.

Ein

Konstitutioneller, aus der alten rheinischen Schule des vereinigten Land­ tags entsprossen, hat er sich als Politiker vom Altliberalismus mit seinen guten und schlechten Eigenschaften nicht trennen können.

Zm Herren­

hause hat er in der Konfliktszeit den bekannten, verfaffungswidrigen

Beschlüssen nicht zugestimmt.

Vor einem Mißtrauensvotum des Abge­

ordnetenhauses würde er, das hat er oft genug versichert, sofort seinen Platz räumen; im Widerstände gegen Bismarck'sche Reaktionspläne hat

er nach der Ansicht derjenigen, die den alten bewährten Grundsätzen preußischer Finanz- und Wirthschaftspolitik, wie sie sich in Delbrück gewissermaßen verkörperten, in aller Ungunst der Zeiten treu blieben,

nicht diejenige Standhaftigkeit erwiesen, die man von ihm voraussetzte. Die Zukunft wird darüber urtheilen, ob er nicht seinem Vaterlande mehr genützt haben würde, wenn er gleichzeitig mit seinem Freunde

Die Kanzlerkrisis.

XXV

Delbrück den Abschied genommen hätte, zur Zeit als Bismarck das Reichseisenbahnprojekt betrieb.

Wer die Verhandlungen des Abgeord­

netenhauses vom 26.-29. April und 2. Mai 1876 und des Herren­ hauses vom 18. und 20. Mai 1876, insbesondere die einzige dabei von

Camphausen gehaltene Rede*), durchstudirt, wird es noch heute be­ dauern, daß Camp haus en, der, wie allgemein behauptet wurde, jedem

seiner Räthe als ein Gegner des Projekts bekannt war, die Abstim­ mung des Staatsministeriums über den Entwurf des am 4. Zuni 1876

publizirten Gesetzes für eine nicht präjudizirliche Vorabstimmung er­ achtete und deshalb sich entschloß, durch sein zustimmendes Votum die

Einstimmigkeit des Staatsministeriums herzustellen. Zn anderen Fragen erging es ihm ähnlich. Er hat wahrscheinlich niemals den Versuch gemacht, Bismarck davon abzuhallen, seinen Steuer­ reformplan in großen Reichslagsreden (22. November 1875 u. 13. März

1877) auf die sonderbarsten, volkswirthschaftlich ganz unhaltbaren Theo­ rien zu bastren, die er selbst als Finanzminister im Bismarck'schen Mi­ nisterium früher vom Ministerüsch stark gegeißelt hatte.**) Dem Steuer­ reformplan des Reichskanzlers mußte er, obschon er stets erklärt hat,

Steuererhöhungen nur in indirekten Steuern suchen zu können, schon aus konstitutionellen Gründen entgegentreten; er scheint ihn auch bis­ her wenig gefördert haben.

Aber schließlich geht es ihm (wie jüngst

zutreffend bemerkt wurde) wieder wie Faust's Gretchen: Seh' ich dich, bester Mann, nur an, Weiß nicht, was mich nach deinem Willen treibt; Ich habe schon so viel für dich gethan, . Daß mir.zu .thun fast nichts mehr, übrig bleibt.. *) Rede vom 27. April 1876: „Hier bei der preußischen Landesvertretung be­

gehren wir nichts als die allgemeine Ermächtigung, mit dem Reiche zu verhandeln. Aufgabe des Reichstages, Aufgabe der Bundesregierungen wird es sein, zu unter­ suchen, in welcher Weise diesem Verlangen Folge gegeben werden kann" u. s. w.

sStenogr. Bericht 1068).

**) Z. B. in der am 7. Februar 1870 im Herrenhause gehaltenen Rede: „Zst

irgend Jemand unter Ihnen, der da glauben möchte, daß der Umfang des Brotes unabhängig sei vom Preise des Getreides? Ist Jemand unter Ihnen, der bezweifeln würde, daß in einem Theuerungsjahre das Gebäck kleiner gebacken wird, wenn es

denselben Preis kosten soll, als in einem Jahre des Ueberflusses und daß dies von

Jahr zu Jahr durch verschiedene Schattirungen läuft?

Wie käme es nun, daß eine

Steuer, die am Thore einer Stadt erhoben wird, die doch für den Bäcker ein Element der Bestimmung des Preises ist, den er für den Rohstoff bezahlen muß, daß gerade

diese Steuer ohne Einfluß aus den Preis der Waare bleiben sollte? Es ist absolut unmöglich, und wenn Magfftrate versichert haben, es sei nach 15 Jahren eine Aenderung gar nicht wahrnehmbar gewesen, so würde ich wohl die schlechten Augen

dieser Magistrate anklagen, aber nicht an das Faktum glauben, was sie mittheilen." (Stenogr. Berichte S. 225).

XXVI

Vorwort.

Schon bereitet er den Rückzug vor: In der Sitzung vom 2. Novem­

ber 1877 versicherte er, er werde dem Vorschläge, die Matrikularbeiträge im Reiche vollständig abzuschaffen, nicht glauben zustimmen zu

können, weil er der Meinung sei, daß der Reichstag auf das ihm in dieser Hinsicht zustehende Recht nicht würde verzichten können, ohne seine

Stellung erheblich zu beeinträchtigen.

„Bravo! links" — verzeichnet

der stenographische Bericht (S. 148). — Das Bravo war sehr vor-

eitig, denn es folgte eine Redensart, mit der sich auch die Umkehr zum

Absolutismus rechtfertigen läßt, sofern eine gefügige Volksvertretung

zu beschaffen ist: „Aber meine Herren, auch diese Schranke würde im­ merhin nicht hindern, wenn es der Wunsch des Landes wäre, die indirekten Steuern noch weiter ausgedehnt zu sehen" u. s. w.

Der Minister der geistlichen und Unterrichtsangelegenheilen vr. Falk (geb. 1827 in Schlesien, seit 1872 Minister) verdankt seine Karriere

insoweit dem Parlamentarismus, als er in der neuen Aera zum Ab­ geordneten für Lyck gewählt und der reinministeriellen Fraktion Matthis angehörig, sich als Jurist dem damaligen Justizminister von Bernuth so vortheilhaft bekannt machte, daß dieser den jungen Staatsanwalt als

Hülfsarbeiter ins Justizministerium zog. Unter dem Grafen zur Lippe Unter dem Justizminister Leonhardt

war er Appellationsgerichtsrath.

als vorzüglicher Jurist zum Geh. Ober-Justizrath und vortragenden Rath avancirt, wurde er, der nie zuvor in geistlichen oder Schulsachen gear­

beitet hatte, bei Beginn des Kulturkampfes, welcher eine ganze Reihe

neuer Gesetze erforderlich machte, plötzlich nach Entlastung Mühler's

zum Kultusminister ernannt.

Als Abgeordneter im Landtage (1858

bis 1861) und im konstituirenden Reichstage (1867) hatte er Hervor­

ragendes nicht

Dem

geleistet.

Minister gab der Kulturkampf den

Nimbus eines Staatsmannes, und eines Liberalen.

Allein niemals

hat man vernommen, daß er als Mitglied des Staatsministeriums in

irgend welchen, seine eigene Verwaltung nicht berührenden politischen Fragen freisinnige Anschauungen zu Tage gefördert oder vertreten habe.

Er war eben nur freikonservatives Mitglied des Ministerium Bismarck. Durch die Synodalordnung, für welche ein weniger beliebter und ein weniger in liberalem Geruch stehender Minister, z. B. sein Vorgänger Mühler, niemals eine Abgeordnetenhaus-Mehrheit zusammengebracht

hätte, ist die evangelische Kirche rettungslos der Herrschaft der Ortho­

doxie

überliefert.

liches

geleistet;

In

aber

der Unterrichtsverwaltung ein

hat

liberales Unterrichtsgesetz

Falk Treff­

zu Stande

zu

bringen, und die Schule dem Einfluß der Kirche ganz zu entziehen, ist

er viel zu unentschieden und viel zu einflußlos gegenüber den reaktiv-

XXVII

Die Kanzlerkrisis.

nären Strömungen.

Scheint er doch nicht einmal es durchsetzen zu

können, daß die maßlosen Ausschreitungen mancher Behörden bei Aus--

führung der Maigesetze streng geahndet werden.

In den Verhandlungen

des Abgeordnetenhauses über die Krisis machte der Abgeordnete Lasker am 7. November 1877 den sonderbaren und

gänzlich verunglückten

Versuch, in dem gegenwärtigen preußischen Staatsministerium den Mi­ nister Falk als den einzigen „festen Punkt" herauszuheben, indem er sich zu der Behauptung verstieg, wenn es sich um ein Vertrauensvotum handle, werde die große Mehrheit des Abgeordnetenhauses es ihm jederzeit ertheilen, ihm möchte diese große Mehrheit stärkend und ver­ trauenerweckend zu Hülfe eilen! Hänel und Richter (Hagen) unter­

ließen nicht, ihm Namens der Fortschrittspartei auf das allerbestimmteste zu widersprechen. Hänel betonte/) ein Vertrauensvotum sei umso­ mehr abzulehnen, als Falk zu der in der Preisgebung der systematischen

Reform der Landgemeinde- und Städteordnung bestehenden Wandlung

der Politik zugestimmt habe, obschon ohne die Fundamentirung einer lebensvollen Gemeindeordnung ein Unterrichtsgesetz eine praktische Wirk­ samkeit nicht entfalten werde. erklären:

Wir unserer Seits stehen nicht an, zu

wer nicht in Folge des kirchenpolitischen Streites oder des

politischen Parteigetriebes

jeden Maßstab

für die Leistungsfähigkeit

politischer Männer verloren hat, wird erkennen müssen, daß unter den

jetzigen ungünstigen Verhältnissen eine weit größere Willenskraft, als dem Minister Falk innewohnt, dazu erforderlich ist, die Schule vom Einfluß der evangelischen und katholischen Pfaffen zu befreien, und auf eine der deutschen Nation würdige Stufe zu heben. .

Der Minister für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten Dr. Achenbach (geb. 1829, Minister seit 13. Mai 1873) kann sich einer so schnellen Beamtenkarriöre berühmen, wie in Preußen bei Männern

bürgerlichen Namens ohne Vermögen und ohne einflußreiche Verbin­

dungen kaum jemals vorgekommen ist.

Aus dem rheinischen Kohlen­

lande, dem Saarbecken stammend, widmete er sich nach bestandenen

juristischen Prüfungen der juristischen Lehrthätigkeit und dem Bergfache. Zu Ende der Konfliktszeit (Anfang 1866) wurde der 36 jährige Pro*) Hänel erklärte im Eingang seiner Rede:

„Die Stellung meiner Partei zu

dem Herrn Kultusminister ist nach allen Seiten klar gestellt.

Wir haben ihm offen

und bestimmt in bestimmten Richtungen seiner Politik unsere Unterstützung gewährt, — in ganz bestimmten, dem Lande und diesem Hause bekannten Richtungen seiner

Politik (ich

erinnere an seine Reorganisation der evangelischen Kirche) haben wir

ihm diese Unterstützung versagt."

Zm stenographischen Berichte S. 203 ist der Sinn

des letzten Satzes durch falsche Znterpunktation in das gerade Gegentheil verkehrt.

XXVIII

Vorwort.

fessor und Bergrath in Bonn zum Geheimen Bergrath und vortragen­

den Rath im Handelsministerium ernannt; als solcher im Sommer 1866 in das Abgeordnetenhaus erwählt, war er Mitbegründer der freu

konservativen Partei und zeichnete sich durch gewandte Reden für die Regierung und gegen die Fortschrittspartei aus. *)

1871 ward er vor­

tragender Rath im Reichskanzleramte, im März 1872 zur Hülfe für Falk Unterstaatssekretär im Kultusministerium.

Als durch Lasker's Eisenbahnrede im Frühjahr 1873 der Handelsminister Graf Ztzen-

plitz sich unmöglich machte, ward der 43jährige Achenbach Handels­ minister.

Zn dieser Stellung ist er nun über vier Zahr und hat

in ihr das Vertrauen Bismarck's, wie aus vielfachen privaten Aeuße­ rungen desselben hervorgeht, die durch Andeutungen in Reichstagsreden

bestätigt werden, durchaus verscherzt, — nicht durch Opposition in po­ litischen Fragen, — (davon ist Herr Achenbach weit entfernt), sondern

durch seine Leistungen als Ressortminister. Zn dem einen Punkte scheint Bismarck jedenfalls Recht zu haben: Achenbach ist kein Verwaltungs­ talent.

Seine Räthe, die ihn im Uebrigen sehr schätzen, sollen ihm den

sehr bezeichnenden Namen des „Herrn Professor" geben, weil er über

jede Frage einen schönen systematischen Plan auszuarbeiten und vorzu­ tragen vermag, aber trotz unermüdlichen Fleißes es nicht versteht, die praktische Ausführung des Planes schnell zu fördern.

schaft, die Bismarck's Natur freilich

Mit dieser Eigen­

auf das Aeußerste widerstreben

muß, steht der Mangel an juristischer Schärfe und jene parlamentari­ sche Redeweise in Verbindung, die Eug. Richter in seiner Eisenbahn-

Rede vom 26. April 1876 hart mitnahm.**)

Für die Entwickelung

unserer preußischen Finanzen wäre es ohne Zweifel weit ersprießlicher gewesen, wenn es Herrn Achenbach's Thatkraft nicht gelungen wäre, nach Bismarck's Wünschen den Bau großer unrentabler Staatsbahnen

und den Ankauf verkrachter Privatbahnen bei dem Landtage durchzu­

setzen.

Eine wirkliche politische Bedeutung wird er, wie bisher, auch

künftig nicht erlangen. *) Seine ersten Reden waren zur Rechtfertigung einer ostpreußischm Wahlbeeinfluffung (28. August), des Jndemnitätsgesetzes (2. September), des Wahlgesetzes zum

Norddeutschen Reichstage (12. September 1866).

Die zweite Rede veranlaßte den Frei­

herrn von Haverbeck zu einer glänzenden Erwiderung, deren wuchtige Sprache gegen das Phrasenwerk des Vorredners freilich gewaltig absticht.

(Stenogr. Ber.

S. 179-181.) **) Richter spottete darüber, wie die Autorität des Reichskanzlers in Eisenbahn-

sachen einwirke auf die leitenden Staatsmänner im Eisenbahnwesen; auch das Eisen­ bahnprogramm des Herrn Achenbach sei unter der Einwirkung der Autorität des

neuen Planes in einen Fluß gerathen dm er vielleicht selbst gar nicht bemerke, der

XXIX

Die Kanzlsrkrifis.

Der zuletzt angestellte unter den Preußischen Reffort-Ministern,

Dr. Friedenthal (geboren 1827) hat das landwirthschaftliche Mini­ sterium am 19. September 1874 übernommen.

Zn großem Reichthum

ausgewachsen, ist er nach bestandenem Richterexamen eine Reihe von

Jahren in seiner heimathlichen Provinz Schlesien (1857 bis 1863),

dann

die von

ohne irgend wie politisch

Landrath

hervorzutreten,

seinem Vater ererbten Güter und

mit Geschick geleitet.

gewesen und

hat

industriellen Werke

Die Wahl vom 12. Februar 1867 brachte ihn als

Altliberalen in den konstituirenden Reichstag (s. S. 89); später nach Auflösung der Fraktion Vincke ging er zu den Freikonservativen über.

Friedenthal ist in manchen Stücken

das

gerade Gegentheil von

seinem Fraktionsgenossen und Kollegen Achenbach.

der Redner,

Er ist kein glänzen­

obschon er nicht blos fließend spricht,

eine bedenkliche Redseligkeit zeigt.

sondern

auch

oft

Seine Manier, alles zu schemati-

siren und zu rubriziren, nach festem Plan einzutheilen und einzuordnen

und darüber eine lehrhafte Betrachtung der allgemeinen Gesichtspunkte anzustellen,

ermüdet den Hörer und ist für den politischen Minister

— wie sich bereits mehrmals in dieser Session zeigte — ziemlich gefähr­

lich, da ihm nicht immer sofort der scharf zutreffende Ausdruck zu Gebote steht.**)

Dabei scheint er gleich manchem tüchtigen Manne für seinen

schwachen Punkt, für das Theoretisiren eine gewiffe Vorliebe zu be­

sitzen.

Seine Stärke aber ist die Verwaltung.

Mit rastlosem Fleiß,

großer Umsicht und hervorragender Geschäftskenntniß hat er in der

kurzen Amtsführung in seinem landwirthschaftlichen Ministerium mehr geschafft, als alle seine Vorgänger zusammengenommen.

„Reste aufzu­

arbeiten" versteht er gerade so gut wie der Justizminister Leonhardt. Bliebe er gleich Leonhardt in den engen Schranken seines Ressorts,

so würde er, gleich Jenem für seine Leistungen dauernd auf die Dank­

barkeit aller Parteien rechnen können.

Aber eine zweite Schwäche von

ihm scheint es zu sein, daß er auch seine neuen, nicht immer klaren Ansichten über wichtige politische und volkswirthschastliche Fragen meint

ihn aber bereits vollständig in andere Strömungen gebracht habe. „Nicht daß ich der programmartigen Darlegung des Herrn Ministers einen zu übertriebenen Werth jemals beigelegt hätte. Ich habe immer die große Geschicklichkeit bewundert, mit der er es versteht, bei seinen programmartigen Darlegungen jeder Seite des Hauses etwas Angenehmes zu sagen; aber wenn man nach Hause kommt und die Dinge schwarz auf weiß sieht, so findet man, daß man eigentlich etwas Festes, Greifbares gar nicht in die Hand bekommen hat." (Stenogr. Ber. S. 1026.) *) Unter andern geflügelten Worten rührt von ihm der Ausspruch her: „Der Satz hat sich bewährt: Wessen das Herz voll ist, von dem läuft es über." (Reichs­ tagssitzung vom 14. Mai 1870 )

XXX

Vorwort.

verwirklichen zu muffen.

Namentlich hat er von dem, was der Staat

zu leisten berufen ist und leisten kann, leider ebenso unklare, ja ver­

worrene Vorstellungen, wie der eingefleischteste kathedersozialistische Profeffor.

Er ist sich dessen so wohl bewußt, daß er mit förmlicher Ge­

nugthuung registrirt,

1873 von Eug. Richter den Vorwurf

des

Kommunismus und 1876 von Virchow den des Sozialismus empfan­

Für Bismarcks Steuerreformplan wird

er nicht

minder eifrig eintreten wie für das Reichseisenbahnprojekt.

Er hat

gen zu haben.*)

bereits 1868 für den Petroleumzoll gestimmt und gleichzeitig erklärt,

er sehe für die Zukunft die progressive Erhöhung der Tabackssteuer als ganz unvermeidlich an, auch war er damals sehr eingenommen für

indirekte Steuern und

hatte schutzzöllnerische Neigungen.**)

Dahin­

gegen bekannte er sich laut gedruckten Vortrags vom 6. April 1872***)

vor seinen Wählern für einen entschiedenen Gegner der Mahl- und Schlachtsteuer und entwickelte ein neues Steuerreformsystem, wonach sämmtliche direkte Steuern einschließlich der Grund- und Gebäudesteuer durch eine Steuer vom nutzbaren beweglichen und unbeweglichen Ver­ mögen, soweit es über den Bedarf hinausreicht, ersetzt werden sollten. Dieses System wird er wol als unpraktisch wieder aufgegeben haben.

Wir haben die Persönlichkeiten der Preußischen Staatsminister und ihre staatsmännischen Eigenschaften genauer vor Augen geführt, um jedes weitern Beweises dafür Überhoden zu sein, daß unter ihnen — nachdem der Graf Eulenburg als „zu liberal" ausgeschieden ist, —

kein einziges Mitglied zu finden ist, welches Reaktionsplänen des Fürsten Bismarck, insbesondere seinem Steuerreformplane ernsthaften und prin­ zipiellen Widerspruch entgegensetzen würde.

konnte Bismarck völlig beruhigt sein,

Nach dieser Richtung hin

— er wollte in Bennigsen

nur diejenigen gewinnen, die ihm dazu die erforderliche Reichstags­ mehrheit verschaffen.

Vermuthlich hat er ihm dazu eine kombinirte

Stelle angeboten, die Stelle eines Preußischen Finanzministers nach Ablösung der eigentlichen Verwaltungen in Verbindung mit einem ver­

antwortlichen

Leiter

des

Reichsfinanzwesens;

vielleicht

hat

er ihm

sogar einige spes succedendi, einige Aussicht auf die Nachfolgerschaft *) Man vgl. Friedenthal's Reden in der Eisenbahngesetzdebatte vom 20. April

1876 (Stenogr. Bericht S. 1097, 1124). **) Man vergl. die Schrift: „Reichstags- und Zollparlament von FriedenthalGiehmannsdorf. I. Gesetzgeberische Resultate der Sessionen von 1867 und 1868" (Berlin 1869). ***) Rede des Abg. Dr. Friedenthal, gehalten 6. April 1872 vor seinen Wählern rc. Berlin, Druck von Mittler u. Sohn.

XXXI

Die Kanzlerkrisis.

in dem Amte des Reichskanzlers

gemacht.

Hat er doch bereits am

13. März d. Z. die Möglichkeit zugegeben, daß Deutschland nach ihm

einen Kanzler

„aus Züchtung des inneren Dienstes"

haben

werde. *)

Diese Aussichten mögen für einen Mann,

der mit Recht hofft,

seinem Vatcrlande in hohen Staatsämtern hervorragende Dienste zu leisten, — mögen für eine Partei, die mit Recht auf eine Betheiligung *) Bismarck ist dem immer von Neuem wiederkehrenden Verlangen der liberalen Parteien nach verantwortlichen Reichsministern stets entgegengetreten. Insbe­ sondere hat er abgelehnt, den am 16. April 1869 vom Norddeutschen Reichstage mit 111 gegen 100 Stimmen angenommenen Antrag der Abgeordneten Tw e st en und Graf Münster: den Bundeskanzler aufzufordern, für die zur Kompetenz des Bundes gehörigen Angelegenheiten eine geordnete Aufsicht und Verwaltung durch verantwort­ liche Bundesministerien, namentlich für auswärtige Angelegenheiten, Finanzen, Krieg, Marine, Handel und Verkehrswesen im Wege der Gesetzgebung herbeizuführen. Zn den letzten Zähren hat er aber noch mehr als früher sich bemüht, nachzuweisen, daß andere weit schwerere Mißstände in den obersten Verwaltungsbehörden dadurch nicht überwunden, sondern nur verschärft werden. Er klagte dabei wiederholt über die Schwerfälligkeit der Preußischen Institution des aus einer Reihe verantwortlicher Minister zusammengesetzten Staatsministeriums, eines nach Majorität beschließenden Kollegiums, wobei die Verantwortlichkeit des Einzelnen vollständig fortfalle; er klagte über die aus partikularistischem Ressortpatriotismus hervorgegangenen Repliken, Dupliken, Quadrupliken, Quintupliken, Sextupliken, Septupliken der einzelnen Minister gegen ein­ ander, — ja die zehnte Erwiederung habe stattgefunden, von denen jede immer dieselben Gründe wiederhole. (Zn der Reichsverwaltung seien auch schon Quadru­ pliken vorgekommen, doch habe er dies entschieden gemißbilligt.) Die Arbeit sei für jeden einzelnen an einem . Kollegialministerium Betheiligten viel langwieriger, schwieriger, aufreibender und ängreife'ndeb, als bei der' reichskänzl'erischen Verfassung;

und Preußen werde einen immensen Fortschritt machen, wenn es zu der letzteren mit nur einem verantwortlichen Minister übergehe. Zn den letzten Zähren seit Einsetznng des Reichsjustizamts erkannte er zwar mehr als früher die Nothwendigkeit von Reichsministerien an, aber doch nur von solchen, die unter der einheitlichen Verantwortlichkeit des Premierministers unter dem Namen des Reichskanzlers arbeiten. Erst seitdem es mit seinem Steuerreform­ plan nicht recht vorwärts wollte, trat er mit besonderen Gedanken über künftige, wenn auch erst nach Zähren zu realisirende Umgestaltung dieser Verhältniffe hervor. Insbesondere war dies in der letzten Reichstagssesston in den letzten größeren Reden, die er dort gehalten hat, der Fall; am 10. März 1877 in seiner sehr nervösen Er­ wiederung auf Richters Budgetrede, und am 13. März 1877 in der Erwiederung auf Hänel's Mahnung, er müsse für die Möglichkeit eines Nachfolgers sorgen, der nicht in Personen bestehe, sondern in Einrichtungen, die für normale oder Durch­ schnittsmenschen berechnet seien. Er klagte, daß er (zu seiner Steuerreform) die freiwillige überzeugte Unterstützung derjenigen brauche und nicht hinreichend erhalte, die ihm dabei helfen müßten; das Zerren und Schieben derer, von denen er Unter­ stützung, Förderung, Erleichterung zu erwarten berechtigt sei, habe ihn zu Grunde

XXXII

Vorwort.

an der Leitung der Geschäfte des Landes nicht verzichten kann, ohne sich

selbst aufzugeben, — verführerisch genug gewesen sein.

Allein von dem

Augenblicke an, wo Bennigsen und seine Freunde erkannten oder erkennen werden,

daß Bismarck ihnen die Durchführung des Steuer­

reformplans zur unumgänglichen Bedingung macht, da bleibt ihnen. gerichtet, — die Reibung hinter den KouUssen sei die dreifache Arbeit — u. s. w. Daß diese Klagen sich besonders an die Adresse der Minister Camp Haus en und

Achenbach richteten, war unverkennbar. Fast im Anschluß daran ging er dann zu seinen „Träumen" über die weitere Ausbildung von Reichsministerien, insbesondere über eine engere Verbindung der Reichsverwaltung mit dem Preußischen Ministerium über. Er entwickelte, wie der künftige Kanzler entweder dem auswärtigen Amt, oder — wenn man nach ihm einen Kanzler aus Züchtung des innern Dienstes habe — dem Präsidenten des Reichskanzleramtes, der Finanz- und Handelsminister in einer Person vertrete, am meisten „über die Schulter in die Briefe hineinzusehen" habe, wie ferner die Theilung des letzteren Amtes, die Abzweigung eines Reichshandelsamts künftig nöthig werde, daß aber auch das Preußische Handelsministerium und das Preußische Finanzmini­ sterium (in ein steuerauflegendes und ein budgetverwaltendes) zu theilen seien, und daß je die eine Hälfte der Verwaltung dann in eine nähere Verbindung mit der entsprechenden Reichsverwaltung treten müsse. Aber, und das ist für die Beurthei­ lung der Kanzlerkrists von Wichtigkeit, er schob diese Pläne auf Zahre hinaus und machte sie gewissermaßen abhängig von der vorher zu Stande gekommenen Steuer­ reform! Als seine Beurlaubung zu Anfang April eingetreten war, hob Bennigsen in seiner „staatsmännischen" Rede vom 13. April, nachdem er mit Bismarck Rück­ sprache genommen hatte, auch seinerseits die Nothwendigkeit „einer engen Verbindung, einer verantwortlichen Reichsfinanzverwaltung mit der Finanzverwaltung des größten deutschen Staates" hervor, auch im Interesse der Erleichterung des Reichskanzlers bei seinen Geschäften. Camphausen war Gegner dieses Reorganisationsplanes, aber bequemte sich, eifriger für den Steuerreformplan einzutreten. Ueber Theilung des Handelsministeriums ist im preußischen Staatsministerium bis zum 13. Novem­ ber 1877 nie verhandelt. (Sten. Ber. S. 292). Die einschlagenden Verhandlungen der parlamentarischen Körperschaften, nammtlich die Reden Bismarcks über diese Frage verdienen für alle Politiker die höchste Beachtung. Es ist in den Ausführungen des Reichskanzlers soviel Ueberzeugendes, daß sich Niemand verhehlen darf, daß bei dem nothwendigen Uebergang zu einem für die Gesetzgebung und für die Verwaltung verantwortlichen Reichsministerium mit großer Vorsicht zu verfahren ist. Siehe Verhandlungen des Norddeutschen Reichstags vom 16. April 1869 (Seite 389 bis 413 der Stenogr. Berichte), Verhandlungen des Deutschen Reichstags vom 1. Dezember 1874 (Stenogr. Ber. Seite 419 — 422), vom 22. November 1875 — Steuerrede Bismarcks (Stenogr. Ber. S. 248 — 256), — des Preußischen Abgeord­ netenhauses vom 29. April 1876 (Stenogr. Ber. S. 1120), des Deutschen Reichs­ tags vom 10. März 1877 — Richter, Bismarck — (Stenogr. Ber. S. 58—74), vom 13. März 1877 — Hänel, Bismarck, Lasker — (Stenogr. Ber. S. 122 —134) und vom 13. April 1877 — Verhandlungen über den Reichskanzlerurlaub — Hänel, v. Bennigsen, Windthorst, v. Kleist-Retzow — (Stenogr. Ber. S. 417 — 431).

Die Kanzlerkrisis.

nichts übrig, als zur Zeit zu verzichten.

XXXIII

Denn wo sollen sie die Reichs­

tagsmehrheit gewinnen?

Zm gegenwärtigen Reichstage haben die Nationalliberalen und Frei­ konservativen, einschließlich der ihnen zuzurechnenden Wilden höchstens erst mit der Hälfte der 40 Deutschkonserva­

180 Stimmen von 397,

tiven bekommen sie eine Mehrheit.

Aber für reaktionäre Pläne, welche

die Rechte der Volksvertretung, gegenüber der Reichsregierung schmälern, fallen die sächsischen und würtembergischen Partikularisten, die jetzt so zahlreich unter den Deutschkonservativen und Freikonservativen stecken,

sammt und sonders ab, und außerdem würden für eine kombinirte Regierungspartei, mit dem Vorstande von Kleist-Retzow, Graf Udo

Stolberg,



Graf Bethusy,

von Kardorf, —

Wehren­

pfennig, Lasker, — mit einem Worte für ein Bündniß aller Kon­ servativen mit den Nationalliberalen — ein großer Theil der letzteren

nicht zu gewinnen sein.

Bestände wirklich die Trennung der sogen.

Neukonservativen von den Altkonservativen, netenhause sich in den

im Reichstage

noch

zwei

fort,

welche ja im Abgeord­ auch

gesonderten Fraktionen darstellt,

wären

nicht

in

der deutschkonseroativen

Partei alle Richtungen der Konservativen mit Ausnahme der Frei­ konservativen neuerdings wieder vereinigt, so ließe sich der Versuch

denken,

nach

Konstituirung eines Ministeriums,

in welchem neben

von Bennigsen und Friedenthal etwa Graf Udo Stolberg

säße, aus der Neuwahl des aufgelösten Reichstages eine Mehrheit zu bilden,

von welcher die Altkonservativen rechts ebenso gut,

Fortschrittspartei links ausgeschlossen wären.

gar keine Aussicht auf Erfolg.

wie die

Aber dieser Versuch hätte

Zentrum, Welfen, Polen, Sozialdemo­

kraten und alle sonstigen sogenannten Reichsfeinde würden bei dieser Kombination zurückkehren, ebenso die außerpreußischen Partikularisten, sofern sie nicht durch Fortschrittsmänner ersetzt würden.

Immer könnte

es sich bei diesem Wahlkampfe nur darum handeln, der Fortschritts­

partei und den Altkonservativen

einige Sitze fortzunehmen.

darüber möge man sich keinen blauen Dunst vormachen:

Allein,

Die Freikon-

servativeu haben keine Partei im Lande hinter sich (S. 204), — was

nicht blos mit der Macht läuftr und sich heute konservativ, morgen freikonservativ oder nationalliberal nennt, sondern wirklich konservative Grundsätze hat, neigt mehr zu den Altkonservativen, als zu den Neu-

und Freikonservativen und wenn ein konservativ-liberales Ministerium

Ordre ertheilen sollte, weder altkonservativ noch fortschrittlich zu wählen, so würden die konservativen Landräthe und Geistlichen der protestan­ tischen Kreise Preußens alles daran setzen, nicht blos jeden FortschrittsParisiuS.

III

Vorwort.

XXXIV

mann, sondern auch jeden Nationalliberalen durch einen Konservativen zu ersetzen, der bei Lichte besehen, von einem in der Wolle gefärbten

Allkonservativen sich in der Farbe kaum durch eine leise Schattirung abhebt; „vor dem Landrath ist nationalliberal und Fortschritt ganz gleich

in den östlichen Provinzen."*)

Außerdem glauben wir, würde bei

einem solchen Wahlkampfe die heute besser als je zuvor gerüstete Fort­

schrittspartei im Ganzen mehr Plätze gewinnen, als verlieren, so daß von allen Parteien die Nationallberalen die längste Verlustliste würden

aufzuweisen haben. Der Verzicht auf dieses „Zusammenwirken der gemäßigten liberalen

und konservativen Parteien"

(wie es die nationalliberalen Zeitungen

nennen,**) in der Leitung der Geschäfte des Landes mag den national­ liberalen Führern recht schwer werden.

Man hat ohne Zweifel einen

gewissen Druck auf sie auszuüben versucht, indem man es ihnen, falls

sie den Steuerreformplan durchzuführen sich weigerten, als unvermeidlich hinstellte, daß dann das Regiment alsbald in die Hände der vereinigten Deutschkonservativen und Agrarier übergehen müsse.

Möglich auch,

daß sie sich eine Zeitlang der Hoffnung hingegeben haben, der Austritt

der Abgeordneten Löwe, Berger, Petri werde zersetzend auf dir deutsche Fortschrittspartei wirken, — die Fortschrittspartei im Lande

werde demnächst Hänel, Richter, Virchow schnöde im Stich lassen

und nach beeilen,

einer Auflösung der parlamentarischen Körperschaften sich

Abgeordnete

zu

wählen,

die

sich

unter

fortschrittlichem

vom Geheimen Ober-Regierungs-Rath Dr. Wehren­ pfennig als Rekruten der künftigen großen Regierungspartei ein-

Fähnlein

exerziren ließen.

Jedenfalls befanden sich die nationalliberalen Partei­

führer im Abgeordnetenhause bei Beginn der Session in trauriger Un­

klarheit darüber, was sie und mit welchen Mitteln zu erreichen ver­ möchten ; die Fraktion bot ein Bild völliger Rathlosigkeit dar und suchte krampfhaft Fühlung nach rechts zu gewinnen, um für die Sünden der bösen Fortschrittspartei nicht verantwortlich gemacht zu werden.

Wir hoffen, man wird die Sachlage nüchterner und mit ruhigerem Blute und nicht von dem trostlosen Standpunkte einer programmlosen

Fraktion zu betrachten lernen.

Man wird dann auch zu würdigen

wissen, daß der Appell fortschrittlicher Führer an den Patriotismus

der nationalliberalen Partei nicht blos ehrlich gemeint, sondern auch

auf ein besseres Verständniß der Situation begründet war, als sie selbst *) Abg. Eugen Richter, Rede vom 27. Oktober 1877 (Seite 64 der Stenogr. Berichte). *«) Siehe oben Seite XXII.

Die Kanzlerkrisis.

verrieth.

XXXV

Wie zutreffend war nicht die Ausführung des Abgeordneten

Hänel: die nationalliberale Partei habe sich seit zehn Zähren gegen­ über dem gegenwärtigen Regimente in einer schiefen und unnatürlichen Stellung befunden;

eine Partei möge noch so viel Talente und Cha­

raktere haben, — lediglich berufen, ihre Kraft zur Deckung herzugeben und niemals berufen, eine legislatorische Initiative und eine konstitu­ tionelle Verantwortlichkeit zu übernehmen, könne sie auf die Dauer

nicht bestehen, sie müsse sich endlich an dem Punkte finden, wo sie

sage:

entweder Aufhören des bisherigen

unorganischen Verhältnisses

zur Regierung, oder Uebergang zur Opposition.*) — Was wollte

dagegen die 24 Stunden später erfolgte, also hinreichend überlegte Ent­ gegnung des Abgeordneten Lasker besagen: wenn das Ministerium

einem Mißtrauensvotum des Abgeordnetenhauses gewichen sei, so würde schon am nächsten Tage sich gegen diejenigen, welche beauftragt worden,

die Portefeuilles zu übernehmen, mit Hülfe der Fortschrittspartei, eine Majorität zusammengefunden haben und die Verwirrung würde noch

größer sein? — Verständlich war diese Entgegnung doch nur, wenn Lasker die Möglichkeit eines keinen Reaktionsplänen zustimmenden,

ausschließenden Za gewiß, die Personen eines

jeden Reaktionsverdacht durch ein festes Programm

Ministerium von vornherein ablehnte.

Ministerium Bennigsen-Friedenthal oder Bennigsen-FalkFriedenthal böten für sich betrachtet der Fortschrittspartei keinerlei

Garantie.

Solche Kombination setzte aber auch Richter nicht voraus,

als er in der darauffolgenden Rede die Verpflichtung der national­ liberalen Partei. betonte, wenn. an sie die Frage herantrete, den Beweis

zu führen, daß die Liberalen nicht blos kritisiren, sondern auch ihre Grundsätze praktisch in die Wirklichkeit führen können.**) Auch die Kanzlerkrisis wird einmal enden.

„Eine Grenze giebt es

für alle Dinge; der Zeitpunkt ist gekommen, in welchem das Politik­ machen von Fall zu Fall aufhören muß, im Interesse des Landes." ***)

Es ist möglich, daß die Kanzlerkrisis zu einem Abschluß gelangt, bei welchem die nationalliberale Partei zunächst leer ausgeht; es ist mög­

lich, daß man ihr zumuthet, auch ferner „einer nicht geraden Weges gehenden Regierung auf Schritt und Tritt zu folgen",***) obschon die

Regierung aus konservativen Männern besteht.

Es ist möglich, daß

irgend ein gemäßigt konservativer Mann, z. B. der Botschafter Graf *) Abgeordnetenhaussitzung vom 26. Oktober, Stenogr. Bericht S. 30. **) Abgeordnetenhaus-Sitzung vom 27. Oktober 1877, Rede Lasker S. 54, Rede Richter S. 56 der Stenogr. Berichte. ***) Worte Lasker's in der Rede vom 27. Oktober S. 56 Stenogr. Bericht.

XXXVI

Vorwort.

Otto zu Stolberg-Wernigerode*) dem Reichskanzler als Stell­ vertreter mit der Aussicht auf Nachfolge zur Seite gestellt wird, und

daß andere jüngere strebsame Kräfte der Deutsch- und Freikonservativen,

z. B. der Oberpräsident von Hannover Graf Botho zu Eulenburg, Oberpräsident von Schlesien Robert Victor von Puttkamer, der Landesdirektor Graf Wintzingerode u. s. w. u. s. w. der

in die Ministerien und Reichsämter berufen werden.

Mehrere Gar­

nituren jüngerer deutsch- und freikonservativcr Herren von hohem und

niedern Adel, die allmälig in die höchsten Staats- und Kommunal­

posten in der Verwaltung der Provinzen hineinbefördert sind, sind ja vorhanden, und werden jedem Rufe der an sie ergeht, ohne Anstand Folge leisten und — auch ohne Friedenthal und Achenbach die Geschäfte des Landes zu führen sich anheischig machen. Gäbe es kein Deutsches Reich, handelte es sich nur um den Preu­ ßischen Staat, so wäre die Besorgniß begründet, daß wir, entsprechend

den Versicherungen des Abgeordneten von Meyer-Arnswalde, viel­ leicht bald bei einem Regiment der Kreuzzeitungspartei, bei einer poli­ tischen und kirchlichen Reaktion angelangt wären, wie sie Preußen in

den 50 er Jahren so schwer bedrückt hat. Aber nein! — so liegen die Verhältnisse in der That nicht. Die mit dem orthodoxen Pfaffenthum verbrüderte preußische Junkerpartei kann Deutschlands Freiheit nicht ernstlich gefährden.

Die Kanzlerkrisis wird im Reiche und für das

Reich die parlamentarische Regierung begründen.

Wer auch

immer nach Bismarck's Amtsniederlegung dein Reichstage als leitender

Staatsmann gegenübertreten möge, — er wird nicht im Stande sein,

im Widerspruch mit den politischen Grundsätzen der Majorität des

Reichstags die Geschäfte zu führen.

Die künstliche, in vieler Beziehung

unvollkommene und unnatürliche Konstruktion der Reichsgewalten in der Reichsverfaffung wird ganz von selbst bewirken, daß von dem Zeitpunkt

an, wo der gewaltige Mann, für welchen die Verfassung „zugeschnitten" ist, nicht mehr das Amt des Reichskanzlers versieht, das Schwergewicht *) Graf Otto zu Stolberg-Wernigerode paßt in die Reichskanzlerschaft, sobald eine politische und kirchliche Reaktion die Besetzung der Stellen beeinflußt. Der kaiserliche Botschafter am Hofe zu Wien (geboren 1837), ward als Lieutenant a. D. 1867 in den konstituirenden Reichstag gewählt, wo er in Gemeinschaft mit Eugen Richter als Jugendschristführer fungirte und sich, wie dieser, des Redens enthielt. Im selben Jahre wurde er, ohne vorher Beamter gewesen zu sein, sofort Ober­ präsident von Hannover, 1876 aber Botschafter. Von 1872 bis 1876 fungirte er als Herrenhauspräsident, 1875 war er Vorsitzender der preußischen außerordentlichm Generalsynode. Seine Grafschaft Wernigerode ist bekannt als ein Hauptherd der

unduldsamen kirchlichen Orthodoxie.

Die Kanzlerkrisis. im Reiche in den Deutschen Reichstag fällt.

gierung wird und muß folgen.

XXXVII

Die parlamentarische Ne­

Die nationalliberale Partei ist dann

an der Reihe, — allerdings nur unter der Voraussetzung, daß sie sich endlich entschließt, — auf die Gefahr hin, manchen falschen Freund und

heimlichen Gegner aus den eigenen Reihen zu verlieren, zu festen poli­

tischen Grundsätzen zurückzukehren

und,

entsprechend dem Verlangen

Forkenbeck's in seiner neulichen Breslauer Rede — sich erst selbst

„über bestimmte greifbare Ziele für die nächste Zeit zu einigen" und dieselben mit Ausdauer und systematisch zu verfolgen.

Während die

konservativen Parteien unter allen ihren hervorragenden Männern keinen einzigen besitzen, der durch seine politische und parlamentarische Ver­

gangenheit von vornherein dem Reichstage eine gewisse Ueberzeugung

von seiner Befähigung zu den höchsten Staatsämtern einflößt,

hat die

nationalliberale Partei allerdings in ihren Reihen Männer aufzuweisen,

deren ganze Persönlichkeit sie berechtigt, vor den Reichstag deutscher Nation als künftige Leiter der Reichsangelegenheiten getrost hinzutreten. Gleichviel aber, wer das Steuer des Reiches ergreifen, welcher po­

litischen Partei er angehören möge, die Stellung der deutschen Fort­ schrittspartei bleibt klipp und klar, den Konservativen, wie den National­ Für die deutsche Fortschrittspartei gilt heute noch

liberalen gegenüber.

und wird noch lange gelten, was der Wahlaufruf vom 23. März 1873

in den Sätzen aussprach (S. 151): „Die Fortschrittspartei ist eine Partei unabhängiger Männer, welche keinerlei Verpflichtungen gegen die Regierung oder gegen

einzelne Mitglieder derselben habens Ihr Programm war und ist ein rein sachliches." u. s. w. Die Aufgabe der Fortschrittspartei ist darnach für lange Zeit vor­

gezeichnet.

Sie wird

nicht aufhören, das

deutsche

Bürgerthum

zu

warnen vor den drohenden Gefahren, — zu mahnen, „in dem Streben

nach Erhaltung seiner höchsten und heiligsten Güter einträchtig zu han­ deln."*)

Sie wird allen Ministern nach wie vor die schärfste und

rücksichtsloseste Opposition von dem Augenblicke an entgegenstellen, wo

dieselben, gleichviel ob durch gesetzliche Fixirung der Friedenspräsenz­

stärke des Heeres,

ob durch Verlängerung der Legislaturperiode oder

durch reaktionäre Steuerreformpläne

bestehende Rechte der Volksver-

*) „Heute, wo dem liberalen Bürgerthum von allen Seiten her Gefahr droht, von unten her durch die Sozialdemokratie, von den Ultramontanen, von den er­ starkenden Konservativen, tritt an alle Parteien des Bürgerthums die Nothwendigkeit heran, in dem Streben nach Erhaltung seiner höchsten und heiligsten Güter ein­ trächtig zu handeln." So Forkenbeck in seiner Rede Ende November.

XXXVIII

Vorwort.

tretung einzuschränken versuchen.

Die Fortschrittspartei würde

auch

nationalliberalen Ministern gegenüber nicht darauf verzichten, in Preußen

den endlichen Erlaß einer Städteordnung und

einer Landgemeinde­

ordnung, sowie eines die Schule von allen kirchlichen Einflüssen be­

freienden Unterrichtsgesetzes zu fordern.

Im Uebrigen wird sie Geduld

haben, wie bisher, und eingedenk des Bismarck'schen Wortes, sich damit trösten, daß unsern Kindern auch noch Aufgaben zu überlassen find,

„sie könnten sich sonst langweilen in der Welt, wenn gar nichts mehr für sie zu thun ist."*)

So lange wir das Deutsche Reich noch vor dem Rückfall in dm Absolutismus und Scheinkonstitutionalismus sorgsam zu behüten haben,

braucht die Fortschrittspartei noch nicht daran zu denken, selbst einmal

Regierungspartei zu werden.

Wenn wir die jetzt beginnende Ueber-

gangsperiode glücklich überwunden und in ungestörter friedlicher Ent­ wickelung ein Jahrzehnt unter parlamentarischer Regierung zurückgelegt haben, dann erst würde es sich verlohnen, zu untersuchen, ob unsere Partei sich selbst als „regiemngsfähig" betrachten darf. Hoffen wir, daß die Kanzlerkrisis ohne Schädigung der Volksrechte

vorübergehe und unsere nationale Entwickelung vor Störungen bewahrt bleibe! Die dunklen Wolken, die Deutschlands Zukunft bedrohen, setzen uns keinen Augenblick in Furcht. Mit der Sozialdemokratie wird das deutsche Bürgerthum schon

fertig werden.

Gunst der Zeit.

Sie verdankt ihre bisherigen Erfolge vornehmlich der

Der Gründungsschwindel und die Ueberproduktion

mit den übermäßigen Lohnerhöhungen, — dann das Darniederliegen

von Handel und Wandel und die Arbeitslosigkeit in ganzen Industrien,

das Hineindrängen anderer wirthschaftlicher Parteien und Intereffenten-

gruppen (Zünftler, Schutzzöllner, Agrarier u. s. w.) in die politischen Wahlen, — alles das trug dazu bei, daß die geschickte planvolle Agi­

tation der sozialistischen Führer ihnen einige Reichstagssitze eingebracht hat.

Dieser innere Feind wird überwunden werden, wenn das liberale

Bürgerthum mit Ernst bestrebt ist, durch Wort und That den arbei­

tenden Klaffen des Volkes zu beweisen, daß der die Grundlagen der bestehenden Gesellschaft bekämpfende Sozialismus jeden politischen und wirthschaftlichen Fortschritt und damit das Wohl auch der unteren

Volksschichten auf das tiefste schädigt, — wenn es in stetiger Betheiligung an Schulze-Delitzsch'

Erwerbs- und Wirthschaftsgenoffenschaften

und an den der Volksbildung gewidmeten Bestrebungen die Erkenntniß *) Rede Bismarck's im Reichstage, 10. März 1877 (Seite 73).

XXXIX

Die Kanzlerkrisis.

bethätigt, daß nur durch freies freudiges Zusammenwirken die bürger­

liche Gesellschaft Wohlstand und Bildung zu fördern vermag. Das Anwachsen der Zentrumspartei, der Klerikalen und Ultra­

montanen, ist stark benutzt worden, um in protestantischen Kreisen die

Wähler zu bewegen, gegen ihre Ueberzeugung auf eine liberale Wahl Für den Liberalismus war das Unfehlbarkeitsdogma geradezu ein Glück; — nicht bloß das Schulaufsichtsgesetz, die Zivil­

zu verzichten.

ehe,

und das bürgerliche Standesregister verdanken wir ihm, — wir

müssen auch anerkennen,

daß in der dem glorreichen Kriege von 1870

folgenden Zeit des Siegesrausches die starke klerikale Opposition in der

Volksvertretung der liberalen Opposition ermöglicht hat, die Durch­ führung politischer Reaktionsbestrebungen der Regierung zu hintertreiben.

So mancher, dem Liberalismus unzugänglicher Wahlkreis stellt jetzt statt eines konservativen Abgeordneten einen Zentrumsmann, der durch

den Kulturkampf zu der Erkenntniß gelangt ist, in Sicherstellung und Vermehrung der Volksfreiheit gegen eine allmächtige Staatsgewalt den Liberalismus unterstützen zu müssen. Eine ernstliche Gefahr, daß sich

eine Versöhnung der Klerikalen mit einer konservativen Regierung auf klerikaler Grundlage vollziehe, ist nicht vorhanden. „Nach Canossa gehn wir nicht!" — dieses Wort Bismarck's wird immerdar Geltung behalten, so lange ein protestantischer Kaiser auf dem deutschen Kaiser­

thron sitzt, so lange die große Mehrheit der Nation protestantisch ist. Ungefährlich ist ferner ein Bündniß des Zentrums mit den Alt­ konservativen, vermittelt durch die protestantische Orthodoxie. Die

Erfahrung. hat bewiesen, daß die Konservativen mit ihren Pastoren in

den alten Provinzen Preußens am ohnmächtigsten sind, wenn sie sich papistischer Neigungen verdächtig machen.

Die orthodoxe Pastorenschast

wird sich schnell des protestantischen Kirchenregiments bemächtigen, nach­ dem ihr Minister Falk mit Hülfe des kurzsichtigen Protestantenvereins

durch die Synodalordnung die evangelische Landeskirche überliefert hat. Mag es sein! Um so schneller wird sich die Ueberzeugung Bahn brechen,

daß die endliche Beilegung aller kirchlichen Streitigkeiten nur auf dem von der Fortschrittspartei angegebenen Wege, — bei vollständiger Tren­

nung der Schule von der Kirche, durch ein die Kirchengemeinden aller Konfessionen befreiendes allgemeines Gesetz über Religionsgesellschaften

zu erwirken ist (siehe Erklärung v. 24. März 1877 Nr. VIII. Seite 226). Auch das zum 31. Dezember 1881 ablaufende „Septennat"

des

Reichsmilitärgesetzes macht uns keine Sorge, sofern wir die Kanzler­

krisis ohne Reaktion überwinden. sich erneuern.

Freilich wird dann der alte Kampf

Aber die Noth der schweren Zeit wird bis dahin Zeder-

. Vorwort.

XL

Die Kanzlerkrisis.

mann, selbst die Militärverwaltung überzeugt haben, daß wir zu arm

sind, gleichzeitig allen Kulturbedürfnissen der Nation gerecht zu werden

und gleichzeitig ein so

großes Friedensheer zu unterhalten.

Selbst

unter den militärischen Sachverständigen wird sich die Anschauung Bahn

brechen, daß bei erheblicher Verminderung der Präsenzzeit und Ver­ mehrung der jährlichen Aushebung das Volk widerstandsfähiger wird, falls wirklich noch einmal nach langem Frieden das Deutsche Reich seine

Machtstellung mit den Waffen in der Hand behaupten müßte.

So mag das liberale Bürgerthum Deutschlands getrost der Zukunft entgegensehen!

Und nun ein Wort zum Schluß! Seit Beginn der Kanzlerkrisis, Angesichts so vieler Halbheit und Unentschloffenheit sind mir oft die Worte in das Ohr geklungen, die unser Heimgegangener Freund Franz Ziegler, der Dichter des „Landwehrmann Krille", am 6. Februar

1873 bei der Feier seines 70 jährigen Geburtstages uns Abgeordneten zurief. Er mahnte die Jüngeren „sich zu erfüllen mit dem wilden Muthe und

Selbstvertrauen des Zunkerthums",

— des märkischen Zunkerthums, dessen hervorragendsten Vertreter er in seinem Landsmann, dem Fürsten Bismarck sah, dessen Verdienste

er gern und dankbar anerkannte. Er mahnte uns, furchtloses Ver­ trauen in uns und das deutsche Volk zu setzen, dessen treue Ausdauer noch lange nicht genug gewürdigt sei. Zch wünsche und hoffe, die deutsche Fortschrittspartei in und außerhalb der Volksvertretung werde

in den bevorstehenden schwierigen Zeitläuften den wilden Muth und

das Selbstvertrauen des Zunkerthums zu verbinden wissen mit der zähen Beharrlichkeit der Bürger und Bauern, — und dabei nimmer

vergessen, daß wir alle uns zusammenfinden müssen und wollen in der

innigen Liebe zu unserm deutschen Vaterlande!

Berlin, 7. Dezember 1877. Ludolf Parisius.

Erstes Kapitel. Die politischen Parteien in Preußen von 1848 bis 1858.

Wirkliche politische Parteien können nur in Ländern mit Volksver­ tretung vorkommen. Aus diesem Grunde wird man bei einer Darstellung der politischen Parteien des deutschen Reichs nicht weiter, als bis zum Zahre 1848 zurückzugehen haben, also bis zu dem Zahre, in welchem zum ersten Male ein deutsches Parlament und eine preußische National­ versammlung tagten. So wichtig für die politische Erziehung der Nation die vormärzlichen Kämpfe in den Ständeversammlungen der Mittel- und Kleinstaaten warm, so übten sie doch auf die Parteibildung der späteren Zeit nur geringen Einfluß aus. Zm Allgemeinen unterschied man dort blos zwischen liberal und konservativ; von den Liberalen sonderte sich wol zeitweilig eine radi­ kalere Richtung ab. Zu der am 5. März 1848 in Heidelberg tagenden Versammlung „der Leiter und Träger der patriotischen Bewegung im süd­ westlichen Deutschland", welche das Vorparlament vorbereitete, gehörten z. B. Weicker — kurz darauf badischer Bundestagsgesandter, Römer — wenige Wochen später württembergischer Minister/ Bassermänn — der später in Berlin überall die „Bassermann'schen" Gestalten sah, Heinr. von Gagern — bald darauf heflen-darmstädtischer Minister und dann deutscher Reichsministerpräsident, der alte Adam von Ztzstein — der 1849 mit der Linken des Frankfurter Parlaments nach Stuttgart, und dann in die Verbannung ging, Friedr. Hecker — schon im Frühjahr 1848 Anführer im republikanischen Aufstande. Sie Alle standen Anfang März 1848 noch vereint zusammen. Eine schärfere Sonderung in Parteim, und zwar ohne Unterschied der provinziellm oder staatlichen Grenzen mußte eintretm in den großen Parlammten von Berlin und Frankfurt. Der 18. März 1848 hatte den Absolutismus in Preußen plötzlich über den Haufen geworfm. Friedrich Wilhelm IV. hatte am 11. April 1847 bei Eröffnung des vereinigten Landtags das stolze Wort gesprochen: „Es drängt Mich zu der feierlichen Erklärung: daß es keiner Macht der Erde je gelingen soll, Mich zu bewegen, das natür­ liche gerade bei uns durch seine innere Wahrheit so mächtig machende Verhältniß zwischen Fürst und Volk in ein konven­ tionelles, konstitutionelles zu wandeln, und daß Ich es ParisiuS.

1

2

Die politischen Parteien in Preußen von 1848 bis 1858.

nun und nimmermehr zugeben werde, daß sich zwischen Unsern Herr Gott im Himmel und dieses Land ein beschriebenes Blatt, gleichsam als eine zweite Vorsehung eindränge, um Uns mit seinen Paragraphen zu regieren und durch sie die alte heilige Treue zu ersetzen." Die Revolution war stärker als die Vorsätze des Königs. Noch war kein Zahr vergangen, — da erschien unter Gegenzeichnung von Ministern, die fast alle im Zahr zuvor der entschiedenen Opposition des vereinigten Land­ tages angehört hatten, — Camphausen, Graf Schwerin, von Auers­ wald, Bornemann, Hansemann — in der Gesetzsammlung die Verordnung über einige Grundlagen der künftigen preußischen Verfassung vom 6. April 1848, deren letzter Paragraph (§ 6) lautet: „Den künftigen Vertretern des Volks soll jedenfalls die Zustim­ mung zu allen Gesetzen, sowie zur Festsetzung des StaatshaushaltsEtats und das Steuerbewilligungsrecht zustehen." "Die Revolution in Berlin war weder durch revolutionäre Emissäre — „Zuden, Polen und Franzosen" — zu Stande gebracht, noch überhaupt die Ausführung eines Planes irgend welcher Personen; darüber kann heute nicht der geringste Zweifel mehr herrschen. Mit der siegreichen Revolution war die große Mehrzahl derjenigen, welche bis dahin konservativ oder absolutistisch genannt werden konnten, wenn nicht demokratisch, so doch liberal oder konstitutionell genvorden; der Kleinadel, die orthodoxe Geistlichkeit, das bureaukratische hohe Beamtenthum, bis dahin die Hauptvertreter des Stockpreußenthums, waren über Nacht fast durchgängig „deutsch" geworden. Mitten im Jubel über die neue Freiheit wurde das preußische Volk zum ersten Male zur Wahl gerufen; es galt Vertreter für zwei kvnstituirende Parlamente zu finden. Das allgemeine gleiche geheime, aber indirekte Wahl­ recht hatte eine schwere Probe zu bestehen. Erwägt man, wie selbst in den regierenden Kreisen die verwirrtesten Anschauungen über die Aufgaben jener Versammlungen herrschten, so muß man zugestehen, daß die preußischen Wahlmänner im Ganzen genommen mit leidlichem Geschick sich ihres Auf­ trages entledigten. Sie suchten für Berlin Männer von Entschiedenheit und praktischer Brauchbarkeit, welche die Geschäfte des Lebens und die Bedürfnisie des Volkes kannten, und verlangten nebenbei Vertretung be­ stimmter, lokaler Interessen. Die Aufgabe des Frankfurter Parlaments hingegen erschien den preußischen Wahlmännern so schwierig und nebelhaft, daß sie für Frankfurt am liebsten gelehrte Leute mit ausgebreitetem Wissen und geschichtlichen Kenntnissen wählten, Leute, die lange und schöne Reden über staatsrechtliche Fragen halten konnten, mochten sie auch sonst etwas unpraktisch und pedantisch aussehen.*) *) Siehe Rede v. Kirchmann's in der II. Kammer vom 26. März 1849 und v. Unruh: „Erfahrungen aus den letzten drei Jahren. Ein Beitrag zur Kritik der politischen Mittelparteien" (1851) S. 122 ff. v. Unruh sagt: „Bei den deutschen Ab­ geordneten prüfte man mehr den Kopf, bei den preußischen Herz und Nieren. Waren Diese gesund, so schadete selbst der Rock des Bauern nicht; aber der Kandidat für Frankfurt mußte wo möglich zu repräsentiren und zu imponiren verstehen. Hierin liegt muthmaßlich die Veranlassung, daß in Frankfurt so viel Gelehrsamkeit, so viel

Die politischen Parteien in Preußen von 1848 bis 1858.

3

Eigentliche „Konservative" kamen in beiden Versammlungen nur in geringer Zahl vor und sonderten sich von den gemäßigten Liberalen bet rechten Seite nicht aus. In der preußischen Nationalversammlung saßen Demokraten bis in das Zentrum hinein. Die Linke unter Walbeckes Führung gewann im Laufe der Sitzung an Einfluß; zu ihr gehörten Dr. Johann Jacoby von Königsberg, Dr. Stein und Dr. Elsner von Breslau. Aus dem linken Zentrum sind hervorzuheben Generallandschafts­ rath Rodbertus; Staatsanwalt, später Oberlandesgerichtspräsident von Kirchmann, Oberbürgermeister Philipps von Elbing, Oberlandesgerichts­ rath Bucher von Stolp, Obergerichtsassessor Schulze von Delitzsch; dem Zentrum gehörten Regierungsrath von Unruh von Magdeburg und Dr. med. Kosch von Königsberg, der Rechten Oberbürgermeister Grabow von Prenzlau und Hauptmann a. D. Friedrich Harkort von Wetter an. Letzterer war später Führer eines rechten Zentrums. Die Majorität lag im Zentrum; daß sie anfänglich schwankend war, geht aus dem Ergebniß der alle vier Wochen wiederholten Präsidenten- und Vizepräsidentenwahlen hervor. **)

Redegewandtheit und so wenig Charakter und Selbstständigkeit sich zusammenfand. Die Versammlung gehörte ihrer Mehrzahl nach zu den höheren Schichten der Gesell­ schaft, zu der eigentlichen gebildeten Klasse. In der Berliner Versammlung waren die Gelehrten von Fach nur in geringer Zahl vorhanden, obschon es am gründlichen Wissen keineswegs fehlte. Dagegen blickte die Neigung, lokale Interessen zu ver­ treten, überall hervor, wo sich nur Gelegenheit dazu zeigte. Die einzelnen Abgeord­ neten hatten zum großen Theile eine praktische Richtung, hielten sehr fest an ihren Ansichten und bequemten sich nur nach und nach einer strengeren Parteidisziplin, nachdem man durch die Erfahrung lernte, daß die Einzelgefechte zur Verwirrung und zu keinem Resultate führten. Bis zur Auflösung im Dezember gab es noch rmmer Abgeordnete, welche es mit ihrem Gewissen unverträglich fanden, für Fragen zu stimmen, die ihre individuelle Ansicht nicht scharf genug ausdrückten. Man stimmte gegen die nächsten Gesinnungsgenossen und unterstützte dadurch wider Willen die Gegner." *) Gewählt sind: 1) 26. Mai: Präsident Kaufmann Milde (später Handels­ minister) in engerer Wahl gegen Waldeck mit 204 gegen 168 Stimmen; Vizepräsi­ denten Ester, Justizrath, uno Waldeck. 2) 27. Zuni: Grabow gegen Waldeck mit 238 gegen 110 von 383 Stimmen; Vizepräsidenten von Kirchmann, Dr. med. Kosch, Geh. Revisionsrath Ionas (Rechte) und in engerer Wahl Philipps (gegen Waldeck mit 169 gegen 111 Stimmen). 3) 24. Juli: Präs. Grabow mit 290 von 33.5 Stimmen; Vizepräs. Kosch, Jonas, von Unruh und Philipps (gegen Waldeck mit 178 gegen 112). 4) 21. August: Präs. Grabow mit 308 von 332 Stimmen; Vizepräs. Kosch, Philipps, Waldeck (mit 176 von 330) und in engerer Wahl Jonas. 5) 19. September: Präs. Grabow (gegen Philipps mit 179 gegen 151); Vize­ präsidenten in lauter engeren Wahlen Philipps, Jonas, Waldeck, v. Unruh (gegen Kosch) 6) 16. Oktober: Präs. Grabow mit 231 von 324 St.; Vizepräs. v. Unruh, der Justizminister a. D. Bornemann, Philipps und Jonas (gegen Waldeck mit 170 gegen 155). 7) Grabow legte am 26. Oktober das Präsidium nieder, weil das Haus einen Ordnungsruf nicht billigte. Am 28. Okt. wurde von Unruh (gegen Philipps mit 177 gegen 170 von 348 Stimmen) Präsident. An seiner Stelle wurde Waldeck (mit 177 gegen 176 Stimmen, von denen 174 auf Minister a. D. von Auerswald sielen) Vizepräsident. 8) Die Versammlung war am 8. Novbr. nach Brandenburg verlegt, hatte aber am selben Tage mit 252 gegen 30 Stimmen die Aufhebung der Sitzung abgelehnt. Am 12. Novbr. — drei Tage vor der Steuerverweigerung, wurden im Saal des

4

Die politischen Parteien in Preußen von 1848 bis 1858.

Das am 8. November 1848 eingesetzte Ministerium Graf BrandenburgManteuffel verfuhr mit großer Umsicht, indem es die Verfassung vom 5. Dezember in fast wörtlicher Uebereinstimmung mit dem von der Verfaffungskommission der Nationalversammlung ausgearbeiteten Entwürfe oktroirte, in dem Wahlgesetz das allgemeine gleiche geheime Wahlrecht frei­ willig anerkannte und einer aus demselben hervorgehenden Kammer bei der Revision der Verfassung das unbedingte Veto zusprach. Hierdurch gewann das Ministerium auch einen großen Theil der bisher fest zu den demokra­ tischen Abgeordneten stehenden Wählerschaft für sich; man wünschte gemäßigte Deputirte, die eine Verständigung mit der Regierung suchten und deshalb sich ohne viel Sträuben auf den Boden der oktroirten Verfassung stellten. Durch die Ausschreitungen des Berliner Straßenpöbels, durch die an die Steuerverweigerung sich anschließenden Tumulte, durch die sozialrepublika­ nischen Programme demokratischer Vereinigungen in einzelnen Landestheilen, sowie durch Hetzereien der ganz in der Stille gesammelten überaus thätigen Kreuzzeitungspartei war schon ein großer Theil des wohlhabenden Bürgerthums in das konservative Lager gedrängt. Das Volk hatte dem Beschluß der Nationalversammlung vom 15. No­ vember 1848: „daß das Ministerium Brandenburg nicht berechtigt, über die Staatsgelder zu verfügen und die Steuern zu erheben, so lange die Nationalversammlung nicht ungestört in Berlin ihre Berathungen fortzusetzen vermag und tritt dieser Beschluß mit Ablauf des 17. November 1848 in Kraft und Wirksamkeit" keine praktische Folge gegeben. Jetzt, wo es in zwiefacher Weise zu wählen hatte, einmal nach allgemeinem Wahlrecht die 24jährigen und einmal mit einem mäßigen Zensus (500 Thlr. Reineinkommen, oder 8 Thlr. Klassen­ steuer oder 5000 Thlr. Grundbesitz) die 30jährigen — da stellte sich freilich heraus, daß die wohlhabendere Bevölkerung in ihren politischen Anschauungen durchschnittlich weit konservativer war, als die Gesammtmasse des Volkes. In Berlin wählte man in die zweite Kammer die radikalen Führer der Nationalversammlung, im ersten Wahlbezirke Waldeck, Berends, Rodbertus (mit 267 bis 277 Stimmen gegen 155 bis 161), im zweiten Rodbertus und Philipps (168 zu 124), im dritten Waldeck und Jacoby (211 zu 85), im vierten Jacoby und Temme (mit 228 zu 61),**) in die erste Kammer hingegen im ersten Wahlbezirke Generalsteuerdirektor Kühne, Kaufmann I. F. Dannenberger und Oberstlieutenant von Griesheim (mit 65 von 76 Stimmen), im zweiten Wahlbezirke Staatsminister Camphausen und Oberstlieutenant von Griesheim (mit 34 von 51 Stimmen).**) Schützenhauses gewählt zum Präs.: von Unruh mit 245, zu Vizepräs.: Waldeck und Philipps mit 241, Bornemann mit 239 und der Oberlandesgerichtsassessor Plönnies (mit 219 von 249 Stimmen). Plönnies, vor wenigen Jahren als Appellations­ gerichtsrath in Greifswald verstorben, gehörte zur Rechten. *) Nach den Nachwahlen waren die Vertreter Berlins in der zweiten Kammer: I. Waldeck, Berends, Heinrich Simon von Breslau, II. Rodbertus und Philipps, III. Landrath Reuter von Johannisburg und Ziegler, IV. Jacoby und Jung. **) Nach den Nachwahlen waren die Vertreter Berlins in der ersten Kammer: I. Kühne, Dannenberger und Geh. Oberregierungsrath Dieterici, II. Geh. Finanzrath und Kaufmann Knoblauch und Stadtsyndikus Möwes.

Die politischen Parteien in Preußen von 1848 bis 1858.

5

Die beiden Kammern traten am 26. Februar zusammen, am 27. April 1849 wurde die zweite Kammer aufgelöst und die erste Kammer vertagt. Der kurze Lebenslauf dieser ersten preußischen Legislaturperiode ist für die Entwickelung der politischen Parteien in Preußen von Wichtigkeit. Der Wahlkampf hatte nur zwischen zwei Parteien, zwischen den „Demokraten" und den „Konstitutionellen" stattgefunden. Wenn in Berlin die Gegner der Demokraten zur zweiten Kammer Grabow und Gneist als ihre Kan­ didaten aufgestellt hatten, während sie zur ersten in dem Oberstlieutenant von Griesheim einen Vertreter des Absolutismus sogar doppelt wählten, so läßt sich daraus schon abnehmen, daß im ganzen Lande sich die beiden gegnerischen Parteien wunderlich genug von einander absonderten. Als der Landtag zusammentrat, bildeten sich zunächst nur zwei Fraktionen. Zur Rechten gehörten z. B. von Bismarck-Schönhausen, von Kleist-Retzow, von Plötz, Graf Arnim-Boitzenburg, von Bodelschwingh, Landrath MeyerArnswalde (damals noch nicht geadelt), Stiehl, Prof. Keller, Graf Renard, — ferner v. Auerswald, Camphausen, v. Vincke, v. Patow, Graf Schwerin v. Saucken-Julienfelde, Fubel, v. Beughem, Grabow, Müllensiefen (1861 Fortschritt), Harkort. Dieselben unterzeichneten ein Programm, worin sie erklärten: 1) Die Verfassung vom 5. Dezember 1848 als rechtsgültiges Grundgesetz anzuerkennen und sich zu verpflichten, zu der Revision auf dem im § 112 derselben vorgezeichneten Wege mitwirken zu wollen, 2) bei der Revision unabänderlich an dem Prinzip der konstitutionellen Monarchie unter der erblichen Regierung des Hauses Hohenzollern festzuhalten. — Vincke präsidirte dieser Vereinigung und ihrem Konnte, zu welchem außer ihm die vier vor- und nachmärzlichen Minister a. D. von Auerswald, Graf Arnim-Boitzenburg, von Bodelschwingh und Graf Schwerin und ferner der damalige Landrath von Kleist-Retzow, der Regierungsrath von Secken­ dorf zu Köln, der Oberbürgermeister Naumann von Posen, der Regierungs­ präsident von Möller zu Düsseldorf, der Geh. Archivrath und Professor Riedel zu Berlin, der.Stadtrath (Bäckermeister) Ludewig, zu Breslau,, der Oberbürgermeister Grabow, der Gutsbesitzer Aldenhoven, der Hauptmann a. D. Harkort und der klerikale Schulrath Bogedain aus Oppeln gehörten. Bald jedoch sonderten sich, da die am weitesten nach rechts gehenden „Stockpreußen" von Kleist-Retzow, von Bismarck, Freiherr von Meusebach (vortragender Rath im Ministerium des Innern) keine Anstalt machten auszuscheiden und eine äußerste Rechte zu bilden,*) mehrere Fraktionen aus der Rechten (Stadt London) aus: a) ein rechtes Zentrum — Fraktion Harkort, wozu auch Unterstaats­ sekretair Müller, Berggerichtsrath v. Beughem und Gutsbesitzer Plaßmann (später klerikal) gehörten; b) ein Zentrum unter Führung des Oberlandesgerichts-Präsidenten Wentzel von Ratibor, welchem Naumann, von Seckendorf, Regierungs­ präsident von Saltzwedel, Land- und Stadtgerichtsrath Zmmermann (später Fortschritt) beitraten. *) Seit Ablehnung der deutschen Kaiserkrone Anfang April bildeten sie inner­ halb der Fraktion eine besondere Gruppe, die ihre besonderen Vorversammlungen abhielt. Außerdem unterschied man eine Gruppe des Grafen Arnim und eine Gruppe des Grafen Schwerin.

6

Die politischen Parteien in Preußen von 1848 bis 1858.

Der Zerfall der Rechten fand erst Statt, als diejenige Frage, die alle geeinigt hatte, in ihrem Sinne erledigt war. Am 20. März war nämlich in der Adresse an den König nach Ablehnung anderer Anträge folgender erster Satz: „Durchdrungen von dem Verlangen nach der Wiederkehr eines öffentlichen Rechtszustandes, hat das preußische Volk die Feststel­ lung desselben durch die Verfassung vom 5. Dezember v. Z. dankbar anerkannt." mit 172 gegen 161 Stimmen,*) und sodann folgenden zweiten Satz: „Auf Grund derselben zum erstenmale versammelt, werden die Mitglieder der zweiten Kammer voll Ehrfurcht und Treue gegen Ew. König!. Majestät und feststehend auf dem Boden der konsti­ tutionellen Monarchie sich der Revision dieser Verfassung — des nunmehr gültigen Grundgesetzes des preußischen Staates, — auf dem im Artikel 112 daselbst vorgezeichneten Wege mit dem dieser großen Aufgabe entsprechenden Eifer unterziehen." mit 175 gegen 158 Stimmen zum Beschluß erhoben. Die Opposition, bei Eröffnung einig darin, daß die Verfassung für jetzt nicht als rechtsgültig anzuerkennen sei, hatte anfänglich gemeinschaft­ liche Sitzungen abgehalten, an denen bis 140 Abgeordnete theilnahmen, allein hier trat namentlich bei den Neugewählten schnell ein tiefes Miß­ trauen gegen die Republikaner Dr. med. d'Ester von Köln, Dr. Grün von Trier und Gottfried Kinkel von Bonn, sowie gegen Zung und andere als Rothe verschrieene Gesinnungsgenossen desselben schnell hervor. Man er­ wartete auch hier vergeblich, daß der äußerste Flügel — hier die Republi­ kaner, deren kaum 20 sein mochten — sich von den Uebrigen trennten. Da sie bei der Linken blieben, entstanden schnell nach einander neben der­ selben folgende besondere Fraktionen: a) Die gemäßigte Linke unter von Unruh, Rodbertus, Philipps und Regierungsrath von Merckel aus Liegnitz; dazu gehörten Schulze-Delitzsch, v. Kirchmann, Stadtgerichtsrath Pflücker aus Breslau, Oberlandesgerichtsaffesior Parrisius aus Naumburg, Dr. Rupp aus Königsberg, Prediger Hildenhagen, Bürgermeister Schneider aus Schönebeck, Kaplan von Berg aus Zülich, Zustizkommissarius Moritz aus Torgau und Andere. Die Fraktion hatte etwa 60 Mitglieder. b) Die Fraktion Kosch (Hotel de Eussie), etwa 16 Mann, unter denen außer dem Führer Dr. med. Kosch noch Landrath Schlick für Tilsit-Niede­ rung, Kaufmann Weese aus Thorn, Gutsbes. Ebhardt-Komorowen und Fabrikant Zeschke aus Pförten in der Konfliktszeit als Fortschrittsmänner dem Abgeordnetenhause angehörten. c) Fraktion Rohden-Pape oder des Rheinischen Hofes, etwa 15 Mann stark. Zu ihr gehörten außer dem Oberlandesgerichtsrath Rohden viele Katholiken, wie der klerikale Landgerichtsrath de Syo, Schneeweis aus

*) Zmmermann, von Salzrvedell, Gerichtsrath Daubert von Worbis, später Mitglieder der Fraktion Wentzel, die das Programm der Rechten nicht unterschrieben hatten, sich aber sonst zur Rechten hielten, stimmten gegen den ersten und für den zweiten Satz.

Die politischen Parteien in Preußen von 1848 bis 1858.

7

Neisse, außerdem der Oberlandesgerichtsassessor Pape (jetzt Präsident des Oberhandelsgerichts zu Leipzig). Die Linke blieb ungefähr 70 Mann stark: Waldeck, Ziegler, Bucher, Zacobi, Berends, Elsner, Stein, d'Ester, Jung, Zustizkommissar Gierse aus Münster, Landrath Reuter, Staatsprokurator Schornbaum aus Coblenz, Geh. Revisionsrath Esser, Professor Kinkel aus Bonn, Referendar Löher aus Paderborn (jetzt Geh. Rath von Löher in München), aus dem Frank­ furter Parlament Advokatanwalt Wesendonck aus Düsseldorf, Heinr. Simon aus Breslau, Temme u. s. w. Die Polen waren zum Theil Mitglieder der Linken, zum Theil der gemäßigten Linken. Mit Ausnahme der Linken hatten alle Fraktionen Programme, die aber meistens trotz ihrer Länge, wenig Unterscheidendes darboten, sofern man von der Stellung zu der oktroirten Verfassung absieht. Die gemäßigte Linke erklärte in ihrem Programm u. A., daß sie zur Begründung der demokratisch-konstitutionellen Monarchie für Annahme der revidirten Ver­ fassung stimmen werde, falls sie mit den Gesetzen vom 6. und 8. April und 24. September 1848*) übereinstimme und das allgemeine Wahlrecht unbeschränkt erhalte; außerdem forderte sie „sofortige Annahme und Publi­ kation der deutschen Grundrechte", die das Frankfurter Parlament bereits publizirt hatte. Die nächste Oppositions-Fraktion nach rechts, die Fraktion Kosch, stimmte damit ganz und gar überein, ging aber in ihrem Programme noch weiter in demokratischen Wünschen: sie verlangte unzweideutiges Steuer­ bewilligungs- und Verweigerungsrecht, die Bildung der ersten Kammer „nach den Bestimmungen der Verfassungsurkunde ohne Zensus für Wähler und Gewählte (mit Diäten und Reisegeldern) und ruhend auf einer demo­ kratischen Gemeindeordnung". Die am weitesten nach rechts sitzende Oppositionsfraktion Rohden-Pape erwähnte in ihrem Programm auch der April- und Septembergesetze, sowie der. deutschen. Grundrechte, sie. belegte sich jedoch mehr in allgemeinen Phrasen, richtete sich gleichmäßig gegen die Reaktion und den Schemkonstitutionalismus sowie gegen diejenigen, welche antimonarchische Tendenzen

*) Das Gesetz vom 6. April 1848 ordnete an: Aufhebung der Zeitungskautionen, Abschaffung des besonderen Gerichsstandes für Staatsverbrechen, Aburtheilung der politischen und Preß-Verbrechen und -Vergehen im Bezirk des Appellationsgerichts zu Köln durch Geschworenengerichte; Abschaffung der Disziplinargesetze für Richter; Aufhebung aller das freie Vereinigungsrecht beschränkenden gesetzlichen Bestimmungen. § 5 lautete: „Die Ausübung staatsbürgerlicher Gesetze ist fortan von dem religiösen Glaubensbekenntnisse unabhängig." § 6 ist schon oben mitgetheilt. — Das Gesetz vom 8. April 1848 ist das „Wahlgesetz für die zur Vereinbarung der preußischen Staatsverfaffung zu berufende Versammlung." Vom 24. September 1848 datirt das Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit. Daffelbe enthält neben den Bestim­ mungen über die Verhaftungen und Haussuchungen u. dgl. noch folgende wichtige Bestimmungen: § 5. „Niemand darf vor einen andern als den im Gesetz bezeichneten Richter gestellt werden. Ausnahmegerichte und außerordentliche Kommissionen sind unstatthaft. Keine Strafe kann angedroht oder verhängt werden, als in Gemäßheit des Gesetzes." — § 9. „Es ist keine vorgängige Genehmigung der Behörden nöthig, um öffentliche Zivil- und Militairbeamten, wegen der, durch Überschreitung ihrer Amtsbefugnisse verübten Verletzungen vorstehender Bestimmungen gerichtlich zu belangen."

8

Die politischen Parteien in Preußen von 1848 bis 1858.

verfolgen oder „die dem Idealismus verfallen und unter dem Namen der Demokratie auf die Verwirklichung von Grundsätzen bedacht sind, die nicht in das Leben treten können, ohne den gewaltsamen Umsturz aller staatlichen und sozialen Verhältnisse herbeizuführen" rc. Die Fraktion verleugnete dabei keineswegs die demokratischen Grundsätze, vielmehr wurde (§ 2) das Festhalten „an dem vernünftig demokratischen Prinzip" ausdrücklich versichert. Am eingehendsten war das Programm des Wentzel'schen Zentrums. Unter anderm verlangte es die Vereidigung des Heeres, des Königs, des Thronfolgers auf die Verfassung, Diäten und Reisekosten für die Mitglieder der ersten Kammer, Wegfall des Oktroirungsparagraphen (Art. 105), die Vorschrift, daß die Kammern aus eigenem Rechte zusammenträten, wenn sie binnen bestimmter Frist nicht zusammenberufen werden. Allgemeiner gehalten war das Programm der Fraktion Harkort; der Führer derselben hatte wol veranlaßt, daß unter den vorzugsweise in Angriff zu nehmenden Punkten „Verbesserung der Schulen und des Volksunterrichts" obenan stand. Daß die ganzen Fraktionssonderungen nicht zu wirklichen Parteibildungen führen konnten, ergab der Verlauf der Session, in welcher namentlich bei der deutschen Frage die Meinungen auch innerhalb der Fraktionen weit auseinander gingen. Das Frankfurter Parlament, dessen Parteien später zu besprechen sind, hatte am 27. März 1849 die Abstimmung über die Reichsverfassung zu Ende gebracht, am 28. März über die Verkündigung derselben Beschluß gefaßt und die erbliche Kaiserwürde auf Friedrich Wilhelm IV. König von Preußen übertragen. Unter des Präsidenten S im so n Führung reiste eine Deputation nach Berlin, um dem Könige den Beschluß zu überbringen. In der zweiten Kammer herrschte mit wenigen Ausnahmen mif allen Seiten darüber Einigkeit, daß dem Könige der Rath zu ertheilen sei, die Wahl anzunehmen. Im Uebrigen gingen die in drei Adreßentwürfen — Graf Arnim, von Vincke, von Unruh — niedergelegten Meinungen weit auseinander. Am 2. April wurde mit 156 gegen 151 — die Polen hatten nicht mitgestimmt — der von Vincke'sche Entwurf angenommen, dessen Absicht der Antragsteller dahin erläutert hatte, daß der König ohne Zögern und Zaudern, ohne jede dilatorische Antwort, unter Voraussetzung der Zustimmung der betheiligten deutschen Regierungen, die Krone annehmen möge. Unerwarteter Weise lehnte der König am 3. April die Kaiserwürde ab, so lange die getroffene Wahl nicht durch das freie Einverständniß sämmtlicher Regierungen zur vollen Rechtsgültigkeit gelangt wäre. *) Zn der

*) Der Rath, den der Rundschauer der Kreuzzeitung von Gerlach in der Rund­ schau zu Anfang April 1849 dem Könige gab, lautete wörtlich: „Es versteht sich von selbst, daß davon die Rede nicht sein kann, das »Geschenk« (!), wie es ist, aus den Händen der Deputation anzunehmen, behaftet mit dem Koth der Revolution und Usurpation, besudelt mit dem suspensiven Veto und den geheimen Kopfzahl-Wahlen, in sich tragend die Zerreißung Deutschlands erst in zwei, dann in viele Fetzen, endlich nach sich ziehend europäischen Krieg und Theilung von Deutschland zwischen Rußland und Frankreich. Namentlich muß Einigkeit, warme Einigkeit, Verbrüderung mit Oesterreich der Polarstern der deutschen Politik des Königs von Preußen bleiben. Doch nicht ungnädig — wie an stch ihre Dreistigkeit wohl verdiente —, nicht einmal blos negativ sollen die Männer der Paulskirche ausgenommen werden, wenn sie aus deren märzerrungenen Räumen in das altersgraue Schloß in Berlin eintreten. Der König, der so tief mit Frankfurt sich eingelassen hat, muß entschieden, aber freundlich mit Frankfurt brechen, und so Frankfurt vernichten."

Die politischen Parteien in Preußen von 1848 bis 1858.

9

zweiten Kammer folgten die lebhaftesten Debatten, in denen keine Beschlüsse zu Stande kamen, weil die beiden äußersten Parteien gegen die von den mittleren Parteien vorgeschlagenen Anträge stimmten. Bald aber wurde man sich darüber klar, daß der von der Regierung betretene Weg der Vereinbarung der deutschen Einzelstaaten unter sich und mit der deutschen Nationalversammlung verderblich war. Ein dringlicher Antrag von Rodbertus und den übrigen Mitgliedern der gemäßigten Linken vom 13. April führte zu Verhandlungen in der Kommission und im Plenum, aus denen hervor­ ging, daß die Regierung in dieser Frage nur von einer sehr kleinen Minder­ heit unterstützt wurde.*)

Ein Antrag des Grafen Schwerin, nach welchem die Kammer er­ klären sollte, daß der Augenblick gekommen sei, in dem von Seiten Preußens die Annahme der deutschen Verfassung erfolgen könne, sowie daß sie demnach wünsche, der König wolle sich nicht-länger der ihm auf Grund jener Ver­ fassung angetragenen Würde eines erblichen Oberhauptes des deutschen Bundesstaates entziehen, ward mit 254 gegen 79 Stimmen verworfen, indem außer der äußersten Rechten einschließlich der Gruppe von Arnim, gegen ihn trotz seines oppositionellen Inhalts die gesammte Linke und die Fraktion Wentzel stimmten. Sodann aber ward der dritte Satz des An­ trages Rodbertus:

Die Kammer wolle beschließen, daß sie ihrerseits die von der deutschen Nationalversammlung vollendete Verfassung, sowie sie nach zwei­ maliger Lesung beschlossen worden, als rechtsgültig anerkennt, und die Ueberzeugung hegt, daß eine Abänderung derselben nur auf dem von der Verfassung selbst vorgesehenen Wege zulässig ist. mit 175 gegen 159 Stimmen angenommen. Die Majorität bestand diesmal aus der gesammten Opposition — mit Ausnahme der 17 Polen und sieben noch über Jacobi hinausgehenden Demokraten, darunter d'Ester, Grün, Jung und Kinkel, die mit der Rechten stimmten — aus Wentzel und fast allen seinen Fraktionsgenossen, aus Har kürt'und der Minderheit seiner Fraktion und dem Präsidenten Grabow.

Dieser Niederlage des Ministeriums folgte am 26. April eine zweite. Die Berliner Abgeordneten hatten beantragt, den über Berlin am 12. November 1848 widerrechtlich verhängten Belagerungszustand aufzuheben. Vergeblich versuchte der Minister Manteuffel unter Vorlegung angeblicher Beweis*) Zn der Debatte vom 21. April 1849 hielt der damalige Abgeordnete für Westhavelland-Zauch, Gutsbesitzer von Bismarck-Schönhausen jene bekannte Rede gegen direkte Wahlen mit allgemeinem Stimmrecht und die jährliche Bewilligung des Budgets. Wir heben nur folgenden Satz hervor: „Das dritte Uebel, welches uns die Frankfurter Verfassung bringt, ist die jährliche Bewilligung des Budgets. Durch diesen Paragraphen ist es in die Hände derjenigen Majorität, die aus dem Lottospiel dieser direkten Wahlen hervorgehen wird, und welche nicht die mindeste Garantie bietet, daß sie uriheilsfähig oder auch nur von gutem Willen sein wird, — in die Hände dieser Majorität ist es gelegt, die Staatsmaschine in jedem Augenblick zum Stillstehen zu bringen, indem sie das Budget nicht wieder bewilligt, und so als Konvent die ganze Königliche und jede andere Macht im Staate neutralisirt, und das scheint mir in hohem Maße gefährlich." Die glänzendsten Reden an diesem Tage waren die Schlußreden von Schulze-Delitzsch für die Antragsteller und von Vincke als Referent der Kommission.

10

Die politischen Parteien in Preußen von 1848 bis 1858.

mittel, die er, wie sich später im Waldeckschen Prozeß herausstellte, der in dem Kreuzzeitungszuschauer mit „Enthüllungen" thätigen Fälschergesellschast Ohm-Gödsche-Piersig verdankte, die Nothwendigkeit des Belagerungszustandes darzuthun. Mit 184 gegen 139, mit 177 gegen 153 Stimmen wurde die Fortdauer des Belagerungszustandes ohne Zustimmung der Kammer für ungültig erklärt, und das Ministerium aufgefordert, denselben sofort aufzuheben. Diesem am 26. April gefaßten Beschlusse folgte am 27. April 1849 die Auflösung der zweiten Kammer. Das war der Lebenslauf der zweiten Kammer, deren Mehrheit bei Beginn der Session durchaus bereit war, das Ministerium zu unterstützen. *) Die erste Kammer hatte zwar auch Parteien und Fraktionen aber die­ selben standen sich nicht so schroff gegenüber, so daß neben den Partei­ versammlungen noch alle Woche einmal sämmtliche Mitglieder zu gemeinsamm Vorbesprechungen zusammenkamey. Vier Parteien waren zu unter­ scheiden : a) die äußerste Rechte, zu der die Führer der neuen Kreuzzeitungs­ partei Professor Stahl und Präsident von Gerlach, sowie der spätere Minister von Manteuffel II gehörten; b) eine Rechte, darin Profeffor Walter von Bonn, Geh. Reg.-Rath Dr. Brüggemann, Graf Jtzenplitz (der spätere Minister), von Hertefeld, von Schleinitz; c) ein Zentrum, darin von Wittgenstein-Köln, Professor Baumstark, die gewesenen oder spätern Minister Kisker, Milde, von Bernuth (jetzt nationalliberal); d) eine Linke, zum Theil aus gemäßigten Demokraten, zum Theil aus Konstitutionellen von der Richtung der Fraktion Wentzel und der zweiten Kammer bestehend. Dazu gehörte Minister a. D. Gierke, Präsident Scheller aus Frankfurt a. O., Vizepräsident von Forckenbeck aus Glogau (der Vater des jetzigen Reichs­ tagspräsidenten), Cetto von Trier (später Fortschr. und nat.-lib.), Graf Dyhrn, Appellationsgerichtsrath Leue von Cöln (später fortschrittlicher Abgeordneter), Bürgermeister Sperling von Königsberg, Regierungsrath Wulfshein aus Trier (der jetzige Abgeordnete) u. s. w. Die Programme, welche die Frak­ tionen zu b. c. d. erließen, bewegten sich noch mehr, wie die der Parteien der zweiten Kammer in allgemeinen Erwägungen; auf spätere Parteibildungen waren sie von keinem Einfluß. Die zu Beginn der Session die zweite Kammer in zwei große Parteien trennende Frage, ob eine unbedingte Anerkennung der oktroirten Verfassung auszusprechen sei, kam auch in der ersten Kammer bei der Adreßdebatte zur Sprache. Ein diese Anerkennung vorläufig versagendes Amendement des Bürgermeister Sperling ward mit 114 gegen 23 Stimmen verworfen. Unter den 23, die als äußerste Linke auzusehen, gehörten die meisten zu keiner Fraktion; von den vorher genannten waren darunter v. Forkenbeck, Leue, Sperling.

Ueber die Nationalversammlung in Frankfurt a. M. muß das Urtheil der unparteiischen Geschichtschreibung bei aller Anerkennung des Eifers und der Vaterlandsliebe der Mitglieder, ohne Unterschied ihrer Parteistellung, *) Bei den Präsidentenwahlen vom 6. März und 2. April erhielt Grabow jedes­ mal 171 von 330, sein Gegenkandidat von Unruh 158 bez. 157 Stimmen. Vize­ präsidenten wurden 1) von Auerswald mit 170 von 330 (Waldeck 154) bezw. mit 167 von 314 (Waldeck 139); 2) Lensing mit 168 von 327 (Philipps 156) bezw. mit 125 von 232 Stimmen (Philipps 106).

Die politischen Parteien in Preußen von 1848 bis 1858.

11

weit ungünstiger ausfallen als über die Berliner Nationalversammlung. Die deutsche Gelehrtenwelt, der im Frankfurter Parlament die Leitung anheimfiel, erwies sich unfähig, die nach der Revolution noch lange fort­ dauernde Macht der Volksbewegung bei völliger Ohnmacht der Regierungen zur Herstellung der deutschen Einheit zu verwenden. Vom Zusammentritt des Parlaments am 18. Mai 1848 bis zur Zersprengung des letzten Restes desselben zu Stuttgart am 18. Juni 1849 — welche traurige, ja klägliche Laufbahn! — Als die Versammlung dem „kühnen Griffe" ihres von der Mehrheit fast vergötterten Präsidenten Heinrich von Gagern zu­ stimmte und einen unverantwortlichen Reichsverweser als provisorische Centralgewalt einsetzte und dazu sich einen österreichischen Prinzen aus­ suchte, da war der günstige Zeitpunkt unwiederbringlich verloren. Von Monat zu Monat schwächlicher und ohnmächtiger, trat das Parla­ ment schon im November als Schutz und Schirm der preußischen Reaktion auf. Noch einmal schien der verpaßte Augenblick des Glücks wiederzukeh­ ren: Oesterreich sagte sich Anfang März 1849 offen von dem Einigungs­ werk los. Es gelang in wenigen Tagen, die Berathung der Neichsverfaffung zu beendigen; am 28. März 1849 wurde sie verkündet und König Friedrich Wilhelm IV. zum erblichen deutschen Kaiser erwählt. Mit Aus­ nahme einer verschwindend kleinen Zahl unklarer Republikaner hofften und wünschten und forderten alle liberalen Deutschen, daß der König die Krone annehme. Aber der König hatte jedes Verständniß für die Bedürfnisse des Vaterlandes verloren; die beschämende Erinnerung, wie tief er sich in den Tagen des März vor der „Revolution" gedemüthigt hatte, ließ nur noch Rachegedanken in ihm aufkommen, und die pietistische Hofpartei hetzte ihn immer weiter zu gewaltthätiger Reaktion an. Der König lehnte die Kaiserkrone ab und bezeichnete die Verfassung als einen Entwurf, den die Fürsten und freien Städte Deutschlands in gemeinsamer Berathung prüfen würden. Die Möglichkeit einer Verständigung lag nicht vor. Das Parla­ ment zerbröckelte,, der letzte Rest wurde am.18. Juni 1849 in Stuttgart gewaltsam zersprengt. Die Parteiverhältnisse im Frankfurter Parlament während seiner dreizehnmonatlichen Dauer darzustellen, ist nicht leicht, da die Versammlung zu Anfang eine große Menge Fraktionen besaß, die in ihrem Mitglieder­ bestände sich regelmäßig nach wichtigen Abstimmungen änderten. Zn den letzten Monaten gab es trotz der vielen nach ihren Versammlungslokalen benannten Fraktionen nur noch drei Parteien: 1) eine Rechte — Steinerne Haus und Milani —, zu der neben den späteren preußischen Ministern Graf Schwerin, v. Selchow und v. Rado­ witz früher auch Georg v. Vincke gehört hatte und zu der sich später alle Gegner der Durchführung der Reichsverfassung — Oesterreicher, Groß­ deutsche, Partikularisten, Ultramontane und Konservative — gesellten. 2) Das Centrum, die Bundesstaatlichen oder die Kaiserpartei (Weiden­ busch), bestand eigentlich aus drei großen, eine Zeit lang die Mehrheit umfassenden Parteien, dem Kasino oder der Professorenpartei (100 bis 150 Mitglieder — darunter Gagern, Mathy, Beckerath, Simson, Schubert, Beseler, Waitz, Dropsen, Dahlmann, Max Duncker, Veit, von SauckenTarputschen, Lette, von Stavenhagen, früher auch Welcker, Edel, Sepp,

12

Die politischen Parteien in Preußen von 1848 bis 1858.

Reichensperger und Osterrath), — dem Landsberger Hof (45 Mann, meist Norddeutsche, — Hannoveraner, Oldenburger, Braunschweiger), und dem Augsburger Hof — entstanden aus dem linken Centrum oder dem Württemberger Hof (50 Mann, darunter Hans v. Raumer, Stahl, Barth aus Bayern, Rob. Mohl, Francke aus Schleswig, Riesser, Biedermann). 3) Die Linke: Der Württemberger Hof (Giskra von Wien, der spätere Minister, Mittermaier, v. Herrmann), ursprünglich für sich allein das linke Centrum bildend, woraus sich nach rechts der Augsburger Hof und nach links der Westendhallklub (Heinrich Simon, Schoder, Raveaux, Reh) aus­ gesondert hatten; ferner der Deutsche Hof oder die Linke (Robert Blum, Karl Bogt, Löwe, Schaffrath, v. Jtzstein), und der Donnersberg oder die äußerste Linke (v. Trützschler — später erschossen, — Ludwig Simon von Trier, Zimmermann von Spandau, Berger von Wien, der spätere Minister). Die Linke, mit Ausnahme des Würtemberger Hofes, konnte man mit dem Namen Demokraten nach dem preußischen Sprachgebrauchs kennzeichnen; das Zentrum und ein Theil der Rechten bis zu den Männern des Würtem­ berger Hofes aber deckten sich etwa mit den Altliberalen, mit der „konstitu­ tionellen" Opposition. Die Kaiserpartei verlor unter den Ereignissen des April und Mai alle Haltung. Freilich drängten sich die wichtigsten Ereignisse in wenige Wochen zusammen: die Aufregung des Volkes in ganz Deutschland; die Einberufung der Landwehr in Preußen; Unruhen und Belagerungszustand in Breslau, Elberfeld, Düsseldorf, Iserlohn, Crefeld; der Aufstand in Dresden und seine Unterdrückung durch preußische Truppen; der Aufstand in der Pfalz und in Baden und die Besetzung Badens durch preußische Truppen unter Führung des preußischen Thronfolgers; der Krieg in Schleswig-Holstein, der blutige Ueberfall der Schleswig-Holsteiner durch die Dänen bei Friderieia und der preußische Waffenstillstand. In Berlin gleichzeitig Verfolgung der Demokraten, Verhaftung Waldecks (16. Mai) auf Grund des bekannten Bubenstücks, Oktroirung einer Verordnung über den Belagerungszustand (10. Mai); Verhaftung der demokratischen Führer Justizrath Pfeiffer, Buch­ druckereibesitzer Berends, Dr. Weiß und Genossen, weil sie über die Organisirung der demokratischen Partei Besprechungen gehalten hatten (Mai), und ihre Derurtheilung zu mehrmonatlicher Gefängnißstrafe durch ein zweifellos inkompetentes Kriegsgericht (Juni). Es folgte verfassungswidrige Oktroirung eines Wahlgesetzes zur zweiten Kammer mit Dreiklassen -Eintheilung und Oeffentlichkeit der Stimmabgabe für Urwähler und Wahlmänner (30. Mai), Oktroirung von Verordnungen über Vereins- und Versammlungsrecht und über die Presse (29. und 30. Juni), und über Disziplinirung der Richter und anderer Beamten (10. Juli). Die Kaiserpartei in Frankfurt schwankte Wochen lang zwischen Hoffnung und Furcht, zwischen Muth und Verzweiflung. Am 11. Mai half ein Theil von ihr zu dem Parlamentsbeschluß, der das Einrücken der Preußen in Sachsen für einen schweren Bruch des Reichsftiedens erklärte und lie Zentralgewalt aufforderte, ihm durch alle Mittel entgegenzutreten. Die Versammlung erklärte sodann mit allen gegen 12 Stimmen das satyrische Reichsministerium Grävell-Detmold für eine Beleidigung der Volksvertretung. Die Abberufung der preußischen Abgeordneten durch den Erlaß vom 14. Mai

Die politischen Parteien in Preußen von 1848 bis 1858.

13

proklamirten die Preußen feierlich für nicht rechtsverbindlich, sie würden der deutschen Nationalversammlung so lange angehören, als sie für die Durchführung des deutschen Verfassungswerks mit gesetzlichen Mitteln zu wirken vermögen, — aber schon am 20. Mai trat die Mehrzahl der Preußen ebenso feierlich aus der Nationalversammlung aus und ging nach Hause, weil Tags zuvor die Ernennung eines Reichsstatthalters beschlossen war. Am 26. Mai 1849 wurde der Dreikönigsbund zwischen Preußen, Sachsen und Hannover geschlossen und ein neuer Verfassungsentwurf bekannt gemacht, — und flugs erwachten die Hoffnungen der schwer Geprüften. Die Gebrüder Gagern, Dahlmann und Genossen veranstalteten am 26. bis 28. Juni die Zusammen­ kunft in Gotha. Es erschienen 147 der Kaiserpartei des Parlaments; 132 von ihnen einigten sich zu einer Erklärung, der später noch 12 schriftlich beitraten, wonach sie die Durchführung der Reichsverfassung ohne Ab­ änderungen für unmöglich anerkannten und aus langathmigen Erwägungen unter allerlei zum Theil sonderbaren Voraussetzungen sich verpflichteten, nach Kräften für den Anschluß der noch nicht beigetretenen Staaten an den von der Berliner Konferenz aufgestellten Verfassungsentwurf der drei Könige zu wirken und sich bei der Wahl zum nächsten Reichstage — gleichviel nach welchem Wahlgesetze — zu betheiligen. Zugleich beschloß man eine große Organisation: Einsetzung eines Zentralkomites in Frankfurt am Main zur Ueberwachung der Presse der Partei und Erhaltung der Verbindung der Mitglieder unter einander. Mitglieder des Zentralkomites wurden Heinrich von Gagern, Max von Gagern, Hergenhahn (1867 Mitglied des konstituirenden Reichstags), Reh und Mathy, — also drei Hessen-Darmstädter, ein Nassauer und ein Badenser. Organ der Partei die Deutsche Zeitung. Aus der Organisation ist so gut wie nichts geworden. — Max v. Gagern wurde katholisch und ultramontan und ging in österreichische Dienste, der große Heinrich von Gagern, der „Edle", dessen Heldenhaftigkeit noch in Gotha bewundert wurde und die Schriftsteller der Partei zu den schwärme­ rischesten Ergüssen und- Prophezeiungen über-seine künftigen Thaten hinriß, gerieth sehr bald unter die Großdeutschen und Partikularisten und ist zuletzt vor sechs Jahren in seiner hessischen Heimat als Kandidat der Ultramon­ tanen gegen einen nationalliberalen Bauern bei der Reichstagswahl durch­ gefallen.*) Unter denen von der Kaiserpartei, welche in Gotha mittagten, aber den Beitritt zu den Beschlüssen ablehnten, war Georg von Vincke. Die Gothaer Versammlung war verfehlt, sie trug nicht zur Stärkung der antidemokratischen liberalen und nationalen Partei bei. Wenn auch die Organe derselben den Patriotismus, die Aufopferung und die Selbst-

*) In Gotha soll auch noch ein geheimes Abkommen mit dem Herzog von SachsenKoburg-Gotha getroffen sein. Bekanntlich versuchte zehn Jahr später der Herzog auf den in sein Land geflüchteten deutschen Nationalverein Einfluß zu gewinnen. Er wünschte anfänglich mit dem Vorstande einen besonderen geheimen Vertrag abzuschließen, — einen Gedanken, den die „demokratischen" Führer (Herr von Bennigsen war Führer der Demokraten von Hannover) selbstverständlich von vornherein ablehnten. Bei dieser Gelegenheit soll sich der Herzog über die „Gothaer" von 1849 und dm schriftlichm Vertrag mit ihnen arg lustig gemacht haben. Daß der Inhalt des Vertrages durch­ aus harmloser Natur war, ist nicht zu bezweifeln.

14

Die politischen Parteien in Preußen von 1848 bis 1858.

Verleugnung der Männer von Gotha in den Himmel erhoben, so wurden diese von den Organen der Konservativen und der Reaktion nicht weniger verhöhnt, als von denen der Demokraten. Daß achtzig von ihnen — der edle Gagern an der Spitze — vor der Kaiserwahl dem Abgeordneten Heinrich Simon und seinen Parteigenossen für deren Zustimmung zum Erbkaiserthume als Gegenleistung die schriftliche Verpflichtung eingehändigt hatten, die Reichsverfassung von 1849 dergestalt für giltig zu erachten, daß sie für erhebliche Abänderungen oder erhebliche weitere Zugeständniffe nicht stimmen würden, wurde ihnen natürlich von demokratischer Seite in derbster Weise vorgehalten. Der Name „Gothaer" wurde ein Spottname; man warf den Führern jetzt vor, sich nicht mit dem Wortbruch begnügt, sondern ihren prinzipiellen Verrath organisirt zu haben unter Spekulation auf Halbheit, Schwäche und Feigheit. Ihre Partei verschwand in vielen Wahl­ kreisen, deren sie sicher zu sein gewähnt halten, schnell spurlos — „weil sie" — so drückt es die damals demokratische Nationalzeitung in einem Leitartikel im August 1849 aus — „unselbstständig, schwach, in diploma­ tisch sein sollenden Wendungen ewig sich drehend und beugend, ihre Grund­ sätze verleugnend, heute preisgebend, was sie gestern hochgepriesen, ohne den Muth freier Männer, die einen Willen haben und ihn aussprechen und ausführen, „„wenn auch die Welt voll Teufel wär,"" sich von der Reaktion betäuben, verblenden und ins Schlepptau nehmen ließen."

Die demokratische Partei der östlichen Provinzen Preußens, ihrem Wesen nach durchaus monarchisch, ließ sich durch die Ereignisse der Monate April und Mai 1849 ebenfalls zu Maßregeln hinreißen, welche für den Fort­ bestand der Partei verhängnißvoll werden mußten. Die durch preußische Soldaten unterdrückten revolutionären Bewegungen in Sachsen und Süd­ deutschland, die von der Polizei und dem Ministerpräsidenten als authentisch dargestellten sogenannten „Enthüllungen" — verleumderische Erdichtungen vermeintlicher Verschwörungen der demokratischen Abgeordneten und anderen Berliner Parteiführer*), noch mehr aber das Verlangen der gewerbtreibenden Bevölkerung nach Belebung des Verkehrs, nach „Ruhe um jeden Preis" hatten der deutschen Demokratie des Nordostens einen großen Theil der Bevölkerung abspenstig gemacht und einen andern Theil dazu gebracht, sich ganz vom politischen Leben zurückzuziehen. Die Anhänger der Minister Brandenburg und Manteuffel, des Ministeriums „der rettenden That" organisirten sich über das ganze Land hin. Die „kleine, aber mächtige" feudale Partei hatte sich schnell in den Hof- und Regierungskreisen einen fast maß­ gebenden Einfluß verschafft; sie war aber klug genug, die Wahlorganisation *) Wenige Tage nach Wald eck's Verhaftung (19. Mai) erließen die Berliner Stadt­ verordneten eine Ansprache an ihre Mitbürger, gerichtet gegen die Partei des Umsturzes. Den friedlichen Bürger, welcher durch die von der Regierung veröffentlichte Nachricht, man habe ein großartige demokratische Verschwörung entdeckt, in Schrecken gesetzt, an Enthüllungen zu glauben begann, riefen die Stadtverordneten nicht ohne Erfolg zu: „Es ist hohe Zeit, daß die Männer wahrer Freiheit zu einander stehen. Wir halten es ehrlich mit der wahrhaft konstitutionellen Monarchie, wir sind feind­ lich ihren Feinden und werden von unserm Standpunkte aus diese bekämpfen, mögen sie der einen oder andern äußersten Partei angehören. Deshalb verbindet Euch mit uns." Diese Stadtverordneten ertheilten an Manteuffel und Wrangel das Ehrenbürgerrecht.

Die politischen Parteien in Preußen von 1848 bis 1858.

15

gegen die Demokraten vorzugsweise der sogenannten „konservativ-konstitu ­ tionellen Partei" zu überlasten. Eine große Zusammenkunft der „monarchisch­ konstitutionellen Vereine" aller Richtungen tagte Ende Mai in Potsdam unter dem Vorsitze des Abgeordneten Geh. Regierungsrath Stiehl, des späteren Vaters der Regulative, und traf für die Wahlen die Verabredung, alle Scheidungen innerhalb der konservativen Parteien fallen zu lassen. Zn dieser großen konservativen Vereinigung befanden sich aufrichtig Konsti­ tutionelle in sehr kleiner Minderheit. Vorherrschend waren jene KonservativKonstitutionelle, die sich die Verfassung gefallen ließen, aber eine reaktionäre Revision derselben zu Gunsten der Bureaukratie und des Absolutismus wünschten, und ihre Verbindung mit der Maste durch Preußenvereine, Vete­ ranenvereine, Vereine für Gesetz und Ordnung u. dgl. aufrecht erhielt, so­ wie außerdem die Feudalen mit der Kreuzzeitung und dem Treubund. Die demokratische Partei in Berlin hatte trotz des Belagerungszustandes eine Organisation, die sich nachher in Volksvereinen darstellte, aufrecht zu erhalten gewußt. Aber ihre Verbindung mit den Provinzen war schwach. Die Leitung für die östlichen Provinzen nahmen nach Oktroirung des Wahl­ gesetzes die Parlamentarier der gemäßigten Linken in die Hand. Auf einem Kongreß zu Köthen am 11. Juni, an welchem von Unruh, SchulzeDelitzsch, Rodbertus sich betheiligten, wurde ein provisorisches „Zentralkomito zur Wahrung des allgemeinen Wahlrechts" mit dem Sitze in Magdeburg eingesetzt und nach eingehenden Debatten mit großer Mehrheit*) beschlosten, sich an der Wahl zur zweiten Kammer nicht zu betheiligen. Man meinte, da die Regierung ihre reaktionären Wege unbekümmert um die Majorität der Volksvertretung verfolge, so müsse die Demokratie den Mittelparteien die parlamentarische Thätigkeit in der verfassungswidrig zu Stande gebrachten Kammer überlassen und unter Wahrung ihrer Prinzipien durch Wort und Schrift für Aufklärung des Volkes während der be­ ginnenden Reaktionsperiode wirken. Provinzialversammlungen in Stettin, Frankfurt a. d. Oder, - Liegnitz und Breslau, Königsberg und. Insterburg traten dem Köthener Beschluß bei, — nur in Ostpreußen war eine starke Minderheit für die Betheiligung an der Wahl gewesen. Die Polen, die seit dem März fast immer mit der Demokratie gestimmt hatten, beschlossen Wahlbetheiligung, ebenso die Katholiken in Schlesien, Westfalen und am Niederrhein.

*)Schulze-Delitzsch gehörte in Köthen zur Minderheit; ebenso Alwin Sörgel, damals Kaufmann in Eisleben, bald darauf einer der thätigsten Mitarbeiter Schulze's im Genoffenschaftswesen, 1872 als Direktor der deutschen Genossenschaftsbank ver­ storben. Die ersten Assoziationen nach Schulze's Anweisungen wurden fast durchweg von Handwerkern und andern kleineren und mittleren Gewerbtreibenden gegründet und geleitet, die als 1848er Demokraten anrüchig und verfehmt waren. Wie für viele Richtungen der nationalen Arbeit, so namentlich für das deutsche Genossen­ schaftswesen war es von entschiedenem Vortheil, daß sich die Demokratie 1849 vom politischen Schauplatz zurückzog und dadurch viele tüchtige Männer veranlaßte, ihren Eifer und ihre Energie auf andere gemeinnützige Thätigkeit zu werfen. Es erinnert diese Erscheinung an jene Bemerkung Macaulay's über die republikanischen Rund­ köpfe nach der Restauration: wenn ein Bäcker, Maurer oder Fuhrmann sich durch Fleiß und Nüchternheit auszeichnete, so sei es aller Wahrscheinlichkeit nach Einer von Oliver Cromwells alten Soldaten gewesen.

Die politischen Parteien in Preußen von 1848 bis 1858.

16

Uebrigens waren es nicht blos die Demokraten, welche die Wahlent­ haltung für nöthig erachteten. Die unbestreitbare grobe Verletzung der Verfassung durch den Erlaß des Wahlgesetzes veranlaßte manchen ehrlichen Konstitutionellen, vor allen Georg von Vincke und den Oberbürgermeister Grabow, sich von der politischen Thätigkeit zurückzuziehen. Vincke offen­ barte seine konstitutionellen Bedenken erst, als er in Hagen-Altena zum Abgeordneten gewählt war. Zn einem Schreiben an den Wahlkommiffar vom 30. Zuli lehnte er die Wahl ab, weil die Wahlbestimmungen im offenbaren Widerspruch mit der Verfassung stünden und sonach weder die Wähler zur Wahl noch die gewählten Abgeordneten zur Annahme deS Mandats befugt erschienen. Die Urwahlen fanden am 17. Zuli statt. Die demokratischen Blätter waren stolz, feststellen zu können, daß fast überall nur die Minderheit der Wahlberechtigten gewählt hatte. Sie konnten nicht ahnen, daß die Zukunft erweisen werde, daß zufolge der angestrengten Thätigkeit der Konservativen die Betheiligung für eine Dreiklassenwahl nach diesem Gesetz eine verhältnißmäßig recht starke gewesen ist. Es ergiebt sich dies aus der Vergleichung der nachfolgenden Zahlen, welche wir nach Auf­ sätzen in der Zeitschrift des Preußischen statistischen Bureaus*) zusammen­ stellen: Es betheiligten sich an den Wahlen von den Wahlberechtigten der ersten Abth.

der zweiten Abth.

der dritten Abth.

Prozent

Prozent

Prozent

Prozent

44.7 27.2 37.1 42.4 48.o 44.o 47.5

28.6 12.7 18.5 23.o 30.5 27.3 27.6

31.9

1849 1855 1858 1861 1862 *) 1863 1866

55.4 39.6 50.2 55.8 61.o 57.o 60.4

von allen Wahlberecht.

16.i 22.6

27.2 34.3 30.9 30.4

Nach dieser Tabelle war die Wahlbetheiligung in dem konstitutionellen Preußen von 1849 bis 1866 nur einmal eine stärkere, als bei den sogen. Minoritätswahlen von 1849. Nur aus der Wahl im April 1862, zu Beginn der Konfliktszeit nach Auflösung des unter Betheiligung der neu­ begründeten Fortschrittspartei gewählten Hauses, ging ein Abgeordnetenhaus hervor, welches sich mehr, als jene Zweite Kammer von 1849, darauf be­ rufen konnte, ein getreuer Ausdruck der in dem Wahlgesetze zu Wort kommenden Wählerschaft zu sein.**)

Das Ergebniß der Wahl war den Gothaern oder Altliberalen weit ungünstiger, als sie vorausgesehen hatten. Zn Berlin zeigte sich, daß sie

*) Leider fehlen alle Mittheilungen über die Wahl von 1852. Vermuthlich war die Betheiligung erheblich schwächer als 1849, aber nicht so schwach, wie 1855, wo das selbstständige liberale Bürgerthum im preußischen Volke in den schlimmsten Pessi­ mismus versunken war. **) Dieses Abgeordnetenhaus von 1862 bis 1863 war das liberalste, was je in Preuhm existirt hat; und es war gewählt unter starker Beeinflussung der Wähler durch die Beamtenschaft.

Die politischen Parteien in Preußen von 1848 bis 1858.

17

unter den Gegnern der Demokratie nur in kleiner Minderzahl waren. Hier wurden im ersten Bezirk Provinzial-Feuersozietäts- und LandarmenDirektor Fröhner, Justizrath Geppert und Generallieutenant von Reyher (letzterer gegen den Hystoriker von Raumer); im zweiten Bezirk General­ lieutenant von Stockhausen und Ministerpräsident Camphausen, in der Nach­ wahl für letzteren, der ablehnte, Professor Ohm; im dritten Bezirk Geh. Regierungsrath Stiehl und Oberst von Griesheim — und da beide in Teltow-Beeskow-Storckow, wo sie ebenfalls gewählt waren, annahmen, in der Nachwahl Stadtältester Gamet und Professor Trendelenburg, im vierten Bezirk Justizrath Ulfert und Minister Freiherr von Manteuffel*) — und da letzterer in Lübben annahm, für ihn in der Nachwahl Kammergerichtspräsident Bonseri gewählt, — mit Ausnahme von Camphausen und Ulfert lauter Konservative verschiedener Richtung. In der Kammer bildeten die Gothaer die Linke, geboten aber über nicht viel mehr als V5 der Stimmen, darunter Simson und Wentzel, während die Rechte mit Graf Arnim-Boitzenburg, v. Bismarck-Schönhausen, Profeffor Keller, Freihr. v. Bodelschwingh, v. Selchow (später Minister), Oberstaatsanwalt Büchtemann und Justiz­ rath Geppert mehr als doppelt so stark war. Zwischen beiden stand eine Mittelpartei, zu welcher Altliberale, denen die Gothaer zu weit links waren, wie die früheren oder späteren Minister Graf Schwerin, von Auerswald, Milde, Camphausen (der jetzige Finanzminister) und die Katholiken Osterrath, Reichensperger und Lensing gehörten. Aus der ersten Kammer schieden nach Oktroirung des Wahlgesetzes nach und nach die demokratischen Mitglieder aus, sie wurden durch Konservative ersetzt. Mit dem Zeitpunkt der Wahlenthaltung Seitens der demokratischen Partei, begann jene neunjährige Reaktionsperiode, welche durch die Geistes­ krankheit des Königs ein unerwartetes Ende fand und unter deren Folgen Preußen und mit ihm Deutschland noch heute leidet. - Es liegt außerhalb des Planes dieses Buches,-die Periode-der tiefsten Erniedrigung unseres Vaterlandes auch nur in flüchtigen Umriffen zu schildern. Für die Geschichte der gegenwärtigen politischen Parteien mit alleiniger Ausnahme der damals herrschenden Partei des feudalen Kleinadels und des orthodoxen Pfaffenthums, deren Anhänger jetzt den Kern der Deutsch­ konservativen und Agrarier bilden, bietet jene Zeit wenig Stoff dar. Für die übrigen politischen Parteien von den gemäßigten Konservativen bis zu den entschiedensten Demokraten hin hatte diese verhängnißvollste Periode Preußens die gute Folge, daß sie sich ihrer Uebereinstimmung in so vielen wichtigen politischen Grundsätzen bewußt wurden und die Nothwendigkeit erkannten, einmüthig zusammenzustehen gegen eine so schmachvolle und scham­ lose Mißregierung, wie sie durch das Ministerium Manteuffel-Raumer-Westphalen unter dem Segen der lutherischen Pfaffen geführt wurde. Zur all­ gemeinen Kennzeichnung jenes mit dem Antritt der Regentschaft des Prinzen von Preußen beendigten Zeitraums wollen wir hier das Urtheil eines Zeit-

*) Manteuffel hatte sich den Wahlmännern dieses als besonders liberal bezeich­ neten Bezirks persönlich vorgestellt und vor ihnen sein, dazumal noch sehr versöhnlich und deutsch klingendes Programm entwickelt. PartsiuS. 2

18

Die politischen Parteien in Preußen von 1848 bis

1858.

genossen aus einem, zu Anfang des Zahres 1862 in einer gemäßigtliberalen Zeitschrift veröffentlichten Aufsatze*) wiedergeben.' „Die große, alles beugende Rückschrittsbewegung, welche im November 1848 begonnen hatte, fand im November 1858 ein Ende, welches niemand vorausgesehen, das ganze Volk aber ersehnt hatte. Ueber alle andern Länder Deutschlands war derselbe Sturm hingezogen, welcher Preußen verheert hatte. Allein es wird immer zweifelhaft bleiben, ob irgendwo dem öffentlichen Geiste so schwere Wunden geschlagen wurden wie in dem Reiche der Hohenzollern. Die Erdbeben der Gewaltthat ver­ mögen es weniger, die Gesittung eines Landes zu zerstören, als die moralische Pest, welche aus der Mißachtung des Rechts und der Verleugnung gegebener Gesetze durch ihre eigenen Urheber emporsteigt. An den Abhängen eines Vulkans, der Häuser einstürzt, erbaut der Fleiß des Menschen von neuem der Heimat fried­ liche Stätte, sobald die Schrecken der Erschütterung vorüber sind. In den tödtlichen Sümpfen aber, deren unsichtbare Ausdünstung fort und fort unter den Strahlen einer verlockenden Sonne emporsteigen, erstirbt der Muth, welcher sich die Erde dienstbar zu machen sucht. „Gerade so erscheint das Verhältniß zwischen dem durch Gewalt gebrochenen Recht in andern Staaten und der beständig vergifteten Zeitperiode der preußischen Reaktion von 1850—58; einer Parteiherrschaft, welche auf den Grundsatz der tiefsten Unsittlichkeit begründet war, und in der Verleugnung des Rechts ihre innerste Auf­ gabe suchte. Es war der größte Fluch für diese Herrschaft, daß sie selbst gegebene Gesetze ohne Scheu und Scham verletzte und verleugnete. Wenn ein politischer Noth­ stand die Gewalt im November 1848 im geistigen Kampfe großer Gegensätze ent­ schuldbar machte, so gab es doch keine moralische Rechtfertigung für die Thätigkeit derjenigen Männer, welche die Grundlagen ihrer Gewalt in der Vernichtung des öffentlichen Rechtsbewußtseins suchten. Zn der frivolen Paradoxie der herrschenden Partei, nach den Grundsätzen ihrer Moral war es verdienstlich, das höchste Ver­ fassungsgesetz bei jeder Gelegenheit öffentlich zu schmähen, die Censur und die ad­ ministrative Bedrückung für „wahre Preßfreiheit" auszugeben, ein System der Ein­ schüchterung in den Wahlen als Garantie des freien Meinungsausdrucks zu preisen und endlich einen Rückzug vor dem Feinde als ein Anzeichen der Stärke zu rühmen, mit der man ruhig zurückweichen darf. Daß die Mittel der Gesittung in neuerer Zeit einem solchen System der öffentlichen Verderbniß zu widerstehen vermögen, ist ein Beweis für die unendliche Tiefe und den erhabenen Reichthum der Gedanken, welche das Leben der Gegenwart durchdringen. Wenn man zurückblickt auf eine mehr

*) Seite 276 Band 6 von „Unsere Zeit. Jahrbuch zum Konversations-Lexikon" Leipzig, Brockhaus 1862. Der Aufsatz: Preußen seit Abschluß des Staatsgrundgesetzes bis zur Einsetzung der Regentschaft (Erster Artikel: Der allgemeine Entwickelungs­ gang und die äußere Stellung Preußens. Bd. 6 S. 337—377. Zweiter Artikel: Die Gesetzgebung. Bd. 7 S. 39—78. Dritter Artikel: Rechtspflege und Verwaltung. Bd. 7 S. 401-460. Vierter Artikel: Kirche, Schule und Wissenschaft. Bd. 8 S. 81 bis 131) ist unsers Wissens der bisher einzige Versuch, jene Zeit der ersten preußischen Reaktion wahrheitsgetreu zu schildern. Der Verfasser schloß (1864) mit den Worten: „Noch leben die meisten Personen, über deren Verdienst und Schuld in der preußischen Neaktionsperiode erst eine spätere Zeit entscheiden kann, eine Zeit, die frei von Rück­ sichten sprechen darf. Möge es nicht für Anmaßung gelten, wenn wir die Erwartung aussprechen, daß die preußische Reaktionsepoche von 1850 bis 1858 vor dem Tribunal späterer Geschichtschreibung ihr endgültiges Urtheil nach einem strengeren Maßstabe empfangen wird, als uns anzulegen erlaubt war."

Die politischen Parteien in Preußen von 1848 bis 1858.

19

als achtjährige Misregierung in Preußen, und fragt, was sie geleistet hat, so muß man zugeben: Sie erniedrigte Preußen vor dem Auslande durch muthlose und un­ sichere Politik; sie lähmte die Kräfte Deutschlands in dem fortwährend behaupteten Gegensatz der preußisch-österreichischen Bestrebungen; sie achtete kein Versprechen, welches in feierlichen Formen gegeben war, sie zerbrach die Hoffnungen des deutschen Volks in der Zerstörung der selbstbegonnenen Einheitsbestrebungen; sie fand weder den Muth zu einer thatkräftigen Leitung der deutschen Kleinstaaten, noch die Selbst­ verleugnung zur Unterordnung unter Oesterreich; sie vertagte die Rechte der Herzogthümer im Zahre 1850, um sie in dem Londoner Tractat zu verrathen und nach dem Erlaß der Gesammtstaatsverfassung in Dänemark seit 1855 in fruchtloser Weise und wirkungslosen Reden zu erörtern; sie untergrub die Organe der Staatsverwaltung im Beamtenthum durch einen unerhörten Druck auf die politische Ueberzeugung; sie erschütterte das Vertrauen in eine unparteiische Rechtspflege durch Verfolgungssucht im einseitigen Interesse der herrschenden Partei; sie erweckte einen längstbegrabenen Gegensatz zwischen der bürgerlichen Gleichberechtigung und maßlosen Privilegien einer einzelnen Kaste durch die Herstellung der alten Kreis- und Provinzialverfassung wie durch Schöpfung des Herrenhauses; sie spaltete selbst den Landadel durch Unter­ scheidung des Besitzalters, welche den historischen Vorgängen in Preußen widersprachen; sie setzte die Kirche in ein feindseliges Verhältniß zur Gesellschaft, zu den Staatsgesetzen und zur freien Entfaltung der Wissenschaft."

Unter dem geschilderten System sank die Volksvertretung tiefer und tiefer; je weniger das Gesetz und die Verfassung von der Regierung be­ achtet wurde, desto abhängiger und gefügiger wurden die Kammern. Schon in der zweiten Kammer von 1849 bis 1852 zeigte sich dies Man braucht nur die Ergebnisse der Präsidentenwahlen in dieser Legislaturperiode mit einander zu vergleichen. Zum ersten Präsidenten wurde jedes mal der liberale Exminister Grast Schwerin gewählt, — in der ersten Session gegen Simson, in der zweiten und dritten gegen konservative Exminister Graf Arnim-Boitzenburg und später Freiherr von Bodelschwingh, der zuletzt nur durch' eine sehr geringe Mehrheit geschlagen' würde. Zum ersten Vizepräsidenten wurde 1849 Simson mit großer Mehrheit gegen Graf Arnim gewählt, später fiel er gegen den konservativen Justizrath Geppert durch. Ebenso erging es dem liberalen Katholiken Kononikus Lensing, der 1849 fast einstimmig zum zweiten Vizepräsidenten gewählt wurde, aber später gegen Konservative durchfiel. Bei den Wahlen von 1852 und 1855 war unter Anleitung des neuen Ministers des Innern Herrn von Westphalen die Beeinflussung der Wahlen, der „Wahlzwang" systematisch in Anwendung gebracht, um liberale Wahlen zu hintertreiben. Männer wie Graf Schwerin wurden von strebsamen jugendlichen Landräthen in Wahlerlassen fast wie Daterlandsverräther und raublustige Kommunisten dargestellt. — Die Presse war, seitdem der wahn­ sinnige Unteroffizier Sefeloge auf den König einen Pistolenschuß abgefeuert hatte, der rücksichtslosesten polizeilichen Willkür auf Gnade und Ungnade überliefert, das Vereinsrecht war durch ungesetzliche Maßregelungen von der Kriminalpolizei völlig vernichtet. Kein Wunder also, daß bei verringerter Betheiligung der Wahlberechtigten die Wahlen immer ministerieller, immer mehr im Sinne der auf Wiederherstellung der Ständeverfassung gerichteten 2*

20

Die politischen Parteien in Preußen von 1848 bis 1858.

Bestrebungen der Partei Stahl-Gerlach ausfielen. Es änderte daran nichts, daß 1855 in vielen Orten namhafte 1848er, demokratische Parteiführer, unterstützt von der Nationalzeitung und anderen demokratischen Zeitungen, die Demokraten zur Theilmahne an der Wahl aufforderten. Zeigte die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses, wie nunmehr die zweite Kammer benannt wurde, schon 1852 bis 1855 eine starke Vermehrung der ministeriellen und feudalen Partei, so war dies noch mehr in der folgenden Legislaturperiode bei der berüchtigten „Landrathskammer" der Fall. Den Ausschreitungen der Zunkerpartei stand die auf eine kleine Minderheit zu­ sammengeschmolzene Partei der Altliberalen ohnmächtig gegenüber. Zum Glück des Liberalismus hatte sich von 1852 ab, aus Besorgniß daß die herrschende Partei die katholische Kirche dem Fanatismus des evangelisch­ lutherischen Pfaffenthums überliefern könnte, eine besondere katholische Partei gebildet, und in den katholischen Landestheilen, namentlich am Rhein und in Westfalen eine Reihe von Wahlkreisen besetzt, — oder liberale Kandidaten unterstützt. Diese katholische Partei unter Führung der Gebrüder Reichen sperger stand der liberalen Partei in Vertheidigung der Verfassung und der Volksfreiheit tapfer zur Seite. Was nun insbesondere die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses in der Legislaturperiode von 1852 bis 1855 anbelangt, so trat 1) die eigentliche Kreuzzeitungspartei mit 103 Mitgliedern in zwei Fraktionen auf: a) Fraktion Graf Schlieffen, später Fraktion Gerlach genannt, mit von Gerlach, Wagener und v. Blankenburg, zusammen 26 Mitglieder zählend, b) Fraktion Arnim, unter der Führung des jüngst verstorbenen Abg. v. Arnim-Heinrichsdorff, damals v. Arnim (Neustettin) benannt, mit Pro­ fessor Keller, Noeldechen, v. Niebelschütz, zusammen mit etwa 77 Mitgliedern. 2) Zur rein ministeriellen Rechten wird man 93 Abgeordnete zählen müssen, nämlich a) die Fraktion bei Meser, die sich aus der Fraktion Arnim loslöste und meist. Landräthe und Regierungsräthe, 21 an der Zahl umfaßte, b) die Fraktion Carl, mit 30 Mitgliedern, darunter der Führer Geh. Kommerzienrath Carl, der Generalpostmeister Schmückert, und der damalige Kaufmann, früher Müller Denzin, der später geadelt, es zum konservativen Parteiführer im Abgeordnetenhause und deutschen Reichstage brachte. c) Dazu kamen 9 Minister und Oberpräsidenten und 33 Wilde, die stets rechts stimmten; nur daß davon zehn konservative Katholiken in kirch­ lichen Fragen mit ihren Glaubensgenossen auf der Linken zu gehen pflegten. Dieser konservativen Mehrheit von 196 standen nun als mehr oder weniger oppositionelle Parteien gegenüber: 3) die Fraktion Bethmann - Hollweg oder Riedel, mit 17 Mitgliedern, zum großen Theil Männern, die von den eifrigsten Anfängern des Mi­ nisteriums „der rettenden That" allmälich zu Opponenten geworden waren, darunter der spätere Minister v. Bethmann -Hollwcg, der spätere Ober­ kirchenraths-Präsident Mathis, der frühere sächsische Minister von Carlowitz — in der Konfliktszeit einer der Führer des linken Zentrums; 4) die katholische Fraktion, 62 Mann stark, unter den Gebrüdern Reichensperger, Negierungsrath v. Mallinckrodt, Kammergerichtsrath Rhoden;

Die politischen Parteien in Preußen von 1848 bis 1858.

21

5) die Polnische Fraktion mit 13 Mitgliedern; 6) die liberale Partei mit liberalen Wildm etwa 61 Mann stark und noch in die beiden Fraktionen von Patow (etwa 40) und Wentzel-Vincke (etwa 20) getheilt. Die Opposition konnte es also höchstens auf 153 Mann bringen. Die veränderte Stärke der Parteien zeigte sich 1852 bei der ersten Präsidenten­ wahl, wo der ultrakonservative Obertribunalspräsident Uhden über dm Grafen Schwerin siegte. Als nach vier Wochen die definitive Wahl des Präsidenten für die ganze Session erfolgte, kam es nach mehrmaliger engerer Wahl dahin, daß Graf Schwerin und Herr von Kleist-Retzow gleich viel Stimmen (154) erhielten; nur das dem Grafen Schwerin günstige Loos bewahrte das Abgeordnetenhaus vor dem Präsidium des heißspornigen hinterpommerschen Feudalen. Zn den späteren Sessionen dieser Legislatur­ periode ließ man übrigens großmüthig dem Grafen Schwerin das Präsidium. Die Stadt Berlin war in dieser Legislaturperiode vertreten durch zwei Liberale: Generalsteuerdirektor Kühne und Buchhändler Reimer — drei Mitglieder der Fraktion Bethmann - Hollweg: Geh. Archivrath Riedel, Stadtrath Bock und Geh. Rath Mathis, — zwei Mitglieder der Fraktion Carl: General von Prittwitz und Stadtrath Noth — und zwei Mitglieder der Fraktion Arnim: Stadtrath Gamet und Geh. Kriegs­ rath Fleck. Das Aussehen des Abgeordnetenhauses von 1855 war wiederum ein verändertes. Das Ministerium hatte sich immer mehr den Anschauungen der Kreuzzeitungspartei anbequemt, es trat somit eine Unterscheidung zwischen Kreuzzeitungs- und rein ministerieller Partei wenig hervor. Wir sondern die Parteien folgendermaßm: 1) Feudale Rechte — 86 Mitglieder: a) Fraktion Gerlach (früher Graf Schliessen) — 41 Mitglieder; b) Fraktion von Arnim - Heinrichsdorf. Von dieser Fraktion hatte sich eine Linke als Fraktion Pückler abgesondert, bestehend meist aus Abgeord­ neten, welche die pietistischen Bestrebungen sowie die schlimmsten Aus­ schreitungen des übermüthigen Zunkerthums nicht mitmachen wollten. Zn der FraUion blieben höchstens 45 Mitglieder. 2) Ministerielle Rechte — 150 Mitglieder: a) Fraktion des Grafen Pückler, des spätern landwirthschaftlichm Ministers, mit 41 Mitglieder; b) Fraktion Büchtemann, besonders reich mit Landräthen versehen, ent­ sprach der Fraktion „bei Meser" und dem rechten Flügel der Fraktion Carl aus der vorigen Legislaturperiode, mit etwa 50 Mitgliedern, darunter auch der Abg. Denzin. c) Minister (7) und wilde Konservative oder Ministerielle (38), zu­ sammen 45. d) Fraktion Carl, bestehend aus Ministeriellen, die zuweilen Unab­ hängigkeitsgelüste zeigten, 14 Mitglieder. Darnach hatte sich die Rechte von 196 auf 236 Mitglieder vergrößert. 3) Der Opposition konnten im äußersten Falle die übrigen 116 Abge­ ordneten zugezählt werden: a) die katholische Fraktion — 51 Mitglieder, dazu 5 katholische Wilde

22

Die politischen Parteien in Preußen von 1848 bis 1858.

nebst dem Rest der durch Wahlkreisgeometrie der ärgsten Art und andere schlimme Wahlmanöver fast aufgeriebenen Polnischen Fraktion — 3 Mit­ glieder — zusammen 59 Mitglieder; b) die Fraktion Mathis, früher Bethmann-Hollweg, durch das gewaltthätige Auftreten der Regierungspolizei, insbesondere durch die Verfolgung ihres Preßorgans, des Preußischen Wochenblatts*) in eine scharfe Opposition gedrängt, — 21 Mitglieder; c) die Linke — der Rest der Fraktion Patow und Vincke, jetzt in eine Fraktion Patow von 32 vereinigt, denen noch einige wilde Liberale hinzutraten, zusammen kaum 36! Zu dieser kleinen Fraktion gehörten Graf Schwerin, v. Auerswald, v. Patow, v. Saucken-Iulienfelde, Wentzel, Kühne, v. Beughem, Delius, v. Bockum-Dolffs, Andre, ferner drei westpreußische Demokraten, Behrend-Danzig, Housselle-Elbing, die zu Ende der nächsten Session Jung-Lithauen stiften halfen, und v. Hennig-Plonchett, außer ihnen von späteren Fortschrittsmännern Allnoch, Harkort, Metzmacher.**) Das Abgeordnetenhaus von 1855 bis 1858, welchem seine 72 Land­ räthe (neben 7 Ministern, 30 anderen Verwaltungsbeamten und 12 Staats­ anwälten) den für die Preußischen Landräthe nicht schmeichelhaften Beinamen der „Landrathskammer" verschafft haben, zeigte in dem Ausfall der Prä­ sidentenwahlen, daß es durch die ganze Legislaturperiode hindurch eine konstante Mehrheit besitze. Es wurden jedesmal gewählt zum Präsidenten Graf Eulenburg gegen Graf Schwerin, zum ersten Vizepräsidenten von Arnim-Heinrichsdorf gegen Reichensperger und zum zweiten Vizepräsidenten Büchtemann gegen Matthis.

*) Dieses sehr zahme oppositionelle Blatt ist in der Zeit vom 1. Juli 1851 bis Ende 1856 21mal in Beschlag genommen, und nur dreimal verurtheilt. 1855 sind in einem einzigen Vierteljahr von 13 Nummern sechs mit Beschlag belegt und keine einzige verurtheilt. **) Sonderbar war der Verlauf der Berliner Wahlen gewesen, auf welche viel­ leicht die Mahnung der demokratischen Zeitungen zur Wahlbetheiligung einigen Ein­ fluß geübt hatte. Am 8. Oktober 1855 wurden gewählt: Graf Schwerin dreimal, v. Patow zweimal, Kühne, Fleck, v. Prittwitz und Matthis, nämlich im I. Bezirk Graf Schwerin, Kühne und v. Patow gegen Ministerpräsident v. Manteuffel; im II. Be­ zirk v. Patow (gegen Fleck) und Fleck (gegen Riedel); im III. Bezirk v. Prittwitz (gegen Schwerin) und Graf Schwerin (gegen Lehnert); im IV. Bezirk Matthis und Graf Schwerin (gegen Finanzminister Rabe). Am 15. November fanden nun Nach­ wahlen für die 5 Plätze vom Grafen Schwerin und von Patow statt. Im I. Bezirk wurde Buchhändler Reimer gegen den konservativen Stadtrath Seeger und sodann in engerer Wahl Stadtrath Bock (Fraktion Matthis) gegen Seeger und den in Königs­ berg durchgefallenen Professor Simson gewählt. Im II. und III. Bezirk wurden die Liberalen ganz und gar geschlagen, in ersterem siegte Unterstaatssekretär Bode über Stadtrath Bock, in letzterem Kammergerichtsrath Lehnert (Fraktion Büchtemann) über Stadtrath Riedel. Zm IV. Bezirk gelang es, aber auch erst in engerer Wahl dem in Breslau durchgefallenen Präsident Wentzel einen Sitz zu verschaffen. — Georg von Vincke war in Hagen gewählt worden, hatte aber wieder einmal den Einfall, erst nachdem er gewählt war, zu erklären, daß er kein Mandat annehme.

Die neue Aera und die Entstehung der deutschen Fortschrittspartei.

23

Zweites Kapitel. Die neue Aera und die Entstehung der deutschen Fortschrittspartei.

Als dem Prinzen von Preußen zuerst durch Erlaß vom 23. Oktober 1857 die Vertretung des erkrankten Königs auf drei Monate übertragen wurde, gerieth der tonangebende Theil des preußischen Volkes, soweit er sich nicht vollständig der Regierungsgewalt angeschlossen hatte, in eine zwischen Furcht und Hoffnung schwankende Stimmung. Er sah mit Spannung nach Berlin, ob die ersehnte Aenderung des Systems eintreten werde. War doch all­ gemein bekannt, daß die Junkerpartei den Prinzen von Preußen durch Polizei­ spione überwacht und dem Könige gegenüber vielfach verdächtigt und verläumdet hatte, so wie daß diejenigen Staatsmänner, welche in erster Linie sich des Vertrauens des Prinzen zu erfreuen halten, in scharfer Opposition zu dem Ministerium standen. Die Stellvertretung wurde von Vierteljahr zu Vierteljahr verlängert, entgegen der klaren Bestimmung der Verfassung, welche für den Fall, daß der König dauernd verhindert ist, selbst zu regieren, die Einsetzung eines unverletzlichen Regenten vorschreibt — und ohne daß in dem Landtage auch nur ein Mann den verfassungswidrigen Zustand gerügt hatte. Die Hoffnung des Volkes erfüllte sich nicht. Die verhaßten Minister blieben.am Ruder und nur darin war eine Besserung zu bemerken, daß in der Gesetzgebung weitere Fortschritte auf reaktionärer Bahn aus-' blieben. So war fast ein Jahr vergangen; die Krankheit des Königs hatte sich als stetig wachsend und unheilbar herausgestellt, die völlige Umnachtung seines Geistes stand bevor; — ungeachtet des Widerstrebens der feudalen Hofpartei war die Einsetzung der Regentschaft nicht mehr zu vermeiden. Den „Allerhöchsten Erlaß vom 7. Oktober 1858, betreffend die Auf­ forderung an Se. Königliche Hoheit den Prinzen von Preußen zur Ueber­ nahme der Regentschaft" und die Erlaffe und Verordnungen desselben wegen Uebernahme der Regentschaft und Einberufung des Landtages, der nach der Verfassung über die Nothwendigkeit der Regentschaft zu beschließen hat, vom 9. Oktober 1858, waren verbunden mit der Verabschiedung des Ministers von Westphalen, der der eigentliche Leiter der reaktionären inneren Politik geworden war. Man erfuhr, daß die Kreuzzeitungspariei die äußersten Anstrengungen gemacht hatte, die Einführung der Regentschaft noch länger zu hindern; Herr von Westphalen hatte diese Anstrengungen mit bewunderns­ würdiger Zähigkeit fortgesetzt, als die übrigen Minister den Widerstand aufgaben. An seiner Stelle wurde Flottwell, ein ehrlicher konservativer

24

Die neue Aera und die Entstehung der deutschen Fortschrittspartei.

Bureaukrat, mit der interiministischen Leitung des Ministeriums des Innern betraut; sein-Name stand bereits unter dem Erlaß vom 7. Oktober. Mit einem Schlage erwachten im Volke die Hoffnungen auf Besserung; von Tage zu Tage wurden sie stärker. Hier und da wurden bereits Vorberei­ tungen zu den Wahlen getroffen, die ein ganz verändertes Aussehen zeigten. Schon am 12. Oktober wurde mit den Unterschriften angesehener Mitglieder der „konstitutionellen Partei" in Schlesien, darunter Allnoch, von Carlowitz, Graf Dyhrn, Milde, Professor Roepell, Freiherr von Vincke-Olbendorf, Graf Bork von Wartenberg, ein Wahlprogramm veröffentlicht, in welchem neun Punkte als die Hauptforderungen der vereinigten liberalen Fraktionen hingestellt wurden: „1) Sicherstellung der Freiheit der Wahlen, soweit dies irgend durch die Gesetz­ gebung möglich ist; namentlich Feststellung der Wahlbezirke durch das Gesetz. 2) Umbildung der Provinzial- und Kreisverfassung, der Gemeinde- und Städte­

ordnung im Sinne früherer Selbstverwaltung.

3) Aufhebung der gutsherrlichen Polizei. 4) Beseitigung der bisher bestehenden Befreiungen von der Grundsteuer.

5) Erlaß eines Gesetzes über die Verantwortlichkeit der Minister. 6) Revision der Gesetze über die Presse zum Schutz der Presse und des Buch­

handels gegen die bisherige Anwendung des Gewerbegesetzes von 1845. 7) Erlaß des in der Verfassung § 26 in Aussicht gestellten Gesetzes zur Regelung

des ganzen Unterrichtswesens auf Grund des § 20:

„Die Wissenschaft und ihre

Lehre find frei." .8) Ausführung des § 12 der Verfassung:

„Der Genuß der bürgerlichen und

staatsbürgerlichen Rechte ist unabhängig von dem religiösen Bekenntnisse." 9) Revision der Gesetzgebung über die Zulässigkeit des Rechtsweges und das

Recht der Verwaltungsbehörden durch Exekution eine Handlung oder Unterlassung

zu erzwingen, über deren Zulässigkeit durch die Gerichte rechtskräftig erkannt worden."

Diese neun Punkte fanden gerade wegen ihrer Bescheidenheit auch in andern Provinzen Beifall. Eine eigentliche Wahlbewegung begann aber erst nach dem Zirkular des Ministers Flottwell vom 19. Oktober über die Wahlen. Darin ward den Oberpräsidenten, Regierungspräsidenten, Wahlkommiffarien, Landräthen und Polizeidirektoren zwar empfohlen, dahin zu wirken, daß die Wahlen auf Männer fielen, denen die Eigenschaften der unwandelbaren Treue, Zuverlässigkeit und Rechtschaffenheit, sowie politische Einsicht unzweifelhaft beiwohnen; es ward ihnen und allen Königl. Beamten aber daneben zur Pflicht gemacht, jede Einwirkung sorgfältig zu vermeiden und zu unterlassen, welche den zu den Wahlen Berufenen irgend einen Zwang anthue, insbesondere eine Einschüchterung der Wahlmänner durch Drohungen der Entziehung gewisser von der Staatsbehörde abhängigen Vortheile und Rechte in sich schließe; außerdem war jede Thätigkeit und Mitwirkung der exekutiven Polizeibeamten bei dem Wahlgeschäfte ganz be­ stimmt untersagt. Der noch einmal zusammenberufene Landtag erkannte einstimmig die Nothwendigkeit der Regentschaft an; der Regent leistete den Eid auf die Verfassung am 26. Oktober; endlich erfolgte auch die langersehnte Ent­ lassung des Ministeriums. Die Minister Gebrüder Freiherrn von Manteuffel,

Die neue Aera und die Entstehung der deutschen Fortschrittspartei.

25

von Raumer, von Bodelschwingh und Graf Waldersee wurden am 7. No­ vember in Gnaden von ihren Aemtern entbunden, nur von der Heydt und Simons wurden in ihren Aemtern bestätigt; in das Ministerium des Fürsten Hohenzollern - Siegmaringen traten außer ihnen und Flottwell ein von Auerswald für das Innere, von Schleinitz für die auswärtigen Angelegenheiten, von Bonin für den Krieg, von Patow für die Finanzen, Graf Pückler für die landwirthschaftlichen, von Bethmann-Hollweg für die geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten. Unmittelbar vor den am 12. November stattfindenden Urwahlen und zu spät, um auf deren Ausfall einzuwirken, wurde die Anrede veröffentlicht, welche der Prinzregent am 8. November an das Staatsministerium gehalten hatte. Während sich die Konservativen in Programmen und Aufrufen damals und später an den Satz dieser Anrede klammerten: daß von einem Bruche mit der Vergangenheit nie und nimmermehr die Rede sein solle, wurden von dem Liberalismus andere Sätze zu seinen Gunsten ausgelegt und verwendet.*) Inzwischen hatten sich in einzelnen Hauptsitzen der Demokratie, wie in Breslau, Königsberg, Magdeburg, die alten Demokraten zu besonderen Wahlkomites vereinigt und waren mit großer Zurückhaltung in den Wahlkampf eingetreten; anderwärts hatten sich die alten demokratischen Führer ohne Weiteres den konstitutionellen Komites eingereiht. Ueberall waren die Demo­ kraten bestrebt, durch ihr politisches Auftreten, namentlich durch „maßvolle Haltung" die früheren Gegner zu versöhnen und dem neuen Ministerium zu zeigen, daß es auf ihre bereitwillige Unterstützung zu rechnen habe. Die Manteuffel'sche Politik war nicht durch die Energie des Volkes, nicht durch *) Am meisten Eindruck machte im Volke der Abschnitt der Ansprache, welcher sich gegen die Orthodoxie richtete: „In der evangelischen Kirche, wir können es nicht leugnen, ist eine Orthodoxie eingekehrt, die mit ihrer Grundanschauung nicht verträglich ist und die sofort in ihrem Gefolge Heuchelei hat. Diese Orthodoxie ist dem segensreichen Wirken der evangelischen Union hinderlich in den Weg' getreten, und wir sind nahe daran gewesen, sie zerfallenzu sehen. Die Aufrechthaltung derselben und ihre Weiterförderung ist mein fester Wille und Entschluß, mit aller billigen Berücksichtigung des konfessionellen Standpunktes, wie dies die dahin einschlagenden Dekrete vorschreiben. Um diese Aufgabe lösen zu können, müssen die Organe, zu deren Durchführung sorgfältig gewählt und theilweise gewechselt werden. Alle Heuchelei, Schernheiligket, kurzum alles Kirchenwesen als Mittel zu egoistischen Zwecken, ist zu entlarven, wo es nur möglich ist. Die wahre Religiosität zeigt sich im ganzen Verhalten des Menschen und dies ist immer ins Auge zu fassen und von äußerem Gebühren und Schaustellungen zu unterscheiden. Nichtsdestoweniger hoffe ich, daß, je höher man im Staate steht, man auch das Beispiel des Kirchenbesuchs geben wird." — Ferner der Abschnitt von Preußens politischer Stellung nach außen: „Preußen muß mit allen Großmächten im freundlichsten Vernehmen stehen, ohne sich fremdem Einflüsse hinzugeben und ohne sich die Hände frühzeitig durch Traktate zu binden. Mit allen übrigen Mächten ist dies freundliche Verhältniß gleichfalls ge­ boten. In Deutschland muß Preußen moralische Eroberungen machen, durch eine weise Gesetzgebung bei sich, durch Hebung aller sittlichen Elemente und durch Ergreifung von Einigungs-Elementen, wie der Zollverband es ist, der indeß einer Reform wird unterworfen werden müssen. — Die Welt muß wissen, daß Preußen überall das Recht zu schützen bereit ist. Ein festes, konsequentes und wenn es sein muß energisches Verhalten in der Politik, gepaart mit Klugheit und Besonnenheit, mutz Preuhen das politische Ansehen und die Machtstellung verschaffen, die es durch seine moralffche Kraft allein nicht zu erreichen im Stande ist."

26

Die neue Aera und die Entstehung ter deutschen Fortschrittspartei.

die Kraft des Liberalismus gestürzt; — aus eigenem freien Antriebs ohne äußere Nöthigung hatte der Prinz von Preußen die bisherigen Räthe, die sich ihm geschäftig aufdrängen wollten, aus ihren Aemtern entlassen, und den Thron mit volksthümlichen Männern umgeben, — diese Thatsache reichte hin, den Männern der Nationalversammlung von 1848 ihre Handlungs­ weise vorzuzeichnen. So erklärte Waldeck am 8. November in der Vorver­ sammlung der Urwähler seines Bezirks, er habe durch sein Erscheinen nur seine Theilnahme ausdrücken wollen an den allgemeinen freudigen Hoffnungen, daß künftig die gewissenhafte Beobachtung der Verfassung und die Aus­ bildung derselben in ihrem Geiste den Grund unseres politischen Lebens bilden werde; er wünsche, daß Abgeordnete gewählt werden, „die von dem­ selben Geiste beseelt und von so entschiedener Gesinnung sind, daß sie nie, auch im Geringsten nicht, mit den Rechten des Volkes mäkeln." —- Die früheren Abgeordneten von Unruh, Rodbertus und Schulze-Delitzsch ver­ zichteten auf Anfragen Berliner Wahlmänner für diesmal auf jede Wahl, da — wie Schulze schrieb — durch das Erscheinen von Männern ihrer Präzedentien im Abgeordnetenhause den liberalen Ministern der Rückschritts­ partei gegenüber manche Schwierigkeit bereitet werden möchte. Natürlich fehlte es nicht an Verdächtigungen und Beschuldigungen aller Art gegen die Männer von 1848; — hatte doch die Presse der Altliberalen und Gothaer Zahre lang darin mit der Kreuzzeitung gewetteifert; wer konnte erwarten, daß sie den Verleumdeten jetzt ganz gerecht werde? Gegen dieses Treiben richtete sich mit voller Würde Johann Jacoby in der ersten öffentlichen Versammlung der demokratischen Partei seiner Vaterstadt Königs­ berg seit 1849: nach neunjährigen Schweigen fühlte er das Bedürfniß, sich seinen Mitbürgern gegenüber, „frei vom Herzen hinweg auszusprechen. . . im Interesse einer vielverfolgten, vielverleumdeten Partei, im Interesse der ganzen demokratischen Partei, die jetzt neu sich organisirend und — ohne Hinter- und Rückhaltgedanken — sich auf den gegebenen Rechtsboden der verfassungsmäßigen Monarchie stellend, dem Volke eine offene Rechenschaft über ihre gegenwärtigen Ansichten und Zwecke, über ihre politischen Wünsche und Forderungen schuldig ist." Er vertrat den vom Konnte für unabhängige Wahlen unter seiner und der späteren Abgeordneten Dr. Bender-Katha­ rinenhof, I. Dickert, Prediger I. Rupp Mitunterschrift erlaffenen Wahl­ aufruf u. A. gegen den Vorwurf des politischen Idealismus: „Politische Idealisten! — Ich läugne nicht, daß es im Jahre 1848 unter unserer Partei Einzelne gab, die damals für Preußen eine andere als monarchische Regierungs­ form für möglich hielten. Sie waren im Irrthum und haben ihren Irrthum bitter gebüßt. Sind aber etwa diejenigen unserer Gegner weniger Idealisten, die einst der „rettenden Novemberthat" entgegenjubelten, die von einem Ministerium Manteuffel das Heil konstitutioneller Freiheit erwarteten? Sind die etwa weniger Idealisten, die für uns Preußen eine absolute Regierung, eine Junkerherrschaft oder ein reines Militär- und Polizeiregiment auf die Dauer für möglich gehalten? Auch sie wird hoffentlich die Erfahrung eines Bessern belehrt haben. Die Zeit liegt hinter uns, da man die Demokratie als Popanz benutzte, um ängstlichen Gemüthern damit Furcht einzujagen. Jetzt — ich spreche dies als meine volle innige Ueberzeugung aus — jetzt giebt es in unserem Lande in der ganzen

Die neue Aera und die Entstehung der deutschen Fortschrittspartei.

27

demokratischen Partei nicht einen einzigen, der für Preußen, wie es ist, eine andere als monarchische Staatsform zu wollen, geschweige zu erstreben fich nur im Traume einfallen läßt! Unser Programm liegt vor Ihnen. Es ist — wenigstens ich für meinen Theil sehe es so an — es ist kein bloßes gewöhnliches Wahlprogramm; es ist das voll­ ständige, aufrichtige Programm fiir das künftige politische Wirken aller demokratisch gesinnten Preußen: Ehrerbietung dem Könige! — Achtung der Landesverfassung! — Den Gemeinden Selbstverwaltung! — Allen Bürgern gleiche Pflichten, gleiche Rechte; *) Das ist verfassungsmäßige Monarchie auf der echt demokratischen Grundlage der Selbstverwaltung und Gleichberechtigung. Dies meine Herrn! wollen wir, nichts Anderes, nichts mehr, aber auch — nicht weniger!

Ernsthaft mit Aufstellung eines namhaften 48er Demokraten als Wahl­ kandidaten umgegangen war man in Breslau, wo Dr. Stein schon im August die Bildung eines besonderen demokratischen Wahlkomitss an­ gerathen und sodann auch bewirkt hatte. Dieses Konnte wurde von dem Augenblick an, wo es unter Billigung von 190 Wahlmännern den Vor­ schlag machte, neben Auerswald und Milde einen alten Demokraten zu wählen, sofort der Gegenstand der heftigsten Angriffe des konstitutionellen Komitss, dem es dann auch den dritten Platz überließ.

An andern Orten, wo sich alles was liberal war, zu gemeinsamen Wahlansprachen vereinigte, fielen diese nicht weniger entschieden aus. So forderten z. B. die „Konstitutionellen in Pommern" — darunter Graf Schwerin, Baumstark, Beseler neben Major a. D. Beitzke und dem Steuerverweigerer Zustizrath Zachariae, daß die Abgeordneten die Prinzipien des Freihandels und der Gewerbefreiheit vertreten und dahin wirken sollten, „daß die Selbstregierung der Kommunen, eine durch Ein­ griffe der Verwaltung und Kompetenz-Konflikte nicht verkürzte Wirksamkeit der Gerichtshöfe die Einschränkung polizeilicher Ueberwachung, namentlich in Betreff der Presse, eine vollkommene religiöse Duldung, Schutz gegen Üebergriffe des geistlichen Amtes in die' bürgerliche Gesetzgebung, uüd die

Verantwortlichkeit der Minister im Sinne der Verfassung zur Ausführung gelangen." Die Regierungspräsidenten und Landräthe bis herunter zu den Gensdarmen kümmerten sich zum großen Theil um den Wechsel des Systems und des Ministeriums sehr wenig; sie trieben die Wahlbeeinflussung nach den Rezepten des beseitigten Ministers von Westphalen nach wie vor zu Gunsten der feudalen Partei mit einer staunenswerthen Keckheit, die sich insoweit als gerechtfertigt herausstellte, als das Ministerium keinen einzigen der dasselbe verhöhnende Wahlerlasse durch Beseitigung des Verfassers be­ strafte. **) Za, der Minister des Innern erließ noch zwei Cirkularverfügungen,

*) Diese vier Sätze standen an der Spitze des Wahlaufrufs, welcher u. A. auch „Wiedereinführung des gleichmäßigen Wahlrechts und der Stimmzettelwahl" verlangte. **) Unter den in Wahlschreiben wetteifernden Beamten zeichneten sich der Regierungs­ präsident Graf Krassow zu Stralsund, der Regierungspräsident von Byern in Gumbinnen, der Landrath vonBrauchitschin Danzig, der Landrath vonSelchow in Ratibor besonders aus. Am ärgsten ging es, rote immer, int Regierungsbezirk Gumbinnen zu. Der Präsident von Byern verlangte in seinem Rundschreiben vom

28

Die neue Aera und die Entstehung der deutschen Fortschrittspartei,

die durch ihren scheinbar widersprechenden Inhalt dem Treiben der feind­ lichen Verwaltungsbeamten nur Vorschub leisten sollten: Am 10. November gebot er, „die Begünstigung extremer oder exklusiver politischer Richtungen bei der den Regierungsorganen obliegenden Thätigkeit für die bevorstehenden Wahlen gänzlich zu vermeiden und zu unterlassen," und am 17. November verlangte er, daß man überall den in den Wahlversammlungen zum Aus­ druck gelangten „das Maß einer richtigen Würdigung der Verhältniffe und Bedürfnisse überschreitenden Erwartungen" entgegentrete.

Der Ausfall der Wahlen übertraf die Erwartungen der Minister und befriedigte die ganze liberale Partei, einschließlich der Demokraten. Die Beeinflussungen der Regierungspräsidenten und Landräthe hatten sich macht­ los gezeigt. Von den Abgeordneten der Fraktionen, die in der Landrathskammer die große konservative Mehrheit gebildet hatten, wurde kaum % wiedergewählt. Das „Preußische Wochenblatt", ein dem neuen Ministerium sehr nahe stehendes Organ, berechnete nach der Wahl 263 Mitglieder „der neuministeriellen Partei", mit Einschluß der katholischen Fraktion von einigen 50 Abgeordneten, ferner 57 Altministerielle der verschiedenen Schaltirungen, 18 Polen und 14 Zweifelhafte. Mochten die Liberalen aller Richtungen bei dem Wahlkampfe meistens eine Einigung zu gemeinsamer Bekämpfung gemeinsamer Gegner erreicht haben, so hatte sich doch die Kluft zwischen den vormaligen Führern der Demokraten von 1848 und zwischen den Gothaern weit tiefer herausgestellt, als die ersteren geglaubt halten. Andererseits aber hatten alle liberalen Politiker aus der Wahlbewegung erfahren, daß in dem liberalen Bürgerthum, nachdem ihm die Möglichkeit, in politischen Versammlungen zu lernen, neun Jahre hindurch entzogen worden, die politische Bildung und der politische Muth weit zurückgeblieben waren. Um so mehr schien eine An­ näherung der früheren Gegner, ein Ausgleich des alten Zwiespalts geboten, — in Preußen nicht blos, sondern in ganz Deutschland. Aber freilich, ein Zusammenhang der preußischen Liberalen mit denen des übrigen Deutsch­ lands war bei keiner der beiden Richtungen vorhanden, und die nationale Frage, die den Zusammenhang bedingte, schien für lange Zeit ruhen zu müssen. Da kam der italienische Krieg von 1859. Die Folgen des nationalen und politischen Elends, das seit 1849 über Deutschland hereingebrochen

3. November, daß die Beamten „den Wahlagitationen der liberalen Opposition" entgegentreten sollten, und erklärte, „die Namen der gouvernementalen Kandidaten" könnten von den Wahlkommissarien in Erfahrung gebracht werden." Der Landrath von Brandt zu Lyck hatte .schon vorher eine Instruktion an die Polizeiverwalter und Gensdarmen erlassen, worin er sie aufforderte „zur Erzielung konservativer Wahlen" ihren ganzen Einfluß aufzubieten, daß die Schulzen, Schanker, Gensdarmen, Steuer­ erheber und Exekutoren bei der Wahl als Wahlmänner hervorgehen; den Wahlmännern sollen dann die Gensdarmen die Namen der konservativen Kandidaten bekannt machen, nämlich den Regierungspräsidenten von Byern, den Rittergutsbesitzer von Below — und den Staatsanwalt Dr. Falk. Falk wurde bekanntlich auch gewählt und ging zur Fraktion Mathis. — Erst nach den Wahlen, 24. November, wurde der Ober­ präsident der Rheinprovinz von Kleist-Retzow „in Gnaden einstweilen in den Ruhestand versetzt," dasselbe passirte, doch ohne daß die Gnade erwähnt wurde, dem Regierungspräsidenten Peters zu Minden am 5. Dezember 1858.

Die neue Aera und die Entstehung der deutschen Fortschrittspartei.

29

war, traten der drohenden Gefahr gegenüber grell hervor. Zm Volke herrschte die größte Meinungsverschiedenheit, ob und unter welchen Vor­ aussetzungen und Bedingungen Deutschland in den Krieg für Oesterreich mit eintreten solle oder dürfe. Die liberale Partei war Oesterreich ab­ geneigt, aber durfte Deutschland die Vertreibung Oesterreichs aus Italien durch das bonapartistische Frankreich ruhig mit ansehen? Dazu die gänzliche Unbrauchbarkeit der Bundeskriegsverfassung! — Preußen machte seine Armee mobil, lehnte aber den Antrag Oesterreichs ab, den Prinzregenten zum Oberbefehlshaber des deutschen Bundesheeres zu ernennen; der unver­ antwortliche Regent einer europäischen Großmacht konnte nicht zu gleicher Zeit verantwortlicher Feldherr der Bundesversammlung sein. Das öster­ reichische Kabinet, seit Olmütz an die unbedingte Nachgiebigkeit Preußens gewöhnt, sah die Weigerung als eine Feindseligkeit an und opferte wenige Tage darauf in Villafranca lieber die Lombardei, als daß es die preußisch­ deutsche Hülfe unter Bedingungen angenommen hätte, welche den Einfluß Preußens in Dentschland verstärkten, und Fortschritte auf dem Wege zur deutschen Einheit in Aussicht stellten. Die ersten Nachrichten von dem Frieden zu Villafranca riefen überall in Deutschland Schmerz und Entrüstung hervor. In Süddeutschland war man geneigt, Preußen wiederum alle Schuld aufzubürden; die Organe der österreichischen und der mittelstaatlichen Negierungen überhäuften es mit Schmähungen; in Norddeutschland machte sich die umgekehrte Strömung gegen Oesterreich und die Mittelstaaten in den bittersten Auslassungen der Presse bemerklich. „Alle alten Gegensätze — zwischen Norden und Süden, Katholiken und Protestanten, Demokraten und Konstitutionellen — regten sich wieder, alle alten Vorwürfe wurden wieder hervorgezogen und die neu hinzugetretenen Differenzen trennten auch die alten Freunde. Aber nur kurze Zeit dauerte dieser Zustand. Das Bild, das er für jeden Patrioten bot, war zu traurig, die von außen drohende Gefahr zu groß, das Gefühl für des. Vaterlandes. Wohl zu lebendig», als daß das Uebermaß, des Uebels nicht zugleich den Anfang der Hülfe hätte bringen sollen."*) Fast gleich­ zeitig und unabhängig von einander fanden in Eisenach, angeregt durch Schulze-Delitzsch und Fries-Weimar (am 17. Zuli) und in Hannover unter Rudolf v. Bennigsen's Führung (am 20. Zuli) Versammlungen patriotischer Männer, — meist Demokraten — statt, um eine gemeinschäftliche Grundlage für ferneres Handeln zu gewinnen. Die Preußen, Sachsen und Thüringer in Eisenach und die Hannoveraner in Hannover beschlossen Er­ klärungen, die im Wesentlichen auf daffelbe hinausliefen: Eine starke Zentral­ gewalt und ein deutsches Parlament, statt des Bundestags, und die Ini­ tiative Preußens, um diese Zwecke zu erreichen.**) Diese Kundgebungen

*) „Der Nationalverein, seine Entstehung und seine bisherige Wirksamkeit." Coburg 1861 S. 17. **) Den Erklärungen von Eisenach und Hannover gingen während des Krieges öffentliche Erklärungen Nassauer Patrioten (Dr. Lang, Hilf, Braun und Genossen) vom 21. Zuni und Württemberger Patrioten (Dr. Ammermüller und Genossen) von Ende Zuni voraus, in denen die Nothwendigkeit der von Preußen für den Krieg in Anspruch genommenen militärischen und politischen Leitung Deutschlands dargelegt wird. Diese Erklärungen sind in der in voriger Anmerkung angezogenen Schrift abgedruckt.

30

Die neue Aera und die Entstehung der deutschen Fortschrittspartei.

führten zu der gemeinschaftlichen Versammlung von Eisenach am 14. August 1859, welche mit ihrem Appell an alle Vaterlandsfreunde, „mögen sie der demokratischen oder der konstitutionellen Partei angehören", die nationale Unabhängigkeit und Einheit höher zu stellen, als die Forderungen der Partei und für die Erreichung einer kräftigen Verfassung Deutschlands in Eintracht und Ausdauer zusammenzuwirken, — vor allem bei der jüngeren, erst nach 1848 in das öffentliche Leben eingetretenen Generation den ent­ schiedenen Beifall fand. Die preußische Regierung verhielt sich zu der nationalen Bewegung eher ablehnend als fördernd. Es war daher kein Wunder, daß auf der größeren Zusammenkunft der Patrioten zu Frankfurt a. M. (15. und 16. September 1859) das Mißtrauen gegen Preußen eine Einigung über ein nationales Programm unmöglich machte. Der Nationalverein entstand ohne ein solches und auch auf seiner ersten zu Coburg am 3. und 4. Sep­ tember 1860 abgehaltenen Generalversammlung war die Nothwendigkeit der Uebertragung der Zentralgewalt an Preußen nur bedingungsweise aus­ gesprochen und auf den Anschluß der deutschen Provinzen Oesterreichs an das geeinigte Deutschland nur vorläufig verzichtet.*) *) Der § 1 des Statuts des Nationalvereins lautete: „Zweck des Vereins. Da die in Eisenach und Hannover angebahnte Bildung einer nationalen Partei in Deutschland zum Zwecke der Einigung und freiheitlichen Entwickelung des großen gemeinsamen Vaterlandes zur Thatsache geworden ist, so begründen die Unterzeichneten einen Verein, welcher seinen Sitz in Frankfurt a. M hat, und es sich zur Aufgabe setzt: für die patriotischen Zwecke dieser Partei mit allen ihm zu Gebote stehenden gesetzlichen Mitteln zu wirken, insbesondere die geistige Arbeit zu übernehmen, Ziele und Mittel der über unser ganzes Vaterland verbreiteten Bewegung immer klarer im Volksbewußtsein hervortreten zu lassen."

Die Resolution von Coburg, welche als das Programm der nationalen Partei anzusehen war, lautete:

„Das deutsche Volk wird seinen Anspruch auf bundesstaatliche Einheit, welcher durch das Gesammtorgan des Bundes und alle einzelnen deutschen Regierungen an­ erkannt ist und in der Reichsverfassung von 1849 seinen rechtlichen Ausdruck ge­ funden hat, nimmermehr aufgeben. Hiernach erkennt es der Nationalverein für seinen Beruf, auf die Schaffung einer einheitlichen Zentralgewalt und eines deutschen Parlaments mit allen gesetz­ lichen Mitteln hinzuwirken. Zu den Befugnissen der Zentralgewalt gehört vor Allem die militärische Obergewalt und die ausschließliche Vertretung gegenüber dem Ausland. Der Nationalverein erwartet, daß jeder deutsche Volksstamm willig die Opfer bringen werde, die zur Erreichung der Größe und Einheit Deutschlands nöthig sind. Das preußische Volk vor allem muß darthun, daß es trotz seiner glänzenden Geschichte und trotz der Grohmachtstellung des preußischen Staats sich als Theil des deutschen Volkes fühle und daß es gleich jedem andern Staate Deutschlands der deutschen Zentralgewalt und Volksvertretung sich unterordne. Wenn die preußische Regierung die Interessen Deutschlands nach jeder Richtung thatkräftig wahrnimmt und die unerläßlichen Schritte zur Herstellung der deutschen Macht und Einheit thut, wird gewiß das deutsche Volk vertrauensvoll die Zentral­ gewalt dem Oberhaupt des größten reindeutschen Staates übertragen sehen. Der Nationalverein gibt keinen Theil des deutschen Bundesgebiets auf. Es er­ kennt die deutschen Provinzen Oesterreichs als natürliche Bestandtheile des Vater­ lands und wird mit Freude den Augenblick begrüßen, welcher den Anschluß dieser Provinzen an das geeinigte Deutschland möglich macht. Die Gemeinsamkeit oes Bluts, der Geschichte, der Interessen weisen uns auf

Die neue Aera und die Entstehung der deutschen Fortschrittspartei.

31

Der Nationalverein fand in Preußen bei den Führern der Konstitu­ tionellen oder Gothaer keinen Anklang; von den 1848er Demokraten hielten sich auch Viele von ihm zurück, insbesondere diejenigen, welche mit Waldeck an die Herstellung des deutschen Bundesstaates durch friedliche Agitation nicht glauben mochten. Dennoch schloß sich die liberale Bewegung in vielen Kreisen Preußens vorzugsweise an den Nationalverein an; die Versamm­ lungen seiner Mitglieder und Freunde gaben den Demokraten von 1848 vielfach die Gelegenheit, daß Mißtrauen gegen die Demokratie zu zerstören, welches den besitzenden Klassen in der Reaktionszeit künstlich eingeimpft war. Der Nationalverein beseitigte das alte Parteiwesen innerhalb der liberalen Richtung und gewann um so mehr Einfluß, je eifriger die kon­ servative Partei ihn vom Standpunkte des preußischen Partikularismus aus bekämpfte. Das Ministerium der neuen Aera in Preußen hatte die Hoffnungen des Volkes durchaus nicht erfüllt. Nach außen unklar und schwankend, in der deutschen Frage unentschieden und muthlos, hatte es von den noth,wendigen Reformgesetzen der inneren Verwaltung fast nichts bewerkstelligt und die reaktionairen Verschlechterungen der Verfassung sämmtlich konservirt. Die Macht der Zunkerpartei war nicht gebrochen; namentlich die Landräthe und andere Regierungs- und Polizeibeamte organisirten ungestraft einen hartnäckigen Widerstand gegen die Minister. Die Ersetzung des Ministers Flottwell durch den Grafen Schwerin und des Zustizministers Simons durch von Bernuth hatte dem Ministerium einen mehr einheitlichen Charakter verliehen, aber gerade der Graf Schwerin war, wenn er auch stets die besten und ehrlichsten Absichten hatte und fast alle seine Kollegen an Liberalismus übertraf, einigermaßen befangen in einer förmlichen Sucht, der öffentlichen Meinung zum Trotz konservative Gesetze und Einrichtungen oder Persönlichkeiten härtnäckig zu vertheidigen. Zn dem Kriegsminister von Roon nahm das Ministerium den Keil zu seiner Zersprengung in sich auf. Wahrscheinlich hätte das Ministerium weit mehr geleistet, wenn es nicht über eine so gefügige Abgeordnetenhaus - Mehrheit gebieten konnte. Diese liberale Mehrheit unter des Freiherrn von Vincke Führung war jederzeit bereit, ihre ohnehin gemäßigten Forderungen noch weit mehr zu ermäßigen, — nur um das halbliberale Ministerium nicht zu gefährden. Das Gerücht: wenn das Abgeordnetenhaus in der gerade vorliegenden Frage nicht nachgäbe, würde das Ministerium den Wühlereien der reaktionairen Hofpartei zum Opfer fallen und das Manteuffel'sche Regiment zurückkehren —

die innigste Verbindung mit ihnen hin, auf eine durch Uebereinstimmung der poli­ tischen Institutionen und durch den ungehemmtesten geistigen und wirthschaftlichen Verkehr inniger als bisher geknüpfte Verbindung. Der Verein wird aber auch, falls die Macht der Verhältnisse und unbesiegbare Hindernisse die deutschen Theile Oesterreichs vom gleichzeitigen Anschluß an den deutschen Bundesstaat abhalten, sich hierdurch nicht hindern lassen, die Einigung des übrigen Deutschlands anzustreben. Wie sich auch in der nächsten Zukunft das Verhältniß dieser Provinzen zu dem übrigen Deutschland gestellten mag: der Verein kält fest an der Zuversicht, daß jener unvertilgbaren inneren Gemeinschaft auch die rechte Form der äußeren poli­ tischen Einigung auf die Dauer nicht fehlen kann."

32

Die neue Aera und die Entstehung der deutschen Fortschrittspartei,

war allzeit stark genug, die Widerstandsfähigkeit der Mehrheit auf ein Minimum herabzudrücken; und wenn Abgeordnetenhaus und Ministerium einig waren, scheiterte jede entschieden liberale Maßregel an dem beharrlichen Widerstande des Herrenhauses, dessen Rechtsbeständigkeit mit Recht ange­ fochten wurde.

So griff von Monat zu Monat die Unzufriedenheit mit dem Gange der inneren Entwickelung im preußischen Volke mehr und mehr Platz. Dies zeigte sich auch bei der Besetzung der im letzten Jahre der Legislaturperiode erledigten Sitze. Bei einer Nachwahl in der Priegnitz wurde der Kammergerichtsrath Taddel, der Vorsitzende im Waldeck'schen Prozesse, der „Richter ohne Furcht und Tadel", bei einer Nachwahl in Bielefeld (28. Dezember 1860) Waldeck selbst und bei einer Nachwahl in Berlin (7. März 1861 für den Staatsminister a. D. H. v. Arnim) Schulze-Delitzsch gewählt. Auch innerhalb der liberalen Mehrheit, vornehmlich der großen an 150 Mit­ glieder unter 352 zählenden Fraktion Vincke, wuchs die Unzufriedenheit über die Mißerfolge der Legislaturperiode. Unter den vielen parlamenta­ rischen Neulingen der Fraktion befanden sich jüngere Kräfte, die 1848 derdemokratischen Partei angehört hatten, wenn schon sie nicht gerade kompromittirt waren. Diese waren der Fraktion vertrauensvoll beigetreten, sahen sich aber in derselben arg getäuscht. Schon in der zweiten Session hatte sich aus der damals sogenannten „todten Masse" der Fraktion, welche der westfälische Freiherr mit einigen Getreuen absprechend und unduldsam zu beherrschen verstand, eine Anzahl von 30 bis 40 Abgeordneten heraus­ gehoben und anfänglich leise, aber allmählich deutlicher und fester dem herrschsüchtigen Führer Opposition gemacht. Die am unerschrockensten von ihnen diese Wege wandelten waren meist Ostpreußen, voran ihr Tapferster, Freiherr Leopold von Hoverbeck, vor dessen ernster schneidiger Art Vincke bald den größten Respekt zeigte. Diese Unzufriedenen verabredeten zu Schluß der zweiten Session, bei Beginn der dritten Session schon vor der Eröffnung des Landtages in Berlin einzutreffen und in gesonderten Berathungen ein politisches Programm zu entwerfen, welches sie der Fraktion zur Annahme vorlegen wollten. Am 2. Januar 1861 starb Friedrich Wilhelm IV. Der Landtag wurde zum 14. Zanuar einberufen. Am 12. Januar traten jene Unzufriedenen im Abgeordnetenhaus zusammen und beriethen bis tief in die Nacht hinein das Programm. Zahlreiche Amendements zur Vorlage wurden angenommen. Zum Schluß beauftragte die Versammlung die vier Abgeordneten Kommerzienrath B e h r e n d - Danzig, Rechtsanwalt vonForckenbeck - Morungen, Freiherr von Hoverbeck-Allenstein und Rechtsanwalt Krieger-Goldap mit der Redaktion. Diese wurde am 13. Januar vorgenommen. Am selben Abend wurde das Programm mit den Unterschriften von 15 Abge­ ordneten der Provinz Preußen in der Fraktion eingebracht und von Vincke sofort mit höhnischen Bemerkungen begrüßt. Am 16. Januar wurde es von der Fraktion nach lebhafter Diskussion mit 70 gegen 32 Stimmen abgelehnt. Das Programm ist für die Geschichte der deutschen Fortschritts­ partei von großer Wichtigkeit, da die meisten seiner Sätze wenig verändert in das Programm dieser Partei übergegangen sind. Es lautet:

Die neue Aera und die Entstehung der deutschen Fortschrittspartei.

33

Berlin, 13. Januar 1861. Unerschütterliche Treue dem Könige. Die Ueberzeugung, daß die Verfassung das unlösbare Band ist, welches Fürst und Volk zusammenhält. Achtung für das gleiche Recht jedes Einzelnen. Durchführung der Selbstverwaltung in Gemeinden und Kreisen. Die Einsicht, daß die Existenz und Größe Preußens abhängt von einer festen Einigung Deutschlands, die ohne eine starke Centralgewalt in den Händen Preußens und ohne Volksvertretung nicht gedacht werden kann. — Das sind die Grundpfeiler unserer Politik. Wir glauben also, daß Preußen das Recht und die Pflicht habe, das Ringen des deutschen Volkes nach Einheit im Innern und Macht nach Außen mit Nachdruck zu unterstützen und wo durch Gewalt das Recht des Volkes gebrochen wird, wie in Kurhessen und in Schleswig-Holstein, durch thätige Hilfe dasselbe wieder herzustellen. Für seine innere Einrichtungen sich den Beifall der übrigen deutschen Stämme zu erwerben, ist eine Aufgabe, welche Preußen niemals aus den Augen zu lasten hat. Strenge und konsequente Verwirklichung des verfassungsmäßigen Rechtsstaats, Anregung aller Kräfte des Volks zu ersprießlicher Thätigkeit, Schonung und Er­ haltung dieser Kräfte durch eine gerechte Vertheilung der Steuerlast, durch weise Sparsamkeit in den Staatsausgaben sind demnach die unverrückbaren Grundlagen unseres politisch-en Strebens. Wir verlangen daher zuerst Schutz des Rechts durch wirklich unabhängige Richter und diesen Schutz für Jedermann gleich zugänglich. Demnach Beseitigung der Disziplinar-Gesetze für Richter, Aufhebung des Anklage-Monopols einer ab­ hängigen Staatsanwaltschaft, Aufhebung des Gesetzes vom 8. April 1847 über das Verfahren bei Kompetenz-Konflikten, Aufhebung des Gesetzes vom 13. Februar 1854 betreffend die Konflikte bei gerichtlichen Verfolgungen wegen Amts- und Dienst­ handlungen, Wiederherstellung endlich der Kompetenz der Geschworengerichte für politische und Preßvergehen.*) Wir verlangen dann weiter Erlaß des in Artikel 61 der Verfassung in Aus­ sicht gestellten Gesetzes wegen Verantwortlichkeit der Minister. Die durch Artikel 12 der Verfassung gewährleistete Gleichberechtignng aller Religions-Genossenschaften wollen wir mit Nachdruck wahren. Eine Revision des Gesetzes über die Preffe vom 12. Mai 1851 und des Gesetzes wegen Erhebung einer Stempelsteuer von politischen und Anzeigeblättern vom 2. Juni 1852 erscheint uns im Interesse der Preßfreiheit dringend geboten. Wir werden die Entlastung des Handels von den Feffeln befürworten, welche zum Nachtheile der großen Maste in unsern Zöllen und Konsumtions-Steuern noch bestehen, ebenso eine Revision der Gewerbegesetzgebung in dem Sinne unterstützen, daß die beschränkenden und an das veraltete Zunftwesen erinnernden Vorschriften auf­ hören und unter Beseitigung des polizeilichen Konzessions-Wesens die freie Bewegung jeder gewerblichen Kraft erlaubt werde. Aus der Selbstverwaltung der Gemeinden und Kreise folgt die Beschränkung der Oberaufsicht des Staats auf die Fälle, in denen das Interesse des Ganzen durch diese Selbstverwaltung leidet, — aus der Gleichberechtigung aller Staatsbürger die

*) Dieser wichtige Absatz beruht auf einem Amendement des Abg. Krieger-Goldap, der erst 1861, in einer Nachwahl gewählt, in das Abgeordnetenhaus eintrat. ParisiuL

3

34

Die neue Aera und die Entstehung der deutschen Fortschrittspartei.

Beseitigung des ständischen Prinzips; diese Grundsätze werden uns bei Berathung von Kreis- und Städteordnung leiten. Bei der Vorlage über die Einführung der Zivilehe und bei Regelung des Unterrichtswcsens werden wir den Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche stets festhalten und Ueberschreitungen der letzteren abwehren, daher der obligatorischen Form der Zivilehe das Wort reden, und für den verfassungsmäßigen Erlaß eines Unterrichtsgesetzes wirken. Für die Ehre und die Machtstellung unsers Vaterlandes, wenn diese Güter durch einen Krieg gewahrt oder erlangt werden müssen, wird uns niemals ein Opfer zu groß sein; im Interesse einer nachhaltigen Kriegführung aber erscheint uns die größte Sparsamkeit für den Militäretat im Frieden geboten. Wir haben die Ueber­ zeugung, daß die Aufrechterhaltung der Landwehr, die allgemein einzuführende körperliche Ausbildung der Jugend, die erhöhte Aushebung der waffenfähigen Mann­ schaft, bei zweijähriger Dienstzeit für die vollständige Kriegstüchtigkeit des preußischen Volks in Waffen Bürgschaft leistet.

Die Unzufriedenen beriethen, nachdem die Fraktion das Programm verworfen hatte, über ihre Trennung von derselben; diese wurde mit etwa 20 gegen 12 Stimmen vorläufig abgelehnt. Inzwischen tagte wochenlang die „Adreßkommission" des Abgeordnetenhauses — sonderbarer Weise in geheimen Sitzungen unter Ausschluß aller Abgeordneten, die nicht der Kommission angehörten.*) Die mehrtägigen Adreßdebatten im Plenum führten endlich zu einem Bruch in der Vincke'schen Fraktion. Die Adreß­ kommission hatte in der Adresse einige farblose Sätze über die deutsche Frage genehmigt und dabei zwei Anträge verworfen, in deren erstem in Ansehung der Umgestaltung der Bundeskriegsverfassung als nothwendig bezeichnet war, daß die oberste Führung des deutschen Heeres in die Hand des Königs gelegt werde, und in deren zweitem (Antragsteller Freiherr v. Vincke) aus­ gesprochen war, daß Preußen die ihm durch seine Geschichte und durch seine Machtverhältnisse gebührende Stellung „an der Spitze des deutschen Bundes st aates" eingeräumt werde. Für das Plenum nahm General Stavenhagen die Anträge auf. In einer langen Debatte (am 7. Febr.), in welcher auch Vincke sich lebhaft für die Anträge aussprach, erklärte der Minister der auswärtigen Angelegenheiten Freiherr von Schleinitz, daß die Annahme des Abänderungsvorschlages der Regierung im höchsten Grade unerwünscht sein würde. Hierauf zog General Stavenhagen, auf Veran­ lassung Vinckes, den Antrag zurück. Freiherr Hoverbeck nahm ihn wieder auf, und er wurde nun verworfen mit 261 gegen 42 Stimmen. Am folgenden Tage sandten zunächst 12 Abgeordnete der Fraktion Vincke ihren Abschiedsbrief, nämlich acht Ostpreußen: Ancker, Spediteur zu Ruß, von Forkenbeck, Rechtsanwalt zu Elbing (früher Mohrungen), Oberlehrer Gortzitza zu Lyck, Gutsbesitzer Gamradt zu Neuhoff, Generallandschaftsrath Häbler zu Sommerau, Rittergutsbesitzer Frecher von Hoverbeck zu Nickelsdorf, Rechts*) Die Fraktion Vincke hatte auf Beseler's Antrag mit 53 gegen 48 Stimmen den Ausschluß der Oeffentlichkeit für gut befunden; die Adreßkommission beschloß denselben und das Haus hielt sich nicht für berechtigt, diesen Beschluß anzufechten. Vincke stellte zu dem Adreßentwurfe allein 17 Amendements, vertheidigte jedes der 17 mit Energie und zog jedes der 17 zurück.

Die neue Aera und die Entstehung der deutschen Fortschrittspartei.

35

anwalt Krieger zu Goldap, Gutsbesitzer Dr. Morgen zu Clemmenhof bei Memel; drei Westpreußen: Kommerzienrath Behrend zu Danzig, Rentier Houffelle zu Elbing und Fabrikant Weese zu Thorn, sowie der Vertreter des ersten Bromberger Wahlkreises, Rechtsanwalt Senff zu Bromberg. Sie konstituirten sich zunächst auf Grund jenes Programmentwurfes als Fraktion Ancker u. Genossen. Mit ihnen vereinigten sich Waldeck und T ad del, demnächst von früheren Mitgliedern der Fraktion Vincke der Rechtsanwalt Schenckel aus Marienburg, der schon eher ausgetreten war, und sein Spezialkollege für den 1. Danziger Wahlkreis, Rentner Lietz zu Marimau, ferner Rittergutsbesitzer Thiel zu Wangotten, Hoverbeck's Mutters-Bruder (für 4. Königsberg) und Rittergutsbesitzer Stephann zu Martinskirchen (für 1. Merseburg), endlich sobald er gewählt wurde, Schulze-Delitzsch. Vincke ließ seinen Grimm über das „Fraktiönchen" in allerlei Spottreden aus; von ihm rührte der Spottname „Zunglitthauen" her, der nachher auch von den Mitgliedern in Gebrauch genommen wurde.*) Die Session ging zu Ende, ohne daß die Mehrheit des Abgeordneten­ hauses sich zu einer entschiedeneren Haltung aufgerafft hatte. Wenn Hoverbeck (27. Mai) zur Ordnung gerufen wurde, weil er ausfprach, daß dem Abgeordnetenhause mit Recht viele Unterlaffungssünden zum Vor­ wurf gemacht würden, so wurde dadurch die Wahrheit des Ausspruchs nicht widerlegt. Durch die Bewilligung der für die Aufrechthaltung der Kriegs­ bereitschaft des Heeres erforderten wiederkehrenden und einmaligen Ausgaben im Extraordinarium**) hatte es die ungesetzlich begonnene Heeresreorganisation mit ihrer Vernichtung der alten Landwehrverfassung und ihrer Beseitigung der thatsächlich lange Zahre bestandenen zweijährigen Präsenzzeit mittelbar gebilligt und dadurch den Militärkonflikt vorbereitet.

Das Abgeordnetenhaus ward am 5. Zuni geschlossen, nachdem der Freiherr von Vincke sich zu dem Versuch veranlaßt gefunden hatte, in langer Rede die Behauptung zu widerlegen, daß es in den drei Zähren seiner Wirksamkeit sehr wenig geschaffen habe und nachdem der Präsident Simson in seiner Schlußrede dem durchweg beigetreten war.

Zum Schluß der Legislaturperiode war seine Zusammensetzung folgende: *) Von den 19 Mitgliedern Junglitthauens haben Ancker, Gamradt (|), Dr. Morgen, Schenkel (t) und Thiel (t) später kein Abgeordnetenmandat mehr ange­ nommen. Die übrigen waren nachher Mitglieder der deutschen Fortschrittspartei. Den Uebertritt zur nationalliberalen Partei hat nur Forkenbeck gemacht. Unter den im Laufe der Session nicht ausgeschiedenen Mitgliedern der Fraktion Vincke traten noch 15 der Fortschrittspartei später bei: Allnoch, Freischoltisewesitzer aus Beigwitz, Berger, Rentner, in Posen (später nat.-lib. f), Seminardirektor a. D. Diesterweg in Berlin (t 1866), Harkort, Hauptmann a. D. in Wetter, Zmmermann, Gerichtsdirektor in Gr. Salze (f), Klotz, Kreisgerichtsrath zu Berlin, Krause, Regierungsrath a. D. und Rittergutsbesitzer zu Steinbach (f), Kreutz, Hüttenbesitzer zu Olperhütte, Larz, Kreisgerichtsdirektor zu Wehlau, Metzmacher, Kaufmann in Dortmund, Konsul Müller in Stettin (später nat.-lib.), Reichenheim, Kommerzienrath zu Berlin (später nat.-lib. t), von Rönne, Handelsamtspräsident a. D. zu Bonn (jj, von Saucken-Oßlöpschen (jetzt Julienfelde), Techow, Gymnasialdirektor zu Rastenburg (später nat.-lib.). **) Der betreffende Beschluß wurde in der Sitzung vom 31. Mai 1861 mit 159 Gegen 148 Stimmen gefaßt. Unter der Mehrheit befanden sich 7 Minister und alle

36

Die neue Aera und die Entstehung der deutschen Fortschrittspartei.

I. Konservative Fraktionen: a) Fraktion Blankenburg mit 22, b) Fraktion des Grafen Pückler mit 37 Mitgliedern. (Eine in der Mitte zwischen beiden stehende Fraktion Arnim (Heinrichsdorf) hatte sich aufgelöst und von ihren acht Mitgliedern 6 an die Fraktion Blankenburg und 2 an die Fraktion Pückler abgegeben). Zusammen 59. II. Katholische Fraktion 58 Mitglieder (einschließlich einiger katholischer Wilden). III. Liberale Fraktionen, zusammen 210 Mitglieder: a) Fraktion Matthis 50 Mitglieder, b) Fraktion v. Lincke 141 Mitglieder, c) Zunglitthauen 19 Mitglieder. IV. Polnische Fraktion 18 Mitglieder. V. Dazu 7 Minister. Die liberalen Parteien hatten bei der Präsidentenwahl von ihrer Macht Gebrauch gemacht. Zn der ersten Session hatte man freilich der katholischen Partei den zweiten Präsidenten gelassen: es wurde gewählt Graf Schwerin zum ersten Präsidenten, Reichensperger zum zweiten, Matthis zum dritten Präsident. Als Graf Schwerin Minister geworden war, trat Simson an seine Stelle. Zn den beiden letzten Sessionen verblieb es bei Simson als ersten und Matthis als dritten Präsidenten; zweiter Präsident aber wurde Grabow. Inzwischen hatten die entschieden liberalen Mitglieder des Abgeordneten­ hauses, die sich zur neuen Fraktion vereinigt hatten, mit gleichgesinnten Berliner Freunden, meist alten Demokraten, über Konstituirung eines Wahlkomites auf Grund eines Programms verhandelt. Man legte jenes Programm von Zunglitthauen den Berathungen zum Grunde. Die größte Schwierigkeit bot die Frage des Wahlrechts. Sowohl unter den angesehenen Berliner Politikern, als auch unter den Zunglitthauern waren Einzelne, denen es unmöglich schien, ein Programm aufzustellen, in dem nicht das allgemeine gleiche Wahlrecht gefordert werde. Schließlich kam die Einigung in einer Versammlung unter dem Vorsitze des Professor Virchow zu Stande, am Tage nach dem Schluffe des Landtages, am 6. Juni 1861 unter besonders lebhafter Betheiligung von Schulze-Delitzsch und Haverbeck. Das Programm erschien in den Berliner Zeitungen vom 9. Zuni 1861 mit den nach dem Alphabet geordneten Unterschriften der Abgeordneten von Forkenbeck, von Hoverbeck, Häbler, Krieger, Lietz, Schulze-Delitzsch, Stephan» und folgender Berliner: Delbrück (Banquier, jetzt nat.-lib.), Franz Duncker, Eigenthümer der Volkszeitung, Alexander Elster (Fabrikant -s), Frese (der spätere Abgeordnete, seit 1866 in Oesterreich), Dr. med. Göschen (+), Guttentag (Verlagsbuchhändler t), Sanitätsrath Dr. Holthoff (f), Dr med. Langerhans (Abgeordneter), O. Lindner (Redakteur der Vossischen Zeitung f), E. Matthaei (Redakteur der Nationalzeitung, später nat-lib.), Profeffor Dr. Mommsen (jetzt nat.-lib.), von Unruh, Rechtsanwalt Valentin (der nationalliberale Schlußmacher des Reichstags), Virchow und Dr. Zabel (Chefredakteur der Nationalzeitung, später nat.-lib., f). Es lautet: „3m November dieses Jahres endigt die Legislaturperiode deS gegenwärtigen Abgeordnetenhauses.

Noch im Laufe des Jahres wird daher das

einer Neuwahl seiner Abgeordneten berufen werden.

ganze Volk zu

Der drängende Ernst der Zeiten,

Die neue Aera und die Entstehung der deutschen Fortschrittspartei.

37

die unsichere Lage der äußeren Verhältnisse unseres Vaterlandes, die inneren Schwierig­ keiten, denen das gegenwärtige Abgeordnetenhaus sich nicht gewachsen zeigtd, ver­

pflichten wie noch nie zuvor jeden wahlberechtigten Preußen zu einer eifrigen und furchtlosen Bethätigung seiner politischen Ueberzeugung in Ausübung seines Wahl­

rechtes.

Um dieser Pflicht zu genügen und den Mitbürgern, welche derselben Ueber­

zeugung mit uns sind, einen festen Mittelpunkt bei den bevorstehenden Wahlen zu

geben, sprechen wir schon jetzt die politischen Grundsätze, die uns bei denselben leiten, in nachstehendem Wahlprogramm aus: Wir sind einig in der Treue für den König und in der festen Ueberzeugung, daß die Verfassung das unlösbare Band ist, welches Fürst und Volk zusammenhält.

Bei den großen und tiefgreifenden Umwälzungen in dem Staatensysteme Europa's

haben wir aber nicht minder die klare Einsicht gewonnen, daß die Existenz und die Größe Preußens abhängt von einer festen Einigung Deutschlands, die ohne eine

starke Zentralgewalt in den Händen Preußens und ohne gemeinsame deutsche Volks­

vertretung nicht gedacht werden kann.

Für unsere inneren Einrichtungen verlangen wir eine feste liberale Regierung, welche ihre Stärke in der Achtung der verfassungsmäßigen Rechte der Bürger sieht,

es versteht, ihren Grundsätzen in allen Schichten der Beamtenwelt unnachsichtlich Geltung zu verschaffen, und uns auf diesem Wege die Achtung der übrigen deutschen Stämme erringt und erhält.

In der Gesetzgebung scheint uns die Strenge und konsequente Verwirklichung des verfassungsmäßigen Rechtsstaats eine erste und unbedingte Nothwendigkeit. Wir verlangen daher insbesondere Schutz des Rechtes durch wirklich unabhängige Richter und diesen Schutz für Jedermann gleich zugänglich, demnach Beseitigung des

Anklage-Monopols einer abhängigen Staatsanwaltschaft, Aufhebung des Gesetzes vom 8. April 1847 über das Verfahren bei Kompetenz-Konflikten, Aufhebung des Gesetzes

vom . 15.. Februar 1854, betreffend die Konflikte bei gerichtlichen Verfolgungen wegen

Amts- und Diensthandlungen, überhaupt wirkliche Verantwortlichkeit der Beamten, endlich

Wiederherstellung

der

Kompetenz

der

Geschworenen

für

politische und

Preßvergehen. Wir verlangen dann weiter endlichen Erlaß des in Artikel 61 der Verfassung

in Aussicht gestellten Gesetzes über Verantwortlichkeit der Minister.

Nicht minder nothwendig erscheint uns zu Preußens Ehre und zum Ausbau der Verfassung die Herstellung einer auf den Grundsätzen der Gleichberechtigung und der

Selbstverwaltung gestützten Gemeinde-, Kreis- und Provinzial-Verfassung unter Auf­ hebung des ständischen Principes und der gutsherrlichen Polizei. Die in Artikel 12 der Verfassung gewährleistete Gleichberechtigung aller Religions­ genossenschaften muß mit Nachdruck gewahrt werden.

Die Hebung des Unterrichtswesens in der Volksschule, sowie in den Realschulen

und den Gymnasien kann nur durch den endlichen Erlaß des Unterrichts-Gesetzes nach Beseitigung der ministeriellen verfassungswidrigen Regulative und Normal-Vorschriften

erfolgen.

Zn diesem Unterrichts-Gesetze, sowie bei der dringenden Ehegesetzgebung

muß, bei letzterer durch die Annahme der obligatorischen Zivil-Ehe, die Trennung des Staates von der Kirche festgehalten und vervollständigt werden.

38

Die neue Aera und die Entstehung der deutschen Fortschrittspartei. Die unerwartet großen Lasten, die in der vergangenen Legislatur-Periode dem

Lande auferlegt find, fordern unbedingt, daß die wirtschaftlichen Kräfte des Landes

gleichzeitig entfesselt werden, somit, daß eine Revision der Gewerbe-Gesetzgebung, wie

sie bereits vom gegenwärtigen Abgeordnetenhause in seinen Resolutionen niedergelegt

ist, in's Leben trete.

Für die Ehre und die Machtstellung unseres Vaterlandes, wenn diese Güter durch einen Krieg gewahrt oder erlangt werden müssen, wird uns niemals ein Opfer

zu groß sein; im Interesse einer nachhaltigen Kriegführung aber erscheint uns die

größte Sparsamkeit für den Militär-Etat im Frieden geboten.

Wir hegen die Ueber­

zeugung, daß die Aufrechterhaltung der Landwehr, die allgemein einzuführende körperliche

Ausbildung der Zugend, die erhöhte Aushebung der waffenfähigen Mannschaft bei zweijähriger Dienstzeit für die vollständige Kriegstüchtigkeit des preußischen Volkes in Waffen Bürgschaft leistet. Die Erreichung dieser Ziele wird aber, das muß auch dem blödesten Auge nach

der Geschichte der drei letzten Jahre unbedingt klar sein, ein frommer Wunsch bleiben, so lange nicht auf verfassungsmäßigem Wege eine durchgreifende Reform des gegen­

wärtigen Herrenhauses erfolgt ist.

Diese muß daher als der Anfang aller Reformen

vor Allem mit Energie angestrebt werden.

Wir fordern nun alle Gleichgesinnten auf, Männer zu wählen, die diese Grund­ sätze, die Grundsätze der -rutschen itortschrittApartri, tief im Herzen tragen, Männer,

deren Charakter und äußere Lebensstellung dafür bürgt, daß sie diese Grundsätze offen und von Rücksichten jeder Art unbeirrt im Abgeordnetenhause bekennen.

Wir halten es endlich für die Pflicht eines jeden Gleichgesinnten, den seine

Mitbürger zum Abgeordneten wählen wollen, mit Hintansetzung allen eigenen Interesses dem Vertrauen seiner Mitbürger durch Annahme des Mandats zu entsprechen.

Im verfassungsmäßigen Staate werden Ziele nur durch ebenso furchtlose als konsequente und zähe Ausübung verfaffungsmäßiger Rechte erreicht.

Mögen daher alsbald im ganzen Lande unsere gleichgesinnten Mitbürger, ferner

liegende Meinungsunterschiede vergessend, von der verfassungsmäßigen Freiheit des Vereinsrechtes zum Zwecke der Wahlen — § 21 des Gesetzes vom 11. März 1850 —

durch Bildung von Lokal-Wahlvereinen oder Komite's Gebrauch machen.

Das Programm wurde in einer Anzahl von Exemplaren in die Provinzen versandt, um gleichgesinnte Männer, von denen ein entsprechender Einfluß auf die bevorstehenden Wahlen erwartet wurde zum Beitritt aufzufordern. Es hieß in dem Begleitschreiben: „Sämmtliche Betheiligte sind in der Ansicht zusammengetroffen, daß es sich gegenwärtig darum handelt, wenn irgend möglich, alle unabhängigen und entschiedenen Männer des Landes, welche der Ueberzeugung sind, daß die Begründung eines ver­ fassungsmäßigen Rechtsstaates in Preußen und die große Aufgabe der Einigung Deutschlands auf wirklich nationaler Grundlage auf dem Wege der bisherigen Majorität des Abgeordneten­ hauses nicht zu erreichen sei, zu einer einzigen Fortschrittspartei zu vereinigen. Sie haben daher manche an sich hochwichtige Frage, über welche innerhalb einer solchen Partei noch Meinungsverschiedenheiten bestehen können, z. B.

Die neue Aera und die Entstehung der deutschen Fortschrittspartei.

39

die Frage des allgemeinen gleichen Wahlrechts als offene betrachtet, zumal eine Lösung derselbm durch die nächste Legislatur nicht zu erwarten ist." Die ersten zahlreichen Beitrittserklärungen wurden am 2. Juli veröffentlicht, — darunter die der 1848er Demokraten Philipps in Elbing, Zohann Zacoby *) und Kosch in Königsberg, Dr. Elsner und Dr. Stein in Breslau.

Die namhaften Konstitutionellen des Zahres 1848 und die späteren Gothaer hielten sich zurück. Zm Lande aber begann allmählich eine stärkere Bewegung für die Ausbreitung der neuen Partei, der deutschen Fort­ schrittspartei, und gleichzeitig für Beseitigung des alten Parteihaders zwischen Demokraten und Konstitutionellen.

*) Unmittelbar vor Jacoby steht in den Veröffentlichungen unter den Königs­ berger Namm: ,Dr. Albert Hänel, Professor."

40

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

Drittes Kapitel. Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis zum Kriege von 1866.

Die deutsche Fortschrittspartei ist die älteste der jetzt bestehenden parla­ mentarischen Parteien Preußens und Deutschlands, — die erste Partei, die sich auf Grund eines bestimmten Programmes konstituirte, welches be­ scheiden in seinen Forderungen nur diejenigen Punkte bezeichnete, deren gesetzliche Regelung bei einem wirklich konstitutionellen Verhalten der Staatsregierung in den nächsten Zähren zu erwarten war. Die Begründer der deutschen Fortschrittspartei wollten, wie aus dem letzten Satze ihres Programmes hervorgeht, die entschiedeneren Männer der beiden alten liberalen Parteien, der Konstitutionellen und der Demo­ kraten, zu einer neuen großen, kräftig ihr verfassungsmäßiges Recht aus­ übenden Partei vereinigen. Sie konnten dies nicht, ohne es dem liberalen Ministerium und der liberalen Mehrheit des Abgeordnetenhauses zum Vorwurf zu machen, daß die dreijährige Legislaturperiode unfruchtbar ver­ laufen war. Und doch konnten sie nicht daran denken, die Regierung durch ihre Opposition zu verdrängen. Za, sie mußten in vielen Kreisen zunächst den Kampf für die Regierung der neuen Aera gegen die konser­ vative Partei aufnehmen, welche sich eifrig rüstete, die vor drei Zähren verlorene Herrschaft durch die Wahlen wieder zu gewinnen. Die Konservativen hatten beim Schluß der Landtagssession ein „konser­ vatives Zentralwahlkomite" eingesetzt. Dieses trat bei Zeiten in Ver­ bindung mit einer Künstlerischen Handwerkerpartei, die sich in einem Landes-Handwerkertag vereinigt hatte, um gegen die drohende Gewerbefreiheit zu wirken. In einem vertraulichen Rundschreiben wurden die konservativen Landjunker aufmerksam gemacht, daß „unter dem selbst­ ständigen Handwerkerstande des ganzen Staates eine Vereinigung zusammen­ getreten, um sich gegen die Bestrebungen des radikalen Industrialismus zu schützen." Die wichttge Vereinigung und Verständigung und „ein gemein­ sames Wirken mit dem sein eigenes Standesinteresse und die Bedingungen seiner Selbsterhaltung immer klarer erkennenden und immer energischer ergreifenden Handwerkerstande" sei gesichert. Regeln für eine sehr heim­ liche Agitation wurden gegeben: „Auf dem Lande wird es besonders die Pflicht der Gutsbesitzer sein, dahin zu arbeiten, daß Niemand, der ihrer Einwirkung zugänglich ist, von den Wahlen zurückbleibe. Daß in gleicher Weise jeder billige und gesetzlich erlaubte Einfluß auf die Untergebenen und in Geschäftsverbindung Stehenden angewandt werden muß, versteht

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

41

sich von selbst. Ueberhaupt ist es billig und nothwendig, daß die Konservativen sich, gleich ihren Gegnern entschließen, ihre soziale und ge­ sellschaftliche Stellung geltend zu machen, und möglichst nur Geschäftsleuten, die gleiche Gesinnung hegen, die Vortheile ihres Verkehrs zuwenden. Ein offenes Anerkennen und Aussprechen dieses Grundsatzes wird nicht ohne Wirkung bleiben."*) Aber die heimliche Agitation schien vielfach nicht zu befriedigen. Am 6. September 1861 erließ das konservative Zentralwahlkomitv ein zweites Zirkular, in welchem alle Freunde und Gesinnungsgenossen zum 20. Sep­ tember nach Berlin eingeladen wurden; den unbemittelteren Freunden von Außerhalb wurden freie Quartiere und Aufnahme in gleichgesinnten Familien geboten, und die „von Gott mit größeren Glückgütern gesegneten Freunde von außerhalb" wurden aufgefordert, den unbemittelteren Gesinnungs­ genoffen die Reise hin und zurück zu vergüten. So kam denn am 20. September eine Versammlung von 1200 Personen zusammen, darunter die Parteiführer Graf Eberhard zu Stolberg-Wernigerode, der Herrenhauspräsident, v. Gerlach, Wagener, v. Kleist-Retzow, v. Manteuffel II., v. Waldow-Reitzenstein, v. Blankenburg, und sodann zünftlerische Handwerker, pietistische Pastoren und gutsunterthänige Ortsschulzen u. s. w. Die Hauptredner waren Kleist-Retzow, Wagener, v. Blankenburg, der Tapezier Bachmann aus Frank­ furt a. O., die Berliner Schuhmachermeister Panse und Kaffka und der Bürgermeister Strosser aus Herford. Man donnerte gegen Wucher und Geldkapital, gegen rothe Republik, gegen Juden und Judengenoffen.**) Man gründete den preußischen Volksverein zugleich als AntiNationalverein unter nachfolgendem Programm:

*) Mit Recht protestirte die Nationalzeitung (31. August 1861) „gegen die kecke Behauptung, daß die Feudalen bssi andexn Parteien in drp Schule gegangen wären, um mißliebige Wähler mit Kundschaftsentziehungen u. dgl. bestrafen zu lernen; diese Art und Vergeltung ist nicht blos ihre Erfindung, sondern auch ihr Monopol. Und zu welcher Partei gehören denn diejenigen, die sogar in ihrer Eigenschaft als Beamte in diese Fußtapfen treten? Von welcher Partei find die Vorgesetzten, die 1855 offen für ihr Recht erklärten, ihre Untergebenen und konzessionsbedürftige Privatpersonen zu terrorisiren? Von welcher Partei sind die, welche Wähler, die für das gegen­ wärtige Ministerium stimmen, in eine höhere Stufe der Einkommen-, Klassen- und Ge­ werbesteuer setzen?" Die bisher demokratische, seitdem fortschrittliche Zeitung machte sich noch besonders über folgenden spaßhaften Satz des Rundschreibens lustig: „Auf den Einfluß der Familie scheint uns bei den Urwahlen bis jetzt zu wenig Rücksicht ge­ nommen worden zu sein. Die durch Einführung der Zivilehe dem Familienglück drohende Gefahr ist daher in den Besprechungen namentlich hervorzuheben. Die Frauen können und werden hier viel wirken." **) Das stärkste auf diesem Gebiete ließ der Schuhmacher Kaffka los. Derselbe wurde von Ehren-Wagener nachher in die zur Errettung des Handwerkerstandes ge­ stiftete Schuster'sche Gewerbebank als Aufsichtsrath genommen, und hatte hier manches Jahr hindurch, vollends in den Schwindel- und Gründerjahren eine Jahresrente von mehreren tausend Thalern. Uebrigens hing Kaffka, als er unter Schuster-OderWagener sich von schwindelhaften Tantiemen nährte, die Schusterei an den Nagel und wurde Rentier. Der Tapezierer Bachmann profezeite: „Halten wir nicht fest zusammen, dann werden wir in kurzer Zeit an dem Ministertisch nicht Personen sehen, die aus Deutschland gebürtig sind, sondern die aus dem Orient stammen!" (Bravo, Heiterkeit!).

42

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

„Die Unterzeichneten, welche sich hierdurch als preußischer Volksverein konstituiren und damit zugleich die Absicht zu erkennen geben, nicht allein auf die bevor­ stehenden Wahlen in ihrem Sinne einzuwirken, sondern auch über die Wahlen hinaus allen gleichgesinnten Männern des preußischen Volkes überhaupt einen Mittelpunkt und ein Organ zu verschaffen und damit auch selbst die Gesinnungsgenossen im weiteren deutschen Vaterlande die Hand zu bieten, — haben sich einstweilen ein? müthig und einstimmig über folgende Hauptpunkte — vereinigt: I. Einigkeit unseres Deutschen Vaterlandes, doch nicht auf den Wegen des „Königreichs Italien" durch Blut und Brand, sondern in der Einigung seiner Fürsten und Völker und in Festhaltung an Obrigkeit und Recht. Keine Verläugnung unseres Preußischen Vaterlandes und seiner ruhmreichen Geschichte; kein Unter gehen in dem Schmutz einer deutschen Republik; kein Kronenraub und Nationalitäten-Schwindel. II. Kein Bruch mit der Vergangenheit im Innern unseres Staates; keine Be­ seitigung des christlichen Fundaments und der geschichtlich bewährten Elemente unserer Verfaffung; keine Verrückung des Schwerpunktes unserer Europäischen Stellung durch Schwächung der Armee; kein parlamentarisches Regiment und keine konstitutionelle Minister-Verantwortlichkeit; persönliches Königthum von Gottes- und nicht von Verfaffungs-Gnaden; kirchliche Ehe, christliche Schule, christliche Obrigkeit; kein Vorschub­ leisten der immer weiter umsichgreifenden Entsittlichung und Nichtachtung göttlicher und menschlicher Ordnung. III. Schutz und Werthachtung der ehrlichen Arbeit, jedes Besitzes, Rechtes und Standes; keine Begünstigung und ausschließliche Herrschaft des Geld-Kapitals; kein Preisgeben des Handwerkes und Grundbesitzes an die Irrlehren und Wucherkünste der Zeit. Freiheit in der Theilnahme des Unterthanen an der Gesetzgebung und in der Autonomie und Selbstregierung der Korporationen und Gemeinden; Freiheit in der Festhaltung der schützenden Ordnung. Kein Einlenken in den büreaukratischen Absolutismus und in die soziale Knechtschaft durch das Mittel einer schranken- und zuchtlosen Anarchie und in die Nachahmung der politischen und sozialen Gestaltungen, welche Frankreich in den Cäsarismus geführt. Ausbau unserer Verfaffung im Sinne deutscher Freiheit, in Liebe und Treue zu König und Vaterland.

Daß die Konservativen mit diesem Programm ihres Anti-Nationalvereins die nationale Bewegung nicht zu meistern vermochten, mußte jeder Einsichtige erkennen. Viele Zahre nachher wurde ein am 18. September 1861 ge­ schriebener Brief des damaligen preußischen Gesandten in St. Petersburg von Bismarck-Schönhausen veröffentlicht, der eine treffliche Kritik des ersten Abschnittes des Progamms enthält: „Die durchgehends negative Fassung der aufgestellten Sätze hätte von Hause aus vermieden werden sollen. Mit der bloßen matten Defensive kann eine politische Partei nicht bestehen, viel weniger erobern, Terrain und Anhänger. — Den Schmutz der deutschen Republik behauptet jede Partei zu verabscheuen, und die für jetzt praktisch zur Frage kommenden Gegner sind auch ehrlich bemüht, ihn nicht zu wollen, namentlich den Schmutz nicht. Eine so weit über das Bedürfniß des Momentes hinausgreifende Redeform sagt entweder gar nichts, oder verhüllt, was man nicht sagen will. Zch selbst bin zweifelhaft, ob der Verfasser des Programmes nicht in der That auf dem reinen Würzburger Standpuntte steht. Wir haben unter unseren besten Freunden so viele Doktrinäre, welche von Preußen die ganz gleiche Ver-

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

43

pflichtung zum Rechtsschutze in Betreff fremder Fürsten und Länder, wie in Betreff der eigenen Unterthanen verlangen. Dieses System der Solidarität der konservativen Interessen aller Länder ist eine gefährliche Fiktion, so lange nicht die vollste, ehrlichste Gegenseitigkeit in aller Herren Länder obwaltet. Jsolirt von Preußen durchgeführt, wird es zur Donquixoterie, welche unsern König und seine Regierung nur abschwächt für die Durchführung der eigensten Aufgabe, den der Krone Preußen von Gott übertragenen Schutz Preußens gegen Unrecht von außm oder von innen kommend, zu handhaben. Wir kommen dahin, den ganz unhistorischen, gott- und rechtlosen Souveränetätsschwindel der deutschen Fürsten, welche unser Bundesverhältniß als Piedestal benutzen, von den: herab sie Europäische Macht spielen, zum Schooßkind der konservativen Partei Preußens zu machen. Unsere Regierung ist ohnehin in Preußen liberal, im Auslande legitimistisch; wir schützen fremde Kronrechte mit mehr Beharrlichkeit als die eigenen, und begeistern uns für die von Napoleon geschaffenen, von Metternich sanktionirten kleinstaatlichen Souveränetäten bis zur Blindheit gegen alle Gefahren, mit denen Preußen und Deutschlands Unabhängigkeit für die Zukunft bedroht ist, so lange der Unsinn der jetzigen Bundesverfaffung besteht, die nichts ist als ein Treib- und Konservirhaus gefährlicher und revolutionärer Partikular­ bestrebungen. Ich hätte gewünscht, daß in dem Programm anstatt des vagen Aus­ falles gegen die deutsche Republik offen ausgesprochen wäre, was wir in Deutschland geändert und hergestellt wünschen, sei es durch Anstrebung rechtlich zu Stande zu bringender Aenderungen der Bundesverfaffung, sei es auf dem Wege kündbarer Affoziationen nach Analogie des Zollvereins und des Koburger Militärvertrages. Wir haben die doppelte Aufgabe, Zeugniß abzulegen, daß das Bestehende der Bundes­ verfassung unser Ideal nicht ist, daß wir die nothwendige Aenderung aber auf rechtmäßigem Wege offen anstreben, und über das zur Sicherheit und zum Gedeihen aller erforderliche Maß nicht hinausgehen wollen. Wir brauchen eine straffere Kon­ solidation der deutschen Wehrkraft so nöthig wie das liebe Brot; wir bedürfen einer neuen und bildsamen Einrichtung auf dem Gebiet des Zollwesens, und einer Anzahl gemeinsamer Institutionen, um die materiellen Interessen gegen die Nachtheile zu schützen, - die aus der > unnatürlichen' Konfiguration der deutschen inneren Landes­ grenzen erwachsen. Daß wir diese Dinge ehrlich und ernst fördern wollen, darüber sollten wir jeden Zweifel heben. — Ich sehe außerdem nicht ein, warum wir vor der Idee einer Volksvertretung, sei es am Bunde, sei es in einem Zoll- und Vereinsparlament, so zimperlich zurückschrecken. Eine Institution, die in jedem deutschen Staate legitime Geltung hat, die wir Konservative selbst in Preußen nicht entbehren möchten, können wir doch nicht als revolutionär bekämpfen! Auf dem nationalen Gebiete würden bisher sehr mäßige Konzessionen immer noch als werthvoll anerkannt werden. Man könnte eine recht konservative Nationalvertretung schaffen und doch selbst bei den Liberalen Dank dafür ernten."

Die Thätigkeit der Konservativen brachte Fluß in die Wahlbewegung. Das erste Zentral-Wahlkomito der deutschen Fortschrittspartei konstituirte sich unter dem Vorsitz des Präsidenten der Nationalversammlung von 1848 von Unruh. Zu ihm gehörten noch sechs andere Berliner, die Professoren Mommsen und Virchow, der Dr. med. Langerhans, der Verlags­ buchhändler (Suttentag und der durch seine Broschüre „Was uns noch retten kann" (April 1861) und das daraus hervorgegangene Duell mit dem General Manteuffel (27. Mai 1861) schnell zu einem der populärsten

44

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

Politiker gewordene Stadtrichter Karl Twesten und als Schriftführer ein junger Poet vr. Tempeltey, später Kabinetsrath des Herzogs von SachsenKoburg-Gotha; drei Preußen: v. Forkenbeck, v. Hoverbeck und der Vizepräsident der 1848 er Nationalversammlung Oberbürgermeister a. D. Philipps in Elbing; zwei Sachsen: die Abg. Schulze-Delitzsch und Step Hann-Martinskirchen; zwei Westfalen: Otto Lüning-Rheda, ein sturmerprobter 1848er Demokrat und der Kaufmann Theodor Müllen­ siefen-Crengeldanz, 1848 auf der Rechten der Berliner Nationalver­ sammlung, jetzt eifriges Ausschußmitglied des Nationalvereins; ein Schlesier: Rechtsanwalt Max Simon-Breslau, 1848 mit seinem Vetter Heinrich Mitglied des linken Zentrums (Westendhallklub) in Frankfurt a. M.; ein Rheinländer: Kaufmann C etto-Trier, 1848 Frankfurter Parlamentsmitglied, 1849 nach Gotha mitgegangen, jetzt angesehenes Ausschußmitglied des Nationalvereins.

Dieses Zentralwahlkomits griff in die Wahlbewegung lebhaft ein. Noch ein paar Monate vorher war es zweifelhaft erschienen, ob das Programm vom 9. Juni geeignet sei, eine Partei zu sammeln. Die Bescheidenheit seiner Forderungen erregte vielfach Anstoß. So bei den Kölner Mitgliedern des Nationalvereins. Diese hatten in einer Versammlung Ende Zuli ein vom Appellationsgerichtsrath Leue verfaßtes, von dem Advokat-Anwalt Bessel, dem Schriftsteller Heinrich Bürgers und Kaufmann LueasMühlheim (später Fortschr.) mehrfach amendirtes Programm angenommen, dahin lautend: „Wir verlangen für das Innere: daß die Gesetzgebung die bürgerliche Freiheit sichere und für das Aeußere: daß die Staats-Regierung mit aller Kraft auf die Einigung des Vaterlandes, ein Reich und ein deutsches Parlament hinwirke. Wir verlangen insbesondere; 1) gänzliche Umgestaltung des Herrenhauses, das sich bis zu den letzten Ernennungen als völlig unbrauchbar für ein verfassungs­ mäßiges Staatsleben erwiesen hat; 2) Revision der Wahl-Gesetzgebung, vor allem Abschaffung der öffentlichen Abstimmungen; 3) vollständige Preßfreiheit mit Aufhebung des Gesetzes vom 12. Mai 1851; 4) freies Vereinsrecht mit Aufhebung des Gesetzes vom 11. März 1850; 5) ein ehrliches Geschworenen-Gericht, nicht ein solches, das der Regierungs-Präsident sich nach Belieben zusammensetzt; 6) Wiederherstellung des Geschworenen-Gerichts für Anklagen wegen politischer und Preßvergehen mit Aufhebung des Gesetzes vom 25. April 1853; 7) Abschaffung des Gesetzes vom 8. April 1847 über das Verfahren bei Kompetenz-Konflikten und Berechtigung aller Gerichte zur eigenen Prüfung ihrer Kompetenz; 8) ein Gesetz über die Verantwortlichkeit der Minister; 9) Verantwortlichkeit aller Beamten wegen Amtshandlungen auf Civilklagen mit Abschaffung des Gesetzes vom 13. Februar 1854; 10) eine Gemeinde-Ordnung für Stadt und Land gegründet auf den Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbst­ verwaltung; 11) Revision der Gewerbe - Gesetzgebung auf Grundlage der Gewerbe­

freiheit unter möglichster Beschränkung des Konzessionswesens. Wir sind für den Fall der Nothwendigkeit zu jedem Opfer bereit und wir werden der Staats-Regierung an Geld und Mannschaften alles bewilligen, was sie ver­ langt. Aber wir erkennen als einen Fall der Nothwendigkeit nur einen Krieg an, den Preußen auf den Angriff eines auswärtigen Feindes oder für die Ehre und Einheit Deutschlands führen muß. Für Friedenszeiten zwingt uns die bisherige

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

45

Ueberbürdung des Volkes mit Lasten zur äußersten Sparsamkeit in Bewilligung der Steuern, indem wir der Staatsregierung überlassen müssen unter Beibehaltung des Landwehr-Systems mit Hülfe von Turnübungen und Schützen-Vereinen während einer kürzeren Dienstzeit die Ausbildung des Heeres zu bewirken, welche ohne diese Hülfe durch eine längere Dienstzeit bedingt wäre."

Aber die Gefahr, daß jede Provinz sich ihr eigenes Programm ver­ fertige, ging vorüber. Der glänzende Erfolg der Generalversammlung zu Heidelberg, wo die Flottensammlungen für den Bau der zum Schutze der deutschen Nord- und Ostseeküste bestimmten Boote innerhalb der preußischen Kriegsmarine angeregt und begonnen wurden, kam der deutschen Fortschritts­ partei, zu der sich die meisten preußischen Nationalvereins-Mitglieder bekannten, sehr zu Statten. Ebenso die Resolution in der Verfassungsfrage, welche den Vereinsmitgliedern die dringende Pflicht auferlegte, bei den Wahlen zu den Volksvertretungen darauf hinzuwirken, daß nur Abgeordnete gewählt würden, welche für die Herstellung einer einheitlichen Zentralgewalt und eines deutschen Parlaments zu wirken entschlossen sind.

Am 29. September 1861 erließ das Zentral-Wahlkomito seinen ersten Ausruf, welcher als authentische Erläuterung des Programms von besonderer Bedeutung ist, weshalb wir ihn unverkürzt folgen lassen: Aufruf. Daß die nächsten Zahre von einer entscheidenden Wichtigkeit in der großen Be­ wegung unserer Tage sein werden, ist Niemandem zweifelhaft. Zn gespannten Ver­ hältnissen der inneren und äußeren Lage drängen die höchsten Fragen der Gesetzgebung und der Politik zur Entscheidung. Auf die Art dieser Entscheidung muß der Ausfall der bevorstehenden Wahlen einen mächtigen Einfluß üben. Zu ihnen werden daher von allen Seiten die Kräfte in Bewegung gesetzt. Die absolutistisch-aristokratische Partei, welche fich die konservative nennt, rüstet sich, die vor drei Zähren verlorene Herrschaft wieder zu gewinnen. Gelänge es ihr, das Haus der Abgeordneten zu beherrschen, wie sie das gegenwärtige Herrenhaus beherrscht, so würde eine Periode der Reaktion wiederkehren, wie sie zehn Zahre lang Preußen im Innern zerrüttet und vor dem Auslande erniedrigt hat. Ihr gegenüber wird die große liberale Mehrheit des Landes überall einig zusammenstehen. Sie ist einig in dem Streben nach einer fortschreitenden Entwickelung unserer Gesetzgebung auf dem konstitutionellen Boden, wie in dem Streben nach einer Einigung Deutschlands unter preußischer Führung in Verbindung mit einer deutschen Volksvertretung. Sie muß auch einig sein in der Erkenntniß und in dem festen Willen, daß nicht länger gezögert werden darf, diesen Bestrebungen thatsächliche Resultate zu gewinnen, während die reaktionären Gegner unter Vorspiegelungen der Selbstregierung nur eine absolutistische Willkür zu fördern wußten, mit der alles regiert ward, was nicht zum privilegirten Kresse der Aristokratie gehört, und jetzt im Bunde mit den preußenfeindlichen Elementen der deutschen Staaten die Erhaltung der alten Zerrissenheit, ja sich gerade zu als antinationale Partei proklamiren, weil sie wissen, daß die Einheit Deutschlands nur unter dem liberalen Banner möglich ist. Zn dem Wahlprogramm der deutschen Fortschrittspartei vom Zuni dieses Zahres sind die Punkte bezeichnet, welche nach unserer Meinung in den nächsten Zähren eine

46

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

gesetzliche Regelung erheischen. Die Presse und die Programme der bisherigen mini­ steriellen Mehrheit im Hause der Abgeordneten stimmen uns in den wesentlichsten Fragen zu. Nur pflegen sie zu errinnern, daß man die Abgeordneten nicht zu sehr binden, nicht zu Vieles betreiben, nicht zu sehr eilen und drängen dürfe; nur wollen sie keinen Tadel ihrer Wege und Erfolge in den letzten Sitzungsperioden dulden. Auch wir verkennen nicht, daß manches Nützliche geschehen ist, obgleich die wichtigsten Bestrebungen des Abgeordnetenhauses durch das Herrenhaus paralysirt worden sind. Wir verkennen in keiner Weise die Wiederkehr einer gerechten, humanen und liberalen Leitung der Verwaltung. Aber wir halten ein energischeres Vorgehen auf der 1858 betretenen Bahn, die Beseitigung widerstrebender Elemente in der Verwaltung und die Herbeiführung der unentbehrlichen Uebereinstimmung zwischen der Regierung und ihren Organen für unerläßlich. Wir meinen, daß überhaupt eine den bestehenden Gesetzen entsprechende Verwaltung allein in dem drängenden Ernst der europäischen Verhältnisse nicht genügt, daß eine entschlossene Beseitigung der retrograden Gesetze, deren Erlaß die Führer der konstitutionellen Partei einst vergeblich bekämpft haben, und durchgreifende Reformen nothwendig sind, um die materiellen, geistigen und moralischen Kräfte derartig zu heben und zu entwickeln, daß wir mit Vertrauen in die Zukunft blicken und hoffen dürfen, auch das Vertrauen Deutschlands zu gewinnen zu dem großen Ziele, daß ein festes politisches Band die kleineren Staaten in militärischer, diplomatischer und handelspolitischer Beziehung mit Preußen verbinde. Wir beabsichtigen keineswegs eine prinzipielle Opposition gegen die gegenwärtige Regierung. Wir machen auch nicht für alles Thun oder Unterlassen der bisherigen Majorität des Abgeordnetenhauses jedes einzelne Mitglied derselben verantwortlich, auch gedenken wir der Wiederwahl solcher Mitglieder entgegen zu treten, die ent­ weder durch ihre politische Spezialität zu einer hervorragenden Thätigkeit in jedem preußischen Parlamente berufen sind, oder durch ihre Persönlichkeit zu der Aussicht berechtigen, daß sie bei einer richtigen Parteiorganisation zu einer kräftigeren Wirksamkeit gelangen werden. Aber wir müssen daran festhalten, daß in den letzten drei Zähren nicht genug geschehen ist, um die als nothwendig erkannten Reformen in das Leben zu führen, daß der Ruf des Maaßhaltens und Nicht­ drängens, welcher bei den letzten Wahlen maßgebend war, allzu lange und allzu ausschließlich befolgt worden ist, daß man allzu oft die Zwecke gewollt, aber die Mittel nicht ergriffen hat. Wir meinen, daß das neue Haus der Abgeordneten eine entschlossene Initiative ergreifen und von seinen verfassungsmäßigen Rechten einen entschiedeneren Gebrauch machen muß, um neben einer starken Regierung ein selbstthätiges und kraftvolles öffentliches Leben, neben der Ordnung eine fort­ schreitende Entwickelung zu sichern. Wir halten vor allen Dingen, und wenn irgend welche Erfolge-erzielt werden sollen, eine Umgestaltung des Herrenhauses auf ver­ fassungsmäßigem Wege für so dringend erforderlich, daß wir sofortige Schritte dazu jedem unserer Vertreter zur ersten Pflicht machen müssen. Wir hoffen, das preußische Volk wird durchweine Wahlen diesen Anschauungen einen unzweideutigen Ausdruck geben. Wir ermahnen, Männer zu wählen, die diesen Standpunkt rückhaltslos vertreten, Männer von Charakter und Gesinnung, unab­ hängig von Rücksichten jeglicher Art. Wir erinnern an die große Bedeutung des nahenden Wahlkampfes und fordern unsere politischm Freunde auf, in diesem Sinne alle ihre Kräfte anzustrengen zum Heile des Vaterlandes. Die feudale Partei rühmt sich, über alle Theile des Landes eine kräftige Orga­ nisation ausgebreitet zu haben, besitzt fast in jedem Kreise Komitos oder Vertrauens-

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

47

männer zur Betreibung der Wahlagitation, bietet alle lokalen Einflüsse, alle Privat­ interessen auf, die ihr zu Gebote stehen. Sie sucht auf der einen Seite den Fanatismus extremer religiöser Richtungen, auf der anderen durch eine vorgespiegelte Solidarität der Interessen den Handwerkerstand in unnatürlicher Koalition für chre Zwecke aus­ zubeuten. Sie fühlt sich stark genug, auf ihrem Kongresse zu erklären, daß sie nur ihre Männer wolle, und daß es ihr außer ihren Anhängern gleichgültig sei, ob der Abgeordnete in freisinnigen Bestrebungen mehr oder weniger weit gehe. Es ist dringend nothwendig, daß wir den Gegnern mit gleichem Eifer begegnen. Wir dürfen nicht zögern, bis die Wahlmänner ernannt sind. Es müssen bei Zeiten, namentlich auch auf dem platten Lande, Verbindungen angeknüpft, die Einzelnen angeregt, Kandidaten bezeichnet werden, um Wahlmänner zu erhalten, die entschieden und rück­ haltslos der liberalen Partei angehören. Wir haben unter dem Vorstande des Herrn Dr. Tempeltey Hierselbst in der Behrenstraße Nr. 25 ein Bureau eingerichtet, und bitten sowohl die Einzelnen, welche sich der Wahlagitation in unserem Sinne unterziehen, wie die lokalen Wahlvereine und Komites, unter dieser Adresse mit uns in Verbindung zu treten, sich über Fragen der Organisation, über Beschaffung und Verbreitung von Drucksachen, sowie über die Aufstellung und Unterstützung von Kandidaten in den einzelnen Wahlbezirken mit uns zu verabreden, uns Mittheilungen über den Stand der Dinge, namentlich auch über die Wahloperationen der Gegner, zu machen, endlich uns mit Vorschlägen und mit Bezeichnung geeigneter Kandidaten zu unterstützen.

Berlin, den 29. September 1861.

Das Zentralwahlkomitv der deutschen Fortschrittspartei erließ, durch die Menge Flugblätter, mit denen der Preußische Volksverein in Verbindung mit den Handwerkern das Land überschwemmte, dazu angeregt, bis zu den Wahlen schnell hintereinander eine ganze Reihe Flugblätter. Da die Herren Konservativen unter des Justizrath Wag en er Direktion es an Schmähungen und Verdächtigungen gegen die Liberalen nicht fehlen ließen, so wurde in den fortschrittlichen Flugblättern auch ein $on gegen, Junker und Pfaffen angeschlagen^ der an frischer Derbheit nichts zu wünschen

übrig ließ.*) Inzwischen hatte der ministerielle Theil der liberalen Partei, — die Altliberalen, wie sie jetzt bald allgemein genannt wurden, zwar hier und da in einem oder dem andern Wahlkreise ihr besonderes Programm in einem Wahlaufruf veröffentlicht, — die Partei als solche trat erst im

*) Die Wahlflugblätter der verschiedenen politischen Parteien, für die Kenntniß der Zeit und ihrer Sitten nicht ohne Werth, haben selten Jahreszahl und Datum, so daß man die einzelnen Wahlkampagnen nicht immer leicht unterschöben kann. Im Herbst 1861 wurden folgende Flugblätter vom fortschrittlichen Zentralwahlkomite herausgegeben und verbreitet: 1) Programm vom 9. Juni und Aufruf vom 29. Sep­ tember 1861. 2) An die ländlichen Wähler. 3) Schafft Euch eine bessere Kreis­ ordnung! Ein Wort an die ländlichen Wähler. (Dieses in den östlichen Provinzen sehr wirksame Flugblatt hatte Dr. H. Büttner in Elbing zum Verfasser). 4) Hand­ werker in Stadt und Land! 5) Wählet deutschgesinnte Abgeordnete! 6) Urwähler in Stadt und Land! (Zuerst für Ober- und Niederbarnim verfaßt). 7) Deutsche Wähler der Provinz Posen! 8) An die preußischen Handwerker. Als Antwort auf viele Fragen von Schulze-Delitzsch. Berlin Druck und Verlag von Franz Duncker. (Eine Broschüre von 16 Seiten, die auch im Buchhandel zu haben war).

48

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

Oktober vor die Wähler und zwar mit einem langen Rechenschaftsbericht in den „Preußischen Jahrbüchern"*) Wenn man heute diesen Bericht auch mit dem günstigsten Vorurtheil für die Herausgeber liest, so wird man doch den Eindruck einer unbeabsichtigten Selbstanklage erhalten. Der Ver­ fasser meint, die Ergebnisse der Legislaturperiode seien „so ertraglos nicht, als in tendenziöser Weise von ihnen behauptet" werde. Er versucht nicht, „die weit verzweigte Thätigkeit des Abgeordnetenhauses erschöpfend zur Anschauung" zu bringen, sondern begnügt sich damit, „den Hauptinhalt der hervorragendsten Verhandlungen zusammenzufassen." Aber es bleibt doch ein klägliches Ergebniß. In der Einleitung beschäftigt sich der Rechen­ schaftsbericht auch mit den Abgeordneten, welche aus der konstitutionellen Partei ausgeschieden seien, um eine „entschieden liberale Partei" zu bilden. Wörtlich heißt es hier: „Das hauptsächlich von dieser Fraktion ausgegangene Wahlprogramm liefert den Beweis, daß die von ihr aufgestellten Forde­ rungen im Wesentlichen keine anderen sind, als diejenigen, welche die konstitutionelle Partei, seitdem sie im Vereinigten Landtage sich zuerst parlamentarisch zusammengefunden hatte, unter aller Ungunst der Verhältnisse aufrecht erhalten hat und niemals aufgeben kann, ohne sich selbst untreu zu werden. Und in der That liegt die Differenz, soweit dieselbe sich bis jetzt übersehen läßt, viel weniger in den Zwecken, sie liegt in der Verschiedenartigkeit der Mittel, die zur Erreichung des Zweckes in Anwendung kommen sollen. Eine allzu sanguinische Auffaffung der Sachlage, die das Gewicht der unsere verfassungsmäßige Entwickelung hemmenden Gegenwirkungen unterschätzt, fühlt sich durch Rück­ sichten beengt, die sie für unberechtigt hält, und will, ohne jemals zu paktiren, unbekümmert um den nächsten Erfolg, ihre politischen Ueberzeugungen zur Geltung bringen, wobei sie nicht selten die Machtbefugniß des Hauses der Abgeordneten, das doch nur Ein Faktor der Gesetzgebung ist, zu hoch veranschlagt."---------- Nach allerlei Ausführungen, weshalb die Volksvertreter ihre Ueberzeugung nicht durch die Abstimmung hätten kund thun dürfen, kommt schließlich die Mahnung zur Verständigung und daß man eins sorgfältig fern halten müsse, „die Unsitte nämlich, daß man die in der gesammten Welt- und Lebensanschauung wurzelnden Verschiedenheiten der politischen Auffassung moralisch verdächtigt, daß man Entschiedenheit und Willenskraft nur in der rücksichtslosen Verwirklichung politischer Grund­ sätze zu finden glaubt, während diese Wahrzeichen des Charakters mindestens in demselben Maße in der Selbstverleugnung zur Erscheinung kommen, die der augenblicklichen Strömung der öffentlichen Meinung widerstreben zu müssen glaubt." Diese und ähnliche Ausführungen des Rechenschafts­ berichtes wurden von der vordem demokratischen, jetzt fortschrittlichen Presse, insbesondere von der Nationalzeitung und der Volkszeitung gebührend gegeißelt. In den letzten Wochen machte auch die offiziöse Presse, damals der Leitung des Dr. Wehrenpfennig anvertraut, Tag für Tag heftige Aus-

*) Preußische Jahrbücher Band 8. Auch besonders abgedruckt: „Sie Legislatur­ periode des Hauses der Abgeordneten 1859 bis 1861. Ein Rechenschaftsbericht." (Berlin Georg Reimer 1861) 90 Seiten groß Oktav.

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

49

fälle auf die deutsche Fortschrittspartei, welche als thatkräftige Bundes­ genossin gegen die auf den Sturz des liberalen Ministeriums eifrig bedachte Partei von ihr zuerst mit Schonung behandelt war. Freilich überall in Preußen, wo liberale Wahlversammlungen stattfanden, trat die neue Partei in den Vordergrund; alle entschiedeneren Männer der Fraktion Vincke er­ klärten ihren Anschluß oder nahmen wenigstens eine freundliche Stellung zu ihr ein; die Aussicht, in den liberalen Mittelpunkten des politischen Lebens altliberale Wahlen zu erzielen schwand von Tage zu Tage. Mehrere Rundschreiben des Ministers Grafen Schwerin, von denen das zweite (5. November) vor den „extremen, sowohl reaktionären als demokratischen Richtungen" warnte und das dritte (16. November) sich auf das bestimmteste dagegen aussprach, daß „die Bestrebungen der sogenannten Fortschritts­ partei" mit der Staatsregierung übereinstimmten, zeigten die veränderte Frontstellung an, welche die offiziöse Presse, voran das ministerielle Organ, die Allgemeine Preußische Zeitung (Sternzeitung), getreulich nntmachten und durch Wort und That erläuterten. Es ist ergötzlich, heute den Leitartikelkrieg zu lesen, den Herr Wehr enPfennig und seine Untergebenen gegen die Fortschrittspartei und ihre Organe, insbesondere gegen die Nationalzeitung und Volkszeitung führten. Jeden Tag in der Sternzeitung ein Manifest gegen die Fortschrittspartei zu liefern, das war saure Arbeit, aber „sie wird dienstmäßig geliefert" spottete die Nationalzeitung. Ganz aus dem Häuschen gerieth Herr Wehren­ pfennig, als ein Theil der fortschrittlichen Kandidatenliste veröffentlicht wurde und sich darin neben den Junglitthauern und 13 Mitgliedern der Fraktion Vincke (darunter Reichenheim, v. Rönne-Solingen, Zmmermann, v. Diederichs, Stavenhagen, Techow u. A.) und neben „neuen Elementen", die der Kammer ein frischeres Leben zuführen sollten, (darunter Twesten, Virchow, Hagen, Franz Duncker, Runge, O. Lüning, Dr. Bender, Dr. Büttner-Elbing, Dr. Gerber-Bromberg, Cetto-Trier, Otto Michaelis, Leue-Cöln, Kammer­ gerichtsrath Striethorst) auch eine. Reihe von. früheren Mitgliedern des. Frankfurter Parlaments und der Nationalversammlung, meist alte Partei­ genossen von Unruh, Schulze-Delitzsch und Waldeck befanden. Der ganze Brustton sittlicher Entrüstung wurde über die „sogenannte Fortschrittspartei", oder „die Berliner Fortschrittspartei" und den Grundstock ihrer Kandidaten ergossen, „die zur entschiedensten, jede Vermittelung ablehnenden Opposition gehören." Waren es doch Kosch, v. Kirchmann, Ziegler, Jacoby, Kerst, PaurGörlitz, Rupp-Königsberg, v. Hennig-Plonchott, Döring, Wachsmuth-Crossen, Martiny-Kaukehmen, Reuter-Königsberg, Demokraten über Demokraten — und sogar ein früherer Verbannter: Dr. Löwe-Calbe. *) Jetzt „wo die Veröffentlichung ihrer Kandidatenliste einen Zweifel über ihre wirklichen Absichten nicht mehr aufkommen" lasse, jetzt werde der preußische Bürger, der redliche Mann sich mit Widerwillen von der Fortschrittspartei abwenden, die „nur durch eine verwegene Entstellung und Verdrehung der

*) Die Nationalzeitung bedauerte, daß v. Unruh, Phillips, Pilet, Plönnies jedes Mandat ablehnten und beruhigte die ministerielle Zeitung, welche so rede, als ob die Kammer mit früheren Verbannten überschüttet werden solle, daß Herr Löwe der einzige Kandidat miS dieser ganzen zahlreichen Kategorie sei. ParisiuS. 4

50

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

Wahrheit und durch die abgeschmacktesten Sophismen die Irrthümer aufrecht­ erhalte, in die sie die Wähler zu verstricken sich bemüht" habe, um sie zu einem Werkzeug von Tendenzen zu machen, die sie in tiefster Seele miß­ billigen. „An die Stelle der bewährten, in den Stürmen der Bewegung wie in den Kämpfen der Reaktion als besonnen und charakterfest erprobten Männer sollen die Geister treten, die, soweit sie überhaupt geprüft werden konnten, vorzugsweise in der Verneinung und in der Folgsamkeit gegen die leidenschaftlich vordringenden Strömungen einer erregten Zeit, ihre Stärke bewiesen haben." So schloß die ministerielle Zeitung einen Leitartikel jener Tage. *) Zuletzt als das Preßbureau sich überlegte, daß die Leitartikel der Sternzeitung doch nur sehr wenigen Wählern in die Hände geriethen, dahingegen die Flugblätter des fortschrittlichen Zentralwahl-Komites in großen Mengen über das Land flogen, kam es auf den geistreichen Einfall, von den Berliner Zeitungen einen Abdruck ihres Leit­ artikels: „Wie besiegt man die Kreuzzeitungspartei?" als Gratisbeilage ver­ senden zu lasien. Die Beantwortung der Frage lief auf den Gedanken hinaus: der Sieg sei nur dann gewiß, wenn man ja nicht entschiedene Gegner jener Partei in das Abgeordnetenhaus wähle, sondern ihr in der Militärfräge und sonst möglichst zu Gefallen lebe. Die Nationalzeitung fand die Verbreitung von Wahlflugblättern, deren Herstellung aus der Staatskasie bezahlt worden, nicht paffend für ein liberales Ministerium und meinte, das Preßbureau sollte sich nicht wieder auf solche verlassene Wege begeben. **) *) Daß die offiziöse Meute, nachdem sie einmal losgelassen war, eine kräftige Sprache führte, davon giebt z. B. folgender Satz (Leitartikel vom 14. Nov. gegen die National­ zeitung Zeugniß: „Der politische Parteihaß und die blinde Leidenschaft müssen eine vollständige Gemüthsstörung verursacht haben, wenn man sich in den Glauben hinein­ reden, wenn man es auch nur für möglich halten kann, daß das gegenwärtige Mini­ sterium im Schilde geführt habe, das Steuerbewilligungsrecht der Abgeordneten in Frage zu stellen."-------- Auch von dem Kultus des Kompromisses lieferten die Leitartikel Proben (15. Nov.): „Niemals wird ein Reformministerium, das sich mit seinen Entschlüssen und Vorschlägen nicht in der Sphäre der reinen Ideen, sondern auf dem Boden und in den Schranken realer Verhältnisse bewegt, mit einem Ab­ geordnetenhaus fertig werden können, auf welches der Geist der doktrinären Ent­ schiedenheit jener Partei (der „Partei Behrend") irgend einen maßgebenden Einfluß übt. Im wirklichen politischen Leben kommt man nur vorwärts durch die Fähigkeit zum Kompromiß; und wenn diese Fähigkeit der Mehrheit des Abgeordnetenhauses verloren geht, so geht nichts Geringeres als die Aussicht auf das Vorwärtskommen verloren." **) Das Preßbureau war damals noch sehr knapp in seinen Mitteln. Der Repti­ lienfonds war noch nicht erfunden. Die Leistungen des Bureaus waren übrigens gleich schlecht, mochte Ryno Quehl oder Wilhelm Wehrenpfennig oder Ludwig Aegidy der Leiter desselben sein. Ueber das „literarische Bureau des Staats­ ministeriums", welches im Zahre 1852 im Verwaltungswege errichtet, bis 1858 den Namen „Centralstelle für Preßangelegenheiten" führte und unter der Leitung der Minister der auswärtigen Angelegenheiten und des Innern steht, vgl. man Rönne, Staatsrecht der Preußischen Monarchie Bd. II Erste Abtheilung S. 11: »Die Ge­ schäfte dieser Behörde bestehen in Folgendem: a) in dem Dezernate über die Verwaltung der für die Presse aus dem Dispositionsfond für höhere polizeiliche Zwecke ausgesetzten Fonds; b) in der genauen Beaufsichtigung der von der Staatsregierung unterstützten Blätter; c) in der Anknüpfung und Unterhaltung der Verbindung sowohl mit der inländischen, als mit der auswärtigen Presse, namentlich mit der französischen, bel­ gischen und englischen Presse; d) in der Verpflichtung, die Mitglieder des Staats-

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

51

Mit dem 19. November 1861, dem Tage der Urwahlen, hörte die Hetzerei der offiziösen Presse gegen die deutsche Fortschrittspartei auf. Zn Berlin war „der offiziöse Feldzug" ohne jeden Erfolg geblieben. Die Stadt Berlin hatte sich in der ungeheuren Mehrzahl der Wähler zu der neuen Partei bekannt, der sie bis heute in Gunst und Ungunst der Zeiten treu geblieben ist. Znnerhalb der deutschen Fortschrittspartei für die Wahl solcher Abgeordneten zu wirken, welche für allgemein gleiches und geheimes Wahl­ recht eintreten, hatte sich ein „volkstümlicher Wahlverein in Berlin" unter Vorsitz von Adolf Str eck fuß gebildet; ihm entgegen zu wirken versuchte im zweiten Bezirk ein besonderes Komitö von Männern, die auf dem Boden des Programms der deutschen Fortschrittspartei standen, aber für Beibehaltung der Dreiklassenwahl waren (Professor Weber), jedoch ohne Erfolg. Ge­ wählt wurden: I. Bez.: Generalsteuerdirektor a. D. Kühne in engerer Wahl (mit 273 von 536 Stimmen, Twesten 255), Twesten (mit 282 von 541 Stimmen, Syndikus Duncker 251), Taddel (mit 279 von 538 Stimmen, Duncker 246). Für Kühne hatten auch eine Anzahl Fort­ schrittsmänner gestimmt, „weil sie seine Mitwirkung für die Prüfung des Budgets für unentbehrlich hielten." — II. Bez.: Waldeck (295 von 437, Veit 110, von Roon 23), Virchow (280 von 424, Veit 119). — III. Bez.: Schulze-Delitzsch (263 von 338, Kühne 49, General von Maliszewsky 26), Seminardirektor a. D. Diesterweg (259 von 329, Kühne 41, Zustizrath Wagener 27). — IV. Bez.: Waldeck (297 von 409, Syndikus Duncker 97, Obermeister Neuhaus 10), Virchow (283 von 409, Duncker 94, Twesten 21, Neuhaus 11).**) Die deutsche Fortschrittspartei hatte im Lande am 6. Dezember 1861 einen glänzenderen Erfolg gehabt, als ihr Konnte selbst es vordem zu hoffen gewagt hatte. Daß das Volk ihr sein volles Vertrauen zugewandt hatte, ergab die große Zahl der doppelt und dreifach gewählten Fortschrittsmänner: Waldeck, Hoverbeck, Virchow und Dr. Bender waren dreimal, Schulze-Delitzsch, Taddel,- von Forkenbeck, Twesten, Franz Duncker- Otto Michaelis, Kerst zweimal gewählt. Von den Abgeordneten der vorigen Legislaturperiode waren etwa 140 wiedergewählt, die konservativen Parteiführer v. Blanken­ burg und Wagener waren durchgefallen, ebenso von der ministeriellen Mehr­ heit Beseler, Matthis, Milde, Riedel, Veit, Gneist, Falk, die beiden älteren Duncker, v. Gruner, sowie die Minister v. Bethmann-Hollweg, v. Roon, v. Schleinitz. Das am 14. Zanuar 1862 zusammentretende Abgeordnetenhaus zeigte ein sehr verändertes Aussehen. Die rein ministeriellen Reihen waren stark gelichtet; dagegen die entschiedeneren Liberalen meist wiedergewählt. Die Konservativen waren auf wenig über ein Dutzend zusammengeschmolzen.

Ministeriums über die Aeußerungen der gesammten Presse in Kenntniß zu erhalten; e) in der Kuratel über das Institut des Königl. Staatsanzeigers und der mit dem­ selben in Verbindung stehenden Preußischen Zeitung ^inzwischen eingegangen, doch in vieler Beziehung wol durch die Norddeutsche Allgemeine Zeitung ersetzt^; f) in den auf Grund der faktischen und technischen Verhältnisse der Presse abzugebenden Gutachten über legislatorische Entwürfe." *) Zm 2. und 4. Bezirk waren Nachwahlen für Waldeck und Virchow erforderlich. Gewählt wurden im II. Bezirk Regierungsrath Krieger und Stadtrath Runge; im IV. Bezirk Dr. Otto Lüning und Major a. D. Steinhardt.

52

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

Am geringsten war die Veränderung der Vertretung von Rheinland und Westfalen; dort hatten die vorzugsweise katholischen Wahlkreise wiederum klerikale Abgeordnete gewählt. Die rechte Seite der Liberalen trat zu einer sehr starken Fraktion Grabow zusammen. Links von ihr sammelten Harkort und von Bockum-Dolffs eine sich besonders aus den west­ lichen Provinzen stark rekrutirende Fraktion des linken Zentrums, welchem sich von vornherein auch viele Abgeordnete anschlossen, die ihren Wählern gegenüber sich zu den Grundsätzen des Programmes der Fortschrittspartei bekannt hatten. Die deutsche Fortschrittspartei selbst trat in zwei Fraktionen auf, indem sich von der eigentlichen Fraktion — Versammlungsort: Schmelzers Hotel — noch eine kleine Fraktion unter Zrnmermann's Vorsitz — Versammlungsort: Kellner's Hotel - absonderte, scherzweise die stille Fortschrittspartei genannt. Der Rechenschaftsbericht der ministeriellen Mehrheit des vorigen Ab­ geordnetenhauses hatte mit der Erklärung geschloffen, das Land werde durch seine freien Wahlen in den nächsten Wochen sein entscheidendes Votum darüber abzugeben haben, „ob die liberale Partei des Hauses der Abgeord­ neten ihrer Aufgabe sich gewachsen gezeigt habe." Die Entscheidung war gegen die Fraktion Vincke ausgefallen, deren Führer kurz zuvor erklärt hatte, wegen Vormundsgeschäfte keine Wahl annehmen zu können. Die Fraktion Grabow, welche allenfalls als Nachfolgerin der Fraktionen Matthis und Vincke angesehen werden konnte, war in ihrer großen Mehr­ heit doch weit entschiedener, als die Mehrheit der Fraktion Vincke gewesen war. Die Stärke der Fraktionen war folgende: I. Konservative Fraktion (einschließlich eines konservativen Wilden) 15 Mitglieder; II. Katholische Fraktion 54 Mitglieder; III. Fraktion Grabow einschließlich zweier Wilder 95 Mitglieder; IV. Linkes Zentrum (Fraktion Bockum-Dolffs-Harkort) 52 Mitglieder; V. Deutsche Fortschrittspartei: a) Fraktion „bei Kellner" (stille Fort­ schrittspartei) 20 Mitglieder, b) Fraktion bei Schmelzer 89 Mitglieder; VI. Polnische Fraktion 23 Mitglieder; VII. Dazu 4 Minister. Die Fortschrittspartei und das linke Zentrum hatten auch zusammen keine Mehrheit im Abgeordnetenhause (89 + 20 + 52 = 161); erst wenn die Polen mit ihnen gingen (161 + 23 = 184) erreichten sie diese; ent­ hielten sich die Polen der Stimme, so waren die Konservativ-Ministeriellen und Katholiken (15 + 95 + 54= 164) selbst ohne die 4 Minister in der Mehrzahl. *) *) Bei den Präsidentenwahlen am 20. Januar und 17. Februar wurde um den fortschrittlichen ersten Vizepräsidenten sehr hartnäckig gekämpft. Nachdem Grabow fast einstimmig zum ersten Präsidenten erwählt war, bedurfte es am 20. Januar dreier Abstimmungen, um Behrend zum ersten Vizepräsidenten (zuletzt mit 161 gegen 129 Stimmen für Bürgers, nachdem Osterrath ausgefallen war) und zweier Wahl­ gänge, um den Führer des linken Zentrums v. Bockum-Dolffs zum zweiten Vize­ präsidenten (zuletzt mit 143 Stimmen gegen 80 für Bürgers und 54 für Osterrath) zu wählen. Am 17. Februar siegte Behrend ebenso erst im dritten Wahlgange (mit 139 Stimmen über v Rönne-Glogau mit 116, bei 54 weißen Zetteln, nachdem Reichensperger ausgefallen war), während v. Bockum-Dolffs glatt durchkam (mit 229 Stimmen gegen Reichensperger mit 53.)

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

53

Das Abgeordnetenhaus wurde ohne dringende Veranlassung mit 11. März 1862 aufgelöst, nachdem es am 6. März mit 171 Stimmen gegen 143 den auf eine größere Spezialisirung des Staatshaushalts-Etats gerichteten Antrag des fortschrittlichen Abgeordneten Stadtrath Hagen angenommen hatte.

Am selben Tage setzte die eigentliche Fraktion der Fortschrittspartei, zu welcher sich jetzt auch fast alle Mitglieder der sogen, stillen Fortschrittspartei, der sich auflösenden Fortschrittsfraktion bei Kellner bekannten, ein ZentralWahlkomito ein. Unabhängig von demselben erließen bereits am 12. März 130 Abgeordnete, die zu der Mehrheit für den Hagen'schen Antrag ge­ hörten, eine Erklärung über die Motive ihrer Handlungsweise, hervorgerufen durch die Beschuldigung der öffiziösen Presse: die Mehrheit des Hauses habe die ihr von dem Ministerium „weit vorgebogene Hand zur Ver­ ständigung in der eigentlichen Absicht zurückgestoßen, sofort und im Sturm die Veränderungen durchzusetzen, welche die Regierung auf dem freilich langsameren Wege der Ordnung und mit Berücksichtigung der Interessen der Staatsverwaltung herbeizuführen bereit war." Dem gegenüber erklärten die 130, denen sich später noch mehrere Ab­ geordnete anschlossen: „Als wir in das Haus der Abgeordneten traten, waren wir entschlossen, mit

großer Mäßigung alle Schritte zu vermeiden, welche zu Zerwürfnissen innerhalb der liberalen Mehrheit des Hauses oder zwischen der Volksvertretung und der Regierung Sr. Maj. des Königs führen können, aber ebenso entschlossen, treu dem empfangenen Mandate des preußischen Volkes, das verfassungsmäßige Recht seiner Vertreter zu

wahren, und keinem Konflikte auszuweichen, der uns auf diesem Wege auf­ genöthigt würde. Wir glauben unsere Pflicht erfüllt zu haben.

Die Weise, in welcher bisher der

Staatshaushalt geordnet wurde, machte das wesentlichste Recht der Volksvertretung, das Recht, die Einnahmen und Ausgaben des Staates zu bewilligen und zu über­

wachen, fast bedeutungslos.

Denn nach der Annahme der letzten Jahre und

nach der Auffassung der Regieruug, welche sie in dem Gesetzentwurf über die Ober­

rechnungskammer geltend gemacht hat, ist dieselbe der Vottsvertretung gegenüber bei der Verwendung der öffentlichen Gelder nur an die allgemeinen Titel und Summen gebunden, welche in dem Hauptetat des Staatshaushalts ausgenommen und in der

Gesetzsammlung veröffentlicht werden.

Diese sind aber in den wichtigsten und kost­

spieligsten Verwaltungszweigen, vor allem in der Militärverwaltung, so groß und

umfassend, daß sie den Ministern einen der Kontrole des Abgeordnetenhauses fast

gänzlich entzogenen Spielraum und die Machtvollkommenheit gewähren, auch ohne und gegen den Willen der Volksvertretung tiefeingreifende Einrichtungen zu treffen oder aufrecht zu erhalten.

Um diese scheinbare Feststellung des Budgets zu einer

wirklichen zu machen, führten wir einen Beschluß des Hauses der Abgeordneten herbei, nach welchem nicht nur die Nothwendigkeit einer spezielleren Budgetbewilligung

für die Zukunft ausgesprochen ward, sondern auch schon für das laufende Jahr in den bindenden Hauptetat diejenigen Summen ausgenommen werden sollten, für welche dies zur pflichtmäßigen Ausübung der verfassungsmäßigen Kontrole erforderlich und nach der Einrichtung des Kassen- und Rechnungswesens ausführbar erscheinen würde. Die sofortige Ausführbarkeit dieses Beschlusses hat sich auch bereits durch die Um-

54

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

arbeitung mehrerer Etats nach Maßgabe desselben in der Budgetkommission bewährt. Daß eine solche detaillirte Aufftellung des Hauptetats künftig unerläßlich sei, ward von allen Seiten anerkannt, und die königliche Staatsregierung selbst stellte eine derartige Abänderung für die Zukunft in Aussicht. Dagegen widersprach sie der­ selben für dieses Jahr. Wir aber, die wir nicht über die Formen künftiger Budgets zu verfügen, sondern über den Inhalt des gegenwärtigen nach Pflicht und Gewissen zu beschließen hatten, wir dursten uns nicht auf Wünsche beschränken, denen auch später schwerlich ohne die eigene Thätigkeit der Volksvertretung in genügendem Maße entsprochen werden wird; wir waren verpflichtet, die Mittel des Staates nur in einer Form zu bewilligen, welche die uns obliegende, wirkliche Kontrole nöthig machte. Wir dursten, soweit es an uns lag, das verfassungsmäßige Recht des Volkes nicht zu einem wesenlosen Scheine werden lassen. Wir mußten in Erfüllung unserer ver­ fassungsmäßigen Pflicht das uns gebotene Mittel anwenden, um uns eine voll­ ständige Darlegung und eine wirkliche Innehaltung des festzusetzenden Staatshaus­ haltes in seinen einzelnen Positionen zu sichern. Es leuchtet außerdem ein, wie wesentlich gerade jetzt eine sehr spezielle Festsetzung des Militäretats war. Die königliche Regierung hat die Fassung dieses Beschlusses, ohne seine praktische Durchführung in der Bearbeitung der einzelnen Etats abzuwarten, mit einer Auf­ lösung des Hauses beantwortet. Wir haben unser klares, unzweifelhaftes Recht einer Budgetbewilligung in bindender Form ausgeübt, und keineswegs in die Rechte der Exekutive eingegriffen. Wir haben keine unstuchtbareOppo­ sition erhoben, keinen kleinlichen Streit gesucht. Wir haben in einer großen und wichtigen Angelegenheit das verfassungsmäßige Recht der Volksvertretung zu einer Wahrheit machen wollen. Wir erwarten mit gutem Gewissen das Urtheil des Landes."

Wenige Tage, nach dem Erlaß des Aufrufs, war das Ministerium der neuen Aera entlassen. Schon am 17. März wurden die Minister v. Auers­ wald, Freiherr v. Patow, Graf Pückler, Graf Schwerin, v. Bernuth, v. Bethmann-Hollweg entlassen und der Prinz Hohenlohe zum Minister­ präsidenten, von der Heydt unter interimistischer Belassung der oberen Leitung des Ministeriums für Handel, Gewerbe und öffentliche Angelegen­ heiten zum Finanzminister, Graf Jtz en plitz zum Minister für die landwirthschaftlichen Angelegenheiten, der Oberkonsistorialrath v. Mühl er zum Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten, der Ober­ staatsanwalt beim Kammergericht Graf zur Lippe zum Zustizminister, der Polizeipräsident von Jagow zum Minister des Innern ernannt. Dieser Ministerwechsel hatte auf die altliberale Partei in Preußen eine so gut wie vernichtende Wirkung. Zn der Erwartung des Fortbestandes des Ministeriums Schwerin hatte sich der größte Theil der Fraktion Grabow schon am 12. März über ein Programm vereinigt, welches zugleich Kenntniß davon gab, daß das Ministerium durch die Auflösung des Abgeordneten­ hauses bei seinen getreuesten Anhängern Anstoß erregt hatte. Dieses letzte Programm der altliberalen Partei, unterzeichnet u. A. von den Abgeordneten von Benda, Fubel, Grabow, Züngken, von Kathen, Kühne, Dr. Lette, Ottow, Richter (Prediger in Mariendorf), Dr. von Rönne, Dr. Röpell (Breslau), von Saucken-Zulienfelde, Dr. Schubert, v. BinckeOlbendorf, Wachler und außerdem von mehreren in Berlin wohnhaften

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

55

Parteigenossen, wie ®. Beseler, Hermann Duncker, Dropsen, Graf Dyhrn, G. Reimer, Dr. Julian Schmidt und M. Veit, lautet: Die unterzeichneten Mitglieder der konstitutionellen Partei haben sich über nach­ folgendes Programm als Grundlage und Richtschnur für die bevorstehenden Wahlen zum Hause der Abgeordneten vereinigt: I. Die konstitutionelle Partei hält fest an ihrem obersten Grundsatz: treu dem Könige und der Verfassung. Sie will ein starkes Königthum der Hohenzollern, und die volle Geltung der dem Volke verbürgten Rechte. II. Sie will, daß Preußen nach außen eine feste nationale Politik einhalte und in der deutschen Frage die Herstellung des Bundes staats im weitern Bunde mit parlamentarischer Vertretung sich zur Aufgabe setze — unter Wahrung der innern Selbstständigkeit der Einzelstaaten, mit preußischer Führung in den militärischen, diplomatischen und handelspolitischen Angelegenheiten. III. Im Innern fordert sie eine verfassungsmäßige, gerechte und freisinnige Regierung und den Ausbau der Verfassung in deren Geist durch organische Gesetze. IV. Die Einheit in der Leitung und Führung der Staatsgeschäste ist die Be­ dingung eines starken und segensreichen Regiments. Diese Einheit ist als dringendes Bedürfniß anzuerkennen, nicht blos in der Uebereinstimmung der leitenden Staats­ männer, sondern auch in der Wahl der höheren Verwaltungsbeamten. V. Das Herrenhaus in seiner gegenwärtigen Zusammensetzung ist ein Haupt­ hinderniß einer freisinnigen und nationalen Politik und einer gedeihlichen Entwicke­ lung der Gesetzgebung, insbesondere für die Ordnung der Kreis- und Gemeinde­ verfassung und der volkswirthschaftlichen Verhältnisse. Es ist nothwendig, daß eine Reform des Herrenhauses durch Anwendung der verfassungsmäßigen Mittel herbei­ geführt werde. VI. Aufrechthaltung der Reorganisation des Heeres, aber Ersparungen im Militäretat durch Beurlaubungen, Revision der Grundsätze über die Pensionirungen und überhaupt, wo sie ausführbar erscheinen, ohne die Kriegsbereitschaft des Heeres und die Wehrkraft des Landes zu schwächen. . VII. Es. ist. mit Entschiedenheit darauf.hinzuwirken, .daß mit Erhebung .der. regulirten Grundsteuer im Zahre 1865 das Gleichgewicht im Staatshaushalts-Etat wiederhergestellt und schon jetzt die im Militäretat trotz der oben bezeichneten Er­ sparungen verbleibenden Mehrausgaben in anderer Weise, als im Wege des bis­ herigen Steuerzuschlages gedeckt werden. VIII. Nur wenn das königliche Staatsminrsterium dem Lande durch die That den Beweis liefert, daß es sich in seiner Gesammtheit zu den vor­ stehenden Grundsätzen bekennt, und dieselben zur Geltung bringt, erachteten es die Unterzeichneten als die Aufgabe und Pflicht der konstitutionellen Partei, das königliche Ministerium zu unterstützen.

Mit Recht hob die fortschrittliche Presse hervor: daß die Fraktion, wenn sie mit dem letzten Paragraphen des Programms, welches abgesehen von der Militärfrage auf dem Boden der gemeinsamen liberalen Grundsätze stehe, wirklich Ernst mache, nicht umhin können werde, binnen Kurzem eben­ falls in die Reihen der erklärten Opposition einzutreten. Fast gleichzeitig mit dem konstitutionellen Programm erschien auch in dem von ZulianSchmidt herausgegebenen konstitutionellen Parteiorgan, der Berliner Allgemeinen Zeitung, eine Erklärung von 51 Mitgliedern

56

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

der Fraktion Grabow über ihre Stellung zum Hagen'schen Anträge. Unter den Gründen, weßhalb sie gegen diesen Antrag gestimmt hatten, war auch angeführt, daß er durch Angriffe gegen eine Seite der preußischen Ver­ waltung motivirt wurde, „welche bisher noch nie eine Stimme weder des Auslandes noch des Inlandes zu verdächtigen gewagt", und daß er gerichtet gewesen sei „gegen einen Minister, der in seiner Verwaltung als ein Meister und als ein alter Vorkämpfer konstitutioneller Freiheit im ganzen Lande bekannt" sei. Auf Grund des Programms vom 12. März trat am 17. März ein Zentral-Wahlkomite der konstitutionellen Partei zusammen, errichtete ein Wahl­ bureau unter der Leitung des Dr. Max Weber (jetzt Stadtrath in Berlin und Abgeordneter für Erfurt), der eine Zeit lang das Organ der ge­ mäßigten Konservativen von Bethmann-Hollweg u. Genoffen, das Preußische Wochenblatt redigirt hatte. Die Konservativen waren mit ihren Wahlbureaus durch die Organisation des Preußischen Volksvereins am schnellsten auf dem Platze, sie hatten dies­ mal wieder die ganze Staatsmaschinerie zur Seite, da das neue Ministerium durch Erlasse an alle Behörden und Beamten diesen die Beeinfluffung der Wahlen zu Gunsten der Regierung unter Drohungen anbefahl.

Der Wahlkampf, der sich im Frühjahr 1862 entspann, war ohne Zweifel der lebhafteste und allgemeinste, den Preußen je gesehn hat. Hie deutsche Fortschrittspartei, hie konservative Partei und Regierung; was dazwischen lag, kam wenig in Betracht. Das linke Zentrum, welches ohne Wahl­ organisation bestand, wurde in den Agitationen als gleichwerthig mit der Fortschrittspartei behandelt. Am 14. März erließ das Zentral-Wahlkomite seinen Wahlaufruf und sagte sich darin entschieden Ministerium los. Zugleich machte es bekannt, daß des Stadtrath a. D. Runge ein Wahl-Bureau Aufruf lautete:

der Fortschrittspartei von dem altliberalen es unter der Leitung errichtet habe. Der

Aufruf. Die liberalen Parteien des Vaterlandes waren fast durchgängig einverstanden über die Ziele der politischen Bestrebungen, welche das Wahlprogramm vom 9. Juni 1861 aufstellte. Sie halten auch jetzt an diesen Zielen fest. Nur in der Beurtheilung der Vergangenheit und in den Mitteln der Gegenwart gehen sie auseinander. Der Aufruf der deutschen Fortschrittspartei vom 29. September 1861 mahnte zur kräftigen Verfolgung dieser Ziele, so wie zur Einigung aller liberalen und nationalen An­ strengungen gegen die reaktionäre Feudalpartei, welche damals die Miene annahm, als könnte sie durch die Hülfe des preußischen Volles die ihren Händen 1858 entnommene Herrschaft wiedergewinnen. Gegen -sie haben die Wahlen des vorigen Jahres unwiderruflich entschieden. Im unversöhnlichen Widerspruch mit den lebendigen Kräften unserer Zeit wird diese Partei, die nie den Staat, sondern nur ihre Geltung im Staate will, durch die Wahlen und mit dem Willen des preußischen Volkes niemals wieder in Preußen regieren. Sie ist nichts, sobald sie nicht von der Macht der Regierung künstlich gestützt und getragen wird. Aber die Hoffnungen auf ein energisches Fortschreiten, welche sich an die Wahl-

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

57

Bewegung des vorigen Jahres knüpften, haben sich nicht verwirklicht. Die Männer, denen Se. Majestät der König 1858 unter den freudigen Erwartungen seines Volkes die Regierung anvertraute, haben weder mit dem Abgeordnetenhause von 1859, über dessen Mehrheit sie verfügen konnten, noch mit dem von 1862, welches, entschieden liberal, jeden liberalen Schritt des Ministeriums zu unterstützen bereit war, die Bahn der Reformen betreten, welche die freiheitliche Entwickelung unseres Staates sichern und aus der ungewissen Uebergangszeit eines beginnenden Verfassungslebens zu den festen Formen eines geordneten Rechtsstaates führen sollten. Die Verheißung eines zeitgemäßen Ausbaues unserer noch in den wesentlichsten Punkten unvollendeten Verfassung und eine Wiederanknüpfung der Gesetzgebung an die große Zeit der preußischen Wiedergeburt sind nicht erfüllt worden. Zu einem Theil entsprachen die Vorlagen der Regierung in der geschlossenen Legislaturperiode nicht diesen Verheißungen, zum andern mußten sie aussichtslos an dem Widerspruch des Herrenhauses scheitern, an dessen nothwendige Umgestaltung die Hand nicht gelegt ist. In der Wahlbewegung des letzten Herbstes konnten wir noch hoffen, das Mini­ sterium werde, getragen von dem fortschreitenden Bewußtsein des Volkes, eine ent­ schiedenere Politik in der Richtung einschlagen, welche unserem Vaterlande Noth thut, um seine Stelle unter den Völkern Europa's mit Ehren zu behaupten. Das können wir jetzt nicht mehr. Um so nothwendiger ist es, daß die Volksvertretung ohne Rücksicht auf die Personen der leitenden Staatsmänner unabhängig und entschlossen der Regierung gegenüber das verfassungsmäßige Recht desVolkes wahre. In der Gesetzgebung und Verwaltung kann das Haus der Abgeordneten für den Augenblick wenig erreichen. Sein unmittelbarer Einfluß auf diesen Gebieten ist gering. Seine Einwirkung wird mit Eifersucht und Miß­ trauen betrachtet. Aber eine entscheidende Macht hat es in der Kontrole über die

Geldmittel des Landes. Hier hat es daher die unabweisliche Pflicht, diese Kontrole unbeirrt nach bestem Wissen und Gewissen zu üben, sie nicht zu einem leeren Schein werden zu lassen, durch ihre Handhabung aber auch auf andere Reformen hin­

zuwirken. Die. Regiexung erhebt nqch stbexall.den Anspruch,, ihr.en Miflen Mein entscheiden zu sehen, macht noch überall den absolutistischen Vorbehalt, ihrerseits jedes Zugeständniß an die Volksvertretung zu versagen, keine Schranke ihres Gutbefindens anzuerkennen, die Nachgiebigkeit immer von der andern Seite zu verlangen. Als sie in der Annahme eines Antrages, welcher dem verfassungsmäßigen Recht der Bewilligung und der Ueberwachung der Staatsgelder Wirksamkeit und Nachdruck geben sollte, ein Vorzeichen fand, daß die Mehrheit des Abgeordnetenhauses entschlossen war, sich nicht von der Regierung abhängig zu machen, sondern selbstständig in den Fragen zu entscheiden, welche seiner verfassungsmäßigen Beschlußnahme unterliegen, da löste sie das Haus auf. Sie lieh es nicht zur sachlichen Entscheidung über die Militär­ vorlagen kommen, für welche sie in diesem Hause keine unbedingte Zustimmung mehr erwartete. Die erste wichtige innere Angelegenheit der Politik, welche nach der schwer­ fälligen Geschäftsordnung des Hauses zur Abstimmung gelangte, vereinigte gegen die vertröstenden Wünsche der Regierung die Mehrheit der Abgeordneten und zeigte sie entschlossen, rückhaltlos nach dem zu handeln, was sie als ihre Pflicht erkannte. Ein längeres Zögern war hier nicht zulässig. Denn einmal drohte die Gesetzes­ vorlage über die Oberrechnungs-Kammer, das unzureichende Herkommen, welches die Bewilligung der Geldmittel durch die Volksvertretung fast bedeutungslos machte, für

58

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

die Zukunft gesetzlich zu befestigen. Und andererseits durfte eine strenge Festsetzung der Militärausgaben nicht länger hinausgeschoben werden, nenn nicht die Lasten der dreijährigen Dienstzeit und des übermäßigen Militäraufwandes, welche jeder er­ wünschten Verbesserung auf andern Gebieten hindernd entgegenstehen, unabänderlich werden sollten. Wir glauben, daß die allgemeine Wehrpflicht zur vollständigen Entwickelung der Wehrkraft des Volkes nur dann durchführbar ist, wenn neben andern Ersparungen durch die Einführung der zweijährigen Dienstzeit für die In­ fanterie unter Beibehaltung der volkstümlichen Grundlagen des Heeres die Opfer an Geld und Menschenkräften erleichtert werden. Sollte die Verfaffung nur dienen, um Geld und Soldaten in größerem Maße zu beschaffen, als es ohne sie jemals möglich gewesen wäre, so hätte fie in der That wenig Werth. Wir meinen, daß Diejenigen der Krone und dem Volke gleich schlecht dienen, welche beide in Konflikte bringen. Wir meinen, daß die wahren Interessen beider in Preußen untrennbar zu­ sammenfallen, und daß man nicht das Königthum bekämpft, wenn man eine An­ forderung der Regierung ablehnen zu müssen glaubt. Die Regierung mochte mit einigem Rechte annehmen, daß die bedeutenden Ver­ handlungen, welche in der nächsten Zeit bevorstanden, den Einfluß und das Ansehen der liberalen Mehrheit im Lande stärken und die Aussicht auf ministerielle Neuwahlen mindern würden. Daher beeilte sie die Auflösung, ohne auch nur vorher eine vor­ läufige Bewilligung der Staatsausgaben zu verlangen. Wir aber hoffen, das preußische Volk wird sich über die Lage der Dinge nicht täuschen. Im vorigen Jahre hatte es dem Aufrufe vom 29. September 1861 gemäß eine Mehrheit von Abgeordneten gewählt, die den Standpunkt eines wahren verfassungsmäßigen Kon­ stitutionalismus rückhaltlos vertraten. Wir erwarten, es wird jetzt dasselbe thun. Die Minister haben Berufung an das Volk eingelegt, durch die Wahl neuer Vertreter seine Meinung kund zu geben. Wir hoffen auf einen unzweideutigen Aus­ druck derselben. Die Sache liegt einfach. Es gilt diesmal nicht Wünsche oder Hoffnungen zu verwirklichen, sei es schneller oder langsamer, sei es mehr oder minder. Es handelt sich nur um das Eine, nicht zu weichen von dem verfassungsmäßigen Recht, ohne welches die Abgeordneten die Pflichten ihres Mandates nicht erfüllen können. Wir sind überzeugt, daß die Regierung sich weder auf einem gedeihlichen Wege noch im Einklang mit der Einsicht und dem Willen des Volkes befindet, wenn sie durch die neuen Militär-Einrichtungen die wirthschaftlichen Kräfte des Landes übermäßig spannt, wenn sie daneben den geistigen und materiellen Interessen die freie Entwickelung versagt, welche die Spannkraft des Volkes erhöhen würden, und wenn sie für die übergroßen Lasten nicht einmal durch die Erfolge einer volksthüm­ lichen und nationalen Politik entschädigt. Wir hoffen, daß preußische Volk wird in einem Konflikte, welcher nicht blos die Hoffnungen eines raschen und sichern Fort­ schritts verdüstert, sondern sogar die schon errungenen Güter des verfassungsmäßigen Rechts in Frage stellt, die Besonnenheit und die Ausdauer bewähren, welche die ersten der politischen Tugenden und die Bürgen des Sieges sind. Der Zukunft sicher hoffen wir, aus den neuen Wahlen eine Mehrheit von Männern hervorgehen zu sehen, die pflichtgetreu das Recht des Volkes wahren, die in den Tagen ernster Entscheidung den Boden der Verfassung ungeschmälert be­ haupten, auf dem sich allein in gesetzlicher Ordnung das Banner des Fortschritts entfalten kann. Eine Niederlage auf diesem Boden würde ein schweres Unheil für Preußen, für ganz Deutschland sein. Wir erinnern an die laute Zusümmung. die wir bei den letzten Wahlen in allen Theilen des deutschen Vaterlandes fanden, die

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

59

sich auch jetzt für die Schritte der Volksvertretung ausspricht. Ueberall sind die Augen erwartungsvoll auf den Ausgang gerichtet. Die Feinde Preußens hoffen auf eine lähmende Fortdauer des begonnenen Haders. Das deutsche Volk aber, welches wohl der preußischen Regierung, nicht mehr dem preußischen Volke entfremdet werden kann, weiß, daß die Zukunft Preußens nur in der freiheitlichen Entwickelung liegt, und daß diese in Preußen für ganz Deutschland gesichert werden muß. Die Strömung des öffentlichen Geistes ist dieser Entwickelung günstig und das preußische Volk hat eine Gelegenheit, etwas für die Sache des Fortschritts in Europa zu thun. Die Größe der Sache verlangt, daß jeder Freund des Vaterlandes das Seine thue, den Erfolg zu sichern, damit für jetzt ein verderbliches Rückwärts abgewendet werde und damit bald umgehemmt der alte Siegesruf erschalle — ein energisches Vor­ wärts! Berlin, 14. März 1862.

Das Zentral-Wahl-Komite der deutschen Fortschrittspartei. v. Unruh, Vorsitzender (Berlin). Behr end (Danzig). Delbrück (Berlin). F. Duncker (Berlin). Elster (Berlin), v. Forckenbeck (Elbing). Forstmann (Zeitz). Dr. Frese (Lübbecke). Haebler (Sommerau b. Szillen). v. Hennig (Plonchott bei Wrotzk). Frhr. v. Hoverbeck (Nickelsdorf b. Wartenburg). Kochhann (Berlin). Dr. Langerhans (Berlin). Dr. Lindner (Berlin). Dr. LöweCalbe (Berlin). Dr. Otto Lüning (Rheda). Mathaei (Berlin). O. Michaelis (Berlin), v. Meibom (Berlin). Müllensiefen (Crengeldanz bei Witten). Müller (Demmin). Parisius (Gardelegen). Dr. Paur (Görlitz). Pietzker (Naumburg). L. Reichenheim (Berlin), v. Rönne (Solingen). Runge (Berlin). Schulze(Delitzsch). Dr. W. Siemens (Berlin). Taddel (Berlin). Twesten (Berlin). Dr. Virchow (Berlin). Dr. Zabel (Berlin).*)

Die Regierung und ihre Organe hatten die Wähler aufgeboten zur Entscheidung der Frage: ob königliches Regiment, ob parlamentarische Re­ gierung? Darauf antwortete ein zweiter Wahlaufruf des Zentralwahlkomites der deutschen. Fortschristspartei vom 26. März. 1862. in würdiger Weise. Er fand die wahre Veranlasiung der Krisis in dem tiefen Wiederspruch innerhalb der Regierung selbst, welcher sie völlig unhaltbar gemacht habe jeder Volksvertretung gegenüber, die sich nicht, wie in den Zähren von 1859 bis 1861 den Anschluß an die Regierung auf allen ihren Wegen zur ersten Aufgabe stellte. „Zn früheren Zeiten konnten sich widerstreitende Grundsätze im Ministerium unfruchtbar und hemmend hinschleppen: einer Volksvertretung von selbstständiger Richtung gegenüber mußte alsbald die eine Seite oder die andere vom Schauplatz weichen. Es wich die liberale." Das Komitä wandte sich dann gegen die Wahlerlaffe der Regierung und die das aufgelöste Abgeordnetenhaus mit heftigen Schmähungen über­ häufenden Erläuterungen der ministeriellen Zeitung, in welchen die einzelnen

*) So in der ersten Veröffentlichung in den Berliner Zeitungen vom 15. März 1862. Zn späteren Abdrucken des Aufrufs waren noch folgende Namen eingesügt: Bender (Catharinenhof bei Königsberg); Bresgen (Lautershoven bei Ahrweiler). Classen-Cappelmann (Cöln); Hofsmann (Breslau); Laßwitz (Breslau); Löwe genannt Meyer von Wachtrup (Laemmershagen bei Bielefeld); Phillips (Elbing); Max Simon (Breslau); Stephann (Martinskirchen bei Mühlberg); Velthusen (Lyck).

60

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

Fragen, wie die der Geldbewilligung und der Militärvorlagen für unter­ geordnet erklärt und statt dessen die Unterstützung aller konservativen Elemente aufgerufen wurde, um die Rechte der Krone zu wahren und nicht zuzugeben, daß der Kraft des königlichen Regiments zu Gunsten einer so­ genannten parlamentarischen Regierung Abbruch geschehe oder daß der Schwerpunkt der staatlichen Gewalt von der Krone in die Volksvertretung verlegt werde. Es fragte, welche Artikel der Verfassung das Abgeordneten­ haus verletzt, welche Rechte es angegriffen haben solle. Nicht wohlgethan sei es, daß das Ministerium, wie die Kreuzzeitungspartei stets gethan habe, die gesetzlich berufenen Wähler und Abgeordneten des preußischen Volkes nach ihrer Gesinnung in Wohlmeinende und Uebelwollende, in Verfassungs­ freunde und Verfassungsfeinde scheide. „Es ist kein Vergehen gegen die Krone und kein Eingriff in ihre Rechte, Anforderungen der Regierung ab­ zulehnen oder zu begrenzen, über deren Bewilligung die Volksvertretung nach Pflicht und Gewissen zu entscheiden hat."

Der Aufruf schloß mit einem Appell an das Volk: „Das preußische Volk hat Vertreter gewollt, die mit der vollen Ehrfurcht vor der Person und den Rechten des Königs eine feste und unabhängige Gesinnung und ein lebendiges Gefühl von ihren Pflichten gegen das Land zu vereinigen wissen. Wir erwarten, es wird die Männer nicht im Stiche lassen, die in diesem Sinne ge­ handelt. Preußen steht abermals an einem Scheidewege. Wir müssen uns wenden nach rückwärts oder nach vorwärts, vielleicht für lange Zeit. Wir hoffen, das preußische Volk wird sich nicht irre machen lassen, sondern fest und besonnen sein Recht üben und durch die neuen Wahlen erhärten, daß es nicht in augenblicklicher Erregung, sondern in ernster Entschlossenheit die freiheitliche Entwickelung Preußens will. Ein entschiedenes Festhalten an dem verfassungsmäßigen Recht, an der Wahr­ heit der konstitutionellen Einrichtungen, an der Nothwendigkeit des Fortschritts wird die uns auferlegte Prüfungszeit verkürzen, die letzten Aussichten der Reaktion zer­ stören und die Einigkeit zwischen Volk und Regierung wiederherstellen, welche nur zum Verderben des Vaterlandes unterbrochen werden tarnt/*)

Der Wahlkampf, der im Frühjahr 1862 in Preußen ausgefochten wurde, zeichnete sich durch starke Betheiligung der Wahlberechtigkeiten, so­ wie durch die Freudigkeit aus, mit der die liberalen Wähler trotz der ihnen drohenden Maßregelungen und Strafen öffentlich Zeugniß ablegten für das Recht der geschmähten und verleumdeten Volksvertretung. Schon die Nachrichten von dem Ausfall der am 28. April stattgefundenen Wahl­ männerwahlen in den größeren Städten bezeugten eine so vollständige Nieder-

*) Dieser Aufruf trug nur die Ueberschrift: Nr. II. Das Zentralwahlkomits der deutschen Fortschrittspartei erließ sodann noch folgende Flugblätter, von denen jedes am Kopfe als Flugblatt des Komite's mit römischer Ziffer bezeichnet ist: Nr. III. Spart im Frieden, daß Zhr stark im Kriege seid! Ein Wort an die Wähler in Stadt und Land. Nr. IV. Der Hagen'sche Antrag. Nr. V. Warum wir nicht konservativ wählen dürfen. Ein Wort an die preußischen Wähler. Nr. VI. Zur Militairfrage. Nr. VII. An die Urwähler der Landgemeinden. Nr. VIII. An die Wähler aus dem Beamten- und dem Lehrerstande. Nr. IX. Um was es sich handelt. Ein Wort an die unabhängigen Wähler und Wahlmänner.

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

61

läge der Regierung, daß die offiziöse Sternzeitung noch vor den Abgeordneten­ wahlen ein wenig einlenken mußte, sie schob die Schuld auf den Zwiespalt „der dem monarchischen System aufrichtig ergebenen Elemente" oder doch auf das „lose Nebeneinanderwirken der Kräfte, welche nur durch ein festes Bündniß eine sichere Stütze für das verfassungsmäßige Königthum in Preußen bilden können"; sie habe nie aufgehört, die Liberal-Konstitutionellen als einen Bestandtheil der zur Abwehr des Demokratismus berufenen Ordnungspartei zu betrachten", nicht „an den altbewährten Führern, sondern an den jüngeren, ungezügelten Streitkräften der Liberalen" liege die Hauptschuld, wenn es trotz vielfacher Bemühungen gemäßigt konservativer Männer nicht gelungen sei, „ein würdiges Bündniß beider Parteigruppen zu erzielen, um durch vereinte Kraft dem Ueberfluthen demokratischer Bestrebungen einen Damm entgegenzustellen."

Das Ergebniß der Wahlen vom 6. Mai selbst war noch weit entschiedener, als man erwartet hatte. Keiner der Minister wurde gewählt. Dem Herrn von der Heydt, der seit dem Bestehen der Verfassung fortwährend Ver­ treter seiner Vaterstadt Elberfeld gewesen war, half es nichts, daß er im Wesentlichen die Durchführung des Hagen'schen Antrages und den von dem vermeintlichen großen Finanzmann von Patow für unmöglich erachteten Wegfall der Steuerzuschläge, sowie in dem bekannten Briefe an den Kriegs­ minister eine Ermäßigung des Militärbudgets zugesagt hatte: er fiel in Elberfeld-Barmen durch und mußte dem Generalsteuerdirektor Kühne Platz machen, der seiner Seits den Sitz im ersten Berliner Wahlkreis einem Fortschrittsmanne räumen mußte. Die bisherigen Mitglieder der Fort­ schrittspartei und der Fraktion Böckum-Dolffs wurden sämmtlich wieder­ gewählt. Dagegen verloren die Fraktion Grabow und die katholische Fraktion eine ganze Reihe Sitze an die Fortschrittspartei/) Der Landtag war am 19. Mai eröffnet worden. Bereits am 22. Mai ging die Fraktion Grabow auseinander — und damit die altliberale Partei Preußens und Deutschlands zu Grabe. Der Todtengräber war — Georg von Vincke, der in Pr. Stargardt-Behrend, einem Wahlkreis mit 51 Prozent Katholiken und 49 Prozent Kassuben, an Stelle eines Klerikalen gewählt war. Den Anlaß zur Auflösung der unter dem Ministerium AuerswaldSchwerin ministeriellen Fraktion Grabow gab die Erörterung der Frage, ob man ein Einvernehmen blos mit dem linken Zentrum, oder auch mit der Fortschrittspartei erstreben solle. Die erstere Ansicht vertrat Vincke mit einigen unverbefferlichen Gothaern, das letztere hatte Grabow selbst

*) In Berlin waren alle Fortschrittsmänner wiedergewählt, für den altliberalen Kühne im ersten Bezirk der fortschrittliche Kammergerichtsrath von Herford. Eine Nachwahl fand im zweiten Bezirk statt, da der Regierungsrath Krieger (seit 1866 nationalliberal, zuletzt Reichstagsabgeordneter für das Herzogthum Lauenburg, jetzt Provinzialsteuerdirektor in (Stettin) auch in Jüterbogk-Luckenwalde, dem einzigen 1861 von den Konservativen behaupteten Wahlbezirke der Provinz Brandenburg, gewählt war und hier annahm. An seiner Stelle ward vom II. Berliner Wahlbezirk zuerst Dr. Johann Jacoby in Königsberg i. Pr., und als dieser ablehnte, der einzige durchgefallene Fortschrittsmann des aufgelösten Abgeordnetenhauses, Rittergutsbesitzer Bauck-Jagertow, vorher Abgeordneter für Neustettin-Belgard, gewählt.

62

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

beantragt. Die große Mehrheit entschied sich für den Antrag Grabow's. Nun verließ Vincke die Fraktionsversammlung und viele bisherige Mitglieder erklärten, sich die Entscheidung über den Beitritt zu der neuzukonstituirendm Fraktion vorbehalten zu müssen. Unter diesen Umständen erklärte Grabow die Führung nicht übernehmen zu können. Grabow wurde am folgenden Tage mit 276 von 288 Stimmen zum Präsidenten des Abgeordnetenhauses erwählt, er kämpfte fortan mit unerschütterlicher Festigkeit an der Spitze der verfasiungstreuen Opposition gegen die verfassungswidrigen Maßnahmen der Regierung. Die Mitglieder und Gesinnungsgenosien der vormaligm Fraktion Grabow (65 statt 1861: 95) trennten sich in drei fast gleiche Theile: der linke Theil, darunter v. Diederichs, Wachler, Gringmuth, Züngkm (22) ging zur Fraktion von Böckum -Dolffs; der rechte Theil, darunter die Exminister v. Auerswald, v. Patow, Graf Schwerin, ferner beide v. Vincke, v. SauckenZulienfelde, Kühne, Sänger, Simson, Schubert (23) bildeten die „Fraktion der Konstitutionellen" oder die Fraktion v. Vincke, und der mittlere Theil, darunter Lette, v. Benda, v. Rönne-Glogau (20 einschließlich Grabow's) bildete den „freien parlamentarischen Verein" oder die Fraktion v. Rönne. Die im Laufe der Legislaturperiode erledigten liberalen Sitze wurden meist mit Männern entschiedenerer Richtung besetzt, so daß im Frühjahr 1863 der Parteibestand folgender war:

I. Konservative Fraktion, ausschließlich eines Wilden, 12 (1861: 15). II. Katholische Fraktion 32 (1861: 54). III. Konstitutionelle Fraktion oder Fraktion v. Vincke, einschließlich zweier Wilden 24. IV. Freier parlamentarischer Verein oder Fraktion Rönne einschließlich Grabow's 19. V. Linkes Zentrum oder Fraktion Böckum-Dolffs einschließlich vier Wilder 101 (1861: 52). VI. Deutsche Fortschrittspartei 141 (1861: 109). VII. Polnische Fraktion 23 (1861: 23). Die große Mehrheit, welche jetzt Fortschrittspartei und linkes Zentmm besaßen, zeigte sich sofort bei der Präsidentenwahl (23. Mai), Grabow wurde fast einstimmig — mit 276 von 288 Stimmen, Behrend-Danzig zum ersten, von Bockum-Dolffs zum zweiten Vizepräsidenten mit sehr großer Mehrheit (beziehungsweise mit 226 von 286 und 235 von 277 Stimmen) gleich im ersten Wahlgange gewählt. Sie blieben sämmtlich die beiden Konflikts-Legislaturperioden hindurch in ihren Aemtern, nur daß 1864, als Behrend-Danzig sein Mandat niederlegte, an seiner Stelle der Präsident der 1848er Nationalversammlung zu Berlin, von Unruh, erster Ähepräsident wurde. Letzterer hatte früher ein Mandat abgelehnt, und war erst 1863 für den Zunglithauer Houffelle, der aus Gesundheitsrück­ sichten abtrat, in Elbing gewählt. Die Hoffnung des Landes, durch die in den Wahlen gegebene ent­ schiedene Antwort auf die Auflösung des Abgeordnetenhauses, das konser­ vative Ministerium zu beseitigen, ging nicht in Erfüllung. Die Budget­ kommission unter dem Vorsitz von Bockum-Dolffs (Stellvertreter

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

63

Behr end-Danzig), sonderte beim Militäretat die Kosten der Reorgani­ sation von den übrigen Ausgaben, beantragte, sie in das Extraordinarium zu setzen und zu streichen. ' Diese Taktik war in gemeinschaftlichen Be­ rathungen der beiden Fraktionen mit großer Mehrheit beschlossen. Am 16. September 1862 ward der erste dahin gerichtete Kommissionsantrag (Referent Major Baron von Baer st, Fortschr., später nat.-lib., Kor­ referenten von Stavenhagen, von Forkenbeck, Behrend, Harkort und Hermann-Schönebeck) mit 273 gegen 68 Stimmen angenommen, nachdem ein Bermittelungsantrag von Reichensperger verworfen war.*) Zur Minorität gehörten sämmtliche Konservative, die Fraktion v. Vincke, die Fraktion v. Rönne einschließlich Grabows, aber mit Ausnahme der Abgeordneten von Leipziger, zur Megede und Stägemann, sodann zehn von den Katholiken, darunter beide Reichensperger und von Mallinckrodt, der altkatholisch gewordene Professor Dr. Menzel in Braunsberg und Graf Renard (unter der Mehrheit befanden sich Dr. Krebs und Kammergerichtsrath Rohden), ferner zwei Abgeordnete vom linken Zentrum, der General z. D. Stavenhagen und der Professor von Sybel, endlich einer von der Fortschrittspartei — Stadtgerichtsrath Twesten.

Der 16. September 1862 war strenggenommen der Geburtstag des Verfaffungsstaates Preußen. Das Votum einer unerschütterlich festen Mehrheit der Volksvertretung vom 16. September 1862 erzwang die dauernde Anerkennung des bis dahin völlig ignorirten Budgetrechts für Preußen — und für Deutschland. Am 19. September traf Herr von Bismarck-Schönhausen in Berlin ein; am 23. September fand die Schlußabstimmung über das Militärbudget statt, am 24. September erhielt von der Heydt die Ent­ lassung und Bismarck die Ernennung zum Staatsminister. Bismarck stieß berechtigter Weise auf Mißtrauen; er mochte den guten Willen haben, eine Einigung mit der Mehrheit des Abgeordnetenhauses zu bewerkstelligen — der Olivenzweig, den er in Avignon für die Fortschrittspartei gepflückt haben wollte, und von dem er in der ersten Sitzung der Budgetkommission scherzend seinem fortschrittlichen Nachbar erzählte, spricht dafür; aber da ihm das Verständniß für dasjenige Pflichtgefühl abging, mit welchem die Volks­ vertreter jener Tage vollbewußt in den Kampf um das Recht des Landes eintraten, so fehlte es an aller und jeder Möglichkeit, die Grundlage zu einem Ausgleich zu ermitteln. Den Muth und die Standhaftigkeit der ihm gegenüberstehenden Männer unterschätzend, gerieth er immer tiefer in Expe­ rimente hinein, um sie unschädlich zu machen, oder ihren Einfluß auf das *) Daß das Abgeordnetenhaus den Beschluß in vollem Bewußtsein seiner Trag­ weite faßte, dafür bürgt die einfache Thatsache, daß das Haus so vollzählig war, wie es niemals vorher und nachher gewesen ist. Von 350 Mitgliedern (zwei Mandate waren erledigt) stimmten 341. Unter den 11 mit und ohne Urlaub fehlenden 9 be­ fanden sich 7 Polen; außerdem fehlte beurlaubt ein Konservativer und ohne Ent­ schuldigung ein farblos liberaler Wilder. Das eine erledigte Mandat betraf den Wahlkreis Militsch-Trebnitz, dessen Vertreter Staatsanwalt Koch (linkes Zentr.) sich am 11. September in Verzweiflung darüber, daß er zu keinem Entschluß über die Abstimmung in der Militärfrage kommen konnte, das Leben nahm.

64

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

Volk und die Staatsleitung zu brechen. Das Herrenhaus und die Behörden, bald auch der höchste Gerichtshof des Landes wurden aufgeboten, ihm in diesem eben so schädlichen wie schließlich vergeblichen Bemühungen Beistand zu leisten. Dabei sank Preußens Ansehn und Einfluß in Deutschland und im Auslande von Monat zu Monat. Der Besonnenheit und der Ausdauer der Männer, die in diesen schweren inneren Kämpfen als die Führer der deutschen Fortschrittspartei anzusehen waren, — wir nennen nur Waldeck, Schulze-Delitzsch, Virchow, Freiherr Hoverbeck, Twesten, v. For­ ke nb eck — war es allein zu danken, wenn diese Periode ohne dauernde Benachtheiligung der Nation vorüberging. Wir wollen hier die Ereignisse derselben nur kurz berühren. Nachdem das Abgeordnetenhaus mit 251 gegen 36 Stimmen auf Forkenbecks Antrag es für verfassungswidrig erklärt hatte, wenn die Staatsregierung über eine vom Abgeordnetenhause abgelehnte Ausgabe ver­ füge (7. Oktober), nahmen die Minister Graf Bernstorfs und v. Holzbrinck den Abschied (9. Oktober). Das Herrenhaus lehnte das vom Ab­ geordnetenhaus beschlossene Budget ab und nahm das Budget an, wie es dem Hause vorgelegt war (11. Oktober). Einstimmig erklärte das Abgeord­ netenhaus, der Beschluß des Herrenhauses verstoße gegen den klaren Sinn und Wortlaut der Verfassung und sei deshalb null und nichtig (13. Okt.). Am selbigen Tage ward der Landtag geschlossen. Noch in demselben Monat begann die Verfolgung der zur parlamentarischen Opposition gehören­ den Beamten. Der Vorsitzende der Budgetkommission Ober-Regierungsrath von Böckum-Dolffs wurde im Interesse des Dienstes von Coblenz nach Gumbinnen versetzt und der fortschrittliche Staatsanwalt Oppermann zur Disposition gestellt. Das vormalige Zentral-Wahlkomite der Fortschritts­ partei forderte öffentlich auf, einen Nationalfond zu sammeln zur Schadlos­ haltung derjenigen Abgeordneten, welche in dem Verfassungskampf Ver­ folgung erlitten (24. Oktober). Am 9. Dezember 1862 ward das Mini­ sterium vervollständigt: Graf Eulenburg trat als Minister des Innern, von Selchow als landwirthschaftlicher Minister ein. Am 19. Zanuar 1863 ward der Landtag wieder eröffnet. Eine Adresse des Landtags, angenommen mit 255 gegen 68 Stimmen, erhob Klage über die Verletzung der Verfaffung und forderte Rückkehr zu verfassungsmäßigen Zuständen; sie wurde schriftlich ohne Gegenzeichnung der Minister in scharf abfertigender Weise beantwortet. Die Session fand ein gewaltsames Ende. Der Kriegsminister von Roon wollte sich von dem den Vorsitz führenden Vizepräsidenten von Bockum-Dolffs nicht unterbrechen lassen, und nöthigte denselben, durch Aufsetzen des Hutes die Sitzung zu schließen (11. Mai); die Minister machten sodann ihr weiteres Erscheinen von der Zusicherung einer Nichtwiederkehr des Vorfalles abhängig, das Abgeordneten­ haus erklärte dies (mit 295 gegen 20 Stimmen) für verfassungswidrig und verlangte (auf Antrag Forkenbeck's mit 167 gegen 138 Stimmen) die Gegenwart des Kriegsministers bei der Militärdebatte; das Ministerium blieb bei seiner Weigerung (18. Mai); eine Adresse des Abgeordnetenhauses an den König blieb fruchtlos (22. Mai); — endlich am 27. Mai 1863 erfolgte der Schluß des Landtages durch eine von Bismarck vorgelesene Strafrede.

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

65

Präsident Grabow hatte in der letzten Sitzung die Zuversicht aus­ gesprochen, daß Preußens Volk, ohne die Bahn der strengsten Gesetzlichkeit auch nur einen Augenblick zu verlassen, in dem heftig entbrannten Verfafsungskampfe sich treu und fest um seine beschworene Verfaffung und seine Vertreter schaaren und das Palladium seiner durch sie erworbenen und vertheidigten Rechte und Freiheiten gegen jede verfassungs­ widrige Oktroyirung heilig halten und schützen werde. Die Abgeord­ neten'waren noch kaum zu Hause angelangt, da war die verfassungswidrige Oktoyirung schon da, in der Preßordonnanz vom 1. Juni 1863, welche das Forterscheinen einer Zeitung lediglich vom Belieben der Regierung abhängig machte. Am 3. September erfolgte die Auflösung des Ab­ geordnetenhauses.

Das Zentral -Wahlkomito der deutschen Fortschrittspartei 12. September 1863 folgenden Wahlaufruf:

erließ

am

An die preußischen Wähler. Das Haus der Abgeordneten ist aufgelöst, die Neuwahlen sind angeordnet, wahrscheinlich in kürzester Zeit wird an alle wahlberechtigte Preußen die Aufforderung ergehen, das wichtigste Recht zu üben, welches dem Einzelnen durch die Verfaffung verliehen ist, das Recht, seine Stimme abzugeben zur Wahl der Volksvertreter. Selten ist ein Volk in einer ernsteren Zeit aufgerufen worden, sein Urtheil zu sprechen über die Männer seines Vertrauens und damit einzugreifen in die künftigen Geschicke seines Vaterlandes. Schon durch drei Sessionen zieht sich ein schwerer, in jeder neuen Session verstärkter Streit über die wichtigsten Verfassungsrechte. Das zweite Jahr neigt sich seinem Ende zu, ohne daß der Staatshaushaltsetat verfaffungsmäßig festgestellt, ohne daß das Ausgabebewilligungsrecht des Abgeordnetenhauses im Sinne der Verfassung, im Sinne der durch zwei frühere Wahlen unzweifelhaft festgestellten Mehrheit des Volkes zur Geltung gekommen wäre. Die Veränderung der Heereseinrichtung ist fast durchgeführt, ohne daß eine gesetzliche Vereinbarung über.die. Grundlagen derselben erreicht und. ohne .daß die dazu nothwendigen. Aus­ gaben von der Landesvertretung bewilligt wären. Das in der Verfassung verheißene und von dem Abgeordnetenhause geforderte Gesetz über die Verantwortlichkeit der Minister wurde von der Regierung abgelehnt. Die Session wurde endlich geschlossen, als das Haus der Abgeordneten sich verpflichtet fühlte, vor Sr. Majestät dem Könige ehrfurchtsvoll zu erklären, daß es kein Mittel der Verständigung mehr mit dem Ministerium habe, daß es seine Mitwirkung zu der gegenwärtigen Politik der Regierung ablehnen müsse. Kaum war der Schluß des Landtages erfolgt, als auch schon die verfaffungsmäßig bei uns bestehende Preßsteiheit durch die Verordnung vom 1. Juni dieses Jahres auf das Schwerste getroffen wurde. Unter Berufung auf einen Artikel der Verfassung, welcher für Fälle eines ungewöhnlichen Nothstandes und wenn die Auf­ rechterhaltung der öffentlichen Sicherheit es dringend erfordert, in Abwesenheit des Landtages gestattet, daß unter Verantwortlichkeit des gesammten Ministeriums Ver­ ordnungen, die der Verfassung nicht zuwiderlaufen, mit Gesetzeskraft er­ lassen werden, ist ein System der Verwarnungen eingeführt worden, welches den freien Meinungsausdruck in den liberalen Zeitungen unmöglich und die Existenz derselben von ihrem Schweigen oder von dem Willen der Regierung abhängig macht. Inzwischen sind die äußeren Gefahren, auf deren Herannahen das Haus der Parisius. 5

66

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

Abgeordneten schon lange und oft aufmerksam gemacht hatte, immer drohender hervor­ getreten. Ohne die Mitwirkung Preußens, ohne die Theilnahme des deutschen Volkes haben die deutschen Fürsten getagt, um eine neue Verfassung des deutschen Bundes zu berathen, in welcher weder Preußen noch das deutsche Volk die Stellung finden würden, welche sie nach geschichtlichem und natürlichem Recht für sich in Anspruch nehmen können und müssen. Die Minister haben vor Sr. Majestät und dem Lande erklärt, daß es die unverkennbare Absicht dieser Bestrebungen sei, dem preußischen Staate diejenige Machtstellung in Deutschland und in Europa zu verkümmern, welche das wohlerworbene Erbtheil der ruhmvollen Geschichte unserer Väter bildet, und welche das preußische Volk sich nicht streitig machen zu lassen, jederzeit entschlossen gewesen sei. Sie halten es für ein Bedürfniß unseres Volkes, bei den bevorstehenden Neuwahlen der Thatsache Ausdruck zu geben, daß keine politische Meinungsverschieden­ heit in unserem Lande tief genug greife, um, gegenüber einem Versuche zur Beein­ trächtigung der Unabhängigkeit und Würde Preußens, die Einigkeit des Volkes in sich und die unverbrüchliche Treue zu gefährden, mit welcher dasselbe seinem ange­ stammten Herrscherhause anhängt. Wir, die wir dem Zentral-Wahlkomite der deutschen Fortschrittspartei von An­ fang an angehört haben, dürfen mit gutem Gewissen behaupten, daß es zu diesem Zwecke eines neuen Abgeordnetenhauses nicht bedurft hätte. Das Programm vom 9. Juni 1861, auf welches hin sich unsere Partei gebildet hat und welchem wir niemals untreu geworden sind, trägt an seiner Spitze folgende zwei Sätze: „Wir sind einig in der Treue für den König und in der festen Ueberzeugung, daß die Verfassung das unlösbare Band ist, welches Fürst und Volk zu­ sammenhält" „Bei den großen und tiefgreifenden Umwälzungen in den Staatensystemen Europa's haben wir aber nicht minder die klare Einsicht gewonnen, daß die Existenz und die Größe Preußens abhängt von einer festen Einigung Deutsch­ lands, die ohne eine starke Zentralgewalt in den Händen Preußens und ohne gemeinsame deutsche Volksvertretung nicht gedacht werden kann." Diesem Programm hat unsere Partei in und außer dem Parlament mit Hin­ gebung nachgestrebt. Wenn ihr jetzt der Vorwurf gemacht wird, daß sie in die ver­ fassungsmäßigen Rechte der Krone einzugreifen versucht habe, so kann sie sich ruhig auf das Urtheil der ganzen Welt berufen, welche ihr das Zeugniß giebt, daß sie mit Mäßigung und Geduld das verfassungsmäßige Recht des Landes vertheidigt, daß sie nie und nimmer den Boden des Gesetzes verlassen hat. In der auswärtigen Politik hat sie mit Anstrengung dahin gestrebt, unser Land vor gefährlichen Verwickelungen zu bewahren, und auf dem einzigen Gebiete, wo es ihr verstattet war, auf gleichen Wegen mit der Regierung zu wandeln, auf dem der Handelsgesetzgebung', hat sie bereitwilligst das Ministerium unterstützt, selbst zu einer Zeit, wo dieses schon das oberste Recht der Landesvertretung, das der vorgängigen Bewilligung aller Ausgaben, thatsächlich außer Kraft gesetzt hatte. Ihre Anstrengungen sind, nicht durch ihre Schuld, vergeblich gewesen. Das deutsche Volk wendet sich theilnahmlos von einem Staate ab, der die eigene Verfassung nicht auszubauen, der die innere Freiheit nicht zu sichern vermag, und selbst die große nationale Sache des Zollvereins droht zu scheitern, weil das materielle Interesse durch die Antipathieen gegen die preußische Regierung übertönt wird. An Euch, Wähler, ist es, die Sympathieen Deutschlands dem preußischen Staate wiedergewinnen zu helfen. Nicht die unsicheren Bündnisse mit mächtigen Nachbar-

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

67

staaten, nicht die drohende Sprache diplomatischer Noten, nicht die Größe des stehen­ den Heeres, werden unserem Lande die äußere Machtstellung fichern, deren es bedarf, um seine geschichtliche Bedeutung zu erhallen und seine große Aufgabe in Deutsch­ land zu lösen. Der Geist des Volkes ist es, der seine Geschichte macht, und gleich wie die ruhmvolle Erhebung unserer Väter aus tiefster Erniedrigung zu freier opferfreudiger That Preußen auf den Platz in der Reihe der europäischen Staaten gestellt hat, welchen es fast ein halbes Jahrhundert hindurch behauptete, so wird das gegenwärtige Geschlecht nur durch zähes Festhalten am erworbenen Recht, durch muthiges Einstehen für Gesetz und Verfassung, durch treue Erfüllung jeder Bürgerpflicht dem Lande die Freiheit, dem Herrscherhause eine glorreiche Zukunft, dem Staate die Anerkennung des Auslandes, die Bundesgenossenschaft der deutschen Stämme erringen.

Wir sind überzeugt, daß das preußische Volk auch bei den bevorstehenden Neu­ wahlen seine Festigkeit aufs Neue bewähren wird. Es wird auch diese Probe bestehen, so schwer sie vielleicht auch werden, so herbe Opfer sie kosten mag. Denn es hat schon schwerere Proben bestanden. Es kann nicht vergessen, daß es die Sache der verfaffungsmäßigen Monarchie, die Sache der deutschen Einheit ist, welche es durch­ zukämpfen hat, und daß der Sieg nur zu erringen ist unter dem Banner des ver­ fassungsmäßigen Rechtes, unter dem Zeichen der Freiheit. Nur ein freies und in sich einiges Preußen kann auch dem deutschen Vaterlande das ersehnte Gut der Frei­ heit und der Einheit bringen. Darum, Wähler, seid zunächst Ihr frei, einig und stark, vergesset nicht, daß es heilige Güter sind, welche in Eure Hände gelegt sind und daß Ihr vielleicht auf lange die Geschicke unseres Landes bestimmen werdet. Die Forderungen, welche die liberale Partei des künftigen Abgeordnetenhauses zu stellen hat, sind durch die bisherigen Kämpfe zu Aller Bewußtsein gelangt. Es sind die folgenden:

1. Volle Freiheit der Presse und demnach unverzügliche Beseitigung der Ver­ ordnung vom 1. Juni d. I. . 2.. Nusfühxung de.s in dyr Verfassung zug^sagten.Gesetzes üher die Uergntyiortlichkeit der Minister.

3. Thatsächliche Anerkennung des Ausgabebewilligungsrechtes des Abgeordneten­ hauses. 4. Reform des Herrenhauses.

5. Ein Heer auf volksthümlicher Grundlage mit zweijähriger Dienstzeit. 6. Deutsches Parlament aus freier Volkswahl.

Das sind Forderungen, in welche jeder ehrliche Freund der verfassungsmäßigen Monarchie jeder wahre deutsche Mann mit vollem Herzen einstimmen muß. Es sind aber auch die Forderungen, ohne deren Erfüllung die Zukunft unseres Landes und unseres Herrscherhauses jedem Zufalle der äußeren Ereignisse preisgegeben ist. Die Zeit drängt. Daher eilt Euch, in jedem Kreise Euch vorzubereiten für den Wahlkampf, der diesesmal unter soviel mehr erschwerten Formen stattfinden wird, bei dem das wichtige Mittel der Verständigung durch die Zeitungspresse uns fehlt. Zeigt durch unabhängige Wahlen, daß ihr reif seid für verfassungsmäßige Freiheit, daß Preußen es verdient, unter den Verfassungsstaaten Europa's seinen Platz zu nehmen! Zeigt, daß auch ohne freie Presse ein mündiges Volk Vertreter zu finden weih, welche für seine Unabhängigkeit, für seine Ehre unerschrocken einzustehen wissen!

5*

68

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

Aber versäumet nicht bei Zeiten Euch zu verständigen, damit Ihr einig dasteht am Tage der Entscheidung, die nahe bevorsteht. Berlin, 12. September 1863. Delbrück. F. Duncker. Elster. Forstmann. Hoffmann (Ohlau). Ko.chhann. Langerhans. Laßwitz. Loewe. Lüning, v. Meibom. Michaelis. Mommsen. Parisius (Gardelegen). Paur. Runge. Schulze (Delitzsch). Taddel. Twesten, v. Unruh. Virchow. Zabel.*)

„Das Ergebniß aller Berathung ist die Auflösung der Kammer gewesen, zu der ich kein Herz hatte. Aber es ging nicht anders; Gott weiß, wozu es gut ist. Nun geht der Wahlschwindel los." So hatte von Bis­ marck am 4. September 1862 seiner Frau geschrieben. Der „Wahl­ schwindel" war diesmal für viele tausende von liberalen Staats- und Kommunalbeamten, Lehrern und Geistlichen recht, recht ernsthaft. An sie trat die Frage heran, wie sie sich den verfassungswidrigen Anforderungen ihrer Vorgesetzten gegenüber verhalten sollten, ob sie bei der pflichtmäßigen Ausübung ihrer verfassungsmäßigen Rechte nach gewissenhafter Ueberzeugung verharren dürften, auf die Gefahr hin, sich um jede Aussicht auf Beförde­ rung, ja um Amt und Brot zu bringen und ihre Familien, — Frau und Kinder in Noth und Elend zu stürzen. Heuchelei und Liebedienerei ge­ diehen, Streber aller Art, selbst unter den Richtern, wurden wegen ihrer Leistungen nach den Wünschen der Herren Minister vor denjenigen bevor­ zugt, die keine solche Thaten aufzuweisen hatten. Eine Zählung der im ganzen Staate während der Konfliktszeit wirklich gemaßregelten liberalen Beamten würde sicher mehr als tausend ergeben.**)

Trotz der äußersten Anstrengungen der Regierung, ihrer Organe und der feudalen Partei, ward eine wesentliche Aenderung in der Zusammen­ setzung des Abgeordnetenhauses nicht durchgesetzt. Nur die Altliberalen und das katholische Zentrum erlitten wesentliche Einbuße, hauptsächlich zu Gunsten der Konservativen, die von einem Dutzend bis auf 38 stiegen. Der „parlamentarische Verein" löste sich auf; die wiedergewählten Mit­ glieder traten in das linke Zentrum, zu dem fortan auch Grabow ge­ rechnet wurde. Wenn man die wenigen Wilden je nach ihrer Gesammthaltung den Konservativen oder dem linken Zentrum zurechnet, war der Bestand der Fraktionen folgender:

I. Konservative Fraktion 38.

*) Unter den Unterzeichnern des Aufrufes waren fünf Beamte; die drei Richter Forstmann, Parisius und Twesten wurden zur disziplinarischen Untersuchung gezogen; die Professoren Mommsen und Virchow — Gelehrte von Weltruf — zu maßregeln, mochte bedenklich erscheinen, man ließ sie ungeschoren. **) An gemaßregelten oder disziplinirten Beamten, die dem Abgeordnetenhaus angehörten, zähle ich mindestens 20, die Oberregierungsräthe von Böckum-Dolffs und von Diederichs, die Regierungsräthe Haacke, Seubert, Ziegert und Krieger wurden „im Interesse des Dienstes" nach Osten versetzt; die Staatsanwälte Oppermann und Schröder und der Landrath zur Megede wurden zur Dis­ position gestellt; von Richtern erster Instanz wurden im Disziplinarwege Aßmann, Blochmann, Bassenge, Calow, Forstmann, Frommer zur Strafversetzung, Groote, von Lyskowski, Parisius zur Absetzung verurtheilt.

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

69

II. Katholische Fraktion 26 (v. Mallinckrodt und August Reichensperger fehlten, Peter' Reichensperger stimmte fast durchgängig ministeriell). III. Konstitutionelle Fraktion 9. IV. Linkes Zentrum 110. V. Deutsche Fortschrittspartei 143. VI. Polnische Fraktion 26.*)

Der Landtag wurde am 9. November 1863 eröffnet. Am 19. November versagte das Abgeordnetenhaus der Preßordonnanz vom 1. Zuni (mit 278 gegen 39 Stimmen) die Genehmigung und erklärte sie (mit 269 gegen 46 Stimmen — darunter Reichensperger, Haanen und noch 7 Klerikale) ihrem Inhalte nach der Verfassung zuwiderlaufend. Wenige Tage zuvor (15. November) war indeß ein Ereigniß eingetreten, deffen Folgen dem Ministerpräsidenten Bismarck Gelegenheit gaben, den Beweis zu liefern, daß die Opposition seine staatsmännische Befähigung und seine nationale Gesinnung weit unterschätzte. Der König Friedrich VII. von Dänemark war gestorben, mitten in der Arbeit, die dauernde Vereinigung SchleswigHolsteins mit Dänemark sicher zu stellen trotz der vom deutschen Bund beschloffenen Exekution. Das bisherige Verhalten der preußischen Regie­ rung in der schleswig-holsteinischen Frage hatte wesentlich dazu beigetragen, die durch den Nationalverein in alle deutsche Gauen hineingetragene Be­ wegung für die Einigung Deutschlands unter preußischer Führung in das Gegentheil zu verkehren. Gegen den Nationalverein hatten sich die groß­ deutschen Elemente der Mittel- und Kleinstaaten schon 1862 zu einem deutschen Reformverein verbunden. Ebenso begannen bereits damals die mittelstaatlichen Regierungen und 1863 Oesterreich „die Lösung der deutschen Frage" in einem der preußischen Führung feindlichen Sinne anzustreben. Der Fürstenkongreß im Herbst 1863 war ohne Preußen abgehalten; jetzt fand plötzlich zwischen der österreichischen und preußischen Regierung eine Einigung über die Erledigung der schleswig-holsteinischen Angelegen­ heit im Sinne des Londoner Vertrages statt, also entgegen der' nationalen Bewegung, allem Anschein nach in der Absicht, die Herzogthümer wieder unter das dänische Joch zu beugen. Wir begnügen uns hier, darauf hin­ zuweisen, daß das preußische Abgeordnetenhaus, wie fast das ganze liberale Deutschland von vornherein von der festen Ueberzeugung ausging, die Loslösung Schleswig-Holsteins von Dänemark sei unzertrennlich von der Errichtung der Augustenburger Monarchie. Auf Antrag der Abgeordneten Stavenhagen und Virchow beschloß das Abgeordnetenhaus mit 231 gegen 63 Stimmen zu erklären: die Ehre und das Zntereffe Deutschlands erforderten es, daß sämmtliche deutsche Staaten den Erbprinzen von Schleswig-Holstein-Augustenburg als Herzog von Schleswig-Holstein in der Geltendmachung seiner Rechte auf die Herzogthümer wirksamen Beistand

*) In Berlin waren gewählt: I. Taddel, RegierungSrath Krieger (anstatt Twesten, der in Waldenburg-Reichenbach gewählt wurde), und Kaufmann Heyl; II. Dr. Joh. Jacoby und Runge; III. Diesterweg und Schulze-Delitzsch; IV. Lüning und Temme. Als der letztgenannte Anfang 1865 sein Mandat nieder­ legte, war an seiner Stelle Lasker gewählt; er trat am 15. März 1865 in das Abgeordnetenhaus ein.

70

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

leisten. Zur Minderheit gehörten Waldeck, Frentzel und 35 Genossen aus der Fortschrittspartei, deren Antrag auf Nichtanerkennung des Dänen­ königs als Herzog von Schleswig und Holstein zuvor mit 264 gegen 37 Stimmen abgelehnt war. Eine Adresse an den König in gleichem Sinne wie der Beschluß vom 2. ward am 18. Dezember mit 207 gegen 107 Stimmen angenommen. Der König ertheilte eine ablehnende Ant­ wort. Für den Augustenburger trat einstimmig eine Versammlung von 491 Mitgliedern der Landesvertretungen sämmtlicher deutschen Staaten zu Frankfurt a. M. ein; sie ernannte einen Sechsunddreißiger-Zentralausschuß „als Mittelpunkt der gesetzlichen Thätigkeit der deutschen Nation für Durch­ führung der Rechte der Herzogthümer Schleswig-Holstein und ihres recht­ mäßigen Herzogs Friedrich VIII." Am 22. Januar 1864 verwarf das Abgeordnetenhaus mit 275 gegen 51 Stimmen die von ihm für die Kosten der in Folge des dänisch-deutschen Streites erforderlichen militärischen Maß­ regeln geforderte Anleihe und legte gegen das Vorgehen der Regierung feierlich Verwahrung ein, und zwar durch eine Resolution, in welcher — freilich nur mit 145 gegen 105 Stimmen — der Erwägungsgrund aus­ genommen war, daß die preußisch-österreichische Politik kein anderes Er­ gebniß haben könne, als das, die Herzogthümer zum zweiten Male an Dänemark zu überliefern. Das Abgeordnetenhaus wurde am 25. Januar geschlossen, nachdem es wie im Jahr zuvor die Bewilligung der Armeereorganisations-Kosten und ebenso eine Novelle zum Militärgesetz mit allen gegen die konservativen Stimmen abgelehnt, auch wie 1862 dem Verfahren des Herrenhauses und des Ministeriums gegenüber den offenen Verfassungsbruch konstatirt hatte. Gegen die ungesetzlichen Wahlbeeinflussungen hatte es sich zu wehren ge­ sucht durch Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission, welche trotzdem die Regierung ihr nach Kräften Hindernisse in den Weg warf, eine große Menge Gesetzesverletzungen thatsächlich feststellte. In der Zwischenzeit bis zum Landtage von 1865 wurden durch die Tapferkeit der preußischen Soldaten und durch die meisterhafte Politik Bismarck's die Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg den Dänen für immer abgenommen und im Wiener Frieden vom 30. Oktober 1864 an Oesterreich und Preußen abgetreten. Zwei Tage darauf verwarf die Generalversammlung des Nationalvereins auf das Entschiedenste die An­ nexion der Herzogthümer an Preußen, trat für das Selbstbestimmungsrecht derselben gleich jenem Sechsunddreißiger-Ausschuß ein und erklärte, daß die Durchführung der als Rechtsboden der Nation wiederholt anerkannten Reichsverfaffung von 1849 so lange unmöglich sei, als die freiheits­ feindliche und undeutsche Richtung der Regierungen in den Einzelstaaten, namentlich in Preußen fortdauere. Eine gründliche Niederlage erlitten die Mittelstaalen und Oesterreich in der Frage des Zollvereins und der Handelsverträge. Die preußische Frei­ handelspolitik, voll und rückhaltlos von dem Abgeordnetenhause unterstützt, setzte es durch Kündigung des Zollvereins durch, daß die Mittelstaaten, welche den französischen Handelsvertrag abgelehnt hatten, sämmtlich sich zur neuen Zollvereinigung meldeten, und selbst Oesterreich auf eine liberale Tarifreform unter Abschluß eines Handelsvertrages einging.

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

71

Der Landtag trat am 14. Januar 1865 zusammen. Von Zugeständ­ nissen der Regierung war keine Rede. Die begründeten Beschwerden über Rechts- und Derfaffungsverletzungen mehrten sich, die Beschwerden über Korruption der höheren Gerichtshöfe traten hinzu (Twesten's Rede vom 20. Mai 1865). Die Budgetkommission des Abgeordnetenhauses erstattete durch die Abgeordneten v. Forkenbeck, Reichenheim, v. Haverbeck, Michaelis und T west en einen eingehenden Vorbericht über die allgemeine Finanzlage, das Haus nahm aus ihren Vorschlag allgemeine Resolutionen an auf Verminderung der Militärlast, Verwendung größerer Summen für produktive Zwecke, Sttomregulirungen, Wegebauten, Landesmeliorationen, für Unterricht und Wissenschaft, für Verbesserung der Gehälter der Lehrer, der Subaltern- und Unterbeamten, des Soldes der Unteroffiziere und Ge­ meinen in der Armee, Ermäßigung drückender Staatslasten, Kontingentirung der Gebäudesteuer, Ouotisirung der Klassen- und Einkommensteuer.

Die von der Regierung vorgelegte Militärnovelle wurde mit 258 gegen 33 Stimmen abgelHnt, die Mehrkosten der Armeereorganisation für 1865

wurden gegen die Stimmen der Konservativen gestrichen. Das Herrenhaus verwarf den Etat, diesmal aber ohne durch Annahme der Regierungsvor­ lage einen verfassungswidrigen Beschluß zu soffen. Zu der auswärtigen Politik des Ministeriums verhielt sich das Abge­ ordnetenhaus vorsichtiger, als in der vorigen Session. Bismarck hoffte augenscheinlich, daß ihm die Opposition in Ansehung des von Dänemark losgerissenen Schleswig-Holsteins ein größeres Vertrauen entgegentragen und ihn dadurch in seinen Plänen unterstützen werde; er forderte einen Kredit zur Befestigung des Kieler Hafens und stellte die Bewilligung des Kredits als wesentlich wirksam für die Erwerbung von Kiel hin. Die liberale Mehrheit des Abgeordnetenhauses hatte zwar das Znteresse für den Augustenburger, an den ein Jahr zuvor die Befreiung der Herzogthümer zu hängen schien, vollständig verloren. Aber sie lehnte alle Anträge ab, die sich über die künftige staatliche Verbindung her Elbherzogthümer mit Preußen nach irgend einer Richtung hin ausließen, indem sie sich auf dm ganz korrekten Standpunkt zurückzog, daß ohne Staatshaushaltsetat keine außeretatsmäßige Bewilligung möglich sei.

Im weiteren Verlaufe des Jahres zeigte sich durch die Beschlüsse des Abgeordnetentages zu Frankfurt a. M. und des Nationalvereins, an denen sich Preußen nur vereinzelt betheiligte, daß man im außerpreußischen Süd­ deutschland, ebensowenig wie in Schleswig-Holstein von der Annexion der Herzogthümer durch Preußen etwas wissen wollte, vielmehr nach wie vor an den Augustenburger, oder wenigstens an das Selbstbestimmungsrecht der Herzogthümer glaubte.

Der Landtag ward 1866 am 15. Januar eröffnet und schon am 23. Februar ungnädig entlassen. Das Abgeordnetenhaus hatte am 3. Fe­ bruar die Vereinigung des Herzogthums Lauenburg mit der Krone Preußens ohne die verfassungsmäßige Zustimmung des Landtages für rechtsungültig (251 gegen 44 Stimmen) und am 10. Februar die gerichtliche Verfolgung der Abgeordneten Tw est en und Fren tzel wegen ihrer Reden im Abge­ ordnetenhause, insbesondere den Beschluß des Sttafsenates des Obertribunals

72

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

für einen die Verfassung verletzenden Eingriff in die Rechte des Abgeord­ netenhauses (263 gegen 35 Stimmen) erklärt.

Das Abgeordnetenhaus wurde am 9. Mai 1866 aufgelöst, als der Krieg unvermeidlich war. In dem Anträge des Gesammtministeriums war ausgesprochen, daß die Mehrheit des Abgeordnetenhauses zwar „Angesichts der Gefahren, welche das Vaterland bedrohen, ihre Hingebung für dasselbe gewiß bereitwillig bethätigen würde;" daß es indeß unter dem Einflüsse anderer Verhältnisse gewählt sei, als die jetzt bestimmend auf die Wähler wirken müßten. Die Stellung der Fortschrittspartei in Preußen war eine überaus schwierige; die großen Fehler, die sie jetzt machte, waren ent­ schuldbar, die gesammte „nationale Partei" Deutschlands, der National­ verein und alles was mit ihm ging, sündigten noch schlimmer, und mit ihm fast das ganze gebildete und nationalgesinnte Bürgerthum der deutschen Mittel- und Kleinstaaten.*) Man protestirte gegen den Krieg, den Bruder­ krieg und suchte hinter dem beim Bundestage gestellte^ Anträge Preußens auf Einberufung eines Parlaments aus direkten Wahlen nach allgemeinem gleichen Stimmrecht behufs Reform der Bundesverfassung (9. April) irgend welche böse und hinterlistige Absichten. Nur ein Theil der alten Demokraten in der Fortschrittspartei, Waldeck, Ziegler und Andere, die stets den freiheitlichen Einheitsstaat — gleich viel auf welchem Wege er erreicht werde — allen bundesstaatlichen Künsteleien bei weitem vorgezogen hatten, alle diejenigen namentlich, die sich zeitig dem augustenburgischen Kleinstaat widersetzt hatten, machten die Proteste gegen den Krieg nicht mit. Je eifriger man im außerpreußischen Deutschland gegen Bismarck's Politik redete und Resolutionen faßte, je

*) Die Ansprache des Ausschusses des Nationalvereins an seine Mitglieder vom 14. Mai giebt ein treues Bild der Volksstimmung. Darin heißt es: „Das Rechts­ bewußtsein der Nation protestirt bis zum letzten Augenblicke gegen die Willkür, welche mit dem Schicksale Deutschlands ein unverantwortliches Spiel treibt. Treu seinem patriotischeu Beruf erhebt der Nationalverein nochmals seine Stimme gegen einen Bruch des deutschen Landfriedens, dessen Schuld wie ein Fluch auf das Haupt seiner Urheber zurückfallen wird. Noch indessen ist nicht jede Aussicht auf ein Einlenken der Kabinetspolitik in die Bahnen des nationalen Rechts und der nationalen Interessen abgeschnitten. Der erste in dieser Richtung zu machende Schritt ist die endliche Lösung der schleswig-holsteinischen Frage. Das wirksamste Mittel zum Zweck wäre ohne Zweifel die unverweilte Einberufung des deutschen Parlaments, als besten Schiedsrichter der streitigen politischen Rechts­ ansprüche." Nun folgt die Ausführung, daß der preußische Antrag vom 9. April dazu nichts tauge. Vor allen Dingen hätte die preußische Regierung ganz andere Beweise von konstitutioneller Gesinnung und Verfassungstreue geben müssen. „So lange die preußische Verfassung ein todter Buchstabe ist, wird unsere Nation niemals an eine deutsche Verfassung glauben, welche ihr von Preußen in Aussicht gestellt wird." . . . Der Nationaiverein „verlangt nach wie vor die Berufung einer nach den Grundsätzen des Reichswahlgesetzes gewählten Nationalversammlung, in welcher allein Deutschland die sichere Gewähr finden wird gegen Bürgerkrieg und Landesverrath, die feste Bürgschaft für die nationale Freiheit, Einheit und Macht." . . . Zuletzt Aufforderung an die Mitglieder bis zur Generalversammlung, „in größeren und kleineren Kreisen durch Wort und That sich zu wehren gegen den Bürgerkrieg und zu arbeiten für unverzügliche Schaffung einer wahren Nationalvertretung, für schleunigste Einberufung des deutschen Parlaments." Am eifrigsten gegen den Krieg war man in Preußen am Rhein, die Kölnische Zeitung voran.

Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis 1866.

73

öfter man dabei allmählich die Regierung und das Volk in einen Topf warf, desto mehr begann sich in Preußen auch auf liberaler Seite ein Umschwung in der Stimmung zu zeigen. Ein Theil der Altliberalen ver­ suchte noch einmal sich als Partei zu geriren, und hielt am 26. April eine Zusammenkunft zu Halle ab. Man sprach sich gegen die einseitigen Friedens­ resolutionen aus, indem man dem Ministerium, wenn es den Weg, durch Berufung eines deutschen Parlaments zu einem sofort zu bestimmenden Tage, die „endliche Lösung der deutschen und der Herzogthümerfrage im nationalen Sinne" zu bewirken, mit Entschiedenheit verfolge, die Zustim­ mung des preußischen Volkes zusicherte, „wie wenig dies auch die innere Politik dieses Ministeriums billigen mag;" auch der Krieg mit Oesterreich, wenn ohne ihn „das große nationale Ziel friedlich nicht zu erreichen," werde vom Volke mit aller Entschlossenheit und Opferwilligkeit ausgenommen werden; „nicht ein solcher Krieg, wohl aber Umkehr auf dem betretenen Wege wäre ein nationales Unglück."

74

Die Entstehung der nat.-lib. Partei; — von 1866 bis 1867.

Viertes Kapitel. Die Entstehung der nationalliberalen Partei; der Landtag von 1866 bis 1867 und der konstitnirende norddeutsche Reichstag.

Mit der Mobilmachung der Armee und der Einberufung der Landwehr hätte die Fortschrittspartei die Friedensdemonstrationen unterlassen sollen. Ziegler und die städtischen Behörden von Breslau (Adresse vom 15. Mai) hatten Recht: in Preußen ist die Demokratie stets, wo die Kriegsfahne weht; in einem Lande mit allgemeiner Wehrpflicht kann und darf es nicht anders sein. — —

Das Zentralwahlkomito der Fortschrittspartei hielt mit öffentlichen Kund­ gebungen zurück. Es hatte den von der Regierung nicht zur Vertheilung zugelassenen Vorbericht der Budgetkommission vom 22. Februar 1866, in welchem von dem Berichterstatter Virchow in meisterhafter Weise die Ge­ schichte des Konflikts dargelegt war, in Leipzig drucken laffen und an die Vertrauensmänner versandt.*) Als die Regierung verfassungswidrig am 16. Mai eine Verordnung oktroirte, nach welcher Darlehnskassen gegründet wurden, die 25 Millionen Thaler Darlehnskassenscheine ausgeben sollten, und allen öffentlichen Kassen die Verpflichtung auferlegt wurde, diese Scheine anzunehmen, verfaßte ein besonders thätiges Mitglied des Komitö's, der Abgeordnete v. Hennig ein Flugblatt „Nehmt kein falsches Geld an!". Das Flugblatt wurde nach Abschwächung der Überschrift ebenfalls außerhalb Preußens gedruckt und verbreitet. Ein anderer nur von einigen Mitgliedern des Komitees unterzeichneter Aufruf ward von den Gegnern wegen der scharfen Ablehnung der Unterstützung des Ministeriums stark angefochten. Als ein offizielles Schriftstück des fortschrittlichen Wahlkomitö's wird man blos ein Zirkular des Stadtrath Runge vom 20. Zuni an­ sehn können, welches als ein letztes Dokument des Wahlkomitö's vor der Spaltung der Fortschrittspartei hier in den wesentlichen Theilen Platz finden mag:

*) Vorbericht der Kommission des Preußischen Hauses der Abgeordneten zur Prüfung des Staatshaushalts über den Gesetzentwurf betreffend die Feststellung des Staatshaushaltsetats für das Jahr 1866. Leipzig, Bernh. Hermann. 1866. 45 Seiten. 8.

Die Entstehung der nat.-lib. Partei; — von 1866 bis 1867.

75

„Stet den bevorstehenden Wahlen hat die konservative Partei mehr als je früher

versucht, Verwirrung in die Reihen unserer Parteigenossen zu bringen, um auf diese

Weise die feste Majorität zu brechen, die ihr gegenübersteht.

Sie benutzt die patrio­

tische Erregung, von der sie wohl weiß, daß sie in den Herzen der Freisinnigen

gerade in einem Moment der Gefahr des Vaterlandes am stärksten sich geltend macht,

um die Wähler womöglich über die Aufgaben zu täuschen, die sie in dieser Wahl zu erfüllen haben.

Daß die Begeisterung für die Herstellung der Deutschen Einheit bei

der Fortschrittspartei, welche sich ausdrücklich die Deutsche nennt, lebendiger sein

muß, als bei derjenigen, welche sie bis jetzt um dieses Enthusiasmus willen verfolgt und verdammt haben, versteht sich von selbst.

Es versteht sich auch von selbst, daß

die Deutsche Fortschrittspartei nicht darum ihr Programm in der Deutschen Frage

ändert oder gar aufgiebt, weil die Regierung jetzt behauptet, dasselbe Ziel anzustreben, das die Deutsche Fortschrittspartei immer verfolgte.

Was sich aber nicht von selbst

versteht, ist die weitere Forderung der konservativen Partei und des Ministeriums,

daß die liberale und die Deutsche Fortschrittspartei nun ohne Rücksicht aus die in der Verfassung vorgesehenen Bestimmungen alle dem Lande zu Gebote stehenden Mittel, wie den ganzen Kredit Preußens, der nur durch die Bewilligung der Volks­

vertretung verwerthet werden kann, demselben Ministerium zur Verfügung stellen

soll, das bis jetzt das Budgetrecht des Abgeordnetenhauses nicht hat zur Geltung

kommen lassen.

Und doch ist es die gewissenhafte und unverkümmerte Ausübung

des Budgetrechts Seitens der Volksvertretung allein, durch welches dem Volkswillen der ihm von der Verfassung zugewiesene Einfluß auf die Regierung verschafft werden kann.

So lange das Recht des Abgeordnetenhauses für Bewilligung der Einnahmen

und Ausgaben des Landes nicht wieder in voller Kraft ist, vermag ein gewissenhaftes

Abgeordnetenhaus überhaupt keine Geldbewilligungen zu machen.

Denn kein gewissen­

hafter Mann kann mit seinem „Ja" dem Lande neue und große Lasten aufbürden

wollen, wenn er weiß, daß seinem „Nein", mit dem er diese Lasten erleichtern will, und das nach dem Gesetz dieselbe Kraft haben soll, als sein „Ja", diese Kraft nicht zuerkannt wird.

Es handelt sich dabei also nicht etwa um eine bloße Rechtsfrage,

deren Entscheidung man auf ruhige Zeiten vertagen könnte, sondern, vielmehr pm.die. einzige Möglichkeit, wie dem Volkswillen ein Einfluß auf die Regierung und ihre

ganze Politik, durch welche doch das Schicksal des Volkes bestimmt wird, verschafft

werden kann. Wir sind in diesen Krieg jetzt hineingekommen lediglich dadurch, daß nach der

Beseitigung des Budgetrechts des Abgeordnetenhauses und seit der Einführung der budgetlosen Regierung dem Volkswillen jede Möglichkeit fehlte, auf gesetzlichem Wege

seinen Einfluß geltend zu machen. gemacht werden,

Das Geschehene kann nicht wieder ungeschehen

und so muß der Krieg jetzt geführt werden,

Weise er auch entstanden sein mag.

auf welche

Wenn wir aber auch durch die Geltendmachung

des Volkswillens im Abgeyrdnetenhause den Krieg nicht mehr zu verhüten vermögen,

so liegt doch die andere, nicht weniger wichtige Aufgabe uns vor, demselben eine Richtung und ein Ziel zu geben, das der großen Anstrengungen und der ungeheuren Opfer würdig ist,

welche uns durch denselben auferlegt werden, ein Ziel, das kein

anderes sein kann und darf, als die Wiederherstellung Deutschlands,

geeinigt auf

dem Boden der Freiheit und des Volksrechts durch eine neue Verfassung. Politik unserer gegenwärtigen Regierung, innere wie äußere, besonders

Die ganze aber die

verhängnißvolle Allianz, die sie in der Schleswig-Holsteinischen Sache mit Beiseite­ schiebung des Deutschen Volkes mit Oesterreich geschlossen hat, und der noch in diesem

76

Die Entstehung der nat.-lib. Partei; — von 1866 bis 1867.

Jahre unmittelbar vor dem Ausbruch der Streitigkeiten wiederholte Versuch, dieselbe auf Grund des gemeinsamen Kampfes gegen die s. g. Revolution — wir wissen, was man darunter versteht — wieder aufzurichten, gewähren uns durchaus nicht die Bürgschaft, daß das große Ziel, die Wiederherstellung Deutschlands in Freiheit und Einheit als letztes Ziel dieses Krieges unter allen Umständen aufrecht erhalten werde. Dafür zu sorgen, ist aber zweifellos jetzt eine Hauptaufgabe des Abgeordnetenhauses. Nichts wäre nun den jetzigen Verhältnissen weniger angemessen als die Abgeordneten, die jetzt gewählt werden sollen, ängstlich auf ein bestimmtes Programm zu verpflichten, besonders solche Männer, welche schon treu und gewissenhaft ein von den Wählern ihnen verliehenes Mandat verwaltet haben. Aber das muß jeder gewissenhafte Wähler doch von seinem Abgeordneten verlangen, daß er nicht bloß für die Herstellung des Budgetrechts sorgt, sondern auch bei seinen Bewilligungen für Kriegszwecke den Ein­ fluß dahin geltend macht, daß nicht Interessen dynastischer Politik, persönliches Ver­ trauen zu fremden Fürsten oder gar Verpflichtungen gegen fremde Staaten uns die Erreichung des großen Kriegsziels, ein freies und einiges Deutschland, ver­ hindern. — Ich benutze noch diese Gelegenheit, um Ihnen mitzutheilen, daß alle Gerüchte von Fusionen der Parteien, Abschluß von Kompromissen, oder wie die konservative Prefle es jetzt nennt, von Waffenstillstand zwischen beiden Parteien, absolut un­ wahr sind. Daß den Herren Virchow, Twesten, von Unruh, von Hennig u. s. w. bei ihrer Mitunterschrift eines Wohlthätigkeitsaufrufs neben Männern der konserva­ tiven und feudalen Partei nicht eingefallen ist, an ihrem bisher eingehaltenen Pro­ gramm auch nur ein Welchen zu ändern, versteht sich von selbst.

Ende Juni waren die Urwahlen, am 3. Juli, am Tage von Königgrätz die Abgeordnetenwahlen. Wo Mitglieder der bisherigen Abgeordneten­ hausmehrheit zur Wahl standen, verlangte man von ihnen im Voraus die Zusicherung, daß sie dem Ministerium jede Anleihe zur Kriegsführung be­ willigen würden. Mancher wurde nur deshalb nicht wiedergewählt, weil er in dieser runden Form die Zusicherung pflichtmäßig nicht geben konnte; man beschuldigte ihn nun, aus Eigensinn wolle er „die Soldaten hungern lassen." *) Der Ausfall der Wahlen war vor allem den Konservativen günstig, welche die unbedingte Unterstützung der Regierung auf ihre Fahne ge­ schrieben und sich aller selbstständigen Parteiforderungen enthalten hatten. Sie traten wieder in zwei Fraktionen auf. Die Fortschrittspartei und *) In Berlin wurden sämmtliche Abgeordnete wiedergewählt, nur trat im erstell Bezirk an Stelle des Abg. Heyl der Abg. Twesten, zu dessen Gunsten der bis­ herige Abgeordnete Heyl verzichtet hatte. Es waren aber zwei Nachwahlen nöthig. Am'7. Juli 1866 starb Diesterweg, 75 Jahr alt; an seiner Stelle wurde im 3. Bezirk Baron Vaerst, der fortschrittliche Berichterstatter beim Mlitärbudget 1862, gewählt. Sodann war Twesten dennoch in Waldenburg gewählt; an seiner Stelle wählte man nun den Kaufmann Heyl. Es waren somit die Abgeordneten von Berlin: I. Bezirk Taddel, Krieger, Heyl. — II. Bezirk Dr. Jacoby, Runge. — III. Bezirk Schulze-Delitzsch, Baron Vaerst. — IV. Bezirk Dr. Lüning, Lasker. Nach der Vertagung des Abgeordnetenhauses Ende September fegten Taddel und Heyl aus Gesundheitsrücksichten ihr Mandat nieder. An ihrer Stelle wurden gewählt Assessor Jung und Prediger Richter (linkes Zentrum). Als sich die nationalliberale Partei bildete, traten von den 9 Abgeordneten Berlins 6, näm­ lich Krieger, Jung, Richter, Vaerst, Lüning und Lasker derselben bei, weshalb im Herbst 1867 keiner von ihnen wiedergewählt wurde.

Die Entstehung der nat-lib. Partei; — von 1866 bis 1867.

77

das linke Zentrum verloren fast die Hälfte ihrer Mitglieder, das Häuflein der Altliberalen verdoppelte sich, die Konservativen vermehrten sich um mehr als das Dreifache. Die Statistik der Fraktionen kam bei Beginn der Session, wenn man die „Wilden" den ihnen zunächst stehenden hinzurechnet, etwa folgendermaßen zu stehen:

I. II. III. IV. V. VI. VII.

Die Die Die Die Die Die Die

Fraktion der Konservativen 123. freie konservative Vereinigung 19. Fraktion der Altliberalen 26. Fraktion des Zentrums (Katholiken) 15. Fraktion des linken Zentrums 65. Fraktion der deutschen Fortschrittspartei 83. Polen 21.

Da die Altliberalen in der Regel ministeriell, und der kleine Rest der Katholiken und die Polen oppositionell stimmten, so erhielt in den Fragen, wo Fortschritt und linkes Zentrum einmüthig opponirten, diese eine geringe Mehrheit (184 gegen 168 Stimmen-; wenn die Polen sich der Abstimmung enthielten oder fehlten, hing die Mehrheit lediglich von der Besetzung der Bänke ab.

Am 5. August ward der Landtag eröffnet. Die Thronrede kün­ digte an, daß Indemnität verlangt werden würde. Vor der Präsidentenwahl erklärte Grabow, daß er eine Wahl nicht annehme, — der König wünschte es nicht. Zn engerer Wahl wurde von Forkenbeck zum Präsidenten, General Stavenhagen zum ersten und von Bonin (altliberal) zum zweiten Vizepräsidenten gewählt.*) Der Verlauf der Session zeigte bald eine solche Verschiedenheit der Anschauung, namentlich in der Taktik der Regierung gegenüber, unter den namhaften Führern der Fortschrittspartei, daß die Nothwendigkeit einer Spaltung unvermeidlich schien. Bei der Adreßdebatte gelang es dem Prä­ sidenten Forkenbeck durch'seine Intervention' zü dem'vorzugsweise von' Waldeck herrührenden Entwurf der Kommission solche Abänderungsvor­ schläge zu vereinbaren, daß die Adresse mit sehr großer Mehrheit ange­ nommen wurde. Bei der Indemnität wurde eine solche Einigung nicht erzielt. Dieselbe wurde mit 230 gegen 75 Stimmen ertheilt. Unter der Minderheit befanden sich von der Fortschrittspartei u. A.: Becker, Bender, Berger, Classen-Kappelmann, Hoverbeck, Jacoby, Runge, Schulze, Taddel, Virchow, Waldeck, Ziegler; vom linken Zentrum: Gneist, Harkort; von den Klerikalen: Rohden, Krebs; zur Mehrheit gehörten von der Fertschrittspartei u. A.: Duncker, Forkenbeck, Hammacher, v. Hennig, Hoppe, v. Kirch-

*) Bei der Präsidentenwahl erhielt im ersten Wahlgange von 331 Stimmen Forkenbeck 154, v. Arnim (kons.) 134, Graf Schwerin 24, Gneist 17 (von den Polen), im zweiten Wahlgange Forkenbeck 170, v. Arnim 136, Graf Schwerin 22. Stavenhagen ward mit 180 von 329 Stimmen (gegen Holzapfel, den Appellationsgerichtspräsidenten von Ratibor, einst Untersuchungsrichter im Ladendorff'schen Prozesse, mit 145 und Bockum-Dolffs mit 33), v. Bonin mit 186 von 323 (v. Blankenburg 125) gewählt. Am 6. September waren alle drei wieder­ gewählt, aber mit sehr verändertem Stimmenverhältniß.

Die Entstehung der nat.-lib. Partei; —- von 1866 bis 1867.

78

mann, Kosch, Krieger (Berlin), Lasker, Löwe, Lüning, Michaelis, Reichenheim, Siemens, Twesten, v. Unruh, v. Baerst; vom linken Zentrum: Grabow und v. Bockum-Dolffs. Die ganze Minorität setzte sich zusammen aus 40 von der Fortschritts­ partei, 22 vom linken Zentrum und 13 von den Katholiken, während 35 vom Fortschritt und alle Polen zur Mehrheit gehörten. Die Hauptredner für und gegen gehörten zur Fortschrittspartei, dort Löwe, Twesten, Lasker, Michaelis, hier Waldeck, Hoverbeck, Virchow. Einiger war man über die Annexion. Ein Amendement von Löwe, welches Schonung der Eigenthümlichkeiten zusicherte, wurde nach einer glänzenden Rede Waldecks abgelehnt und das Gesetz mit 273 gegen 14 Stimmen (Jacoby, Duncker und 5 rheinische Fortschrittsmänner, 2 vom linken Zen­ trum, 5 Klerikale) angenommen. Das Gesetz über den außerordentlichen Geldbedarf der Militär- und Marine-Verwaltung und die Dotirung des Staatsschatzes wurde mit wesentlichen Abänderungsanträgen der Abgeord­ neten Michaelis und Lasker am 23. September mit 230 gegen 83 Stimmen angenommen; auch diesmal war die Fortschrittspartei fast gleich getheilt, doch gehörte Twesten bei dem die Dotation des Staatsschatzes betreffenden Theile des Gesetzes zu der Minderheit.

Der Landtag ward am 27. September bis zum 12. November vertagt. Zn der Zwischenzeit veröffentlichten 24 Abgeordnete, 15 von der Fort­ schrittspartei und 9 vom linken Zentrum eine Erklärung, von welcher man den Ursprung der nationalliberalen Partei zu datiren hat, obschon vier Unterzeichner, nämlich Aegerter vom Fortschr., von Bockum-Dolffs, Frank und Metzmacher (dieser später Fortschr.) vom linken Zentr. sich bei der neuen Partei nicht beteiligten. Die Erklärung lautet: „Die zwei bedeutenden Abstimmungen über die Indemnität und die Anleihe

veranlassen uns, vor dem Lande die Gesichtspunkte darzulegen, von denen wir bis­

her geleitet worden sind und denen wir ferner zu folgen gedenken. Für unsere dringendste Aufgabe in der außerordentlichen Session hielten wir,

der Regierung in ihrer auswärtigen Politik den vollen Beistand der LandeS-

vertretung zu verschaffen.

Zn dem kraftvoll geführten Kriege und seinen Erfolgen

sehen wir den ersten glücklichen Anfang zu einer wahren Einigung des deutschen

Vaterlandes.

Die Erweiterung des preußischen Gebietes und die Unterordnung deS

Nordens unter die Führung Preußens sind für immer berechnet; die Trennung des

Südens aber soll nur zeitweilig und nicht länger andauern als die zwingende Macht der widerstrebenden Verhältnisse.

Leicht erkennbare Gefahren bedrohen auch in Zu­

kunft den vorgezeichneten Fortschritt und selbst das schon erreichte Ziel.

Ihnen

gegenüber war es die heiligste Pflicht der Volksvertretung, ungesäumt bei der ersten und bei jeder folgenden Gelegenheit vor aller Welt den Beistand zu bekunden,

auf

welchen jede Regierung in Preußen rechnen darf, soweit sie die deutsche Einheit

gegen fremden Eingriff und heimische Sonderinteressen vorzubereiten und die Stärke der gesammtdeutschen Macht zu erhöhen bestrebt ist.

Auf das Zutrauen, daß unter

der gegenwärtigen Leitung der auswärtigen und militärischen Angelegenheiten das

Streben dahin gerichtet ist, hat die Regierung einen unabweisbaren Anspruch worben.

er­

Die Entstehung der nat.-lib. Partei; — von 1866 bis 1867.

79

Unverträglich mit einer solchen Kundgebung, unverträglich mit den brennendsten Bedürfnissen des Vaterlandes war der schwere Konflikt der vergangenen Jahre neben welcher die Eintracht zwischen Regierung und Volksvertretung nirgend zu erreichen und jeder thatkräftige Beistand des Landtages ausgeschlossen war. Glück­ licherweise hatten die Thaten des Volkes in Waffen und die veranlassenden Verdienste der Regierungspolitik einige Ursachen des Streites gänzlich weggeräumt, andere zur Zeit zurückgedrängt. Das Anerkenntniß des Geschehenen war der Ausspruch der Indemnität, welcher zugleich die Mitwirkung der Landesvertretung vorbereitete. In der Anleihe galt es, der Regierung die Mittel, ohne welche sie nicht glaubte die volle Verantwortlichkeit für die weitere Durchführung der Aufgabe Preußens übernehmen zu können, im zweckentsprechenden Maße zu gewähren und gegen die Bewilligung Bürgschaften zu erlangen, welche die Rechte des Volkes vermehren und die älteren Rechte mit besseren Schutzmitteln versorgen, ohne hierdurch der Leitung irgend einen Grad von Kraft zu entziehen. Die Wachsamkeit über die verfassungsmäßigen Rechte des Volkes, von denen keines aufgegeben und keines verkürzt werden darf, hat die ganze entschieden liberale Partei auch in dieser Session stets einig gefunden und von andern Par­ teien gesondert. Dasselbe Band wird auch in Zukunft ihr gemeinsames Merkmal bleiben. Trotz des Vertrauens zu der umsichtigen und hochstrebenden Leitung der auswärtigen Angelegenheiten und zu dem energischen Schutze der preußischen Macht und des preußischen Berufes, trotz des Zeichens der Versöhnung in der Anmestie, ist in der innern Verwaltung des Landes noch nicht die Wendung gesichert, welche auch hier uns gestattete, die Schritte der Regierung mit Vertrauen zu begleiten. Wir fühlen die Pflichten einer wachsamen und loyalen Opposition auf uns ruhen und glauben sie nicht blos den Rechten des preußischen Volkes zu schulden, sondern auch der Zukunft Deutschlands zu widmen, wenn wir dem Schaden vorzubeugen streben, mit welchem eine mißliebige Regierungsweise im Innern des Landes selbst die Erfolge der auswärtigen Politik bedroht, indem sie das harmonische Zusammen­ wirken zwischen Regierung und Volksvertretung gefährdet, den innigen Zusammen­ schluß der älteren und neuen Landestheile und, den Anschluß des übrigen. Deutsch­ lands an Preußen erschwert. Neben der gerüsteten Macht und dem Ansehen der Waffen bedarf es einer freisinnigen Verwaltung. In der Mischung beider Elemente, in der Ausbildung der lange schon vorbehaltenen organischen Gesetze und in der Selbstverwaltung als Grundlage des Gemeindewesens erkennen wir den geraden Weg zur höchsten Bedeutung Preußens und zu seiner Herrschaft in Deutschland. Das ist der Sinn unserer Unterstützung und unserer Opposition. Doch sind wir fest entschlossen, so lange uns in diesem Sinn zu wirken vergönnt ist, die Oppo­ sition nicht hinübergreifen zu lassen auf das Gebiet der gebilligten deutschen Politik. In dem großen Moment des erstarkten und sich verwirklichenden Einheitsdranges halten wir keine Partei und keine Maßregel berechtigt, welche der deutschen Ent­ wickelung Hindernisse bereitet oder die möglichen Förderungsmittel versagt. Von solchen Gründen wurde unser Verhalten bestimmt, und so meinen wir unsere Mandate am besten zu verwalten. Berlin, im September 1866. Aegerter. Berger (Posen), v. Bockum-Dolffs. Getto. Frank. Hammacher. v. Hennig. Hinrichs. John (Labiau). Kannegießer. Lasker. Lautz. Lent. Lette. Lüning. Metzmacher. Michaelis (Stettin). Pieschel. Rautenstrauch. Reichenheim. Röpell. Techow. Twesten, v. Unruh.

80

Die Entstehung der nat.-lib. Partei; — von 1866 bis 1867.

Von den 24 Unterzeichnern waren diejenigen, deren Namen gesperrt gedruckt sind, Mitglieder der Fortschrittspartei. Die Bildung einer beson­ deren Fraktion war nicht verabredet. Dennoch ließ der Inhalt der Erklärung und die Form der Veröffentlichung für die zur deutschen Fortschrittspartei gehörenden Mitglieder kaum ein Verbleiben in der Fraktion zu, welche trotz des unbedingten Ausschlusses jedes Fraktionszwanges doch bisher stets als die Repräsentation einer wirklichen, in den wichtigsten Grundsätzen einigen politischen Partei erschienen war. Die Veröffentlichung der Erklärung erfolgte erst am 24. Oktober, an demselben Tage, an welchem die Zeitungen das Wahlgesetz für den Reichs­ tag des norddeutschen Bundes vom 15. Oktober 1866 brachten, dessen § 1 lautete: „Zur Berathung der Verfassung und der Einrichtungen des norddeutschen Bundes soll ein Reichstag gewählt werden." Am 12. November trat der Landtag wieder zusammen. Vorbereitet durch das gemeinschaftliche Konnte zur Verwaltung des Nationalfonds ward an demselben Tage ein gemeinschaftliches Zentralwahlkomito der Fort­ schrittspartei und des linken Zentrums behufs der Parlamentswahlen ein­ gesetzt. Erst die folgenden Tage mit heftigen Debatten in der Fraktions­ sitzung der Fortschrittspartei führten zur Entstehung einer neuen Partei. Sie führte sich am 17. November 1866 mit folgender Benachrichtigung in der Nationalzeitung ein: „Heute hat sich im Abgeordnetenhause die Majorität der Unterzeichner der be­ kannten im September veröffentlichten Erklärung auf Grund derselben als neue Fraktion der nationalen parket konstituirt. Sie wählte einen Vorstand von 3 Mitgliedern auf 4 Wochen, der aus den Abgeordneten von Hennig, Twesten und von Unruh bestehen wird. Ihren Beitritt haben 19 Mitglieder erklärt: wir nennen die Abgeordneten Lüning, Lasker, Michaelis, Roepell, Krieger (Berlin), Reichenheim, John (Labiau), Lette, Richter, Hinrichs, Graf v. Dohna, von Vaerst, Techow, Kanngießer und Hammacher.*) Die neue Fraktion hat zunächst der Fortschrittspartei und dem linken Zentrum ihre Konstituirung mit der Erklärung angezeigt, daß sie ein freundschaftliches Verhältniß zu diesen beiden Frak­ tionen wünsche, mit denen sie als zur entschieden liberalen Partei gehörig sich auf gemeinsamen Boden wisse und daß sie an den gemeinsamen Berathungen der liberalen Partei gern theilnehmen werde."

Zn dem Aufruf des neuen Zentralwahlkomito's vom 12. November 1866 — des ersten und einzig gebliebenen Komitees, welches seit ihrem Ent­ stehen bis auf den heutigen Tag die deutsche Fortschrittspartei im Kom­ promiß mit einer andern Partei eingesetzt hat, war selbstverständlich die Abtrennung der neuen Fraktion nicht vorgesehen worden. Der Aufruf richtete sich an alle Männer liberaler und nationaler Gesinnung und schloß nur solche aus, die das gemeinsame Ziel der Einheit, der Freiheit und der Größe unseres deutschen Vaterlandes nicht auf dem Boden der einmal *) Aufgeführt sind nur 18 Namen, 14 jener Unterzeichner der Erklärung; unter den fehlenden 10 schlossen sich Berger (Posen), Lent!, Lantz, Pieschel, Rautenstrauch und Cetto sehr bald der neuen Fraktion an. Auch Jung kam noch im Jahre 1866 hinzu. Außerdem war der Präsident von Forkenbeck hinzuzuzählen; mit ihm waren es also 26.

Die Entstehung der nat.-lib. Partei; — von 1866 bis 1867.

gegebenen Thatsachen (Annexion und andern Wegen erstrebten. Er lautet:

norddeutscher Bund),

81

sondern auf

„Die denkwürdigen Ereignisse dieses Jahres haben der nationalen Entwicklung

Deutschlands eine neue Bahn angewiesen.

Die Bevölkerung wird durch die Aus­

schreibung der Wahlen zum norddeutschen Parlament in Kürze aufgerufen

werden, an der Neugestaltung des Vaterlandes thätig mitzuwirken.

Alle Männer

liberaler und nationaler Gesinnung sind darum verpflichtet, nach besten Kräften zu wirken, daß in den durch das Wahlgesetz angeordneten allgemeinen

und direkten Wahlen der Wille des Volkes zu seinem wahren Ausdruck gelange. Bei der Neuheit der direkten Wahlen wird es ihrer energischen Thätigkeit bedürfen, damit nicht durch den Einfluß der entgegenstehenden Parteien eine für die Geschicke

unserer Nation verhängnißvolle Zusammensetzung des Parlaments bewirkt werde.

Die Unterzeichneten sind deshalb zu einem Zentral-Wahl-Konnte zusammen­ getreten, um in dem ganzen Gebiete des norddeutschen Bundes die freie Vereins­

thätigkeit für die Wahlen zum Parlamente anzuregen und sich den einzelnen KreisKomite's als Vermittler für die gemeinsamen Angelegenheiten und Interessen an­

zubieten. Nach den Waffenerfolgen des preußischen Heeres kann über den Beruf Preußens

zur Führerschaft in dem zu errichtenden nationalen Gemeinwesen kein Streit mehr sein.

Damit ist ein großer Schritt gethan zur Erreichung des Zieles, welches die

nationale Partei seit Jahren erstrebt hat. es nicht vermocht,

Aber die preußische Regierung allein hat

den berechtigten Anspruch der ganzen

Einigung zu verwirklichen.

deutschen Nation auf

Sie hat ihre Aufgabe darauf beschränkt, den nord­

deutschen Bund herzustellen und für diesen ein Parlament zu schaffen.

Am Volke

wird es nun sein, durch das Parlament den norddeutschen Bund derart zu gestalten,

daß derselbe baldigst zum Gesammtstaat deutscher Nation erweitert werden könne. Hierzu gehört auf der einen Seite die Uebertragung einer wirklichen Regierungs­ gewalt an die Krone Preußen in Bezug auf die militärischen, diplomatischen, Zoll-, Handels- und Verkehrs-Angelegenheiten, auf der anderen Seite, siyd hem. Parlamente in Bezug auf Budget und Gesetzgebung des neuen Bundes entscheidende

Befugnisse, dem Volke ein gemeinsames deutsches Bürgerrecht und die Selbst­

verwaltung in allen nicht gemeinsamen Angelegenheiten sicher zu stellen. Die Einheit, die Freiheit und die Größe unseres deutschen Vaterlandes ist

also unser Ziel.

Mit Männern, die dieses Ziel auf dem Boden der einmal ge­

gebenen Thatsachen mit uns erstreben wollen, sind wir bereit, in rüstiger Arbeit vorzugehen, umbekümmert um solche Meinungsverschiedenheiten, welche in der Er­ reichung des großen gemeinsamen Zieles ihre Ausgleichung finden werden.

Indem wir an alle Gesinnungsgenossen die Aufforderung ergehen lassen, die Vorbereitungen zum Wahlgeschäst, weil diese lang und mühevoll sind, schon jetzt in die Hand zu nehmen, bitten wir sie, überall und zwar in jedem landräthlichen Kreise Preußens und in den entsprechenden Bezirkm der anderen Staaten des nord­

deutschen Bundes sofort Wahlkomite's zu gründen und uns, sobald dies geschehen,

davon zu benachrichtigen.

Wir unsererseits werden bemüht fein, diesen Komite's,

da, wo es gewünscht wird, mit Rath und That zur Seite zu stehen. Zur Erledigung der uns obliegenden Geschäfte haben wir aus unserer Mitte einen geschästsleitenden Ausschuß niedergesetzt.

Derselbe besteht aus den Herren:

Dr. Loewe-Calbe als Vorsitzenden, Franz Duncker als Stellvertreter desselben, Parisius

6

82

Die Entstehung der nat.-lib. Partei; — von 1866 bis 1867.

L. Parisius-Gardelegen als Schriftführer, Dr. Langerhans, Prince-Smith, H. Runge, Schroeder, v. Unruh und Dr. Virchow, und hat den Herrn L. Parisius-Gardelegen, Berlin, Dresdenerstraße Nr. 115, mit der Führung der Korrespondenz beauftragt, an welchen deshalb alle auf die Parlamentswahlen be­ züglichen Mittheilungen zu richten sind.

Berlin, den 12. November 1866.

v. Arnim-Gerswalde, v. Bockum-Dolffs. Franz Duncker. Dr. G. Eberty, Stadt­ gerichtsrath. Alex. Elster. Dr. Jul. Faucher. Dr. Göschen. Haacke, Regierungs­ rath a. D. Adolf Hagen, Stadtrath. Halske. I. v. Hennig. Heyl sen. Hold­ heim, Redakteur. I. Hoppe. Dr. Holthoff, Sanitätsrath. Dr. Kalau von dem Hofe. Kerst, Geh. Regierungsrath z. D. Kochhann. Dr. Langerhans. Lasker, Gerichtsassessor. Dr. Lette, Präsident. Lewald, Rechtsanwalt. Dr. Lewinstein, Redakteur. Dr. W. Loewe-Calbe. v. Meibom, Jusüzrath a. D. Dr. Meyen, Re­ dakteur. Otto Michaelis, Redakteur. G. Müller. Konsul. Dr. H. B. Oppenheim. L. Parisius-Gardelegen. R. Parrisius, Kreisgerichtsrath a. D. Prince-Smith. L. Reichenheim, Kommerzienrath. Dr. Rieß. Richter, Prediger zu Marienfelde. H. Runge, Stadtrath. Schemionek, Kommerzienrath. Schröder, Staatsanwalt z. D. Schulze-Delitzsch, Kreisrichter a. D. Dr. Siemens. Soltmann, Stadtrath. v. Unruh, Regierungsrath a. D. Baron v. Vaerst. v. Valentini. Dr. Rud. Virchow, Pro­ fessor. Vogler, Justizrath. Dr. M. Wiesenthal.

Das Verhältniß der neuen Fraktion zur deutschen Fortschrittspartei blieb im zweiten Abschnitt der Landtagssession bis zum Zusammentritt des konstituirenden Reichstags ein durchaus freundliches. In der Opposition gegen die innere Verwaltung stand sie zunächst hinter der alten Partei nicht zurück. So verweigerte sie einstimmig die geheimen Fonds (23. November) und stimmte für eine Resolution Waldeck zum Militäretat, in deren letzten Theil der Vorbehalt gemacht wurde, daß die nach § 3 des Gesetzes vom 3. September 1814 nach den jedesmaligen Staatsverhältnissen zu bestimmende Stärke des stehenden Heeres nur unter Zustimmung der Landesvertretung festgesetzt werden könne (165 gegen 151). Ein Antrag Virchow-Vaerst, wonach als Pauschquantum außerhalb des Ordinariums und Extraordinariums des Etats für Zwecke der Militärverwaltung die geforderten 44,071,479 Thlr. bewilligt werden sollten, fiel gleich darauf mit 163 gegen 153 Stimmen, indem abgesehen von ein paar liberalen Wilden sieben Mitglieder der neuen Partei: Zohn-Labiau, Krieger-Berlin, Lette, Michaelis, Reichenheim, RichterBerlin und Twesten sich von der liberalen Seite trennten und mit der Rechten stimmten (10. Dezember); bei der Schlußberathung (18. Dezember) fiel derselbe von Virchow wieder aufgenommene Antrag mit 230 gegen 92 Stimmen, indem jetzt eine große Zahl Abgeordneter des linken Zentrums, die gesammten Abgeordneten der neuen Fraktion mit Ausnahme von Lasker und v. Vaerst, und zwei Fortschrittsmänner Bassenge und v. Kirchmann mit der Mehrheit stimmten. Außerdem fand eine Trennung der Fortschritts­ männer der neuen Fraktion von ihren alten Parteigenossen noch statt bei dem Dotationsgesetze. Die Fortschrittspartei stimmte mit wenigen Aus­ nahmen gegen die Dotation der beiden Minister Graf Bismarck und von Roon. Ihr Wortführer Hoverbeck führte aus, daß er niemals Ministern Dotationen bewilligen würde, und sodann daß er diese Minister

Die Entstehung der nat.-lib. Partei; — von 1866 bis 1867.

83

nicht eher für ausgesöhnt mit dem Lande halte, als bis die Rechtszustände auch im Innern befriedigende geworden seien (6. Dezember). Das gemeinsame liberale Zentralwahlkomits entwickelte gegen Ende des Jahres bis zu den Wahlen hin eine ziemlich große Thätigkeit, doch war dieselbe naturgemäß fast ganz auf die alten Provinzen Preußens beschränkt. Hier machten die konservativen Beamten zum ersten Male die Erfahrung, daß das allgemeine direkte und geheime Wahlrecht den Beeinflussungen der Wähler durch die Regierung noch weit günstiger ist, als die preußischen öffentlichen Dreiklassenwahlen.

Mit einer größeren Kundgebung trat das Wahlkomito am 17. Dezem­ ber hervor. Es berief in Berlin in die städtische Turnhalle eine allgemeine Volksversammlung und legte derselben Resolutionen vor, welche mit einer von dem Konnte gebilligten Aenderung von den Anwesenden fast ein­ stimmig angenommen wurden.*) Sie lauteten: „I. Indem wir den Norddeutschen Bund als thatsächlichen Ausgangspunkt für alle weiteren nationalen Ziele annehmen, halten wir fest an der Nothwendigkeit der Begründung eines die ganze deutsche Nation umfassenden Bundesstaates. Ein solcher Bundesstaat ist aber nur möglich, wenn einerseits die mit dem kon­ stitutionellen Königthums Preußens verbundene Centralgewalt für Ehre und Macht nach außen sorgt und andererseits ein aus freien Volkswahlen hervorgegangenes Parlament für die Freiheit im Innern der Nation die unerläßlichen Bürgschaften bietet." „II. Der Centralgewalt gebührt die oberste Leitung in den militärischen und maritimen, den diplomatischen und volkswirthschaftlichen Angelegenheiten. Sie ver­ fügt nach Maßgabe der Bundesgesetze über die einheitlich zu organisirende gesammte Wehrkraft des Bundes." „III. Dem Parlament, welchem wichtige Befugnisse der einzelnen Landesver­ tretungen zu übertragen sind, muß die Ausübung dieser Rechte in einet; Weise, ge­ sichert sein, welche die Nation vor einer Schmälerung derselben bewahrt. Insbeson­ dere muß ihm die entscheidende Mitwirkung bei der Gesetzgebung wie bei der Steuerbewilligung zustehen." „IV. Wir verlangen von dem Parlamente ein energisches Eintreten für die von der Deutschen Nationalversammlung in Frankfurt a. M. verkündeten Gr und-

*) Die Versammlung war nach der Nationalzeitung von 6000 besucht. Als Redner traten vom Konnte auf der Vorsitzende Dr. Löwe, ferner Dr. Oppen­ heim, Schulze-Delitzsch, Lasker und Duncker. Als Seitens des Redakteurs Stephani vor den Mitgliedern der nationalen Fraktion gewarnt wurde, die sich von der Fortschrittspartei getrennt hätten, erwiederte Schulze-Delitzsch durch eine Mahnung zur Eintracht. Ueber die Stellung der Nationalen zur Fortschrittspartei sagte er dabei, ohne daß die anwesenden Betheiligten widersprachen, Folgendes: „Wenn in einzelnen Fragen Meinungsverschiedenheiten hervortraten, wenn man meinte, daß in dem Augenblick, wo die preußische Regierung auf dem Wege der Revolution das Legitimitätsprinzip durchbrach, auch freisinnige Institutionen nicht lange ausbleiben konnten, so war dies ein sehr natürlicher und verzeihlicher Wahn. Es ist aber das Verdienst der preußischen Regierung, alle diese Unterschiede wieder ausgeglichen und das ganze Vertrauen wieder erschüttert zu haben. Von unsern Freunden, die so lange mit uns für die Sache der Freiheit in den vordersten Reihen gekämpft haben, glaubt jetzt kein Mensch mehr daran."

84

Die Entstehung der nat.-lib. Partei; — von 1866 bis 1867.

rechte des Deutschen Volkes und Festhalten an dem allgemeinen gleichen und direkten Wahlrecht mit geheimer Abstimmung."*) „V. Es ist daher die Pflicht aller zur Wahl berufenen Bürger, Angesichts der großen Zntereffen des Vaterlandes, deffen Geschicke vielleicht auf lange Jahre hinaus gegenwärtig entschieden werden, sich mit Eifer an den Vorberathungen zur Wahl zu betheiligen und mit Festigkeit und Mannesmuth ihr Wahlrecht auszuüben."

Bald darauf veröffentlichte auch die konservative Partei Preußens ihren Wahlaufruf. Sie konnte diesmal bei den Wahlen zum Norddeutschen Reichstage kein Programm vom alten Rundschauer der Kreuzzeitung, dem Appellationsgerichtspräsidenten von Gerl ach, aufweisen. Dieser hatte sich grollend von Bismarck und dem Ministerium und damit auch von seiner Partei losgesagt. Deshalb erließen die Mitglieder der konservativen Fraktion des Abgeordnetenhauses den Wahlaufruf. Zn demselben, datirt vom 20. Dezember 1866, lauten die bezeichnendsten Sätze: „Unser Programm ist ein kurzes und allgemein verständliches. Das preußische Königthum der Mittelpunkt und Hort der deutschen Einheit und Freiheit, und die deutsche Politik Sr. Maj. des Königs, wie sie als der Ausdruck des eigensten königlichen Gedankens durch den Grafen Bismarck thatsächlich in's Werk gesetzt und repräsentirt ist, die Parole, der wir zu folgen und die wir zu vollenden haben.

*) Der Antrag des Komite's lautete hier: „IV. Als erste Grundrechte der Na­ tion sind festzustellen: Allgemeines deutsches Bürgerrecht und Freizügigkeit, Freiheit der Arbeit und des Verkehrs, unbeschränkte Preß- und Assoziationsfreiheit und das allgemeine gleiche Wahlrecht mit geheimer Abstimmung als Schlußstein des Ganzen und nothwendige Bürgschaft aller andern Rechte und Freiheiten." Wie ernst es damals allen Liberalen mit Aufnahme der Grundrechte in die Verfassung war, ergiebt sich auch aus dem Flugblatt Nr. 4 (Frisch auf zur Wahl!), welches in vielen Wahlkreisen mit nationalliberalen Kandidaten stark verbreitet wurde. Dieses Flugblatt, Erläuterungen der Resolutionen der Volksversammlung vom 17. Dezember enthaltend und von keiner Seite als zu radikal angefochten, sagt über die Nr. III. und IV.: \ Die Verfassung des Deutschen Reiches, welche das jetzt zu wählende Parlament berathen soll, muß dem künftig beschließenden Parlamente diejenigen Rechte sichern, welche keine Landesvertretung einer freien Nation entbehren darf. Kein Reichsgesetz ohne vie Genehmigung des Parlamentes; keine Erhebung einer Reichs­ steuer ohne vorherige Bewilligung durch das Parlament. Die Verfaffung des Reiches hat die Grundrechte der Nation festzustellen und zu sichern gegen Willkür und Rechtsbruch der einzelnen Staatsregierungen. Die gegenwärtig zu wählenden Vertreter finden diese Grundrechte niedergelegt in den §§ 130 bis 189 der Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849, festgestellt in der ersten Deutschen Na­ tionalversammlung. Dort heißt es im § 130: „Dem Deutschen Volke sollen die nachstehenden Grundrechte gewährleistet sein. Sie sollen den Verfaffungen der Deutschen Einzelstaaten zur Norm dienen und keine Verfaffung oder Gesetzgebung eines Deutschen Einzelstaates soll dieselben je aufheben oder beschränken können." Gar köstliche Rechte und Freiheiten werden wir besitzen, wenn diese Grundrechte wirklich durchgeführt sind: Allgemeines Deutsches Bürgerrecht mit Freizügigkeit, Freiheit der Arbeit und des Verkehrs, unbeschränkte Preßfreiheit, unbeschränktes Versammlungsrecht, Schwurgericht für alle politischen und Preßvergehen, Entschei­ dung aller Rechtsverletzungen durch wirklich unabhängige Gerichte und Beseitigung aller Rechtspflege der Verwaltungsbehörden; Selbstverwaltung der Gemeinden bei freier Wahl ihrer Vorsteher und Vertreter; selbstständige Ausübung der Ortspolizei durch die Gemeinde; Aufhebung der gutsherrlichen Polizeigewalt u. s. w., u. s. w.

Die Entstehung der nat.-lib. Partei; — von 1866 bis 1867.

85

Das deutsche Volk erkennt je länger desto mehr, daß das preußische Königthum der Hort deutscher Macht und deutscher Ehre ist; es bekennt sich täglich lauter zu den Wahlsprüchen, unter denen unser König und Sein Heer den Sieg auf dem Schlachtfelde und die Herzen der bewundernden Völker gewonnen hat: es verwirft für immer die trügerische Staatskunst Derer, welche schwankend zwischen Verzagtheit und Uebermuth die durch die neueste Geschichte erhärtete Unhaltbarkeit ihres partikularistischen Standpunktes von neuem in den Vordergrund zu verdrängen versuchen. Wie das Werk begonnen ist, so muß es auch hinausgeführt werden, und der Werkmeister kann allein der Mann sein, der, als ein treuer Diener seines königlichen Herrn, den alten staatenbildenden Gedanken Preußens mit den Bausteinen des 19. Jahrhunderts fortzusetzen verstanden hat.

Darum schaaren wir uns um unsere bewährte Fahne und legen wir um so eiftiger und energischer Hand an das Werk, als wir den ersten Versuch mit einem Wahlgesetze machen, das den hingebenden Patriotismus des ganzen Volkes und jedes Einzelnen zur unentbehrlichen Voraussetzung hat."

Man muß zugestehen, daß der Aufruf sehr geschickt abgefaßt, durch einfache Unterordnung unter die sieg- und erfolgreiche Regierung recht ge­ eignet war, die Schwankenden dem — nicht mehr konservativen, sondern lediglich gouvernementalen Lager zuzuführen.

Seit der Versammlung in der Turnhalle bis zum Wahltage versandte das liberale Zentral-Wahlkomitö nach und nach 20 Flugblätter. Diesel­ ben trugen meist den Namen des Verfassers und wurden in Probeblättern an die liberalen Vertrauensmänner und sodann auf Bestellung in großen Packeten ausgeschickt, außerdem aber zum Nachdruck empfohlen. Die Polizei verfolgte dieses Treiben, welches sie durch die nach dem Preßgesetz nieder­ zulegenden Pflichtexemplare der Blätter ziemlich übersehen konnte, mit großer Aufmerksamkeit und blieb mit Haussuchungen, Beschlagnahmen und Preßprozessen nicht zurück.*) Die liberale Partei in den alten Provinzen

*) Das Zentralwahlkomite versandte 20 Flugblätter, von denen uns 16 vor­ liegen: Nr. 1 war der Aufruf vom 12. November 1866. — Als Nr. 2 ist, wenn wir uns recht entsinnen, ein eingehendes Zirkular des Schriftführers Parisius gerechnet. — Nr.3: „Die Wahlen zum Reichstage und was dabei auf dem Spiele steht", — unterzeichnet von Prince-Smith. — Nr. 4: „Frisch auf zur Wahl! (Erläuterung der Resolutionen der Turnhallen-Versammlung vom 17. De­ zember — Verfasser L. Parisius). — Nr. 5: „Zu den bevorstehenden Wah­ len" — Separatabdruck aus Nr. 51 der „Verfassung". — Die „Verfassung" war ein in Franz Duncker's Verlag unter der Redaktion von Dr. G. Lewinstein erschei­ nendes billiges Wochenblatt, von der Fortschrittspartei, insbesondere von Hennig und Unruh seit Anfang 1864 begründet und bis 1. April 1867 fortgeführt. — Nr. 6: „Erste große Volksversammlung, betreffend die Wahlen zum Nord­ deutschen Parlament, gehalten in Berlin am 17. Dezember 1866 m der ZentralTurnhalle." Ein Bericht, der die Reden von Löwe, Oppenheim, Schulze-Delitzsch, Lasker, Duncker ziemlich ausführlich brachte und von I. Hoppe redigirt war. — Nr. 7: „Rede des Dr. H. B. Oppenheim, gehalten am 17. Dezember 1866 in der Allgemeinen Wahlversammlung für das Norddeutsche Parlament." — Nr. 8: „Die Wahlen zum Norddeutschen Parlament. Nach einem Vortrage des Abgeordneten Schulze-Delitzsch vom 7. Dezember 1866 zu Berlin." — Nr. 9: „An die Gewehre!" — unterzeichnet Berlin, den 3. Januar 1867. Eugen Richter. Von diesem sehr verbreiteten Flugblatt erschienen mehrere Ausgaben.

86

Die Entstehung der nat.-lib. Partei; — von 1866 bis 1867.

rechnete in den meisten Wahlkreisen auf einen glänzenden Sieg. Wahl­ versammlungen, die in den Städten oder auf dem Lande abgehalten wur­ den und auf denen der liberale Kandidat sich vorstellte, wurden in der Regel außerordentlich zahlreich besucht; die Konservativen hielten sich von öffentlichen Wahlversammlungen fern, sie stellten ihren Kandidaten nur in geschlossenen Versammlungen vor. Freilich, wo ein energischer Landrath aus der Westphalenschen Züchtung die Wahlen beeinflußte und durch die

Die erste wurde noch vor der Versendung konfiszirt. Wegen einer zweiten Au sgabe wurden Verfasser, Herausgeber und Verbreiter in Eisleben vor Gericht gestellt, aber durch alle Instanzen freigesprochen. — Nr. 10: „Für die Werkstatt" — unter­ zeichnet Berlin, den 4. Januar 1876. Eugen Richter. Ein Aufruf an die Ar­ beiter. — Nr. 12: „Eine Stimme aus der Fremde" — unterzeichnet Paris, Januar 1867. L. Bamberger. — Nr. 14: „Die Ehre steht auf dem Spiel", — unterzeichnet H. B. Oppenheim. Die Verbreitung dieses Flugblattes fand nur in sehr beschränkter Weise statt, weil die zur neuen nationalen Fraktion gehörenden Mitglieder offiziell gegen den Inhalt desselben als zu radikal protestirten. Ein solcher Einwand wurde gegen kein einziges der andern Flugblätter erhoben. Zur Entschuldigung wurde vom Vorsitzenden des Komite's, Löwe, und vom Schrift­ führer Parisius darauf hingewiesen, daß der Verfasser, der durch seine Namens­ unterschrift die politische Verantwortlichkeit übernommen habe, sich mehr zur natio­ nalen als zur alten Fortschrittspartei neige. Aus dem Flugblatt ging dies freilich nicht hervor. Es schloß mit folgenden Sätzen: „Darum schlage ich vor, keinen Kandidaten zu wählen, welcher sich nicht auf folgende Bedingungen verpflichtet: 1) Auf keine Einrichtung einzugehen, welche das Recht des Volkes, durch seine Vertreter alljährlich die zu erhebenden Staatseinnahmen und die zu machenden Staatsausgaben zu bewilligen oder zu verweigern, schwächen oder gar beseitigen könnte; 2) auf kein Militärgesetz einzugehen, welches nicht die zweijährige Dienstzeit zur Grundlage hat; 3) auf keine partikularistische Einrichtung einzugehen, welche der konstitutionellen Vollgewalt des auf beut allgemeinen gleichen Wahlrecht zu erbauen­ den Volkshauses Eintrag thäte; 4) gegen alle Einrichtungen zu stimmen, welche die Wahlfreiheit des Volkes insofern beschränken, als sie den Kreis der zu Wählenden verengern. Jeder Kandidat der liberalen Partei muß also für Wählbarkeit der Beam­ ten und für Bewilligung der Diäten an die Abgeordneten mit aller Kraft einstehen. Nicht blos das Interesse, auch die Ehre des Volkes steht dabei auf den: Spiele!" — Nr. 15 war eine vortreffliche Anweisung über Hergang und Verfahren bei der Wahl auf Grund des Wahlgesetzes, verfaßt von I. Hoppe. — Nr. 16: „An den Herrn Gevatter!" Ein humoristisches Flugblatt von Eugen Richter. — Nr. 17: „Thut Eure Schuldigkeit, auch bei den Wahlen! Ein Wort an die Bürger und Bauern in Preußen." — Auch von diesem Flugblatt, dessen Ver­ fasser W. Löwe war, mußte, weil es in 3000 Exemplaren in Beschlag genommen wurde, eine zweite abgeschwächte Ausgabe erscheinen. Eine Anklage wurde nicht erhoben. — Nr. 18: „Der Wahltag und was wir noch dafür zu thun haben" — unterzeichnet „Für das Zentral-Wahlkomite: W. Löwe, Vorsttzender, L. Parisius, Schriftführer." — Nr. 19: „Ein Schreibebrief an den Herrn Gevatter!" (Antwort auf Flugblatt Nr. 16), — und Nr. 20: „En Bref an den Herrn Vaddr!" — Uebertragung von Nr. 19 in Altmärkisch-Plattdeutsch. Der Verfasser Ludolf Parisius war auf diesen beiden Flugblättern genannt. Viele Tausende von Exemplaren desselben wurden durch dte gleichzeitig in Druckerei, Bureau und Wohnung abgehaltenen Haussuchungen fortgenommen und einige Mo­ nate nach der Wahl freigegeben, nachdem auf die wegen Beleidigung des Adels er­ hobene Anklage in zwei Instanzen die Freisprechung erfolgt war. Die strafbare Handlung sollte begangen sein durch Anführung des bekannten Sprichworts: „Bong, seggt de Bur, wenn de Eddelmann Släg kriegt.“ — Die plattdeutsche Nr. 20 ist in großer Masse verbreitet, da sie trotz der Beschlagnahme nachgedruckt und versendet wurde.

Die Entstehung der nat.-lib. Partei; — von 1866 bis 1867.

87

Polizeibeamten und Gensdarmen den Wählern den konservativen Stimm­ zettel und die Nothwendigkeit, ihn abzugeben, beibrachte und in diesen Be­ strebungen durch das Zunkerthum und die Geistlichkeit unterstützt wurde, da konnten große städtische Wählerversammlungen mit aller ihrer liberalen Einstimmigkeit keinen Beweis von dem künftigen Ausfall der Wahl liefern. Die liberale Partei hatte sich nicht klar gemacht, daß an den direkten Wahlen die am weitesten zurückgebliebene Masse der Wahlberechtigten, ins­ besondere die des Lesens und Schreibens unkundigen oder nur nothdürftig kundigen ländlichen Tagelöhner und Arbeiter sich nur auf Kommando, dann aber auch sämmtlich betheiligen, daß der weit überwiegende Theil der die untersten Volksklassen Kommandirenden im protestantischen Preußen Polizeibeamte oder Konservative seien, daß also das allgemeine gleiche und direkte Wahlrecht vollends bei dem Mangel einer wirklichen Preß­ freiheit und eines wirklich freien Versammlungsrechts der liberalen Partei so lange durchaus ungünstig sein muß, als es nicht gelingt, in den einzelnen Wahlkreisen Organisationen zu schaffen, die es jedem einzelnen liberalen oder unabhängigen Wähler bis in den entlegensten Weiler hin als Ehrensache erscheinen lassen, an der Wahlurne seinen Stimmzettel abzugeben. Die Wahlen des 12. Februar 1866 ergaben für die alten Provinzen Preußens, also für das Gebiet, auf welches sich die Thätigkeit des liberalen Zentral-Wahlkomites erstreckt hatte, einen durchaus unerwarteten Sieg der ministeriell-konservativen Partei. In Berlin freilich war diese Partei ge­ schlagen; aber auch hier, wo die Anhänger der neuen Fraktion und die alte Fortschrittspartei in ungestörter Eintracht eifrig zusammengewirkt hatten, waren stattliche konservative Minderheiten vorhanden.*) Zn Ostpreußen war die liberale Partei vollständig geschlagen; in allen protestantischen Kreisen, selbst in der Stadt Königsberg siegten Konservative, und im katholischen Ermeland zwei katholische Konservative, von denen der eine im Vincke'schen Zentrum» der andere, der bekannte vr. Krätzig,, vom Staatsanwalt preßseindlichster Richtung des Herrn Grafen zur Lippe schnell zum Chef der katholischen Abtheilung im geistlichen Ministerium des Herrn v. Mühler avaneirte, in der „Fraktion des Herzogs v. Ujest", in der dazumal noch programmlosen freien konservativen Fraktion Platz nahm. Es machte dabei keinen Unterschied, ob der liberale Gegenkandidat sich Simson oder Forkenbeck oder Hoverbeck nannte, — sie wurden von den Landräthen geschlagen. In Westpreußen und Posen kamen in den Kreisen mit gemischter Be­ völkerung mehrere Liberale sofort oder in engerer Wahl gegen die Polen durch; in Danzig, dem einzigen Wahlkreise, in dem ein Streit der neuen Fraktion (Twesten) mit der Fortschrittspartei (Langerhans) ausge*) In Berlin wurden gewählt: I. Lasker (7,708 von 12,765 Stimmen gegen v. Roon 4,781, Stadtrichter Hiersemenzel 137 rc.); II. Waldeck (8,291 von 13,515 gegen Graf Bismarck 5,137); III. Moritz Wiggers von Rostock (9,630 von 12,607 gegen v. Moltke 2,840); IV. Runge (6,831 von 8,956 gegen General Vogel v. Falckenstein 1,449, Lasker 495); V. Franz Duncker (7,103 von 9,566 gegen General Her­ warth v. Bittenfeld 2,268); VI. Schulze-Delitzsch (6,942 von 9,717 gegen Bis­ marck 1,464, General Steinmetz 1,266).

88

Die Entstehung der nat.-lib. Partei; — von 1866 bis 1867.

fochten wurde, siegte Twesten zwar in der engern Wahl, aber bei der Nach­ wahl der Kandidat der Konservativen.

Zn Schlesien fielen die Wahlen günstiger für die Liberalen aus. Bres­ lau blieb bei einem Kampf mit allen Parteien der Fortschrittspartei.*) Zn den Zndustriekreisen Waldenburg und Reichenbach-Neurode kamen die Landtagsabgeordneten von Waldenburg, Reichenheim und Twesten, letzterer erst in engerer Wahl durch. Zn Neiße ward der altliberale Land­ rath a. D. Friedenthal als liberaler Kandidat in engerer Wahl gegen General Vogel v. Falckenstein gewählt, im Regierungsbezirk Liegnitz erhiel­ ten die Landtagsabgeordneten aus dem linken Zentrum, Aß mann, v. Carlowitz, zur Megede und Graf Dohna, ferner als liberaler Kandidat der altliberale Professor Röpell und als konservativer Kandidat der altliberale Appellationsgerichtsrath Falk das Mandat. Zn Pommetk ward Graf Schwerin in seinem heimathlichen Kreise wiedergewählt; ferner ward Michaelis in Stettin und gleichzeitig in engerer Wahl in Ueckermünde gewählt. — Zn der Provinz Brandenburg stellte, abgesehen von Berlin und Oberbarnim, der Regierungsbezirk Potsdam nur konser­ vative Abgeordnete, während der Regierungsbezirk Frankfurt außer Sim­ fon noch drei Liberale wählte. — Zn der Provinz Sachsen kamen von früheren liberalen Abgeordneten nur zwei, darunter v. Unruh, durch, wozu drei neue traten, darunter Gustav Freitag und Eugen Richter. Außerdem war in Neuhaldensleben-Wolmirstedt Graf Schwerin gewählt, der nicht annahm und dadurch dem in mehreren Kreisen gegen Konser­ vative durchgefallenen Präsidenten v. Forkenbeck einen Nachwahl-Platz verschaffte. — Zn Westfalen war, abgesehen von zwei in politischen Fragen liberalen Klerikalen und dem in Hagen von den Konservativen gewählten Georg v. Vincke, nur der Abgeordnete für Dortmund Dr. Becker als Liberaler zu verzeichnen. Löwe war in Bochum gegen den Landrath durchgefallen, nachdem er andere Kandidaturen, weil seine Wahl in Bochum gesichert sei, mehrfach abgelehnt hatte. — Am Rhein ging, wie in Westfalen, der katholische Klerus mit der Regierung, so daß auch in dieser Provinz die Wahlen weit konservativer ausfielen, als man er­ wartet hatte. Zn den Zndustriekreisen des Düsseldorfer Regierungsbezirks trat die neue Partei der Lassalleaner oder Sozialdemokraten, auf deren Ursprung wir später zurückkommen, mit starken Minoritäten auf; in Elber­ feld-Barmen gab sie bei der engern Wahl zwischen Graf Bismarck und Forkenbeck auf des nicht zur engern Wahl gelangten von Schweitzers Rath für Bismarck den Ausschlag.**)

Das Gesammtergebniß der Wahlen in den alten Provinzen Preußens war, daß die liberale Opposition, einschließlich der Polen und der frei­ sinnigeren Klerikalen, es kaum zu einem Drittel der Sitze gebracht hatte.

*) Im Ostbezirk Simson 6,359 (Molinari, altliberal, 1,752, Elwanger, kons., 1,014, v. Görtz, klerik, 993) Stimmen, im Westbezirk Bouneß 7,224 (Hobrecht, altlib., 1,863, Graf Bismarck 1,081, Elvenich, klerik., 702) Stimmen.

**) Bismarck nahm hier nicht an, und nun wurde Gneist gewählt, der als liberaler Kandidat mehrfach, — in Hagen gegen Vincke durchgefallen war.

Die Entstehung der nat.-lib. Partei; — von 1866 bis 1867.

89

In den neuen Provinzen war die Stellung der Parteien zur Regie­ rung beim Wahlkampfe eine durchaus andere gewesen. Zn Hannover, Kurhessen und Nassau genoß eine einige liberale Partei zugleich die Billi­ gung, wenn nicht Unterstützung der Regierung. Zn Hannover hatte „ein Zentralkomito der nationalliberalen Partei für Hannover" unter dem Vorsitze des demokratischen Nationalvereins-Präsidenten Rudolf v. Ben­ nigsen die Leitung der Wahlbewegung in die Hand genommen und, ab­ gesehen von den beiden Kreisen Ostftieslands, welches den Hannoveranern keinen Einfluß gestattete, alle nichtpartikularistischen Wähler zu vereinigen gewußt; trotz der Unterstützung der Regierung war die nationalliberale Partei in der Mehrheit der Kreise (9 von 17) unterlegen. Glücklicher war das nationalliberale Konnte von Kurhessen, welches in allen Kreisen, mit Ausnahme des katholischen Fulda, seine Kandidaten durchsetzte. In Nassau hatte „die deutsche Fortschrittspartei" in beiden Kammern die große Mehrheit gehabt,*) jetzt als nationale Partei siegte sie mit großer Mehr­ heit in allen 5 Wahlkreisen über partikularistisch gesonnene Konservative und Demokraten. Zn Frankfurt a. M. wählte man die erste Finanzgröße der Welt, den Freiherrn v. Rothschild, ohne nach seiner politischen Meinung zu fragen, aus schwer erklärlichen Beweggründen. Zn Schleswig-Holstein traten drei Parteien auf den Kampfplatz, die eigentlich schleswig-holsteinische (Augustenburgische), welche der Annektion widerstanden hatte und in den meisten Kreisen die Männer umfaßte, die in der nationalen Bewegung der früheren Zahre ausdauernde Streiter gewesen waren; ihnen entgegen eine sich deutsch oder national nennende Partei, darunter der Theil des Adels, der schnell sich mit Preußen vertragen hatte, unter Führung des Kieler Professors v. Treitschke in der Presse beson­ ders wirksam, und endlich eine schwer bestimmbare Mittelpartei. Dazu kamen im Norden noch die Dänen. Diese besetzten zwei Wahlkreise, in den übrigen siegte die Opposition, die Augustenburgische Partei' Zn den andern norddeutschen Staaten, mit Ausnahme von Mecklen­ burg und dem Königreich Sachsen, gingen die Wahlen ohne große Partei­ kämpfe vor sich; eine gemäßigt liberale Richtung fand in der Regel auch die Unterstützung der Regierung und setzte ihre Vertreter durch. Zn Mecklenburg stand die von der Regierung begünstigte feudale Zunkerpartei einer einigen liberalen Partei ohne Vermittelung gegenüber, erstere erhielt nur 2, letztere 5 Sitze. Zm Königreich Sachsen waren die Parteiströmun­ gen weniger klar, die alte Demokratie von 1848 und 1849 bekämpfte die Nachfolger der Gothaer einerseits und partikularistische Konservative anderer­ seits. Dazwischen Sozialdemokraten und ihnen mehr oder weniger nahe-

*) Ein Aufruf in Angelegenheiten Schleswig-Holsteins vom 11. April 1866 ist unterzeichnet „Die zur deutschen Fortschrittspartei gehörigen Mitglieder des nassauischen Landtages" und führt dann 9 Mitglieder der ersten und 20 der zweiten Kammer, darunter neben Dr. Lang die späteren Mitglieder des Reichstages be­ ziehungsweise Abgeordnetenhauses Born, Dr. Braun, Knapp, Mohr, Rutz, Schenck, Wagner und den später altliberalen und zuletzt freikonservativen von Schwartzkoppen-Rottorf auf.

90

Die Entstehung der nat.-lib. Partei; — von 1866 bis 1867.

stehende Anhänger der antipreußischen Volkspartei. Die Nachfolger der Gothaer nannten sich liberale und nationale Partei, sie waren verdächtig, die Annexion Sachsens gewünscht oder gar begünstigt zu haben. Dies die Ursache, weshalb sie sammt und sonders durchfielen. Gewählt wurden 8 Demokraten, 1 Sozialdemokrat, 1 Volksparieimann und 13 Konservative verschiedener Schattirungen. Das Gesammtresultat der Wahl vom 12. Februar 1866 schien dem­ nach der liberalen Sache nicht ganz ungünstig zu sein. Die Gewählten sonderten sich in acht Fraktionen, von denen man in Anbetracht, daß der zu berathende Verfassungsentwurf den liberalen Ansprüchen in sehr gerin­ gem Maße entsprach, fünf der Opposition zurechnen konnte: a) Die konservative Fraktion von 59 Mitgliedern, darunter 57 Preußen der alten Provinzen. Von der alten Junkerpartei unter Wageners und Moritz v. Blanckenburgs Führung war mancher ausdrücklich als Regierungs­ kandidat gewählt,*) von andern verstand es sich von selbst, daß sie mit Bismarck durch Dick uud Dünn gingen, so die Generäle Moltke, Vogel v. Falckenstein, Herwarth v. Bittenfeld, Steinmetz, v. Roon. b) Die freikonservative Fraktion mit 40 Mitgliedern hatte 2 Herzöge, 3 Fürsten, 9 Grafen, 11 Barone und einfache Landedelleute. Ein Pro­ gramm hatte sie auch zur Reichstagswahl nicht aufgestellt. Zu ihr hielten sich auch einzelne sächsische konservative Partikularisten und konservative Klerikale, wie Krätzig, Thießen, Küntzer. c) Die Fraktion des Zentrums mit 27 Mitgliedern, darunter beide v. Vincke, Max Duncker, v. Sänger, Baumstark, Falk, Friedenthal und eine Reihe sächsischer konservativer Partikularisten. Der linke Flügel dieser Fraktion bestand etwa aus dem Rest des rechten Flügels der Altliberalen. Freilich hatte die konstitutionelle Fraktion des preußi­ schen Abgeordnetenhauses, einschließlich Graf Schwerin und Simson, einen besonderen, wenn auch farblosen Wahlaufruf erlassen und dadurch

*) Ausdrücklich einer Bismarck'schen Empfehlung verdankte seine Wahl z. B. der spätere Frondeur im Herrenhause, Graf Schulenburg-Beetzendorf für Salzwedel-Garde­ legen. Die Konservativen des Kreises hatten Bismarck selbst wählen wollen. Er schrieb einen Brief, in welchem er ablehnte und dann fortsuhr: „Indem ich deshalb bitte, für den dortigen Wahlkreis, in welchem sonst, als der Wiege der preußischen Monarchie, eine Wahl besonders ehrenvoll für mich gewesen sein würde, von meiner Person abzusehen, glaube ich dies in dem vorliegenden Falle um so unbedenklicher aussprechen zu können, als nach den mir anderweit gewordenen Mittheilungen der Graf Schulenburg-Beetzendorf wohl Aussicht hat, an meiner Stelle gewählt zu wer­ den. Selbstredend würde diese Wahl der königlichen Regierung und mir selbst sehr angenehm und willkommen sein, und kann ich deshalb nur dringend wünschen, den Grafen v. Schulenburg-B eetzenborf statt meiner als Kandidaten für den dortigen Wahlkreis aufgestellt zu sehen. Euer Hochwohlgeboren autorisire ich hierdurch aus­ drücklich, von dieser meiner Erklärung auch für die Oeffentlichkeit Gebrauch zu machen." Letzteres haben dann die Herren Konservativen in ausreichendem Maße gethan. Ein sonderbarer Zufall, daß im Januar 1877, just nach zehn Jahren, als der später von dem Nationalliberalen Dr. Kapp beseitigte Graf Schulenburg wieder Aussicht hatte, in den Reichstag zu gelangen, Graf Bismarck auf die Anfrage eines überloyalen Mannes, wen er für die engere Wahl empfehle, Schulenburg oder Kapp, zurücktelegraphirt hat: „Wählt Kapp!" und daß dieses Telegramm gleich jenem Briefe über den ganzen Kreis geworfen ist.

Die Entstehung der nat.-lib. Partei; — von 1866 bis 1867.

91

anscheinend einen Versuch gemacht, die altliberale Partei wieder vom Tode zu erwecken. Aber Simson, Graf Schwerin, Röpell-Breslau und andere als liberale Kandidaten gewählte Altliberale, schlossen sich sofort der natio­ nalliberalen Fraktion an, und die Neuangeworbenen gingen in der nächsten Session zu den Freikonservativen über, die im konstituirenden Reichstage oft liberaler als Vincke und Genossen stimmten.*) Die drei Fraktionen zu a. b. c. bildeten mit etwa 18 Wilden, darun­ ter Prinz Friedrich Karl, der Bundeskanzler, die Oberpräsidenten Graf Stolberg und v. Zagow, zwei mecklenburgische Feudale u. dgl., die konservative Minderheit von 144 Mann bei 297 Abgeordneten. d) Die bundesstaatlich-konstitutionelle Vereinigung**) mit 18 Mitglie­ dern, umfaßte die in Hannover von der Welfenpartei gewählten Abgeord­ neten, von den Exministern Wind thorst und v. Hammer stein bis zu dem demokratischen Redakteur Ehrenreich Eich holz, sowie sämmtliche schleswig-holsteinische Abgeordnete mit Ausnahme der beiden Dänen und endlich Herrn v. Mallinckrodt, und später auch noch andere preußische Klerikale. e) Die nationalliberale Fraktion mit 79 Mitgliedern. Erst mit der Eröffnung der Sitzung nahm die neue nationale Partei den zuerst von den Hannoveranern gewählten Namen an. f) Die freie Vereinigung mit 15 Mitgliedern, der Rest der alten preußischen Fraktion von Bockum-Dolffs (8 Abgeordnete) und 7 liberale Klerikale (Rohden, v. Kleinsorgen u. s. w.). g) Die Fraktion der Linken mit 19 Mitgliedern. Die deutsche Fort­ schrittspartei nahm wohl weniger aus Besorgniß, mit der s. g. Fortschritts-

*) Lasker fertigte den Abg. v. Vincke in der Sitzung vom 16. April 1866, als derselbe das schließlich in die Verfassung aufgenommene Amendement UjestBennigsen vom konservativen Standpunkte aus angegriffen hatte, mit folgenden treffenden Sätzen ab: ,',Mr haben, wo es sich um die'Feststellung der öersassungsmäßigen Rechte handelt, verzichtet, ein Kompromiß mit dem Herrn Abgeordneten für Hagen zu suchen, weil wir geglaubt haben, daß die Feststellung der verfassungs­ mäßigen Rechte des Volkes weit eher dort auf der äußersten rechten Seite zu suchen sei, als bei dem ehemaligen Anhänger des verfassungsmäßigen Rechtes des preußi­ schen Landtags."

**) Die bundesstaatlich -konstitutionelle Fraktion stellte im Gegensatz zu fast allen andern Fraktionen ein Programm auf. Dasselbe lautete: „Rach Maßgabe der gegebenen Thatsachen vereinigen wir uns auf der Basis des Bundesstaats unter der mit allen zur Wahrung der Selbstständigkeit, Ehre und Wohlfahrt Deutschlands er­ forderlichen Mitteln ausgestatteten Zentralgewalt der Krone Preußen zu regelmäßi­ gen gemeinsamen Vorbesprechungen über die zunächst für das norddeutsche Bundes­ gebiet zu gründende Verfassung. Wir werden uns bemühen, zur Vollendung der Konstituirung des Bundesstaats auf Grund des dem Reichstage von den verbündeten Regierungen vorgelegten Verfassungsentwurfs nach Kräften mitzuwirken, und halten uns dabei, indem wir uns zu den Prinzipien freisinniger konstitutioneller Verfaffung (mit Budgetrecht, der Verantwortlichkeit der Vertretung der Regierung, Bundesge­ richt, Schutz der freien Presse und des Vereins- und Versammlungsrechts u. s. w.) bekennen, für verpflichtet, die Wahrung möglichster Selbstständigkeit und Freiheit der Angehörigen des Bundesstaats, soweit sie mit der Handhabung einer kräftigen Zentralgewalt vereinbar, und die diese Freiheit sichernden konstitutionellen Garan­ tien und dadurch auch die baldige Vereinigung Süddeutschlands mit dem neuen Bunde in verfassungsmäßigem Wege zu erstreben."

92

Die Entstehung der nat.-lib. Partei; — von 1866 bis 1867.

Partei im Großherzogthum Hessen und anderwärts verwechselt zu werden, als um auch großdeutschen Demokraten den Zutritt zu erleichtern, für die Reichstagssession den Namen der Fraktion der Linken an. Sie bestand aus 10 Vertretern preußischer Wahlkreise (5 für Berlin, 2 für Breslau, je einer für Dortmund, Solingen und Nordhausen), 7 sächsischen Demo­ kraten, einem Hamburger und dem Abgeordneten für Gotha. h) Die Fraktion der Polen, aus 13 Mitgliedern bestehend.

Die vier Fraktionen zu d bis g zählten mit 7 Wilden, die man ihnen zurechnen konnte, erst 139 Mitglieder, also eine Minderheit gegen die drei Fraktionen der Rechten; mit Hinzurechnung der 13 Polen und 2 Dänen würde es die Opposition auf 153 Stimmen*) gebracht haben. Indessen stimmten die Dänen nicht und die Polen nur selten.

Der Verlauf des konstituirenden Reichstags war der liberalen Partei unerwartet ungünstig; die Nationalliberalen der neuen preußischen Provin­ zen überraschten durch ihre Nachgiebigkeit gegen die Forderungen Bismarcks. Dadurch daß viele von ihnen auf jede mehr oder weniger deutliche Dro­ hung von ihren ersten Beschlüssen abgingen, hat die Norddeutsche Bundes­ verfassung manche Bestimmungen erhalten, die bis auf den heutigen Tag und vielleicht noch für lange Zeit der freiheitlichen Entwickelung Deutschlands hinderlich sind. Schon in der mehrtägigen Generaldebatte über die Ver­ fassung trat ein scharfer Gegensatz zwischen den hannoverschen Demokraten Miquel und v. Bennigsen und ihren alten Freunden aus der Leitung des Nationalvereins Schulze-Delitzsch und Duncker hervor. Bald zeigte es sich bei den Abstimmungen, daß der Liberalismus der annektirten Demokraten aus Hannover und Kurhessen im Verhältniß zu den aus der Fortschrittspartei ausgetretenen altpreußischen Nationalliberalen ein überaus blasser war. Ein Antrag der Linken, den Artikel 3 der Ver­ fassung an eine Kommission zur Aufstellung der wesentlichsten Grundrechte zu verweisen, wurde unter der gegen die Linke oft ausgeübten Wortab­ schneiderei mit großer Majorität verworfen, ebenso alle Anträge, einzelne oder Gruppen von Grundrechten aufzunehmen. Nur wenige National­ liberale stimmten dafür. Dagegen stellten sie hinterher den Antrag (Braun-

*) Zur Zeit der Präsidentenwahl (2. März) war v. Fort en deck, der als Ab­ geordneter erst am 10. März aus der Nachwahl für Graf Schwerin in WolmirstedtNeuhaldensleben hervorging, noch nicht in den Reichstag eingetreten. Er wäre als Präsident wohl ohne große Schwierigkeit durchgesetzt. Für Simson als ersten Präsidenten war eine Einigung unter der Mehrheit nicht im voraus hergestellt, ob­ schon Vincke und seine Freunde dafür eintraten Die sächsischen Partikularsten, die gemeinsam tagten, und die Polen sträubten sich dagegen. Die Stimmabgabe bei den drei Präsidentenwahlen war folgende. Erster Präsident. Wahlgang I. 240 Zettel: Simson 119, Graf Eberhard Stolberg 73, Herzog Ujest 24, v. Wächter (Sachse) 17, Erxleben 3, Graf Schwerin 2, Prinz Friedrich Karl 1. Wahlgang II. 240 Zettel: Simson 127, -Graf Stolberg 95, v. Wächter 12, Herzog Ujest 5. Ein Theil der Freikonservativen war auf Simson übergegangen. — Erster Vizepräsident. Wahlgang I. 239 Zettel: v. Bennigsen 95, Graf Stolberg 64, Herzog Ujest 56, v. Wächter 23. Wahlgang II. Herzog Ujest 119, v. Bennigsen 94, v. Wächter 14 rc. — Zweiter Vizepräsident. 222 Zettel: Bennigsen 114, Haberkorn (Sachsen) 95, v. Wächter 8. Die Polen hatten durchweg für Wächter gestimmt. Die Wiederwahl der Präsidenten erfolgte am 30. März mit sehr großen Majoritäten.

Die Entstehung der nat-lib. Partei; — von 1866 bis 1867.

93

Lasker), der Kompetenz des Reiches und seiner Gesetzgebung (Art. 4), „die Feststellung der Befugnisse, welche kein Bundesstaat in Bezug auf Preß-, Vereins- und Versammlungsrecht, sowie in Bezug auf die sonstigen per­ sönlichen und staatsbürgerlichen Rechte den Bundesangehörigen vorenthalten darf" zu überweisen. Dieser Antrag war, nach Vinckes von der Fort­ schrittspartei in und außer dem Reichstag vielfach für richtig gehaltenen Ausspruch nur gestellt, um „die Kette nach links nicht ganz aufzugeben, son­ dern wieder etwas enger zu schließen und sich gegen gewisse Vorwürfe der Ber­ liner Presse zu verwahren." Er wurde mit 130 gegen 128 Stimmen ver­ worfen. Die Linke erklärte ihn für ziemlich werthlos, stimmte aber dafür. Aehnlich erging es bei der Frage der Reichsregierung. Die Anträge der Fortschrittspartei, daß die Krone Preußen die vollziehende Gewalt in Bundes­ angelegenheiten durch verantwortliche Minister ausübe und die Regiernngsakte des Bundespräsidiums zu ihrer Giltigkeit der Gegenzeichnung eines dadurch die Verantwortlichkeit übernehmenden Ministers bedürfen, wurden mit großer Mehrheit verworfen,*) und als später die Nationalliberalen (Anträge von Bennigsen) ein Surrogat der so eifrig bekämpften Anträge dadurch einschmuggeln wollten, daß sie „dem Bundespräsidium" die Er­ nennung der Vorstände der einzelnen Verwaltungszweige übertragen woll­ ten, wurden die betreffenden Anträge mit geringer Mehrheit verworfen, nachdem der Abgeordnete Lasker zuvor seine noch etwas weitergehenden Anträge zurückgezogen hatte. Bei dem von den Altliberalen eingebrachten Anträge auf fünfjährige Dauer des Parlaments hielten sich die National­ liberalen auch der neuesten Provinzen Preußens tapfer. Anders bei den Anträgen auf Gewährung von Diäten und Reisekosten, die in der ersten Berathung angenommen, in der Schlußberathung, nachdem Bismarck im Namen der Regierungen die Unannehmbarkeit erklärt hatte, mit 178 gegen 90 Stimmen verworfen wurden. Hier blieben nur eine kleine Zahl Na­ tionalliberaler, wie Forkenbeck, Gneist, v. Hennig, Kanngießer, Lasker, Meier (Thorn), Pannier, Reichenheim, v. -Spankeren, v. Unruh- v.' Vuerst, Wölfel, die Hannoveraner Grumbrecht, Elliffen und Römer und von klein­ staatlichen Abgeordneten die Thüringer Baumbach, Säger, Hering, Fries, Rückert (Meiningen), Salzmann, die Mecklenburger Julius Wiggers und Wachenhusen, ihrer vorigen Abstimmung getreu. Am heftigsten platzten die alten Freunde aus der deutschen Fortschritts­ partei des preußischen Abgeordnetenhauses bei der Frage des Budgetrechts und der Militärverfassung gegen einander. Hier wurde durch Forkenbecks Bemühungen ein Kompromiß zu Stande gebracht, welches damals den hef­ tigsten Angriffen der Fortschrittspartei unterlag, uns aber, seitdem sieben Sahre später das neue Reichs-Militärgesetz vom 2. Mai 1874 mit dem Septennat zusammenkompromittirt worden ist, in weit milderem Lichte erscheint.

*) Sehr lesenswerth ist noch heute die Rede des Profeffor v. Sy bei vom 23. März 1866 und die Antworten von Waldeck und Schulze. Daß aus einem in der Konfliktszeit so tapferen Abgeordneten sehr schnell ein Verächter der Volks­ rechte geworden sei, konstatirte damals der alte Waldeck in würdigster Weise.

94

Die Entstehung der nat.-lib. Partei; — von 1866 bis 1867.

Die Norddeutsche Verfassung wurde am 16. April 1867 mit 253 gegen 53 Stimmen angenommen. Unter der Minderheit befanden sich von der Linken Ausfeld, Dr. Becker, Bonneß, Duncker, Evans, Heubner, Minckwitz, Richter, Runge, Schaffrath, Schulze, Trip, Waldeck, Wizard und Wiggers (Ree und Riedel waren krank, Simon und Rewitzer stimmten mit Za); vom frühern linken Zentrum aus Preußen Freiherr v. Hilgers, zur Megede, Freiherr Proff-Zrnich, Kratz (Gladbach), Weygold und Winkel­ mann; sodann von der nationalliberalen Partei Baumbach für Rudolstadt, Holzmann für Anhalt und Rückert für Meiningen 2; ferner Groote, der früher zur Fortschrittspartei gehörte, und Oehmichen, der später ihr zutrat, von den Wilden. Die Motive dieser Verneinung hatte Waldeck in einer Rede vom 15. April 1876 so klar dargelegt, daß es geradezu unbegreiflich ist, wenn einzelne nationalliberale Führer, vor allem Herr v. Bennigsen, bis zum heutigen Tage bei feierlichen Gelegenheiten aus die­ sem Votum durch Unterschiebung falscher Motive der Fortschrittspartei die schwerwiegendsten Vorwürfe machen. Waldeck schloß: „Mit Einem Worte, wir wollen einen Bundesstaat; aber wir wollen ihn nur so, daß er den preußischen Einheitsstaat nicht schädigt; wir wollen ihn nur, indem er die preußische jetzt vorhandene Spitze nicht anders stellt, als sie ist, nämlich mit einem verantwortlichen Ministerium. Diese Verfassung enthält nur die Ver­ antwortlichkeit des Bundeskanzlers, die aber gar keine Verantwortlichkeit ist, da der Kanzler namentlich in den wichtigsten Punkten gar keine Verantwortung hat; die übrige Verantwortlichkeit ist beharrlich abgelehnt worden. Ohne ein verantwortliches Ministerium existirt keine annehmbare Zentralgewalt, und ohne dieses Hauptprinzip ist die Verfassung überhaupt nicht annehmbar. Selbst das Budgetrecht hat nur dann eine Gestalt, wenn es in einer auf Verantwortlichkeit ruhenden Verfassung eingeführt ist. Dieses Alles vermissen wir in der Verfassung, und wenn wir darum nicht im Stande sind, ihr zuzustimmen, so thun wir das mit dem Bewußtsein, daß dessen­ ungeachtet nicht im Allermindesten die Sache, wofür wir einstehen, gefährdet ist, daß sie im Gegentheil nur gewinnen kann, daß das Bündniß und die Einheit vollständig an sich feststeht, daß es aber beffer ist, es wird entweder den Landtagen selbst ein neuer Verfassungsentwurf vorgelegt, oder es wird der Versuch gemacht, einen vollständig neuen Verfassungsentwurf zu entwerfen, als daß man eingeht auf diesen un­ vollständigen Entwurf. Aus diesen Gründen, die ich ja nur oberflächlich und ohne auf die Details ein­ gehen zu können und zu wollen, Zhnen hier wieder vorgeführt habe, muß ich zu dieser Verfassung, wenn sie nicht die wesentlichen Abänderungen in unserem Sinne erleiden sollte, woran ja nach der Majorität dieses Hauses überhaupt gar nicht zu denken ist, Nein sagen."

Am 29. April 1867 trat der preußische Landtag zusammen, um über die Verfassung des Norddeutschen Bundes Beschluß zu fassen. Zm Ab­ geordnetenhause erhob sich von neuem und erbitterter der Kampf über An­ nehmen und Ablehnen der Verfassung. Die Mehrheit der liberalen Partei war für die Ablehnung; der neuen Partei der Nationaliberalen hatten im Reichstage im Kampf gegen ihre alten Freunde eine große Anzahl tüchtiger redebegabter Parteigenossen aus den neuen Provinzen zur Seite

Die Entstehung der nat.-lib. Partei; — von 1866 bis 1867.

95

gestanden, hier fehlten sie ihnen; dagegen mußten sie scharfe Reden von Fortschrittsmännern, die im Reichstage fehlten, vonHoverbeck, Virchow, Ziegler, Löwe über sich ergehen lassen; mehrere von ihnen, wie die Berliner Abgeordneten Lasker und Lüning, erhielten Mißtrauensvota ihrer Wahlmänner. Die Verfassung wurde am 8. Mar mit 226 gegen 91, bei zweiter Lesung am 31. Mai 1867 mit 227 gegen 93 Stimmen angenommen. Zm Ganzen hatten in beiden Lesungen 100 dagegen ge­ stimmt, nämlich 53 Fortschrittsmänner, 19 vom linken Zentrum, 14 Kleri­ kale und 14 Polen. Zuvor war folgender Antrag auf motivirte Ableh­ nung der Verfassung von den Abgeordneten Waldeck, Virchow und Freiherr Hoverbeck mit Unterstützung von 72 Mitgliedern eingebracht und verworfen worden: „Das Haus der Abgeordneten wolle beschließen, zu erklären: In Erwägung, daß der zur Führung Deutschlands berufene Preußische Staat schon vor dem

Bestehen der Verfassung von 1850 eine einheitliche Gesetzgebung und Ver­ waltung durch geordnete Staats-Ministerien besaß;

daß seit dem Bestehen der Verfassung dem Preußischen Volke

die (Tit. 2 der preußischen Verfassung aufgezählten) Grundrechte, die verfassungsmäßige Betheiligung seiner Vertreter an der Gesetzgebung,

insbesondere das Recht zur entscheidenden Beschlußfassung über den Staats­

haushalts-Etat und die Bewilligung von Steuern, somit eine Einwirkung auf die gesammte Staats-Verwaltung;

eine einheitliche Exekutive durch ein verantwortliches Ministerium, gesichert und alle diese Rechte als unantastbare unter den Schutz des von

Preußischen Königen, Beamten und Volksvertretern zu leistenden Verfassungs­ Eides gestellt sind;

daß die neuerworbenen Provinzen sich zwar noch nicht in dem Besitze dieser Verfassung befinden, aber ein durch die Gesetze vom

20. September und

24. Dezember 1866 verbrieftes Recht auf die ungeschmälerte Einführung der­ selben am 1. Oktober 1867 besitzen;

in Erwägung, daß diese Güter und Rechte eines Staates und Volkes von 25 Millionen nicht beseitigt oder gefährdet werden dürfen durch ein Bündniß dieses Staates mit

21 kleineren deutschen Staaten von einer Gesammtbevölkerung von 5 Millionen,

welche ohnehin in das Machtgebiet des Preußischen Staates fallen; daß vielmehr die Erhaltung und Fortbildung der bestehenden Freiheiten und

Rechte eine der Bedingungen des Berufs Preußens zur Zentralgewalt in Deutsch­ land bildet;

daß, wenn zum Zwecke der deutschen Einheit wegen der Existenz jener kleineren Staaten einzelne Zweige des Preußischen Staatslebens ausscheiden und in eine andere Verfassung und Administration übergehen sollen; dies nur auf dem

Wege des Bundes st aates geschehen darf, dessen konstitutionelles Oberhaupt die Krone Preußen mit einem verantwortlichen Ministerium ist;

96

Die Entstehung der nat.-lib. Partei; — von 1866 bis 1867.

daß dem Parlamente dieses Bundesstaates mindestens die Rechte der Preußischem Volksvertretung zustehen müssen, wie dies das gegenwärtige Abgeordnetenhaus in einer Adresse an Seine Majestät den König ausdrücklich gefordert hat und wie es in der jüngsten Thronrede im Prinzipe anerkannt worden ist;

in Erwägung, daß der aus den Berathungen des Reichstages hervorgegangene Entwurf de« Verfassung des Norddeutschen Bundes diesen Anfordemngen in folgenden Haupt­ punkten nicht entspricht: 1) Der Entwurf stellt die Krone Preußen nicht als ein einheitliches BundesOberhaupt für die in Art. 4 Nr. 1—15 der Kompetenz des Bundes über­ tragenen Angelegenheiten an die Spitze, sondern als Vorsitzenden eines für Preußen im Zahlenverhältniß nachtheiligen Bundesraths. Ein ver­ antwortliches Ministerium ist durch den Verfasfungs-Entwurf ausgeschlossen und die in Art. 17 ausgesprochene Verantwortlichkeit des Bundeskanzlers besteht nur dem Namen, nicht der Sache nach. 2) Die Exekutive in den Militär-Angelegenheiten ist dem Könige zwar ohne wesentliche Konkurrenz des Bundesraths übertragen, jedoch als Bundes­ feldherrn und bei dem Mangel eines verantwortlichen Ministeriums, ja eines Ministeriums überhaupt in unbeschränkter Art und unter Ausdehnung auf die Befugnih zur Proklamirung des Kriegszustandes, welche nach Art. 111 der Preußischen Verfassung und dem Gesetze vom 4. Juni 1851 nur von dem konstitutionellen, verantwortlichen Staats-Ministerium geschehen darf. 3) Der Entwurf enthält im Abschnitt XII. zwar Bestimmungen über die Etatsfestsetzung, ähnlich der Preußischen Verfassung, macht dieselben aber in Ansehung des wichtigsten, des Militär-Etats, durch die Art. 60 und 62 des Abschnitts XI. völlig illusorisch und die Aufstellung des Militär-Etats zu einer bloßen, der materiellen Prüfung des Parlaments

entzogenen Kalkulatur-Arbeit. 4) Die Feststellung einer Friedens-Präsenz-Stärke des Bundesheeres zu einem bestimmten Prozentsatz der Bevölkerung eignet sich überhaupt nicht zur Aufnahme in eine Verfassung. Sie entzieht in Verbindung mit der aufgelegten Zahlung von 225 Thlr. pro Kopf an die Bundeskasse dem Parlamente, die dem preußischen Abgeordnetenhause zustehenden Rechte der Mitwirkung bei Festsetzung des Militär-Etats. Diese Zahlung wäre selbst in der ursprünglich angenommenen Beschränkung auf 4 Jahre (bis Ende 1871) nicht gerechtfertigt gewesen, ist aber durch den bei der Schluhberathung auf Andringen der Bundes-Regierungen zu Art. 32, Alinea 3—5 gemachten Zusatz der Bundesverwaltung materiell für immer sicher gestellt, und nur in der Form ist ein scheinbarer, in der That wirkungsloser Einklang mit dem verfasiungsmäßigen Budgetrecht erzielt. 5) Während die definitive Feststellung der Bundesheeres-Organisation und der Bundesheeres-Gesetzgebung nicht in die Verfassung, sondern zur Beschluß­ fassung des ersten Reichstages des Bundes gehört haben würde, ist dennoch ohne gehörige Prüfung der seitherigen Streitpunkte die Dienstzeit im stehenden Heere auf 7 Jahre verlängert worden und dadurch eine Verpflichtung von höchster Wichtigkeit für die ganze Bevölkerung, im Widerspruch mit dem geltenden Gesetz, welches nur 5jährige Dienstzeit im stehenden Heere kennt, sogar zu einer verfassungsmäßigen erhoben.

Die Entstehung der nat.-lib. Partei; — von 1866 bis 1867.

97

6) Wenngleich das allgemeine direkte Wahlrecht dem Preußischm DreiklassenWahlsystem vorzuziehen ist, so führt doch die lediglich auf Andringen der Bundes-Regierungen beschlossene Streichung der Diäten indirekt einen Census der Wählbarkeit herbei, welcher der Preußischen Verfassung unbe­ kannt ist und die Zusammensetzung wie die Wirksamkeit des Reichstages in einem hohen Grade beeinträchtigen wird. 7) Die Bundesverfassung verleihet den Angehörigen der Bundesstaaten keine Grundrechte, mit Ausnahme des sehr beschränkten „Jndigenats" (Art. 3). Sie läßt die Grundrechte der Preußischen Verfassung bestehen, gefährdet sie aber im Einzelnen (Art. 7, 92 der Preußischen Verfassung) und im Allgemeinen durch die Art und Weise, wie Verfassungsstreitigkeiten durch den Bundesrath und Reichstag geschlichtet und entschieden werden sollen (Art. 76, 77 der Bundesverfassung). Sie setzt dadurch auch andere ver­ fassungsmäßige Rechte des Preußischen Volkes in Gefahr. 8) Die Bundesverfassung kennt weder den Verfassungseid des Königs, noch den der Beamten und Volksvertreter und entbehrt dadurch eines wesentlichen, in der Preußischen Verfassung bestehenden Schutzes; in Erwägung, daß eine so mangelhafte, die Volksrechte beschränkende und gefährdende BundesVerfassung für eine weitere Ausbildung im Sinne freiheitlicher Entwickelung keine Aussicht gewährt, daß vielmehr das Nebeneinanderbestehen zweier Ver­ fassungen und Volksvertretungen das verfassungsmäßige Leben in Preußen zu beeinträchtigen und den besonders im Gemeindewesen so nothwendigen Ausbau der Preußischen Verfassung in weite Ferne zurückzudrängen droht; daß alle diese Opfer an Volksrechten die Einigung Deutschlands eher hindern als fördern; daß die einheitliche militärische Macht Deutschlands nach außen hin durch die abgeschlossenen Militär-Konventionen und Bündnisse für die nächste Zukunft gesichert ist; daß kein Hinderniß entgegensteht, 'um' den jetzt knißlungeneü Versuch der 'Gründung'

eines Bundes-Staats von Neuem aufzunehmen; aus diesen Gründen erklärt das Haus der Abgeordneten, daß es dem vorgelegten Entwurf der Verfassung des Norddeutschen Bundes seine Zustimmung nicht geben kann, und fordert die Königliche Staats-Regierung auf, die anderweitige Regelung der Deutschen Verfassungs-Angelegenheit im Sinne der oben ausgestellten Grundsätze alsbald in Angriff zu nehmen.

ParisiuS.

?

98

Die Ions. u. lib. Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege.

Fünftes Kapitel. Die konservativen und die liberalen Parteien von Mitte 1867 bis zum französischen Kriege. Die Erbitterung, welche zwischen den Nationalliberalen und der Fort­ schrittspartei aus den Berathungen und Beschlüssen des konstituirenden Reichstages und der nachfolgenden Abgeordnetenhaus-Session zurückgeblieben war, beherrschte zunächst die Neuwahlen zum Reichstage. Sie wurde ge­ nährt und angefacht durch die Preffe der Hauptstadt, in welcher Jedermann mehr als in den Provinzen Gelegenheit hatte, zu beobachten, daß das preußische Ministerium die innere Verwaltung genau ebenso fortführte wie in der Konfliktszeit. Wie konnte es auch anders sein? Sollten plötzlich die Minister Graf zur Lippe, Graf Jtzenplitz, v. Mühler, v. Selchow und Graf Eulenburg sich zu liberalen Grundsätzen bekehrt haben? Sollten sie mit einem Male die in der Konfliktszeit behaupteten und, soweit der Rechts­ weg zugelassen war, mit Hülfe des Obertribunals zur Geltung gebrachten neuen Auslegungen der Verfassung und der Gesetze für falsch und irrthümlich anerkennen und demgemäß ihre Verwaltung ändern? Sollten die zahl­ reich wegen ihrer „guten Gesinnung" in die höheren Justiz- und Verwal­ tungsämter beförderten Beamten ebenfalls ihre Gesinnung mit einem Schlage umwandeln? sollten die jungen konservativen „Streber" nicht mehr für ihre Strebsamkeit belohnt werden? Das Ministerium der neuen Aera hatte den verfehlten Versuch gemacht, ein neues System unter Konservirung möglichst aller Beamten des alten Systems zur Geltung zu bringen; es wäre Thorheit gewesen von dem Ministerium der Konfliktszeit, nach der überraschenden Wandelung der äußern Politik aus dem bornirten preußischen Partikularismus der den Gang nach Olmütz als patriotische Großthat feiern­ den Kreuzzeitungspartei zu den deutschnationalen Bestrebungen des deut­ schen Nationalvereins und der deutschen Fortschrittspartei, noch einen Systemwechsel in der innern Politik verlangen zu wollen. Die große Mehrzahl der alten Fortschrittspartei nicht blos im Parla­ mente und in der Presse, sondern im ganzen preußischen Volke war fest überzeugt, daß ein Systemwechsel nur mit dem Wechsel der Personen wenigstens einiger der Minister zu erreichen sei, und daß jetzt, nachdem durch die Nachgiebigkeit der Mehrheit des Reichstages die Norddeutsche Bundesverfassung in einer, freiheitlichen Bestrebungen nicht günstigen Ge­ stalt angenommen und somit die beste Gelegenheit, freiheitliche Forderungen

Die Ions. u. lib. Parteien von 1867 bis zum stanz. Kriege.

99

durchzusetzen, leichtfertig verscherzt sei, es mehr als je der größten Ent­ schiedenheit und Zähigkeit der Abgeordneten in Vertheidigung liberaler Grundsätze bedürfe.

Da jeder Erfolg in der Politik stets eine ihm günstige Strömung in der Meinung der Masse hervorbringt, so hatte sich ein Umschlag der Volks­ stimmung zu Gunsten Bismarcks schnell genug in weiten Kreisen vollzogen; mit jedem Monat vermehrte sich die Zahl Derjenigen, die dem Bundes­ kanzler die herrlichsten Absichten auch für die Freiheit der Nation zuschrie­ ben und sich deshalb von den alten hartköpfigen Führern, die daran nicht glauben wollten, mehr und mehr abwendeten. Darunter waren selbstver­ ständlich die tausende und aber lausende, die 1848 der Demokratie, 1849 dem Herrn von Manteuffel, 1858 den Männern der neuen Aera und 1862 der Fortschrittspartei zugejauchzt hatten; — jetzt nannten sie sich nationalliberal und schädigten durch ihren Beitritt die neue Partei, deren Führern die fortschrittliche Presse vielfach mit Unrecht Liebedienerei und Wankelmuth vorwarf, während sie so handelten, wie sie dem Vaterlande am besten zu dienen meinten. Umgekehrt ward von der Presse der neuen Partei, insbesondere von der Nationalzeitung, den der Fortschrittspartei treu Gebliebenen Prinzipienreiterei und Halsstarrigkeit, oder gar preußischer Partikularismus vorgeworfen. Auch der verleumderische Vorwurf des Bündnisses mit Ultramontanen, Sozialdemokraten und andern „Vaterlands­ feinden" tauchte schon auf. Die nationalliberale Partei war zeitig auf eine feste Parteiorganisation bedacht. Schon in einem Rundschreiben vom 14. Mai 1867 hatten als Beauftragte der Partei die Herren Aßmann, 3. v. Hennig, Lasker, Michaelis, H. B. Oppenheim, Twesten und von Unruh die Parteigenossen aufgefordert, den im Sinne der Partei geleiteten Zeitungen, insbesondere der National­ zeitung und der von Dr. Meyen und Dr. Wiß geleiteten „Berliner Reform" die möglichste Verbreitung zu verschaffen, und Geld für die Wahlagitation zu. sammeln. Eine lithographirte. Korrespondenz wurde- angekündigt, damit die kleineren Provinzialblätter nicht wie bisher „den feudalen oder radikalen Unternehmungen dieser Art, mit denen sie jetzt ihre Spalten füllen, allein zu überlassen." (Das radikale Unternehmen war die vom Abg. Dr. Löwe geleitete L. C. = Liberale Korrespondenz). Am 13. Juni ward sodann das Programm der Partei veröffentlicht. Daß dies seitdem längst in Ver­ gessenheit gerathene, und wahrscheinlich vielen dazumal noch altliberalen oder konservativen Mitgliedern der jetzigen Reichstags- und Landtagsfraktion unbekannt gebliebene Aktenstück das wirkliche Parteiprogramm sein sollte, ergiebt sich aus der Art der Veröffentlichung. Die Nationalzeitung Nr. 269 enthält unter Berlin 12. Juni dasselbe mit folgendem Eingang: „Es geht uns das folgende im Auftrage der nationalliberalen Fraktion abgefaßte Programm zur Veröffentlichung zu." Wir bringen es hier unverkürzt mit allen Unterschriften: Als im vorigen Jahre der alte Bund zusammenbrach und die preußische Regierung den ernsten Willen bekundete, das nationale Band zu erhalten und die deutsche Einheit auf festeren Grundlagen herzustellen, da war es uns nicht zweifelhaft, daß die liberalen Kräfte der Nation mitwirken müßten, wenn das Einigungswerk gelingen 7*

100

Die Ions. u. lib. Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege.

und zugleich die Freiheitsbedürsnisse des Volkes befriedigen sollte. Um dieses Zweckes willen waren wir zur Mitwirkung bereit; möglich wurde sie erst dadurch, daß die Regierung von der Verletzung des Verfassungsrechtes abließ, die von der liberalen Partei so nachdrücklich vertheidigten Grundsätze anerkannte, daß sie die Indemnität nachsuchte und erhielt. Die Mitwirkung zu sichern konnten die durch den Verfassungs­ streit bedingten Gruppirungen innerhalb der Partei nicht genügen. Dem neuen Bedürfniß entsprach die Bildung der national-liberalen Partei zu dem Zwecke: auf den gegebenen Grundlagen die Einheit Deutschlands zu Macht und Freiheit her­ zustellen. Wir verkannten niemals das Schwierige der Aufgabe, im Zusammenwirken mit einer Regierung, welche Jahre lang den Verfassungskonflikt aufrecht erhalten und ohne Budgetgesetz verwaltet hatte, mit unvollkommenen konstitutionellen Waffen die freiheitliche Entwickelung zu fördern. Aber wir unterzogen uns dieser Aufgabe mit dem festen Willen, durch fortgesetzte ernste Arbeit die Schwierigkeit zu überwinden, und mit der Zuversicht, daß die Größe des Zieles die Thatkraft des Volkes stärken wird. Denn uns beseelt und vereinigt der Gedanke, daß die nationale Einheit nicht ohne die volle Befriedigung der liberalen Ansprüche des Volkes erreicht und dauernd erhalten, und daß ohne die thatkräftige und treibende Macht der nationalen Einheit der Freiheitssinn des Volkes nicht befriedigt werden kann. Deshalb ist unser Wahl­ spruch: Der deutsche Staat und die deutsche Freiheit müssen gleich­ zeitig mit denselben Mitteln errungen werden. Es wäre ein verderblicher Irrthum, zu glauben, daß das Volk, seine Fürsprecher und Vertreter nur die In­ teressen der Freiheit zu wahren brauchen, die Einheit dagegen auch ohne uns durch die Regierung auf dem Wege der Kabinetspolitik werde aufgerichtet werden. Die Einigung des ganzen Deutschlands unter einer und derselben Verfassung ist uns die höchste Aufgabe der Gegenwart. Einen monarchischen Bundesstaat mit den Bedingungen des konstitutionellen Rechtes in Einklang zu bringen, ist eine schwere, in der Geschichte bisher noch nicht vollzogene Aufgabe; die Verfassung des norddeutschen Bundes hat sie weder voll­ ständig im Umfange, noch in endgültig befriedigender Weise gelöst. Aber wir be­ trachten das neue Werk als den ersten unentbehrlichen Schritt auf der Bahn zu dem in Freiheit und Macht gefestigten deutschen Staate. Der Beitritt Süddeutschlands, welchen die Verfassung offen hält, muß mit allen Kräften und dringlich befördert werden, aber unter keinen Umständen darf er die einheitliche Zentralgewalt in Frage stellen, oder schwächen. Eine aus der Vermittlung der praktischen Bedürfnisse hervorgegangene Verfassung ist niemals ohne Mängel zu Stande gekommen; diese wuchsen mit der Zahl der widerstreitenden Interessen, doch war es stets ein Zeichen gesunder Lebenskraft, daß die bessernde Hand sofort zu wirken begann. Wir sind dem Loose menschlicher Un­ vollkommenheit nicht entgangen, aber die Schwierigkeiten haben uns nicht entmuthigt und die Mängel uns nicht blind gemacht gegen die guten Keime. Wie unsere Partei im Entstehen zu bessern bemüht war, so wird sie ununterbrochen und schon im nächsten Reichstage darauf hinarbeiten, die Verfassung in sich auszubauen. Im Parlament erblicken wir die Vereinigung der lebendig wirkenden Kräfte der Nation. Das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht ist unter unserer Mitwirkung zur Grundlage des öffentlichen Lebens gemacht. Wir verhehlen uns Nicht die Gefahren, welche es mit sich bringt, so lange Preßfreiheit, Versammlungs-

Die Ions. u. lib. Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege.

101

und Vereinsrecht polizeilich verkümmert sind, die Volksschule unter lähmenden Re­ gulativen steht, die Wahlen büreaukratischen Einwirkungen unterworfen sind, zumal da die Versagung der Diäten die Wählbarkeit beschränkt. Aber da die Garantien nicht zu erreichen waren, haben die Gefahren uns nicht abgeschreckt. Am Volke liegt es jetzt, für die Reinheit der Wahlen einzutreten; angestrengten Bemühungen wird es gelingen, seine Stimme wahrheitsgetreu zum Ausdruck zu bringen, und dann wird das allgemeine Wahlrecht selbst das festeste Bollwerk der Freiheit sein, wird es die in die neue Zeit hineinragenden Trümmer des ständischen Wesens weg­ räumen und die zugesicherte Gleichheit vor dem Gesetz endlich zur Wahrheit machen. Wir sind entschlossen, die Bundeskompetenz zu befestigen, und über alle ge­ meinsamen Angelegenheiten auszudehnen. Als Ziel schwebt uns vor, daß die parlamentarischen Funktionen des Staates möglich vollständig in den Reichstag verlegt werden. Auch der preußische Landtag soll sich nach und nach mit einer Stellung begnügen, welche in keiner Weise geeignet sei, dem Ansehen und der Wirk­ samkeit des Reichstages Eintrag zu thun. Dieses Ziel wollen wir auf dem verfaffungsmäßigen Wege erstreben; bis es in dieser Weise erreicht ist, müssen die beiden parlamentarischen Körperschaften ihre Befugnisse wechselseitig achten und einen friedlichen Wetteifer in der Erfüllung des eigenen Berufes bekunden. Rach dem Beispiele der preußischen Verfassung haben die entsprechenden Un­ vollkommenheiten in der Reichsverfassung Eingang gefunden. Auf beiden Gebieten sind nunmehr gleichzeitig und gleichmäßig die wesentlichen Reformen zu erstreben, welche die allein sichere Grundlage des öffentlichen Rechtes gewähren. Namentlich und vor Allem ist das Budgetrecht zu vervollständigen, damit der Volksvertretung der volle Einfluß auf die Staatsgeschäfte zufalle. Nicht minder dringend sind Gesetze, welche eine wirksame Verantwortlichkeit für die Minister und alle Beamten herbei­ führen, auf der juristischen Grundlage, daß Jedermann für seine Handlungen ein­ zustehen habe. Im Bunde ist überdies für eine vollständigere Repräsentation der verantwortlichen Träger der Regierungsgewalt zu sorgen und ihr Verhältniß zu den Regierungen der Einzelstaaten zu klären. ' Durch die Ereignisse des vorigen' Jahres und die' begonnenen Umgestaltungen haben die Aufgaben des preußischen Staates, der Regierung wie des Volkes, sich vervielfältigt. Der Anschluß der neu erworbenen Landestheile macht eine energisch reformirende Gesetzgebung, welche unter der Herrschaft der konservativen Partei verzögert worden ist und während des Verfassungskonflikts gänzlich geruht hat, dringend und unauf­ schiebbar. Der schleunigen Abhülfe warten in allen Theilen des Landes zahlreiche Mißstände, wie die Lähmung des Realkredites, die Beschränkung der Freizügigkeit, der Druck des Gewerbes und der Arbeit in den Fesseln der Gewerbeordnung. Die nothwendige Verschmelzung der alten und neuen Landestheile verlangt umfassende Reformen in den organischen und anderen wichtigen Gesetzen. Doch schulden wir den neuen Provinzen, welche in Justiz und Verwaltung mancher Vorzüge sich erfteuen, den Schutz dieser Institutionen, die unmöglich durch mangelhafte altpreußische Einrichtungen ersetzt werden dürfen. Die Gleichmäßigkeit ist vielmehr zu bewirken, indem wir ihnen folgen, wo sie uns voran sind. Dem ganzen Deutschland schuldet Preußen das gute Beispiel in Gesetz und Verwaltung, soweit beide den Einzelstaaten vorbehalten sind, denn die Zukunft des gesammten Vaterlandes hängt von diesem Beispiele ab. Wir meinen deshalb, daß der Ausbau und die Revision der preußischen Verfassung nur um so eifriger zu erstreben ist. Nach wie vor verlangen wir die

102

Die Ions. u. lib. Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege.

Ausführung der in der Verfassung verheißenen Gesetze und die Reform des Herren­ hauses als Vorbedingung aller Reformen. Von diesen stehen weit voran: Die Entfernung des ständischen Prinzips aus den Gemeinde-, Kreis- und Provinzialverfassungen und die Reform derselben nach den Grundsätzen der Gleichberechtigung und Selbstverwaltung; die Aufhebung der gutsherrlichen Ortsobrigkeit und gutsherrlichen Polizei. Der Aufschwung des Vaterlandes bedarf dieser sicheren und breiten Grundlagen, die wachsende Größe des Staatsgebietes vermehrt die Gefahren der bureaukratischen Einwirkungen, und die in den Verfassungen anerkannten Grundsätze des modernen Rechtes sind unverträglich mit der Herrschaft des auf Bevorzugung und Privilegien beruhenden Systems in der Gemeindeverwaltung. Die Bevölkerung aber, die städtische wie die ländliche, hat in den großen und willigen Leistungen zu dem letzten Kriege das Anrecht erneuert, ihre dringendsten Wünsche endlich erfüllt zu sehen. Unter den anderen zahlreichen Gegenständen nennen wir: den Schutz des Rechts­ zustandes durch unabhängige Richter; die Unabhängigkeit und Erweiterung des Rechtsweges; die Revision der Gesetze über die Kompetenzkonflikte und die Ad­ ministrativjustiz; die Ausdehnung der Geschworenengerichte auf alle politischen Straf­ sachen unter Aufhebung des Staatsgerichtshofes; die Abschaffung der Kautionen und der Steuer für Zeitungen und Zeitschriften. Eingedenk ihrer schweren Verantwortlichkeit und treu ihren früher ausgesprochenen Grundsätzen hat die Partei in den Tagen der Gefahr und der Entscheidung den Frieden im Innern auf den Grundlagen des verfassungsmäßigen Rechtes hergestellt, die Mittel reichlich gewährt und die Rüstungen gut geheißen, welche die freie Wirk­ samkeit des preußischen Berufes sichern sollten. Für die Ehre und Machtstellung des Vaterlandes werden wir ferner in gleichem Sinne handeln. Doch spornen die Lasten der chronischen Kriegsbereitschaft uns an, die neuen Zustände in Deutschland schnell zu befestigen, um bald, jedenfalls nicht später als mit dem Ende des Pro­ visoriums, zu der so nothwendigen Sparsamkeit eines wirklichen Militär-Friedensetats zu gelangen. Inzwischen muß die in der Reichsverfassung zugesicherte Verkürzung der Kriegsdienstpflicht bis zum vollendeten 32. Lebensjahre schnell verwirklicht und auf jede mögliche andere Entlastung hingewirkt werden. Wir hegen nicht die Hoffnung, den zahlreichen Bedürfnissen auf einmal abzu­ helfen, aber wir werden keines derselben aus den Augen lassen und je nach der Gunst der Umstände das eine oder das andere in den Vordergrund stellen. Aber als die unerläßliche Bedingung für das gedeihliche Zusammenwirken der Regierung und der Volksvertretung, für die Verhütung neuer Konflikte erachten wir zu allen Zeiten eine den Gesetzen entsprechende, Recht und Freiheit der einzelnen Staatskörper, wie der Gesammtheit unverbrüchlich achtende Verwaltung. Rückfällen in eine andere Praxis der Vergangenheit muß auf jede Gefahr hin rückhaltslos entgegengetreten werden. Nur mit einer gesetzestreuen Regierung können wir Hand in Hand gehen.

Mit einer solchen sind wir die richtigen Wege aufzusuchen bereit. Eine eindringliche Erfahrung hat uns gelehrt, daß nicht in allen Zeiten für die­ selben Aufgaben mit denselben Waffen gekämpft werden darf. Wo so bedeutungsvolle und inhaltsschwere Ziele gleichzeitig zu erstreben find, wie gegenwärtig in Deutschland und Preußen, da genügt es nicht, lediglich an hergebrachten Sätzen festzuhalten und zu Gunsten einer einfachen und bequemen Tradition die neuen und mannigfaltigen Bedürfnisse unbeachtet zu lassen. Es bedarf der schweren und umsichtigen Arbeit, den verschiedenartigen Ansprüchen gerecht zu werden, den Gang der Ereignisse zu

Die kons. u. lib. Parteien von 1867 bis zum stanz. Kriege.

103

überwachen und der Gelegenheit den Vortheil abzugewinnen. Die Endziele des Liberalismus sind beständige, aber seine Forderungen und Wege find nicht abge­ schlossen vom Leben und erschöpfen sich nicht in festen Formeln. Sein innerstes Wesen besteht darin, die Zeichen der Zeit zu beachten und ihre Ansprüche zu befnedigen. Die Gegenwart spricht deutlich, daß in unserem Vaterlande jeder Schritt zur verfassungsmäßigen Einheit zugleich ein Fortschritt auf dem Gebiete der Freiheit ist, oder den Antrieb hierzu in sich trägt. Wir sind nicht gesonnen, anderen Fraktionen der liberalen Partei feindselig ent­ gegenzutreten, denn wir fühlen uns Eins mit ihnen im Dienste der Freiheit. Aber gegenüber den großen Fragen der Gegenwart und in dem verantwortlichen Bewußt­ sein, wieviel von der richtigen Wahl der Mittel abhängt, streben und hoffen wir, innerhalb der Partei die entwickelten Grundsätze zur Geltung zu bringen. Berlin, im Juni 1867. Aßmann. R. v. Bennigsen. Berger (Posen). Born (Langenscheid).*) Braun (Wiesbaden). Brausewetter (Königsberg). G. v. Bunsen. Dr. W. Cohn (Charlottenburg). Graf Dohna. Ellissen (Göttingen). Dr. Falkson (Königsberg), v. Forckenbeck (Elbing). Grumbrecht (Harburg). Dr. Hammacher (Essen). Hellwig (Hofdamm b. Fritzlar), v. Hennig. Hinrichs (Jessin). Jung (Köln). Kanngießer. Knapp (Dau­ born in Nassau. *) Dr. H. König (Osterode). Koppe (Wollup). Kurtius (Altjahn). Lasker. Lautz (Trier). Lent (Breslau). Dr. Lette. Lipke (Danzig). Dr. Lüning (Rheda). Dr. Meyen. Dr. Meyer (Thorn). Nebelthau (Kassel). H. B. Oppenheim. Oppermann (Nienburg). Pannier (Oranienburg). Pieschel (Brumby). v. Putt­ kammer (Sorau). Rautenstrauch (Trier). L. Reichenheim. Richter (Berlin). Rickert (Danzig). Römer (Hildesheim). Samuelson (Königsberg). Schottler (Danzig). Frhr. v. Seydlitz (Dresden).**) Siebert (Wiesbaden). Soltmann. Stephan (Königsberg). Techow (Rastenburg). Twesten, v. Unruh, v. Vaerst. Weber (Stade). Dr. Merenberg (Werden). Dr. Wih. Wölfel (Lützen).

Die Fortschrittspartei folgte mit einer neuen Parteiorganisation nach.-f) In einer Versammlung der Wahlvorstände der sechs Berliner Reichswahl­ kreise' (15. Juni) wurde' beschlossen, * einen • Wahlverein - der deutschen Fort­ schrittspartei mit dem Sitz in Berlin zu bilden und möglichst über alle Wahlkreise auszubreiten. Der § 1 giebt den Zweck des Vereins folgender­ maßen an: „Der Wahlverein der deutschen Fortschrittspartei hat die Aufgabe, die Grund­

sätze der deutschen Fortschrittspartei im Volk zu verbreiten und dadurch bei den Wahlen zum Reichstag, zum Abgeordnetenhause und zu anderen Vertretungen die Wahl von Männern durchzusetzen, welche sich zu diesen Grundsätzen bekennen und kein Recht des Volkes aufgeben. Die deutsche Fortschrittspartei beharrt bei den Grundsätzen und in der Verfolgung der Aufgaben, welche ihr Programm vom

*) Born und Knapp sagten sich sehr bald von der nationalliberalen Partei los und blieben bis zu ihrem Tode treue Mitglieder der deutschen Fortschrittspartei. **) Das frühere Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses für SalzwedelGardelegen wohnte bis zu seinem 1873 erfolgten Tode in Dresden. t) Jetzt fand auch die definitive Auseinandersetzung der Fortschrittspartei und der nationalliberalen Partei über die vorhandenen Parteifonds statt. Nur der „National­ fonds" wurde bis zu seiner Erschöpfung durch Pensionen an einzelne Gemaßregelte auch ferner gemeinschaftlich verwaltet.

104

Die kons. u. lib. Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege.

9. Zuni 1861 aufgestellt hat und findet in Bezug auf die Reform der Verfassung des norddeutschen Bundes die Aufgaben der Partei in dem bei der Verhand­

lung über diese Verfaffung im Abgeordnetenhause gestellten Antrag Waldeck-Hover-

beck-Virchow vorgezeichnet."

Man hatte hiernach zur Unterscheidung von den Nationalliberalen, deren fortschrittlich gewesener Kern damals noch fort und fort behauptete, die alten Parteigrundsätze festzuhalten, ausdrücklich als Kennzeichen des fortschrittlichen Abgeordneten aufgestellt, daß er kein Recht des Volkes aufgebe. Selbst­ verständlich war es, daß die Partei die Rechtsbeständigkeit der am 1. Zuli in Kraft tretenden norddeutschen Bundesverfassung nicht anzweifelte, sondern sich zu weiterer politischer Thätigkeit auf den Boden derselben stellte. Die nationalliberalen Blätter überschütteten den Wahlverein mit Spott. Sie fanden es höchst wunderlich, daß die Fortschrittspartei ein Programm von 1861 festhalten wolle; dieses sei zum großen Theil veraltet, und nicht mehr zu brauchen. Was darin noch Werth und Sinn habe, alle jene Reform­ forderungen hätten die Nationalliberalen in ihrem Programm der gegen­ wärtigen Lage entsprechend wiederholt u. s. w.

Der Wahlverein der Fortschrittspartei wurde am 22. Juni 1867 definitiv konstituirt; als Vorstand wurden die von der Fraktion bereits als Wahlkomito der Partei eingesetzten drei Abgeordneten Dr. Löwe, Franz Duncker und Runge gewählt. Bei den zum 31. August ausgeschrie­ benen Wahlen zum Norddeutschen Reichstage war die zentrale Thätigkeit eine nicht bedeutende.*) Anders in Rheinland und Westfalen; für diese Provinzen war Eugen Richter zum Generalbevollmächtigten des Wahl­ vereins ernannt. Dieser begann eine Agitation, wie sie in solcher Plan­ mäßigkeit, Ausdauer und Rücksichtslosigkeit noch niemals versucht worden war. Das Gebiet bot große Schwierigkeiten dar, indem, abgesehen von den konfessionellen Verschiedenheiten, die sonst liberalsten Kreise zum Theil von den Sozialisten in Beschlag genommen worden. Richter, der als Ab­ geordneter für Nordhausen der Linken des konstituirenden Reichstags an­ gehört hatte, ließ seinen Unmuth über dies Verhalten der Nationalliberalen freien Lauf; wo eine starke Fortschrittspartei war, trat er den National­ liberalen mit wenig geringerer Feindseligkeit entgegen, wie den Altliberalen und Konservativen. Die Rücksichtslosigkeit dieser fortschrittlichen Agitation kam der nationalliberalen Partei mittelbar zu statten: in Kreisen, wo im Februar freikonservative Landräthe als Regierungskandidaten gewählt wa­ ren, wurden diesmal statt ihrer sofort Allliberale oder gar Nationalliberale *) Ein Satz in dem am 24. Zuli veröffentlichten Wahlaufruf des Vorstandes und Ausschusses des Wahlvereins der deutschen Fortschrittspartei hat zu begründeten Angriffen Anlaß gegeben. Es hieß darin: „Es ist schwerer, Rechte zu gewinnen, als sie zu vertheidigen, und die neue Reichsverfassung hat der Regierung mehr Rechts gegeben, dem Volke mehr Rechte genommen, als sie besaßen." Augenschein­ lich lag hier nur ein falscher Ausdruck eines richtigen Gedankens vor. Es sollte heißen: „Die neue Verfassung hat der Regierung so viel Rechte gegeben, daß die Summe derselben größer ist, als die Summe derjenigen Rechte, die sie nach der Preußischen Verfassung besaß; die neue Verfassung hat dem Volke weniger Rechte gegeben, als es nach der Preußischen Verfassung besaß." — Man konnte der natio­ nalliberalen Presse nicht verdenken, daß sie über den „klassischen Ausdruck" spottete.

Die Ions. u. lib, Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege.

105

aufgestellt und gegen die fortschrittlichen Kandidaten durchgebracht. Die strengen Katholiken waren jetzt weit oppositioneller gestimmt als im Februar. Zn ganz klerikalen Kreisen Westfalens und Rheinlands kamen Fortschritts­ männer katholischer Konfession oder oppositionelle Klerikale durch, zum Theil freilich unter sehr geringer Wahlbetheiligung. So wurde Waldeck, außer in Berlin, noch viermal gewählt a) in Mülheim-Wipperfürth-Gummersbach (in der Nachwahl siegte der kaum altliberale Appellationsgerichts­ rath Bürgers), b) in Münster-Kösfeld (in der Nachwahl v. Kleinsorgen), c) in Borken-Recklinghausen (in der Nachwahl der fortschrittliche Meulenbergh), d) in Bielefeld-Wiedenbrück erst in engerer Wahl gegen einen Konservativen, während der Nationalliberale nicht zur Stichwahl gekommen war. In Hagen siegte der alte Harkort gegen Vincke. Harkort trat jetzt der deutschen Fortschrittspartei bei. Er hatte viel gewirkt durch Ver­ öffentlichung folgender Erklärung: „Wahlprogramm zum Reichstage:

Ärine neuen Steuern! Gründe: Nach Herrn v. Manteuffel hat die Regierung heidenmäßig viel Geld. Bestehende Steuern wachsen und werden nach der Verfassung unweigerlich fort­ erhoben. Dagegen gehen Handel und Wandel schlecht, weil die Vertrauensseligkeit fehlt; und der Volksbeutel leidet an der Schwindsucht." Friedrich Harkort.

Zn den östlichen Provinzen Preußens war der Ausfall der Wahl den liberalen Parteien ungünstig. Zn Berlin und Breslau freilich hatte die Fortschrittspartei alle Sitze behauptet; in Breslau wurden Ziegler und v. Kirchmann gewählt; in Berlin wurde Löwe für Lasker gewählt; Waldeck, Wiggers, Runge, Duncker und Schulze-Delitzsch wur­ den wiedergewählt.*)

Ostpreußen sendete 16 Konservative — darunter in einer Nachwahl an Stelle des' do'ppeltgewählten Generäl Vogel v'. Fälke'nstein den Di*. Ktrousberg aus dem katholischen Kreise Allenstein-Rössel, und einen Freikon­ servativen; in Westpreußen gewannen die Nationalliberalen Danzig zurück, sowie Stuhm-Marienwerder; in Brandenburg gingen den Nationalliberalen, abgesehen von dem Sitz im I. Berliner Wahlbezirk, drei andere Sitze an Konservative verloren, ebenso in Pommern ein Sitz; in der Provinz Posen nahmen sie den Sitz in Stadt- und Landkreis Posen den Polen ab,**) um den Bromberger Sitz an die Fortschrittspartei zu verlieren. Auch *) I. Löwe 5992 von 8710 Stimmen (v. Roon 1689, Mendelssohn, regierungs­ freundlicher Kompromißkandidat, 832, Geistl. Rath Müller 117); II. Waldeck 6107 von 9273 Stimmen (Heise 2384, Graf Schwerin 684, Müller 52); III. Wiggers 6947 von 8969 (G. Reimer, „Kandidat sämmtlicher gemäßigten Fraktionen", 1809, Moltke 83, Müller 55); IV. Runge 5755 von 6800 (Schäffer 945); V. Franz Duncker 5145 von 6642 (Sittenfeld 1328, Müller 77); VI. Schulze-Delitzsch 4995 von 6594 (Geh. Oberregierungsrath Neuhaus 1515, Müller 69). **) Die polnischen Blätter beklagten diesen Verlust tief. „Die Hauptursache unserer Niederlage bleibt unbestritten die passive Haltung unserer Geistlichkeit, hervor­ gerufen durch die Rundschreiben und das Verfahren des Erzbischofs Ledochowski. Die Passivität unserer Geistlichkeit hat am erfolgreichsten für das Interesse unserer

106

Die Ions. u. lib. Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege.

in Schlesien gewannen die Konservativen mehrere Sitze, wogegen in Provinz Sachsen für sie Gewinn und Verlust sich etwa hoben.

der

Zm Großen und Ganzen hatte sich das Parteiverhältniß nicht erheblich geändert; nur das altliberale Zentrum war bedeutend zusammengeschmolzen, dafür die Fortschrittspartei, obschon die engeren Wahlen für sie ungünstig ausfielen, stärker geworden. Die Nationalliberalen hatten Plätze am Rhein, im Königreich Sachsen und in Kleinstaaten gewonnen und dadurch die preußischen Verluste ausgeglichen.

Bei den Nachwahlen im ersten und zweiten Wahlkreise Berlins kam es zu einem sehr heftigen Zusammenstoß der Nationalliberalen und der Fortschrittspartei. Erstere meinten, in den beiden Wahlkreisen, welche ziemlich mit dem ersten Landtagswahlbezirk zusammenfallen, günstige Aus­ sichten zu haben. Die erste Wahl meinte man, „habe nicht für die soge­ nannte Fortschrittspartei" entschieden, welche mit Elementen vermischt sei, „die dem Staat feindlich und gegen die Nation gleichgültig" seien**). Die populären Namen, das persönliche Gewicht, das hohe An­ sehen von Löwe und Waldeck habe die erste Wahl erzielt. Die Stadt Berlin, die Hauptstadt des neuen deutschen Reiches, dürfe nicht „aus­ schließlich von Männern vertreten sein, die der ganzen Entwickelung unsers neuen deutschen Staatslebens feindlich gegenüberstehen." Man stellte des­ halb die nationalliberal gewordenen Abgeordneten des ersten Landtagswahl­ bezirks Zung und Prediger Richter den fortschrittlichen Kandidaten Hagen und Freiherr v. Hoverbeck entgegen und rechnete auf einen Erfolg, min­ destens in engerer Wahl. Zn einer großen Wahlversammlung der natio­ nalliberalen Partei am 16. September wurden die Kandidaturen proklamirt und in einer wenig maßvollen Weise befürwortet. Der so eben nach Berlin übergesiedelte Dr. Karl Braun als letzter Redner meinte zum Schluß die Frage aufwerfen zu müssen: „Sollte Berlin, diese mächtige große Stadt, die sich die Metropole der deutschen Intelligenz nennt, den stolzen Beruf zurückweisen, die Metropole des deutschen Reiches zu sein? ihn zurückweisen blos deshalb, weil ihm die Nase dieses oder jenes Mi­ nisters nicht gefällt? Das glaube ich nimmermehr und deshalb schließe ich meine Begrüßung mit den Worten: Deutschland erwartet, daß seine Hauptstad't ihre Schuldigkeit thut!" Auch die Altliberalen glaubten trotz der schlechten Behandlung, die ihrer Fraktion, weil sie im konstituirenden Reichstage fast durchweg mit den Konservativen ging, von Lasker und andern Nationalliberalen zu Theil geworden war, diesmal im zweiten, als in demjenigen Bezirk, wo sie sich am stärksten fühlten, Partei für die Nationalliberalen ergreifen zu müssen. Bei der Wahl am 31. August hatten sie nur im ersten und

Gegner agitirt und ist die Ursache davon geworden, daß die Hauptstadt des Großherzogthums mit der umwohnenden Bevölkerung von einem Nichtpolen und Akatholiken vertreten wird." So schrieb der „Dziennik." Ledochowski galt damals als ein besonderer Gönner und Verehrer Bismarcks. *) Siehe Nationalzeitung vom 15. September 1867 (Leitartikel). „Die staats­ feindlichen Tendenzen", das vermeintliche „Bündniß mit Polen, Ultramontanen und Sozialisten" spielte damals bereits eine große Rolle.

Die kons. u. lib. Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege.

107

zweiten Bezirk sich von den Konservativen getrennt; jetzt einigten sie sich im ersten Bezirk mit den Konservativen auf v. Patow; im zweiten aber, wo die Konservativen auf dem bei allen wirklich Liberalen besonders miß­ liebigen reaktionären Oberregierungsrath Heise verharrten, empfahlen ihre Wortführer den Prediger Richter als das kleinere Uebel*). Das Ergebniß dieser Nachwahlen vom 20. u. 21. September bewies, daß selbst im I. u. II. Reichstagswahlkreise Berlins, wo die konservative

*) Die damaligen Kundgebungen der Altliberalen Berlins sind um deshalb von Wichtigkeit, weil die Altliberalen von 1867 trotz ihrer engen Freundschaft mit den Konservativen und trotzdem die Fraktion, selbst nach der Anschauung der National­ liberalen, rechts von den Freikonservativen zu stellen war, heute einen wichtigen Bestandtheil der nationalliberalen Partei ausmachen, — vollends, seit der thätigste unter den jüngeren Kämpfern der Partei sich allmählich zum eigentlichen Führer der nationalliberalen Reichstagsfraktion von 1877 emporgeschwungen hat. Es ist der Dr. W. Wehrenpfennig. Er stand mit Sperrn. Duncker, Julian Schmidt, Ulfert und vielen anderen unter einem kurzen Aufruf vom 23. August, worin diejenigen Wähler, welche weder Waldeck noch Heise wählen wollten, ersucht wurden, für den Grafen Schwerin zu stimmen. Am 19. Sept erließen „im Auftrage ihrer politischen Freunde" die Herren Hermann Duncker, Georg Reimer und Dr. W. Wehrenpfennig einen Aufruf, der einen so wichtigen Beitrag zur Kennzeichnung der damaligen Parteistellung jener Herrn bildet, daß wir ihn wörtlich mittheilen: „Vor den Wahlen des 31. August forderten wir unsere Gesinnungsgenossen auf, mit uns für den Grafen Schwerin zu stimmen, in der Absicht, denjenigen Liberalen einen Vereinigungspunkt zu bieten, welche der Herrschaft der bundesfeindlichen Fortschritts­ partei in der Bundeshauptstadt entgegenarbeiten wollen. Der Ausfall der Wahl überzeugte uns von Neuem, daß nur das Zusammengehen aller der Fort­ schrittspartei entgegengesetzten Parteien eine Sicherheit des Siegs über diese Partei gewähre. Wir verhandelten daher bei der alsbald eintretenden Noth­ wendigkeit einer Neuwahl mit den Konservativen, um sie zur Aufstellung eines Kompromißkandidaten zu bewegen, für welchen alle liberale Schattirungen des Wahl­ kreises außer der Fortschrittspartei hätten stimmen können. Das Scheitern dieser Verhandlungen hat zwar die Aussicht.auf. den Sieg. viel geringer.gewacht, aber, die, Pflicht des Kampfes nicht vermindert. Da nun inzwischen die bei der vorigen Wahl unthätigen Nationalliberalen mit der Aufstellung eines Kandidaten vorgegangen sind, und da eine Zersplitterung der liberalen Stimmen den, allen Gegnern der Fort­ schrittspartei gemeinsamen Zweck nur noch mehr gefährden würde, so empfehlen wir unsern Gesinnungsgenossen, dem nationalliberalen Kandidaten Herrn Prediger Richter in Mariendorf ihre Stimme zu geben." Wie sie auf die früher unthätigen Nationalliberalen rechneten, so die letzteren auf die Altliberalen. Selbst, nachdem am 21. Sept. Hagen im ersten Bezirk mit großer Mehrheit gesiegt hatte, wiegten sich die Nationalliberalen noch in Illusionen über den zweiten Bezirk. Hoverbeck, dessen Kandidatur in der allgemeinen Wähler­ versammlung der alte Taddel vorgeschlagen und Schulze-Delitzsch befürwortet hatte, war bei den Nationalliberalen der Mißliebigste der ganzen Fortschrittspartei. Die Nationalzeitung suchte nun die Niederlage im ersten Bezirk aus der Beliebtheit und den städtischen Verdiensten des Kämmerer Hagen, sowie aus der Vereinigung der Altliberalen mit den Konservativen zu erklären. „Weit günstiger ist die Stellung des nationalliberalen Kandidaten im zweiten Wahlkreise. Diesem steht einerseits der Geh. Rath Heise, ein strenger Konservativer aus der Schule des Herrn von Manteuffel, andrerseits Herr von Hoverbeck gegenüber, welcher die neueste Richtung der Fort­ schrittspartei vielfach mit besonderer Schroffheit vertreten hat. Nachdem der Versuch eines Kompromisses zwischen den Konservativen und Altliberalen mißlungen ist, haben die letzteren bekanntlich sich für die Unterstützung des nationalliberalen Kan­ didaten ausgesprochen." So am Tage vor der Wahl. Ueber die Ursachen ihrer gänzlichen Niederlage bei derselben schwieg sich die Nationalzeitung aus.

108

Die Ions. u. lib. Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege.

Partei stets eine starke Minderheit gehabt hatte, neben diesen und den Alt liberalen die neue nationalliberale Partei fast gar keinen Boden gesundem hatte. Die Fortschrittspartei trug über alle Parteien den Sieg davon, ohne daß eine engere Wahl nöthig war. Im V. Wahlkreise erhielt von 8051 gültigen Stimmen der fortschrittliche Kandidat Hagen 5580, der Mi­ nister a. D. Patow, Kandidat der Konservativen und Altliberalen, 1752, Jung der Nationalliberale 644, der geistliche Rath Müller 37 u. s. n. Im II. Wahlkreise siegte Hoverbeck mit 5463 von 8468 Stimmen, — Geh. Regierungsrath Heise, der konservative Kandidat brachte es auf 2185, der Prediger Richter als gemeinschaftlicher Kandidat, der Altliberalen und Nationalliberalen, nur auf 785 Stimmen. Die Fraktionen des Reichstages stellten sich in dieser Legislaturperiode folgendermaßen heraus: a) Die Konservativen zählten ohne die drei Minister v. d. Heydt, Traf Jtzenplitz uud v. Mühler (letzterer war von den Klerikalen in Oppeln gewählt), aber mit v. Roon und v. Bodelschwingh und Strousberg 68 Mit­ glieder. b) Die freikonservative Fraktion unter dem Vorsitz des Herzogs v. Ujest begann mit etwa 34 Mitgliedern, erhielt aber später Zuwachs von 6 Mit­ gliedern des Zentrums, als dieses sich auflöste; darunter befand sich Friedenthal. c) Das Zentrum mit 16 Mitgliedern unter dem Vorsitz des Justiz­ ministers a. D. der neuen Aera v. Bernuth (Schriftführer Friedenchal), zählte neben den beiden Vincke's auch den früheren Minister v. Paton zu seinen Mitgliedern. Es löste sich 1868 auf. Georg von Vincke legte sein Mandat nieder; von den übrigen Mitgliedern gingen 6 zu den Freikon­ servativen, mit welchen das Zentrum gleich seit Beginn der Session gemein­ schaftliche Fraktionssitzungen gehalten hatte; der Rest blieb wild. Der Exminister von Bernuth wurde erst in späteren Lesgislaturperioden national­ liberal. d) Die bundesstaatlich - konstitutionelle Vereinigung trat mit 21 Mit­ gliedern unter dem Vorsitz des Abg. Oehmichen des späteren Fortschritts­ mannes an, verlor aber bald einen Theil der Schleswig-Holsteiner (Hänel, Lorentzen, Krauß, Schleiden), die meist zur freien Vereinigung traten. e) Die nationalliberale Fraktion unter dem Vorsitz von Bennigsen, Forkenbeck, v. Unruh und Braun zählte 83 Mitglieder und verstärkte sich von rechts und links. Ihr trat 1869 auch der in Waldeck an Lette's Stelle gewählte Altliberale Dr. Wehrenpfennig bei. f) Die freie Vereinigung, von Bockum-Dolffs u. Genossen, anfänglich nur 13 Mitglieder zählend, kam durch den Hinzutritt von mehreren aus der bundesstaatlich-konstitutionellen Fraktion später wieder auf 15 Mitglieder, während sie die Abg. Lesse für Danzig und Müller (Stettin) an die Nationalliberalen abgab. g) Die Fortschrittspartei hatte 31 Mitglieder; ihr waren beigetreten die rheinländisch-westfälischen Abgeordneten Cornely, Fühling, Harkort, v. Hilgers, Meulenbergh, Kreutz — früher dem linken Zentrum angehörig. Sie bestand aus 21 Preußen, 6 Sachsen, einem Hamburger und einem Oldenburger Abgeordneten, und den Vertretern für Gotha und Lippe. In

Die Ions. u. lib. Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege.

109

Hoverbeck und Löwe hatte sie zwei hervorragende Mitglieder gewonnen, die zum konstituirenden Reichstage durchgefallen waren. h) Die Fraktion der Polen, 11 Mitglieder.

Unter den Wilden befanden sich mehrere Sozialdemokraten verschiedener Richtungen. Bebel und Schraps, die sich Volkspartei nannten, erkannten in den Abgeordneten von Schweitzer, Liebknecht, Dr. Reincke und Försterling, die sich Sozialdemokraten bezeichneten, noch nicht ihre Parteigenossen. Die beiden Brüder Camphausen, der frühere Ministerpräsident und der jetzige Finanzminister, hielten sich auch zu keiner Fraktion.

Die gereizte Stimmung zwischen den aus der Fortschrittspartei hervor­ gegangenen altpreußischen Nationalliberalen und ihren alten Freunden überdauerte auch die erste Sessionsperiode. Ja sie wurde noch erhöht, als das Abgeordnetenhaus aufgelöst wurde und bereits zum 31. Oktober die Urwahlen zum preußischen Landtage stattfanden. Von den 9 Vertretern Berlins im Abgeordnetenhause waren nicht weniger als 5 nationalliberal geworden, es verstand sich von selbst, daß an die Wiederwahl derselben nicht zu denken war. Aber ohne Schwertstreich wollten die nationalliberalen Führer die Sitze in der Reichshauptstadt nicht aufgeben. Neben dem Auf­ ruf, den der geschäftsführende Ausschuß ihres Wahlkomitos (Aßmann, Braun, v. Forkenbeck, v. Hennig, Lasker, Oppenheim, Twesten, v. Unruh) am 15. Oktober erließ, ward am selben Tage noch ein Aufruf an die Partei­ genossen in Berlin erlassen, der die unverändert fortschrittliche Gesinnung der Nationalliberalen hervorzuheben hatte. Der erstere Aufruf enthielt Ausführungen, die — abgesehen von dem Hinweise auf das nationalliberale Programm — auch von der Fortschritts­ partei hätten erlassen werden können. Es hieß darin: „Von den jetzt bevorstehenden Wahlen wird es abhängen, ob das Werk der

Assimilirung zwischen den alten und neuen Provinzen zur Ehre Deutschlands ge­ ringen, oder zum Frohlocken der Reaktion mißlingen wird, öb ririr freisinnige Ein­ richtungen aus den neuen Provinzen herübernehmen oder sie durch die Reste des

altpreußischen Feudalismus und Bureaukralismus uns entfremden werden.

Auch

für die richtige Auseinandersetzung zwischen Bundes- und Landesgesetzgebung, für die Förderung des Reichstages als Organ der deutschen Einheit, ist der künftige

Landtag von entscheidendem Gewicht.

Darum ist es nothwendig, denselben Män­

nern, welche die Bundesverfassung zur Lebens- und Entwickelungsfähigkeit, und sogar schon zu weit über die Grenzen reichender Popularität ausgebildet haben, auch die damit zusammenhängende Regelung der preußischen Berfassungsverhältnisse

anzuvertrauen; sonst könnte leicht durch übel angebrachte Kompetenzstreitigkeiten

das ganze Werk der letzten beiden Jahre wieder in Frage gestellt werden.

Die

Zukunft des Bundesstaates muß nach allen Seiten gesichert sein; dazu ist aber auch erforderlich, daß Deutschland von Preußen die inneren Reformen, welche den

übrigen Staaten zum Muster dienen, erwarten könne.

Denn Preußens Geschicke

sind enger als jemals mit den Lebensbedingungen des deutschen Volksgeistes ver­

knüpft; sie werden sich um so schleuniger und glorreicher erfüllen, je weiter und breiter die Betheiligung aller Klassen herangezogen wird.

110

Die Ions. u. lib. Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege.

Das beschränkte Klassenwahlsystem hat sich überlebt, und der nächste Landtag wird zu prüfen haben, in welcher Weise und unter was für Voraussetzungen der Uebergang zum allgemeinen Stimmrecht zu bereiten ist.

Allein das allgemeine

Stimmrecht kann keine vereinzelte Einrichtung bleiben; es bedarf einer Reihe auf Selbstverwaltung und Volksbildung gerichteter Gesetze, ohne welche der Staat, der sich auf das allgemeine Stimmrecht stützt, den gefährlichsten Schwankungen Preis gegeben würde. Hierher rechnen wir vor allen Dingen die Reform unserer

völlig veralteten Kreisordnung und der ländlichen Polizeiverwaltung, die gründ­

liche Verbesserung der Gemeindeordnung und des Volksschulwesens.

Ueber die

Behandlung dieser und der damit verwandten Aufgaben im Sinne der national­ liberalen Partei verweisen wir auf unser Programm vom Zuni d. I."

Der Aufruf an die Berliner Parteigenossen nahm augenscheinlich Rück­ sicht auf die vier Resolutionen, welche eine vom Wahlverein der Fort­ schrittspartei berufene allgemeine Versammlung von Mitgliedern der Fort­ schrittspartei unter Lowe's Vorsitz beschlossen hatte. Die ersten drei Resolutionen, die hier in Betracht kommen, lauteten: „1) Die Versammlung hält an dem Programm der deutschen Fortschrittspartei

auch bei den bevorstehenden Wahlen zum Abgeordnetenhause fest und fordert alle Gesinnungsgenossen auf, bei der Wahl nur für solche Kandidaten zu stimmen, welche

sich verpflichten, die in dem Programm ausgesprochenen Forderungen nach besten Kräften zu betreiben und im Abgeordnetenhause zur Geltung zu bringen.

2) Besonders wichtig aber ist der Erlaß der im Art. 105 der Verfassung ver­

sprochenen Kreis- und Gemeinde-Ordnung, damit endlich den Landgemeinden die ihnen so lange vorenthaltene Selbstverwaltung gewährt und die Vertretung auf den Kreis­

tagen nach den Grundsätzen des gleichen Rechtes für Alle geordnet werde.

Nur so

können die Städte- und Landgemeinden zu ihrem vollen Recht den Rittergütern gegen­ über kommen, welche bis jetzt noch große aus der Feudalzeit herstammende und den jetzigen Verhältnissen durchaus nicht mehr entsprechende Vorrechte besitzen.

3) Die Einführung des allgemeinen gleichen direkten Wahlrechts mit geheimer

Abstimmung für die Wahl zum Abgeordnetenhause, für welche die Regierung, wie

verlautet, ein Gesetz vorlegen wird, stimmt mit den Grundsätzen der Partei überein;

es ist aber die Pflicht des Abgeordnetenhauses, in das Gesetz alle die Bestimmungen aufzunehmen, durch welche die Wahl eine wahrhaft freie und geheime werde;

vorzugsweise aber ist es die Pflicht des Abgeordnetenhauses, nur in dem Falle für eine Aenderung des gegenwärtigen Wahlgesetzes für das Abgeordnetenhans zu stimmen,

wenn die Gewährung von Diäten für die Abgeordneten in das neue Wahlgesetz aus­ genommen wird."

Der Aufruf der nationalliberalen Delegirten v. Hennig, H. B. Oppen­ heim und v. Unruh an die Parteigenossen in Berlin vom 18. Oktober 1867 rühmt von der nationalliberalen Partei, sie habe „es ohne Zögern als dringendste Pflicht erkannt, der deutschen Einheit ein kräf­ tiges und mächtiges Organ zu errichten, das mit der Autorität des allgemeinen Stimmrechts von 30 Millionen Seelen ausgestattet, darauf hinarbeite, die noch

Die Ions. u. lib. Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege.

111

getrennten Glieder der Nation wieder einzufügen und den Gesammtstaat unab­

hängig nach Außen, frei im Innern zu gestalten. rühmlichen

Freiheitsbestrebungen

der

Gerade darum brauchte ste die letzten parlamentarischen

Epochen in keiner Weise zu verleugnen; sie sieht auch jetzt noch im preußischen Abgeordnetenhause ein unentbehrliches Werkzeug zum Ausbau des

Rechtsstaats und zur Begründung der Selbstverwaltung und Volksbildung, welche die Voraussetzung des allgemeinen Stimmrechts und die Bedingung der nationalen

Stärke sind. Wir erklären es ausdrücklich, daß wir alle Sätze des Programms der

Fortschrittspartei von

1861

aufrechterhalten,

soweit dieselben

noch auf die gegenwärtigen Zustände anwendbar sind, und glauben

wir, alle nicht inhaltsleer gewordenen Forderungen jenes Programms schärfer und bestimmter in unser Programm vom Juni dieses Jahres ausgenommen zu

haben.

Dieser Erklärung bedarf es wol nicht erst, um wiederholt zu bestätigen,

daß wir uns der alten Fortschrittspartei näher verwandt fühlen, als irgend einer

andern Partei — wenn sie auch die geschichtlich gebotene Entwickelung unserer

gemeinsamen Grundsätze

nicht in unserer Weise auffaßt.

Wir glauben

sogar, nach einigen neueren Kundgebungen hoffen zu dürfen, daß unsere alten,

bisher zurückgebliebenen Kampfgefährten den Werth der Reichsverfassung allmälig besser zu würdigen lernen, und auf die breiteren Pfade der neuen Entwickelung

einzugehen bereit sein werden. *)

So lange aber hierüber noch keine offenkundige

Verständigung erfolgt ist, müssen wir — auch auf ungünstigem Boden — mit

Energie und klarem Willen unsere Betheiligung bei der Auswahl von der An­

erkennung unseres speziellen Parteiprogramm abhängig machen."-------------

Auch die Konservativen meinten, diesmal ein Programm für die Landtagswahlen nicht entbehren zu können. 32 Mitglieder der Reichstags­ fraktion veröffentlichten mit Namensunlerschriften einen , vom 24. Oktober datirten Aufruf, der freilich einen großartigen Umschwung in den An­ schauungen des feudalen Kleinjunkerthums zeigt. Er lautet wörtlich: Die konservative Partei, in der Ueberzeugung, daß auch sie inmitten der Bewegung der Zeit steht und den veränderten politischen Verhältnissen Rechnung zu tragen hat, darf mit dem vollen Bewußtsein vor das vermehrte und erweiterte

*) Die Fortschrittspartei war übrigens, wenigstens in ihrem Wahlausschuß, noch weit liebenswürdiger den Nationalliberalen gegenüber, als umgekehrt. In einem Rundschreiben des Wahlausschusses vom 12. Oktober 1867 (unterzeichnet F. Duncker, W. Löwe-Calbe, Runge, und abgedruckt in der Nationalzeitung vom 25. Oktober) wird die Stellung der Partei zu den verwandten Fraktionen der liberalen Partei dahin erklärt: „wenn wir die Majorität für einen Gesinnungsgenossen im engeren Sinne nicht erlangen, so folgen wir natürlich, wie bisher, dem Grundsatz, daß Einigkeit dem gemeinsamen Gegner gegenüber vor allem Noth thut. Der ge­ meinsame Gegner ist aber für uns derjenige, der die Ausbildung unseres Staates zum wahren Rechtsstaate verhindern und der die alten den jetzigen Zeitverhältnissen nicht mehr angemessenen Feudal-Jnstitutionen in unserer Kreis- und Gemeindeordnung, in unserer Provinzialverfassung, wie im Herrenhause erhalten oder gar noch erweitern will. Zn diesem Sinne haben Sie die Güte, eine Verständigung, wo sie Noth thut, unter den Gesinnungsgenossen und den verwandten Parteien herbeizuführen."

112

Die kons. u. lib. Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege.

Preußen treten, daß in hervorragendem Grade sie es war, welche erregten Partei­ leidenschaften und schmerzlichen Verdächtigungen gegenüber im Geiste der Väter aus­ harrte, für die Heeres Organisation König Wilhelms ohne Wanken einstand, und Seinen Räthen dadurch den Boden sichern half, auf welchem die Wiedergeburt Deutschlands allein in wirksamer Weise erfolgen konnte. Zn diesem Sinne darf sich deshalb mit Recht die konservative Partei vor allen andern national nennen, und die altpreußischen Landestheile haben diesen ihren Rechtsanspruch durch zweimalige Wahlen zum Reichstage bestätigt. National in dem, was für die Neugestaltung Deutschlands bereits erreicht ist; — national in dem, was noch zu erstreben übrig bleibt; — national in der hingebenden Unterstützung derjenigen Politik, welche die zerflossenen und abhanden gekommenen Buchstaben des Begriffs „Deutschland" wieder zusammenfand, sie in Reih und Glied ordnete und fest aneinander band, so daß das deutsche Volk sein erstes Grundrecht wieder­ gewonnen: zu existiren und mit eigener Hand nach eigenem Ermessen seine Angelegen­ heiten zu ordnen. Aber nicht allein nach außen hin bewährt sich die schöpferische Kraft des Grasen von Bismarck; die zahlreichen dem norddeutschen Reichstage vorgelegten Gesetz-Ent­ würfe (über Erneueruug der Zollverträge, Militär-, Paß- und Postwesen, Freizügig­ keit', Bundeskonsulale rc) beweisen ohne Unterschied, daß die preußische Regierung den Standpunkt Friedrichs des Großen wieder aufnahm, welcher das Regiment fort­ schreitend, die Völker aber konservativ wollte. Zn diesem Sinne werden wir bei den Wahlen zum Landtage der königlichen Regierung zur Seite stehen, in diesem Sinne bitten wir die preußischen Wähler uns zu unterstützen. Wir halten dafür, daß die Kreis- und Provinzialordnungen der östlichen Landes­ theile der Verbesserung besonders in Zusammensetzung der Vertretung und durch Erweiterung der Selbstverwaltung, fähig und vielfach bedürftig sind; — wir werden jederzeit bereit sein, besonnene Reformen nach dieser Richtung hin mit Entschiedenheit zu fördern. Wir erkennen die berechtigten Eigenthümlichkeiten der neu hinzugetretenen Pro­ vinzen willig in soweit an, als sie sich ohne Zwang und Nachtheil unserer StaatsEinheit einstigen lassen. — Dort als besser bewährte Einrichtungen sollen nicht blos erhalten, sondern über ihre bisherigen Grenzen zum Heile des Ganzen hinausgetragen — die bestehenden kirchlichen Verfassungen rücksichtsvoll gepflegt werden. Wir wollen das vorhandene Gute ohne Vorurtheil gegenseitig an einander austauschen — em­ pfangend geben und gebend empfangen. Wir haben der Bedrängniß des städtischen und ländlichen Grundbesitzes durch einen Gesetzvorschlag auf Begründung von Hypothekenbanken abzuhelfen versucht, und dem Gesetzentwurf über die Aufhebung der Zinsbeschränkungen einen Antrag auf Beseitigung der Schuldhaft gegenüber gestellt. Das in dieser Beziehung nicht mehr bevorzugte Kapital wird dadurch in gesundere Bahnen zurückgeleitet werden. Wir haben zu dem Beschluß wegen Aufhebung der Beschränkung des Koalitions­ Rechtes den Antrag gestellt, durch Begründung und Erweiterung von Unterstützungs­ und Invaliden-Kassen den Arbeiter nach Möglichkeit vor unverschuldeter Noth in Krankheit und im Alter zu sichern. Mehr noch als der Stand der Arbeiter bedarf derjenige der Gewerbetreibenden der eingehenden Fürsorge der Gesetzgebung, wenn Gewerblosigkeit nicht zur Erwerblostgkeit führen soll. Wir wünschen vor Allem, daß der alte Ruhm deutscher Handwerks-

113

Die kons. u. lib. Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege.

tüchligkeit durch Aufrechterhaltung der Meisterprüfungen gewahrt bleiben möge, und werden die in Aussicht gestellte Gewerbeordnung in diesem Sinne unterstützen. Die im preußischen Staate hergebrachte Ordnung der Finanzwirthschaft hat sich aufs Neue durch die Thatsache bewährt, daß zwei der kostspieligsten Kriege ohne Anleihen und ohne Erhöhung der Steuern geführt worden sind. Derselbe Geist alt­ preußischer Sparsamkeit, welcher dies ermöglichte, wird auch uns bei Prüfung der Staatshaushaltsgesetze leiten. Ohne Wandel in ihren Grundsätzen sucht die konservative Partei ihren festen Halt in getreuer Hingebung an einen König, der zu später Lebensstunde für Deutsch­ lands Größe und Einheit in das Feld zog, — an ein Volk, das Zhm opfermuthig folgte; -- und wird das Wort, das sie von ihren Königen empfing: daß was Preußen erwerbe, für Deutschland gewonnen sein müsse — heilig halten in Zuversicht auf den alten Gott, der den Anfang gab und das Vollenden bestätigen wolle! — Berlin, 24. Oktober 1867.

v. Blanckenburg. v. Brauchitsch (Elbing), v. Brauchitsch (Genthin), v. Davier. v. Denzin. Graf zu Dohna - Finckenstein. Graf zu Eulenburg, v. FrankenbergLudwigsdorf. v. Graevenitz (Grünberg), v. Graevenitz (Hirschberg). Frhr. v. Hüllessem, v. Kalckstein. Graf v. Kleist-Tschernowitz. Dr. Köster. Graf v. Lehndorff, v. Levetzow. v. Luck. Lucke. Frhr. v. Romberg, v. Saltzwedell. v. Schaper. Graf v. d. Schulenburg - Beetzendorff. v. Seydewitz (Bitterfeld), v. Seydewitz (Rothenburg), v. Simpson-Georgenburg. Graf zu Solms - Baruth. Graf E. zu Stolberg-Wernigerode, v. Thadden, v. Treskow. v. Waldaw und Reitzenstein, v. Watzdorf, v. Wedemeyer.

Das öffentliche Auftreten der Konservativen mit einem verhältnißmäßig freisinnigen Programm hat schließlich auch die Freikonservativen, die sich bis dahin ohne ein Programm durchgeholfen hatten, veranlaßt, schleu­ nigst einen Programm ähnlichen Aufruf zu machen. Derselbe ist schwülstig und phrasenhaft, und stammt jedenfalls aus der Feder be§eDr. Aegidi. Da ein eigentliches Programm dieser Partei,' welche Preußen Minister und dem Reiche Gesandte und Botschafter liefert, niemals erschienen ist, so theilen wir den Aufruf vom 27. Oktober 1867 trotz seines geringen sach­ lichen Inhalts unverkürzt mit: „Am Schluffe des Reichstags und Angesichts einer neuen Legislatur-Periode des Landtags fühlen die unterzeichneten preußischen Mitglieder der frei-konservativen Partei sich gedrungen, die politische Richtung, welche sie vertreten, in Worten zu er­ kennen zu geben, wie sie dieselbe in ihrem parlamentarischen Wirken bethätigt haben und bethätigen werden. Vor Allem heißem wir den denkwürdigen Augenblick will­ kommen, in welchem das alte und das neue Preußen in gemeinsamer Volksvertretung seine Staatseinheit besiegeln wird. Im Reichstag haben wir als Landsleute uns zusammengefunden, und soll es das nationale Interesse sein, was uns am Innigsten vereinigt. Den neuen Provinzen werden wir zu beweisen haben, daß Preußisch und Deutsch Eins und dasselbe ist, und daß Deutschland gewinnt, was Preußen erwirbt. Undeutsche Gesinnung ist bei uns nicht heimisch. Die Berechtigung des Parteiwesens verkennen wir nicht; aberr seine Auswüchse und Uebertreibungen weisen wir entschieden zurück. Weder biilligfen wir die Unter­ werfung charakterfester Männer unter dem Dogmatismus ebner politischen Schule,

Parisius.

8

114

Die kons. u. lib. Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege,

noch die Unterordnung der vaterländischen Interessen unter die Sonde^interessen der Parteiung. Nicht über umfassende Theorien verständigen wir uns, sondern über praktische Fragen der Gegenwart. Wir setzen das Vaterland stets über die Partei, wir stellen das Nationalinteresse über Alles. Das hat seinen tiefen Sinn. Die preußische Staatsgeschichte gilt uns als die Vorzeit des neuen Deutschland. Die große Aufgabe, welche in der Schöpfung des preußischen Staates, des Zollvereins, des norddeutschen Bundes ihre fortschreitende Lösung gefunden, sie geht nun ihrer Erfüllung und Vollendung entgegen — nicht nur in der unausbleiblichen Vereinigung mit dem deutschen Süden, sondern auch in der inneren Gestaltung des neuen deutschen Staats, zu welcher in diesem Reichs­ tage die ersten, bedeutungsvollen Schritte gethan sind. Indem wir der nationalen Politik des Bundeskanzlers, welche diese Ziele verfolgt, in jeder Weise, wie unab­ hängige Männer es mit Ueberzeugungstreue vermögen, unsere Unterstützung bieten, verwirklichen wir an unserem Theil den durchaus konservativen Gedanken, die gesunden und entwickelungsfähigen Elemente des Bestehenden sorgfältig zu pflegen und fortzuentwickeln, nicht aber mit der Geschichte zu brechen, nicht nach Maßgabe von Dok­ trinen die lebendige Wirklichkeit umformen zu wollen. Der zu einem „Deutschen Reich" sich entfaltende norddeutsche Bund, hervorgegangen aus dem Zollverein, er­ scheint uns als die deutsche Weiterbildung der preußischen Monarchie. Ebenso dem echt konservativen Geist entsprechend, zollen wir unumwundene Anerkennung dem Eintritt dieser Monarchie in die Reihe der konstitutionellen Staaten. Der Absolutismus hat in Preußen seine glanzvolle Vergangenheit. Nirgend in der Welt hat er ein unvergänglicheres Denkmal hinterlaffen, als diesen Staat, das Werk königlicher Machtvollkommenheit. Aber die Zeiten des Ab­ solutismus sind vorüber. Heutigen Tages würde er vernichten, was er einst mit schöpferischer Kraft ins Leben gerufen. Nicht allein bedarf unser Volk, wie alle civilisirten Nationen dieses Zeitalters, zur eigenen Befriedigung einen rechtmäßigen Antheil an der Bestimmung seiner Geschicke; das Königthum selbst erfordert die Mit­ arbeit des Volkes zur Erfüllung seiner hohen Sendung. Nur die Krone eines freien Landes gebührt unserem Fürsten; sein Thron ruht am sichersten auf dem Willen freier Männer. Die Staatsverfassung ehren wir als eine Stärkung des Königthums, als eine Entfaltung des Volksthums, als die Gewähr der Freiheit der Kirche, der Parität der Konfessionen, der Loslösung politischer Rechte vom religiösen Bekenntniß. Wir ver­ werfen den „Scheinkonstitutionalismus" als Herabwürdigung und Entsittlichung des öffentlichen Lebens; ebenso bekämpfen wir die Überlebte, doch immer fortwirkende Lehre von der Theilung der Gewalten, der wir den Grundsatz von der Gemein­ schaftlichkeit der Ausübung der einheitlichen Staatsgewalt mit Bewußtsein entgegen­ hatten. Die Partei, welcher wir angehören, steht auf dem Boden des Staatsgrundgesetzes. Solcher freikonservativen Richtung getreu, fordern wir den Ausbau der Verfassung. Er gelangt zu seinem Abschlüsse nicht schon dadurch, daß das Verhältniß von Re­ gierung und Volksvertretung verfassungsmäßig und würdig geordnet ist, daß die Herrschaft des Gesetzes an der obersten Zentralstelle des Staates befestigt und Be­ amtenwillkür ausgeschlossen wird, vielmehr erst dann, wenn die Grundlagen des Staatslebens von dem Geiste der Freiheit durchdrungen sein werden. Kein Wahl­ recht leistet Bürgschaft für das Dasein wahrer Freiheit. Ihr Wesen und ihren Segen vermögen wir nicht darin zu erblicken, daß möglichst viele berufen sind, mitzuregieren,

Die kons. u. lib. Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege.

U5

sondern einfach darin, daß gegenüber einer starken Regierung überall ein Bereich selbstständigen Wollens und Handels, gestützt auf Recht und Gesetz, sich geltend machen darf. Den Abschluß freiheitlicher Entwickelung suchen und finden wir in der Selbstverwaltung aller Gliederungen des Volkes. Wir erstreben daher die Sicherung selbständigen Lebens, in Haus und Hof, in Beruf und Gewerbe, unter Arbeitern und Arbeitgebern, in Kunst und Wiffenschast, in Stadt und Land, Kreis und Provinz. Wie unsere Staaten nach deutscher Weise sich ihre Besonderheit im norddeutschen Bunde wahren, so wollen wir, daß unbe­ schadet der Einheit und obersten Aufsicht des Staates, sich innerhalb desselben alle lebendigen Theile in freier Selbstbestimmung bewegen. Dieses Ziel unseres Strebens bedingt eine durchgreifende Reform wesentlicher Prinzipien der Verwaltung. Unser Landtag wird in den nächsten Jahren neben der Einordnung preußischer Rechtszustände in das Ganze des norddeutschen Bundes, keine höhere Aufgabe zu lösen haben, als die Begründung dieser Freiheit aller seiner Lebenskreise. Dabei rechnen wir mit Zuversicht auf übereinstimmendes Wirken der Vertreter der neuen und der alten Provinzen. Mit voller Hingebung widmen wir uns der Hebung der materiellen Interessen unseres Volkes in den Fragen der Besteuerung, des Handels und Verkehrs, der Land­ wirthschaft, des bedeutsamen Verhältniffes von Kapital und Arbeit — nicht minder aber der ernsten Fürsorge für die geistigen Güter der Nation, für das Volksschul­ wesen, für Gelehrtenschulen, Universitäten und Akademien. In mannhafter Unabhängigkeit wollen wir der Bundesgewalt und der Staats­ regierung zur Seite stehen, wo die Politik derselben mit unsern Grundsätzen überein­ stimmt und namentlich wo sie das Nationalinteresse obenanstellt. In echter Treue gegen König und Vaterland werden wir aber unsere freikonservativen Prinzipien da, wo von ihnen abgewichen wird, mit Entschiedenheit aufrechthalten. Blinde Werkzeuge sind keine Stützen der Regierung; nur was einen Halt in sich selbst hat, vermag einen Halt zu gewähren. Berlin, 27. Oktober 1867. vr. Aegidü v. Arnim-Kröchlendorff.. Devens.. Graf v. Frankenberg. Frantz.. Günther (Deutsch-Crone). Freiherr v. Hagke. Fürst Hohenlohe. Herzog von Ujest. Graf v. Hompesch-Rurich. Fürst v. Pleß. Fürst zu Solms - Hohensolms-Lich. Freiherr v. Unruhe-Bomst.

Die Wahlaufrufe der verschiedenen Parteikomite's rechneten im Ganzen genommen nur auf die alten Provinzen; auch die Agitaüonen, die von dem Zentralpunkt ausgingen, hatten nur bei den Nationalliberalen, und selbst da in geringem Maße, Beziehungen zu den neuen Provinzen; selbst der Versuch, solche Beziehungen anzuknüpfen, unterblieb. Die Ergebnisse der Wahl konnten nach dem Ausfall der Reichstags­ wahlen nicht überraschen. Zn den alten Provinzen Niederlage der liberalen Parteien, der Nationalliberalen so gut wie der liberalen Opposition, — der Fortschrittspartei und des linken Zentrums, — in den neuen Provinzen Sieg der nationalliberalen Partei, wo sie die Unterstützung der Regierung genoß, oder mit der Regierungspartei zusammenfiel, insbesondere in Hannover und Kurhessen; Sieg der liberalen Opposition im Verein mit der partikularistischen Strömung in den rein deutschen Theilen Schleswig-Holsteins, Sieg der liberalen Opposition in den meisten Wahlbezirken Nassaus. 8*

116

Die kons. u. lib. Parteien von 1867 bis zum stanz. Kriege.

Daß die Erfolge Bismarcks in den alten Provinzen zu Gunsten der konservativen Partei und der Regierung ausschlugen, war nicht wunderbar. Zn den katholischen Wahlbezirken war der Klerus zwar mit dem Hinaus­ weisen Oesterreichs aus Deutschland unzufrieden, aber er verhielt sich ab­ wartend und still. War doch Aussicht vorhanden, daß die katholische Abtheilung im preußischen Kultusministerium unter Herrn Krätzig ihre von den Jesuiten dankbar unterstützten Bestrebungen auf ganz Norddeutschland ausdehnen werde. Darnach war es nicht auffallend, daß in dem katholischen Rheinland die nicht blos zur Fortschrittspartei und dem linken Zentrum gehörenden Abgeordneten, sondern auch die katholisch oppositionellen zum weitaus größten Theile von ihren Sitzen verdrängt wurden; an ihre Stelle rückten in den liberalsten Kreisen Nationalliberale, die wie in Hannover sich der Unterstützung der Regierung erfreuten, in den anderen katholische Beamte (Landräthe u. dgl.) oder Priester konservativer Richtung. Der Zwiespalt der liberalen Parteien unter einander hatte nur in sehr wenigen Kreisen zu einem Kampf zwischen ihnen geführt. Ueber die großen Städte war er kaum hinausgekommen. In Berlin hatte die fortschrittliche Wählerschaft ohne alles Schwanken und Zaudern die nationalliberalen Ab­ geordneten beseitigt; selbst so verdienstvolle Männer wie Twesten und Lasker fanden keine Gnade vor ihren Augen*) In Königsberg wurde gleichermaßen von Forkenbeck beseitigt; es schien anfänglich, als ob er gar keinen sicheren Wahlkreis finden werde; denn in Elbing-Marienburg, wo ein Kompromiß zwischen Fortschritt und Nationalliberal durch die Führer Philipps und Forkenbeck erzielt war, stellte sich schon nach der Wahlmänner­ wahl die Uebermacht der Konservativen heraus. Die Stadt Köln, wo die Fortschrittspartei von der Vereinigung der Beamtenschaft mit den Altliberalen und Nationalliberalen geschlagen war, gab ihm das Mandat. Zn Danzig einigte man sich auf zwei Nationalliberale und einen Fortschrittsmann; in Breslau, Görlitz und Stettin schlug die Fortschrittspartei die National­ liberalen und Konservativen aus dem Felde, dahingegen wurde in Magde­ burg, welches 1866 durch den nationalliberalen v. Unruh und den fort-

*) In Berlin kam es zu einem ernsthaften Wahlkampfe nur im ersten Wahlbezirk, in welchen der Hof, die Hofkreise, die ganze höhere Beamtenschaft und Gelehrtenwelt und die, wie überall, mit dem Strom schwimmende haute finance ihren Wohnsitz haben, und im zweiten Wahlbezirke, so weit es sich um die Wiederwahl Johann Jacoby's handelte. Nur im ersten Wahlbezirk kamen drei Kandidatenreihen in Frage, da ein Versuch der Einigung zwischen der konservativen und nationalliberalen Partei fehlgeschlagen war; in den übrigen Wahlbezirken, wo Wahlmänner, die sich aus­ drücklich zur nationalliberalen Partei bekannten, nur in ganz geringer Zahl vor­ handen waren, stellten die Konservativen nationalliberale Kandidaten auf. Gewählt wurden Wahlbezirk I. Waldeck mit 339 von 584 Stimmen (Bankpräsident von Dechend, für den außer den Konservativen, einschließlich der Minister Graf Bismarck und Graf Eulenburg, auch vereinzelte Altliberale in allen Wahlgängen stimmten, 198, Twesten 44); Dr. med. Löwe 331 von 574 (v. Dechend 191, Twesten 50); Ludolf Parisius 318 von 579 (von Dechend 197, Twesten 64) Wahlbezirk II. Dr. Zoh. Zaeoby 400 von 603 (Prediger Richter 192, Moltke 6, Runge 3), Stadtrath Runge 453 von 591 (Prediger Richter 127, Reimer 6, Prof. Glaser 5). Wahlbezirk III. SchulzeDelitzsch 418 von 521 (Dr. Braun-Wiesbaden 103); Virchow 408 von 510 (Dr. Braun 102). Wahlbezirk IV. Franz Duncker 390 von 482 (R. v. Bennigsen 86). Dr. Eberty 392 von 476 (v. Bennigsen 75, Dr. Guido Weiß 8).

Die Ions. u. lib. Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege.

117

schrittlichen Redakteur Hoppe vertreten gewesen war, letzterer beseitigt und durch den Abg. Lasker ersetzt, welcher demnach in Magdeburg für den Landtag in gleicher Weise, wie für den Reichstag in Meiningen, einen rcheren Wahlkreis an Stelle des verlustig gegangenen Berliner Wahlkreises and. Mehrere andere nationalliberale Abgeordnete, die früher fortschrittiche Wahlkreise der alten Provinzen vertreten hatten, erhielten kein Mandat. Zn den Landkreisen der alten Provinzen blieben die meisten liberalen Führer der Fortschrittspartei getreu; aber die Erkenntniß, wie groß der Einfluß der offiziösen und konservativen Presse auf die unteren Volksklassen sei und wie durch die Niederlage der liberalen Partei in den politischen Kämpfen der letzten Zahre die Zahl der unbedingt festen Parteigenossen unter den weniger gebildeten und ärmeren Volksklassen sich stark verminderte und der Einfluß der konservativen Landrüthe und orthodoxen Geistlichkeit zusehends wuchs, führte sie naturgemäß dahin, daß sie die Unterschiede innerhalb der liberalen Partei für weniger erheblich erachteten, und die Gefahren, die durch die Uebergänge und Vermittlungen von liberal und konservativ für die deutsche Fortschrittspartei und die Ausbreitung ihrer Grundsätze entstehen mußten, stark unterschätzten. Innerhalb der konservativen Bevölkerung kam eine Unterscheidung zwischen konservativ und freikonservativ nicht einmal zum Bewußtsein der Ge­ bildeteren, — abgesehen natürlich von den pietistischen Kreisen der östlichen Provinzen. Mit Ausnahme weniger Männer, wie des alten konsequenten Kreuzzeitungs-Rundschauers von Ger lach, der sich schon jetzt wegen der gottlosen Annexionen von Bismarck lossagte, stellte sich alles, was konservativ hieß, ebenso gut zur unbedingten Verfügung der Regierung, wie die Freikonservativen, zu denen neben liberalisirenden Strebern die meisten konservativen Katholiken gingen, die sich von der Unduldsamkeit des lutherischen, märkischen und pommerschen Kleinjunkerthums in der kon­ servativen ' Fraktion' abgestoßen' fühlten.' Die' Fraktion des ' altliberaken Zentrums bildete für konservative Streber selbst aus den neuen Provinzen einen Anziehungspunkt, und hielt sich, so lange die Exminister von Auers­ wald, von Bonin und Freiherr von Patow ihr treu blieben.

Zn einer gewissen Verlegenheit befanden sich die klerikalen Katholiken, die ohne oppositionell zu sein, doch unabhängig von der Regierung blieben, wie von Mallinckrodt, die Reichensperger und Windthorst — oder gar die oppositionelle Haltung der Konfliktszeit in derselben Weise wie die Fortschrittspartei aufrechterhielten (z. B. der Schulze Hobbeling, Dr. Krebs u. s. w.). Sie fanden weder bei den liberalen, noch bei den konservativen Fraktionen ein Unterkommen und unterließen es eine besondere Fraktion zu bilden, blieben vielmehr wild.

Ein näheres Bild von der Neugestaltung der Parteien des vergrößerten Abgeordnetenhauses in der Session von 1867 bis 1870 erhält man durch die nachfolgende Tabelle, bei welcher die Veränderungen durch Nachwahlen und Ersatzwahlen berücksichtigt und die sogen. Wilden — so weit sie nicht zu den unabhängigen Klerikalen gehörten — unter die einzelnen Fraktionen untergebracht sind.

118

Die kons. u. lib. Parteim von 1867 bis zum franz. Kriege. Konser- Freikon- Zen­ Na­ Klerikal- Polen Summe. Linkes Fort­ fertrum tionale Zen. und vative. schritts­ oppofivative. (Altlib.)i liberal. trum. partei. tionell. Dänen.

20 1. Ostpreußen 5 2. Westpreußen 4 3. Posen 4. Pommern 20 24 5. Schlesien 26 6. Brandenburg 14 7. Sachsen 7 8. Westfalen Die altenProvinzen 120 oyne myeimano

9. Rheinland mit 2 Hohenzollern Die alten Provinzen 122

10. Hannover 1 11. Reg.-Bez. Kassel 2 12. do. Wiesbaden 1 13. Schlesw.-Holstein 1 Preußen 127

1 2 4 1 19 5 6 1 39 169

1 — 1 2 3 — 2 1 10

20 59 —199"

8 18

— 1 — 61

210

— 7 7 2 4 5 9 1 35

1 1 — — 7 — 5 6 20

2 — — — — — — 8 10

7 3 1 1 8 9 2 7 38

26

93 20 s 55

9 29

3 41

2 12

32 9 2 3 101

1 — 9 39 18v8

_ — 6 1 48

16

64 "35F "

2 1 1

— — —

16

18

36 14 12 18 432

2

— '

32 22 29 26 65 45 38, 31 288 ""

28

125 1 1 — 2 22

— 4 12 — — — — 16

34

"

Aus der Tabelle geht hervor, daß etwa die Mehrzahl der national­ liberalen Abgeordneten (die rheinischen, hessischen und hannoverschen) sich bei der Wahl der Unterstützung oder der Zustimmung der Regierung zu erfreuen gehabt hatte. Die Abgeordneten aus Frankfurt a. Main (Dr. Ebner und Dr. Kugler) gingen zur Fortschrittspartei, ebenso 4 nassauische Abgeordnete, darunter Born und Knapp, die sich kurze Zeit zu den Nationalliberalen und dann zum linken Zentrum gehalten hatten. Zn Schleswig-Holstein hatte die liberale Landespartei oder die Partei des Neumünsterschen Programms vom 21. Zuli 1861 in 12 Wahlkreisen gesiegt. Von den Gewähltm schloffen sich 2 (darunter Geh. Staatsrath Franke) dem rechten Zentrum, einer (Professor Hensen) der Fortschrittspartei, 9 zunächst dem linken Zentrum an. Die letzteren haben später ebenfalls der deutschen Fortschrittspartei angehört. (Lorenzen, Schlichting t), oder gehören ihr noch an (Hänel, War­ burg, Forchhammer, Ahlmann, Karsten, Lutteroth, Pflueg). Von den nördlichen Wahlkreisen Schleswigs, wo es sich wesentlich nur um den Kampf der deutschen und der dänischen Nationalität handelte, waren zwei Dänen und zwei Nationalliberale gewählt.

Gleich nach den Wahlen, unmittelbar vor Eröffnung des preußischen Landtags löste sich der deutsche Nationalverein auf, der allerdings durch das Jahr 1866 und seine nächsten Folgen die Berechtigung des Fortbestehens verloren hatte. Das Auftreten seines Präsidenten von Bennigsen und deffen näheren Freunde im konstituirenden Reichstage veranlaßte den eigent­ lichen Begründer des Vereins Schulze-Delitzsch und andere zum Ausschuffe des Vereins gehörende fortschrittliche Abgeordnete, wie den Freiherrn von Hoverbeck und Franz Duncker bereits im Frühjahr 1867 aus dem Verein auszutreten. Es wurde die letzte Generalversammlung auf den

Die Ions. u. lib. Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege.

119

11. November 1867 nach Kassel ausgeschrieben. Außer 47 Kafselanern hatten sich 40 von auswärts, aber bezeichnender Weise kein einziges Mit­ glied aus den alten preußischen Provinzen eingefunden. Unter Herrn von Bennigsens Vorsitz wurde ohne Widerspruch beschlossen, daß der Verein sich auflöse und den Ausschuß beauftrage, die überbleibenden Mittel zu nationalen Zwecken zu verwenden. Zn dem letzten Rechenschaftsbericht des Ausschusses ergab sich aus der Reihenfolge der Zahreseinnahmen an Mitgliederbeiträgen ein sonderbares Bild über Auf- und Absteigen des Vereins. Es waren nämlich an solchen Beiträgen eingenommen 1860: 16,550, 1861: 37,021, 1862: 48,155, 1863: 55,117, 1864: 37,021, 1865: 19,352, 1866: 12,022, 1867: 5727 Gulden.

Der letzte Theil der Schlußrede des folgendermaßen:

Herrn

von

Bennigsen

lautete

„3m Jahre 1859 fanden sich Vertreter der verschiedenen liberalen Richtungen zusammen und begruben ihre alten Gegensätze.

Das Band ist jetzt zerrissen, die

damals vereinigten Parteien stehen vielfach heftig und

entschieden gegen einander.

Es wird sich fragen, ob es auf diese Weise möglich ist, neue Freiheitsziele zu erreichen. Manche hoffen auf eine Wiederverschmelzung. ich nicht.

Diesen Wunsch, diese Meinung theile

Verschiedene Lagen und Aufgaben erheischen auch verschiedene Mittel.

Im

Zahre 1859 war jene Fusion der liberalen und der demokratischen Partei die Vorbedingung jedes noch so geringen Fortschritts; heute wird ihre Erneuerung

ein Hinderniß des Vorwärtskommens.

Die Ereignisse von 1866 haben das Band

zersprengt; wir können es nicht und ich sage, wir wollen es auch nicht wieder an­ knüpfen.

Ein anderes und gesunderes Verhältniß muß zwischen dem rechten und

dem linken Flügel deS Liberalismus fortan sich Herstellen.

Noch haben beide mächtige

Gegner zu bekämpfen, zumal im östlichen Preußen, wo, wie alle letzten Wahlen zeigen,

die konservative Partei stärker ist, als den wirklich vorhandenen konservattven Interessen irgend entspricht.. Zu diesem Kampfe aber können ro.tr, nachdem die inneren Unser-,

schiede einmal wiederum so grell hervorgetteten sind, nicht mehr in einer einzigen

Partei und einem einzigen Verein ausrücken.

Dagegen ist es wohl möglich, daß ein

billiges und gerechtes Verhältniß hergesteüt werde, mit Anerkennung der vorhandenen Grenzen, aber auch mit dem Entschluß, die verderblichen reaktionären Tendenzen nach

wie vor gemeinsam zu bekämpfen.

Keine Verschmelzung, aber auch keine Schärfung

des Gegensatzes!

Die eigentlichen und unversöhnlichen Gegner, deren Haß den Nationalverein von

der Geburt bis zum Tode begleitet hat, sind die Ultramontanen und die starren Partikularisten.

Gegen sie muß der Kampf ohne Rast und Gnade fortgesetzt werden,

bis sie begreifen, daß sie den Jahrhunderte lang geübten unheilvollen Einfluß auf

Deutschlands Geschicke für immer verloren haben.

Indem wir daher jetzt auseinandergehen, lassen Sie es geschehen in dem festen

Entschluß unermüdlich weiter zu wirken für die Einheit und Frecheit des Vaterlandes und

dies Gelöbniß

bekräftigen mit dem Rufe: Hoch

lebe das

freie

und

einige

Deutschland!"

Die Darstellung der 1859 erfolgten Fusion „der liberalen und demo-

120

Die kons. u. lib. Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege,

kratischen Partei" und der Sprengung dieses Bandes durch die Ereignisse von 1866 beruht insofern nicht ganz auf Wahrheit, als „der rechte und linke Flügel des Liberalismus" von 1867 keineswegs zusammenfiel mit dem rechten und linken Flügel des Nationalvereins bei der Fusion des Jahres 1859. Die Herren von Bennigsen und Miquel, von Unruh u. s. w. waren 1859 Demokraten, anrüchige Demokraten, — und unter den früheren Mitgliedern des Nationalvereins, die 1867 auf dem „linken Flügel des Liberalismus" bei der deutschen Fortschrittspartei ausharrten, war mancher, der sich 1859 zur liberalen Partei im Gegensatze zur demokratischen rechnete. Die eigenthümliche Zusammensetzung der beiden maßgebenden parla­ mentarischen Körperschaften, des norddeutschen Reichstages und des preußi­ schen Abgeordnetenhauses, die Unfertigkeit der Bundesverfassung und der Bundesverhältnisse, die widerstreitenden Kräfte in den Ministerien und an den Höfen der Einzelstaaten, die Unklarheit vieler Kreise über die neue Lage und wie sie für das Volkswohl auszunutzen sei, alles dies bewirkte naturgemäß, daß die Zwietracht der liberalen Parteien vor und in den Wahlen schneller in Vergessenheit gerieth und einer Neigung zur möglichsten Verständigung Platz machte, als man es vorher erwartet hatte. Im Zollparlament, welchem auf Grund des Artikel 7 des Zoll- und Handelsvertrages vom 8. Juli 1867 „als gemeinschaftlicher Vertretung der Bevölkerungen" zusammen mit dem Bundesrath des Zollvereins als gemein­ schaftlichen Organ der Regierungen die Gesetzgebung in Zollsachen oblag, war zwar eine gemeinschaftliche Volksvertretung für ganz Deutschland ge­ schaffen, indem nach Maßgabe der Bevölkerung dem norddeutschen Reichs­ tage noch 85 durch allgemeine direkte Wahl mit geheimer Abstimmung gewählte süddeutsche Abgeordnete — nämlich 48 Bayern, 17 Württem­ berger, 14 Badenser und 6 Südhessen — hinzutraten, allein das Zoll­ parlament, am 27. April 1868 unter völliger Theilnahmlosigkeit der Ber­ liner Bevölkerung eröffnet, bewies wenig Anlage, sich zum „Vollparlament" zu erweitern.

Ein wirklich ernster Wahlkampf hatte nur in Württemberg stattgefunden, und hier hatte der Schlachtruf „für oder wider Preußen!" gelautet; in sämmtlichen Wahlkreisen waren die sogenannten „Bettelpreußen" von der Koalition der Volkspartei, des Ministeriums und der Partikularsten ge­ schlagen worden; freilich hatte die „deutsche Partei" in Württemberg den Spottnamen der „Bettelpreußen" nicht unverdient erhalten. Auf dm Grafen Bismarck bei jeder feierlichen Gelegenheit begeisterte Trinksprüche auszu­ bringen, war damals ein gewiß ungeeignetes Mittel, für das einige freie Deutschland in Süddeutschland Anhänger zu werben. In Bayern waren erheblich mehr Klerikale gewählt worden, als man liberaler Seils befürchtet hatte. Dabei stellte sich ferner heraus, daß auch unter den süddeutschen Liberalen die Schutzzöllner weit stärker sind, als die Freihändler. Was nun die Leistungen der drei parlamentarischen Körperschaften, des norddeutschen Reichstages, des Zollparlaments und des preußischen Ab­ geordnetenhauses in den drei Jahren bis zum Kriege anlangt, so wird man sie in Anbettacht der schwierigen Lage, in der sich die liberalen Parteien in diesen Körperschaften befanden, im Verhältniß zu den Leistungen der

Die kons. u. lib. Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege.

Parlamente in der späteren, nicht gering achten dürfen.

weit

günstiger

121

gestellten Legislaturperiode,

Von den preußischen Konfliktsministern, welche durch Rechts- und Ver­ fassungsverletzungen in ihrer Amtsführung mit besonderem Mißtrauen ange­ sehen wurden, war im Beginn der Periode nur der Zustizminister Graf zur Lippe entfernt worden. Er hatte nach 1866 die Untersuchungen gegen Tw e st en und Fren tz el wegen ihrer Abgeordnetenreden munter fort­ gesetzt; gegen freisprechende Urtel erhoben seine Staatsanwälte so lange die zuständigen Rechtsmittel, bis schließlich das Obertribunal verurtheilte. Am 11. November 1867 wurde Twesten wegen seiner im Abgeordneten­ hause gegen diesen Gerichtshof gehaltenen Rede vom Stadtgericht zu Berlin zur höchsten zulässigen Strafe, zu zwei Jahren Gefängniß verurtheilt und am 11. November vom Amte suspendirt. Die Nationalliberalen und Freikonservativen des Abgeordnetenhauses versuchten vergeblich durch eine Deklaration der Verfassung zu helfen. Das eigensinnige Festhalten des Justizministers an den in der Konfliktszeit geübten feindseligen Maßnahmen gegen die Volksvertretung veranlaßte den Grafen Bismarck, die Entlassung desselben zu fordern. Aber der König, der sich von keinem der Konflikts­ minister trennen mochte, würde darauf schwerlich eingegangen sein, wenn ihm nicht an sich untergeordnete Vorkommnisse anderer Art Bedenken gegen die Tüchtigkeit der Amtsführung des Grafen eingeflößt hätten. Graf zur Lippe wurde zur Freude aller derer, welche die Wiederherstellung des alten guten Rufes des preußischen Richterstandes ersehnten, am 5. Dezem­ ber 1867 aus seinem Amte entlasten, um im Herrenhause die Führung der reaktionären Opposition zu übernehmen. Aber sein Nachfolger Minister Leonhardt zeigte sich von vornherein nichts weniger als liberal, und es verging manches Jahr, bevor es ihm gelang, durch eine gewiffenhafte Amts­ führung und durch außerordentliche Leistungen in der Vorbereitung von Gesetzentwürfen das Vertrauen der liberalen Partei zu erwerben. Nur in wirthschaftlichen Fragen waren — Dank vor allem dem Präsi­ denten des Bundeskanzleramts Delbrück — bald bedeutende Fortschritte der Gesetzgebung zu verzeichnen. Wir nennen nur das Paßgesetz vom 12. Oktober 1867, das Freizügigkeitsgesetz vom 1. November, das Gesetz, betreffend die vertragsmäßigen Zinsen vom 14. November 1867, die Gesetze über die Aufhebung der polizeilichen Beschränkungen der Eheschließung vom 4. Mai, über Aufhebung der Schuldhaft vom 29. Mai, über die privat­ rechtliche Stellung der Erwerbs- und Wirthschaftsgenossenschaften vom 4. Juli, die Maß- und Gewichtsordnung vom 17. Juli 1868, das. Gesetz betreffend den Betrieb der stehenden Gewerbe (die sogen. Nothgewerbe­ ordnung) vom 8. Juli 1868 und die ein Jahr später glücklich zu Stande gekommene Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869, das Gesetz betreffend die Beschlagnahme des Arbeits- und Dienstlohnes vom selbigen Tage, ferner aus dem Jahre 1870 die Gesetze wegen Beseitigung der Doppelbesteuerung vom 13. Mai, über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit vom 1. Juni, über den Unterstützuugswohnsitz vom I. Juni, über die Kommanditgesellschaften und Aktiengesellschaften vom II. Juni 1870.

122

Die kons. u. lib. Parteien von 1867 bis zum stanz. Kriege.

Auf diesem Gebiete traten Meinungsverschiedenheiten zwischen den liberalen Parteien nur selten hervor. Die Bedeutung dieser Gesetze aber für die wirthschaftliche Freiheit des Volkes kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Darin muß man dem Bericht Recht geben, welchen der Vorstand der nationalliberalen Partei im Juni 1870 über die Legislaturperiode veröffentlichte. *) Weniger glücklich aber war die Volksvertretung in Förderung der politischen Freiheit. Die nationalliberale Partei konnte die großen Fehler der Bundesverfassung, an denen sie die Mitschuld trug, um so weniger wieder beseitigen, als der Bundeskanzler immer mehr die Kunst kennen und üben lernte, in parlamentarischen Körperschaften eine Mehrheit sich selbst für solche Bestimmungen zu verschaffen, die mit den altüberlieferten Grund-

*) Dieser Bericht, aus Last er's Feder geflossen, — abgedruckt auch in Dr. Hirth, deutsche Annalen 1870 Seite 563 bis 618. Wir entnehmen demselben und dem Aufsatze des Dr. Hirth Seite 723 folgende Schilderung der wirthschaftlich be­ freienden Gesetze: „Die Wahl des Wohnsitzes, der vorübergehende Aufenthalt sind völlig freigegeben, die polizeiliche Ausweisung ausdrücklich untersagt, das Reisen von den Hindernissen und Beschwerden der Paßlegitimation befreit, der den Gemeinden oder der Orts­ obrigkeit zustehende Widerspruch gegen die Eheschließung in Wegfall gebracht, der Wechsel des Staatsbürgerrechts innerhalb des Bundes an den bloßen Willen des Einzelnen geknüpft und alle diese wichtigen Lebensveränderungen auch dem Unbe­ mittelten erleichtert, indem die Behörden und Gemeinden für den Abzug, Zuzug, die Begründung eines Familien wesens, Haus- und Nahrungsstandes keine Kosten mehr auferlegen, den Nachweis eines Vermögens oder gesicherter Nahrungsverhältnisse nicht mehr fordern dürfen. Jedem Verarmten endlich wird ein Unterstützungswohnfitz ge­ sichert, welcher unabhängig vom Bürger- und Heimathsrecht lediglich durch den frei­ willigen zweijährigen Aufenthalt bedingt ist. Durch die Gewerbeordnung ist der Gewerbebetrieb bis auf wenige Ausnahmen freigegeben. Die wenigen Konzessionspflichtigen sind an sicher erkennbare Merkmale geknüpft und unter den Schutz eines dem Rechtswege nachgebildeten öffentlichen Ver­ fahrens gestellt. Den gewerblichen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sind in Bezug auf das Dienstverhältniß völlig gleiche Rechte zuertheilt und Beide genießen Koalitions­ freiheit. Die Beschäftigung jugendlicher Personen ist gegen den Mißbrauch der Kräfte geschützt und einer wirksamen Aufsicht unterworfen. Die alten Zünfte sind zwar nicht aufgehoben, aber ihres, den jetzigen wirthschaftlichen Zuständen nicht entsprechenden Charakters entkleidet, ihre Auflösung durch freien Beschluß der Betheiligten gestattet und der Uebergang zu freien Genossenschaften vorbereitet. Die privatrechtlichen Gewerbeabgaben werden mit Anfang des Jahres 1873 erlöschen, ebenso die privat­ rechtlichen Zwangs-, Bann- und Ausschlußrechte, bis auf einzelne Zwangs- und Bannrechte von geringer allgemeiner Bedeutung, welche zu demselben Zeitpunkte ab­ löslich werden. Der Weg für Schiedsgerichte zur Entscheidung von Streitfällen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist angebahnt. Durch Aufhebung der Zinsbeschränkung ist das Darlehnsgeschäst befreit; durch Aufhebung der Schuldhaft die Freiheitsentziehung als Exekution für eine bürgerliche Schuld ausgeschlossen. Hierdurch, sowie durch das daran sich schließende Gesetz, welches die Beschlagnahme der Arbeitslöhne als Exekutionsmittel für zivilrechtliche Forderungen ausschließt, werden zahlreiche Gestaltungen eines ungesunden Kredits beseitigt. Als Ergänzung dieser Gesetze dienen die über die Erwerbsgenofsenschaften und Aktiengesellschaften erlassenen, indem durch beide der Ansammlung des kleinen wie des großen Kapitals zu gemeinsamen Geschäftszwecken und der Entfaltung des soliden Kredits freier Spielraum verschafft worden ist. Zur Erleichterung des Ver­ kehrs trägt auch wesentlich das Gesetz über die Rechtshülfe bei, welches sämmtlichen Gerichten des Bundes gleiche Autorität und sämmtlichen Bundesangehörigen gleiche Rechte und Pflichten beilegt."

Die Ions. u. lib. Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege.

123

satzen der liberalen Parteien Deutschlands, insbesondere Preußens in dem entschiedensten Widerspruch standen. Die Probe, die er im Jahre 1868 bei der Anleihe für die Flotte machte, war lehrreich genug. Zm Herbst 1867 war von dem Reichstage zwar eine Bundesanleihe für die Kosten der Marine und der Küstenbefestigung bewilligt worden, aber das zur Aus­ führung derselben erforderliche Gesetz über die Bundesschuldenverwaltung nicht vereinbart, weil der Bundesrath dem Reichstage das von demselben geforderte Klagrecht gegen die Beamten der Bundesschuldenverwaltung nicht bewilligen wollte. Als man nun 1868 dem wiedervorgelegten Entwürfe gegenüber bei dieser Forderung beharrte, fand der Bundeskanzler darin ein unberechtigtes Streben nach Machterweiterung, man stelle zur Wahl: Keine Verbesserung der Flotte oder Konflitt! — er habe 1866 den Muth gehabt, „dem Kreisrichter gegenüber den Staat zu retten" — die Verant­ wortlichkeit der Beamten vor Gericht lockere die Disziplin und mache jede Verwaltung unmöglich — „ich würde es eher akzeptiren, daß der Bundes­ kanzler unter den Kreis- oder Stadtrichter gestellt wird, aber ich würde dann für am besten halten, den Richter gleich zum Minister zu machen, zu meinem gleichverantwortlichen Kollegen, gewissermaßen zu meinem kon­ stitutionellen Hausarzte." Diese mit erregten Angriffen auf das Verfahren des preußischen Abgeordnetenhauses vor Königgrätz gewürzte Rede that nicht die erwartete Wirkung. Der Reichstag blieb Dank den Reden von Miquol, Lasker, Twesten durchaus standhaft; der verhängnißvolle Paragraph wurde mit 131 gegen 114 Stimmen angenommen. Sofort nach dieser Abstimmung zog Bismarck das ganze Gesetz zurück. So am 22. April 1868. Den weiteren Verlauf der Angelegenheit schildert nun der Bericht der nationalliberalen Partei wie folgt:

„Die beschlossene Anleihe durfte nunmehr nicht ausgenommen werden.

Nicht

allein der Schiffsbau wurde sistirt, sondern aus Geldmangel ordnete die Marine­ verwaltung unter Verantwortlichkeit des Bundeskanzlers Ersparnisse im ordentlichen

Marineetat an: dringende Arbeiten wurden eingestellt, Schiffe abgetakelt, selbst die

mühsam zusammen gebrachten Schiffswerkstätten aufgelöst, die Arbeiter entlasten, die Ergebniffe vieler Jahre gefährdet und die gesammte Flotte in Gefahr der Stockung

und des Verfalles gebracht.

Der Bundeskanzler hatte aus dieser Absicht kein Hehl

gemacht und die Beweise der wirklichen Ausführung des Unglaublichen ließen

keinen Zweifel zu.

Nach erkannter Gefahr beschloß unsere Partei einmüthig, das

drohende Verderben von der Flotte abzuwenden.

Sie ging deshalb auf den

vom Bundesrath angebotenen Ausweg ein, daß die einmal beschloffene Schuld unter die Verwaltung der preußischen Behörde gebracht und dieser eine Kommffsion des

Bundes beigeordnet wurde. Die regelmäßige Behörde fehlt noch, aber die Noth des Augenblicks wurde gehoben.

Mancher Vorwurf der Inkonsequenz wurde laut unter

verwandten Parteien, welche an dem früheren Beschluffe festhielten.

Die formgemäße

Berechtigung des Vorwurfs sei dahingestellt; uns zwang die sichtbare Gefahr

der Flotte." So weit der Bericht, welcher zur Beschönigung der patriotischen Nachgiebigkeit, gleich den nationalliberalen Redner im Reichstage, bei der

124

Die kons. u. lib. Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege.

Ausmalung von Gefahren verweilt, die eingebildete waren. Schon im Reichstage erklärte der Minister v. Roon, die Vorwürfe, die gegen die Bundesgewalt und die Marineverwaltung erhoben worden, daß die Marine Reduktionen unterworfen worden sei, die im höchsten Grade schädlich und bedenklich gewesen, müsse er in seiner Stellung als verantwortlicher Verwalter der Marine entschieden zurückweisen. Waldeck, Kirch­ mann, Löwe, Duncker von der Fortschrittspartei und der national­ liberale Fries*) warnten vergeblich; mit 151 gegen 42 Stimmen wurde der Kompromiß geschlossen (15. Juni 1868), — und das Gesetz über die Schuldenverwallung ist weder im Norddeutschen Bunde, noch im deutschen Reiche bisher zu Stande gekommen.

Zn der Regel war ein so entschiedenes Auftreten des Bundeskanzlers nicht nöthig, wenn er seinen Willen durchsetzen wollte. Meist gelang es ihm in solchem Falle, im Reichstage so gut, wie im Abgeordnetenhause, von der nationalliberalen Partei so viele Unsichere, insbesondere Hannoveraner ab­ zusprengen, daß er eine Mehrheit bekam. Zn dem Bericht der nationalliberalen Partei ist der Zwiespalt derselben sehr zart angedeutet. Die „erheblichste Zahl der Mitglieder aus den neuen Provinzen" habe sich bemüht, „in die mannigfachen Fäden der aus den früheren Zuständen überkommenen An­ gelegenheiten nicht willkürlich einzugreifen, sondern eher den Erfahrungen der Mitglieder aus den älteren Provinzen zu vertrauen.

Nur Wenige hielten sich zuweilen berufen, mit den in ihrer

Heimath gewonnenen Erfahrungen die ihnen anstößigen Gegensätze im Sinne

der Regierung zu schlichten; bei dem schwankenden Gleichgewicht gaben sie dann den Ausschlag gegen die Opposition. Doch schnitten solche Fälle, wie sehr sie den Augenblick verwirrten, die nachhaltige Ausgleichung nicht ab," —

d. h. schon damals wurde die nationalliberale Partei unempfindlich dafür, daß eine Schaar Fraktionsmitglieder aus den annektirten Provinzen sehr oft im Abgeordnetenhause gegen die Partei den Ausschlag für die Re­ gierung gaben, ohne sich dadurch zu einem Austritt gegen die Fraktion veranlaßt zu sehen, deren Mehrheit sie nach und nach dem Einflüsse der alten preußischen Fortschrittsmänner Lasker, Forkenbeck und Genosien zu entziehen verstanden. Es liegt außerhalb des Planes dieses Buches, auf die Haltung der ver­ schiedenen Parteien bei den wichtigsten Beschlüssen der parlamentarischen Körperschaften während dieser Legislaturperiode näher einzugehen. Als ein Beispiel, wie im Reichstage der Reichskanzler, wenn er seine ganze Kraft einsetzte, sich eine Mehrheit auch gegen den Willen der Führer der national­ liberalen Partei zu verschaffen wußte, soll hier nur der Hergang bei dem Strafgesetzbuch im Frühjahr 1870 erwähnt werden. Beim Beginn der zweiten Berathung desselben beschäftigten sich die heißen Debatten zweier Tage lediglich mit der Frage, ob die Todesstrafe abzuschaffen oder beizu­ behalten sei. Ersteres war sowohl von der Fortschrittspartei, als auch von *) Die irrthümlich behauptete „Einmüthigkeit" der Partei ward nicht blos von Fries, sondern auch von Zulius Wiggers von Rostock und Neubronner aus Nassau gestört.

Die kons. u. lib. Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege.

125

den Nationalliberalen vorgeschlagen. Gegen die Todesstrafe sprachen außer den Rednern dieser Partei auch die Freikonservativen Künz er (katholischer Priester) und Graf Bethusy-Huc, der Konservative Prinz Handjery und der sächsische Generalstaatsanwalt Schwarze, außerdem auch noch ein Bundeskommissar des Königreichs Sachsen, wo schon seit 1868 die Todes­ strafe abgeschafft war. Für die Beibehaltung der Todesstrafe und für deren Wiedereinführung in denjenigen Staaten, wo sie abgeschafft war, sprachen der klerikale Reichensperger und eine Schaar protestantisch­ pietistischer Kreuzzeitungsmänner, sowie der allzeit der Regierung gehorsame Aegidi und die Minister Leonhardt und Graf Bismarck. Letzterer versicherte, er glaube, daß bei Verwerfung der Todesstrafe das Schicksal des Strafgesetzbuches wenigstens für diese Session entschieden sein werde, die preußische Abstimmung und der preußische Einfluß würden mit vollem Gewichte für die Todesstrafe eingesetzt werden. Allein die Mehrheit ließ sich nicht bange machen. Mit 118 gegen 81 Stimmen votirte sie gegen die Todesstrafe. Zur Mehrheit gehörten außer den Liberalen alle Sachsen, 8 Freikonservative, alle katholischen und evangelischen Geistlichen, zur Minder­ heit die Konservativen und Freikonservativen, Reichensperger und Mallinckrodt und ein einziger Nationalliberaler — Miquel. Die gleiche Tapferkeit wurde freilich bei vielen andern mehr oder weniger in das politische Gebiet schlagenden Bestimmungen des Strafgesetzbuchs schon in der zweiten Berathung vermißt; nicht wenige von den von der Fortschrittspartei und den Nationalliberalen vereinbarten gemeinschaftlich gestellten Anträgen auf Abänderung des Entwurfs fielen durch die konser­ vativen oder bundesräthlichen Abstimmungen einzelner Nationalliberaler. Aber der Bundesrath, beziehungsweise die preußische Regierung war noch nicht einmal geneigt, die freisinnigen Verbesserungen der zweiten Berathung sämmtlich anzunehmen und ließ die dritte Berathung hinausschieben, damit der in Varzin erkrankte Bundeskanzler anwesend sein könne. Erst am 21.. Mai. begann die- dritte Berathung.- Graf Bismarck war noch nicht angelangt. Minister Leonhardt bezeichnete im Namen des Bundesraths mehrere Beschlüsse der zweiten Berathung als solche, deren Beseitigung dringend wünschenswerth sei; drei Beschlüsse aber als völlig unannehmbar: 1) die Abschaffung des preußischen Staatsgerichtshofes, — dieses in der wüsten Reaktionszeit durch das in der Landrathskammer mit nur 117 gegen 116 Stimmen angenommene Gesetz vom 25. April 1853 eingeführten Ausnahmegerichts, welches sich nach seiner Zusammensetzung und seinen Leistungen z. B. im Prozeß Ladendorf und im Polenprozeß als ungeeignet zur Konservirung gezeigt hatte; 2) die Zulassung von Festungsstrafe neben Zuchthausstrafe bei den schwersten Fällen des Landesverraths; 3) die Auf­ hebung der Todesstrafe. Diese müsse bestehen bleiben bei dem Mord und ferner bei demjenigen Mordversuch, welcher gerichtet ist gegen das Bundes­ oberhaupt, gegen den eigenen Landesherrn oder gegen den Landesherrn desjenigen Staates, in welchem der Versuch gemacht wird. Wegen dieser Erklärung wurde auf Antrag des Grasen Schwerin die Verhandlung bis zum 23. Mai vertagt. Zn der Sitzung dieses und des folgenden Tages, die unmittelbar vor Schluß des Reichstages am 26. Mai erfolgte, — wie man allgemein erwartete, unmittelbar vor den Neuwahlen — fand nun die

126

Die Ions. u. lib. Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege.

heiße Schlacht statt, welche mit der Fahnenflüchtigkeit einer nicht geringen Anzahl Nationalliberalen und demnach mit der gänzlichen Niederlage der liberalen Partei endigte. Graf Schwerin war der erste, der zum Rück­ marsch blies. Der Bundeskanzler war erschienen; er kannte seine Pappen­ heimer und wußte mit ihnen umzugehen. Er verlangte von ihnen ein Opfer für die deutsche Einheit! Kompromißwüthige Nationalliberale, die Abgeordneten Planck, Stephani, von Puttkamer-Fraustadt und WagnerAltenburg hatten den Rückzug durch ein Amendement zu vermitteln ge­ sucht, wonach für den Fall, daß durch Wiederherstellung des § 1 der Re­ gierungsvorlage die Todesstrafe beibehalten werden sollte, für diejenigen Bundesländer, in welchen sie gesetzlich bereits abgeschafft ist, es hierbei be­ wenden und überall an Stelle der Todesstrafe lebenslängliche Zuchthaus­ strafe treten sollte. Der Reichskanzler sprach sich gegen diese Bevorzugung von Sachsen, Oldenburg, Anhalt und Bremen mit größter Entschieden­ heit aus: „Die Regierungen haben den Beweis gegeben, daß sie die eigene Ueberzeugung, die eigene Rechtsansicht, dem höheren nationalen Zwecke zu opfern sich entschließen können; nur ein Opfer können sie diesem Zwecke nicht bringen: das ist das Prinzip

dieser nationalen Einheit selbst.

(Lebhafter Beifall). Hierin liegt der Grund,

der sie hindert, dem Amendement der Abgeordneten Planck und Genossen ihre Zu­

stimmung zu ertheilen. Die Regierungen sind außer Stande, sich von der Vergangen­ heit des norddeutschen Bundes, sich von den Zwecken, welche uns bisher vereinigt und beschäftigt haben, in dem Maße loszusagen, daß sie aus der Quelle des einheit­ lichen Bundesrechts zweierlei Wasser fließen lassen, daß sie bewußter Weise und von

dieser Stelle hier ein doppeltes Rechtssystem für den norddeutschen Bund schaffen. — -------- Es ist für mich eine absolute Unmöglichkeit, es wäre ein volles Verleugnen

meiner Vergangenheit, wollte ich einem Gesetze hier zustimmen, welches das Prinzip sanktionirt, daß durch den Bund zweierlei Recht für die Norddeutschen geschaffen werden soll, daß gewissermaßen zweierlei Klassen von Norddeutschen geschaffen werden

sollten — (Sehr gut!) eine Selekta, die vermöge ihrer Gesittung so weit vorge­ schritten ist, daß selbst ihre üblen Subjekte des Korrektivs des Richtbeils nicht mehr

bedürfen, und dann das profanum vulgus von 27 Millionen, welches diesen sächsischoldenburgischen Kulturgrad noch nicht erreicht hat, dem das Richtbeil im Nacken sitzen muß, um es in Ordnung zu halten.

Dem können wir nicht zustimmen; ich

würde eher ein nach meiner Ueberzeugung sehr viel mangelhafteres aber

einheitliches Strafgesetz in Kauf genommen haben.---------— Aber das Verlassen unserer Grundprinzipien in Bezug auf die Einheit, die wir in Deutschland zu schaffen haben, das läßt sich niemals wieder gut machen.

Ich kann von

diesem Standpunkte aus hier kein Oldenburg und kein Preußen kennen, ich kenne

nur Norddeutsche.

(Lebhaftes Bravo).

Unsere Aufgabe ist die Gleichheit vor dem Gesetz für alle norddeuschen Bürger zu schaffen, nicht die Ungleichheit.da, wo sie ist, gut

zu heißen,

schaffen.

oder gar sie

Meine Herrn,

innerhalb

eines Bundesgebietes neu zu

dies ist eine politische Unmöglichkeit.

Wir sind gegen

Sonderrechte, gegen Sondereinrichtungen, gegen die Vorurtheile einzelner Regierungen

Die Ions. u. lib. Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege.

127

und einzelner Volksstämme, mitunter, weil wir uns der Größe unserer Ziele bewußt

waren, mit Härte verfahren, ich darf wol sagen mit Härte, wenigstens mit Strenge; wir haben unverrückt unser Ziel im Auge behalten; wir haben nicht links, nicht rechts gesehen, ob wir Jemanden wehe thäten in seiner theuersten Ueberzeugung. Meine Herren, aus diesem Geiste haben wir unsere Kraft, unsere Macht geschöpft zu

handeln, wie wir gethan.

Sobald uns dieser Geist verläßt, sobald wir diesem

Geiste entsagen, sobald wir ihn vor dem deutschen Volk und seinen Nachbarn aufgeben, so legen wir damit Zeugniß ab, daß die Spannkraft, mit der wir vor

31/, Jahren an dieser Stelle unseren Ausgang nahmen, in dem Sande des

Partikularismus, des Partikularismus der Staaten und des Partikularismus der Parteien erlahmt ist.--------

Der Abgeordnete Planck nahm sofort seinen Antrag zurück. Der Abg. Lasker schilderte in einer vortrefflichen Rede die leider nicht beseitigten Mängel des Strafgesetzbuch - Entwurfs, um darzuthun, daß im nächsten Zahre, falls jetzt eine Verständigung nicht erzielt werde, noch manche Punkte neu erwogen sein würden. Er hielt die Furcht für ungerechtfertigt, daß es sich um den Verzicht auf die Einheit des Strafgesetzbuches für immer oder für lange Zeit handle, wenn es nicht in diesem Jahre angenommen werde; die Regierungen seien verpflichtet, das Gesetzbuch sofort nach beendeter Re­ vision noch einmal vor den Reichstag zu bringen. Aber was half es? was half es ferner, daß Schulze-Delitzsch warnte: durch das Blut, welches auf Schaffoten fließen solle, werde nicht das rechte Siegel der Zukunft dieses unseres jungen Staatslebens auf­ gedrückt; — was half es, daß der alte Knapp aus Nassau Zeugniß davon ablegte, in Nassau, wo mit 1849 die Todesstrafe abgeschafft war, um 1867 in der preußischen Diktatur wieder eingeführt zu werden, fordere die gesummte Bevölkerung, die ländliche wie die städtische, die Geistlichen wie die Nichtgeistlichen, die Beseitigung der Todesstrafe aus dem' Straf­ gesetzbuche? — Mit 147 gegen 119 Stimmen ward am 23. Mai 1870 die Todesstrafe wieder ausgenommen, die am 2. März mit 118 gegen 81 Stimmen beseitigt war. Von den 118 schwenkten 24, nämlich 17 Nationalliberale *): Dr. Bähr, von Bernuth, Braun (Hersfeld), Conrad, ten Doornkat-Koolmann, Dr. Endemann, Hosius, Lienau, Meyer-Bremen, Prosch, von Puttkamer-Fraustadt, Röben, Graf Schwerin, Sombart, WagnerAltenburg, Dr. Wehrenpfennig und Dr. Hans Blum — der Sohn Robert Blums, des Märtyrers von 1848! — (ein mehrstimmiges Pfui! folgte

*) Außer den oben genannten 17 und Miquöl, stimmten noch die 6 National­ liberalen Grumbrecht, von. Meibom, Oetker, Planck, von Rochau, Römer, die das erste Mal gefehlt hatten, für Beibehaltung der Todesstrafe. Von den Freikonservativen blieben von Unruh-Bomst und Freiherr v. Rabenau, sowie die katholischen Priester Pohlmann und Künzer ihrem Votum gegen die Todesstrafe treu. Da­ gegen fehlten mehrere, wahrscheinlich absichtlich, die das erste Mal gegen die Todes­ strafe gestimmt hatten, wie Graf Bocholtz, Rothschild, Prinz Hanjery. Von bekannten Klerikalen stimmten am 2. März Mallinckrodt, der am 23. Mai fehlte, Ulrich und Reichensperger, am 23. Mai außer den letztgenannten noch Dr. Bock und Windthorst, die am 2. März gefehlt hatten, für die Todesstrafe.

128

Die Ions. u. lib. Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege.

seinem Votum) — und 7 Freikonservative und Altliberale, darunter Graf Bethusy-Hue, Evelt, Herzog von Ratibor und von Sybel. Hätte Waldeck, der begeisterte Vorkämpfer für die Rechtsgleichheit, noch auf dem alten Poften des getreuen Eckarts deutscher Nation gestanden, — wahrlich er würde gegen jene schöne Rede Bismarck's stolz erhobenen Hauptes mit seiner wunderbar volltönenden Stimme aus tiefster Brust markige Worte des Zornes und der Entrüstung geschleudert haben. Aber Waldeck war acht Tage vorher in die kühle Gruft gesenkt. — Bei der Fortsetzung der Berathung am folgenden Tage wurde ein die Todesstrafe nach den Wünschen des Bundesraths wiederherstellender Antrag der Abgeordneten von Kardorff, Friedenthal und Genossen mit 128 gegen 107 Stimmen angenommen; auch den übrigen Wünschen des Bundesraths und Reichskanzlers fügte man sich willig und geduldig. Die Zulassung mildernder Umstände beim Morde wurde abgelehnt und der preußische Staatsgerichtshof wiederhergestellt. Das so zusammen kompromittirte Straf­ gesetzbuch ward am 25. Mai 1870 mit großer Mehrheit angenommen.

Mit den Vorbereitungen zu den Neuwahlen, die zum Reichstage im Sommer, zum Abgeordnetenhause im Herbst stattfinden sollten, sah es im Frühjahr 1870 nicht besonders aus. Das Volk nahm an politischen Fragen weniger Antheil als je zuvor. Vollends seit im Oktober 1869 der Minister von der Heydt an seinem vermeintlichen preußischen Defizit gescheitert war und dem konstitutioneller gesinnten Seehandlungspräsidenten Otto Camphausen Platz gemacht hatte, war eine Neigung zu lebhafterer Be­ theiligung an öffentlichen Angelegenheiten nirgends zu spüren. — Franz Ziegler hatte in der Hoffnungsseligkeit des Dichters am 19. November 1869 mit einer zündenden Rede gegen das System und die Person des Ministers von Mühl er die Probe gemacht. Dieser Minister, gegen den unter allen Klassen des Volkes sich allmählig eine allgemeine Mißachtung ausgebildet zu haben schien, hatte wiederum gegen die schon ein Jahr zuvor beschlossenen Anträge des Hauses auf Erhöhung der Pensionen der Lehrer­ wittwen Widerspruch erhoben, weil die Staatskasse die dazu nöthigen 60,000 Thaler jährlich nicht aufbringen könne. Da erhob sich der Bres­ lauer Abgeordnete und hielt jene gewaltige Rede, welche unter andauerndem, donnernden Beifall das Haus aufforderte, sich zu einer Adresse zu ver­ einigen mit dem letzten Ausspruche: „Der Herr Minister von Mühler muß fort von seinem Platze!" Die erwartete Wirkung trat nicht ein.*) *) Ziegler hatte mit dieser Rede schon lange auf der Lauer gelegen. Als im September die in Berlin anwesenden Fraktionsgenossen auf Dr. Löwe's Ein­ ladung zu einer Besprechung zusammenkamen, damit man sich über etwaige Vor­ bereitungen zur Landtagssession einige, überraschte er uns mit dem Vorschläge, man solle einen großen plötzlichen Angriff auf Mühler und dessen mißachtetes System machen und in einer Adresse an den König die Entlassung des Ministers fordern. Das Volk werde jubelnd dafür eintreten. Mandatsniederlegung, wenn es fruchtlos bliebe, werde der Bewegung weiteren Fortgang schaffen. Wir Andern sahen die Dinge nüchterner an, freuten uns freilich über den jugendfrischen Enthusiasmus unseres alten Freundes, und überließen ihm, die Wirkung einer Rede mit dem von ihm angegebenen Inhalte zu versuchen.

129

Die Ions. u. lib. Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege.

Herr von Wühler schwieg zu der Rede, indem er Herrn Wehren­ pfennig überließ, zu versichern, daß diese Gelegenheit zu Angriffen auf den Kultusminister nicht passe. Ziegler erhielt ein paar Zustimmungs­ adressen und alles blieb beim Alten. Die Fraktion der deutschen Fortschrittspartei im preußischen Abgeord­ netenhause hatte während der Session — schon im November 1868 — ein angesehenes Mitglied verloren, Dr. Johann Jacoby, der durch sein Verhalten zu den Annexionen, durch Zuschriften an die süddeutsche Volks­ partei, so wie durch seine unklare Auffassung der sozialen Frage bereits bekundet hatte, daß er sich mit der Partei nicht mehr im Einklang befände. — Im September hatte die „deutsche Volkspartei" auf einem Kongreß in Stuttgart bereits ein Programm angenommen, welches sich auf Jacoby berief und dahin lautete: „Die deutsche Volkspartei bekennt sich in weiterer Verfolgung ihrer seitherigen

Bestrebungen und Beschlüsse auf Grundlage der im Auftrage der Darmstädter DelegirtenVersammlung vom 19. September 1865 und der Frankfurter Volksversammlung

vom 20. Mai 1866 ausgebreiteten Programme und im Anschluß an die von Johann Jacoby in seiner Zuschrift an den demokratischen Verein zu Hamburg vom 24. Mai 1868 entwickelten Grundsätze:

1) Zu dem demokratischen Gleichheitsprinzip und verlangt daher die gleichartige Mitwirkung aller Staatsbürger bei Verfassung und Verwaltung, die Durchführung der Selbstregierung des Volkes im Staate.

2) In nationaler, wie in internationaler Beziehung anerkennt die Volkspartei

den jedem einzelnen Volksstamm, wie jedem Volk zustehenden gleichen Anspruch auf Selbstbestimmung.

Nur auf diesem Wege erstrebt sie die Einigung.

Nur ein auf

die Freiheit gegründeter deutscher Bundesstaat mit Einschluß Deutsch-Oesterreichs, nur ein Friedens- und Freiheitsbund der Völker entspricht ihren Grundsätzen. .

3) Die Volkspartei anerkennt, daß > die- staatlichen und gesellschaftlichen Fragen

untrennbar sind und daß sich namentlich die ökonomische Befreiung der arbeitenden Klassen und die Verwirklichung der politischen Freiheit gegenseitig bedingen."

Der Wahlverein der Fortschrittspartei hatte sich nicht bewährt. Die Gefahr durch eine zufällige Mehrheit von Berlinern zu einzelnen Aende­ rungen der bisher festgehaltenen Grundsätze in Resolutionen von programm­ ähnlicher Bedeutung gedrängt zu werden, war bereits 1868 hervorgetreten. In der Generalversammlung vom 16. Dezember 1868 wurden folgende Resolutionen angenommen: 1) Die Versammlung erwartet, daß das Haus der Abgeordneten nicht nur den Antrag auf Aenderung des Artikels 25 der preußischen Verfassung, welcher den

unentgeltlichen Unterricht in den Volksschulen anordnet, verwerfen, sondern auch mit allen Kräften dahin wirken wird, daß dieser Artikel endlich ausgeführt werde. Sie verlangt sodann die Trennung der Schule und des Staates von der Kirche bei gleich­ zeitiger Anerkennung der vollkommenen Gleichberechtigung aller Konfessionen in Schule und Staat. 2) Wir erstreben die Selbstverwaltung der Gemeinden, Kreise und Provinzen. Zu ihrer Durchführung bedarf es vor Allem einer für den ganzen Staat gemeinsamen freisinnigen Gemeindeordnung mit nachfolgenden Grundzügen: Parisius.

9

130

Die Ions. u. lib. Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege.

a) Jeder zur Reichstagswahl Berechtigte ist gleich stimmberechtigt. ^Das Klassen­ wahlsystem ist zu verwerfen. b) Die Vertreter und Vorsteher der Gemeinde werden auf kurze Dauer gewählt: die Vertreter verwalten ihr Amt unentgeltlich. c) Der Gemeinde soll mindestens die Lokalpolizei, die Leitung der Schule und des Armenwesens und die Beschlußfassung über ihre Einnahmen und Ausgaben zustehen. d) Sie entsendet, je nach ihrer Größe, einen oder mehrere Abgeordnete zum Kreistage, Letzterer einen oder mehrere Abgeordnete zum Provinziallandtage. e) Kleinere Ortschaften und abgesonderte größere Güter werden zu einer Ge­ meinde vereinigt. f) Der Kreistag hat die Entscheidung in allen Angelegenheiten, welche mehrere Gemeinden, der Provinziallandtag in allen, welche mehrere Kreise betreffen, g) Den Abgeordneten zum Kreistage und Provinziallandtage werden mäßige Reise- und Tagegelder gezahlt. 3) Im Interesse des ganzen Volkes, insbesondere der arbeitenden Klassen desselben, im Hinblick auf die durch die Fortdauer der allgemeinen Kriegsbereitschaft in Europa herbeigeführte Gefährdung des Wohlstandes, der Bildung und der Freiheit, fordert diese Versammlung, daß die eifrigsten Anstrengungen der Parteigenossen da­ hin gerichtet werden, den Frieden zu erhalten und die stehenden Heere zu vermindern. Als ersten Anfang verlangt sie dazu für das norddeutsche Heer die gesetzliche Ein­ führung der zweijährigen Dienstzeit. Der Wahlverein erkennt in der freien Presse das beste Mittel zur Förderung der Aufklärung und des Fortschrittes des Volkes und erklärt deshalb die Gewährung der vollen Preßfreiheit und die Beseitigung aller ihr entgegenstehenden Beschränkungen für eins der nächsten und wichtigsten Ziele seiner Bestrebungen. Zur Wahrung der Preßfreiheit ist die Verweisung der Preßprozesse an die Geschworenen unumgänglich nothwendig.

Eine längere Debatte hatte über 2. a stattgesunden, wo der Antrag des Ausschusses: „Zeder zur Reichstagswahl berechtigte Einwohner einer Gemeinde, der zu den Gemeindelasten beiträgt, ist stimmberechtigt" verworfen und ein von Virchow, Schulze-Delitzsch, Hoverbeck bekämpftes Amendement des Stadtverordneten Streckfuß Hierselbst mit Mehrheit an­ genommen wurde. Zm Jahre 1869 fiel die Generalversammlung des Wahlvereins aus. Eine allgemeine Volksversammlung, von der Fortschrittspartei zur Besprechung des sogen. Virchow'schen Abrüstungsantrages zum 7. November nach dem Berliner Konzerthause berufen, wurde durch planmäßig vorbereitete Störungen der Lassalleaner unter Tölcke's Führung unmöglich gemacht und noch vor Beendigung der Wahl des Vorsitzenden von dem provisorischen Vorsitzenden Dr. Löwe geschlossen. *) Dieser Vorfall und ähnliche von der Polizei *) Der Antrag Virchow's und der Fortschrittspartei ging auf eine motivirte Aufforderung an die Staatsregierung, dahin zu wirken, daß die Ausgaben der Militär­ verwaltung des Norddeutschen Bundes entsprechend beschränkt und durch diplomatische Verhandlungen eine allgemeine Abrüstung herbeigeführt werde. Er wurde am 5. November mit 215 gegen 99 Stimmen (darunter nur 12 Nationalliberale) ver­ worfen. Für die Volksversammlung beabsichtigte das Komitö der Fortschrittspartei folgende Resolution vorzuschlagen:

Die kons. u. lib. Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege.

131

ruhig geduldete Gewaltthätigkeiten der Berliner Sozialdemokraten zur Ver­ hinderung liberaler Versammlungen übten einen lähmenden Einfluß auf das öffentliche Leben Berlins aus. Eine zum 8. April 1870 berufene General­ versammlung des Wahlvereins der deutschen Fortschrittspartei konnte nicht abgehalten werden, weil die nach dem Vereinsgesetze erforderliche polizeiliche Anmeldung nicht erfolgt war. Vorstand und Ausschuß des Wahlvereins übernahmen hierauf vorläufig selbst die Geschäfte eines Zentralwahlkomitos (Vorsitzender Dr. W. Löwe). Der Wahlverein schlief allmählich ein. Eine für seine Generalversammlung bestimmte Resolution wurde zu einem Wahl­ aufruf benutzt, der von den zur Partei gehörenden Abgeordneten des Reichstags und Preußischen Landtags und von andern angesehenen Partei­ genossen unterzeichnet, Ende Zuni veröffentlicht wurde. Der Aufruf lautet: Mitbürger! Die Neuwahlen der Abgeordneten zum Preußischen Landtage und zum Nord­

deutschen Reichstage werden in einigen Monaten stattfinden. — Ihr Ergebniß wird für lange Zeit entscheiden darüber, ob daß Preußische und mit ihm das Deutsche

Volk sich auf der Bahn der Freiheit selbstthätig entwickeln und damit alle Güter des Friedens, der ungestörten und lohnenden Arbeit, der fortschreitenden Bildung sich

zugänglich machen, oder ob es, auf freie Selbstbestimmung verzichtend, sein Geschick auch ferner den Kabinetten der Fürsten und den Händen einzelner Staatsmänner

überlasten will. — Es handelt sich bei diesen Wahlen um die höchsten politischen, sittlichen und materiellen Interessen Preußens und Deutschlands, um die Militärlast,

um die Volksschule, um die Selbstverwaltung. Soll in Norddeutschland das natürliche und verbriefte Recht des Volkes: mit­ zubeschließen über sämmtliche Ausgaben des Staates, also auch über die für das

Heer, ausgeübt werden im Sinne der Freiheit oder im Sinne der Unterthänigkeit?

-

Soll die öffentliche' Schule ein Mittel sein in de'r Hand' gewisser politisch-kirchlicher

Parteien zur Förderung ihrer Sonderzwecke oder soll sie die Aufgabe erfüllen, welche die erhabensten Geister ihr immer gestellt haben: in gemeinsamer Erziehung edle Menschen und gute Bürger zu bilden?

Soll in Preußen der städtischen und ländlichen Gemeinde, in Deutschland der Provinz und dem Einzelstaat die ihnen gebührende Selbstverwaltung gesichert, und

soll mehr und mehr die Einheit der Nation nur gesucht werden können in der Einheit des Beamtenthums?

„Der Wohlstand des Volkes leidet unter dem System des bewaffneten Friedens, welches gegenwärtig in fast allen europäischen Staaten Platz gegriffen. Die dadurch erzeugte Besorgniß vor einem Kriege bedingt häufige Störungen der Arbeit in allen Zweigen der Industrie. Durch die seine besten Kräfte verzehrende Kriegs­ bereitschaft wird das Volk in so hohem Maße belastet, daß die gerechtesten Forderungen auf Verbesserung von Staatseinrichtungen zu produktiven Zwecken, insbesondere die auf Hebung des Unterrichts gerichteten Forderungen nicht befriedigt werden können. Alle Völker bedürfen des Friedens und alle Völker fordern ihn. An unserer Volksvertretung ist es, mit der Forderung auf Abrüstung voranzugehen und den Parlamenten anderer Völker zuzurufen: • Wir wollen den Frieden, lasset uns gemeinsam wirken für den Frieden!" 9*

Die Ions. u. lib. Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege.

132

Das sind die großen Fragen, zu deren Entscheidung jeder Wähler nach bester

Ueberzeugung beitragen muß. Darum auf zu den Wahlen, Ihr Freisinnigen! Beginnt überall die Vorbereitungen, bildet Wahlkomites für jeden Kreis, weckt die Schlafenden, — treibt die Lässigen, —

ermuthigt die Schwankenden. wird.

Bleibe Niemand zurück, wenn zur Wahlurne gerufen

Stelle sich schon jetzt Zeder zu dem Banner, dem er folgen will.

schrittspartei hat das ihrige entfaltet.

Die Fort­

Getreu den leitenden Grundsätzen des

Parteiprogramms stellt sie bei den bevorstehenden Wahlen folgende Punkte in den

Vordergrund:

I

Herstellung der deutschen Einheit auf friedlichem Wege; — Erweiterung des

Nordbundes zum Deutschen Bundesstaate, deshalb Ausbildung der Bundesverfassung

in freiheitlicher Entwickelung, besonders durch Einführung der Grundrechte und eines verantwortlichen Bundesministeriums in dieselbe, wie durch Gewährung der Diäten an die Abgeordneten.

II. Verminderung der Militärlast durch Verringerung der Friedensarmee und Verkürzung der Dienstzeit.

Unterstützung aller, eins allgemeine Abrüstung in Europa

gerichteten Bestrebungen.

III. Keine Steuererhöhung, vielmehr Verminderung der bestehenden Steuern, zunächst durch Beseitigung der die ärmeren Klassen drückenden Verbrauchssteuern auf nothwendige Lebensbedürfnisse.

IV. Gleiches Recht für Alle!-------- Allgemeines gleiches Wahlrecht, wie im

Bunde, so

auch in den Einzelstaaten. — Gleiche Möglichkeit zur humanen und

bürgerlichen Ausbildung durch die Freiheit des Unterrichts und Uebernahme der

Kosten der Volksschule auf die Gemeinde und den Staat. — Schutz für Leben und

Gesundheit der Staatsbürger.

Gewährung der vollen Freiheit und Rechtssicherheit

des Vereinswesens. — Abweisung jeder Ausbeutung des Staates für die Sonder­

interessen einzelner Gesellschaftsklassen, mögen dieselben Seitens der bisher priveligirten Stände oder Seitens der sozialistischen Arbeiterparteien geltend gemacht werden. Für das Preußische Abgeordnetenhaus insbesondere:

I. Volles Steuerbewilligungsrecht des Abgeordnetenhauses.

II. Selbstverwaltung in Gemeinde, Kreis und Provinz.

Verantwortlichkeit der

Beamten vor dem Richter.

Die Wahlen zum deutschen Reichstage sollten am 12. September, die zum Preußischen Abgeordnetenhause in der zweiten Hälfte des Monats September stattfinden. Die andern politischen Parteien hatten in gleichem Maße, wie die Fortschrittspartei von der Gleichgültigkeit der Wähler zu leiden. Die Nationalliberalen halten Anfang Februar 1870 eine Ver­ sammlung von Vertrauensmännern aus allen preußischen Provinzen und norddeutschen Bundesstaaten nach Berlin berufen. Dieselbe nahm einen Organisationsplan der Partei an, wonach auf drei Jahr ein Bundesaus­ schuß von je 5 Parteimitgliedern aus jeder preußischen Provinz und jedem norddeutschen Bundeslande, und neben demselben noch ein besonderer Parteivorstand eingesetzt wurde. Letzterer bestand aus 16 Mitgliedern: 6 außerhalb ^Berlins wohnenden (v. Forckenbeck, Bennigsen, Oetker, Lent-

Die Ions. u. lib. Parteien von 1867 bis zum franz. Kriege.

133

Breslau, Fries-Weimar, Biedermann-Leipzig) und 10 Berlinern (v. Unruh, Vorsitzender, v. Hennig, Geschäftsführer, Lasker, Braun, Miquöl, v. Bunsen, Hardt, Zabel, Soltmann, Oppenheim). Nachdem am 30. April eine Ver­ sammlung ihres Landesausschusses abgehalten war, erließ der Vorstand im Mai und Zuni vertrauliche Bekanntmachungen, worin nur das Wahl­ geschäft und die Vorbereitungen desselben besprochen wurden. Seit Neujahr tagte im Vatikan zu Rom das Konzil, welches das Dogma der päpstlichen Znfallibilität beschließen sollte; die Katholiken in Deutsch­ land wurden durch die Nachrichten von dem Verlauf der Berathungen in Aufregung versetzt. Zn Besorgniß sahen sie dem Ergebniß entgegen. Das Bedürfniß, sich für die in Folge des Konzils bevorstehenden politischen Kämpfe enger an einander zu schließen, gab sich in dem Wahlprogramm kund, welches „für die katholische Partei von einem hervorragenden Führer derselben entworfen", in den klerikalen Blättern Anfang Zuni veröffentlicht wurde. Er lautete: 1. Unversehrte Aufrechterhaltung der durch die preußische Verfassungsurkunde gewährleisteten Selbstständigkeit der Kirche in Ordnung und Verwaltung ihrer An­

gelegenheiten, insbesondere auch hinsichtlich der Bildung und Entwickelung kirchlicher

Gesellschaften. 2. Abwehrung aller gegen den konfessionellen Charakter des Volksunterrichtes gerichteten Bestrebungen und Angriffe zur Sicherung des heiligsten Rechts der christlichen Familie, so wie endliche Verwirklichung der verfassungsmäßig verheißenen Unterrichts­

freiheit. 3. Bewahrung des im Bundesvertrage und in der Bundesverfassung festgestellten

föderativen Charakters des Norddeutschen Bundes gegenüber allen auf Einführung eines zentzealifirten Einheitsstaates gerichteten, mit der wahren Freiheit und der eigen­ artigen Entwickelung des großen.deutschen Vaterlandes unverträglichen Parteibestre­ bungen.

4. Dezentralisation der Verwaltung und Verwirklichung der Selb st Verwaltung des Volkes in Gemeinde, Kreis und Provinz.

5. Ermäßigung der finanziellen Belastung des Landes, insbesondere durch Ver­ minderung der Ausgaben für das Militär wesen, so wie Beschränkung der aktiven Dienstzeit bei der Armee.

Zn einer Anfang Zuli zu Essen abgehaltenen Versammlung der katho­ lischen Vereine Rheinlands und Westfalens wurde das Programm durch­ berathen. Die Sätze 1. 2. 3. und 4. wurden verändert angenommen. Zwischen 2. und 3. aber wurde ein besonderer Satz eingeschoben: (3).

Festhaltung an dem christlichen Charakter der Ehe, als dem festen

und unter jeder Bedingung aufrecht zu erhaltenden Fundamente der Ehe.

Zm 5., jetzt 6. Abschnitte fiel die bei der Regierung überaus mißliebige Beschränkung der Dienstzeit; man schob dafür etwas soziale Frage ein. Die angenommenen beiden Schlußnummern lauteten: 6.

Ermäßigung der finanziellen Belastung des Landes, insbesondere durch

134

Die Ions. u. lib. Parteien von 1867 bis zürn franz. Kriege. Verminderung der Ausgaben für das Militärwesen, sowie durch Verteilung

der Steuern nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und Billigkeit, namentlich

in Hinsicht auf die Ueberbürdung des Arbeiters.

7. Beseitigung der sozialen Mißstände und Förderung aller Interessen des

Arbeiterstandes durch eine gesunde christliche Gesetzgebung.

Langsam, sehr langsam schien die Wahlbewegung nach Schluß des Reichstags in Fluß zu gerathen. Da kam der französische Krieg und bereitete allen Wahlvorbereitungen ein Ende. Am 18. Juli 1870 purde in Berlin die französische Kriegserklärung überreicht. An demselben Tage verkündete Papst Pius IX. vom Vatikan, gemäß der Konzilbeschlüsse, das Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit.

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

135

Sechstes Kapitel. Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

Am 19. Juli. 1870 ward der schleunig zu einer außerordentlichen Session einberufene Reichstag des norddeutschen Bundes vom Könige von Preußen eröffnet; die deutschen Regierungen wendeten sich, wie es in der Thronrede hieß, „an die Vaterlandsliebe und Opferfreudigkeit des deutschen Volkes mit dem Aufrufe zur Vertheidigung seiner Ehre und Unabhängig­ keit". Der Reichstag antwortete mit einer einstimmig angenommenen Adresse, aus welcher zwei Sätze hervorzuheben sind, im Eingänge der Satz:

„Das deutsche Volk hat keinen andern Wunsch, als in Frieden und Freundschaft zu leben mit allen Nationen, welche seine Ehre und Unabhängigkeit achten" und gegen den Schluß der Satz:

„Das deutsche Volk wird endlich auf der behaupteten Wahlstatt den von allen Völkern geachteten Boden friedlicher und freier Einigung finden."

Die von den verbündeten Regierungen zur Kriegführung verlangten Geld­ mittel (120 Millionen Thaler) wurden einstimmig bewMgt, — nur die Sozialdemokraten Bebel ünti Liebknecht enthielten sich'der Stimme. Gegen den Widerspruch der Fortschrittspartei wurde die Legislaturperiode des am 31. August 1867 gewählten Reichstages bis spätestens zum 31. Dezember 1870 verlängert.

Diese Verlängerung war die Ursache, daß nunmehr die Wahlen zum Preußischen Abgeordnetenhaus vor den Reichstagswahlen vorgenommen werden mußten. Der Zeitpunkt war für die liberalen Parteien nicht günstig. Die ganze Aufmerksamkeit der Wähler war auf den Krieg, ihr ganzes Interesse auf einen baldmöglichsten ehrenvollen Friedensschluß gerichtet. Seit Beginn des Krieges war alle Opposition gegen die Regierung ver­ stummt; es galt, dieselbe in dem Kampf gegen den äußern Feind zu unter­ stützen. Wie konnte von den Wählern erwartet werden, daß sie Männer wählen würden, welche in den innern Fragen die Interessen des Volkes gegen die Regierung fest und muthig vertraten? Die liberalen ZentralWahlkomites erließen kurz vor den am 9. November stattfindenden Urwahlen kurze Aufrufe. Der nationalliberale Aufruf mahnte mit vollem Recht zur Eintracht: „Wir dürfen darauf rechnen, daß der Ernst der Zeiten unfruchtbare Streitigkeiten unterdrücken, minder wichtige Gesichts-

136

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

punkte zurückdrängen und alle diejenigen Schattirungen der liberalen Partei, welche mit gleichem Eifer der nationalen Gestaltung Deutschlands ergeben

sind, zu gemeinsamem Wirken vereinigen wird."

Der Ausfall der Wahlen war den liberalen Parteien ungünstig. Zn den meisten katholischen Wahlkreisen wurden die liberalen und liberalisirende Abgeordnete durch Klerikale verdrängt. Die konservative Beamtenschaft, die Landräthe und ihre Gensdarmen hatten eine besondere Thätigkeit nicht entwickelt, dennoch hatten die Konservativen nur in wenigen preußischen Kreisen Plätze verloren. Die Nationalliberalen hatten in keinem einzigen derjenigen Wahlkreise, der 1867 rein fortschrittlich gewählt hatte, dem Friedensruf ihrer Führer Folge geleistet; es war ihnen gelungen, der Fortschrittspartei in Breslau alle drei und in Königsberg und Görlitz je einen Sitz abzunehmen, außerdem verdrängten sie die Fortschrittspartei in den Wahlkreisen Bromberg und Danzig, wo bis dahin neben zwei National­ liberalen ein Fortschrittsmann gewählt war. In Berlin fand ein erbitterter Wahlkampf nur im zweiten Wahlbezirke statt, wo die Mehrheit der Fortschrittspartei der Wiederwahl von Zoh. Jacoby widerstrebte, da derselbe 1868 aus der Fortschrittspartei aus­ getreten war, in der sozialen Frage sozialistischer Anschauungen verkündete und am 19. September bei einer Versammlung der Königsberger Volks­ partei einen Protest gegen die Annektirung von Elsaß-Lothringen durch­ gesetzt hatte.*) Zacoby wurde durch einen Fortschrittsmann ersetzt. In der ganzen Stadt wurde keine Stimme für einen Konservativen abgegeben, die konservativen Wahlmänner hatten im 1. 3. u. 4. Wahlbezirke Natio­ nalliberale als Kandidaten aufgestellt; im zweiten Wahlbezirke fiel keine einzige Stimme rechts von der Fortschrittspartei.**)

Am 16. November 1871 fanden die Wahlen zum Preußischen Land­ tage statt; am 24. November wurde der Reichstag des Norddeutschen Bundes zum letzten Male „im Namen der verbündeten Regierungen" eröffnet. Die Veranlassung und der Verlauf dieses Reichstags war keineswegs erfreulich. Mitten im Kriege hatten die deutschen Regierungen, ohne Zuziehung der *) Der Beschluß lautete: „Weder die Kriegserklärung Napoleons noch die Waffenthaten der deutschen Heere geben dem Sieger das Recht über das politische Geschick der Bewohner von Elsaß und Lothringen zu verfügen. Auf Grund des Selbstbe­ stimmungsrechts der Völker, im Interesse der Freiheit und des Friedens protestiren wir gegen jede gewaltsame Annexion französischen Ländergebiets." **) Gewählt wurden: Wahlbezirk I: Löwe - Calbe mit 469 von 642 (v. Ben­ nigsen 166 u. s. w); Klotz mit 473 von 639 (Bennigsen 156); Ludolf Parisius mit 399 von 636 (Bennigsen 162, Prediger Lisco 70, Zoh. Jacoby 3). Wahlbezirk II: Runge 529 von 659 i'Joh. Jacoby 109, Prediger Müller, Fortschr. 19); Eugen Richter im zweiten Wahlgange an Stelle von Joh. Jacoby (im ersten Wahlgange von 635 Stimmen: Eug. Richter 315, Prediger Müller 229, Joh. Jacoby 109; im zweiten Richter341, Müller 197, Jacoby 105). Wahlbezirk III: Schulze-Delitzsch mit 513 von 577 lFabrikbes. Hoppe 62); Virchow 510 von 554 (Hoppe 39 rc.). Wahlbezirk IV: Franz Duncker mit 494 von 560 (Forkenbeck 64); Eberty mit 491 von 545 Stimmen (Forkenbeck 49 u. s. w.). Im II. Wahlbezirk gab es für Richter, der in Hagen annahm (in seinem alten Wahlbezirke war er unterlegen) eine Nachwahl. Gewählt wurde Prediger Wilh. Müller, Fortschr. mit 341 Stimmen gegen den fortschrittlichen Kreisrichter Ed. Windthorst mit 188 und Joh. Jacoby mit 98 Stimmen.

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

137

Volksvertretung eine deutsche Reichsverfassung vereinbart, die im Vergleich zu den Hoffnungen der Nation fast wie ein Werk des Hohns aussah. Die Norddeutsche Bundesverfassung wurde liberaler Seits stets als ein trauriges Nothbehelf angesehen. Fortschrittspartei und linkes Zentrum hatten gegen sie gestimmt; die Nationalliberalen stets erklärt, bei erster Gelegenheit, namentlich aber beim Hinzutritt der süddeutschen Staaten die Mängel be­ seitigen zu können. Alle liberale Parteien hatten sich ernstlich und mit Erfolg bemüht, durch die mangelhafte Verfassung Gesetze für Norddeutsch­ land zu erlangen, welche die Rechte des Volkes vermehren und sicher stellen. Sie alle hatten auch noch während des Krieges zuversichtlich gehofft, daß die künftige Deutsche Reichsverfassung die allseitig anerkannten Fehler der Norddeutschen Bundesverfassung nicht besitzen werde. Eine öffentliche Kund­ gebung in diesem Sinne war Seitens einer Anzahl in Berlin wohnhafter Mitglieder der deutschen Fortschrittspartei am 25. September erfolgt; die­ selben (darunter die damaligen oder späteren Abgeordneten Duncker, Eberty, Hirsch, Hoppe, Kerst, Klotz, Langerhans, Müller, Parisius, Richter, Runge, Schulze-Delitzsch, Virchow) hatten in einem Aufrufe ihre Ansichten über die Grundzüge der Reichsverfassung insbesondere über die zu ändernden Punkte der Norddeutschen Bundesverfassung den Anschauungen der Partei ent­ sprechend niedergelegt, zugleich aber auch Neuwahlen für den norddeutschen Reichstag, in erster Linie jedoch Berufung eines allgemeinen Deutschen Parlaments zur freien Berathung der Verfassung von Gesammtdeutschland gefordert. Die zwischen den Regierungen im Hauptquartier zu Versailles unter Zuziehung der Reichstagsabgeordneten von Blankenburg, Friedenthal und von Bennigsen als Vertreter der konservativen, freikonservativen und natio­ nalliberalen Partei, vereinbarte Reichsverfassung war nichts weiter als die Norddeutsche Bundesverfassung mit partikularistischen Verschlechterungen, oder — wie Delbrück es ausdrückte — „mit Aenderungen, die den föde­ rativen Charakter der- Bundesverfassung verstärken"; der Norddeutsche Reichstag wurde aufgefordert, zuzustimmen, da es Deutschland nicht zum Segen gereiche, „das Erreichbare dem Wünschenswerthen zu opfern"! Die wichtigsten Aenderungen, über deren Verwerflichkeit alle politischen Parteien Norddeutschlands hätten einverstanden sein sollen, gingen auf Schwächung Preußens zu Gunsten der Mittelstaaten aus und betrafen das Stimmverhältniß der einzelnen Staaten im Bundesrathe und ihre Berechtigung, Ver­ fassungsänderungen trotz der Uebereinstimmung des Reichstags mit der Mehrheit des Bundesraths durch ihren Widerspruch zu hintertreiben. Von dem bei Berathung der Norddeutschen Bundesverfassung von der deutschen Fortschrittspartei aufs äußerste bekämpften unnatürlichen Stimmverhältniß im Bundesrath, wonach Preußen mit 24 Millionen Einwohnern 17, die übrigen norddeutschen Staaten mit 6 Millionen Einwohnern aber 26 Stimmen bekamen, hatten damals die liberalen Fürsprecher Miquel, Lasker, von Vincke übereinstimmend anerkannt, dasselbe sei, wenn gleich es (wie Miquel sich ausdrückte) zur „zeitweiligen Aufhebung eines kurzlebigen Militärstaates Norddeutschland" passiren könne, völlig unmöglich, wenn es sich um den Beitritt der süddeutschen Staaten handle. Zetzt mutheten die Regierungen dem Norddeutschen Reichstage zu, dafür zu stimmen, daß Preußen 17 gegen

138

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

41 Stimmen führe, daß jede Verfassungsveränderung als abgelehnt gelte, wenn sie im Bundesrathe von 58 Stimmen 14 (also z. B. die Stimmen der 3 Königreiche Bayern, Würtemberg, Sachsen oder der 12 Kleinstaaten Mecklenburg, Braunschweig, Schwarzburg, Reuß, Lippe, Schaumburg-Lippe, Lübeck und Bremen mit 1 ’/2 Million Einwohnern gegen die 44 Stimmen des übrigen Deutschland mit 37 Millionen Einwohnern) gegen sich hätte; — daß bei der Beschlußfassung über nicht gemeinsame Angelegenheiten im Reichstage die in den davon nicht betroffenen Staaten gewählten Abgeord­ neten sich der Abstimmung zu enthalten hätten*), — daß endlich Bayern eine große Zahl Sonderrechte garantirt würden. Vergeblich wiesen Schulze-Delitzsch, Löwe, Hoverbeck, Moritz Wiggers auf die unwürdige Stellung hin, die man dem Reichstage zumuthe; über die Einigung Deutschlands sei alle Welt einig, die Regierungen böten die Einigung aber nur unter ganz bestimmten Bedingungen und drohten ihm, wenn er nicht unbedingt Za sage, wenn er auch nur ein Titelchen verwerfe, solle er gar nichts, auch die Einigung nicht haben. Die Regierungen kannten ihre Reichstagsmehrheit; mit 195 gegen 32 Stimmen (19 Fort­ schritt, 3 Nationalliberale, darunter Jul. Wiggers, 2 Klerikale, 16 Sozial­ demokraten, 2 Partikularisten) wurde der bayerische Vertrag genehmigt. Die Wahlen zum Deutschen Reichstage wurden bis zum 7. März 1871 aufgeschoben. Zuvor hatte sich im Preußischen Abgeordnetenhause unter dem Namen des Zentrums (anfänglich der Verfassungspartei) eine kle­ rikale Fraktion gebildet, welche die Agitation für die Reichstagswahl in die Hand nahm. Das kurze Programm der Fraktion lautete:

„Die Fraktion stellt sich zur besonderen Aufgabe, für Am'rechthaltung und organische Fortbildung verfassungsmäßigen Rechtes im Allgemeinen und insbesondere für die Freiheit und Selbstständigkeit der Kirche und ihrer Institutionen einzutreten. Die Mitglieder derselben juchen dieser Aufgabe auf dem Wege freier Verständigung zu entsprechen und soll die Freiheit des Einzelnen in Bezug auf seine Abstimmungen keine Beein­ trächtigungen erleiden." Unter den 52 Abgeordneten, welche der Fraktion beitraten, waren neben den Gebrüdern Reichensperger, von Mallinckrodt der virkliche Ge­ heimrath von Savigny und der Staatsminister a. D. Or. Windthorst und der Rittergutsbesitzer Freiherr von Schorlemer-Alst. Als Hospi­ tanten betheiligten sich an der Fraktion die protestantischen hannoverschen Partikularisten, insbesondere Dr. Bruel, der frühere Unterstaatssekretär im hannoverschen Kultusministerium, inzwischen erwählter Vorsitzender des hannoverschen Landes-Synodalausschusses, — also der eigentliche Repräsentant der hannoverschen Landeskirche.

Die Fraktion des Zentrums nahm in dieser Legislaturperiode insofern *) Diese stärkste aller Zumuthungen an die verfassungsmäßigen Lerttreter „des gesammten Volkes" (Artikel 29) wurde in ihrer Lächerlichkeit ohne Erfolg vom Hover­ beck bekämpft. Zwei Zahr später gelang es ihm und seinen Parteigenossen, die böse Bestimmung aus Artikel 28 der Deutschen Reichsverfassung fortzuschaffem (Ges. v. 24. Febr. 1873).

139

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

eine hervorragende Stellung ein, als sie bei der ungefähr gleichen Stärke der liberalen und der konservativen Seite den Ausschlag gab. Das linke Zmtrum, dessen meisten Mitglieder von den Klerikalen ver­ drängt waren, löste sich auf. Die Schleswig-Holsteiner Ahlmann,Karsten, Hänel, Pflueg, Warburg traten zur deutschen Fortschrittspartei; ebenso der kurhessische Abgeordnete Bromm und der Schlesier All»och. Andere traten in die nationalliberale Fraktion. Der Fraktionsführer von Bockum-Dolffs blieb wild. Auch die Altliberalen konnten keine Fraktion zusammenbringen. Ein näheres Bild des Abgeordnetenhauses gewährt die folgende Zu­ sammenstellung in Vergleichung mit der Tabelle S. 118. Konser- Freikonservative. vative. — 12 — 2

Ostpreußen Westpreuhen 4 Posen 21 Pommern 26 Schlesien 27 Brandenburg 11 Sachsen 5 Westfalen Rheinland mit Hohen2 30 Hern 110 Die alten Provinzen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

4 2 18 5 5 1

16 51

Altlibe- (Klerika- Polen rale. leS) Zen­ und trum. !Dänen. — — 4 — 1 7 — — 12 — — 1 — 1 6 — — — — 2 1

2

15



3 10 9 1 11 3 16 3

3 8

25. 53

— 19

17 73

2 1 3 — 116

2 —



1 1



55*)**) 179

3 2 1 —

8

59 " 80

Fort- Summe, schritt,

13 2 — 1 3 10 3 5

32 22 29 26 65 45 38 31

1 38

64 352

— 1 6 5

36 14 12 18 432

111

72

169

10. Hannover 11. Reg.-Bez. Kassel 12. do. Wiesbaden 13. Schlesw-Holstein Preußen

Rationalliberat

— — 2 „ 21

29 10 1 10 123

50 173

Die kurze Landtagssession war verlaufen, ohne daß die Staatsregierung zu der neuen klerikalen Partei feste Stellung genommen hatte. Mehrmals war es vorgekommen, daß Anträge der liberalen Seite durch die einstim­ mige Verneinung Seitens der konservativen Partei und des Zentrums be­ seitigt wurden. Zu den Reichstagswahlen erließ das Zentrum am 11. Ja­ nuar 1871 einen Aufruf, unterzeichnet von sämmtlichen Fraktionsmitgliedern mit ihrm Titeln, an der Spitze der Wirkl. Geh. Rath vonSavigny und der Obertribunalsrath Peter Reichensperger") und der Staatsminister a. D. Dr. Windthorst. *) Unter den Freikonservativen befanden sich nicht wenige Klerikale, namentlich vom Rhein und von Schlesien; auch unter den Konservativen gab es deren mehrere. Zur Zeit der Wahl standen die Klerikalen noch in recht gutem Verhältniß zur Preu­ ßischen Regierung. Wo Nationalliberale, Fortschritt und Altliberale einig waren (181), bedurften sie zur Majorität noch 35 Freikonservativer oder ebenso vieler Polen und Klerikale. **) Von den 51 Unterzeichnern waren die meisten Beamte oder Geistliche (14). Neben einem Obertribunalsrath drei Appellationsgerichtsräthe und 10 Richter erster Instanz, dazu die Regierungsräthe von Mallinckrodt und Freiherr von Heere-

140

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

Der Aufruf lautet: „Die Wahlen

zum deutschen Reichstag stehen nahe

bevor.

Von welcher tief­

greifenden Bedeutung dieselben sind, bedarf nicht erst der Darlegung.

Mögen unsere

Gesinnungsgenossen nach Kräften. dahin wirken, daß ihr Ausfall dem Vaterlande zum Heile gereicht!

Es wird dies nur dann der Fall sein, wenn aus der Wahlurne

selbstlose, charakterfeste Männer hervorgehen, welchen das moralische und materielle Wohl aller Volksklassen, wie aller das deutsche Reich bildenden Stämme am Herzen

liegt, welche die bestehenden Besonderheiten nur insoweit der Einheit geopfert sehen wollen, als dieselben nachweislich dem Ganzen zum Schaden gereichen, welche endlich

— wie die politische -r- so auch die kirchliche Freiheit und das Recht der Religions­ gesellschaften gegen mögliche Eingriffe der Gesetzgebung sowohl als gegen feindliche

Parteibestrebungen entschieden gewahrt wissen wollen.

Es gilt baldmöglichst, in den verschiedenen Wahlkreisen solcher Männer sich zu versichern, welche demnächst ihrerseits im engen Anschlüsse aneinander als

parlamentarische Partei den gedachten Bestrebungen Ausdruck und praktische Folge zu geben Willens sind.

Insbesondere aber gilt es, nach Kräften dahin zu

wirken, daß das Bewußtsein von der hohen Wichtigkeit der bevorstehenden Abstimmung alle Schichten des Volkes durchdringt und so das Ergebniß dieser Abstimmung der

möglichst getreue Ausdruck seiner Wünsche und Bedürfnisse wird. Berlin, den 11. Januar 1871."

Auch die beiden liberalen Parteien traten im Januar mit Kundgebungen auf. Für die Nationalliberalen unterzeichnete einen Wahlaufruf der Vor­ stand des Landesausschusses. In demselben war als Aufgabe bezeichnet, „den anerkannten Mängeln der gemeinsamen Verfassung abzuhelfen und unser öffentliches Wirken einer Reform zu widmen, welche, bei der ehrlichen Achtung des Bundesstaates, die Zentralgewalt des Reiches bis zur Macht­ fülle einer wirksamen und wohlgeordneten Staatslenkung stärkt, die Frei­ heit auf dem gesicherten und fruchtbaren Boden des deutschen Stammes ununterbrochen fortbildet, das Recht und die Vorschriften der Gesetze zum unbeugsamen Maßstabe der bürgerlichen Pflichten erhebt." Die Fortschrittspartei erließ einen zwischen den Reichstags- und Land­ tagsabgeordneten vereinbarten Aufruf vom 21. Januar mit vielen Unter­ schriften auch von angesehenen Parteigenossen in den Preußischen Provinzen und in den Norddeutschen Staaten. Der Aufruf ist für die Entwickelung der Partei nur insoweit von Bedeutung, als er anknüpft an das alte Pro­ gramm vom 9. Juni 1861 und es vorläufig ablehnt, ein neues Programm zu schaffen**). mann, Oberbergrath Ulrich u. s. w. Diese Zusammensetzung der Fraktion beweist, daß man zur Zeit der Wahlen eine schroffe Opposition weder beabsichtigt noch vor­ ausgesehen hatte. *) Der Aufruf lautet:

„Durch die mit den süddeutschen Staaten abgeschlossenen Verfassungs-Verträge ist jede politische Partei unseres Vaterlandes auf eine neue Grundlage gestellt. So mangelhaft dieselbe ist, sie wird den nächsten Ausgangspunkt aller politischen Be­ strebungen der Nation bilden. Das Ziel der deutschen Fortschrittspartei, an die Spitze des Programmes vom 9. Juni 1861 gestellt — in der Verfassung des deutschen Reiches nur theilweise er­ reicht — ist nach wie vor die Freiheit im geeinigten Deutschland.

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

141

Eine lebhafte Wahlbewegung fand in Preußen nur in sehr wenigen Wahlkreisen statt. Die Regierung mischte sich nicht ein. Am 26. Februar waren die Friedenspräliminarien in Versailles von Graf Bismarck, Thiers und Zules Favre unterzeichnet worden. Am 1. März wurden sie von der Französischen National-Versammlung in Bordeaux ratifizirt; am 3. März wurde der Frieden in Deutschland verkündet, und gefeiert mit Glocken­ läuten und Kanonenschüssen, mit Fahnenwehen und Zlluminiren. An dem­ selben Tage fanden im ganzen Deutschen Reiche die Wahlen zum ersten Deutschen Reichstage statt. Das Ergebniß der Wahlen war in Norddeutschland ein Sieg der Kle­ rikalen in fast allen Wahlkreisen mit überwiegend katholischer Bevölkerung. Gewählt wurden nur solche Männer, die sich nicht bloß als treue, für Wiederherstellung der weltlichen Herrschaft des Papstes und für Unterwerfung unter die Beschlüsse des Vatikanischen Konzils eintretende Katholiken er­ wiesen hatten, sondern sich auch verpflichteten, der Fraktion des Zentrums beizutreten. In den nicht katholischen Kreisen von Altpreußen waren den Konservativen liberaler Seits mehrere Sitze abgenommen, so an fortschritt­ lichen in Brandenburg 2 mit Brandenburg und Potsdam und in Ost­ preußen 4, darunter Königsberg und Insterburg. In Hannover halten die Welfen erhebliche Erfolge zu Ungunsten der Nationalliberalen aufzuweisen. Zm Königreich Sachsen verloren die Konservativen und die Sozialdemokraten eine Reihe von Sitzen an die nationalliberale Partei. Der Mangel an Patriotismus, den während des Krieges die Sozialdemokraten bewiesen hatten, brachte dieselben um fast alle Mandate; nur Bebel behauptete in Glauchau-Meerane seinen Platz. Die Arbeit nach diesem Ziele ist uns fortan gemeinsam mit den Süddeutschen. Denn ein großer Gewinn, der uns jetzt schon geworden, ist der deutsche Reichstag, hervorgehend aus dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht des deutschen Volkes. Zm Austausche der Meinungen, im Ausgleiche der Bedürfnisse, im gemeinsamen praktisch-politischen Wirken mit'den Abgeordneten'Süddeütsch'Lands wird die Forrschtittspartei, unwandelbar an den alten, bewährten Grundsätzen festhaltend, die Kraft ge­ winnen zur Bildung einer, das ganze Deutschland umfassenden Partei. Ein neues Programm würde dieser Entwickelung vorgreifen. Wir sehen davon ab. Die Wahlen zum deutschen Reichstage stehen bevor, während die ganze Kraft der Nation sich auf den ruhmreichen Krieg in Frankreich richtet und Leib und Leben und jedes bürgerliche Opfer darbringt, um einen dieser Opfer werthen Frieden endlich zu erringen. Um so dringender tritt an uns die Pflicht heran, das Bewußtsein zu klären und zu stärken, daß niemals sich wiederholen darf, was eine trübe Zeit nach den Befreiungskriegen über das deutsche Volk verhängte. Aus dem gegenwärtigen, Kriege, einem deutschen Volkskriege, wie keiner zuvor es war, muß hervorgehen, wie die Befreiung vom äußern Feinde, so die Befreiung von den inneren Hemmnissen unserer nationalen und freiheitlichen Entwickelung. Dahin zu wirken, daß diese letzten und wahren Ziele unserer Kämpfe sich unter den Eindrücken des Tages nicht verdunkeln, das wird unsere nächste Aufgabe sein. Möchten hierzu alle liberalen Parteien sich die Hand bieten! An alle Freigesinnten und unsere Parteigenossen insbesondere richten wir die Aufforderung, trotz aller Ungunst der Verhältnisse die Wahlen zum deutschen Reichs­ tage schleunigst und mit Eifer vorzubereiten. Sie werden Kraft und Opferwilligkeit einsetzen, um im ersten deutschen Reichstage, der entscheidend sein wird für die Zukunft des deutschen Reiches, eine sichere Majorität schaffen zu helfen, welche entschlossen ist, den konstitutionellen Ausbau der Verfassung, die Freiheit, di,e Wohlfahrt, die humane Entwickelung der Bürger fest zu begründen! —" Berlin, den 21. Zanuar 1871.

142

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

In Süddeutschland erlitten alle Parteien, welche der deutschen Einheit mit preußischer Spitze widerstrebten, vor allem die Klerikalen und die süddeutsche Volkspartei eine gründliche Niederlage. Zwischen den beiden liberalen Parteien war es nur in wenigen Wahl­ kreisen zum Kampf gekommen. In Berlin hatte die Fortschrittspartei alle 6 Plätze gegen die Anhänger Jacoby's, gegen die Konservativen, gegen die Sozialdemokraten und gegen die Ultramontanen siegreich behauptet, während die Nationalliberalen meist mit der Fortschrittspartei gestimmt hatten;*) gegen alle übrigen Parteien, auch gegen die Nationalliberalen hatte die Fortschrittspartei Breslau behauptet, sowie Königsberg, (Stettin und Wies­ baden (Schenck gegen Braun) und Schwarzburg-Rudolstadt (Eugen Richter) erobert, während sie in Köln gegen einen Ultramontanen unterlag. Zm Königreich Sachsen hatten beide liberale Parteien sich überall auf einen gemeinschaftlichen Kandidaten geeinigt. Sn Mecklenburg hatten die ver­ einigten Liberalen die Konservativen aus den letzten beiden Wahlkreisen gedrängt. Die Nationalliberalen hatten gegen alle Parteien Danzig und Reuß jüngere Linie (Braun) behauptet.

Das Gesammtbild des Reichstages wird durch die Fraktionen bestimmt. Von den früheren Fraktionen des Norddeutschen Reichstages fielen drei aus. Die bundesstaatlich-konstitutionelle Vereinigung hatte vier konservativpartikularistische Sachsen, von denen drei wiedergewählt waren, mit sechs Klerikalen (darunter Windthorst, v. Mallinckrodt und Reichensperger), zwei Welfen und drei Volksparteimünner aus Schleswig-Holstein vereinigt. Der Austritt der Klerikalen, die in zehnfacher Zahl aus den Neuwahlen zurück­ kehrten, zerstörte die kleine Fraktion. Durch ihre Siege in Rheinland und Westfalen zerstörten die Klerikalen ferner die zweite kleine Fraktion, die „freie Vereinigung", das linke Zentrum, indem sie eine Reihe von Mit­ gliedern dieser Fraktion aus ihren Sitzen verdrängten. Nachdem nun auch die kleine Schaar vom rechten Zentrum, die Altliberalen, einige Sitze durch die Klerikalen eingebüßt hatten, entstand aus wenig zu einander passenden Resten aller drei Fraktiönchen eine neue Fraktion, welche zur Vermehrung ihrer Buntscheckigkeit aus Süddeutschland eine Reihe von Ministern „und die es waren oder es zu werden Anlage verspürten" — wie die Spötter meinten — in sich aufnahm. Diese „Verlegenheitsfraktion" oder die „Fraktion der Mixed-Pickles" gab sich den Namen der liberalen Reichs­ partei, indem ihr die Freikonservativen mit dem Beschluß, sich fortan deutsche Reichspartei zu nennen, diesen Namen, auf den sie auch ver*) Gewählt wurden in Berlin I: Hagen mit 3534 von 5637 Stimmen (gegen Jacoby 1033, von Bredow-Görne 701 bei 16258 Wählern). II. a) von Hoverbeck 6123 von 8457 (gegen von Erichsen 1574, Jacoby 330, Grau, Sozialdem. 180 bei 20,190 Wählern); d) in Nachwahl, da Hoverbeck hier ablehnte, Klotz mit 3743 von 5037 (gegen von Erichsen 1085, Jacoby 152). III. a) Wiggers mit 5354 von 8237 (gegen Jacoby 1685, Grau 519, Möser, kons. 414, von 19305 Wählern); b) in Nach­ wahl, da Wiggers hier ablehnte, Windthorst, 3449 von 4616 (gegen Jacoby 889, Vollgold, kons. 176). IV. Runge mit 3589 von 6487 (gegen Jacoby 1361, Grau 1104, v. Moltke 197 von 22,341 Wählern). V. Duncker mit 3323 von 4959 (gegen Jacoby 802, v. Werder 596 bei 16331 Wählern). VI. Schulze-Delitzsch mit 3559 von 5630 Stimmen (gegen Jacoby mit 1132, Krupp kons. 348, v. Savigny 219 bei 21,131 Wählern).

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

143

fallen war, weggenommen hatte. Zu ihr gehörten die preußischen Ex­ minister von Patow, von Bonin, von Bernuth, der badische Exminister von Roggenbach, die bayerschen Exminister Fürst Hohenlohe und von Hör­ mann nebst dem Gesandten Graf Luxburg, der sächsische Oberstaatsanwalt Schwarze, zwei Führer der bayrischen Fortschrittspartei Dr. M. Barth und Dr. Völk, der hessische Freiherr von Nordeck und Rabenau, der Legations­ sekretär von Kusserow und der hannoversche Graf Münster, jetzt Botschafter in London. Die sonderbare Fraktion einigte sich auf ein Programm, welches ein Kunstprodukt staatsmännischer Vereinbarung war. Wir theilen von den fünf Sätzen desselben die zu 2) 3) und 4) mit: „2) Wir werden die Befugnisse der Reichsgewalt wie die Autonomie der Bundes­

glieder auf der Grundlage der Reichsverfassung gleichmäßig wahren und zu solchen Kompetenzerweiterungen oder sonstigen Verfassungsänderungen, für welche sich im

Interesse gesunder Entwickelung ein Bedürfniß herausstellt, gern mitwirken.

3) Ueber der organischen Einheit ist es die Gewähr der persönlichen, bürgerlichen und politischen Freiheit, welche das deutsche Volk verlangt.

Wir werden diesem

Verlangen auf allen einschlägigen Gebieten der Reichsgesetzgebung, namentlich bei der

Regelung des Preß- und Vereinswesens, im Sinne wahren Fortschritts entschieden

Rechnung tragen. 4) Wir werden den Zeitpunkt gewissenhaft wahrnehmen, in welchen die Lasten des Volkes ohne Gefährdung der Sicherheit des Reiches in nachhaltiger Weise ge­ mildert werden können."

Die nationalliberale Partei, welcher bie große Mehrzahl der süddeutschen liberalen Abgeordneten zufiel, gewann im Freiherrn von Stauffenberg für München, in Dr. Bamberger für Mainz, in Rechtsanwalt Hölder für Gmünd begabte und einflußreiche Mitglieder. Die deutsche Fortschritts­ partei konnte über ihren.Zuwachs. aus Franken: Crämer, Herz, Erhard aus Mittelfranken, Krauß old aus Oberfranken, Gerstner und Fischer aus Unterfranken sehr erfreut sein, — aus den übrigen Regierungsbezirken Bayerns, aus Südhessen, Baden und Würtemberg erhielt sie gar keinen Zuwachs. Da die süddeutschen Nationalliberalen zum weit überwiegenden Theile innerhalb ihrer Fraktion der rechten Seite angehörten, so fand man das seiner Zeit viel belachte Wort Bismarck's, wonach wir Preußen den Süddeutschen zu liberal sind, in gewisser Weise bereits damals bestätigt.

Der bildung hervor, gebracht

Bestand der Parteien im ersten Deutschen Reichstag nach Neu­ der Fraktionen geht aus der nachfolgenden Tabelle (Seite 144) bei der die Wilden unter der nächststehenden Fraktion unter­ sind.

Auf die Entwickelung der Parteien in Preußen und Deutschland, auf das Verhältniß derselben zu einander und zu den Regierungen war für die nächsten Jahre der durch den Beschluß des vatikanischen Konzils vom 18. Juli 1870 über die Dogmatisirung der päpstlichen Unfehlbarkeit hervor­ gerufene Kampf zwischen Staat und Kirche von allein maßgebender Be­ deutung. In Preußen hatte die Regierung seit 20 Jahren die Bestrebungen

144

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

£ Deutsche Polen 8ZZ.2 ftnrtfpr- SMS 'n ^Liberale SS? Reichs- Natio- Fort­ Zentrum und «2^-Z.Summe. nalli- schritts­ incl. berale. p ortet. Welfen. ......... partei.



1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Ostpreußen. . . . Westpreußen. . . Posen................. Pommern .... Schlesien.............. Brandenburg . . Sachsen.............. Westfalen . . . . Rheinland . . . .

10 4 1 10 6 12 6 2 1

10. 11. 12. 13.

Altpreußen. . . Hannover . . . . Reg -Bez. Kassel. Reg.-Bez. Wiesb. Schleswig-Holst.

52 — 1 1 —

I. Preußen . . II. Nord. Kleinstaat. III. Sachsen.............. IV. a) Nordhessen .

54 1 —

Nord. Bund. . b) Südhessen. . Bayern.............. Württemberg. . Baden..............

55 — — — — 55

39

IV. V. VI. VII.

Deutschland . .

1 1 2 16 4 3 2 3



1 4 3

1 —

2 1 4

6 2 7 1 5

4 —

2 —

1 4 8 1 3 — 21 — — 3 4

— 3

1

29 9 6 — 1 45 29 • 8 1

28 4 8

1

9 1 5 1

35 — — 3 1

16 — 15 1 1

83 6 9 11 10

33

119

40 — 6 — — 46

32 2 — — — 34 —

8 —

— —

1 8 23 37 8 1 1 — 47 1

— 4 10

— — —





— —

— —

17 13 15 14 35 26 20 17 36

14 — — — 1

— — — 1 2

193 19 8 6 9

15 — —

3 — 2

235 36 23 3

15 — — — — 15

5 — — — — 5

297 6 48 17 19



48 — 18 2 2 70

382

der Jesuiten und ihrer Anhänger*) nicht blos geduldet, sondern geradezu unterstützt. Herr von Mühler, der den Ultramontanismus hatte groß­ ziehen helfen,-mit der aus Anhängern des neuen Dogmas zusammen­ gesetzten katholischen Ministerialabtheilung, seit Januar 1866 unter Leitung des vr. Krätzig (seit 1871 Reichstagsabgeordneter für Frankenstein), war ungeeignet die Kämpfe auszufechten, welche unausbleiblich waren, nachdem die deutschen Bischöfe sich dem Ausspruche des Konzils unterwarfen und demgemäß auch Lehrer und Geistliche und die Fakultäten der Universitäten zur Unterwerfung unter das Dogma nöthigten. Die preußische Landtagsfraktion des Zentrums hatte noch am 18. Fe­ bruar 1870 die Hoffnung gehegt, von maßgebender Stelle, wie früher, die ultramontanen Bestrebungen unterstützt zu sehen. Zhre sämmtlichen Mitglieder hatten an diesem Tage an den Kaiser nach Versailles eine Adresse mit der Bitte um Wiederaufrichtung der weltlichen Herrschaft des *) Zn der Herrenhaussitzung vorn 24. April 1873 sprach Bismarck darüber, daß ihm vorgeworfen sei, er begünstige die Jesuiten in stärkerem Maße, als für einen preußischen Minister zulässig sei. „Ich habe das gethan; es ist eben die Probe gewesen, ich habe den Kampf auf diesem Gebiet so gescheut und so lange zu vermeiden gesucht, daß ich fürchte, er ist fast zu spät von uns ausgenommen worden, daß ich die Friedfertigkeit, mit der ich verfahren bin, zu der ich gerathen habe, zu be­ reuen in manchen Stunden Grund habe." Er berief sich auf das Zeugniß mancher Bischöfe selbst, daß sie ihn für einen vollkommen friedliebenden und den konfessionellen Frieden so hoch anschlagenden Staatsmann gehalten haben, daß er manche Uebel, die mit seiner Nachgiebigkeit verbunden waren, nicht achtete.

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

145

römischen Stuhles gerichtet. Die Reichstagsfraktion stimmte einen Monat später gegen die zwischen allen Parteien vereinbarte Adresse an den Kaiser, weil der darin enthaltene Satz: „Die Tage der Einmischung in das Leben anderer Völker werden, so hoffen wir, unter keinem Vorwande und in keiner Form wiederkehren" jede Intervention zu Gunsten des Papstes zurückwies. Im Uebrigen verlief die erste Reichstagssession 1871 ohne erhebliche Konflikte zwischen Staat und Kirche. Die Preußische Regierung begann erst Ernst zu machen, als der Bischof von Ermeland mit Exkommunikation gegen die sich dem Unfehlbarkeitsdogma nicht unterwerfenden Lehrer vor­ ging (5. Zuli). Durch einen von sämmtlichen Ministern unterzeichneten Erlaß des Königs wurden am 8. Zuli 1870 die gesonderten Abtheilungen des Kultusministeriums für katholische und evangelische Angelegenheiten

aufgehoben. Jetzt folgte in der zweiten Reichstagssession im Herbst 1871 das sogenannte Kanzelgesetz. Das Gesetz vom 10. Dezember 1871 schuf einen neuen Strafgesetzbuch-Paragraphen 130a. Behufs Einsperrung von Religionsdienern, die in Ausübung oder in Veranlassung der Ausübung ihres Berufs öffentlich Angelegenheiten des Staats in einer den öffent­ lichen Frieden gefährdenden Weise erörterten. Dieses Gesetz, von der Bayrischen Regierung veranlaßt, war ein Fehler, schon deshalb, weil das zum Schutz gegen pfüffische Wühlereien geforderte Mittel nichts helfen konnte und man durch Annahme deffelben sich von wirksameren Mitteln ab­

halten ließ. Lasker und 12 von der Fortschrittspartei, darunter Hov er deck, Klotz, Eug. Richter stimmten dagegen, während die übrigen 23 von der Fortschrittspartei und alle übrigen Liberale dafür stimmten.*)

Mit voller Kraft trat das Preußische Ministerium in der am 27. No­ vember 1871 eröffneten Landtagssession in den Kampf ein. Die Thronrede kündigte Gesetze über Eheschließung und Standesregister, über die rechtlichen Wirkungen des Austritts aus der Kirche und über die Schulaufsicht an. Das Schulaufsichtsgesetz wurde vom Minister von Mühler schon am , 14, De­ zember 1871 dem Abgeordnetenhause vorgelegt. Man hatte nicht erwartet, daß dieser Minister ernsthaft daran denken würde, sein Amt bei der völlig veränderten Richtung der Polttik trotz des Mißtrauens, ja der Mißachtung aller oder fast aller Parteien fortzuführen.**) Als es doch geschah, rüsteten ♦) Die Ergänzung des Kanzelparagraphen durch die Novelle vom 26. Februar 1876 hatte die gesammte Fortschrittspartei gegen sich; man konnte sich nicht entschließen, Geistliche wegen Verbreitung von Schriftstücken unter besondere Strafbestimmungen zu stellen. **) Bismarck hatte sich wol längst überzeugt, daß ein Wechsel im geistlichen Ministerium durchaus nothwendig sei. Aber Herr von Mühler hielt sich für ver­ pflichtet, seine einflußreiche Stellung auf das äußerste zu behaupten, darauf bauend, daß der Kaiser jeder Entlassung eines Konflittsministers sehr abgeneigt war. In der Ueberzeugung, daß ein Minister, der entgegen der öffentlichen Meinung des Volkes und der Volksvertretung nach schweren politischen Niederlagen auf seinem Minister­ sitz sich standhaft behauptet, wol noch am ehesten zu stürzen sei, wenn es gelingt, ihn zum Gegenstände des Gelächters aller Volkskreise, auch der einflußreichsten zu machen, hatte der Herausgeber einen Band Jugendgedichte des Ministers zu einem spöttischen Aufsatze in der von ihm herausgegebenen Wochenschrift: der Volksfteund (Ende Mai bis Ende Juni) benutzt. Dieser Aussatz ist dann zu einer besonderen Schrift: „Ein Preußischer Kultusminister, der seinen Beruf verfehlt hat, oder Herrn Heinrich von Mühler's Gedichte. Ein heiteres Flugblatt in ernster Zeit", umgearbeitet

Parisms.

"

10

146

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

sich die liberalen Parteien des Abgeordnetenhauses, bei der ersten Berathung des Schulaufsichtsgesetzes einen großen Sturm gegen seine Stellung zu unternehmen. Es kam nicht dazu, denn am 12. Januar 1872 reichte Mühler seine Entlassung ein, welche nach einigen Tagen angenommen wurde. — Sein Nachfolger Minister Falk erhielt von den in der Thron­ rede angekündigten Vorlagen nur das Schulaufsichtsgesetz aufrecht. Die Berathung desselben im Abgeordnetenhause zersprengte die konservative Partei. Diese, vorzugsweise aus dem Adel und der Geistlichkeit der alten protestantischen Provinzen gebildet, hatte sich mit der orthodox lutherischen Richtung in der evangelischen Kirche schon seit 1848 verbunden, und hielt demnach entschieden daran fest, daß die Schule der Herrschaft der Kirche, d. h. der orthodoxen Geistlichkeit, unterworfen bleiben müsse. Seit Bis­ marck, der sich zur strengkirchlichen Partei bekannte, leitender Minister ge­ worden war, hatte die orthodoxe Geistlichkeit bei allen politischen Wahlen für die konservative Partei und für die Regierung eifrig agitirt und da­ durch das Band mit dem Adel so eng geknüpft, daß das herangewachsene jüngere Geschlecht, auch wenn es an der Richtung der Geistlichkeit keinen Geschmack fand, niemals gewagt hatte, das Band zu zerreißen und in der konservativen Partei die kirchlichen Fragen für offene zu erklären. Beim ersten Schritt, den die Staatsregierung gedrängt durch die Wirren in der katholischen Kirche, auf der Bahn der Trennung der Kirche von der Schule that, mußte die ungesunde Verbindung der Orthodoxie mit der konservativen Landadelspartei diese in Verwirrung bringen. Eine ihrer Traditionen nach der andern hatte Bismarck über den Haufen geworfen; „Wucherfreiheit", Gewerbefreiheit, Freizügigkeit, allgemein gleiches direktes Wahlrecht, Aus­ stoßung Oesterreichs aus Deutschland, Verjagung deutscher Landesfürsten, deutsches Kaiserthum, Koalitionsfreiheit, — alles dieses hatten sie mit­ gemacht, oft mürrisch und unwirsch oder mißmuthig in die Zukunft blickend, aber doch gehorsam und immer wieder gehorsam; die alten Pläne von der „Jmmobilisirung der Industrie" und von der weiteren Befestigung des Grund­ besitzes durch Aenderung der Erbfolge halten sie zu Gunsten der Mobilisirung des Grundeigenthums aufgegeben; die zur Zeit der Landrathskammern in Massen­ petitionen und Gesetzentwürfen verfolgten Bestrebungen für die Berechtigung des Gutspolizeiherrn, die Prügelstrafe anzuwenden und gegen Heirathen der Dorfbewohner Einspruch zu erheben, hatten sie völlig vergessen, sie be­ freundeten sich mit der einst verachteten Selbstverwaltung und waren bereit, die gutsherrliche Polizei mit ihren Kosten über Bord zu werfen;---------aber in demselben Augenblick, wo Bismarck einen ersten Schritt zur Be­ freiung der Schule von der Kirche that, da rief ihm die Partei ein Halt! zu. Eine starke Strömung am Hofe stand ihr zur Seite; der katholische

Ende September erschienen und bis zum Sturz des Ministers in 15,000 Exemplaren verbreitet. Eine zweite Reihenfolge spöttischer Aufsätze, geschrieben in Folge des Strafantrags des Ministers, unter dem Titel „Exzellenz, warum so mißvergnügt?" erschien als besondere Flugschrift erst in den letzten Tagen Dezember. Daß die Heiterkeit, welche diese Flugblätter im ganzen Volke erregten, erheblich dazu beigetragen hat, an maßgebender Stelle das Verbleiben des Herrn Ministers im Amte als un­ möglich erscheinen zu lassen, ist mir und Andern von Eingeweihten vielfach versichert worden.

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

147

Hofadel war in dieser Frage mit dem evangelischen einig.*) Freilich ver­ maß man sich wol nicht, den mächtigen Mann stürzen zu wollen, — aber seinem verhängnißvollen Treiben einen solchen Widerstand entgegenzusetzen, daß er begriff, die konservative Partei nicht entbehren zu können, dazu hatten sich die „kleinen Herrn" im Abgeordnetenhause fest entschloffen. Die Sitzungen des Abgeordnetenhauses vom 8. bis 13. Februar 1872 brachten die Entscheidung. Die Fortschrittspartei unter Virchow's Führung trat voll und ganz für ein Gesetz ein, welches sie als den ersten Schritt zur Trennung der Schule von der Kirche erachtete. Die Konservativen machten eine Reihe von Abänderungsanträgen. Bismarck war davon wenig erbaut. Er warnte die Herrn, daß sie ohne die Regierung nichts vermöchten. Sollte eine künftige Regierung ihnen zu weit auf die liberale Seite gehen, so könne sie mit wenig Auflösungen weitgehende Aenderungen durchsetzen. Schon einmal sei in Folge von ein, zwei Auflösungen (sic!) die sehr starke und die Majorität habende konservative Partei auf 11 bis 12 Mitglieder reduzirt, weil der Wind, der von der Regierung ausging, die Segel nach der andern Seite hin blähte; eine Regierung, die sich in diesen modernen Zeiten der Bewegung rücksichtslos in die Arme wirft, könne und werde in's Verderben führen, aber sei unwiderstehlich — zunächst bei preußischen Wahlen. Die Mahnungen Bismarcks machten auf die Konservativen tiefen Eindruck, aber sie kamen zu spät. Am 10. Februar fand die erste namentliche Abstimmung statt. Das Gesetz ging mit 197 gegen 171 Stimmen durch, also mit 12 Stimmen über die absolute Mehrheit. Unter der letzteren befanden sich an 20 Konservative, meistens Landräthe, Staatsanwälte und andere Beamte. Am 13. Februar war die Schlußberathung. Inzwischen war bei einem Hoffeste der konservativen Opposition sehr klar gemacht worden, daß sie in diesem Punkte auf eine Meinungsverschiedenheit des Kaisers und Bismarcks niemals rechnen könnte. Ein Dutzend konservativer Ab­ geordnete — Landräthe und andere Beamte —, die am 10. Februar gegen das Gesetz gestimmt hatten, zogen jetzt vor, abwesend'zu' sein. ' Die Ungeschicklichkeit einiger konservativer Redner, insbesondere des Landrath von Rauchhaupt nöthigte Bismarck, den Gegensatz noch einmal scharf darzulegen: undenkbar sei ihm gewesen, daß die bisherige konservative Partei die Regierung in einer Frage im Stiche lassen werde, in welcher die Re­ gierung ihrerseits entschlossen sei, jedes konstitutionelle Mittel zur Durch­ führung in Anwendung zu bringen. Das Gesetz ward jetzt mit 207 gegen 155 Stimmen angenommen. Die bejahenden Stimmen hatten sich um zehn vermehrt, die verneinenden um 16 vermindert. Die Verhandlungen im Herrenhause zeigten, daß die Entscheidung bereits im Abgeordnetenhause stattgefunden hatte. Die Kommission des durch die Ernennung von Moltke und Roon zu Pairs vergrößerten Herrenhauses hatte zwar das Gesetz völlig umgeändert und Kleist-Retzow zum Berichterstatter ernannt. Aber die Opposition des konservativen Zunkerthums hielt jetzt nicht mehr Stand.

*) Bismarck sagte ziemlich deutlich am 9. Februar: „Es.kommt vor, daß die bittersten Feinde einer bestimmten Monarchie sich unter der Maske der Sympathie an den Monarchen zu drängen suchen und ihm einen Rath persönlich aufzudrängen suchen, der der Monarchie im höchsten Grade gefährlich ist."

148

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

Nach mehrtägigen Debatten 'nahm das Herrenhaus am 8. März das Gesetz in der vom Abgeordnetenhause beschlossenen Fassung, mit 126 gegen 76 Stimmen an.

Das am 11. März 1872 publizirte Gesetz spricht dem Staate das alleinige Recht zu, Lokal- und Kreisschulinspektoren zu ernennen, ihre Aufsichts­ bezirke abzugrenzen und den ertheilten Auftrag, soweit es sich um ein Neben- oder Ehrenamt handelt, jederzeit zu widerrufen. Damit hat aller­ dings eine entschiedene freisinnige Regierung die Macht, jeden Einfluß der Geistlichkeit auf die Schule zu brechen. Der Zwiespalt in der konservativen Partei des preußischen Landtags führte zunächst weder im Abgeordnetenhause noch im Reichstage zu einer Trennung der Fraktion. Dennoch war er für die östlichen Provinzen ein tiefgehender. Dies zeigte sich bei der Berathung der Kreisordnung. Dieselbe erhielt trotz ihrer großen Mängel die Zustimmung der Fortschritts­ partei. Diese hatte sich redlich bemüht, die wesentlichsten Mängel noch in der Plenarberathung zu beseitigen, ward aber von den Nationalliberalen, die mit den Freikonservativen ein Kompromiß geschlossen hatten, im Stich gelassen. Der Eifer, mit welchem die Konservativen der äußersten Rechten gegen einzelne Bestimmungen der Kreisordnung und zum Theil gegen das ganze Gesetz eintraten, erregte in der Fortschrittspartei vielfach die Hoffnung, daß der Zwiespalt zwischen den Konservativen und der Regierung sich er­ weitern werde und daß um so eher die Fehler der Kreisordnung sich durch die nachfolgenden Ordnungen, durch Gemeindeordnung und Provinzialordnung würden beseitigen lassen. Die Fraktion des Abgeordnetenhauses beschloß die Annahme der Kreisordnung gegen eine kleine Minderheit, die sich dem Beschlusse fügte. Im Abgeordnetenhause wurde sie darauf angenommen mit 256 gegen 61 Stimmen; davon waren 45 konservativ, darunter Bismarcks Bruder. Das Herrenhaus war diesmal standhafter. Ihr erster Wortführer Kleist-Retzow verlangte von ihm, daß es aus der Pflicht der Selbsterhaltung ein unbedingtes rundes Nein zu der Vorlage spreche; mit stattlicher Mehrheit wurden die vom Grafen Eulenburg befürworteten Beschlüsse des Abgeordnetenhauses beseitigt. Ein Pairsschub von 25 Mann mußte helfen. Inzwischen hatte sich in Folge der Uneinigkeit der Konser­ vativen ihre unter dem Namen des Preußischen Volksvereins 1861 gestiftete große Vereinigung aufgelöst (Sommer 1872). Dem neu einberufenen Landtage ward die Kreisordnung in einer zwischen dem Minister Eulenburg und den nationalliberalen und freikonservativen Kommissionsmitgliedern vereinbarten Fassung vorgelegt; die Annahme er­ folgte nunmehr mit 288 gegen 91 Stimmen. Unter der Minderheit be­ fanden sich 53 Konservative, zwei märkische Landräthe enthielten sich der Abstimmung. Zn der konservativen Landtagsfraktion setzte die ihren Grundsätzen treugebliebene Mehrheit es endlich durch, daß die gefügige Minderheit ausschied und eine eigene Fraktion bildete — die neukonservative, im Gegensatz zur altkonservativen. Das Herrenhaus unterwarf sich nach dem Pairsschub der Forderung der Regierung; die von der Rechten gestellten Abänderungsanträge wurden verworfen, und die Kreisordnung mit 116 gegen 91 Stimmen angenommen. (7. Dezember 1872).

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

149

Der Kampf zwischen der Preußischen Regierung und der katholischen Kirche führte zu einer Reihe von Kirchengesetzen: das Zesuitengesetz wurde im Reichstage mit 183 gegen 101 Stimmen angenommen. Zur Minderheit gehörte ein Theil der Fortschrittspartei, darunter Banks, Duncker, Erhard, Gerstner, Herz, Hoverbeck, Klotz-Berlin, Wiggers und Ziegler, einige Nationalliberale, wie Dr. Bähr, Bamberger, Lasker. Dann kamen im Preu­ ßischen Landtage die sogen. Maigesetze: 1) das Gesetz betreffend die Ab­ änderung der Artikel 15 und 16 der Verfassung — publizirt 5. April 1873; 2) das Gesetz betreffend die Vorbildung und Anstellung der Geistlichen vom 11. Mai 1873; 3) das Gesetz über die kirchliche Disziplinargewalt und die Errichtung des königlichen Gerichtshofes für kirchliche Angelegenheiten vom 12. Mai 1873; 4) das Gesetz über die Grenzen des Rechts zum Gebrauche kirchlicher Straf- und Zuchtmittel vom 13. Mai 1873, und 5) das Gesetz betreffend den Austritt aus der Kirche vom 14. Mai 1873. Inzwischen waren in dem Bestände des Preußischen Ministeriums weitere Veränderungen eingetreten. Beim Kampfe um die Kreisordnung hatte Bismarck den Pairsschub mit Mühe durchgesetzt; Roon und Selchow, Gegner des Pairsschubs, kamen damals um den Abschied ein. Letzterer hatte die konservativen Landwirthe so gut wie die liberalen, wegen der geringen Leistungen seines Ressorts zu Gegnern; überdies soll seine Stellung beim Könige dadurch erschüttert gewesen sein, daß er, wie er im Abgeord­ netenhause auf einen Angriff des Herausgebers dieses Buches einräumen mußte, in einer Meliorationssache, bei welcher sein eigenes Rittergut stark betheiligt war, die Gewährung eines zinsfreien Darlehns aus öffentlichen Fonds an die Zwangsgenossenschaft bewilligt und die Beschwerde eines Betheiligten, welcher aus derselben ausscheiden wollte, selbst ablehnend entschieden hatte.*) Er erhielt den Abschied Anfang Januar 1873; sein Nachfolger Graf Königsmarck wurde des Ministerpostens müde, als er denselben kaum angetreten hatte. Das Entlassungsgesuch des Ministers Roon wurde nicht genehmigt; dielMeht wurde ' auf Bismarcks' Verlangen dieser von der Ministerpräsidentschaft entbunden, und dieselbe auf Roon übertragen. Bismarck wurde ferner für befugt erklärt, im Fall seiner Behinderung an der persönlichen Theilnahme an den Sitzungen des Staats­ ministeriums, sein Votum in den die Interessen des Reichs berührenden Angelegenheiten durch Minister Delbrück abgeben zu lassen. Außerdem wurde General von Kameke zum Staatsminister und zum Stellvertreter im Kriegsministerium ernannt. (Kabinets-Ordres vom 1. Januar 1873). Roon behielt die Ministerpräsidentenschaft nicht lange; als er sich durch das Vertrauen auf die Wahrheitsliebe des Geh. Rath Wag en er hatte verleiten lassen, denselben gegen den Abgeordneten Lasker bei dessen Angriffen auf den Eisenbahnschwindel in Schutz zu nehmen und Jenem unehrenhafte Motive unterzulegen, verleidete auch dies dem Ruhe bedürftigen Manne *) Die Abgeordnetenhausmehrheit nahm augenscheinlich an, daß der Minister von Selchow nicht blos entschuldigt sei, sondern sich auch hinreichend gerechtfertigt habe. (Vgl. Verhandlungen des Abgeordnetenhauses vom 16. Januar und 27. Fe­ bruar 1871). Wohlunterrichtete versichern indessen, daß nach Einsicht des dem Abgeordnetenhause nicht vorgelegten Aktenmaterials man an höchster Stelle zu einer strengeren Beurtheilung der Angelegenheit hingeneigt habe.

150

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

den Posten. Im November 1873 wurde er in den Ruhestand versetzt. Traf Jtzen plitz war schon im Mai abgegangen und hatte dem freikon­ servativen Achenbach Platz gemacht, der in 15 Jahren vom Privatdozenten des deutschen Rechts bis zum preußischen Handelsminister avancirt war. Bismarck fand übrigens, daß der Versuch, das Präsidium im preußischen Staatsministerium einem andern Minister zu übertragen, sich in keiner Weise bewährt hatte. Er übernahm das Präsidium wieder, Camphausen wurde nun Vizepräsident des Staatsministeriums und General von Kamele wirklicher Kriegsminister. (9. Novbr. 1873).

Die elfte Legislaturperiode des preußischen Landtages und die erste des deutschen Reichstags waren bis zum Frühjahr 1873 in ziemlicher Eintracht der liberalen Parteien verlaufen. Obschon sie im Abgeordnetenhause eine Minderheit ausmachten und im Reichstage nur mit Unterstützung der liberalen Reichspartei es auf eine geringe Mehrheit zu bringen vermochten, erschienen die Ergebnisse der Sessionen beiden Fraktionen ziemlich befriedigend. Mit den Neuwahlen schien der Zeitpunkt gekommen, wo man in beiden politischen Körperschaften eine große Mehrheit erlangen und dadurch die Regierungen noch weiter auf den liberalen Weg drängen konnte. Die deutsche Fortschrittspartei erließ diesmal von allen Parteien zuerst ihren Wahlaufruf. Derselbe war zu einer Zeit, wo Abgeordnetenhaus und Reichstag in Berlin tagten, von den Mitgliedern der Fraktionen beider Körperschaften auf Grund eines Entwurfes von Virchow berathen und einstimmig angenommen. Er wurde am 23. März 1873 veröffentlicht und lautete: „Das Mandat, welches wir von unsern Wählern zu einer Zeit empfangen hatten,

als das deutsche Heer noch nicht die letzten seiner zahlreichen Siegeskränze erkämpft hatte, wird bald erledigt sein.

Zn wenigen Monaten werden Neuwahlen ausgeschrieben

werden müssen, und zum ersten Male nach ihrer Heimkehr werden auch die Sieger

berufen sein, an dem friedlichen und doch nicht minder ernsten Kampfe an der Wahl­ urne Theil zu nehmen.

Darum möge das ganze Voll sich rüsten in wahrer Erkenntniß

dessen, was dem Vaterlande noth thut, und in strenger Erfüllung der Pflicht, welche dem Bürger obliegt, damit ein der großen Opfer würdiger Neubau unseres Staats-

Wesens geschaffen werde. Wähler!

Die großen Ziele, welche die deutsche Fortschrittspartei seit ihrer

Gründung verfolgt hat, sind noch lange nicht erreicht.

Indeß ist Manches davon

schneller verwirklicht worden, als selbst wir gehofft hatten, und wer die Lage der

öffentlichen Angelegenheiten vor 12 Jahren mit der gegenwärtigen vergleicht, der wird zugestehen müssen, daß die stattgehabten Veränderungen mehr unserem Pro­

gramm, als dem unserer Gegner entsprechen.

Der Gedanke der deutschen Einheit, den wir von Anfang an ausgenommen und

gegen Angriffe und Verdächtigungen der damaligen Regierungspartei geschützt haben, ist jetzt in Kaiser und Reichstag verkörpert.

Gleichmäßige Rechtsinstitutionen in

freiheitlichem und humanem Geiste aufgestellt, beginnen sich über ganz Deutschland

auszubreiten.

Der materielle Verkehr, fast auf allen Gebieten von hemmenden

Schranken befreit, pulsirt in einer Kraft und Lebendigkeit, welche die Sicherheit

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

151

gewähren, daß auch gewisse beunruhigende Erscheinungen des Außenblicks bald werden

überwunden werden. Aber noch fehlen den Institutionen des Reiches die wichtigsten Bürgschaften.

Selbst die Organisation der höchsten Verwaltungsämter im Reiche kann nur als eine

provisorische betrachtet werden.

Es wird langer und ernster Arbeit bedürfen, um

die Lücken der Reichsverfassung und der Reichsgesetzgebung im Sinne einer wahrhaft

konstitutionellen Entwickelung auszufüllen. Auch der preußische Landtag hat Fortschritte der Gesetzgebung zu verzeichnen,

wie sie keine frühere Legislaturperiode aufzuweisen hat.

Das Budgetrecht wird

regelmäßig gehandhabt und hat durch das Oberrechnungskammergesetz eine sichere Unterlage gewonnen.

Zn der Steuergesetzgebung sind die ersten Schritte auf dem

Wege einer Reform geschehen, welche einerseits eine gerechtere Vertheilung der Steuern

und eine Entlastung der am schwersten bedrückten Volksklassen, andererseits eine den

jeweiligen Verhältnissen mehr entsprechende Bemessung

führen muß.

der Steuerquoten herbei­

Der Realkredit hat durch die Ordnung des Grundbuchwesens eine

neue Sicherheit erlangt. Die Nothwendigkeit einer Kräftigung der Selbstverwaltung und einer weiteren Decentralisation wird jetzt auch offiziell zugestanden: in verschiedenen Richtungen ist schon gegenwärtig durch die Gesetzgebung die polizeiliche und bevormundende Thätigkeit des Staates eingeengt worden, und die neue Kreisordnung wird sicherlich das Ver­

dienst haben, die Schranken des Feudalismus niedergebrochen und den thätigen Elementen des Volkes in der Verwaltung des Kreises freie Bahn geöffnet zu haben.

Schließlich sind auch auf dem Gebiete der humanen und individuellen Entwickelung

einige große Schritte vorwärts gethan.

Die Schulregulative sind gefallen.

Unter

der entscheidenden Mitwirkung unserer Partei hat die Regierung das Gesetz über

die Schulaussichtsbehörden durchgesetzt, und in der langen Reihe der Kirchengesetze

.wird der definitive Bruch Mt . jeyem . verwerflichen System der gegenseitigen Verficherung zwischen der Beamtenherrschaft im Staate und der Priesterherrschaft in der Kirche, welches so lange unsere Entwickelung daniedergehalten hat, besiegelt werden.

Es giebt wenige unter diesen Gestaltungen, welchen unsere Partei ohne Bedenken ihre Zustimmung ertheilen konnte.

Sie hat s. Z. versucht, diejenigen Abänderungen

der Gesetze zu erzielen, welche sie für erforderlich hielt.

Aber obwohl sie dabei nur

zu oft unterlegen ist, so hat sie es doch als eine Nothwendigkeit erkannt, im Verein mit den anderen liberalen Parteien die Regierung in einem Kampfe zu unter­

stützen, der mit jedem Tage mehr den Charakter eines großen Kultur­

kampfes der Menschheit annimmt. Die Fortschrittspartei ist darum keine Regierungspartei geworden.

Sie ist

eine Partei unabhängiger Männer, welche keinerlei Verpflichtungen gegen die Regierung oder gegen einzelne Mitglieder derselben haben.

rein sachliches.

Ihr Programm war und ist ein

Aber sie wird über ihren einzelnen Forderungen nie vergessen, daß

es die höchste Aufgabe des Staates ist, seinen Bürgern innerhalb der gesetzlichen

Schranken dasjenige Maaß individueller Freiheit und diejenigen Mittel der Bildung

zu sichern, welche es ihnen möglich machen, an der allgemeinen Kulturbewegung der

152

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

Menschen Theil zu nehmen, und sie wird jede einzelne Maßregel der Gesetzgebung und der Verwaltung danach beurtheilen, ob sie dieser Aufgabe förderlich oder hinderlich ist.

Wähler!

Neue Ordnungen für die Provinzen und Gemeinden im Sinne der

Selbstverwaltung müssen festgestellt werden.

Große Entscheidungen auf dem Gebiete

der Schule und der Kirche stehen bevor; insbesondere wird für lange Zeit entschieden

werden, ob in der künftigen Kirchenverfassung der Gemeinde die ihr gebührende Stellung zu Theil werden soll.

Sorgt daher durch die Wahl unabhängiger und

wahrhaft freisinniger Männer dafür, daß diese Entscheidungen nicht gegen die Freiheit,

nicht gegen die Bildung, nicht gegen die edleren Ziele der Menschheit ausfallen."

Der Auftuf fand anfänglich nicht blos bei den Nationalliberalen, sondern selbst bei der Regierungspresse lauten Beifall.*) Lange freilich hielt der Beifall nicht vor; wenn man an dem Aufruf selbst nichts zu mäkeln wußte, tröstete man sich mit der trügerischen Hoffnung, aus dem anfänglichen Fehlen von Unterschriften abwesender Fraktionsgenoffen deren Nichteinverständniß folgern zu dürfen.**) Dem fortschrittlichen Aufrufe folgte zuerst der Wahlaufruf der national­ liberalen Partei, angenommen am 10. Mai 1873 nach einem Entwurf Lasker's in einer großen Versammlung des Landesausschuffes. Der Aufruf hielt sich absichtlich von eigentlichen Programmforderungen fern. Nur die Hauptgesichtspunkte, von denen die Partei bei ihrer Thätigkeit geleitet werde, sollte er enthalten. Zusammenwirken bei den Wahlen mit den andern liberalen Parteien — gegen „Reichsfeinde" auch mit Kon­ servativen — ward als nothwendig hingestellt. Wichtiger für die Entwickelung der Parteien waren die Wahlvor­ bereitungen der Konservativen. Vergeblich hatte die konservative Fraktion des Reichstages den Zerfall der Partei aufzuhalten versucht. Mitten in den aufregenden Debatten des preußischen Landtages über die Kreisordnung hatte sie am 14. Mai 1872 ein Programm der „monarchisch-nationalen *) Die Nationalzeitung nannte den Aufruf vortrefflich und überall die unge­ schminkte Wahrheit enthaltend und meinte, er enthielte kaum einen Satz, den man vom Standpunkt der nationalliberalen Partei nicht ebenfalls unterschreiben könnte. Die ministerielle Norddeutsche Allg. Ztg. knüpfte an die Stelle vom „Kulturkampf" folgendes Loblied: „Zn diesen Worten, schlicht und bescheiden und doch inhaltschwer, liegt die Lösung des Räthsels, daß die Fortschrittspartei heute einen Wahlaufruf veröffentlicht, dem die Organe aller liberalen Schattirungen bereitwillig ihre Spalten öffnen und dessen warmer patriotischer Anerkennung alles Guten und Großen, was im Vaterlande geschehen, auch der konservativste Mann seinen Beifall nicht versagen wird. Der kleinliche Kampf um die Schablone des konstitutionellen Lebens ist ver­ stummt von dem Augenblicke an, in welchem die großen Ziele nationaler Wohlfahrt und Größe am Horizonte unseres geistigen Lebens sich erhoben; in die zweite Reihe traten die kleinlichen Formbedenken, und vereint in Einem Ziele finden die Parteien von rechts und links sich in geschlossener Reihe gegenüber den Feinden der nationalen Entwickelung in allen Fragen, in denen das wahre Kulturinteresse des Volkes auf dem Spiele steht." — **) Kein Aufruf der Fortschrittspartei hat so schnell den einstimmigen Beifall der Fraktionsmitglieder gefunden wie dieser. Um so auffälliger, daß selbst in dem bei aller Gegnerschaft gegen die Fortschrittspartei doch nach Wahrheit trachtenden Europäischen Geschichtskalender von H. Schultheiß dem Aufrufe die Bemerkung hin­ zugefügt ist: „Der linke Flügel der Partei ist mit der Haltung des Aufrufs nicht einverstanden."

153

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

Partei des Reichstags" beschlossen, welches erst nach Monaten in den Zeitungen vollständig abgedruckt wurde. Dieses höchst charakteristische Akten­ stück lautete: ,1. Im Hinblick auf die immer tiefer greifenden Tagesfragen, die, ungelöst und falsch behandelt, Staat, Kirche und Gesellschaft zu erschüttern drohen, hält sich die

konservative Partei des Reichstages für verpflichtet, die Grundsätze klar zu legen,

nach denen sie, wie bisher, so in Zukunft im neuen Deutschen Reiche Stellung ge­ nommen hat, resp, nehmen will.

Als politische Partei im Deutschen Reiche hat sie

deutsche Interessen zu vertreten und erkennt es als Nothwendigkeit an, die gleich­

artigen Bestrebungen in allen deutschen Staaten in sich zu vereinigen.

Dieselbe

wird nur dann gedeihlich zu wirken vermögen, wenn sie es als ihre Hauptaufgabe

erkennt und wenn es ihr gelingt, auf einer festbestimmten Grundlage mit der Re­

gierung zu stehen und mit ihr Hand in Hand in gegenseitigem Vertrauen zu handeln. Auf der anderen Seite kann aber auch die Regierung des Rückhalts einer konservativen

Partei um so weniger entbehren, als dieselbe für gewöhnlich nicht ohne und gegen

die Majorität des Reichstages zu regieren vermag und ihr, in Ermangelung einer festen Basis der staatlichen Entwickelung, die zur Sicherheit ihrer Zukunft nothwendige

Stätigkeit fehlen würde.

Diese Basis muß aber eine feste, d. h. eine solche sein, auf

welche die Regierung sich verlassen und mit der sie in den bewegenden Fragen der Zeit mit Zuversicht und Vertrauen rechnen kann.

2. Die konservative Partei ist ihrem politischen Grundgedanken nach die mo­ narchisch-nationale Partei.

Als solche sieht sie in einer starken kaiserlichen

Gewalt und in der weiteren staatlichen Ausbildung und Ausstattung des das

deutsche Fürstenthum, sowie den Staatsgedanken des Deutschen Reiches repräsentirenden Bundesrathes die Bürgschaft für die Einheit des Reiches und die gedeihliche Fortentwickelung und Selbstständigkeit seiner Glieder.

Demgemäß wird

sie den

Bestrebungen entgegentreten, welche einerseits auf die Herrschaft parlamentarischer Majoritäten hinzielen und welche andererseits, im Gegensatz zu der eigenartigen Ent­ wickelung der einzelnen deutschen Länder und Stämme, das Reich zum Einheitsstaat

zu verkümmern trachten.

Mehr als irgendwo anders ist für das Deutsche Reich der

monarchische Gedanke identisch mit dem nationalen, und es ist deshalb eine tiefe

Unwahrheit, wenn die Gegner des nationalen Gedankens sich als Vorkämpfer des monarchischen zu geberden versuchen — und umgekehrt.

Gleichmäßig sind alle Ten­

denzen zu bekämpfen, welche die monarchische Einigung Deutschlands wieder zu zer­ reißen, oder der Staatsgewalt auswärtige kirchliche Mächte zu koordiniren oder zu

substituiren gedenken.

3. Die aus diesen Grundgedanken sich ergebende Stellung den hervorragenden politischen Fragen gegenüber ist folgende: Die Selbstständigkeit des Reiches auf

finanziellem Gebiete fordert eine so vollständige Ausstattung des Reichshaushalts

durch Reichssteuern, daß derselbe von den direkten Zuschüssen der Einzelstaaten möglichst

unabhängig wird.

Es ist eine Forderung gerechter Steuervertheilung, an Stelle

derjenigen Steuer-Auflagen, welche einseitig einzelne Klassen der Bevölkerung belasten, Objekte zur Besteuerung heranzuziehen, die für die indirekte Besteuerung als

Genußmittel, oder die ihrer Bewegung im Verkehrsleben sich besonders eignen.

154

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

4. Nicht minder hängt die Behandlung der sozialen Frage mit der Stärkung

der monarchischen Gewalt und mit der nationalen Entwickelung Deutschlands zu­ sammen, nicht allein, weil die Lösung nur im großen Maßstabe und durch den

starken Arm einer den sozialen Mächten überlegenen Regierung gelingen kann, sondern

weil auch eine gesunde Entwickelung des Deutschen Reiches nur möglich bleibt, wenn dieselbe sich im Einklänge mit den Bedürfnissen und den berechtigten Anforderungen

der Masse des Volkes vollzieht. 5. Die Regelung dieser Verhältnisse erfordert daher gleichmäßige Rücksichtnahme auf die Interessen aller Berufs- und Erwerbszweige, deshalb Beseitigung der Un­

gleichheit, welche für den Grundbesitz, das landwirthschaftliche Gewerbe und die

produktive Arbeit aus der bestehenden Gesetzgebung hervorgegarttzen ist, und zwar Alles dies unter dem Gesichtspunkte, die Staatsidee und das öffentliche Wohl gegen­ über der individuellen Freiheit und dem egoistischen Zntereffe entschiedener

zur

Geltung zu bringen. 6.

Es folgt daraus ferner die nachdrückliche Bekämpfung aller sozialen Be­

strebungen, welche sich nicht auf der Basis der gegenwärtigen Staats- und Gesellschafts­ Ordnung, oder im Gegensatz gegen die Nationalität vollziehen wollen.

Die Ar­

beiterbewegung insbesondere erfordert das Eingreifen der Staatsgewalt, um die Geltendmachung berechtigter Interessen des Arbeiterstandes in gesetzliche Bahnen zu

lenken.

Hierzu bedarf es staatlicher Fürsorge für diejenigen Einrichtungen und

korporativen Bildungen, welche geeignet sind, die materielle und geistige Lage des

Arbeiterstandes zu sichern und zu fördern, — sowie der Schaffung staatlicher Organe, welche die Verhütung und Schlichtung der Streitigkeiten zwischen Arbeit­

nehmer und Arbeitgeber auf friedlichem Wege sich zur Aufgabe machen. 7. Für die Lösung der sozialen Frage ist endlich selbstredend die Mitwirkung

der Kirche von hervorragender Bedeutung. — Hier ist der evangelischen sowohl, wie der katholischen ein weites Arbeitsfeld eröffnet und von letzteren bereits eifrig

in den Bereich ihrer Thätigkeit gezogen.

Die evangelische Kirche aber wird dem

Staate erst dann in vollem Maße Handreichung zu thun vermögen, wenn ihr die

verheißene Selbstständigkeit gewährt und sie dadurch in den Stand gesetzt und ge­

nöthigt sein wird, sich auf sich selbst und die ihr innewohnendm geistigen und

geistlichen Kräfte zu unterstützen. 8. Die praktische Aufgabe für diesen Zweck ist nicht Trennung von Kirche

und Staat, welche überhaupt unmöglich ist, sondern Definirung und Regelung des

Grenzgebiets, welche sobald als möglich auszuführen sind, weil die Voraussetzungen und Aussichten insbesondere für die evangelische Kirche mit jedem Jahre ungünstiger

zu werden drohen.

Unter den jetzt gegebenen Verhältniffen empfiehlt es sich, für

die Verfassung der evangelischen Kirche in Preußen die relative Selbstständigkeit, sowie den bestehenden Rechts- und Bekenntnißstand der Provinzen zum Ausgangs­ punkt zu nehmen und für die Zusammenfassung des gesummten Kirchenwesens eine der Ausdehnung nach dem Reiche hin fähige Instanz zu schaffen, welche die Selbst­

ständigkeit und Selbstverwaltung der Kirche in föderativem Sinne garantirt und ein unabhängiges Organ, welches alle zwischen Staat und Kirche obschwebenden

kirchenrechtlichen Fragen als Rechtsfragen zum Austrag bringt"

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

155

Dieses Programm, bestimmt den Zwiespalt zwischen der konservativen Partei und dem Reichskanzler zu überbrücken, wurde von der Kreuzzeitung in folger Weise ausgelegt, daß sie ihm zustimmen konnte. Aber — erklärte sie im September 1872 —, die dadurch „versuchte und gefundene Ver­ ständigung würde in ihren Grundvoraussetzungen zerstört, das Programm wäre ein werthloses zerrissenes Stück Papier, wenn das Staatsministerium diese Kreisordnung mit den ihm gegebenen Machtmitteln im Herrenhause zur Annahme zu bringen versuchen sollte." Wie bereits mitgetheilt worden, hat sich die Voraussage bestätigt. Die konservative Fraktion des Abgeordnetenhauses zerbrach mit der Annahme der Kreisordnung. Von den 116 Konservativen des Abgeordnetenhauses blieben 71 der alten Fahne treu, 45 bildeten die neue konservative Fraktion und wählten einen neuen Vorstand, bestehend aus sieben Mitgliedern: Vor­ sitzender wurde von Bismarck-Naugard (Prov. Pommern), der ältere Bruder des Reichskanzlers, erster Stellvertreter desselben Landrath von Rauchhaupt (Prov. Sachsen), zweiter Stellvertreter Reichstagsabgeordneter von Waldow-Reitzenstein (Prov. Brandenburg), die übrigen Mit­ glieder waren der Kreisgerichtsdirektor Lampugnani (Prov. Sachsen), der schlesische Landrath von Liebermann, der nassauische Landrath Hahn (Sohn des bekannten reaktionären Geh. Oberregierungsraths) und der Kreisgerichtsrath Richter-Hirschberg. Die neue Partei gab sich den Anschein, als ob sie mit der Reichstagsfraktion im Wesentlichen einig sei. Sie erließ mit den Unterschriften des Vorstandes einen Wahlaufruf, in welchem sie sich auf das Programm vom 14. Mai 1872 berief. Der­ selbe lautet: »Im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen hält es auch die neue konservative

Partei für ihre Pflicht, den Wählern ihre Ziele vorzulegen.

Die Partei, welche sich in wesentlicher Uebereinstimmung mit den von der kon­ servativen Fraktion des Reichstages in den Beschlüssen vom 14. Mai 1872 nieder­

gelegten Grundanschaüungen befindet, ist: 1) eine monarchische: sie wird die verfassungsmäßigen Rechte der Krone unge­

schmälert zu erhalten bemüht sein; 2) eine nationale: sie wird die Politik, durch welche Deutschland zur Einigkeit,

Macht und Freiheit gelangt ist, mit vollster Hingebung unterstützen; 3) eine wahrhaft konservative: sie ist ausgehend aus dem Prinzip der Ord­ nung, entschlossen, durch rechtzeitige Reformen den veränderten politischen Verhält­

nissen gerecht zu werden und durch Bekämpfung aller destruktiven und radikalen Tendenzen die Grundlagen unserer staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung aufrecht zu erhalten.

Zn diesem Sinne haben wir dem Abschlüsse des nothwendigen Werkes der

inneren Reformen — der Kreisordnung — unsere Zustimmung ertheilt, obwohl gegenüber den bekannten Parteiverhältnissen im Abgeordnetenhaus dabei mancher konservative Wunsch zurücktreten mußte.

Wir sind bei Berathung des Gesetzes über

die Dotation der Provinzial- und Kreisverbände bemüht gewesen, den Kreisen sofort die nöthige Beihülfe zu verschaffen, um die Reform mit Erfolg durchführen zu können.

Wir werden demnächst bei der Revision der Provinzialordnung diejenigen

156

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

konservativen Grundsätze vertheidigen, von welchem auf diesem Gebiete eine gedeih­ liche Fortentwickelung abhängig erscheint.

Den zur Regulirung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche ergangenen Gesetzen hat die Partei ihre volle Unterstützung geliehen in der Ueberzeugung, daß es, zumal in einem paritätischen Staate wie Preußen, geboten sei, den offenkundigen Uebergriffen des Ultramontanismus, welcher den Staat in Abhängigkeit von aus­

wärtigen kirchlichen Mächten zu bringen bestrebt ist, einen Damm entgegen zu setzen. Allerdings ist mit diesen Gesetzen die Nothwendigkeit dringender als je hervor­

getreten, der evangelischen Kirche zu der in der Verfassung vorausgesetzten Selbst­ ständigkeit zu verhelfen.

Wir werden alle Bestrebungen unterstützen, welche geeignet

erscheinen, diesem Ziele näher zu führen.

Ganz besonders erachtet es die Partei für ihre Aufgabe, auf wirthschaftlichem

Gebiete an die Heilung der Schäden heranzutreten, welche unsere gesummten socialen Die auf diesem Gebiete entfaltete Freiheit ist nicht ohne Miß­

Zustände bedrohen.

brauch geblieben.

Der willkürliche Bruch der Arbeitskontrakte, eine das Gemein­

wohl schädigende Ausnutzung des Koalitionsrechts, die Verführung zur Aus Wanderung

und die Täuschung des Publikums bei Gründungen sind Auswüchse der gewährten Freiheit und erfordern die heilende Hand der Gesetzgebung.

Andererseits wird auf

die Beseitigung mancher, die wirthschastliche Entwickelung noch hemmender Umgleich­

heiten der Steuern und Zölle hinzuwirken sein. Diesen unseren Grundsätzen entsprechend, wollen wir, daß die konservative Partei

nicht ein Hemmniß wird für die gewaltigen und vielfach neuen Aufgaben, welche

dem Staat und der Gesetzgebung seit 1866 sich fortgesetzt aufdrängen; wir wollen vielmehr, indem wir unsere volle Kraft an die Lösung dieser Aufgaben setzen, der

konservativen Partei

ihren berechtigten Einfluß im Staatsleben erhalten.

Wir

wissen uns dabei im Einklänge mit einem großen Theile der Konservativen des

Landes, und rechnen mit Zuversicht auf deren thatkräftige Unterstützung zur Durch­

führung einer ebenso konservativen, wie nationalen Politik. Berlin, 15. Mai 1873.

Zm Namen der neuen konservativen Fraktion des Abgeordnetenhauses. Der Vorstand: v. Bismarck - Naugard. v. Rauchhaupt, v. Waldow - Reitzenstein. Lampugnani. v. Liebermann. Hahn. Richter-Hirschberg.

Die konkurrirende altkonservative Partei blieb nicht lange mit dem Wahl­ aufruf zurück. Schon am 21. Mai 1873 veröffentlichte die Kreuzzeitung folgendes zwischen der konservativen Fraktion des Abgeordnetenhauses und der des Herrenhauses vereinbarte Wahlprogramm der Altkonservativen: „Mit Dank gegen Gott begrüßen wir die Wiederherstellung eines deutschen Reiches unter unserem Könige als deutschem Kaiser.

Zur Aufrechthaltung und Befestigung der gewonnenen Stellung erscheint uns

die Bewahrung und Stärkung der Wehrkraft unserer Armee ein unabweisbares Er­ forderniß.

Wir wollen eine redliche Achtung der Selbstständigkeit der zum deutschen Reiche

verbundenen Staaten nach Maßgabe der Garantie der Reichsverfassung.

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

Bei voller Wahrung

verfassungsmäßiger Rechte

157

der Reichs- beziehungsweise

Landesvertretung wollen wir ein starkes selbstständiges Königthum in Preußen, eine

dem entsprechende Bundesgewalt im deutschen Reiche. Zur Selbstständigkeit des Reiches wie der dazu

verbundenen Einzelstaaten er­

scheint uns eine weitere Ausstattung des Reichshaushaltes insoweit erforderlich, daß derselbe von direkten Zuschüssen der Einzelstaaten unabhängig wird.

Dazu empfiehlt sich vornehmlich die indirekte Besteuerung allgemein verbreiteter Genußmittel, welche weniger nothwendige Lebensbedürfnisse betreffen, und die Be­

steuerung des in weiten Kreisen der Spekulation dienenden Börsenverkehrs. Es ist eine Forderung der Gerechtigkeit, die bestehenden Steuerungleichheiten zu

beseitigen. Wir widerstreben jeder Gesetzgebung, welche statt der Weiterbildung die Auflösung

bestehender organischer Verhältnisse herbeiführt. Die ungebundene Entfesselung der Macht des Kapitals und der großen Massen der handarbeitenden Klasse, die Zerstörung der Ordnung des Gewerbebetriebes und die unbegrenzte Verkehrsfieiheit — ohne die nothwendige gleichzeitige Rücksichtnahme

auf das Staatsinteresse selbst, wie auf die anderen Klassen — schlagen dem Hand­ werke und der Landwirthschaft tiefe Wunden.

Sie haben einen das Staatsleben

gefährdenden Geist der Nichtachtung bestehenden Rechts, vorhandener Autorität, ge­

schlossener Verträge zur Folge gehabt, welcher, wenn er schließlich nicht gegen die

Staatsgewalt und gegen alles Bestehende sich richten soll, das Einschreiten der Ge­

setzgebung auf dem ganzen wirthschaftlichen Gebiete nöthig macht. Ausdehnung korporativer Organisationen mit möglichst erweiterter Verwaltung der die Genoffen betreffenden Angelegenheiten, namentlich auch des Handwerker­ standes erscheint uns geboten. Wir widerstreben der Trennung des Staates von der Kirche, und der Entchristlichung des ersteren, und sind darum gegen die Civilehe, soweit dieselbe über die Grenzen der' Nöth-Civilehe hinausgeht.

Wir wollen eine aufrichtige Anerkennung der Selbstständigkeit und Freiheit der

Kirche, speziell die Wahrung des Rechts der evangelischen Kirche, sich auf Grundlage ihres Bekenntnisses in der ihr zu Recht bestehenden Organisation ohne Einmischung

der Organe des Staates weiter zu entwickeln.

Wir erkennen jedoch wie seither das

Recht des Staates an, thatsächlichen Uebergriffen der Kirche in sein Rechtsgebiet

entgegenzutreten.

Wir wollen die Erhaltung und Anwendung der Bestimmungen der Verfassungs­ urkunde über den konfessionellen Charakter der Volksschule und die Freiheit des

Unterrichts auch für die Kirche unter gesetzlich geregelter Aufsicht des Staates."

Die Herren Altkonservativen waren übrigens keineswegs einig. Zhr alter Führer, der Appellationsgerichtspräsident von Ger lach, war im Februar durch die Klerikalen in das Abgeordnetenhaus gewählt und hielt sich hier zum Zentrum, in scharfer Opposition gegen Bismarck und den Kulturkampf. Die Fraktion aber wehrte es, laut Zuschriften an die Kreuz­ zeitung, auf das entschiedendste ab „in systematischer Opposition der Staats­ regierung gegenüber zu stehen", während die Kreuzzeitung sich gegen alles

158

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

Hinhalten, Abschwächen und Paktiren verwahrte und Hülfe und Rettung nur „von einer bis auf den Herzpunkt aller Fragen durchschlagenden Reak­ tion in der von dem Progamm angezeigten Richtung" erhoffte. Später wie die übrigen politischen Parteien trat das Zentrum mit Wahlaufrufen hervor. Eine Aufforderung vom 20. Mai 1873, unter­ zeichnet „Die Fraktion des Zentrums. (Verfassungspartei.) Z. A.: Der Vorstand: Elkemann. Graf Praschma. P. Reichensperger, von Savigny. Gajewski. Windthorst (Meppen). Freiherr von Schorlemer-Alst. von Mallinckrodt." hatte sich mit Bezug auf den bevorstehenden Ablauf der Wahlperiode für das preußische Abgeordnetenhaus an die Wähler nur mit der Bitte gerichtet, auf dem festen Grunde der von der Fraktion seit dem ersten Zusammentritt dieses Landtages treu bewahrten und verfochtenen Prinzipien auch in der Zukunft zu beharren und bei Fortsetzung des Kampfes ungebrochenen Muthes mit allen gesetz­ lichen Mitteln für die Sache der Wahrheit, des Rechtes und der Freiheit einzustehen. Wie diese Aufforderung der Landtagsfraktion nur auf die Wahlen zum Abgeordnetenhause Rücksicht nahm, so bezog sich ein Aufruf der Zentrumsfraktion des Reichstages vom 24. Juni 1873 nur auf die Wahlen zum Reichstage. Dieser Aufruf lautete: „Die Berufung und Eröffnung des ersten deutschen Reichtages im Frühjahr 1871

vereinigte uns alsbald in die Fraktion des Zentrums. Unsere Fahne trug die Devise: Justitia fundamentum regnorum — Gerechtig­

keit bedingt die Dauer der Reiche. Als Leitsterne unseres Handelns bezeichnen wir: 1) die Bewahrung des verfassungsmäßigen Grundcharakters des Reiches als

eines Bundesstaates — nur in dem Nothwendigen die Einheit, in allem Uebrigen die freie Selbstbestimmung der Einzelstaaten des Reiches;

2) die Förderung des moralischen und materiellen Wohles aller Volksklassen; die Gewinnung verfassungsmäßiger Garantien für die bürgerliche und

religiöse

Freiheit aller Angehörigen des Reiches und insbesondere die Vertheidigung

des

Rechtes der Religionsgesellschaften gegen Eingriffe der Gesetzgebung.

Zn dem Augenblicke, wo die voraussichtlich letzte Session dieses Reichstages ihrem Schluffe nahe, richten wir an unsere Wähler und an alle Wahlberechtigten des Reiches die Bitte, an der Hand ihrer bisherigen Erfahrungen die Berechtigung der

von uns aufgestellten politischen Grundsätze zu prüfen und darüber zu richten, ob

wir in dm Handlungen und Kämpfen des parlamentarischen Lebens unseren Grund­ sätzen und unseren Wählern die Treue bewahrt haben.

Den Anlaß zu solchem Ausspruch werden die Neuwahlen bieten.

Möge dann

ein streng prüfender Rückblick in die Vergangenheit als Wegweiser dienen zur Ge­ staltung der Zukunft.

Mögen die Wähler, bevor sie zur Urne schreiten, sich darüber

Gewißheit verschaffen, welcher Partei ein Kandidat beitreten will, und ob derselbe für bürgerliche und kirchliche Freiheit, für den wahren und echten Fortschritt auf christlicher Grundlage, für die Beschränkung der öffentlichen Lasten — der persön­

lichen wie der materiellen — auf das unabweislich erforderliche Maß mit voller

Kraft einstehen wird.

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874. Möge kein zur Wahl Berechtigter von derselben fern bleiben.

159 Es gilt den

höchsten Gütern der menschlichen Gesellschaft, es gilt Pflichterfüllung gegen Gott und Menschen.

Zn den einzelnen Staaten und Provinzen werden sich Wahlkomites

bilden, welche jede erwünschte Auskunft und Anleitung zu geben bereit sein werden. Berlin, 24. Zuni 1873.

Die Zentrumsfraktion des Reichstages.

Z. A.: von Aretin. Franz Graf Ballerstrem. Cajetan Graf v. Bissingen, von Mallinck­ rodt.

Dr. Mayer (Donauwörth).

Reichensperger,

von Savigny.

Dr. Windthorst.

Den Aufforderungen des Zentrums entsprechend traten in den ver­ schiedenen Staaten und Provinzen besondere Versammlungen von Ver­ trauensmännern zusammen und organisirten sich. Für Westfalen fand eine Versammlung zu Soest am 17. Juli 1873 statt, welche einen Aufruf be­ schloß und mit vielen Unterschriften verbreitete, welcher zum Schluß ein besonderes Programm enthielt. Dasselbe lautet:

Programm. Für Wahrheit, Recht und Freiheit! Wir wollen:

1.

Richt blos Abwehr jedes ferneren Angriffs auf die Unabhängigkeit der

kirchlichen Organe, auf die Entwickelung religiösen Lebens und die Entfaltung christlicher Lebensthätigkeit, — sondern Wiederherstellung und erneuerte ver­

fassungsmäßige Sicher st ellung der durch die neuere Gesetzgebung verletztm

Selbstständigkeit

und Rechte

der

römisch-katholischen,

sowie

der

evangelischen Kirche. 2.

Thatsächliche Durchführung der staatsrechtlichen Parität der anerkann­

ten Religionsbekenntnisse. .

3.

Vertheidigung und Aufrechthaltung des christlichen Charakters der Ehe.

4.

Konfessionelle .Schulen.und Verwirklichung der.verfassungsmäßig, ver­

heißenen Unterrichtsfreiheit. 5.

Beseitigung der Beschränkungen der Presse und des Vereinsrechtes.

6.

Dezentralisation der Verwaltung,

Selbstverwaltung des

Volkes

in Gemeinde, Kreis und Provinz.

7.

Beschränkung der Staatsausgaben, insbesondere für die Armee,

durch angemessene Verkürzung der Dienstzeit und Verminderung der Präsenzstärke

des Heeres im Frieden. 8.

Gleichmäßige und gerechte Vertheilung der Steuern und Lasten.

9.

Erhaltung und Förderung eines kräftigen Mittelstandes in einem selbst­

ständigen Bürger- und Bauernstande. 10.

Freiheit für alle den gesetzlichen Boden nicht verlassenden Bestrebungen

zur Lösung der sozialen Aufgaben; Bekämpfung der Grundsätze und Agitationen, welche das Eigenthum und die soziale Ordnung bedrohen."

Mit Ausnahme des Aufrufs der Zentrumspartei waren alle Wahl­ aufrufe lange vor Beendigung der Reichstagssession 1873 (12. März bis 25. Juni) erlassen. Die Ergebnisse dieser Session waren nicht geeignet,

160

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

das freundschaftliche Verhältniß zwischen den Nationalliberalen und der Fortschrittspartei zu stärken. Es zeigte sich, daß nicht blos fast die ganze liberale Reichspartei, sondern auch ein ziemlich großer Theil der National­ liberalen die Mehrheit dieser Partei, wo sie mit der Fortschrittspartei ver­ eint in der Opposition stand, selbst in wichtigen Fragen im Stich ließ und dadurch für die konservative Seite den Ausschlag gab. Obschon die Reaktion gegen den Gründungsschwindel und den Milliardensegen sich bereits entwickelte, wurde doch über die Neste der französischen Kriegs­ entschädigung nach den Vorschlägen des Bundesrathes in zremlich ver­ schwenderischer Weise zum Besten des Kriegsdepartements verfügt. Die Offiziere erhielten neben ihrem bisherigen Servis noch den vollen Wohnungs­ geldzuschuß; die Höhe desselben und damit die Bevorzugung vor den Civilbeamten, versuchten die Abgeordneten Lasker und Holder durch Anträge abzumindern, die nach erregten Debatten mit 126 gegen 103 beziehungs­ weise mit 121 gegen 96 Stimmen verworfen wurden (21. und 23. Zuni). Bei der Tarifreform kam durch „häßliche Intriguen der Eiseninteressenten"*) hinter den Koulissen schließlich ein sogenanntes Kompromiß zu Stande, welches entgegen den von der Fortschrittspartei unterstützten freihändlerischen Regierungsvorlagen den Eisenzoll bis zum 1. Januar 1877 aufrecht erhielt und die Interessenten ermuthigte, das gleiche Spiel mit nicht minder schmutzigen Mitteln 1876 fortzusetzen. Man konnte es der Regierung nicht verdenken, daß sie mit diesem Reichstage auch noch ein die Militärverwaltung vom Budgetrecht eximirendes Reichsmilitärgesetz vereinbaren wollte und deshalb den Entwurf desselben Mitte Mai einbrachte. Diese Zumuthung wurde indeß abgelehnt, das Reichsmilitärgesetz kam nicht mehr auf die Tages­ ordnung, — die Beseitigung desielben führte indeß zu einer heftigen Szene zwischen dem Reichskanzler und Lasker; ob die Thatsache, daß Bismarck am 16. Juni den Streit vom Zaun brach, um Lasker ohne Veranlassung „in sehr erregter Weise abzukanzeln", der Regierung für die wichtigen Berathungen der folgenden Tage nationalliberale Stimmen abwendig ge­ macht, oder nicht vielmehr zugeführt hat, dürfte schwer zu erforschen sein. Die Fraktion der Fortschrittspartei des Reichstags fand sich am Schluß der Reichstagssession veranlaßt, in einer Resolution zu erklären, daß sie diejenigen, welche in der Frage des Militärpauschquantums, der Reichstags­ diäten und des Offizierservises mit den Konservativen gestimmt hätten, als nahestehende politische Freunde nicht ansehen könne. Diese gegen den rechten Flügel der Nationalliberalen gerichtete Erklärung war hauptsächlich durch die Wahrnehmung veranlaßt, daß von diesem für die bevorstehenden Neuwahlen eine Verbindung mit den gemäßigt Konservativen angestrebt wurde. „Man versuchte, die Parole auszugeben: es komme bei den Neu­ wahlen nur darauf an, um die Ultramontanen, die Altkonservativen und *) So nennt der zur nationalliberalen Partei gehörende Verfasser der „Rück­ blicke" der Augsburger Allgemeinen Zeitung (siehe Abdruck in Hirth's Annalen 1874 S. 286), der von dieser Session überhaupt wenig erbaut ist, die nichts weniger als reinlichen, vielmehr fast auf trügerische Vorspiegelungen hinauslaufenden Leistungen einer kleinen lediglich für ihren Geldbeutel arbeitenden Klique freikonservativer und nationalliberaler Reichstagsabgeordneten. Es war dies das erste Mal, wo etwas, wie „Korruption" im Deutschen Reichstage zu spüren war.

161

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

die Sozialdemokraten niederzuhalten, „„reichstreu"" zu wählen."*) Aber diesen Elementen gegenüber war die Majorität gesichert; es kam — so wurde fortschrittlicher Seits ausgeführt — praktisch nur darauf an, daß diese Majorität eine liberale und nicht eine gouvernementale sei; eine Koalition mit Konservativen war blos in vereinzelten Kreisen nothwendig. Die Erklärung der Fortschrittspartei gegen zu weit gehende Koalitionen war, abgesehen von Schlesien, wo die Wahlverbrüderung mit den Konser­ vativen bereits einen großen Umfang gewonnen hatte, anscheinend nicht wirkungslos. Als im Herbst 1873 die eigentliche Wahlbewegung begann, betonten die parlamentarischen Führer der Nationalliberalen in Berlin nachdrücklich den Unterschied zwischen liberal und konservativ. Auf Betrieb des fortschrittlichen Zentralwahlkomites, welches den nationalliberalen Führern schon im Frühjahr ein Wahlbündniß für die bisher von Konser­ vativen verttetenen protestantischen Landkreise der östlichen Provinzen ange­ boten hatte, wurde von beiden liberalen Parteien gemeinsam eine Ver­ sammlung liberaler Vertrauensmänner aus der Provinz Brandenburg nach Berlin berufen. Es fand sich dabei, daß fast alle Erschienenen der Fort­ schrittspartei angehörten. Gleichwohl erboten sie sich, nationalliberale Kandidaten aufzustellen und zu unterstützen, sofern diese den Konservativen gegenüber mehr Aussicht durchzukommen haben würden.

Bei dem Vollzug der Landtagswahlen in den protestantischen Kreisen zeigte es sich, wie sehr Bismarck mit seinen Warnungen den Konservativen gegenüber Recht gehabt hatte. Die konservative Partei Preußens ist als parlamentarische Partei kaum denkbar, sobald sie in die Opposition tritt; die Wähler wenden sich in diesem Falle sofort von ihr ab. Mochten die. konservativen Kandidaten sich noch so sehr als Anhänger der konservativen Regierung geriren, — der Umstand, daß sie die Regierung im Kampf gegen das Papstthum beim Schulaufsichtsgesetz im Stich gelassen hatten, genügte in den meisten Wahlkreisen dem überwiegenden Theile ihrer Wähler, sie im Stich zu lassen.. Ueber das. gespannte Verhältniß, in welchem die sogen.. Altkonservativen zu der Regierung standen, gab noch im August 1873 die Maßregelung der beiden hinterpommerschen Landräthe von Gott berg für den Kreis Stolp und von Woedtke für den Kreis Schlave, wo Varzin liegt, vollgültigen Beweis. Beide Männer, nach langjähriger Amtsführung als treffliche Verwaltungsbeamte auch von ihren liberalen Kreiseingesessenen anerkannt, waren als Abgeordnete der altkonservativen Fahne treu geblieben und wurden jetzt zur Disposition gestellt, angeblich weil sie die Durchführung der ihnen widerwärtigen Kreisordnung nicht eifrig genug betrieben. Darob erfolgte bei vielen konservativen Landräthen und Regierungsbeamten freilich schnell eine Schwenkung; die Herren entdeckten plötzlich, daß sie nur noch neukonservativ oder freikonservativ waren. Ein großer Theil der Konservativen machte schon diesmal den Versuch, sich unter dem Bauernkittel der landwirthschaftlichen Interessen-Verttetung in das Abgeordnetenhaus zu schmuggeln. M. Anton Niendorf und andere *) Siehe Eugen Richter's Vortrag vom 23. Oktober 1874: „Die deutsche Fortschrittspartei und die nationalliberale Partei". (Berlin 1874 bei Troitzsch & »stertag.) Parisius.

11

162

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

Bekehrte warteten durch verlogene Flugblätter und Broschüren der Feudal­ partei dienstwillig auf;*) allein es ward den liberalen Parteien leicht, in Gegenflugblättern die Unwahrheit der Beschuldigungen nachzuweisen.

Ein frischer liberaler Wind ging in den protestantischen Kreisen der alten Provinzen durch die Wahlbewegung. Zum ersten Male seit 1861 verhielt sich die Staats-Regierung als solche passiv und mahnte ihre Beamte von Wahlbeeinflussungen ab; die beiden liberalen Parteien warfen eine ziemliche Menge Flugblätter über das Land, welche gegen die Konser­ vativen gerichtet waren und in denen entweder überhaupt nur von Liberalen geredet oder wenigstens der Unterschied zwischen Nationalliberal und Fort­ schrittspartei nicht betont wurde, so daß sie zu Gunsten von liberalen Ab­ geordneten beider Richtungen benutzt werden konnten.**)

Schon die Wahlmännerwahlen am 28. Oktober ergaben eine Stärkung der Ultramontanen in den katholischen, der Liberalen in den evangelischen Kreisen und nach der Abgeordnetenwahl (4. November) beeilte sich die „Provinzialkorrespondenz" darzulegen, daß die Niederlage der Konservativen ganz und gar nicht der Absicht der Regierung entsprach. „Ein überaus bedauerliches Ergebniß der Wahlen", sagte sie schon am 5. November „ist die erhebliche Schwächung der konservativen Partei im Landtage und zwar in allen ihren Theilen." Und nun berechnete sie, noch schönfärberisch genug, daß die Altkonservativen kaum 10 Mitglieder zählen und die Neu­ konservativen um die Hälfte, die Freikonservativen um ein Viertel ver­ mindert wurden, und tröstete sich, daß die Fortschrittspartei über ihre bis­ herige Zahl von 50 wenig hinauskommen werde. *) M. Ant. Niendorf: „Die gesetzgeberische Thätigkeit, die Abstimmungen und Beschlüsse des Herrenhauses, Abgeordnetenhauses und Reichstages, geprüft und klar­ gelegt vom Standpunkte des Grundbesitzes, des Handwerks und des redlichen Er­ werbes (Abdruck aus der deutschen Landeszeitung)." Der Verfasser verschleierte seinen Uehertritt zu den Konservativen damals noch in etwas. Nachdem er in seiner Schrift die liberalen Parteien in ihrer parlamentarischen Thätigkeit als dem Landbau ab­ geneigt und durch die Börsen, die Eisenbahnen und die Großindustrie korrumpirt geschildert hatte, kam er schließlich zu dem Resultat, man solle jeden alten Abgeord­ neten auf Grund seiner Abstimmungen über die landwirtschaftlichen Fragen prüfen und unbekümmert um die alten Parteistichwörter nur denjenigen Kandidaten wählen, von dem man, gleichviel ob er ein Liberaler oder ob er „ein früherer Konservativer ist oder gewesen ist," die feste Ueberzeugung gewinnt, daß er als sogenannter Agrar­ mann ehrlicher das Wohl des Landes wolle, als es die Majoritäten der letzten drei Jahre gezeigt haben. Die ganze Agitation war erst in zweiter Linie auf die alten Provinzen Preußens gemünzt in erster aber auf die neuen. Dies war auch in jener Schrift ausdrücklich angedeutet: „Hierneben aber ist es auch sicher, daß die Herrschaft der jetzigen Majorität schon gebrochen sein wird, wenn nur in einigen dreißig Wahl­ kreisen die Agrarftagen diesmal in den Vordergrund treten und aus diesen demgemäß Abgeordnete, sei auch deren Parteischattirung wie sie wolle, hervorgehn, — was schon in Hannover, Hessen und Schleswig-Holstein, wo bisher das platte Land sich bei den Wahlen wenig betheiligte und den sonstigen Führern das Wahlfeld über­ ließ — erreicht werden kann, — vorausgesetzt daß in den alten Provinzen wie bis­ her gewählt wird, was kaum zweifelhaft ist." **) Eine besonders starke Verbreitung erfuhren zwei Flugblätter von Lasker — das eine gegen die Wahl von Landräthen gerichtet, das andere mit dem Stichwort „Laßt Euch nicht täuschen." Ferner ein Flugblatt des Herausgebers: „Wen wählen wir nicht? — wen wählen wir?"

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

163

Zn Wahrheit war das Wahlergebniß, wenn man die Wilden bei den Mittelparteien unterbringt, folgendes: Altkon- Neukon- Freikon- Altlibe- Zentrum Polen Na­ serva» servaserund rale. und tional, tive. Welfen. 2)änen. liberal. tive. vative.

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Ostpreußen Westpreußen Posen Pommern Schlesien Brandenburg Sachsen Westfalen. Rheinland mit Hohenzollern Die alten Provinzen

— — 1 2 — 1 —

— 3 2 7 7 5 1

— — 1 6 9 7 5 2

— — — 1 1 — 1

4 — — — 17 — 2 15

— 3 15 — — — — —

4 12 10 9 27 22 26 4

24 4 — 1 4 10 3 10

32 22 29 26 65 45 38 31

— 4

— 25

5 35

1 4

44 82

— 18

11 125

3 59

64 352

_ — 8 5 72

36 14 12 18 432

_ — — — 4

1 2 — 2 — — 1 — 28 . 38 74

184

100

68

10. Hannover 11. Reg.-Bez. Kassel 12. do. Wiesbaden 13. Schlesrv.-Holstein Preußen.............

Fort- Summe schritt.

_ — — — 4

— — — 2 20

3 2 1 — 88

108

30 10 3 10 178

250

Vergleicht man diese Tabelle mit der S. 139, so zeigt sich, daß die Verschiebung der Parteien fast allein den alten Provinzen zur Last fällt. Die Konservativen verloren in Ostpreußen alle 12, in Westfalen alle 5 und in Rheinland alle 2 Plätze, in Pommern 14 von 21, in Branden­ burg 21 von 27, in Sachsen 10 von 11, in Schlesien 19 von 26, wo­ hingegen sie in den Provinzen Posen und Westpreußen, wo der Natio­ nalitätenkampf vorzugsweise maßgebend ist, sich ziemlich unversehrt erhielten; in Ostpreußen verloren sie die Ätze an die Fortschrittspartei, in Branden­

burg und Sachsen an Nationalliberale, in Pommern an Freikonservative und Nationalliberäle, in Schlesien und am Rhein an Klerikale und Na­ tionalliberale, in Westfalen an Fortschrittspartei und Nationalliberale. Sehr bezeichnend war es, daß die Altkonservativen in ihrer eigentlichen Veste, in Hinterpommern, fast alle Sitze verloren, nicht ohne Beeinflußung der Wähler durch die Regierungspräsidenten, beziehungsweise durch die nächste Umgebung des in Mitten Hinterpommerns residirenden Fürsten Bismarck. Die Freikonservativen hatten in den katholischen Wahlkreisen von Rheinland und Schlesien große Verluste an die Klerikalen gehabt; sie würden noch stärker gelitten haben, wenn sie nicht in protestantischen Kreisen Schlesiens und Sachsens als „liberale" Kandidaten aufgestellt und gewählt wären. Zn diesen beiden Provinzen waren Wahlkompromiffe geschlossen. Das in Schlesien vollzogene Kompromiß zwischen allen „Reichstreuen" brachte den Nationalliberalen, den Frei- und Neukonservativen eine Reihe von Plätzen, in protestantischen Kreisen ein, die Fortschrittspartei erhielt nur einen Platz, den ihr die Nationalliberalen von den 3 Breslauer Plätzen wieder einräumten. Das in der Provinz Sachsen nur zwischen Nationalliberal und Fortschritt geschlossene Kompromiß brachte den Nationalliberalen 11*

164

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

aty, den Freikonservativen zwei neue Plätze; die Fortschrittspartei gewann nichts. Sie wurde aus Zeitz-Naumburg-Weißenfels freundschaftlich heraus­ gedrängt und von der nationalliberalen Magdeburgischen Zeitung heftig angefeindet, als sie von den zu erobernden zwei Plätzen in SalzwedelGardelegen einen für sich in Anspruch nahm. Zm Ganzen genommen war das Verhältniß beider liberalen Parteien zu einander bei den Wahlen ein freundliches. Durch Uebereinkunft erhielt die Fortschrittspartei außer in Breslau noch in Solingen-Lennep, in Rosenberg-Graudenz und in Hagen je einen Platz abgetreten, wogegen sie auf Eroberung nationalliberaler Plätze nirgends ausging. Ein Wahlkampf zwischen der Fortschrittspartei einerseits und den verbündeten National­ liberalen und Konservativen andererseits, fand in mehreren schleswig-holsteinschen Kreisen statt, wo die angegriffene Fortschrittspartei zwei Plätze an Nationalliberale verlor, ferner in Kirchhain-Frankenberg und Frankfurt a. Main, wo ebenfalls — am letzteren Orte durch den Abgeordneten Lasker, der dadurch in Magdeburg für Sybel einen Platz freimachte, — je ein Platz der Fortschrittspartei durch die Nationalliberalen weggekapert wurde. Zn Berlin schlug die Fortschrittspartei den Angriff siegreich zurück.*) *) In Berlin wurden gewählt im Wahlbezirk I: vr. Löwe mit 692 von 697, Klotz mit 680 von 682, Ludolf Parisius mit 489 von 699 Stimmen (Minister Falk 208). Wahlbez. II: Runge 744 von 761, Stadtsyndikus Zelle 735 von 748 Stimmen. Wahlbez. III: Virchow 691 von 709, Geh. Rath a. D. Kerst 585 von 706 Stimmen (vr. Mätzner, ebenfalls Fortschr. 112). Wahlbez. IV: vr. Eberty mit 644 von 655 und Duncker mit 461 von 652 Stimmen (Beutner, der sich auch als Fortschrittsmann gerirte, 191 Stimmen). — Da Löwe, auch in Bochum-Dort­ mund gewählt, dort annahm, ward im I. Wahlbezirk der Stadtschulrath Dr. Hoff­ mann mit 448 von 670 Stimmen (gegen Zimmermann, Fortschr. mit 221) gewählt. Gegen Kerst und Duncker, die gegen einzelne der Kirchengesetze gestimmt hatten, wurde aus diesem Grunde von einem Theile der eigenen Partei aufgetreten. Ueber die sonderbare Agitation, welche die Nationalzeitung unter dem aus der Lust ge­ griffenen Vorwande, ich hätte ebenfalls gegen die Kirchengesetze gestimmt, gegen mich betrieb, sagte Eug. Richter in seinem bereits erwähnten Vortrage vom 23. Oktober 1874: „Einigen Heißspornen vom rechten Flügel der Nationalliberalen in Berlin gefiel diese Einigung nicht (die Einigung zwischen Nationalliberalen und Fortschritts­ partei). Die hiesige National-Zeitung entschlug fich damals der ihr sonst eigenthüm­ lichen gravitätischen Langweiligkeit und spie Haß und Verachtung gegen die Fort­ schrittspartei. Za, sie scheute sich selbst nicht, mit einer Verlogenheit, wie es sonst nicht 'mal die offiziöse Presse für erlaubt hält, grade denjenigen Kandidaten unserer Partei in Berlin zum Ziel ihrer Angriffe zu machen, welcher in jener Zeit sür die Wahlverbündung in der Provinz Brandenburg mit den Nationalliberalen persönlich besonders thätig war. — Zch muß allerdings anerkennen, daß diese Angriffe von Seiten der parlamentarischen Führer der nationalliberalen Partei weder Unterstützung noch Billigung fanden. Gleichwohl übertrug sich dieser Streit auch in den Wahl­ mannskörper dieses Wahlkreises. Man trug erst Lasker eine Gegenkandidatur an, und als dieser ablehnte, scheute man sich selbst nicht, den Minister Falk als Kandi­ daten aufzustellen. Man sagte, Berlin solle beweisen, wie es gegen die Ultramontanen gesinnt sei. Zn Wirklichkeit aber hätte die Wahl Falks nur bewiesen, daß selbst eine so aufgeklärte Bevölkerung wie diejenige dieses Wahlkreises in Falks Persönlichkeit alle ihre Wünsche erfüllt sieht, soviel Falk auch an Klarheit und Entschiedenheit, namentlich der protestantischen Hierarchie gegenüber zu wünschen übrig läßt." — Der­ jenige Redakteur der National-Zeitung, welcher die Wahlartikel verfaßt hatte und sie als Wahlmann zu vertheidigen suchte, vr. Boretius jun., früher Professor in Zürich, wurde gleich nach der Wahl auf Verlangen der nationalliberalen Parteiführer aus der Redaktion entlassen, um bald darauf ordentlicher Professor in Halle a. S,

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

165

Die Landtagssession begann für die liberalen Parteien ziemlich hoff­ nungsreich. Die Thronrede verkündigte, daß die Regierung entschlossen, die in der Gesetzgebung betretenen Bahnen ruhig und fest weiter zu ver­ folgen. Ueber das Bureau des Abgeordnetenhauses fand eine Verständi­ gung unter den liberalen Parteien und den Freikonservativen ohne Schwie­ rigkeit statt. Präsident wurde von Bennigsen (263 von 348 Stimmen gegen 82 für Reichensperger), erster Vizepräsident Löwe (242 von 344 gegen 79 für von Mallinckrodt und 23 für von Köller), zweiter Vize­ präsident Dr. Friedenthal (233 von 337 Stimmen gegen 77 für Graf Praschma und 26 für von Köller). Das Zentrum, welches vom Rhein her manche in rein politischen Fragen demokratische Abgeordnete bekommen hatte, versuchte die liberalen Parteien in liberalen Forderungen zu über­ bieten. Es brachte Gesetzentwürfe wegen Aufhebung der Kalender- und Stempelsteuer, sowie wegen Einführung des allgemeinen direkten Wahlrechts mit geheimer Abstimmung für die Abgeordnetenhauswahlen ein. Der erstere Entwurf wurde mit allen gegen 6 Stimmen, darunter die der Mi­ nister Graf Eulenburg und Falk, angenommen, der zweite, nachdem der Antrag der Fortschrittspartei auf Verweisung in eine Kommission abgelehnt war, durch Annahme eines nationalliberalen Antrags auf sechsmonatliche Vertagung der Berathung beseitigt. Ein fernerer Antrag des Zentrums (Schröder-Lippstadt) auf Befürwortung der Diätengewährung an die Reichs­ tagsabgeordneten, wurde gegen die Stimmen des Zentrums, der Polen und der Fortschrittspartei durch Annahme einer von Lasker eingebrachten, durch die Erwägung, daß der Gegenstand Sache der Reichsgesetzgebung sei, begründeten Tagesordnung gänzlich verworfen. Die Thatsache, daß das neue Abgeordnetenhaus wieder eine seit sieben Jahren entbehrte liberale Mehrheit hatte, zeigte sich bald von geringer praktischer Bedeutung. Schon bei dem Gesetz über die Zivilehe stellte sich heraus, daß die nationalliberale Partei auf das konservative Ministerium .gerade, so. viel Rücksicht nahm,, als es nur. nehmen .konnte, wenn es aus ihren eigenen Reihen zusammengesetzt war. Der von der Regierung vor­ gelegte Gesetzentwurf war eine traurige Halbheit. Neben den bürgerlichen Zivilstandsbeamten sollten auch Geistliche fungiren können und die Bürger die Wahl haben, an wen sie sich wenden wollten; ja es sollte sogar ge­ stattet werden, Geistliche zu ordentlichen Standesbeamten zu ernennen. Die Fortschrittspartei brachte ein Amendement ein, welches die Geistlichen grund­ sätzlich für unfähig zur Führung von Standesregistern erklärte. Die Na­ tionalliberalen gaben dem Gedanken im Allgemeinen nicht Unrecht, sie ließen sich aber durch die Behauptung des Ministers, daß bei Ausschließung der Geistlichen das Gesetz nicht durchführbar sein werde, ohne weiteres zur zu werden. Er hatte in Gemeinschaft mit dem früheren Leiter der Berliner Konser­ vativen, Wahlmann Premierlieutenant a. D. von Erichsen (Bureauvorsteher bei der Schuster-Wagener'schen Pommerschen Zentralbahn) bei Falk antichambrirt, um ihn zur Annahme der Kandidatur zu bewegen. Falk soll durch die Niederlage sehr betroffen gewesen sein. Er war aber als „liberaler Kandidat" demonstrattonsweise in 5 pro­ testantischen Wahlkreisen, Landsberg-Soldin, Stendal-Osterburg, Züterbogk-Luckenwalde, Hirschberg-Schönau, Essen-Duisburg gewählt und m vier polnischen Wahlkreisen durchgefallen. Herr von Erichsen wurde vom Berliner Magistrat als Standesbeamter angestellt. —

166

Kulturkampf und Mlitärgesetz — von 1870 bis 1874.

Verwerfung des Amendements bestimmen. Der Abgeordnete Richter (Hagen) improvisirte hierauf ein Unteramendement, welches die Geistlichen wenigstens vom 1. Sammt 1877 ausschloß; von diesem Zeitpunkte ab erschien die Ausführbarkeit des Gesetzes weniger zweifelhaft, insofern man — freilich sehr irrthümlich — erwartete, daß um diese Zeit die Kommunal­ reform im ganzen Lande durchgeführt sein werde. Dies Amendement ge­ langte am 18. November 1873 durch Unterstützung des linken-Flügels der Nationalliberalen zur Annahme. Als darüber aber am folgenden Tage geschäftsordnungsmäßig nochmals abgestimmt werden mußte, hatte inzwischen das Ministerium privatim den Nationalliberalen energische Vor­ stellungen gemacht, und nunmehr wurde das Amendement verworfen, indem außer Lasker fast kein Nationalliberaler dafür stimmte. Später hat das Herrenhaus aus andern Gründen den fortschrittlichen Antrag wieder aus­ genommen und das Ministerium nahm denselben von den Konservativen des Herrenhauses williger an, als von den Liberalen des Abgeordneten­ hauses. So ist die Ausschließung der Geistlichen von dem Standesamts in das Preußische Gesetz und später auch in das Deutsche Reichsgesetz ge­ langt, entsprechend dem richtigen Standpunkte, den die Fortschrittspartei von Anfang an eingenommen hatte. Eine veränderte Stellung der Nationalliberalen ergab sich auch aus dem Umstande, daß sie einstimmig, entgegen den Anträgen der Fortschritts­ partei und entgegen früheren Reden hervorragender Parteimitglieder, sowohl den Dispositionsfonds für allgemeine politische Zwecke (20. Januar 1874), als den Fonds für geheime Ausgaben im Snteresse der Polizei bewilligten. Der am 10. Sammt 1874 stattfindenden Reichstagswahl ging liberaler Seits eine ziemlich lebhafte Agitation votaus. Die deutsche Fortschrittspattei verstärkte den aus den Abgeotdneten Dr. Löwe, Duncket, Patisius, Richtet und Runge bestehenden geschäftsführenden Ausschuß dutch den Ab­ geotdneten Hoppe, bet die Leitung des Buteaus übernahm, und die Abgeotdneten Bender füt Preußen, Klöppel für Rheinland, Petri für Nassau und Seelig für Schleswig-Holstein. Die Flugblätter, welche ver­ breitet wurden, waren gegen Sozialdemokraten, Ultramontane und Konser­ vative gerichtet und betonten einen Unterschied innerhalb der liberalen Parteien nicht. Sie paßten mehr für vorwiegend protestantische Kreise, und wurden auch für nationalliberale Kandidaten verbreitet oder von der kleineren Presse nachgedruckt. Sie nahmen die Preußischen Maigesetze in Schutz, und verlangten, daß das deutsche Reich zur erfolgreichen Durch­ führung des Kampfes gegen jedes der deutschen Kuliurentwickelung hinder­ liche Pfaffenthum eintrete. „Der Reichstag muß dahin wirken, daß im ganzen deutschen Reiche die obli­ gatorische Zivilehe und die bürgerliche Standesführung eingeführt, die Schule aus den Banden der Kirche losgelöst und allen Kirchengemeinden unter Be­ seitigung des Patronats die freie Wahl der Geistlichen und eine freie Ver­ fassung garantirt werde."

Sn der Militärfrage wurde bessere Durchführung der allgemeinen Wehr­ pflicht bei abgekürzter Präsenzzeit und Heranziehung aller Waffenfähigen zur militärischen Ausbildung verlangt, eine bessere Löhnung der Gemeinen,

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

167

Unteroffiziere und Feldwebel in Aussicht gestellt und im Allgemeinen den Reichstagsabgeordneten die Aufgabe gestellt, „die Erleichterung des einzelnen Militärpflichtigen sowohl, als der steuerzahlenden Gesammtheit durchzusetzen, aber nur, soweit es ohne Schwächung der nationalen Widerstandsfähigkeit möglich ist." Ferner wurde gefordert: Herstellung des freien Versammlungs- und Vereinsrechts und der vollen Preßfreiheit im ganzen deutschen Reiche, stete Ausdehnung der Reichsgesetzgebung, verantwortliche Reichs­ minister, Diäten und Reisekosten an die Reichstagsabgeordneten, Fortfall der Salzsteuer und der im Taris noch vorhandenen Zölle auf nothwendige Lebensmittel, Ersatz der Matrikularbeiträge durch eine direkte Reichssteuer, zu welcher schon bestehende Steuern der Einzelstaaten zu benutzen sind. Wahlflugblätter, auch wenn sie von dem Zentralkomito einer Partei ausgehen, können selbstverständlich kein Programm ersetzen, aber da gegen den eben angeführten Inhalt der Flugblätter aus der Mitte der Fort­ schrittspartei Bedenken nicht erhoben wurden, so läßt sich annehmen, daß dazumal über diese Punkte in der deutschen Fortschrittspartei Uebereinstim­ mung herrschte.

Eine Zeitlang schien es, als ob die Wahlbewegung für die Fortschritts­ partei durch einen Zwiespalt mit den Gewerkvereinen gestört werden sollte. Die Gewerkvereine waren 1868 entstanden, im Gegensatz zu den Sozial­ demokraten. Der von Lassalle gestiftete, am 23. Mai 1863 entstandene sozialdemokratische Allgemeine deutsche Arbeiterverein wurde, nachdem sein erster Präsident Lassalle im Duell gefallen war (31. August 1864) von seinen Nachfolgern und Schülern die folgenden Jahre hindurch dazu be­ nutzt, in Verbindung mit der Preußischen Regierung, oder wie sich Lieb­ knecht ausdrückte „in Anlehnung an die Zunkerpartei" die Fortschritts­ partei zu bekämpfen. Nach 1866 trat der Verein ernsthafter in die Opposition,*) indem die Regierung die Beziehungen zu ihm abbrach. . Im. Herbst 186.8 beriefen die. sozialdemokratischen Abgeordneten Dr. I. B. von Schweitzer und Fritzsche einen allgemeinen Arbeiterkongreß „zur Besprechung und Einrichtung alles befielt, was mit den Arbeitsein­ stellungen zusammenhängt" nach Berlin. Der Verein der Maschinenbauer Berlins berief eine allgemeine Versammlung des Gewerks; diese beschloß auf einen Vortrag des dazu eingeladene- Abgeordneten Schulze-Delitzsch *) Das zu Anfang 1867 vor den Wahlen zum konstituirenden Reichstag ange­ nommene Programm des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins lautete: „1. Gänzliche Beseitigung jeder Föderation, jedes Staatenbundes, unter welcher Form es auch sei. Vereinigung aller deutschen Stämme zu einer innerlich und organisch durchaus verschmolzenen Staatseinheit, durch welche allein das deutsche Volk einer glorreichen nationalen Zukunft fähig werden kann: durch Einheit zur Freiheit! 2. Einführung des allgemeinen gleichen und direkten Wahlrechtes mit ge­ heimer Abstimmung im ganzen deutschen Vaterland. Allgemeine Volksbewaffnung. 3. Anerkennung, daß dem jetzt zusammenberufenen deutschen Volksparlament das Recht der beschließenden und nicht blos der berathenden Stimme in allen Angelegenheiten zustehe. 4. Lösung der sozialen Frage durch stete Arbeiter-Assoziationen mit Staats­ hülfe nach den Prinzipien Lafsalle's."

168

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

den Kongreß zu beschicken und wählte unter ihren Vertretern auch- den Dr. Max Hirsch, der kurz zuvor aus England in „sozialen Briefen" in der Volkszeitung die Englischen Gewerkvereine geschildert hatte. Der Ende September zusammentretende Kongreß begann auf Schweitzers Kommando damit, daß er die Minderheit, nämlich 12 Vertreter der Berliner Maschinen­ bauer, einen Danziger Maschinenbauer und zwei Berliner Maler, einfach hinauswarf. Eine große Arbeiterversammlung, die unter Franz Duncker's Vorsitz am 28. September tagte, beschloß nunmehr Musterstatuten für Ge­ werkvereine durch eine aus Delegirten und Vertrauensmänner aller Berliner Gewerke zusammengesetzte Kommission ausarbeiten zu lassen, und nahm Grundzüge zur Konstituirung der Gewerkvereine nach den Vorschlägen jener Minderheit an. Die von der Kommission ausgearbeiteten Musterstatuten führten im Winter 1868 bis 1869 bereits zur Entstehung deutscher Gewerkvereine, welche Schutz und Förderung der Rechte und Interessen der Mitglieder auf gesetzlichem Wege bezwecken. Zu Pfingsten 1869 vereinigten sich die verschiedenen Gewerkvereine zu einem Verbände der deutschen Gewerkvereine; an der Spitze desselben befindet sich ein Zentralrath, bestehend aus ge­ wählten Vertretern aller Verbandsvereine, der seinen Sitz in Berlin hat. „Seine Beamte sind, außer einem Vorsitzenden und Schriftführer und deren Stellvertreter: der Verbands-Kontroleur, der Verbands-Kassirer und der Verbands-Anwalt."*) Dies die Entstehung der Gewerkvereine, um die sich außer ihrem An­ wälte Dr. Max Hirsch der fortschrittliche Abgeordnete Franz Duncker, der seiner Zeit Vorsitzender der Kommission zur Vorberathung der Muster­ statuten war, große Verdienste erworben hat. So sehr sich die deutsche Fortschrittspartei als solche auch für diese Vereine interessirt hat, und interessiren mußte, da die Berliner Arbeiter, von denen sie zunächst aus­ gingen, politisch ihr angehörten, so ist es doch durchaus unrichtig und ver­ kehrt, wenn nationalliberale und konservative Schriftsteller, vor allem Lud­ wig Bamberger in seinem Buche über die Arbeiterfrage (Stuttgart 1873), es so darstellen, als ob sie durch die Fortschrittspartei als solche, aus „politischem Parteiinteresse" ins Leben gerufen seien und erhalten würden. Zn letzterer Beziehung führt man den am 1. Dezember 1869 begonnenen Strike der Waldenburger Bergarbeiter an, die ihre Arbeit niederlegten, weil ihnen der Austritt aus dem kurz zuvor gestifteten Gewerkvereine von ihren Arbeitgebern als Bedingung gemacht wurde, und für die, vor­ zugsweise aus fortschrittlichen Kreisen, zufolge eines von vielen fortschritt­ lichen Abgeordneten mitunterzeichneten Aufrufs, sehr bedeutende Summen gesammelt waren.**) *) Hugo Berlin 1875.

Polke:

Die

deutschen

Gewerkvereine

und

die

Sozialdemokratie.

**) Wie leichtfertig Herr Ludwig Bamberger, der sich in seinem oben zitirten Buche als ein ebenso eifriger Gegner der Fortschrittspartei wie der Gewerkvereine gerirt, seine Behauptungen aufftellt, beweist seine Darstellung dieser Unterstützung (Seite 110 u. 111). Wie jener Aufruf zu Stande gekommen ist, wie namentlich auch die in Berlin wohnhaften Führer der Nationalliberalen zur Betheiligung an dem­ selben aufgefordert sind, könnte er sehr leicht von diesen erfahren. Seine unwahre

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

169

Zum Theil durch den schlimmen Ausgang des Waldenburger Strikes, zum Theil auch in Folge mancher in einer jungen Bewegung kaum zu vermeidenden Fehler der Betheiligten, vornehmlich aber durch den Krieg gerieth die Gewerkvereinsbewegung ins Stocken und kam erst im Jahre 1872 wieder gut in Fluß. Die liberalen Parteien als solche, die Fortschritts­ partei so gut wie die Nationalliberale, zeigten in einer Zeitperiode, wo die in den Bereich des Schwindels eingreifende Spekulation in fast allen Jndustrieen Ueberproduktion und dadurch zunächst den Uebermuth der Arbeiter, denen zeitweilig jede Forderung bewilligt wurde, zur nothwendigen Folge hatte, den Gewerkvereinen nicht dasjenige Interesse, welches deren Träger erwartet hatten; von den nationalliberalen Abgeordneten waren ihnen sehr Viele geradezu feindlich, — unter der Fortschrittspartei, die im Großen und Ganzen nach dem Vorgänge von Schulze-Delitzsch und Hoverbeck, den demokratischen Ueberlieferungen getreu, den möglichsten Ausschluß des Staates von jeder Einmischung in die wirtschaftliche Bewegung des Volkes für nothwendig erachtet, wirkte die eifrige Betheiligung der Gewerkvereine an dem Kongreß der nationalliberalen und konservativen sogenannten ka­ thedersozialistischen Professoren etwas abkühlend. Der Zweifel, ob die an sich vortreffliche Sache nicht in falsche Bahnen geführt werde, wurde bei den eifrigsten Freunden der Gewerkvereine innerhalb der Fortschrittspartei noch erheblich verstärkt, als der 2. Verbandstag der Gewerkvereine am 17. April 1873 nach starken Angriffen verschiedener. Redner auf die Fort­ schrittspartei einstimmig eine Resolution beschloß, nach welcher a) es eine dringende Pflicht aller Verbandsgenossen sei, an allen Orten, bei allen zukünftigen Wahlen, mögen diese Reichstags-, Landtags- oder Kommunalwahlen sein . . . , die Freunde der Organisation aus eigenen und anderen Gesellschaftskreisen anzugehen, daß sie Mitglieder der Gewerkvereine und Mitarbeiter an der Organisation hauptsächlich zu Vertretern wählten, da erst dann Gesetze geschaffen werden würden, durch welche nach allen Richtungen Interessen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber gewahrt werden' köüntev. b) Die Aufstellung eigener Kandidaten sei nothwendig, um die Stärke zu prüfen, nach welcher in späterer Zeit die Agitation zu betreiben sei. Darstellung schließt mit dem Satze: „Von den etlichen dreißig tausend Thalern, welche zur Unterstützung und Aufrechthaltung des Strikes erhoben wurden, haben die Mit­ glieder jener politischen Partei aktenmäßig 26,000 Thaler beigesteuert (Arbeiterfreund 9. Jahrgang 2. Heft)." Wer nun, um das Aktenmäßige dieser An­ gabe zu prüfen, der angegebenen Quelle nachgeht, findet einen durchaus unabhängigen, objektiven Aufsatz des mit den Gewerkvereinen in keiner Verbindung stehenden Sta­ tistikers Karl Brämer über Organisation und Ausdehnung der deutschen Gewerk­ vereine und darin (Seite 122) die Mittheilung, daß der zu Anfang Juli 1869 ge­ bildete Bezirksverein Waldenburg des Gewerkvereins der deutschen Bergarbeiter zum 1. Dezember 1869 die größte Arbeitseinstellung ungeordnet habe, die bisher in Deutsch­ land vorgekommen sei. „Obgleich nun," wird wörtlich fortgefahren, „sogar Draußen­ stehende, namentlich Mitglieder der Fortschrittspartei, ungefähr 26,000 Thaler zum Unterhalt der Strikenden beisteuerten, waren diese am 24. Januar 1870 genöthigt, durch Revers dem Gewerkverein zu entsagen." . . . Heute zeigt sich bereits, wie ver­ kehrt es war, daß die zum großen Theil „liberalen" Grubenbesitzer mit Gewalt die gewerkvereinliche Bewegung unterdrückten. Die Bergleute sind Sozialdemokraten geworden. Fürst Pleß wurde Reichstagsabgeordneter für Waldenburg diesmal nur, weil sich Klerikale und Sozialdemokraten nicht einigen konnten, dagegen vertritt den Nachbarkreis Reichenbach-Neurode der sozialistische Zimmermann August Kapell.

170

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

c) Bei der Aussicht auf ungünstigen Erfolg sei der Kompromiß mit arbeiter­ feindlichen Parteien entschieden schädlich und unzulässig.

Dieser Beschluß war kaum anders als die Etablirung einer besonderen Arbeiterpartei aufzufassen. Daß er nicht so gemeint sei, ging aus späteren Veröffentlichungen hervor. Aus den Berliner Ortsvereinen entstand am 18. September ein Vertrauensmänner-Wahlkomite, welches den Namen „Sozialpolitisches Wahlkomits der Fortschrittspartei" annahm und mit einer Erklärung an die Oeffentlichkeit trat, worin es zunächst verlangte „ein Gesetz, welches den Genossenschaften und organisatorischen Vereinen unter der Bedingung der Annahme von Normativbestimmungen die Rechte der juristischen Person, die privatrechtliche Rechtsfähigkeit gewährt."

Sodann heißt es wörtlich weiter: „Auf dem dadurch geschaffenen Boden der Selbstbestimmung und Ordnung können und werden jene Gestaltungen gedeihen, denen man durch bureaukratische und polizeilich-kriminalistische Einwirkung vergebens zu Dasein und Lebensfähigkeit zu verhelfen gedenkt: ein freies, Bestand verbürgendes Kassenwesen, behufs organisirter Selbst­ hilfe zu materieller Sicherstellung des Lebens; das segensreiche Institut t>er Schieds- und Einigungsämter zum Ausgleich der nur scheinbar auseinander strebenden Interessen der Unternehmer und Arbeiter; die materielle Unterlage einer solidarischen Haftpflicht der Arbeiter für die Achtung und Innehaltung geschloffener Arbeitskontrakte. So fordern wir denn zur Herstellung des gleichen Rechts für Alle im Staate, und zwar dies auch in den deutschen Einzelstaaten auf der Grundlage des allge­ meinen gleichen Wahlrechtes von der neu aufzunehmenden Gesetzgebung: die Ausstattung der wirthschaftlichen und gewerblichen Vereine mit der zivil­ gerichtlichen Rechtsfähigkeit, unter Stellung liberaler Normativ-Bestimmungen; die damit verbundene gesetzliche Anerkennung des freien Kostenwesens, der steten auf der Organisation dieser Vereine beruhenden Schieds- und Einigungs­ ämter, entgegen den behördlichen Zwangskaffen und den bureaukratisirten Schiedsgerichten; die Abwehr jeder Beeinträchtigung des Koalitionsrechtes; den kulturstaatlich pflichtgemäßen Schutz für Leben und Gesundheit aller Staatsbürger, insbesondere der Kinder, der jugendlichen und weiblichen Ar­ beiter durch eine energische Fabrik- und Handwerks-Gesetzgebung; die Beseitigung der Ausbeutung der Gesellschaft vermittelst der Privilegien einzelner Gesellschaftsklassen, also des Papiergeld-Monopols der Privatbanken, des Bau- und Verwaltungs-Monopols der Privat-Eisenbahngesellschaften; die Beseitigung der Zuchthausarbeit, insoweit sie der freien Arbeit schädi­ gende Konkurrenz macht, und die Regelung des Lieferungswesens im Interesse der freien Arbeit und der Gesammtindustrie; die Ersetzung der unter allen Umständen ungerechten Verbrauchssteuern durch die progressive Einkommensteuer; und endlich, was zu dem Allen die Unter­ lage bildet: die Ermöglichung einer humanen und den Staatszwecken entsprechenden Jugendausbildung für Alle durch die von jedem kirchlichen Einfluß zu befreiende, unentgeltliche, in ihren Zielen wesentlich zu hebende Volksschule, sowie durch die mit derselben organisch zu verbindende Fortbildungsschule."

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

171

Der geschäftsführende Ausschuß des fortschrittlichen Zentralkomite's sah zwar den Nutzen dieses Vorgehens weder für die Partei, noch für die Gewerkvereine ein, konnte ferner das Zusatzprogramm für die Partei als solche nicht akzeptiren; auch war er nicht im Stande, sämmtliche auf die Kandidatenliste des Komitees gesetzte Namen seiner eigenen Kandidatenliste einzuverleiben; indessen kam schließlich doch eine Vereinbarung zu Stande, nach welcher der Wahlausschuß der Fortschrittspartei in einer Reihe von Wahlkreisen mit Genehmigung der dortigen Parteigenossen die sozial­ politischen Kandidaten zugleich für die feinigen erklärte und nach Kräften unterstützte. Das schließliche Wahlergebniß war den Konservativen und Freikonser­ vativen ungünstig; es gewannen bedeutend das Zentrum, die National­ liberalen und die Sozialdemokratie, mäßigen Gewinn trug die Fortschritts­ partei davon. Die sog. liberale Reichspartei löste sich auf; von den Wiedergewählten ging ein Theil, namentlich die partikularistischen Sachsen, in die deutsche Reichspartei über, ein Theil wurde nationalliberal. (Völck) von Bayern, Zustizminister a. D. von Bernuth) und einzelne, wie der Abg. von Bonin blieben wild. Die einzelnen Parteien anlangend, so verloren die Konservativen 33 von 55 Abgeordneten, davon 9 unter 12 in Brandenburg, 7 in Ostpreußen, alle 6 in Sachsen, 4 in Schlesien, alle 2 in Westfalen. Die Partei blieb, abgesehen von einem sächsischen Hospitanten, auf die 6 östlichen von den alten preußischen Provinzen be­ schränkt. Die deutsche Reichspartei schmolz, trotz des Zuwachses aus der liberalen Reichspartei, darunter 5 sächsische Partikularisten, von 39 auf 36 zusammen, auch wenn man zu ihr außer den Hospitanten noch den wild gebliebenen alten Bonin zurechnete. Die nationalliberale Partei wuchs von 119 auf 155. Der Gewinn bestand lediglich aus preußischen Ab­ geordneten. Neue Sitze errang diese Partei in der Provinz Brandenburg 10, in den Provinzen Preußen und Sachsen je 5, in Hannover 4, in Hessen-Ngssgu .und Schleswig-Holstein je 3, .in .Schlesien. und Westfalen, je 2, zusammen 37. Die deutsche Fortschrittspartei gewann zwar in Ost­ preußen 4, in Westfalen 2, in Sachsen und Rheinland je einen Sitz, also in den alten Provinzen Preußens zusammen 8 Sitze, aber dieser Gewinn wurde durch die Verluste von einem Sitz in Nassau und zwei Sitzen in Schleswig-Holstein geschmälert, so daß jetzt 33 preußische Forischrittsmänner die früheren 28 ersetzten. Außerhalb Preußens gingen 4 Sitze in Sachsen und einer in Bayern verloren; für diesen Verlust boten 2 Sitze in den norddeutschen Kleinstaaten und einer in Württemberg nur unvollständigen Ersatz. Das Zentrum hatte 7 schlesische und 5 rhei­ nische, je einen hessischen und württembergischen und 14 bayrische Sitze erobert und damit in Preußen und Bayern fast sämmtliche Wahlkreise mit überwiegend katholischer Bevölkerung deutscher Nationalität in Besitz ge­ nommen. Die partikularistische Opposition hatte sich in Ansehung der Welfen vermindert, die schleswig-holsteinsche Volkspartei hatte ihre letzten beiden Sitze eingebüßt, dafür waren aber die 15 Wahlen in ElsaßLothringen ganz partikularistisch ausgefallen. Die Sozialdemokraten hatten Elberfeld-Barmen, welches schon von 1867 bis 1870 durch ihren damaligen Präsidenten von Schweitzer

172

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

vertreten war, ferner den achten (Altona) und neunten schleswig-holsteinschen Wahlkreis (Oldenburg-Flör) erobert und im Königreich Sachsen ihre zwei Sitze behauptet, sowie vier neue dazugewonnen, von denen letzteren freilich drei schon einmal sozialistisch gewählt halten. Außerdem hatten sie auch in anderen Wahlkreisen, z. B. im 6. Berlinischen es zu stattlichen Minoritäten gebracht. Nach den Berechnungen des statistischen Amtes waren bei den entscheidenden Wahlen 1871 120,108, dahingegen 1874 339,058 sozialistische Stimmen abgegeben. Dieser Aufschwung der Sozialdemokratie war insofern auffallend und überraschend, als die Sozialisten in sich gespalten waren und sich heftig befehdeten. Die Entwickelung der sozialistischen Partei seit 1868 war nicht geeignet gewesen, eine Einigung zu fördern. Der Arbeiter­ kongreß vom Oktober 1868 hatte unter des damaligen Reichs­ tagsabgeordneten von Schweitzers Vorsitz auch zu Gewerkschaften ge­ führt; diese waren indessen dem von Lassalle gegründeten „Deut­ schen Allgemeinen Arbeiterverein" und seinem mit diktatorischen Voll­ machten ausgestatteten Präsidenten unterworfen. Dazumal gestand neben dem Schweitzer'schen Arbeiterverein seit Jahren getrennt eine von der Gräfin Hatzfeld, der alten Freundin Lassalle's, unterstützte Vereinigung der Lassalleaner (Präsidenten zuerst Kupferschmied Försterling, dann Fritz Mende, ersterer die ganze Legislaturperiode von 1867 bis 1870, letzterer den letzten Theil derselben Reichstagsabgeordneter), welche sich rühmte, Lassalle's Organisation treu bewahrt und mit der Berliner Polizei keine Verbindung unterhalten zu haben. Neben dieser sogenannten weiblichen Linie der Lassalleaner war im Herbst 1868 eine dritte deutsche Sozialisten­ partei aufgetreten, indem der am 6. September 1868 in Nürnberg tagende Vereinstag der deutschen Arbeitervereine (Verband von Arbeiterbildungs­ vereinen) unter Bebel's Vorsitz sich für die Grundsätze der 1864 ge­ stifteten und von Marx geleiteten kommunistischen „Internationalen Ar­ beiter-Assoziation" erklärte. Liebknecht und Bebel, die Führer des Verbandes jener Arbeitervereine, erschienen auf Einladung Schweitzer's auf der Generalversammlung des Schweitzer'schen „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins" zu Barmen am 18. März 1869, um hier ihre Anklagen gegen Schweitzer zu erheben. Die Delegirtenversammlung gab ihren Präsidenten Schweitzer zuvor ein Vertrauensvotum, aber faßte gleichzeitig Beschlüsse, wodurch die diktatorische Macht des Präsidenten thatsächlich be­ seitigt wurde. Schweitzer fügte sich, — aber nur zum Schein: er ver­ einbarte im Juni mit Mende und der Gräfin Hatzfeld heimlich eine Vereinigung. Hierauf machte er einen Staatsstreich, indem er von der Vertretung der Gemeinden an das allgemeine Stimmrecht appellirte; durch Urabstimmung wurden die Beschlüsse der Generalversammlung wieder auf­ gehoben. Schweitzer, ebenfalls durch Urabstimmung nahezu einstimmig wiedergewählt, that Liebknecht und Bebel wegen ihres notorischen Verraths an der Arbeitersache in den Bann. Der Staatsstreich gelang voll­ ständig; nur wenige Mitglieder, darunter die späteren Reichstagsabgeord­ neten Leihbibliothekar Geib in Hamburg und Kaufmann Bracke zu Braunschweig, fielen von ihm ab. Jetzt beriefen die Ausgeschiedenen in Gemeinschaft mit der Nürnberger Majoritätsgruppe der Arbeiterbildungs-

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

173

vereine und mit der Genfer Sektion der Internationalen einen sozial­ demokratischen Kongreß nach Eisenach auf den 7. August 1869. Schweitzer beschickte den Kongreß und sprengte die Versammlung. Die Znternationalisten oder „Eisenacher", spottweise „die Ehrlichen" genannt, konstituirten sich in einem andern Lokale als „sozialdemokratische Arbeiterpartei" mit dem von Liebknecht redigirten „Volksstaat" als Parteiorgan*). *) Das Eisenacher Programm ist zwar durch das Gothaer vom Mai 1875 be­ seitigt, immerhin aber als geschichtliches Dokument wichtig. Es lautet: I. Die sozialdemokratische Arbeiterpartei erstrebt dieErrichtung des freien Volksstaats.

II. Zedes Mitglied der sozialdemokratischen Arbeiterpartei verpflichtet sich, mit ganzer Kraft einzutreten für folgende Grundsätze: 1) Die heutigen politischen und sozialen Zustände sind im höchsten Grade ungerecht und daher mit der größten Energie zu bekämpfen. 2) Der Kampf für die Befreiung der arbeitenden Klassen ist nicht ein Kampf für Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für gleiche Rechte und gleiche Pflichten und für die Abschaffung aller Klassenherrschaft. 3) Die ökonomische Abhängigkeit des Arbeiters von dem Kapitalisten bildet die Grundlage der Knechtschaft in jeder Form und es erstrebt deshalb die sozialdemokratische Partei unter Abschaffung der jetzigen Produk­ tionsweise (Lohnsystem) durch genossenschaftliche Arbeit den vollen Arbeitsertrag für jeden Arbeiter. 4) Die politische Freiheit ist die unentbehrlichste Vorbedingung zur ökonomischen Befreiung der arbeitenden Klassen. Die soziale Frage ist mithin untrennbar von der politischen, ihre Lösung durch diese bedingt und nur möglich im demokratischen Staat. 5) Zn Erwägung, daß die politische und ökonomische Befreiung der Arbeiter­ klasse nur möglich ist, wenn diese gemeinsam und einheitlich den Kampf führt, giebt sich die sozialdemokratische Arbeiterpartei eine einheitliche Organisation, welche es aber auch jedem Einzelnen ermöglicht, seinen Ein­ fluß für das Wohl der Gesammtheit geltend zu machen. 6) In Erwägung, daß die Befreiung der Arbeit weder eine lokale noch Nationale, sondern! eine soziale Aufgabe ist) welche alle Länder, in denen es moderne Gesellschaft giebt, umfaßt, betrachtet sich die sozialdemokratische Arbeiterpartei, soweit es die Vereinsgesetze gestatten, als Zweig der Inter­ nationalen Arbeiter-Assoziation, sich deren Bestrebungen an­ schließend.

III. Als die nächsten Forderungen in der Agitation der sozialdemokratischen Arbeiterpartei sind geltend zu machen: 1) Ertheilung des allgemeinen gleichen direkten und geheimen Wahlrechts an alle Männer vom 20. Lebensjahre an, zur Wahl für das Parlament, die Landtage der Einzelstaaten, die Provinzial- und Gemeindevertretungen, wie alle übrigen Vertretungskörper. Den gewählten Vertretern sind genügende Diäten zu gewähren. > 2) Einführung der direkten Gesetzgebung (d. h. Vorschlags- und Verwerfungs­ recht) durch das Volk. 3) Aufhebung aller Vorrechte des Standes, des Besitzes, der Geburt und Konfession. 4) Errichtung der Volkswehr an Stelle der stehenden Heere. 5) Trennung der Kirche vom Staat, und Trennung der Schule von der Kirche. 6) Obligatorischer Unterricht in Volksschulen und unentgeltlicher Unterricht in allen öffentlichen Bildungsanstalten. 7) Unabhängigkeit der Gerichte, Einführung der Geschworenen- und Fach­ gewerbegerichte, Einführung des öffentlichen und mündlichen Gerichtsver­ fahrens und unentgeltliche Rechtspflege.

174

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

Die Ausbreitung dieser neuen sozialdemokratischen Partei vermochte Schweitzer, von dem sich die weibliche Linie bald wieder lossagte, trotz aller Bemühungen nicht zu hindern; dafür gelang es ihm, durch gewalt­ same Störung der Versammlungen, auch derjenigen, zu denen seine Schaaren nach Inhalt der Einladung keinen Zutritt hatten, das Versamm­ lungsrecht in Berlin zu vernichten**). Während des Krieges und unmittelbar nach dem Kriege begannen die Regierungen die vergebliche Arbeit, die sozialistische Bewegung durch Ver­ folgungen zu unterdrücken. Vielleicht haben die polizeilichen Maßregelungen 8) Abschaffung aller Preß-, Vereins- und Koalitionsgesetze; Einführung des Normalarbeitstages; Einschränkung der Frauen- und Verbot der Kinderarbeit. 9) Abschaffung aller indirekten Steuern und Einführung einer einzigen direkten progressiven Einkommensteuer und Erbschaftssteuer. 10) Staatliche Förderung des Genossenschaftswesens und Staatskredit für freie Produktivgenossenschaften unter demokratischen Garantien. *) Franz Mehring in seinem kürzlich erschienenen Buche: „Die deutsche Sozialdemokratie, ihre Geschichte und ihre Lehre", nimmt die Sozialdemokraten — wie überall — gegen die von ihm gehaßte Fortschrittspartei in Schutz, mit der Be­ hauptung, daß die Sozialdemokraten, wenigstens in Berlin, niemals eine Versamm­ lung gesprengt haben, deren Einberufer sich an eine bestimmte Parteirichtung ge­ wendet. Daß sie in der frechsten Weise Versuche, fortschrittliche Versammlungen zu sprengen, wiederholt gemacht haben, ist leicht zu erweisen. Aber um „allgemeine Versammlungen des Volkes", die in einer Großstadt wenig Werth haben, vollends wenn „das Volk" in einen Saal berufen wird, kann es sich bei der Beschwerde, daß die Sozialdemokraten mit Hülfe der ihr Treiben duldenden und fördernden Polizei in Berlin das Versammlungsrecht vernichtet haben, ja gar nicht handeln. Die politischen Parteien Berlins, insbesondere die Fortschrittspartei, war nicht im Stande, die Wähler eines bestimmten Wahlkreises oder sonstigen größeren Theils der Stadt einzuladen, weil sofort der Saal von den aus der ganzen Stadt her zusammenberufenen, militärisch organisirten Schaaren der Sozialdemokraten, von denen die Mehrzahl gar noch nicht Wähler waren, in Beschlag genommen wurde. So war es bei der Versammlung vom 20. Januar 1870, wo Jacoby seine, wie Mehring richtig bemerkt, bereits vorher ausgearbeitete Rede unter Schweitzer's Präsidium hielt. Von den Sozialdemokraten, die den Saal vorher besetzt hatten und Schweitzer zum Vorsitz beriefen, gehörte sicherlich nicht der vierte Theil zu den Wählern dieses Wahlbezirkes. Mehring schreibt: „Runge und seine Anhänger verließen nach der Sitte der Fortschrittler sofort die Versammlung; Jacoby war ehrlich und logisch genug, die Antwort zu achten, die das souveräne Volk auf seine Anfrage gegeben hatte." Jacoby blieb, weil er seine Rede, die schon vorher an die Frankfurter Zeitung gesendet war, und dort in der Nacht gedruckt wurde, — gleichviel ob vor „seinen Wählern" oder vor Andern meinte halten zu müssen, um sich und die Redaktion der befreundeten Zeitung nicht durch die Verbreitung einer nicht gehaltenen Rede lächerlich zu machen. Es ist sehr zu bedauern, daß Herr Mehring in seiner Geschichte der Sozialdemokratie seinen glühenden Haß gegen die Fortschrittspartei nicht einigermaßen zurückzudrängen versuchte. Wenn er in An­ sehung der Sozialdemokratie, von deren Irrthümern er selbst zurückgekommen ist, sich das Zeugniß giebt, bemüht gewesen sein zu sein „mit subjektiver Wahr­ haftigkeit, mit sorgfältiger Benutzung aller zugänglichen Quellen, mit sorgsamer Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände, auch dem Gegner gerecht zu werden," so wird er im Ernst eine gleiche Versicherung in Betreff der Fort­ schrittspartei nicht abgeben. Gegen diesen Gegner gerecht zu werden, mag ihm ja schwer werden, — aber versuchen hätte er es doch sollen. Sein Buch, welches als eine schätzbare Bereicherung unserer an Werken dieser Art so armen Literatur jeder zu „ehrlichem Kampf" bereite „Gegner" anerkennen muß, würde dadurch an Werth ganz außerordentlich gewonnen haben.

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

175

gesetzlicher und ungesetzlicher Art, und die gerechten und ungerechten An­ klagen der Staatsanwälte und Urtheile der Gerichtshöfe die Sozial­ demokratie ebenso gefördert, als die Schwindelperiode mit ihrer unnatür­ lichen sprunghaften Steigerung der Arbeitslöhne, mit ihren erfolgreichen Arbeitseinstellungen und der darauf folgende Krach mit seinen schweren Folgen, zunächst für die Arbeiter der unter der Ueberspekulation leidenden Gewerbszweige, sodann für alle Kreise des Volkes. Schweitzer schied im Frühjahr 1871 aus der Sozialdemokratie aus. Ein Jahr später wurden Bebel und Liebknecht auf zwei Jahre un­ schädlich gemacht. Sie waren noch im Gefängnisse, als der 10. Januar 1874 zur Verwunderung aller Parteien, auch der Sozialdemokraten selber, eine Vermehrung der sozialdemokratischen Stimmen um fast das Dreifache nachwies. Zwischen den beiden liberalen Parteien war es nur in wenigen Wahl­ kreisen zu ernsthaftem Kampfe gekommen; abgenommen wurden in solchem Kampfe der nationalliberalen Partei die Sitze in Reuß jüng. Linie, wo Träger über Braun, und in Ansbach-Schwabach, wo Föckerer über Thomas siegte, der Fortschrittspartei hingegen der Sitz im zweiten Wahl­ bezirke von Hamburg, wo Dr. Banks gegen den nationalliberalen Zünftler Schmidt unterlag*). In mehreren konservativen Kreisen der alten Provinzen kämpften Kon­ servative gegen Freikonservative, Altkonservative gegen Neukonservative. Die Kreuzzeitung hatte es für eine schwere Pflichtverletzung jedes Konser­ vativen erklärt, wenn er „anstatt zunächst konservativ zu wählen, und sollte auf der engeren Wahl kein Konservativer stehen, sich dann der Wahl zu enthalten, — einen Nationalliberalen wählt, damit, wie die Ausflucht heißt, kein Fortschrittler, Zentrumsmann oder Pole gewählt wird." Nur in solchen Distrikten, in welchen Polen gewählt werden könnten, sollte eine *) vr. Banks wurde uh 6: Berliner Wahlkreise' bei der Nachwahl für SchülzeDelitzsch, der doppelt gewählt in Wiesbaden angenommen hatte, gewählt. Dem in seinem bayrischen Wahlkreise Weißenburg gegen einen Klerikalen durchgefallenen Bezirksgerichtsrath Herz verschaffte die Fortschrittspartei im 3. Berliner Wahl­ kreise einen Platz an Stelle von Hoverbeck, der auch in Sensburg - Ortelsburg wiedergewählt war. Das Stimmenverhältniß bei den sechs, der Fortschrittspartei treugebliebenen Berliner Wahlkreisen war folgendes: I. Hagen wiedergewählt mit 3462 von 4927 Stimmen (gegen Moltke 586, Hasenclever 391, Simson 183, Müller, klerikal 176, Dr. Joh. Jacoby 76 bei 15,701 Wählern.) II. Klotz wiedergewählt mit 4984 von 7412 Stimmen (gegen Moltke 998, Hasenclever 974, Joh. Jacoby 169, Müller 141 bei 23,280 Wählern.) III. Erste Wahl: Freiherr Hoverbeck 5064 von 7450 (gegen Hasenclever 1270, Jacoby 337, Tischlermeister Brandes, fortschrittl. Zünftler 283, Moltke 212, Müller, Her. 196 von 21,337 Wählern.) Zweite Wahl: Herz von Nürnberg 6174 von 7822 (gegen Hasenclever 1333, Jacoby 200, Eirund, Her. 79.) IV. Dr. Eberty 6121 von 10,455 (gegen Hasenclever 2993, Jacoby 867, Müller 214, Krämer, sozialdem. 116, Moltke 84 von 29,647.) V. Franz Duncker wiedergewählt mit 3259 von 4812 (gegen Hasenclever 873, Moltke 207, Jacoby 178, Müller, kler. 169 u. s. w. von 17,817 Wählern.) VI. Erster Wahl­ gang: Schulze-Delitzsch 4028 von 8135 (gegen Hasenclever 2523, Jacoby 638, Krämer 506, Müller 183, Moltke 168 von 28,250 Wählern.) Engere Wahl: Schulze mit 9318 von 15,337 gegen 6019 für Hasenclever. Nachwahl: Dr. Banks ans Hamburg 7240 von 13,591 (gegen Hasenclever 5149, Redakteur Sachse, Fort­ schritt, Kandidat der Gewerkvereine 1028, Errund, Her. 84, Krämer 78).

176

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

Konzession zu machen gestattet sein, aber nur zu Gunsten der Freikonser­ vativen. Selbstverständlich wurde diese Vorschrift der Kreuzzeitung nicht einmal in den östlichen Provinzen Preußens überall beobachtet. So z. B. erhielten sogar die nationalliberalen Abgeordneten Lasker in Königsberg, Kolbe in Greiffenhagen - Randow im Kampf gegen die Fortschrittspartei sofort sämmtliche konservative Stimmen. Zm Ganzen genommen schienen die Konservativen durch ihre Niederlage in der Landtagswahl die Noth­ wendigkeit erkannt zu haben, sich Bismarck wieder zu nähern. Herr von Brauchitsch-Katz in Elbing und der alte Herr von Denzin auf Denzin, der in dem konservativen Kreise Stolp - Lauenburg mit geringer Mehrheit gegen einen von allen Liberalen unterstützten Neukonservativen siegte, unterwarfen sich schleunig dem mächtigen Reichskanzler. der Reichstagswahl stellt sich in der folgenden

Das Gesammtergebniß Tabelle dar. Konservative. vc

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Ostpreußen Westpreußen Posen Pommern Schlesien Brandenburg Sachsen Westfalen Rheinland mit Hohenzollern Altpreußen

ReichsPartei.

3 3 1 9 2 3 —



— 21

10. Hannover 11. Reg -Bez. Kassel 12. do. Wiesbaden 13. Schlesw.-Holstein I. Preußen

28 49

— 14

1 1

36 193

5 1 1 — 56

— — — 1 15

— — 1 2 4

19 8 6 9 235

1 4 8 2 5

— 10 — 1 8

1 23

5 56

1 29

" 1 — — — 24

8

— — 2 2 33

13 7 2 4 82

"

115

— 5 1 1 4 1

29 7 7 10 9 11

— 22

— 36

— 155

1 !

17 13 15 14 35

i

26

'

20 17

61

85

— 1 — — —

58

— — — — — — —

1 1 11 5 5 1

45 II. Norddeutsche Kleinstaaten III. Sachsen IV. Hessen V. Bayern VI. Württemberg VII. Baden VIII. Elsaß-Loth­ ringen Deutschland

— 4 10 — — — —

2

4 6 3 3 8 12 12 3

44 — — — — 21

91a. putsche mnTa„ DolkSZentrum Partei und tional- rgJSVa mit »Ä Sodalde- Summe. w-r---. Ä. Welfen. ©tfdfler. moftaten.

75

6 4 — 5 1 — 49 204^"

1 — 1 32 3 2

— — — — —

— 6 — — —

36 23 9 48 17 19

— 95

15 30

10

15 397

135

Man ersieht leicht, welche Hoffnungen die Liberalen an die verminder­ ten Mehrheitsverhältnisse des Reichstages knüpfen konnten. Während in der ersten Legislaturperiode den beiden Fraktionen der Nationalliberalen und der Fortschrittspartei mit zusammen 165 Mitgliedern noch 27 Stimmen an der, 192 betragenden Mehrheit fehlten und sie diese erst knapp mit

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

177

Hülfe der 33 von der, nur zum kleinsten Theile liberalen, sog. liberalen Reichspartei erreichen konnte, hatten nunmehr die beiden liberalen Frak­ tionen mit 204 Mitgliedern ein Mehr von 5 über die absolute Mehrheit aufzuweisen. Wichtiger noch war, seitdem die Klerikalen durch den Kirchen­ streit in die entschiedene Opposition gedrängt waren, die Verschiebung der Mehrheit in allen den Fragen, wo die Fortschrittspartei die Opposition führte, und auf den Anschluß der Klerikalen, Polen und sonstigen sog. Für solche Fragen zählte in der ersten Reichsfeinde rechnen konnte. Legislaturperiode die Opposition nur 136 Stimmen, so daß von den 119 Nationalliberalen fast die Hälfte (56) der Opposition hinzutreten mußte, um für ein Nein die Mehrheit zu gewinnen. Jetzt aber war diese Opposition (Fortschr. 49 + 135 Reichsfeinde — 184) so stark geworden, daß bei vollbesetztem Hause nur 15 von 155 Nationalliberalen, also kaum Vio der Fraktion oppositionell zu stimmen brauchte, wenn es galt konser­ vative Forderungen der Regierung abzulehnen. Mit andern Worten, das Schwergewicht des Reichstags war von der nationalliberalen Fraktion in deren linken Flügel verlegt. Fand sich dieser, wie so oft zuvor, mit der deutschen Fortschrittspartei einig nicht blos in nationaler Gesinnung, son­ dern auch in treuer Festhaltung der verfassungsmäßigen Rechte des Volkes, so waren alle reaktionären Gelüste der Regierungen und des Reichskanzlers für diese Legislaturperiode vollkommen machtlos.

Der Reichstag trat erst am 5. Februar 1874 zusammen, zum ersten Male seit langer Zeit sofort in beschlußfähiger Zahl. Die Präsidenten­ wahl vollzog sich ohne große Schwierigkeiten. Gewählt wurde, da Simson sich von dem schweren Amte zurückzog, von Forckenbeck mit 263 von 265 Stimmen (29 unbeschrieben) zum Präsidenten, Fürst von HöhenloheSchillingsfürst, der frühere bayrische Ministerpräsident mit 217 von'30'5 Stimmen (Freiherr v. Aretin, klerikal 85) zum ersten Vizepräsidenten, Pro­ fessor vr. Hänel mit 205 von 291 Stimmen (August Reichensperger 81) zum zweiten Vizepräsidenten. Unter den Vorlagen, welche dem Reichstage gemacht wurden, war die des Reichsmilitärgesetzes — darüber konnte kein Zweifel sein — geradezu entscheidend für die konstitutionelle Zukunft des Deutschen Reichs. Die Thronrede sagte von diesem Entwurf: „Es ist nicht bloß eine, in der Verfassung enthaltene Verheißung und ein durch die Erweiterung des deutschen Heeres gegebenes Gebot, welchem durch die Vorlage genügt werden soll; entschiedener noch, als durch diese Anforderungen, ist die feste Regelung der deutschen Wehrkraft und Wehrfähigkeit geboten durch die erste Pflicht eines jeden staatlichen Gemeinwesens: die Un­ abhängigkeit seines Gebietes und die friedliche Entwickelung der ihm innewohnenden geistigen und wirthschaftlichen Kräfte zu schützen." Diese Pflicht erkannte die gesammte liberale Partei nicht minder als die konservative Partei an, und Niemand war berechtigt, den klerikalen Abgeordneten eine andere Auffassung zuzutrauen. Darüber konnte kein Streit entstehen. Die Nationalzeitung äußerte sich (6. Februar 1874) ParisruS.

12

178

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

zutreffend über diesen Satz der Thronrede dahin: „Die Grundzüge der Heeresorganisation sind anerkannt, diese und die Ausfüllung des verfaffungsmäßig gebotenen Rahmens durch die jährliche Budgetbewilligung bilden unser gegenwärtiges Verfassungsrecht. Man wird billigerweise von der einen Seite die verfassungsmäßigen Grundzüge, von der andern Seite das Budgetrecht anerkennen müssen, um die ohnehin schwierige Arbeit der Organisation selbst nicht unnütz noch mehr zu erschweren dadurch, daß vorläufig beigelegte Streitpunkte wiederum gerade bei dieser Gelegenheit ausgenommen und ihre Austragung zur Bedingung der Ver­ ständigung gemacht werden."

Nach dem Artikel I. der Vorlage sollte das Budgetrecht der Volks­ vertretung in Ansehung der Militärverwaltung einfach dadurch beseitigt werden, daß die Friedenspräsenzstärke des Heeres für immer gesetzlich auf 401,659 Mann festgestellt werde. Da die dem Reichstage 1873 gemachte Vorlage die gleiche Bestimmung enthalten hatte, waren die Parteien darauf vorbereitet gewesen. Die preußischen Mitglieder der Fortschrittspartei, welche die schweren Kämpfe um das Landesrecht in der Konfliktszeit mit durchgemacht hatten, kannten die Stärke des Militarismus in den maß­ gebenden Kreisen zu gut, um an einen leichten Sieg zu glauben. *) Darum gingen sie mit der größten Vorsicht und Mäßigung vor. Die Fraktion berieth vor der Wahl in die Militärgesetzkommission und später mehrmals auf Vortrag von Eugen Richter und Hoverbeck die wichtigsten der in

*) Bei Beginn des Reichstages auf einem gemeinschaftlichen Essen der Reichs­ tags- und Landtagsfraktion der deutschen Fortschrittspartei gab Hoverbeck in einer für manchen Hörer erschrecklichen Schärfe dem Gedanken Ausdruck, daß die Kämpfe gegen die Sozialdemokratie und den Ultramontanismus nur geringfügige Aufgaben seien im Vergleich zu dem frischen fröhlichen Kampf gegen den Militarismus, in den die deutsche Fortschrittspartei mannhaft einzutreten habe. Die großen und angesehenen Preßorgane desjenigen Theils der nationalliberalen Partei, welcher bereit war, durch Aufgabe des Budgetrechts das wichtigste Recht des deutschen Volkes zu beseitigen, gab sich hierauf die erdenklichste Mühe, den großen Patrioten bei jeder zeitung vom 25. März 1874, als Hoverbeck den Ordnungsruf gegen Miquel wegen Beleidigung des abwesenden Abgeordneten Teutsch beantragt hatte (Miquel nahm den andern Tag sein beleidigendes Wort zurück, — weil er seine Uebereilung eingesehen hatte). Hoverbeck wurde beschuldigt mit den Franzosen zu liebäugeln. „Er ge­ stattet dem deutschen Nationalgefühl sehr wenig, hingegen Französeler, sei sie auch die albernste, wenn sie unsere Nation beschimpft, findet in ihm ihren Beschützer." — . . . „Wenn man gewisse Leute sprechen hört, so sollte man meinen, die Redefreiheit könne ihnen gar nicht weit genug gehen. Sobald aber ein gesprochenes Wort mcht in ihren Kram paßt, so sind sie nicht bloß die Ersten, polizeiliches Einschreiten herbei zu sehnen, sie melden sich auch selber unberufen zum Schutzmannsdienst, und wollen den Redner eigenhändig verhaften und der säumigen Polizei überliefern." Die Spener'sche Zeitung berichtete in der Abendnummer des 25. März über diesen Artikel: „Die Nationalzeitung hebt es außerdem hervor, wie der rechthaberische Herr von Hoverbeck sich selbst gegen die von ihm angerufene Geschäftsordnung und gegen die Würde und die Rechte des Präsidenten aufgelehnt habe; aber die Schuld liegt auch an der unglaublichen Geduld und Flauheit des Reichstages, sonst müßte dieses Phänomen von plumper Nüchternheit und klopffechterischer Plattheit doch schon längst an den richtigen Platz gestellt sein." — Das war in jenen Tagen die Sprache der beiden von nationalliberalen Reichstagsabgeordneten geleiteten Hauptorgane der nationalliberalen Partei von Berlin,

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

179

dem Gesetzentwurf zu ordnenden Gegenstände, und jedesmal wurde die Einmüthigkeit der anwesenden Mitglieder in den Hauptgrundsätzen konstatirt. Man war anfänglich auch fest überzeugt, in diesen Hauptgrundsätzen sich in voller Uebereinstimmung mit dem weit überwiegenden Theile der nationalliberalen Partei zu befinden. Dafür bürgte ja die ganze vorauf­ gegangene Geschichte des Pauschquantums im Norddeutschen Bunde imd im Deutschen Reiche. Im konstituirenden Reichstage hatten sich die hartnäckigsten Kämpfe der Liberalen mit Bismarck um die Bestimmungen der Verfassung in Betreff des Militäretats und der Höhe der Heerespräsenz gedreht. Eine Zeitlang schien es, als ob das Verfassungswerk scheitern würde, weil der konstituirende Reichstag wiederholt die dauernde Fixirung der Präsenzzeit ablehnte. Nachdem dies bei der ersten Berathung mit 138 gegen 130 Stimmen ge­ schehen war, trat Bismarck noch unmittelbar vor der letzten Abstimmung in der Schlußberathung auf und bat, sich die Gefahr zu vergegenwärtigen, daß die Verfassung unannehmbar werde und das Ziel der Berathung, welches man schon mit der Hand faffen zu können glaubte, im letzten Augenblick entrolle und nicht erreicht werde. An diesen Kämpfen hatten sich zwar in hervorragender Weise die für die jährliche Feststellung der Präsenz durch den Etnt eintretenden fortschritt­ lichen Abgeordneten Waldeck, Schulze-Delitzsch, Duncker und Mo­ ritz Wiggers betheiligt, aber da diese nur auf einen sehr kleinen Theil des Reichstages Einfluß zu üben im Stande waren, so hatte man es schließlich der Energie einzelner nationalliberaler Abgeordneten, vor Allem der Abgeordneten von Forkenbeck, Twesten und Lasker zu ver­ danken, daß das Kompromiß zu Stande kam, welches der Volksvertretung nur auf vier Jahre das volle Budgettecht vorenthielt. Angenommen wurden jene Verfassungsbestimmungen, wonach die Friedenspräsenzstärke des Heeres bis zum 31. Dezember 1871 auf Ein Prozent der Be­ völkerung von 1867. normirt und bis dahin ein Pauschquantum von 225 Thlr. bewilligt, für die spätere Zeit aber die Feststellung der Friedens­ präsenz durch die Reichsgesetzgebung vorbehalten wurde. Die Debatten des konstituirenden Reichstages über das Bundeskriegswesen bewiesen, daß nur ganz vereinzelte Mitglieder der nationalliberalen Partei sich von Forkenbeck und seinen Freunden aus der preußischen Konfliktszeit trennten. Freilich Professor Dr. Gneist, damals noch nicht zur nationalliberalen Fraktion ge­ hörend, hatte sich völlig bekehrt. Aber er mußte es erleben, daß das ganze Haus durch lang andauerndes Gelächter dem Urtheile zustimmte, welches der Kriegsminister von Roon über ihn fällte und Waldeck für ganz richtig erklärte: „Der Herr Abgeordnete" — lautete es— „kann bekannt­ lich bei der ihm eigenen großen Gewandtheit beweisen, was er will!" — Von der Gneist'schen Auffassung des Budgetrechts wollten nur die Konser­ vativen und sein alter Fraktionschef Georg von Vincke etwas wissen. Der Letztere, „der ehemalige Anhänger des verfassungsmäßigen Rechts des preußischen Landtags", — so nannte ihn Lasker am 16. April — fand freilich, daß das Budgetrecht ein nebelhaftes Wesen sei, dem man so viel Verbrämungen und Vergoldungen gegeben habe, daß Manche ihr eigenes Kleid in dieser Verkleidung nicht wiedererkannt hätten; aber sogar Miquöl 12*

180

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

hielt ihm vor, daß er mit allen seinen Behauptungen nicht zur liberalen, sondern zur absolutistischen Partei gehöre. Nur „zu einer zeitweiligen Aufhelfung eines kurzlebigen Militärstaütes", nicht zur Be­ gründung eines Staates der deutschen Nation und des deutschen Volkes würde ein Verzicht auf die natürlichen Rechte der Volksvertretung (des vollständigen Budgetrechts) für die Dauer und prinzipiell führen, darum könne man zur Bundesverfassung so wie sie vorgelegt sei, wenn auch trauernd, nur Nein! sagen. So war schon bei der Generaldiskussion (9. März 1867) von Miquöl erklärt worden.

Der eigentliche Kampf fand in den 12 Tagen vom 5. April bis zum Schluß des Reichstags statt. Die Ausführungen der Nationalliberalen zeigen, wie sie sich dazumal wohl bewußt waren, daß hier der Kampf über die Frage geführt wurde, ob fürder die konstitutionelle Staats­ form inDeutschland bestehen oder der Absolutismus wieder­ hergestellt werden sollte. Lasker erklärte: „Zch will die Vergangenheit friedlich abschließen, ich will die Gegenwart reichlich stcherstellen, aber ich will die Zukunft nicht kompromittiren . . . Ich will nicht, daß die konstitutionellen Rechte, die jährlichen Bewilligungen, welche zum Heile der Kriegsverfassung sowohl, wie zum Heile der finanziellen Zustände des Landes nothwendig sind, für immer entzogen werden der Diskussion, der wirksamen Diskussion und möglicherweise der Einschränkung, soweit diese bestehen kann neben der gesetzlichen Grundlage der Reorganisation. . . . Der Militäretat ist die Grund­ lage der budgetmäßigen Bewilligung, und wenn Sie den Militäretat uns gänzlich entziehen, so haben Sie damit die Budgetbewilligung fast bis zum Schein herunter­ gedrückt. Nennen wir das Ding beim rechten Namen; indem wir der königlichen Gewalt sowohl eine bestimmte Summe Geldes pro Kopf zur Verfügung stellen, geben wir ihr eine Vollmacht, deren rechter Name die Diktatur ist, und diese Diktatur ist nur erträglich und nur nothwendig für eine bestimmte Zeit. Darüber hin­ aus ist sie nicht mehr Diktatur, sondern Aufhebung des Verfassungs­ rechtes." (5. April, Stenogr. Berichte S. 554.) — . . . „Wir sind in dieses Haus mit der Absicht eingetreten, die Rechte des Volkes, die Rechte des Abgeordnetenhauses nicht zu Schanden werden zu lassen. . . . Wir wollen auf. dem Wege vom Abgeord­ netenhause hierher nicht das verfassungsmäßige Recht des Landes verloren gehen lassen. . . . Wenn ein für allemal das Budgetrecht in Betreff des Militäretats für den Reichstag eliminirt würde, dann . . . würden viele Mitglieder — und ich bekenne mich zu der Zahl dieser Mitglieder — außer Stande sein, für die Verfassung zu stimmen." (16. April, Stenograph. Berichte S. 718.)

Der Abg. Grundrecht, der Bürgermeister von Harburg, der sich im Libera­ lismus sonst keineswegs vortheilhaft vor seinen hannoverschen Landsleuten auszeich­ net, sagte: „Wir wollen keine Institutionen schaffen, die den nackten Absolutis­ mus an der Stirn tragen, und das ist für die Militärverwaltung dieser für ewige Zeiten und dauernd bewilligte Pauschsatz." (6. April, Sten. Bericht S. 599.)

Der Abg. Miquel: „Eine Volksvertretung, welche das Bewilligungsrecht aus­ übt, ist nicht blos der Ventilator zwischen Bedarf und Befriedigung, zwischen Anfor­ derung und Leistung bezüglich eines oder des andern getrennten Verwaltungszweigs, sondern ihre Hauptaufgabe besteht in der Vermittelung der Bedürfnisse der verschie­ denen Verwaltungszweige. ... Es ist also klar, daß dies die Hauptaufgabe der

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

181

Volksvertretung ist gerade gegenüber der Technik in der Verwaltung und den noth­ wendig einseitig technischen Anforderungen eines Verwaltungszweigs die richtige Mitte zu halten und nach allen Seiten das richtige Gleichgewicht herzustellen. Es ist klar, daß durch die Fixirung und Beseitigung des Budgetrechts nach einem großen Verwaltungszweig hin diese Aufgabe dauernd unmöglich wird. Wir können daher, ohne die ganze parlamentarische und konstitutionelle Entwickelung dauernd zu gefährden, auf die Dauer nicht auf das Budgetrecht be­ züglich der Armee verzichten." (6. April, Stenograph. Bericht S. 598.)

Der Abg. T west en: . . Wo ein Ausgleich zu suchen ist, da muh es einen Punkt geben, wo man sagt: bis hierher und nicht weiter. Das giebt den Unterschied zwischen einem politischen Charakter und einer Molluske. Man darf uns nicht zumuthen, daß wir unbedingt Allem zustimmen sollen, was in dem vorliegenden Verfafsungsentwurfe gefordert wird, und darauf Hinweisen, wir sollten nicht der Negierung Schwierigkeiten bereiten, nicht Uneinigkeiten vor Europa bloslegen. ... Es handelt sich bei der gegenwärtigen Stelle des Entwurfs nicht um die auswärtige Politik, sondern um eine konstitutionelle Frage von dem höchsten Ge­ wicht, und die darf nicht nach den Rücksichten des Augenblicks entschieden werden. Wir dürfen nicht um augenblicklicher Bedürfnisse willen dauernd Institutionen grün­ den; wir müssen unterscheiden zwischen dem, was der Augenblick erfordert, und zwischen dem, was dauerndes Recht in unserm Vaterlande werden soll. . . . Wir glauben nicht befugt zu sein, die Rechte, welche dem Volke unbedingt gesichert sind, so lange es Verfassungen giebt, aufzuopfern um augenblicklicher politischer Rücksichten willen. . . . Will man darüber (über die Bewilligung des Pauschquantums bis-1871) hinausgehen, so macht man in diesem wesentlichen Theile des verfaffungsmäßigen Lebens den Reichstag zu einer blos berathenden Behörde. . . . Wenn Jemand glaubt, einem folgenden Reichstage nicht das Vertrauen schenken zu können, daß er sich den Nothwendigkeiten der Lage des Staats zugänglich erweist, dann kann überhaupt nicht von einer konstitutionellen Verfassung die Rede sein. ... Es könnte im Augenblick die populäre Strömung dahin gehen, daß es nothwendig oder zweckmäßig sei, Alles zu. bewilligen, was .die. Regierung verlangt.. Aber, gerade solchen politischen Strö­ mungen gegenüber ist es die Pflicht politischer Männer, dafür zu sorgen, daß nicht in Augenblicken der Erregung, nicht unter Gesichtspunkten, die mit den dauernden Einrichtungen nichts zu thun haben, Rechte aufgegeben werden, deren Wiedererlan­ gung später eine Frage der ernstesten Kämpfe, der gefährlichsten Zerrüttungen wer­ den könnte."

(6. April, Sten. Ber. S. 604 u. 605.)

Der Abg. von Forkenbeck in erster Linie hat durch sein energisches Auftreten in seiner eigenen Partei es durchgesetzt, daß an diesem festen Punkte des künftigen Budgetrechts die Neigung, Alles aufzugeben, scheiterte, und sodann, nachdem in der ersten Berathung durch Annahme seines An­ trages mit 137 gegen 127 und Ablehnung des Antrages Moltke mit 136 gegen 123 Stimmen der Sturm nur mit ganz geringer Mehrheit abge­ schlagen war, durch ein geschicktes Kompromiß mit den Freikonservativen die Mehrheit für die Schlußabstimmung gesichert. Seine Ausführungen können daher auf besondere Berücksichtigung Anspruch machen. Derselbe charakterisirte die Vermittelungsanträge in der Militärfrage folgendermaßen: „Die Anträge beabsichtigen Kompromisse, drängen deshalb Ueberzeu­ gungen, die ich hege, gehegt habe und früher lebhaft vertheidigt habe, zu-

182

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

rück. Sie beabsichtigen Kompromisse zwischen den Parteien des Reichstags, zwischen dem Reichstage und den verbündeten Regierungen, zwischen den Organen der Einheit und den einzelnen Landtagen, welche späterhin das Werk genehmigen sollen; sie beabsichtigen aber namentlich Kompromisse zwischen den gebieterischen Nothwendigkeiten des Norddeutschen Bundes und den freiheitlichen Rechten des Volkes, namentlich dem Budgetrechte, welches wir für die Zukunft unverändert aufrecht erhalten wollen" .... (5. April, Stenogr. Bericht S. 559.)

Zn seiner zweiten Rede vom 5. April 1867 erklärte er in Ansehung der Präsenzziffer: „Diese Ziffer für alle Zukunft festgestellt, hieße für alle Zukunft die Militärexekutive von allen Bedürfnissen, von allen Anforderungen dem Landtage gegenüber befreien, es hieße — ich wiederhole es nochmals — die Vernichtung des Budgetrechtes, wie wir es in der preußischen Verfassung haben, für alle Zukunft hin, in seinen wesentlichsten Beziehungen." Er schloß diese denkwürdige Rede mit folgenden Worten:

„Ich bin bereit, zur Konstituirung des Norddeutschen Bundes von Volksrechten und vom Budgetrechte für vorübergehende Zeiten das zu opfern, was zur Erreichung des Zweckes nothwendig ist; aber ich bitte Sie, meine Herren, sorgen Sie dafür, daß nicht einst die Nachwelt sagt: Zn demselben Augenblicke, wo durch die einmüthige, treue und ener­ gische Anstrengung des preußischen Volkes solche Erfolge errungen sind, wo wir dieser Anstrengung des Volkes in seiner Armee und in allen seinen Schichten es lediglich und allein zu verdanken haben, daß wir hier über die Geschicke des Norddeutschen Bundes beschlie­ ßen, in diesem Augenblicke ist von den Vertretern des Volkes dem Volke mehr an freiheitlichen Rechten genommen worden, als für die Erreichung des Norddeutschen Bundes nothwendig war." (Stenogr. Bericht S. 571 u. 572.) Als die drei Jahre des ersten Pauschquantums zu Ende gingen, war der französische Krieg kaum vorbei. Die Vorarbeiten für die regelmäßige Gesetzgebung waren durch den Krieg verzögert und unterbrochen. Der Kaiser erklärte in der Thronrede vom 11. September 1871, die rechtzeitige Aufstellung des Militäretats sei verhindert; er sei daher genöthigt, die Zustimmung des Reichstages dafür in Anspruch zu nehmen, daß die Uebergangszeit noch auf das Jahr 1872 ausgedehnt werde. Zn dem unvoll­ endet vorgelegten Militäretat war weitläufig nachgewiesen, daß das bis­ herige Pauschquantum nicht ausreiche; aber die verspätete Einziehung der Rekruten von Elsaß-Lothringen, der Ausfall der Uebungen des Beurlaub­ tenstandes, die Naturalverpflegung der Okkupationstruppen für Rechnung Frankreichs und das eben erfolgte Retablissement der Armee, an Bekleidung, Ausrüstung, Waffen und Munition gestatteten für das nächste Zahr hin­ reichende Ersparniß; dieser Nachweis veranlaßte Anträge auf Abstrich von der Pauschsumme und auf Resolutionen, betreffend künftige Verringerung der Dienstzeit, sowohl seitens der Fortschrittspartei (von Hoverbeck und Richter), als seitens des Abgeordneten Schenck von Stauffenberg.

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

183

Dadurch erwuchsen Schwierigkeiten, die zu überwinden der Regierung und den ihr nahe Stehenden unbequem erschien. Hinter den Koulissen wurde plötzlich im Reichstage für ein neues dreijähriges Pauschquantum gearbeitet. Der Kriegsminister ließ sich von den Freikonservativen darauf gerichtete Wünsche in einer Sitzung der Kommissarien des Hauses vortragen. Eine sehr schwach besuchte Sitzung der nationalliberalen Fraktion erklärte sich

mit 43 gegen 26 Stimmen dafür und nun beschloß der Bundesrath am 23. November 1871, einen Gesetzentwurf über die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres und die Ausgaben desselben für die Jahre 1872, 1873 und 1874 vorzulegen. Die dreitägige Berathung über diesen Gesetzentwurf war eine sehr erregte, aber auch damals dachte die große Mehrzahl der nationalliberalen Partei noch gar nicht an die Möglichkeit, für immer auf das verfassungsmäßige Budgetrecht zu verzichten.*) Freilich Herr von Treitschke, der erste Redner des 29. November hielt solchen Verzicht für nothwendig, aber er gestand auch zu, den Vorwurf, nicht mehr liberal zu sein, abgesehen von volkswirthschastlichen Dingen, zu verdienen. Die Er­ regung der nationalliberalen Partei muß nach der ersten Berathung (vielleicht gerade in Folge der Treitschke'schen Rede) außerordentlich start gewesen sein. Unmittelbar vor der zweiten Berathung fand eine Sitzung der nationalliberalen Partei statt, die — nach nationalliberalen Berichten — beinahe zur Auflösung der Fraktion geführt hätte. Das Stimmenverhältniß hatte sich seit der früheren Berathung wesentlich geändert. Es erklärten sich jetzt 44 für, 40 gegen das Gesetz. Um, wenn möglich, einen Bruch zu verhüten, schlug Forckenb eck — einen Fraktions-Kompromiß vor: statt eines dreijährigen nur ein zweijähriges Pauschquantum zu bewilligen. Alle Anwesenden mit Ausnahme zweier, die nur die erste, auf ein Zahr lautende Regierungsvorlage annehmen wollten, stimmten bei; viele aber behielten sich vor, auch im Falle der Annahme dieses Kompromiffes im Plenum demnächst noch gegen das ganze Gesetz zu stimmen.**) Man ver­ suchte vergeblich, die , Konservativen für das Kompromiß zu gewinnen, man fand schließlich mit dieser sonderbaren Halbheit nirgends Änklang. Dr. Bamberger, Miquel und von Unruh fungirten als Antragsteller. Der Präsident des Reichskanzleramts erklärte, daß ihm von allen Lösungen ♦) Ueber den Verlauf, den die Angelegenheit im Reichstage und hinter den Koulissen genommen hat, sind unter den im Reichstage gehaltenen Reden besonders lehrreich die der Abgeordneten Lasker (in erster Berathung, 29. November 1871) und von Forckenbeck (in zweiter Berathung, 30. November); außerdem vergleiche man die in Hirth's Annalen für 1874 Seite 142 ff. enthaltenen Rückblicke. Der Verfaffer der letzteren, ein nationalliberaler Nichtpreuße, sagt von der später erwähnten Rede Treitschke's: „v. Treitschke, welcher zwar formell zur nationalliberalen Partei gehört, aber im Grunde nur ein ebenso ehrlicher wie geistreicher Fanatiker für dm preußisch-deutschen Einheitsstaat ist, eröffnete die Debatte mit der unglücklichsten phrasenreichsten Rede, die ich je von ihm gehört oder gelesen habe, zu Gunsten des dreijährigen Pauschquantums und provozrrte dadurch eine fast beispiellos scharfe Kritik nicht nur der Gegner, sondern auch der eigenen politischen Freunde." Haver­ beck, der folgende Redner ging freilich mit dem Kriegsfanatiker, dem „sogenannten Liberalen" arg um, und Lasker kennzeichnete „die rednerischen Floskeln, mit denm man nichts, gar nichts anfangen kann" in ihrer ganzen Hohlheit. **) Die Darstellung der Fraktions-Vorgänge schließt sich genau der in den Rückblicken bei Hirth 1874 S. 179 an.

184

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

diese die unangenehmste sei. Hierauf wurde das nationalliberale Amende­ ment mit 190 gegen 84 Stimmen abgelehnt und unmittelbar darauf das dreijährige Pauschquantum mit 150 gegen 134 Stimmen angenommen. Geschlossen für das letztere stimmten die konservativen Parteien, geschlossen dagegen Fortschrittspartei, Zentrum und Polen; ganz auseinander gingen die Nationalliberalen und die liberale Reichspartei. Gegen beides stimmten, wenn man 5 augenscheinlich absichtlich bei der ersten Abstimmung fehlende hinzurechnet, 10 Nationalliberale, darunter Simson und Braun; für den Kompromißantrag und gegen das dreijährige Pauschquantum etwa 35, darunter Bamberger, Lasker, Metz, von Stauffenberg, von Unruh; für den Kompromißantrag und für das dreijährige Pausch­ quantum 45, darunter v. Benda, v. Bennigsen, Marquardsen, Miquel, v. Forkenbeck, Wehrenpfennig; gegen den Kompromiß­ antrag und für das dreijährige Pauschquantum v. Treitschke, Gneist und noch 4 andere. Forkenbeck, der diesmal sich von der liberaleren Seite seiner Fraktion trennte, bekannte von vornherein, daß er schon während der Friedensverhandlungen sich von der Nothwendigkeit eines mehrjährigen Pauschquantums überzeugt habe, er lehnte aber auf das ent­ schiedenste die Treitschke'schen Gründe ab. Er erklärte, unverrückt an der Hoffnung festzuhalten, die Zeit werde kommen, wo wir durch Herabsetzung der Friedenspräsenzstärke dauernd- die Militärlast, die Deutschland zu tragen hat, heruntersetzen können. Seine Gründe für die mehrjährige Bewilligung des Pauschquantums faßte er schließlich dahin zusammen: „Zch halte das Budgetrecht auch bei seiner Ausübung durch einen speziellen

Militäretat für ein wesentliches Recht jeder Volksvertretung; aber weil ich es dafür halte, will ich seine Ausübung zur rechten Zeit zuerst zum Heil des neugeschaffenen Reiches und sodann zum Besten der Volksvertretung, und der Zeitpunkt der Fest­

stellung eines ordentlichen speziellen Militäretats ist meiner Ansicht nach sicher im Zahre 1872, höchst wahrscheinlich auch noch nicht im Zahre 1873 gekommen. . . .

Bei der Frage, wann wir nach Verlauf von fast 11 Zähren durch Berathung und

Bewilligung eines speziellen Militäretats das so wichtige Budgetrecht der jährlichen speziellen Bewilligung ausüben wollen, dabei können meiner Ansicht nach ein Jahr, zwei Jahre nicht wesentlich in Betracht kommen.

Daß es ausgeübt werden muß,

das beweisen mir frisch die Verhältnisse hier im Hause, und die Verhältnisse werden sicher zur Ausübung dieses Rechtes drängen."

Nach Forkenbeck erklärte Dr. Bamberger, der für ein zweijähriges Pauschquantum eintrat, daß die Ansicht des Abg. Dr. Treitschke, wonach an Stelle der Verfassung das unfehlbare Kriegsministerium zu treten habe, nicht die auch nur eines Theils der Fraktion sei, mit dieser Ausnahme sei die Fraktion darin einig, daß an der jährlichen Budgetbewilligung der Ver­ fassung festzuhalten ist. Derjenige Theil der Fraktion, für den er zunächst spreche, sei aber der Ansicht, daß eine abermalige Vertagung dieser Aufgabe, ein abermaliges Verschieben dieser Aufgabe an einen neuen Reichstag ganz nahe angrenze an eine Verläugnung dieses verfassungsmäßigen Prinzips.*) *) Der wesentlichste Grund der Bewilligung — die drohenden Aussprüche Bis­ marcks — wurde natürlich in der Debatte nicht erwähnt. Der Verfasser der Rück­ blicke sagt a. a. O.: „Die Fürsprecher des Gesetzes legten ... das größte Gewicht auf das in den Beziehungen zum Ausland liegende Motiv. Sie waren ferner durch

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

185

Nach diesem Rückblick auf die Stellung der nationalliberalen Partei zu der jährlichen Bewilligung des Militäretats wird es begreiflich erscheinen, daß die deutsche Fortschrittspartei von der ersten Vorlegung des Reichs­ militärgesetzes an zu der großen Mehrheit der nationalliberalen Partei das volle Vertrauen besaß, sie werde bei aller Nachgiebigkeit gegen die hohen Anforderungen der Militärverwaltung doch nimmermehr in Vernichtung des Budgetrechts willigen. Als der Abgeordnete Eugen Richter dies am 26. Mai 1873 in einer großen Budgetrede, unter Hinweis auf die niemals zurückgenommenen Aussprüche Forkenbecks im konstituirendenReichstage, aussprach, hat Niemand von der nationalliberalen Partei dagegen Wider­ spruch erhoben. Zm Gegentheil hat der Abgeordnete Miquöl daran Be­ merkungen geknüpft, die nur als eine Bestätigung jenes Vertrauens auf­ zufassen waren (27. Mai 1873, Stenograph. Bericht 841 u. ff.).

So war es durchaus nicht auffallend, daß der Abg. Richter bei der ersten Berathung des Militärgesetzes am 16. Februar 1864 mit völliger Sicherheit es aussprach, er könne nicht im Ernst annehmen, die Regierung verlange wirklich auf die Dauer die im § 1 geforderte Friedensstärke; — sie werde aus der ihr ebenso gut wie jedem Reichstagsabgeordneten bekann­ ten Stimmung entnehmen, daß sie für den Artikel in der vorliegenden Fassung***) auch nicht fünfzig Stimmen im Hause für sich gewinnen würde. Von der Rechten — aus den Reihen der Freikonservativen, er­ folgten lebhafte Aeußerungen des Widerspruchs. „Sie sind schon sämmt­ lich miteingerechnet" — entgegnete der Redner zu großer Heiterkeit des Reichstags, wie der stenographische Bericht wahrheitsgetreu anführt. Natio­ nalliberaler Seils widersprach man nicht. Man hoffte auf eine Einigung, welche das Recht des Reichstages fortbestehen ließ, und einer künftigen Herabsetzung nicht im Wege stehe. Die Fortschrittspartei wollte, daß die Verhandlungen über den § 1 nicht dem Dunkel einer Kommission anheim­ gestellt würden, sondern im Hause selbst stattfänden. Leider verwarf der Reichstag diesen Antrag, und- der ganze Gesetzentwurf wurde einer Kom­ mission von 28 Mitgliedern überwiesen.

Die Kommission zur Vorberathung des Reichsmilitärgesetzes wurde am 18. Februar gewählt und konstituirte sich unter dem Vorsitz des Abgeord­ neten von Bennigsen; Stellvertreter des Vorsitzenden war Freiherr von Hoverbeck. Ihre Zusammensetzung nach den Parteien war folgende:

1) zwei Konservative: Freiherr von Maltzan-Gültz und Freiherr von Minnigerode; 2) zwei Freikonservative: Dr. Friedenthal und Graf Bethusy-Huc;

ein geflügeltes Wort des Fürsten Bismarck: er glaube schon die Konflikts­ glocke läuten zu hören, besorgt geworden, es könne im Fall der Verwerfung der Vorlage wirklich zu einem Konflikt zwischen Reichstag und Regierung kommen, der doch unter allen Umständen vermieden werden müsse, damit der weitere Ausbau des neuen Reiches sich im vollen Einklang beider gesetzgebenden Faktoren und ungestört durch sich jährlich wiederholende lange Debatten über den Militäretat vollziehen könne." **) „Die Friedenspräsenzstärke des Heeres an Unteroffizieren und, Mannschaften beträgt bis zum Erlaß einer anderweitigen gesetzlichen Bestimmung 401,659 Mann. Die einjährig Freiwilligen kommen auf die Friedenspräsenzstärke nicht in Anrechnung."

186

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

3) zwölf Nationalliberale: von Bennigsen, von Benda, Dr. Gneist, Dr. Wehrenpfennig, Miquel, von Puttkamer- Fraustadt, Dr. Stephani, Dr. Meyer-Thorn, von Unruh-Magdeburg, Friderich, Freiherr Schenk von Stauffenberg, Dr. Lasker; 4) vier Fortschrittsmänner: Richter-Hagen, Freiherr von Hoverbeck, Herz, Dr. Minckwitz; 5) acht vom Centrum, einschließlich eines welfischen Hospitanten: von Mallinckrodt, Freiherr von Frankenstein, Hauck, Bernards, Freiherr von Wendt, Freiherr von Ow, Graf zu Stollberg-Stollberg (Neu­ wied), von Adelebsen. Die Kommission überschlug in ihrer Berathung zuerst den ersten und wichtigsten Abschnitt des Gesetzes und berieth die weniger verfänglichen Theile. Schon hierbei stellte es sich heraus, daß in allen wichtigeren Fragen die Kommission fast gleich getheilt war. Der Kampf gegen den Militarismus wurde in erster Linie durch die Fortschrittspartei geführt. Richter, der durch seine bis in das feinste Detail eindringende, von den ersten Autoritäten der Militärverwaltung bewunderte Kenntnisse des Militär­ wesens alle übrigen Mitglieder der Kommission weit überragte, wurde durch seine Fraktionsgenossen, vor allem durch den streitbaren Freiherrn Hoverbeck, wacker unterstützt. Die acht vom Centrum, — vorwiegend aus streng konser­ vativer Aristokratie stammend — schlossen sich regelmäßig den vier Fortschritts­ männern an. In der großen Mehrzahl der Fälle stimmte auch Lasker mit der Linken. Diesen 13 Stimmen der Opposition standen gegenüber die vier Kon­ servativen, die einschließlich des damals noch nicht angestellten Dr. Frieden­ thal, nach konservativer preußischer Art sich der Militärverwaltung gegen­ über jeder eigenen Meinung entschlugen, sowie die nationalliberalen Ab­ geordneten von Benda und Dr. Gneist; diesen sechs schloffen sich in der Regel auch noch die Abgeordneten Wehrenpfennig, Miquöl, von Bennigsen, von Puttkamer und Meyer-Thorn an. Zwischen der gesummten Rechten von 11 und jener Linken von 13 Abgeordneten standen nun gewiffermaßen als rechtes Zentrum die beiden Abgeordneten Stephani und von Unruh und als linkes Zentrum Friderich und von Stauffen­ berg. Bestimmungen der Regierungsvorlage oder Anträge der Rechten, gegen welche außer jenen 13 noch Stauffenberg oder Friderich stimmten, waren mit Stimmengleichheit (14 gegen 14 Stimmen) abgelehnt, Anträge der Linken mußten, um (mit 15 gegen 13 Stimmen) durchzudringen, schon die beiden zuletzt genannten Abgeordneten für sich haben; sonst waren sie abgelehnt. An den Kommissionssitzungen nahmen als Vertreter der Reichs­ regierung ganze Kolonnen von preußischen und nichtpreußischen Offizieren und mehrere Geheimräthe Theil; als regelmäßigen Vertreter der Militär­ verwaltung fungirten in erster Linie der Generalmajor von Voigt-Reetz und Major Blume, in zweiter Linie der preußische Kriegsminister von Kamele, für das Reichskanzleramt Geheimrath Dr. Michaelis, der einst­ malige fortschrittliche Abgeordnete und volkswirthschaftliche Redakteur der Nationalzeitung. Als Zuhörer pflegten in großer Zahl Abgeordnete aller Parteien den Sitzungen beizuwohnen. Sn den Tagen vom 26. bis 28. Februar fand endlich die erste Ge­ neraldebatte der Kommission über den zurückgestellten § 1 des Gesetzes statt.

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

187

Für diejenigen, die es noch immer nicht begriffen hatten, oder Richter's Zahlen noch immer mißtrauten, stellte sich nunmehr aus den Erklärungen der Regierungskommiffarien als unleugbare Wahrheit heraus, daß die Re­ gierung durch die Erhöhung der Effektivstärke des Heeres die thatsächliche Dienstzeit des einzelnen Mannes erheblich verlängern wollte, dahingegen keineswegs bezweckte, durch eine stärkere Aushebung die Aufstellung eines größeren Kriegsheeres möglich zu machen. — Jetzt erklärte sich der Abg. Lasker entschieden gegen jede Bewilligung der verlangten Präsenzstärke, auch nur für mehrere Jahre. Die Abgeordneten v. Benda und Gneist unterwarfen sich gänzlich den Forderungen der Regierung und Miquöl und Wehrenpfennig boten bereits „für eine Reihe von Zähren" die verlangte Bewilligung an. Dahingegen erklärten Friderich und von Stauffenberg, daß sie sich auf eine dauernde Bewilligung der Friedens­ präsenz, also auf Aufgabe des Budgetrechts nimmermehr einließen. Erst in der zweiten Hälfte des Monat März kam es zur Schluß­ berathung. Inzwischen hatten die Nationalliberalen vergeblich nach allerlei Kompromissen über eine „Durchschnittsziffer" gesucht; die Militärverwaltung hatte sich schroff ablehnend verhalten; der Versuch „der Verständigung" wurde den Nationalliberalen dadurch außerordentlich erschwert, daß Fürst Bismarck am 8. März ernstlich erkrankt war und mehrere Wochen das Bett hütete. Unter diesen Umständen kamen die maßgebenden Persönlich­ keiten der Kommission zu dem Entschluß, in dieser keine Amendements zu stellen. Nunmehr wurde der § 1 mit allen gegen die sechs Stimmen der Konservativen und der beiden Nationalliberalen v. Benda und Gneist verworfen. Obschon der preußische Kriegsminister erklärte, daß ohne den § 1 in irgend einer annehmbaren Gestalt das ganze Gesetz für die Reichs­ regierung keinen Werth habe, beschloß doch die Kommission, bei dem Reichs­ tage Annahme des Gesetzes zu beantragen, — ohne einen Vorschlag über den § 1 zu machen. Man baute nationalliberaler Seits darauf, Fürst Bismarck werde .inzwischen wieder .hergestellt werden und das letzte Wort derartig sprechen, daß der Partei die Zustimmung ohne völlige Verleug­ nung ihrer Vergangenheit möglich sei. Unterdessen war in der offiziösen und konservativen Presse ein, wie es fast schien, planmäßiges Spiel begonnen, das Volk gegen die liberalen Parteien aufzuregen, als wollten dieselben das deutsche Reich wehrlos machen. Jetzt zeigte es sich, wie tief bis in den innersten Kern hinein die Presse durch den Reptilienfond verderbt war. Durch Lügen und Verleumden, und immer von neuem Lügen und Verleumden — vermeintlich zu Nutz und Frommen des Reichs und seines Kanzlers, zum Schaden deutscher Freiheit Zwiettacht säen in der deutschen Nation, — das mußte, auch ohne die Absicht der Regierung, nach der natürlichen Entwickelung der Dinge, die ständige Arbeit der Reptilienpresse werden. Die aus dem Reptilienfond unterhaltenen oder unterstützten Blätter und Schriftsteller, sowie das in den Mitbesitz der Regierung gelangte Wolff'sche Telegraphenbureau begannen schon Anfang März gegen die Fortschrittspartei zu hetzen. Der sogenannte „Waschzettel" des literarischen Bureaus des preußischen Staatsministeriums warf die Nachricht in die Welt: es sei zu besorgen, daß die Klerikalen in der Militärsrage die Unterstützung der Fortschrittspartei erhalten würden.

188

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

Dreister ließ sich das Sachverhältniß kaum entstellen. Nach und nach be­ gann auch die Presie des rechten Flügels der nationalliberalen Partei, allen voran die am 1. März ausdrücklich als Organ der Partei neube­ gründete metallographirte „Nationalliberale Korrespondenz" (N.L.C.) des Abgeordneten Wehrenpfennig, nicht ohne mehr oder weniger unge­ schickte Entstellung der Wahrheit den Standpunkt der Regierung zu ver­ treten. Der linke Flügel der nationalliberalen Partei, der Abgeordnete Lasker und seine Freunde sahen sich plötzlich fast von der gesammten Parieipresse im Stich gelassen, und die Fortschrittspartei konnte mit ihren thatsächlichen Berichtigungen nur in einen Theil der liberalen Presse Ein­ gang finden.*) Hätte die Mehrheit des Reichstags seiner Zeit den Vorschlag der Fort­ schrittspartei angenommen und den entscheidenden Paragraphen des Militär­ gesetzes sofort öffentlich im Plenum berathen, statt in der Kommission, so würde es unmöglich gewesen sein, daß auch bei ganz verständigen Leuten so viele falsche Vorstellungen über die thatsächlichen Verhältnisse Eingang *) Die unter Lasker's Einfluß stehende metallographirte B.A.C. klagte noch am 26. März (vgl. Nationalzeitung vom 27. März) über die „grundsätzlich falsche BeHandlung, welche die Militärfrage vielfach" finde, indem man das Organisationsgesetz mit der laufenden Bewilligung für die Bedürfnisse der Militärverwaltung verwechsle, und setzte eingehend auseinander, daß sich die Verschiedenheit der Ansichten nur um das „für immer" bewege. Die Militärverwaltung wünsche, „daß der Präsenzstand, welchen sie für Zeiten, wie die gegenwärtigen, die von ihr selbst als mit kriegerischen Gefahren unmittelbar bedroht bezeichnet werden, als höchsten in Anspruch nimmt, für alle Zeiten, auch für die friedlichsten, ein für allemal bewilligt und der parlamentarischen Einwirkung entzogen werde....................... Es beruht auf Unkenntniß der in Verhandlung stehenden Dinge, oder auf berechnender Uebertreibung, wenn der heutige Zustand mit dem Beginne des preußischen Konfliktes in Vergleich gebracht wird; auch nicht ein Schatten von Aehnlichkeit herrscht zwischen den heuti­ gen und den damaligen Verhältnissen. Der Kern des preußischen Konfliktes bestand darin, daß der Militärverwaltung für ihre unmittelbaren Ansprüche viel weniger Mittel zu Gebote gestellt wurden, als sie für ihre Organisation unbedingt noth­ wendig zu haben glaubte; ein solcher Gegensatz existirt heute nicht, sondern die Ver­ waltung ist sicher, ohne jeden Abzug das zu empfangen, was sie für den von ihr selbst bezeichneten Präsenzstand für nothwendig hält. Meistens entspringen die ent­ gegengesetzten Darstellungen blos aus Unkenntniß der Thatsachen, indessen mischt sich auch ab und zu die Berechnung hinein, daß auf diese Weise das Volk tn Erinnerung an die Mühsal des preußischen Konfliktes abgeschreckt werden könnte, und offenbar sind diese Vergleiche und irrigen Darstellungen nicht ohne Wirkung geblieben. Wir halten aber diese Kampfesweise nicht allein für illoyal, sondern auch von geringem praktischen Nutzen; sie mag in der Tageserscheinung nützlich sein, aber auf dre Dauer kann die wirkliche Aufklärung nicht aus bleiben. Wir veranschlagen den in Verhand­ lung befindlichen Gegenstand in Betreff des Organisationsgesetzes durchaus nicht gering, denn gewiß ist die Hoffnung berechtigt, daß endlich die Organisation der Armee durch ein Gesetz geregelt werde, aber für undienlich und keineswegs eine Ver­ ständigung fördernd halten wir die Uebertreibungen, welche die Differenz über das Organisationsgesetz auf ein anderes Gebiet hinüberzuspielen bemüht sind." — Durch so zarte Behandlung der Lügenpresse konnte Lasker nichts mehr ausrichten. Am 27. März druckte die Nationalzeitung noch diesen Artikel ohne Bemerkung ab; am 29. März schon fiel sie in einem wüthenden Artikel über die Fortschrittspartei her, deren Mehrzahl „in den Dienst der Elsässer und damit in den Dienst der Ultramontanen und aller Neichsfeinde eingetreten" ist. Von einer elsässischen Frage fing sie an und mit dem Militärgesetze hörte sie auf. Auf die Fortschrittspartei schlug sie mit schmählichen Verdächtigungen los, — Lasker meinte sie. Die Provinzialkorrespondenz druckte den Aufsatz sofort ab (Nr. 13 vom 1. April 1874).

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

189

finden konnten. Niemand würde ernsthaft geglaubt haben, die Organisation der Armee werde in Frage gestellt, wenn General Boigt-Reetz seine in der Kommission gethane Aeußerung, daß man zum jetzigen Reichstag alles Vertrauen habe, indessen künftige Reichstage binden wolle, auch im Plenum ausgesprochen hätte; nicht gegen Frankreich sollte der § 1 gemacht werden, sondern gegen das allgemeine Wahlrecht; die Frage der Dienstzeit sollte, wie der General wiederholt betonte, aus der Wahlagitation, das heißt aus der Mitentscheidung des Volkes ausscheiden. Die eigentliche Hetze gegen die liberalen Abgeordneten begann gegen Ende des Monats, nachdem der Kaiser an seinem Geburtstage — 22. März — die Glückwünsche der Generalität in einer Rede beantwortet hatte, in der erwähnt war, es scheine „abermals eine Krisis über der Armee zu schweben." Er habe gehofft, diese Frage noch selbst zum definitiven Abschluß zu bringen, und die Wehrverfassung seinem Nachfolger als eine rechtlich und faktisch vollendete Thatsache, gleichsam als sein väterliches Vermächtniß für seinen Sohn und als kaiserliche Schutzwehr für Reich und Volk wider innere und äußere Feinde hinterlassen zu können und er könne dieser Hoffnung auch jetzt durchaus nicht entsagen, er könne sich nicht verhehlen, daß diese Schwierigkeiten, welche sich zeigten, den Abend seines Lebens trübten. . . . Darauf hin hatte die Provinzialkorrespondenz die Dreistigkeit, die Person des Kaisers in den Streit der Parteien hineinzuziehen: „Die Mehrheit des Reichstags" — sagte sie am 24. März — „hat unzweifelhaft den Willen zu einer glücklichen Erledigung der Aufgabe im Verein mit der Regierung zu gelangen; sie hat überdies das Bewußtsein, daß von dem Gelingen dieser Aufgabe, die Möglichkeit alles weiteren erfolgreichen Zusammenwirkens, die Möglichkeit einer gedeihlichen Reichspolitik überhaupt abhängt. Nun denn — so mögen alle wahrhaft Nationalgesinnte der Führung des Kaiserlichen Kriegsherrn folgen, dem Preußen und Deutschland die jetzige ruhmreiche Armee und damit Deutschlands glorreiches Wieder­ erstehen, verdanken." Daß der Reichstag aus Rücksicht auf die Erkrankung des Fürsten Bis­ marck die Verhandlungen über das Militärgesetz bis nach den Osterferien verschob, war schließlich für die weitere Entwickelung der Angelegenheit ent­ scheidend. Zunächst wurden die schwankenden Abgeordneten durch Geschichten „von Bismarcks Krankenbett" erschreckt. Die freikonservativen Abgeordneten Dr. Lucius für Erfurt und Amtsrath Dietze für Calbe-Aschersleben hatten am 26. u. 27. März zum Kranken Zutritt gefunden und ließen nun in der Spenerschen von dem Zorn desselben über den Reichstag, insbe­ sondere über den linken Flügel der Nationalliberalen, über Lasker u. Genossen - erzählen. Darnach sollte Bismarck sich besonders bitter über „diejenigen Herren im Reichstage" ausgelassen haben, die auf seinen Namen gewählt seien und von welchen ihre Wähler wünschten, daß sie die deutsche Reichspolitik stützten, daß sie ihm gegen die gemeinsamen Feinde beiständen; diese Herren glaubten sich dieser Aufgabe stets dann entziehen zu dürfen, wenn sie dadurch scheinbar in Widerspruch geriethen mit irgend einem Worte, das sie an einem andern Orte, zu anderer Zeit und unter ganz anderen Umständen gesprochen hätten. Er könne sich diese Lage der Dinge nicht gefallen lassen, er könne seinen europäischen Ruf nicht opfern; er werde,

190

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

sobald er wieder im Stande sei, die Feder zu führen, seinen Abschied er­ bitten, vielleicht fände sich ein Anderer, welcher sich in diesem Reichstage eine zuverlässige Majorität zu sichern wisse; die jetzige Lage der Dinge schädige die höchsten Interessen des Reichs, ihr müsse schleunigst ein Ende gemacht werden. Zwei Mittel nur gäbe es dazu: entweder sein Rücktritt oder die Auflösung des Reichstags.*) Die Nordd. Allg. Zeitung ergänzte offiziös diesen Bericht, in dem der Hauptgedanken des Reichskanzlers nicht wiedergegeben sei, „daß nämlich die Stärke und Stellung der Fortschrittspartei und des mit ihr gehenden Theiles der Nationalliberalen die Lage unhaltbar machten. Fünfzig bis sechszig reichstreue, nicht an Zerstörung des Reiches denkende Wahl­ kreise**) seien durch Abgeordnete vertreten, welche gegen die Reichsregie­ rung operirten, und das zu einer Zeit, wo die reichsfeindlichen Parteien so stark sind, daß die Majoritäten an und für sich schwankend werden. Dieser Fehler in der Situation werde sich voraussichtlich im Laufe der Legislaturperiode mehr schärfen, anstatt zu mildern. — Von dieser Auf­ fassung ausgehend, sei der Herr Reichskanzler zu dem Satze gelangt, das einzige Mittel sei eine Berufung an die Wähler, und wenn das den Fehler nicht heile, so sei eine konstante Majorität, auf welche irgend eine Regie­ rung sich stützen könne, überhaupt nicht möglich." Die Verbreitung dieser Aeußerungen des nervenkranken Reichskanzlers riefen panischen Schrecken in denjenigen Kreisen in und außerhalb des Reichstages hervor, die sich an den Gedanken, daß das deutsche Reich in Zukunft doch einmal ohne den Fürsten Bismarck fertig werden müsse, noch *) Der Abg. Dr. Lucius berichtigte in einem Briefe vom 30. März in der Spenerschen Zeitung einiges Unerhebliche. Ueber den Inhalt seiner Unterredung sagte er wörtlich: „Was den Inhalt der Konversation betrifft, ... so beschränke ich mrch auf die Bemerkung, daß der Fürst seiner Verstimmung über den Entwickelungs­ gang der Dinge lebhaften Ausdruck gab und die Absicht aussprach, unter diesen Umständen baldigst seinen Abschied nachzusuchen. Er fühle sich nicht mehr kräftig genug, um die amtliche Friktion der vorbereitenden Stadien und die in der schwankenden Majorität des Reichstags entgegenstehenden Schwierigkeiten zu über­ winden. Besonders klagte er darüber, daß so viele unbedingt reichstreue Wahlkreise nach Maßgabe der Haltung ihrer Vertreter für die dem Reiche entgegenstehenden Parteien thatsächlich ins Gewicht fielen." **) Hierauf bezog es sich, wenn Eug. Richter als Wortführer der deutschen Fortschrittspartei am 14. April sagte: „Es ist gestern und noch mehr an anderen Orten von nationalen Parteien, von nationalen Majoritäten gesprochen worden; es ist an einem andern Orte von reichstreuen Wahlkreisen die Rede gewesen, die durch die Fortschrittspartei nicht in entsprechender Weise vertreten würden. M. H., die Reichstreue der deutschen Fortschrittspartei ist älter, als manche Partei in diesem Hause und keine Partei zählt unter ihren Mitgliedern verhältnißmäßib so viele, die für die Idee des deutschen Reiches gekämpft und gelitten haben zu emer Zeit, als diese Zdee noch nicht kurfähig war, sondern von anderen Kreisen als ein Irrthum und als eine Thorheit angesehen wurde; und wenn man heute außerhalb dieses Saales so viel hört von Vereinigungen der Reichstreuen, wenn man das Nationale und Antinationale in Deutschland zum Stichwort der politischen Gruppirung macht, so erinnert mich das an diejenigen Gestalten Anfangs der fünfziger Jahre, die in den Preußen- und Treubundsvereinen zum Vorschein kamen, und deren politische Individualität in Nichts gipfelte, als in einer livree­ artigen schwarzweißen Kokarde, die im Uebrigen aber, wenn die Zeiten kritisch wurden, sich dem fügten, der das Heft in die Hand bekam." (Stenographischer Bericht S. 767).

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

191

nicht gewöhnen konnten. Allerdings konnte Bismarck von einem sehr großen Theile der nationalliberalen Partei behaupten, daß sie auf seinen Namen gewählt seien, nicht blos in denjenigen preußischen Provinzen und deutschen Staaten, in denen gouvernemental und nationalliberal schon längst als gleichbedeutend angesehen war, sondern auch in manchen derjenigen Wahl­ kreise der alten Provinzen Preußens, wo die bisherigen Konservativen wesentlich deshalb beseitigt werden konnten, weil sie beim Schulaufsichts­ gesetz Bismarck den Gehorsam versagt hatten. Allein es gab doch auch viele Nationalliberale, in deren Wahlkreisen eine feste liberale Meinung, die auch an Bismarcks Handlungen eine strenge Kritik zu legen gestattete, die herrschende war. Die Fortschrittspartei dachte deshalb weniger ängstlich an die Möglichkeit einer Auflösung des Reichstags. Diese konnte nur stattfinden, wenn die Regierung auf den § 1 bestand, und der linke Flügel der Nationalliberalen, etwa 30 Mann stark, standhaft blieb. Die Auf­ lösung hatte dann die Lossprengung dieses linken Flügels von der gouvernementalen Rechten und ein Wahlbündniß desielben mit der Fortschrittspartei zur Folge. Daß ein solches Bündniß in den alten Provinzen Preußens und in den mitteldeutschen Kleinstaaten Bismarcks Zorn nicht zu fürchten habe, sobald es Aufrechthaltung des Budgetrechts, Abkürzung der Militärdiestzeit, besiere Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht auf die Fahne schreiben konnte, — darüber war unter den in Wahlangelegenheiten sach­ verständigen Mitgliedern der Fraktion gar kein Zweifel. Um die Position des linken Flügels der Nationalliberalen zu stärken, beschloß die Fraktion der Fortschrittspartei in ihrer letzten Sitzung vor den Ferien (27. März), alle andern, mehr technischen Differenzpunkte beim ersten Abschnitt des Militärgesetzes, insbesondere auch zu § 2 (Kadreszahl), welche bei den Kommissionsberathungen die Fortschrittspartei und den linken Flügel der Nationalliberalen seither trennten, fallen zu lassen und alle Kraft zu konzentriren, um an der politisch entscheidenden Stelle den Militärabsolu­ tismus .abzuwehren.. Auf. nochmalige. Berichterstattung der. der Militär­ kommission angehörenden Parteigenossen sprachen sich die in der Fraktions­ sitzung Anwesenden einmüthig für den von den Kommissionsmitgliedern in der Hauptfrage festgehaltenen Standpunkt aus; auch der Reichstag sei seinem Nachfolger gegenüber verpflichtet, überkommene Rechte als Erbtheil ungeschmälert zu erhalten, nur das Volk nach Auflösung des Reichstags, nicht seine jetzigen Vertreter, sei berechtigt, die Mitwirkung der Volksver­ tretung bei Bestimmung des für den Haushalts maßgebenden Präsenzstandes der Armee schmälern zu lassen. Zn der sichern Erwartung, daß in den Ferien auch auf die fortschritt­ lichen Abgeordneten auf jede Weise im Sinne der Regierung eingewirkt werden würde, ließ die Fraktion als „Notizen zur Militärfrage" eine das thatsächliche Material zur Widerlegung der unwahren Behauptungen der Gegner enthaltende vom 27. März datirte Zusammenstellung des Abgeord­ neten Eugen Richter drucken. Die Hoffnung einer friedlichen, das Budgetrecht nicht schädigenden Lösung der Militärfrage wuchs noch, als am 30. März der Reichstags­ präsident von Forkenb eck zum Kaiser berufen wurde, ihm über den Stand der Frage Vortrag zu halten. Vielleicht trug dieser Umstand dazu bei,

192

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

daß nunmehr die ganze Schaar der Kostgänger des Reptilienfonds gegen die „reichsfeindliche" Haltung der Fortschrittspartei und des Lasker'schen Fähnleins losgelassen wurde. Die Wirkung war eine überraschende. Kaum hatte die offiziöse Provinzialkorrespondenz unter Bezugnahme auf die War­ nungen und Mahnungen, die der Reichskanzler auf seinem Schmerzenslager an das deutsche Volk gerichtet habe, die ganze nationale Entwickelung als gefährdet dargestellt und von der Volksvertretung an den deutlich bei den Wahlen kundgegebenen Volkswillen, — an die große Mehrheit des deutschen Volkes appellirt, — da ging die Bewegung los, von welcher Bennigsen sagte, daß „auf dem rein politischen Gebiete eine so primitive und starke Bewegung seit dem Jahre 1848 nicht dagewesen sei" (Stenogr. Bericht S. 758). „Wenn eine Agitation" — erwiederte Richter — „in dieser Weise (durch Aeußerungen hochgestellter Personen, „von der offiziösen Welt in tendenziöser Weise zugespitzt, systematisch kolportirt, und benutzt, um die Leidenschaften im Volke anzufachen") angefacht wird, wenn das ganze Spiel der Offiziösen gerührt wird, die offiziöse Presse und die offiziöse Telegraphie wetteifern, wenn die Beamten der untern Instanzen nachhelfen, dann ent­ steht allerdings in Deutschland ein Getöse, das für die schwachen Nerven von Manchen zu stark und das wohl geeignet ist, diesen oder jenen zu betäuben." (Stenogr. Bericht S. 768).*) Manches, unter nationalliberaler Flagge segelnde Blatt entpuppte sich als Reptilienblatt, aber auch der letzte Rest der unabhängigen national­ liberalen Zeitungen, voran die Nationalzeitung, ging mit Pauken und Trompeten in das feindliche Lager über.**) Den kläglich durch heimliche Einladungen zusammengetrommelten Versammlungen der Börsenmänner Hamburgs und Bremens folgten liberale Wählerversammlungen in Baden und Würtemberg, in Hannover, Westfalen und der Rheinprovinz, sowie in der Pfalz; — überall in den westlichen an Frankreich grenzenden Gauen Deutschlands, wo der Kampf gegen die Klerikalen die übrigen Wähler ge­ einigt hatte, ließ sich mit Redensarten über die Schädigung der Wehrkraft der Nation etwas anfangen. *) Man vgl. auch, was Dr. Löwe (S. 791) über das Gefährliche in dieser Stimmung und Dr. Lasker über die Folgen derselben (S. 797) gesagt hat. **) Moritz Wiggers schilderte in einem eingehenden Berichte in der Vossischen Zeitung am 16. April das Verhalten der Fortschrittspartei gegenüber dem Militär­ gesetze. Darin find die Ereignisse der Osterferien bis zum Wiederzusammentritt des Reichstags am 9. Oktober folgendermaßen geschildert: . . . „Es galt, den neuge­ wählten Reichstag zu bewegen, daß er sein hauptsächlichstes konstitutionelles Recht dauernd aufgebe und sich selbst für immer zur Ohnmacht verurtheile und zu einer im Wesentlichen blos berathenden Körperschaft degradire. Was im Wege der Güte nicht zu erreichen war, das sollte der Appell an die Furcht, der schon öfter mit Erfolg in die Szene gesetzt ist, zu Stande bringen. Der Konflikt ward kurz vor Ostern vom Krankenbett des Reichskanzlers aus in gewisse Aussicht gestellt. Trom­ melwirbel und Trompetengeschmetter von allen Seiten. Dies wirkte. Die national­ liberale Presse gab ihren Widerstand auf uud ging mit ins Regierungslager über. Dieselben Blätter, welche bisher energisch den Kampf für das konstitutionelle Recht des Reichstages geführt hatten, erklärten auf einmal diejenigen Abgeordneten, welche gegen den Paragraphen stimmen würden, für Reichs feinde. Das eigent­ liche Sachverhältniß ward geflissentlich verdunkelt. Daß die ganze Frage gar keine militärische, sondern eine reine Budgetfrage sei, ward auf alle Weise ver­ tuscht. Die klare und unumwundene Behauptung des jetzigen Reichstagspräsidenten,

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

193

Ein Nationalliberaler nach dem andern kapitulirte, *) — und nur Wenige blieben den Wählern gegenüber standhaft oder veranlaßten sie, vor­ sichtigere Resolutionen, z. B. für eine mehrjährige Bewilligung und gegen eine dauernde Beseitigung des Budgetrechts zu fassen; — so auf Stauffen­ berg's Veranlassung in München. Die Presse hatte also Recht behalten, wenn sie in den Oslertagen meinte, die Angelegenheit könne durch die große Volksbewegung, „wie, wenn eine förmliche Appellation an die Wähler er­ folgt wäre, bereits als entschieden gelten" (Nationalzeitung). Zn den Ferien waren Seitens der nationalliberalen Führer die Unter­ handlungen mit der Regierung über ein Kompromiß lebhaft fortgesetzt. Die Regierung blieb standhaft. Die „reichstreuen" Parteien sollten sicher die Mehrheit haben, — von der Fortschrittspartei selbst würden mindestens eben so viel für die ewige Präsenz stimmen, als die Minderheit der Nationalliberalen betrüge. So schrieb ein angesehener nationalliberaler Kor­ respondent noch aus der ersten Sitzung des wiedereröffneten Reichstags am 9. April, zugleich aber hervorhebend, daß trotzdem die unerhebliche Zahl, der Unentschiedenen, welche den Ausschlag gäben, nicht völlig zu übersehen sei. — Lasker und Genossen, welche selbstverständlich mit den Freunden in der Fortschrittspartei einen regelmäßigen vertraulichen Verkehr unter­ des langjährigen Führers der nationalliberalen Partei, welche derselbe in der Sitzung des norddeutschen Reichstags aufstellte, daß eine dauernde Fixirung der Friedens­ präsenzstärke einer Vernichtung des Budgetrechts gleichkomme, ward anders zu deuteln versucht. Die fortschrittliche Presse hatte zum großen Theil den Kampf wieder den § 1 zu spät ausgenommen. Der Bericht der Kommission über das Militärgesetz enthielt keine Motive" [e§ war nur die Zusammenstellung der Beschlüsse vertheilt, und mündlicher Bericht beschlossen^ „und konnte daher auch daraus keine Belehrung über die wirkliche Sachlage geschöpft werden. Die Mitglieder des Reichstags reisten zu Ostern in die Ferien, und die Freunde des § 1 wußten diese Mußezeit geschickt für sich auszubeuten. Wären die nationalliberalen Mitglieder, welche früher auch fast sämmtlich Gegner des § 1 waren und zum Theil sogar in den Wahlreden sich für die zweijährige Dienstzeit ausgesprochen hatten, in ihren Wahlkreisen gegen den­ selben aufgetreten, anstatt, wie theilweise geschehen, für denselben zu wirken, so würden sie dieselben Erfolge erzielt haben, welche das Auftreten der fortschrittlichen Mit­ glieder in ihren Wahlkreisen aufzuweisen gehabt hatte. Die geschickte Agitation der Freunde des § 1 erzeugte nun in Verbindung mit der offiziösen und nationalUberalen Presse eine künstliche Strömung zu Gunsten desselben. Durch Resolutionen, Adressen und Briefe ward auf die Abgeordneten einzuwirken versucht. Das arme Volk wußte nicht, daß es damit für sich selbst die Fesseln zu schmieden half und dazu benutzt ward, die Rechte des Reichstages, welche ja seine eigenen Rechte sind, zu verkümmern. Unter diesen für die Gegner des § 1 so ungünstigen Umständen, trat der Reichstag am Donnerstag den 9. April wieder zusammen" re. — Die er­ götzlichste Geschichte von der Kundgebung des Volkes ist die von der Hamburger Börsenversammlung, zusammengetrommelt auf heimlische Einladung eines Komite's, (voran die Besitzer der Nordd. Allg. Zeitung, zwei Kaufleute, die durch Ankauf dieser Zeitung und Unterhaltung derselben als offiziösen Blattes, ihren großen Patriotismus bekundet hatten und auf ihren Wunsch geadelt waren), angemeldet im Voraus durch den Telegraphen als öffentliche Versammlung; — die fortschrittlichen Blätter Hamburgs, das Fremdenblatt und die Reform, erwarben sich durch Dar­ legung des kläglichen Schwindels ein wirkliches Verdienst. *) „Thatsache ist es, daß viele Abgeordnete aus den Ferien mit andern Ansichten aus der Heimath zurückgekehrt sind, als diejenigen waren, mit denen sie vor Ostern von hier schieden. Die Majorität der Wähler will keinen Konflikt mit der Re­ gierung und hat ihren Abgeordneten ausdrücklich den Wunsch ausgesprochen, in diesem Sinne bei der Abstimmung zu verfahren" (Spenersche Zeitung vom 9. April).

Parisius.

13

194

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874

hielten, gaben an diesem Tage in tiefer Betrübniß Nachricht, die Linke ihrer Partei sei zu einem kleinen Fähnlein zusammengeschmolzen, — da der Opposition die sieben französisch gesonnenen Elsaß-Lothringer von der Protestpartei fehlen würden, schiene eine kleine Mehrheit für die Regierung bereits gewonnen zu sein; dennoch sei die Hoffnung noch vorhanden, einen Vergleich auf drei-, vier- oder fünfjährige Bewilligung der Präsenzziffer abschließen zu können: alles komme darauf an, ob man in der am Abend stattfindenden entscheidenden Fraktionssitzung der nationalliberalen Partei die bestimmte Versicherung abgeben dürfe, daß die Fraktion der deutschen Fortschrittspartei bis auf den letzten Mann, also mit allen 49 Stimmen, den unveränderten § 1 der Regierungsvorlage verwerfen werde, falls kein Kompromiß zu Stande käme. Lediglich um dies zu konstatiren, wurde eine Stunde vor der nationalliberalen eine fortschrittliche Fraktionssitzung berufen. Zn dieser wurde die Frage scharf dahin gestellt: ob man dem Abgeordneten Lasker von jedem Einzelnen erklären könne, er werde auch dann festbleiben, wenn die Auflösung des Reichstags oder der Rücktritt des Reichskanzlers an die Verwerfung des § 1 geknüpft würde. Zur Ueberraschung und Betrübniß der großen Mehrzahl wurde diese Erklärung von fünf Mitgliedern — Dr. med. Zinn für Kaiserslautern (Nheinpfalz), Dr. Heine für Landkreis Leipzig, Professor Dr. Baumgarten für Rostock, Hüttenbesitzer Kreutz für Iserlohn und Oberlehrer Schmidt für Stettin — mit verschiedener Motivirung nicht abgegeben. Zugleich versicherte Dr. Zinn, daß sein noch abwesender pfälzischer Landsmann Dr. med. Groß für Frankenthal mit ihm übereinstimme. Zinn, Groß, Heine und Baumgarten hatten sich zur Zeit der Wahl noch nicht als Mitglieder der Partei be­ trachtet; sie waren nicht auf ihren Namen, sondern nur als Liberale gewählt; ihr Zusammenhang mit der Partei war noch ein lockerer. Aehnlich stand es mit Kreutz, der lange Zeit im preußischen Landtage zum linken Zentrum gehört hatte, und erst jetzt in die Landtags- und Reichstagsfraktion ge­ treten war. Die Fraktion trennte sich in großer Aufregung; das unerfreuliche Resultat wurde dem Abgeordneten Lasker sofort mitgetheilt. Die Sitzung der nationalliberalen Fraktion folgte. Es fehlten „von den 152 Mitgliedern nur Wenige; die Anhänger und Gegner des § 1 platzten heftig auf ein­ ander"*). Das Fähnlein der bei Lasker Ausharrenden war bis auf 15 bis 18 Mann zusammengeschmolzen. Bestimmt gehörten dazu Dr. Dernburg für Offenbach, Bürgermeister Fr id er ich für Durlach, Dr. Kapp für Salzwedel-Gardelegen, Dr. Oppenheim für Neuß-Greiz, Landwirth Pflüger für Lörrach, Rittergutsbesitzer Schulz-Boossen für GubenLübben, Freiherr Schenck zu Stauffenberg für München, Geh. Ober­ regierungsrath a. D. Wulfshein für Potsdam, Rechtsanwalt Wölfel für Merseburg.

Lasker, entmuthigt durch die Mittheilungen aus der deutschen Fort­ schrittspartei, und in der hinreichend begründeten Besorgniß, daß die Re­ gierung, wenn sie die Kabinetsfrage stelle, d. h. Auflösung des Reichstages androhe, unbedingt die Mehrheit bekommen werde, willigte nach heftigen

*) Nach dem Briefe eines Reichstagsabgeordneten in Nr. 168 der Spenerschen Zeitung.

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

195

Debatten in das „Septennat", d. h. in die Feststellung der Friedenspräsenz­ ziffer von 401,659 Mann für die Zeit vom 1. Zanuar 1875 bis zum 31. Dezember 1881. Für den Fall, daß die Reichsregierung dies akzeptire, verpflichteten sich sämmtliche Mitglieder der nationalliberalen Fraktion hierfür zu stimmen, wodurch mit Hülfe der Freikonservativen und Konser­ vativen eine anständige Mehrheit gesichert war. Bennigsen wurde be­ auftragt, hiervon dem Reichskanzler Mittheilung zu machen. Daß die Re­ gierung dieses Anerbieten nimmermehr ablehnen könne, war für jeden ein­ sichtigen Politiker außer Zweifel. Nachdem noch eine wenig erhebliche Diffe­ renz über die Kommunalsteuerpflicht der Offiziere beseitigt war, wurde das Kompromiß am Freitag Nachmittage (10. April 1874) abgeschloffen. Die nationalliberale Fraktion hatte von ihrem Beschlusse der Fortschritts­ partei keine Kenntniß gegeben, sie also von der Theilnahme an den Kom­ promißverhandlungen ausgeschlossen. Die Fortschrittspartei hielt nun am Freitag Abend ihre Fraktionssitzung ab, um über die Stellung zu berathen, welche sie zu dem Kompromiß nehmen solle. Da man von Lasker und Genossen erfahren hatte, daß bei Einstimmigkeit der Fortschritts­ partei die Ermäßigung der Zeitdauer für die Präsenzziffer von sieben auf vier, höchstens fünf Jahre, also auf eine Frist, deren Ablauf in die nächste ordentliche Legislaturperiode des Reichstages fiele, wahrscheinlich durch­ zusetzen gewesen wäre*), so war eine gewisse Erregung gegen die dissidentischen Fraktionsmitglieder erklärlich und entschuldbar. Sie richtete sich namentlich gegen den Abgeordneten Schmidt, der sich seit Zahr und Tag im Landtage und im Reichstage mehr und mehr der Fraktion entfremdet hatte, und gegen den Abgeordneten Dr. Zinn, der in der kurzen Zeit, in der er der Fraktion angehörte, in ihr nicht heimisch geworden war. Man hatte den Austritt derselben aus der Fraktion erwartet; „wir würden aller­ dings" — sagte Richter in seiner Rede vom 14. April — „wenn die Frage überhaupt zur Entscheidung gekommen wäre, ob der tz 1 unver.än.dert .anzunehmen.sei. od.er nicht, .zwischen uns und .denjenigen, die.sich auch so weit vor der Regierung gebeugt hätten, ihr so weit entgegen­ gekommen wären, — mit denen würden wir geglaubt haben, eine engere politische Gemeinschaft in diesem Reichstage nicht fortsetzen zu können." Der Austritt war nicht erfolgt; kein Wunder also, daß am Freitag Abend, wo namentlich der Abgeordnete Dr. Zinn sich an den Diskussionen lebhaft betheiligte, ältere Parteimitglieder in erregter Stimmung auf die prinzipielle Verschiedenheit der betreffenden Herren von der Fraktion deutlich Hinwiesen. Die Fraktion beschloß nun mit sehr großer Mehrheit (die später Dissentirenden fehlten meistens), das vereinbarte Septennat zu verwerfen und am vollen Budgetrecht des Reichstags festzuhalten. Aber „um keinen Zweifel darüber aufkommen zu lassen, daß die Partei im gegenwärtigen Augenblicke keine Verminderung der militärischen Stärke wolle, ward die Bewilligung der von der Regierung geforderten Friedenspräsenzstärke für *) Im Reichstage erklärte Lasker am 14. April 1874 (Stenogr. Berichte S. 797) ausdrücklich, daß die lebhafte Bewegung im Volke einige Tage lang den Weg der Verständigung, erschwert, und sehr wahrscheinlich die Folge gehabt habe, daß die Dauer der Zifferbewilligung um einige Jahre höher gegriffen worden sei.

196

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

das Zahr 1875 in ihrem Anträge ausgenommen", der vorbehaltlich der Redaktion zum Beschluß erhoben wurde und in einer auf den Sonntag Abend (12. April) ausgeschriebenen Fraktionssitzung definitiv festgestelll werden sollte. Aus den Diskussionen der Freitagssitzung ging übrigens hervor, daß eine große Zahl Mitglieder, wahrscheinlich die Mehrheit der Fraktion, sich schlimmsten Falls für ein Kompromiß auf Grund der Fixirung der Friedenspräsenzstärke für die Dauer der Legislaturperiode ent­ schlossen haben würde.*) Von mehreren Seiten wurde dies auch anfänglich

beantragt; da man aber einem definitiven Kompromiß, an welchem sich nichts mehr ändern ließ, bereits gegenüberstand, so erschien eine andere Kompromißofferte völlig nutzlos und man gab sie allseitig auf. Am Sonnabend trat für die Fraktion der Fortschrittspartei ein un­ erwarteter Zwischenfall ein. Die Fortschrittspartei hat weder im preußi­ schen Abgeordnetenhause, noch im deutschen Reichstage jemals den soge­ nannten Fraktionszwang gekannt, also die von den meisten Fraktionen, auch von der naüonalliberalen, getroffene statutarische Bestimmung, daß die Entscheidung über eine wichtige Frage durch eine höhere als absolute Mehrheit mit der Wirkung zur „Fraktionssache" erhoben werden kann, daß kein Mitglied bei Vermeidung der Ausschließung im Plenum dagegen stimmen darf. Dem entgegen lautet die seit der im Januar 1862 erfolgten Konstituirung der Fraktion der deutschen Fortschrittspartei im Abgeordneten­ hause festgehaltene Bestimmung der Geschäftsordnung: „Die Einheit der Fraktion in ihren politischen Grundsätzen bürgt dafür, daß die Beschlüsse ihrer Majorität im Plenum des Hauses befolgt werden. Sollten in einzelnen Fällen Mitglieder der Fraktion sich in ihrem Gewiffen gezwungen fühlen, gegen die Beschlüsse der Majorität im Hause zu stimmen, so müssen sie ihre Absicht in der Versammlung der Fraktion kurz anzeigen oder in der nächsten Versammlung der Fraktion die dissentirende Abstim­ mung mit kurzen Worten rechtfertigen." Bei dieser den Mitgliedern ge­ statteten Berechtigung, ihre Meinung nicht der ihrer Freunde unterzuordnen, wird in der Fortschrittspartei um so mehr darauf gehalten, daß eine andere Bestimmung der Geschäftsordnung beobachtet werde, wonach die Fraktions­ genossen Anträge anderer Parteien nicht ohne voraufgehende Anzeige unter*) Vgl. Richter's Rede vom 14. April (Stenogr. Berichte S. 770, sowie 769, namentlich folgende, oft von vielstimmigem Beifall unterbrochene Stelle: „Und gesetzt den Fall, alle diese Kundgebungen hätten es bewirkt, daß eine Bewilligung, die früher vielleicht nur auf drei, vier, fünf Jahre erfolgt wäre, nunmehr auf sieben Jahre er­ folgt, — m. H, steht wirklich der Preis im Verhältniß zu dem bösen Beispiel, welches für die Behandlung öffentlicher Angelegenheiten in Deutschland gegeben worden ist? — Fällt nicht jetzt, nachdem die Regierung nachgegeben, die Uebertreibung der Offi­ ziösen mit auf die Regierung zurück? Glauben Sie denn, daß so leicht wie es ist, diese offiziöse Jagd zurückzupfeifen, es auch ist, der bethörten Menge vorzustellen, warum eine Modifikation des § 1, die am Freitag noch als Landesverrats ausgegeben wurde, am Sonnabend schon vereinbarlich gewesen ist mit einem ausgezeichneten Patriotismus? Glauben Sie wirklich, daß, wenn bei einer siebenjährigen Bewilligung der Patriotismus unzweifelhaft ist, man dann noch ferner der Menge vorhalten kann, daß derjenige, der dieselbe Ziffer nur für die budgetmäßige Periode bewilligen will, ein Reichsfeind, ein Landesverräther ist?" — Dem Texte ist die Darstellung von Moritz Wiggers in der Vossischen Zeitung zum Grunde gelegt.

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

197

stützen dürfen. Entgegen dieser Bestimmung hatten nun die sechs oben namhaft gemachten Abgeordneten, (darunter Dr. Groß, der an den Tagen zuvor noch nicht anwesend gewesen war, auf Veranlassung des Dr. Zinn), den Antrag des Abg. Bennigsen auf das Septennat, zugleich mit 133 nationalliberalen Abgeordneten unterschrieben. Zn der Fraktionssitzung am Sonntag Abend, zu deren Beginn der Abg. Kreutz seinen Austritt er­ klärte) kam es nun zu einer langen zum Theil erregten Debatte. Als dieselbe geschloffen war, konstatirte der Vorsitzende Moritz Wiggers, daß die thatsächlichen Erörterungen das Verfahren, nicht blos des Abgeordneten Groß, von dem man dies von vornherein annahm, sondern auch der Uebrigen entschuldigten, da sie ohne Kenntniß der Geschäftsordnung waren, — mit alleiniger Ausnahme des Abg. Schmidt-Stettin, der sich in dieser Beziehung auf Unkenntniß nicht berufen könne. Erst jetzt und unter ausdrücklicher Abwehr des Zusammenhangs mit der voraufgehenden Debatte erklärte Dr. Löwe-Calbe seinen Austritt aus der Fraktion,*) nach ihm der Abg. Berger, — und nun auch die Ab­ geordneten Zinn, Groß, Heine und Schmidt. Die Fraktion formulirte ihr Amendement und brachte es als Fraktionsantrag (Ausfeld und Genossen) mit 34 Unterschriften ein.**) Zu Fraktionsrednern wurden Eugen Richter und Schulze-Delitzsch bestimmt. Am 13. und 14. April 1874 fand die zweite Berathung des Reichs­ tags über § 1 des Militärgesetzes statt. Nach dem ersten Redner, Ab*) Dr. Löwe führte an, daß ihm sein Gesundheitszustand aufregende Fraktions­ sitzungen zu besuchen nicht erlaube, er war in der entscheidenden Donnerstagssitzung nicht zugegen gewesen. Er stimmte zwar für das Septennat, erklärte aber m seiner Reichstagsrede vom 14. April, daß der § 1 nach der Regierungsvorlage niemals von einem Parlament angenommen werden könne, ohne daß man auf die schlimmsten Wege für die Sicherheit, für die Einheit und für die friedliche Entwickelung unseres Vaterlandes gerathe. Berger hatte seinen Wählern öffentlich erklärt, daß er eher sein Äandat niederlegen,' als dem unveränderten §1 der Regierungsvorlage an­ nehmen werde. **) Von den früheren 49 Mitgliedern hatten nicht unterzeichnet: a) die 6 Ab­ geordneten, die das Amendement Bennigsen unterschrieben hatten und von denen der Abg. Baumgarten erst am 14. April aus der Fraktion schied; b) die aus­ geschiedenen Abgeordneten Löwe und Berger; e) die Abgeordneten Spielberg für Halle und Lorentzen aus Schleswig-Holstein, die an den voraufgegangenen Fraktionssitzungen nicht Theil genommen hatten und jetzt ihren Austritt erklärten, nicht wegen der Militärfrage, sondern, weil sie — frühere Mitglieder des linken Zentrums — in anderen politischen Grundanschauungen von der Fraktion differirten; d) die Abgeordneten Knapp aus Nassau und Roland für Weißenfels-Zeitz-Naumburg, welche-für das Septennat stimmten; e) die erkrankten Abgeordneten Donath für Osterode-Neidenburg, Föckerer für Schwabach-Ansbach und von Kirchmann für Breslau, von denen nur letzterer an der Schlußabstimmung theilnahm und gegen das Gesetz stimmte. Zu den Unterzeichnern des fortschrittlichen Antrags ge­ hörten die Abgeordneten Allnoch für Brieg und Kisker für Bielefeld, welche in erster Linie für den Antrag ihrer Partei, aber als dieser verworfen war, für den Antrag Bennigsen und in der Schlußabstimmung für das ganze Gesetz stimmten; ferner der Abg. Klöppel für Solingen, der in der zweiten Berathung mit der Fraktion, schließlich aber für das ganze Gesetz stimmte. Der Abg. Donath trat nach seiner Genesung aus der Fraktion aus. Im ferneren Laufe der Legislatur­ periode sind auch die Abgeordneten Roland und Klöppel, letzterer um in die Redaktion der Nationalzeitung einzutreten, aus der Fraktion geschieden.

198

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

geordneten von Bennigsen, erklärte der Kriegsminister vonKameke, daß die verbündeten Regierungen das Amendement von Bennigsen ännähmen, „weil sie der Ueberzeugung sind, daß die nach sieben Zähren ge­ wonnenen Erfahrungen dahin geführt haben werden, daß die heute geforderte Stärke dauernd erforderlich sei, und daß dann nach Ablauf der siebenjährigen Frist die nothwendige Stärke dauernd oder wieder aus längere Zeit bereitwilligst werde gewährt werden."

Nach zweitägigen Reden, an welchen für die Negierungen außer dem Kriegsminister vonKameke, der General von Voigts-Reetz und die Minister Delbrück und Camphausen, von den Reichstagsabgeordneten außer dem Referenten Miquel, von Bennigsen, von Treitschke, und Lasker von der nationalliberalen Partei, von den Freikonservativen Graf Bethusy-Huc, von den Konservativen von Maltzahn-Gültz und Graf Moltke, vom Zentrum Peter Reichensperger und von Mal­ linckrodt, von der Fortschrittspartei Eugen Richter, und außerdem Dr. Löwe als Wilder und der Sozialdemokrat Hasen clever sich betheiligten, wurden am 14. April die Anträge der Klerikalen und der Fort­ schrittspartei abgelehnt, und das Amendement von Bennigsen mit 224 gegen 147 Stimmen angenommen. Alle Parteien, mit alleiniger Ausnahme der deutschen Fortschrittspartei stimmten geschlossen. Es fehlten 26 Mitglieder, nämlich ein Konservativer, drei Nationalliberale, drei Fortschrittsmänner, vier Klerikale, ein Pole, ein Däne, zehn Elsaß-Lothringer und zwei Sozial­ demokraten, die verhafteten Bebel und Liebknecht. Die Fortschritts­ partei verbreitete Abdrücke der Rede Eugen Richters, da sie den patrio­ tischen Standpunkt der Partei gegen die Verleumdungen der gegnerischen Presse in überzeugendster Weise darlegte. Am 20. April 1874 fand die dritte Berathung des Militärgesetzes statt. Zum § 1 sprachen der Klerikale Jörg, die Nationalliberalen Dernburg und Gneist*), der Pole von Niegolewski, der Sozialdemokrat Motteler und für die Fortschrittspartei Schulze-Delitzsch. Letzterer sprach gegen den Militarismus, gegen die furchtbare Konkurrenz der Europäischen Staaten in Steigerung der Wehrkraft, für den Wettkampf der Völker in Bildung und Gesittung und nahm mit Recht die preußische Konfliktszeit in Schutz.

*) Ueber des Letzteren Rede und den Eindruck, den sie im Reichstage machte, wird in einer sachkundigen Korrespondenz jener Tage kaum zu streng Folgendes geurtheilt: „Man erwartete, daß der Präsident (nach Jörg) einem bayrischen Natio­ nalliberalen, Stauffenberg oder Völk das Wort ertheilen werde. Statt dessen erschien Gneist mit einem, wie immer, wohl auswendig gelernten, genau den Zeitraum von 40 Minuten (Dauer einer Berliner Universitätsvorlesung) ausfüllenden staatsrecht­ lichen Vortrage auf dem Plan. Er knüpfte nur in kleinen Nebenpunkten an Jörgs Rede an, wiederholte aber mit um so größerer Breite den bereits bei der ersten Lesung von ihm gehaltenen Vortrag. Mit Unverfrorenheit repetirte der Herr Professor alle thatsächlichen Behauptungen, die ihm in der Militärkommission als falsch nachgewiesen waren, und appellirte schließlich an Gott, der weiter helfen werde. Indeß machte Gneist keine andere Wirkung, als daß er den Unwillen seiner Parteigenossen hervor­ rief, welche ihn mit den lautesten Vorwürfen empfingen, weil er statt für das Amen­ dement Bennigsen für den unveränderten § 1 der Regierungsvorlage gesprochen hatte."

Kulturkampf und Militärgesetz — von 1870 bis 1874.

199

Kein Beispiel in der Geschichte gäbe es, wo Völker anders als durch schwere innere Kämpfe zur Feststellung ihrer Freiheiten gelangt wären. Ohne den preußischen Militärkonflikt, ohne das zähe Festhalten der Volksvertretung an ihren Forderungen, auch nach einer Anzahl Auflösungen, wären die leitenden Staatsmänner in Preußen und Deutschland nimmermehr dahin gelangt, die Zugeständnisse in Verfassung und Gesetzgebung zu machen, von denen aus eine weitere Entwicklung in unserem Vaterlande möglich sei. Nur eine Volksvertretung, welche im Stande sei, den Regierungen Achtung vor ihrer zähen Widerstandsfähigkeit einzuflößen, könne Konzessionen zur Herstellung dauernder, wirklich befriedigender politischer Zustände erringen. — Zn der Schlußabstimmung wurde das Reichsmilitärgesetz mit 214 gegen 123 Stimmen angenommen.

Siebentes Kapitel. Fürst Bismarck und seine Stellung zu den politischen Parteien im April 1874. Die Verhandlungen und Beschlüsse des Deutschen Reichstags und seiner Fraktionen über den § 1 des Reichsmilitärgesetzes bilden einen Wendepunkt in der parlamentarischen Geschichte Deutschlands und Preußens, einen Wendepunkt insbesondere in dem Verhältnisse der politischen Parteien unter einander und zum Reichskanzler Fürsten Bismarck. Diese Anschauung mag den meisten Betheiligten noch heute befremdlich erscheinen; wir selbst haben sie erst während des Kampfes um die Reichsjustizgesetze im Dezember 1876 gewonnen. Bismarck ist seinen konservativen Grundanschauungen stets und immer­ dar treu geblieben. Freilich wichen diese, als er im Herbst 1862 den preußischen Ministerpräsidenten-Posten übernahm, in vielen Punkten erheb­ lich von den landläufigen Vorstellungen der preußischen Konservativen, der Kreuzzeitungspartei, ab. Diese glaubten dazumal noch an einen Beruf Preußens, in Eintracht mit Oesterreich jedem deutschen Kleinfürsten seinen Thron zu konserviren; sie gestatteten nur die „Einigkeit unsers deutschen Vaterlandes in der Einigung seiner Fürsten und Völker und in Festhal­ tung an Obrigkeit und Recht"*), einschließlich der deutschen Bundesakte. Solche Vorurtheile des preußischen Kleinjunkerthums hatte Bismarck längst überwunden; sein Brief vom 28. September 1866 ergiebt, daß er damals bereits den „ganz unhistorischen, gott- und rechtlosen Souveränitätsschwindel der deutschen Fürsten" verachtete und die Bundesverfassung für ein un­ sinniges Treib- und Konservirhaus gefährlicher und revolutionärer Partiku­ larbestrebungen ansah (S. 43), — daß er also in der deutschen Frage, soweit es sich um die Ziele handelte, auf dem gleichen Boden mit der deutschen Fortschrittspartei stand. Keine Schmälerung der Rechte der Krone gegenüber der Volksvertre­ tung, — kein parlamentarisches Regiment, sondern „persönliches Königsthum von Gottes- nicht von Verfassungs-Gnaden", — diese preußisch-kon­ servativen Grundsätze hat Bismarck niemals verleugnet. Bedurfte er in seinen Plänen für die Einheit und Macht des Vaterlandes liberaler Unter­ stützung, so trug er kein Bedenken, Zugeständnisse zu machen, welche einmal *) Programm des Preußischen Volksvereins vom September 1861, s. oben S. 42.

Fürst Bismarck und seine Stellung zu den politischen Parteien.

201

bestehende verfassungsmäßige Rechte des Volkes und der Volksvertretung befestigten, — aber jeder Vermehrung derselben widerstand er hartnäckig. Die alte konservative Partei Preußens ist — den Ueberlieferungen des altpreußischen Kleinadels entsprechend — in wirthschaftlicher Beziehung frei­ händlerisch gesonnen. Es war daher keine Abweichung von konservativen Prinzipien, wenn Bismarck dem unermüdlich thätigen Präsidenten des Bundes­ kanzleramtes D elbrück im Norddeutschen Bunde die Wirthschaftspolitik über­ ließ. Die Vorurtheile der Konservativen zur Zeit der Landrathskammern gegen die Gewerbefreiheit, gegen die Aufhebung der Zinsverbote, für die Bevormundung des Verkehrs durch Polizei und Bureaukratie hatte nicht Bismarck allein, sondern auch ein respektabler Theil der konservativen Partei als irrthümlich erkannt. Hielt doch Moritz von Blankenburg, Bismarck's treuer Jugendfreund, für das Aktiengesetz vom Juni 1870 im Reichstage eine ganz vortreffliche Rede. Erst im sogenannten „Kulturkämpfe" mußte Bismarck mit wirklich kon­ servativen Ueberlieferungen brechen und sich den hochkirchlichen Schaaren ent­ fremden, die seit Anfang der vierziger Jahre, wenn nicht die eigentlichen Träger, so doch die allzeit tapfern Streiter, die todesmuthigen Vorkämpfer des altpreußischen Konservatismus gewesen waren. Aber der Kampf gegen die Klerikalen war ihm aufgedrungen. Ohne das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit hätte Bismarck aller Wahrscheinlichkeit nach auch im deutschen Reiche die unter Raumer und Mühl er in Preußen immer stärker ge­ wordene Bevorzugung der katholischen Kirche walten lassen und noch mehr Ur­ sache bekommen — um seine eigenen Worte zu gebrauchen — „seine Fried­ fertigkeit zu bereuen". Wenn er bis zum Unfehlbarkeitsdogma „die Jesuiten in stärkerem Maße begünstigt hat, als für einen preußischen Minister zu­ lässig ist"*), so stieß er damit nirgends bei den strenggläubigen Evange­ lischen an, und erntete den Dank der katholischen Kirche, die überall die Freundschaft, der Regierungen sucht und. sich .gern und. willig den Forde­ rungen und Wünschen derselben anschließt, — bestrebt, durch scheinbare Nach­ giebigkeit und Unterwürfigkeit gegen die Gewalt sich die Wege zur Herrschaft zu ebnen. Ohne das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit wären liberale Errungenschaften, wie die Einführung der Zivilehe und der Standesregister und die Lockerung der Verbindung von Schule und Kirche durch das Schul­ aufsichtsgesetz, noch für lange Zeit fromme Wünsche geblieben.

Aber der wirkliche Kern des Unterschiedes zwischen konservativ und liberal beruht in Preußen und Deutschland auf die Anschauungen über die Stellung der Volksvertretung zur Krone. Bis auf den heutigen Tag ist bei uns noch nicht die leiseste Spur von der Entstehung einer konserva­ tiven Partei des konstitutionellen Staats zu entdecken, von der Entstehung einer Partei, welche bereit ist, die einmal verfassungsmäßig vor­ handenen Rechte der Volksvertretung selbst gegen die Uebergriffe der Krone mannhaft zu vertheidigen. Unsere Konservativen stehen noch so außerhalb konstitutioneller Anschauungen, daß ihnen jede Vermehrung der Rechte der Krone, jede Verminderung der Rechte des Volkes und seiner Vertreter als *) Seine Rede im Herrenhause vom 24. April 1873 — s. oben S. 144 Anm.

202

Fürst Bismarck und seine Stellung

echt konservativ gilt. Auch der begeistertste Bewunderer Bismarcks wird anerkennen müssen, daß derselbe in dieser Beziehung niemals aufgehört hat, konservativ zu sein. Der sogenannte Konflikt, der Kampf um das Budgetrecht gegenüber dem Militarismus, von 1862 bis 1866, war der eigentliche Kampf des altpreußischen Liberalismus mit dem altpreußischen Konservatismus. Die deutsche Fortschrittspartei der Konfliktsjahre, welche den durch die Unent­ schiedenheit der Altliberalen erschwerten Kampf mit Entschiedenheit auf­ nahm, hatte in demselben andauernd das ganze Bürgerthum Preußens hinter sich: für das liberale Bürgerthum war es der Kampf um die be­ schworene Verfassung, um den verfassungsmäßigen Rechtsstaat, — für den konservativen Adel der Kampf für die Krone gegen den verderblichen „Parla­ mentarismus", der Kampf für den König von Gottes Gnaden gegen die Herrschaft der Demokratie. Der Kampf blieb unentschieden. Die konserva­ tiven Heißsporne hatten gehofft, nach dem gegen die Meinung der Fortschritts­ partei angezettelten und so glorreich zu Ende geführten siebentägigen Kriege werde Bismarck dem „Parlaments-Schwindel" ein Ende machen; statt befielt mußten sie erleben, daß Bismarck Indemnität forderte und daß die Hälfte der Liberalen diese sogar noch verweigerte. Bismarck wußte sehr wohl, daß das Jndemnitätsgesuch nicht zu umgehen war, da in Betreff des budget­ losen Regiments der preußische Liberalismus fest auf seinem Rechte bestand.*)

Bei Vorlegung der Norddeutschen Bundesverfassung machte er den Ver­ such, die in Preußen — durch die Schuld der konservativen Revisions­ kammern — auf das dürftige Surrogat des Ausgabenbewilligungsrechts zusammengeschrumpfte Steuerbewilligung, dieses von Gott und Rechts wegen der Landesvertretung jedes konstitutionellen Staates gebührende erste Grund­ recht, vollständig zu beseitigen**); ob er wirklich auf Erfolg gehofft hat, wird man wol nie erfahren. Der Versuch scheiterte in der Hauptsache an der Festigkeit der preußischen Liberalen, die wenigstens das in Preußen ver­ fassungsmäßige und durch die Indemnität als nicht ganz unkräftig erwiesene Ausgabebewilligungsrecht fich nicht erheblich verkümmern lassen wollten. Eine ernstliche Wiederholung des Versuches, die ihm nothwendig er­ scheinende Beschränkung der Rechte der Volksvertretung beim Reichstage durchzusetzen, unterblieb eine Reihe von Jahren hindurch, zuletzt' wol mit Rücksicht auf den Kulturkampf und die mit ihm verbundene Entfremdung der Konservativen; eine konservative Regierung, die sich mehr als je zuvor *) Am 3. August 1866 Abends (am 5. August ward der Landtag eröffnet, siehe oben Seite 77) schrieb Bismarck von Prag aus an seine Gemahlin: „Morgen denken wir in Berlin zu sein. Großer Zwist über die Thronrede. Die Leutchen haben alle nicht genug zu thun, sehen nichts als ihre eigene Nase und üben ihre Schwimmkunst auf der stürmischen Welle der Phrase. Mit den Feinden wird man fertig, aber die Freunde! Sie tragen fast alle Scheuklappen und sehen nur einen Fleck von der Welt!" Siehe Hesekiel, Das Buch vom Grafen Bismarck (1869) S. 334. Dort wird bezeugt, daß es sich vorzugsweise um die Indemnität gehandelt habe: „Es klang das Wort mächtig unsanft an die Ohren der Sieger und es giebt wackere Männer .genug, die es noch heute schmerzlich empfinden, daß Bismarck diese Indemnität damals 'zu verlangen für nothwendig gehalten." **} Man vgl. Twesten's Rede im konstituirenden Reichstage vom 9. März 1867 (Stenogr. Bericht Seite 103).

zu den politischen Parteien im April 1874.

203

auf die liberalen Parteien zu stützen gezwungen war, konnte einen solchen Zeitpunkt kaum für geeignet halten, von den Liberalen Verzicht auf die werthvollsten Rechte zu verlangen. Als nun endlich beim Neichsmilitärgesetze der Versuch in Bezug auf den weitaus bedeutendsten Theil bei: Ausgaben wiederholt wurde, mochte Bismarck wol schwerlich an die Möglichkeit eines vollständigen Sieges geglaubt haben; war doch 3 Jahr zuvor kaum die Hälfte der nationalliberalen Stimmen für die dreijährige Verlängerung des Pauschquantums zu ge­ winnen gewesen. Und doch war 1864 der Sieg so nahe! — Hinterher, als das Kompromiß abgeschlossen war, mußte der Regierung klar sein, daß sie bei Ablehnung des Kompromißvorschlages ganz sicher die Mehrheit für den unveränderten § 1 des Entwurfs erlangt haben würde. Aber wozu? — fiel ihr nicht nach sieben Jahren bei einiger Vorsicht die reife Frucht von selbst in den Schooß? Ließ sich nicht inzwischen in dem langen Waffenstillstand noch weit mehr erreichen? Bismarck's privaten Aeußerungen auf dem Krankenbette, in Verbindung freilich mit der dadurch hervorgerufenen Preßagitation, war vorzugsweise der staunenswerthe Erfolg auf die große nationalliberale Partei zuzuschreiben. Darf man es ihm verargen, daß er seitdem öfter und entschiedener als zuvor die Wucht seines ausgesprochenen Willens in die Wagschale warf, um bei der Volksvertretung seine Absichten durchzusetzen, — um Pläne zu verwirklichen, die zwar den überlieferten unantastbaren Grundsätzen des deutschen Liberalismus ins Gesicht schlugen, aber von ihm für erforderlich zu Nutz und Frommen des deutschen Vaterlandes erachtet wurden?

Dazu kam noch ein Zweites. Die Krankheit, die im Frühjahr 1874 Bismarck länger und heftiger als je zuvor heimsuchte, zeigte ihm, wie sehr er nach der Ueberanstrengung früherer Jahre der Ruhe bedürfe, und mahnte ihn, alle diejenigen Einrichtungen im Reiche zu treffen oder zu vollenden, ohne die' ein tüchtiger Nachfolger i'm Reichskanzlerposten kaum zu finden war. Hätte er in dieser Hinsicht ein bestimmtes Programm bereits gehabt oder in Gemeinschaft mit hervorragenden, ihm nahestehenden Männern der Regierung und des Parlaments festgestellt, so wäre es sicher überaus leicht geworden, dafür eine stattliche Mehrheit zu gewinnen. Aber dies Programm hatte er nicht und der Rath, der ihm von den geeigneten Män­ nern werden konnte, lag zu weit ab von demjenigen Jdeenkreise, in dem sich seine Pläne bewegten. Darum war fortan sein Streben deutlich darauf gerichtet, zunächst in der Regierung, im Bundesrath und im preußischen Ministerium die „Friktionen" zu beseitigen, die ihn hindern konnten, seinen Willen durchzusetzen, und sich gleichzeitig eine feste und zuverlässige Mehr­ heit im Reichstage und im preußischen Landtage zu schaffen. Aber wo war diese Mehrheit zu finden, die sich nicht um unfertige Zukunftspläne, sondern vorweg um seine Person, oder um die durch ihn allein repräsentirte Reichsregierung gruppiren sollte? woher war sie zu be­ schaffen, — gleichviel ob in den Volksvertretungen von 1874 oder in neu­ gewählten Parlamenten der Zukunft? Es blieb nichts übrig, als sich mit den bestehenden Parteien einzulassen. Von diesen mußten vorweg ausscheiden die

204

Fürst Bismarck und seine Stellung

Klerikalen, die elsaß-lothringischen Protestler, die Polen und Dänen, — und die Sozialdemokraten; sie alle waren als „Reichsfeinde" auf das schärfste zu verfolgen, damit ihre Zahl sich in künftigen Parlamenten ver­ ringere; der Anschauung zu folgen, daß Feinde durch Nachsicht oder Großmuth wenn nicht entwaffnet, so doch geschwächt werden, hingegen durch den Schein des Märtyrerthums an Einfluß gewinnen könnten, hielt Bismarck den sogen. Reichsfeinden gegenüber nicht für angebracht. Seinen alten Freunden und Parteigenossen, den Konservativen, grollte er noch immer. Der Fall Arnim und was damit zusammenhing, verwandelte manche ihm bisher zugethane Mitglieder des altpreußischen Adels in erbitterte Feinde, — bald trat auch die Kreuzzeitungspartei mit Beschuldi­ gungen gegen ihn auf, die ihn aufs tiefste verletzten. Jedenfalls war die konservative Partei so völlig zerrüttet und in sich unklar und uneins, daß es sich nicht verlohnte, mit ihr zu rechnen. Konnte doch auch eine Neu­ bildung der Partei nur im engsten Anschluß an die Regierung erfolgen, vollends wenn diese konservativen Plänen nachging. Die Freikonservativen, die sich im Reichstag, um ihre nationale Ge­ sinnung zur Schau zu tragen, deutsche Reichspartei nannten, — nun ja, sie hatten es in den verschiedenen Legislaturperioden seit ihrer Entstehung auf leidlich starke Fraktionen des Preußischen Landtags und des Deutschen Reichstags gebracht. Allein eine freikonservative Partei gab es nirgends im Lande, und entstand auch nicht, trotzdem jedes arbeitsfähige und streb­ same Fraktionsmitglied eine Anwartschaft, wenn nicht auf einen Botschafter­ oder Ministerposten, so doch auf den Geheimerath oder Hilfsarbeiter im Ministerium zu bekommen schien. Ueberdies ließ sich eine feste, dauerhafte Stütze für die Reichsregierung unmöglich aus einer Partei herstellen, der sich im konstituirenden Reichstage Dr. Krätzig, im Reichstage bis 1870 der Mitbegründer des Zentrums, Wirkl. Geh. Rath von Savigny mit andern gemäßigten Klerikalen und nach 1870 die partikularistisch- konser­ vativen Sachsen und Würtemberger anschloffen. Sobald das Interesse der kleinen Staaten im Gegensatz zu Preußen ins Spiel kam, wurde sofort der nichtpreußische Theil der deutschen Reichspartei unzuverlässig. Es gab im Jahre 1874 einen Zeitpunkt, wo Bismarck, durch den Mordversuch Kullmann's und durch den Prozeß Arnim auf das Aeußerste gereizt, mit dem Gedanken umgegangen zu sein scheint, sich mehr als zuvor auf die gestimmte liberale Partei zu stützen, und darum selbst mit der deutschen Fortschrittspartei anzuknüpfen suchte. Daß an Vaterlandsliebe und persönlicher Aufopferungsfähigkeit die Abgeordneten dieser Partei es mit jeder andern Partei aufnehmen konnten, war ihm sicher nicht entgangen; vielleicht mochte er nun meinen, jetzt, wo durch das Septennat die eigent­ liche konstitutionelle Frage auf längere Zeit aus der Diskussion geschoben war, sei von der Fortschrittspartei eine Unterstützung der Reichsregierung zu solchen wirtschaftlichen Reformen zu erlangen, die gegen partikularistische Bestrebungen der Einzelstaaten gerichtet, indirekt auch den Einfluß des Reichstags herabminderten. Gleichviel, ob und welche Hintergedanken dabei im Spiele waren, — die Thatsache steht fest: Fürst Bismarck sprach damals in vertraulicher Weise mit angesehenen fortschrittlichen Reichstags­ abgeordneten mehrfach von der hohen Bedeutung der Fortschrittspartei, ohne

zu den politischen Parteien im April 1874.

205

die eine wirklich anständige Mehrheit nicht zu erzielen sei, -- von dem Werthe, den er deshalb auf ihre Unterstützung lege, — von den uner­ träglichen, die besten Manneskräfte aufreibenden Friktionen bei Hofe und in den Regierungskreisen, und von seinem Entschluß, mit vollendetem 60sten Lebensjahre (1. April 1875) sich in den Ruhestand zurückzuziehen und den Rest seines nach dem Ausspruch der Aerzte sonst schnell gefähr­ deten Lebens seiner Familie zu widmen, sowie endlich von der Nothwendig­ keit, inzwischen das Reich fester zu konsolidiren u. s. w. u. s. w. Allein diese Anknüpfungsversuche endeten schnell; unsers Wissens ist seit dem in der Majunke'schen Haftsache von Hoverbeck gestellten und vom Reichs­ tage angenommenen Anträge, der Bismarck veranlaßte, sein Entlastungs­ gesuch einzureichen, der Fortschrittspartei nicht wieder die Ehre geworden, anerkennende Aeußerungen des Reichskanzlers in Empfang zu nehmen. Die Fortschrittspartei konnte dies verschmerzen. Freilich war sie die einzige Partei, die bei dem Ausgange des Kampfes um das Reichsmilitär­ gesetz schwere Verluste gehabt hatte: sie hatte den Sündenbock für Lasker und Genossen abgeben müssen und durch den Austritt angesehener Fraktions­ mitglieder ein bequemes Angriffsobjekt für alle Sorten Gegner dargeboten. Die alten und neuen Feinde jubelten: das Todesstündlein für die Fortschritts­ partei hat geschlagen! — Es war zu früh. Zm Gegentheil — der ehrliche Gegner kann es nicht leugnen — von der Zeit an, wo alles was ihr innerlich fremd geworden war, sich von ihr abtrennte, trat sie fester und geschlossener, als je zuvor im Reichstage wie im Landtage für die alten Grundsätze des deutschen Liberalismus ein, und errang sich durch ebenso umsichtige als unerschrockene und treue Vertheidigung der Rechte und Frei­ heiten des deutschen Volkes, von Session zu Session in gesteigertem Maße den wohlverdienten Ruhm, das einzige feste Bollwerk zum Schutze der freien vaterländischen Kulturentwickelung gegen die einbrechende Reaktion zu sein. Mochte die Meute der Reptilienpresse und ihrer schwarzgalligen Genossen bei .jeder ihnen.paffend erscheinenden Gelegenheit die Anschuldi­ gungen landesverrätherischer Gesinnung, oder der „Reichsfeindschaft" wieder­ holen, — eine Partei, welcher in den mit der ruhmreichen Geschichte des Brandenburgisch-Preußischen Staates unter den Hohenzollern am längsten und engsten verwachsenen Landestheilen, in Berlin und der Mark Branden­ burg, in Ostpreußen, in der Grafschaft Mark und Ravensberg der weitaus größte Theil der unabhängigen Grundbesitzer und Gewerbetreibenden mit unveränderter Treue anhing, konnte auf so alberne elende Schmähungen mit stolzer Verachtung herabsehen. Die nationalliberale Partei des Reichstags hatte einstimmig für das Septennat gestimmt. Aber diese formale Einstimmigkeit konnte die großen prinzipiellen Gegensätze innerhalb der Partei nicht länger verdecken. Lasker selbst sprach sich bei der Debatte über das Reichsmilitärgesetz am 14. April 1874 sehr deutlich über die Dreigetheiltheit der Fraktion aus: „Innerhalb des Kreises unserer politischen Freunde hat dieselbe Entsagung und das Entgegenkommen von

allen Seiten stattfinden müssen, welches gegen­

wärtig Reichstag und Regierung in der Plenarversammlung vollziehen.

Sie haben

heute einen von mir höchst geschätzten Vertreter der Ansicht gehört, welche die

206

Fürst Bismarck und seine Stellung

Feststellung des Präsenzstandes auf unbeschränkte Zeit für angemessener hält, und der Redner hat bekannt, ihm wäre es lieber gewesen, nach dem Vorschläge der Regierungsvorlage die Angelegenheit zu ordnen (v. Treitschke). Von einem sehr großen Theil meiner Parteigenossen darf ich versichern, daß er vielleicht am letzten Ende, um den Streit nicht ganz gegen die Regierung entscheiden zu lassen, für den § 1 gestimmt hätte, und dies wäre wahrscheinlich die Mehrheit*) meiner Parteigenossen gewesen; aber diese Mitglieder hätten verschiedengradig mit schwerem Herzen dies gethan, und sie hatten in sich die Ueberzeugung fortbewahrt, daß einzeln betrachtet der Beschluß nicht zu rechtfertigen sei, und daß er nur der Gesammtlage zum Opfer gebracht werde. — Endlich gab es eine Zahl Männer, auch in unserer Partei, welche wohl für eine Zeit lang, so lange die jetzigen Ver­ hältnisse obwalten und die Möglichkeit eines Krieges nicht außer Gesichtsweite liegt, und so lange der Uebergang aus den alten ungesunden Zuständen zu ge­ sunden Zuständen dauert, einen Theil des parlamentarischen Kontrolrechts suspendiren wollten, aber selbst unter dem Druck der Volksmeinung sich nicht herbei­ lassen konnten, das Budgetrecht so einzurichten, daß für die Militärverwaltung fort und fort der Anreiz hätte vorhanden sein müssen, noch weitere Ausnahmen von dem gemeingültigen Verfassungszustande zu erlangen und endlich das gesammte Militärwesen aus dem konstitutionellen Rahmen auszuschließen, denn dies, meine Herren, wäre das letzte Ziel gewesen."

Die letzte Gruppe war die einzige, welche standhaft an dem konstitu­ tionellen Staate festhielt. Von der mittleren Gruppe sagte Eugen Richter in seiner Berliner Rede vom 23. Oktober 1874 (s. oben S. 161) „sie ist in der Theorie noch ebenso liberal, wie wir; in der Praxis bringt sie aber der „Gesammtlage"" — wie Lasker sagt — das ist dem Kabinet des Fürsten Bismarck, jedes Opfer auch zum dauerndenSchaden unserer deutschen Entwickelung". Und zu dieser Gruppe waren die meisten derjenigen Abgeordneten übergegangen, die noch 1871 gegen den Forkenbeck'schen Antrag der Verlängerung des Pauschquantums mit Eifer gesprochen und gestimmt hatten. Von dem rechten Flügel der Partei, sagte Richter, er habe mit der Fortschrittspartei weder in der Theorie noch in der Praxis etwas gemeinsam; „er baut sich feine konstitutionelle Theorie auf nach den gelegentlichen Hand­ zeichnungen des Fürsten Bismarck zum deutschen Konstitutionalismus. Der rechte Flügel versagt mit dem Reichskanzler den Abgeordneten die Diäten; er ist ganz damit einverstanden, daß das gesammte Militärwesen aus dem konstitutionellen Rahmen ausgeschlossen werde; er strebt ein deutsches Kaiserthum an, das auch im Widerspruch gegen das Parlament seine Stärke äußern kann. Dieser Theil der Nationalliberalen hebt sich, wie der Abg. Bamberger in der Augsb. Allg. Zeitung neulich mit Recht erklärte, von den Konservativen nur mit einer leichten Schattirung ab. Diese Nationalliberalen bedauern es auch selbst öffentlich, daß die nationalliberale Partei durch die letzten Wahlen so groß geworden ist. Sie beklagen es, daß die konservativen Parteien jetzt so zusammengeschmolzen sind, weil dadurch der Ausschlag im Reichstage von ihnen selbst mehr nach links hin verlegt worden ist."

*) Die sehr große Mehrheit; vgl. oben S. 194.

zu den politischen Parteien im April 1874.

207

Von dem Augenblicke an, wo die sehr große Mehrheit der national­ liberalen Reichstagsfraktion bereit gewesen war, auf Verlangen des Reichs­ kanzlers von den beim Mangel des Steuerbewilligungsrechtes gar kümmer­ lich gestalteten konstitutionellen Rechten des Volkes den wesentlichsten Theil des Ausgabenbewilligungsrechtes für immer zu opfern, — von diesem Augenblicke an hörte die nationalliberale Partei streng genommen auf, eine unabhängige liberale Partei zu sein. Eine politische Partei, die sich liberal nennt und deren meiste Mitglieder liberalen Grundsätzen huldigen, muß unrettbar verkümmern, wenn sie durch ihre Presse die politische Prinzipien­ losigkeit als eine patriotische Pflicht rühmen läßt, — wenn sie sich bereit erklärt, den Scheinkonstitutionalismus einrichten zu helfen, — wenn sie einem trotz aller seiner Heldenhaftigkeit sterblichen, menschlicher Schwächen nicht entbehrenden Manne das Opfer ihrer politischen Vergangenheit an­ bietet, — lediglich um liberale Regierungspartei einer konservativen Re­ gierung zu werden. Woher aber kam diese Veränderung der nationalliberalen Partei, die gestiftet ist von alten Demokraten und Mitbegründern der deutschen Fort­ schrittspartei, von Forkenbeck, Twesten, Unruh, — von Männern, die in ihren öffentlichen Erklärungen und Programmen bestätigt hatten, daß die neue Partei den Grundsätzen der Fortschrittspartei unwandelbar treu bleiben werde; woher kam es, daß Forkenbeck und Lasker, die anfänglich einflußreichsten Führer der Partei, immer mehr Anhänger ver­ loren, bis sie zuletzt in wirklichen Haupt- und Staatsaktionen sich als jedes Einflusses auf ihre Parteigenossen bar und ledig erwiesen?

Die Ursachen sind nicht leicht zu ermitteln. Ein Hauptgrund war jedenfalls, daß aus den alten Provinzen Preußens alles was an alten Gegnern der Fortschrittspartei von 1862 noch unter liberaler Firma existirte, jene Altliberalen, die 1862 durch die neuentstandene liberale Partei fast sämmtlich aus der Volksvertretung geworfen wurden, nach und. nach .in derselben als „Nationalliberale" wieder auftauchten. Diese Elemente — Graf Schwerin und Simson, Treitschke und Wehrenpfennig, Fubel und Beseler, ja zuletzt noch der Zustizminister der neuen Aera von Bernuth, sie alle drängten die nationalliberale Partei, welche sie bereitwillig ausgenommen hatte, nach rechts. Die Verbissenen von ihnen fanden mit ihrem Zngrimm und Haß gegen die Fortschrittspartei vielfach aufmerksames Gehör bei den Nationalliberalen aus den neuen preußischen Provinzen und den übrigen deutschen Staaten.

In den kleineren und mittleren deutschen Staaten konnten die Unter­ schiede der politischen Grundsätze in so ausgeprägter Gestalt, wie in Preußen, sich nur vorübergehend erhalten. Ze kleiner das Staatswesen ist, desto mehr müssen rein persönliche Beziehungen und Verhältnisse abwechselnd bald mildernd, bald verbitternd auf die politischen Parteiungen einwirken und die sachlichen Unterscheidungen, die Parteigrundsätze, mehr zurücktreten. Kein Wunder also, wenn sich diejenigen nationalliberalen Abgeordneten, die in Bismarck ihren Befreier aus der elenden Kleinstaaterei erblickten, — die ihm für die Erhebung zu Bürgern des mächtigsten Staates der Welt patriotischen Dank schuldeten, — im Großen und Ganzen noch weniger

208

Fürst Bismarck und seine Stellung

widerstandsfähig erwiesen, als die Nationalliberalen des alten Preußens. Selbst trotzige Demokraten, alte Republikaner, amnestirte Flüchtlinge, die sich unter den Abgeordneten aus Hannover und Hessen, Baden und der Pfalz befanden, machten keine Ausnahme von der Regel. Freilich dürfte dabei auch die Thatsache in Betracht kommen: daß die einzelnen deutschen Stämme ungleichartig sind in Betreff der Widerstandsfähigkeit und Zähig­ keit der Charaktere. Zum Beispiel: Zm alten Brandenburg-Preußen scheinen Tapferkeit und Ausdauer hervorragende Eigenschaften des aus bunter Blutmischung von Kolonisten entstandenen Volksstammes geworden zu sein, — vielleicht verdankt der Staat Friedrichs des Großen, der fünfzig Zahre früher als das übrige Deutschland den Segen der allgemeinen Wehr­ pflicht genossen hat, auch diesem Erziehungsmittel die in Fleisch und Blut aller Volksklassen übergegangene soldatische Strammheit. Ein anderes Bei­ spiel bieten die Hannoveraner, denen seit 1866 mehr und mehr die Füh­ rung der nationalliberalen Partei zufiel. Der Nordwesten Deutschlands erzeugt vorzugsweise kluge und umsichtige Männer geraden Wesens; sie rühmen sich gern, daß kein Tropfen slawischen Bluts in ihren Adern rolle, — aber, mögen sie auch an Tapferkeit vor dem Feinde den Männern des deutschen Nordostens nicht nachstehen, — der Negierungsgewalt gegenüber sind sie biegsamer und schmiegsamer als diese und darum mehr als sie geeignet, von dem strammen altpreußischen Zunkerthum beherrscht zu werden; auch liefern sie für das deutsche Staatswesen arbeitsame und gehorsame Beamte und das Material zu einer geduldigen liberalen Regierungspartei. Hervorzuheben ist endlich noch, daß in Hannover, Kurhessen und Schles­ wig-Holstein, sowie in fast allen Kleinstaaten außer Mecklenburg, Lippe und Reuß die nationalliberale Partei in der That mit der Regierungspartei zusammenfiel, also von der Staatsregierung bei den Wahlen unterstützt wurde, und daß aus diesem Grunde sich in die Partei Elemente ein­ drängten, die nichts weniger als liberal waren, und sich in andern Gauen Deutschlands der konservativen Partei angeschlossen haben würden. Auch dieser Umstand hatte mit zur Wandelung der nationalliberalen Partei bei­

getragen.

Gleichviel aber, aus welchen Ursachen sich die Wandelung vollzogen hatte, — nachdem sie bei dem Militairgesetz klar erwiesen war, ließ Bis­ marck keine Gelegenheit vorübergehn, die Zuverlässigkeit der Partei auf die Probe zu stellen. Der sogenannte linke Flügel derselben trennte sich von ihr nicht; — er hoffte, auch ferner schwere Schädigungen der konstitutionellen Sache hintertreiben zu können, während er andernfalls gar keinen Einfluß auf das Gros der Partei behalten hätte. Allein aus der Furcht, diesen Einfluß zu verlieren, erwuchs bei Lasker und Genossen ein fast krank­ hafter Eifer, Einstimmigkeit der Partei zu erzielen. Diesen Eifer verstand Bismarck auszunutzen. Die Zukunft sollte lehren, daß jene Herren schließ­ lich, um die Partei nach außen einig erscheinen zu lassen, mit ihrem Namen gar manche Verleugnung liberaler Grundsätze deckten, deren sich die Partei ohne Bismarcks Drängen niemals schuldig gemacht haben würde. Reichs­ eisenbahngesetz, Synodalordnung, Provinzialordnung, Strafgesetznovelle und die Reichsjustizgesetze sollten den Beweis liefern.

zu den politischen Parteien im April 1874.

209

Die Fortschrittspartei ward auf die große Gefahr, die aus dieser Ent­ wickelung der nationalliberalen Partei nothwendig der liberalen Sache er­ wachsen mußte, nicht sofort aufmerksam. Die vielseitig gehegte Erwartung, daß nach Annahme des Septennats sich das Verhältniß zwischen den beiden Parteien feindseliger gestalten werde, traf nicht ein. Zm Gegentheil, — die engen Beziehungen, die sich zwischen dem in der Abwehr des Ansturmes gegen das Verfafsungsrecht erprobt befundenen Lasker'schen Fähnlein und der Fortschrittspartei unmittelbar vor dem Kompromißabschluß gebildet hatten, wirkten längere Zeit darauf hin, daß man rücksichtsvoller als je zuvor gegen einander verfuhr. Aber dies äußerliche gute Einvernehmen konnte nicht hindern, daß die Kluft, die zwischen den beiden politischen Parteien als solchen bestand, fort­ an sich immer mehr verbreiterte. Mit aufrichtiger Betrübniß mußten die fortschrittlichen Abgeordneten erkennen, daß ihre Hoffnung, in einem erheb­ lichen Theile der nationalliberalen Volksvertreter, wie früher, treue Bundes­ genoffen in Wahrung der Volksrechte zu finden, immerdar getäuscht wurde, so­ bald Bismarck mit der vollen Wucht seiner Persönlichkeit für eine Sache eintrat. Und bald kam der Tag, wo die deutsche Fortschrittspartei mit ernsten feier­ lichen Worten das deutsche Volk aufrufen mußte, (Aufruf vom 23. De­ zember 1876, s. Anhang S. 223), Männer in beit Reichstag zu senden,

„stark genug, um der Verführung der Macht Widerstand zu leisten, einsichtig genug, um jeden Vortheil des Augenblickes für des Volkes Wohl und Freiheit wahrznnehmen."

ParisluS.

14

Anhang Programme und Aufrufe der politischen Parteien von

1875 bis 1877.

I.

Zentrum.

1) „Aufruf und Programm der Jentrumspartei in Westfalen, berathen, festgestellt und einstimmig angenommen auf einer von mehr als 350 Wählern aus allen Theilen der Provinz besuchten Versammlung zu Münster am 20. 3ult 1876". -------- Am Eingänge ist eine Ansprache der Zentrumsfraktion des Abgeordnetenhauses vom 3uni mitgetheilt, dann folgt wörtlich Folgendes:

„Die Neuwahlen zum Hause der Abgeordneten stehen nun bald bevor. Als wir vor drei Jahren die Männer unsrer Wahl in den Landtag entsandten, geschah es in dem Vertrauen, daß sie, entsprechend den schon damals treu bewährten Grund­ sätzen der Partei des Zentrums für die Vertheidigung der fortwährend schwer be­ drohten, für die Widerherstellung der so vielfach schon verletzten religiösen und bürger­ lichen Freiheit so muthig als entschieden kämpfen würden. Dies Vertrauen wurde nicht getäuscht. Wir waren Zeugen, wie unsere Vertreter in den seither verfloffenen drei Jahren jenen Kampf gegen die sich „liberal" nennende Majorität geführt, wie sie die angegriffenen Volksrechte Schritt für Schritt ver­ theidigt haben. Allein — trotz ihrer beharrlichen Anstrengungen — denen auch unser unvergeßlicher Herrmann von Mallinckrodt erlag — wurde die verfassungs­ mäßige Selbständigkeit der römisch-katholischen Kirche durch Aufhebung der Artikel 15, 16 und 18 der Verfassung vernichtet, die freie Ausübung der Religion schwer beeinträchtigt. Die meisten Ordensgenossenschaften, mit ihnen auch die Pfleger, Lehrer und Erzieher unsrer armen Waisen, sind vertrieben; Schulen, denen wir Ver­ trauen schenkten, wurden aufgehoben, ohne daß uns ein Ersatz geboten wäre; Lehrer und Lehrerinnen aus dem Ordensstande wurden aus den Volksschulen entlassen, noch ehe man weltliche Vertreter gefunden; die Aufsicht über die Volksschulen wurde den bewährten Händen der treuen Seelsorger entzogen. Damit noch nicht genug, wurde auch das wichtigste, natürliche, in der Verfassung gewährleistete Recht der Kirche auf die Leitung und damit auf die Besorgung des Religionsunterrichts in der Schule in Frage gestellt. Zu allem Ueberflusse wurde auch die Civilehe noch eingeführt. Zur Ausführung der Maigesetze wurden unsre Bischöfe vom Staate „abgesetzt", viele Pfarrer ihrer Seelsorge beraubt, das kirchliche Vermögen zum Theil beschlag­ nahmt, und zeitweilig den Stiftungszwecken entzogen, die blühenden, zum größten Theile erst in den letzten zwei Jahrzehnten mit schweren Opfern von uns hergestellten Pflanzstätten des Klerus — Priesterseminare, Theologen- und Knaben - Convicte —

Anhang: Programme und Aufrufe re.

(Zentrum).

en

verödet, hin und wieder selbst die nothwendigsten, eben erst mühsam erbauten Gotteshäuser zu Gunsten einer verschwindenden Anzahl sogenannter „Altkatholiken" für uns verschlossen, — ja die profane Hand wurde sogar an das Allerheiligste

gelegt! Hand in Hand mit dieser Beschränkung der religiösen ging die der bürgerlichen Freiheit — durch Entfernung oder Nichtbestätigung vieler Beamten von selbständigem Charakter und kirchlicher Gesinnung, durch Verweigerung einer neuen Kreis- und Provinzialordnung behufs Erweiterung der kommunalen Freiheiten und der Selbst­ verwaltung für die westlichen Provinzen, durch unerhörte Beschränkungen der Preß­ freiheit sowie des Vereins- und Versammlungsrechtes, endlich durch eine das Ver­ trauen tief erschütternde Verwirrung in den Rechtsbegriffen. Die wilde Zagd nach zeitlichem Gute, auf deren unheimliches Toben wir schon vor drei Jahren aufmerksam machten, hat inzwischen die schlimmsten Früchte gezeitigt, die wirthschaftliche Gesetzgebung des sogen. „Liberalismus" unsägliches Unglück herauf­ beschworen. Die Milliarden, welche Frankreich zahlte, sind unserm Vaterlande zum Unsegen geworden. Eine grauenhafte Gründungs- und Schwindel-Periode hat das in mühevoller Arbeit erworbene Vermögen des Mittelstandes großentheils verschlungen, Tausende arbeitslos, arm und elend gemacht, dem nationalen Wohlstand und Ver­ mögen schwere, auf eine für jetzt noch unabsehbare Zeit unheilbare Wunden geschla­ gen. Handel und Gewerbe liegen in Folge dessen tief darnieder und das Vertrauen ist geschwunden. Der innere Frieden — die Kraft des Vaterlandes und die Grundbedingung seines Ansehens — ist tief erschüttert — erschüttert zu einer Zeit, wo drohende Anzeichen die dauernde Erhaltung des äußern Friedens sehr fraglich erscheinen lassen. Angesichts dieser offen geschilderten, überaus traurigen Lage halten wir unge­ beugt und ungebrochen unsere alte Fahne hoch. Und wenn es vor 3 Jahren galt, bedrohte Rechte zu vertheidigen, so muß unser Programm jetzt lauten: Wieder­ eroberung der verlorenen Rechte mit allen gesetzlichen Mitteln, Wiederaufbau und Befestigung der religiösen und bürgerlichen Freiheit auf allen angegriffenen Gebieten, Wiederherstellung und, Fopteistwiskelung gesunder prirfhschaftsicher Zustände. — uyd dies Alles auf dem festen Fundamente der treu von uns bewahrten und stets ver­ fochtenen Grundsätze. Demnach verlangen und erstreben wir: 1. Wiederherstellung und erhöhte verfassungsmäßige Sicherstellung der Selbst­ ständigkeit und Rechte der römisch-katholischen wie der evangelischen Kirche, vor Allem in Betreff der Ueberwachung, Leitung und Ertheilung des Religionsunter­ richts in der Schule, der kirchlichen Organisation und Disziplin, sowie des kirchlichen Vermögens. 2. Uneingeschränkte Freiheit der Religionsübung und thatsächliche Durchführung der staatsrechtlichen Parität der anerkannten Religionsbekenntnisse. 3. Volle Wahrung des unveräußerlichen Rechtes der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder, unter Beseitigung jedwedem dem entgegenstehenden Zwanges, demgemäß konfessionelle Schulen und Verwirklichung der verfassungsmäßig verheißenen Unter­ richtsfreiheit. 4. Aufhebung der den vorstehenden Forderungen und Rechten widersprechenden Gesetze und Anordnungen. 5. Endliche Verwirklichung des von der Verfaffung geforderten und gegen­ wärtig mehr als je nothwendigen Gesetzes über die Verantwortlichkeit der Minister.

Anhang: Programme und Aufrufe rc.

212

6. Allgemeines direktes Wahlrecht —

(Zentrum).

behufs Erwirkung einer auf gesunden

Grundlagen beruhenden Vertretung der verschiedenen Volksinteressen. 7.

Beseitigung der Beschränkungen der Preßfreiheit, sowie des Vereins- und Ver­

sammlungsrechtes. 8. Dezentralisation der Verwaltung;

wahre Selbstverwaltung der Gemeinden,

Kreise und Provinzen.

9. Gesetzlichen Schutz gegen Ueberschreitung der Befugnisse der Verwaltung und der Polizei.

10. Festhaltung der föderalen Stellung Preußens zum Deutschen Reiche und Bekämpfung aller gegen den verfassungsmäßigen föderalen Charakter der staatlichen

Verhältnisse in Deutschland gerichteten politischen oder wirthschaftlichen Bestrebungen.

11. Beschränkung der Staatsausgaben, insbesondere für die Armee, durch an­ gemessene Verkürzung der Dienstzeit und Verminderung der Präsenzstärke des Heeres im Frieden.

12. Gleichmäßige und gerechte Vertheilung der Steuern und Lasten; Beseitigung der Doppelbesteuerung; Feststellung der jährlich auszuschreibenden Steuersummen. 13.

Erhaltung und Förderung eines kräftigen Mittelstandes in einem selbst­

ständigen Bürger-, Bauern- und Handwerkerstande und dahin zielende Reform der wirthschaftlichen Gesetzgebung.

14.

Freiheit für alle den gesetzlichen Boden nicht verlassende Bestrebungen zur

Lösung der sozialen Aufgaben; Bekämpfung der Grundsätze und Agitationen, welche das Eigenthum und die soziale Ordnung bedrohen;

Unterstützung der

berechtigten

Forderungen des Arbeiterstandes und deren Regelung durch ein Gesetz über die Rechte

der Arbeiter. Mitbürger in Stadt und Land!

Indem wir uns zu vorstehenden Grundsätzen bekennen und treu an ihnen fest­ halten, wollen wir Alle muthig für dieselben eintreten; wollen wir insbesondere

bei den bevorstehenden Neuwahlen unsere ganze Kraft und Thätigkeit für die Wahl tüchtiger, unabhängiger und zuverlässiger Vertreter unserer Grundsätze aufbieten;

wollen wir Alle, auf Gott und den gewissen Sieg der gerechten Sache vertrauend,

treu und fest in dem uns aufgedrungenen Kampfe ausharren, ein Jeglicher an seiner Stelle mit allen erlaubten Mitteln eintretend für die heilige Sache der Wahrheit des Rechtes und der Freiheit!

2) Aufruf!

Die Neuwahlen für den deutschen Reichstag sind auf den 10. Januar 1877

ausgeschrieben.

Sie sind von der tiefgreifendsten Bedeutung, wie der Rückblick auf die verfloffenen Jahre zeigt.

Während in einem großen Theile des deutschen Vaterlandes, nicht ohne Zuthun

der Reichsgesetzgebung, die Kirche sowohl in ihrem Wesen als auch in ihren Werken der Nächstenliebe tief geschädigt, der innere Friede — die Bedingung der Kraft und

des Ansehens der Nation, gestört wird, ist auch der bürgerliche Wohlstand tief ge­ sunken.

In Folge einer falschen Wirthschaftspolitik und deren Gesetzgebung liegen

Handel und Gewerbe darnieder, und ist das nationale und Privat-Vermögen unheil­ vollen Schwankungen ausgesetzt. Für die Entwickelung der bürgerlichen Freiheit und insbesondere bezüglich

Anhang: Programme und Aufrufe re.

(Zentrum).

213

der Presse und des Vereinsrechtes ist nicht Genügendes geschehen, während die viel­

fachen Beeinträchtigungen derselben wahrlich ernst genug Abhilfe fordern. Der falsche Liberalismus erhebt immer kühner sein Haupt und droht insbesondere

den Grundcharakter des Reiches als eines Bundesstaates nach und nach zu untergraben.

Diesen Bestrebungen ist die Centrumsfraction, getreu ihrem Programme, stets mit aller Entschiedenheit entgegengetreten und hat keine Gelegenheit versäumt, die Rechte des Volkes zu vertreten, dessen berechtigte Forderungen zum Ausdruck zu bringen.

Konnte sie einer überwiegenden Mehrheit gegenüber damit nicht durchbringen, so hat sie doch vielleicht Schlimmeres zu verhindern vermocht, indem sie wenigstens

jeder Verschleierung freiheitsfeindlicher Bestrebungen mit unnachsichtlicher Kritik ent­ gegentrat.

Wir überlasten das Urtheil über unser Verhalten unseren Wählern. Angesichts der Neuwahlen liegt uns aber die Pflicht ob, einige der wesentlichsten Grundsätze zu bezeichnen, welche für unser Verhalten maßgebend sind.

Vor Allem müssen wir die Beseitigung derjenigen Reichsgesetze verlangen, welche Freiheit und Recht der Kirche beeinträchtigen und das in der Verfassung ga-

rantirte Heimathsrecht der Reichsbürger verletzen.

Die Bewahrung des verfassungsmäßigen Grundcharakters des Reiches als eines

Bundesstaates bedingt nur im Nothwendigen die Einheit, in allem Uebrigen aber die freie Selbstbestimmung der Einzelstaaten.

Bestrebungen, diese verbürgten Rechte zu

verkürzen, müssen mit Entschiedenheit bekämpft werden. Es ist daher dem auch financiell und wirthschaftlich nachtheiligen Plane der

Erwerbung der Eisenbahnen durch das Reich entgegenzutreten, wohl aber

eine bessere Regelung des Betriebes der Eisenbahnen und der Tarifirung herbeizuführen. Das dauernde Darniederliegen der wirthschastlichen Kräfte fordert dringend eine

Beschränkung der Reichsausgaben, welche vor Allem beim Heerwesen durch

angemessene Verkürzung der Dienstzeit und Verminderung der Präsenzstärke im Frieden

zu bewirken ist. Eine Reform der wirthschastlichen Gesetzgebung, soweit solche zur Competenz des Reiches 'gehört, ist dann aber um so nothwendiger, als.an.eine

Besserung der wirthschastlichen Lage nicht eher zu denken ist, bis vorab dem Schwindel und der Ausbeutung Schranken gesetzt und dem Mittelstände die Bedingungen

gesunder Entwickelung zurückgegeben sind.

Nicht minder muß bei der schwer bedrückten Lage der verschiedenen Classen des Arbeiterstandes Freiheit für alle den gesetzlichen Boden nicht verlassenden Bestre­ bungen zur Lösung der socialen Aufgaben gesichert werden.

Sind einerseits die

Grundsätze zu bekämpfen, welche das Eigenthum und die sociale Ordnung bedrohen, so müssen andererseits die berechtigten Forderungen des Arbeiterstandes unterstützt, deren Regelung durch ein Gesetz über die Rechte der Arbeiter erstrebt und mit dem allgemeinen Wohle in Einklang gebracht werden.

Dies unsere Grundsätze, getreu dem alten Spruche: „Gerechtigkeit ist die Grund­

lage der Reiche." Wir richten an unsere Wähler die Bitte, an der Hand der Erfahrung diese

Grundsätze zu prüfen und ihr Urtheil durch die Wahlen auszusprechen.

Möge kein zur Wahl Berechtigter — unter irgend welchem Vorwande — von derselben fern bleiben.

Es gilt die höchsten Güter der menschlichen Gesellschaft; es

handelt sich um die Erfüllung unserer Pflicht gegen Gott und Vaterland!

214

Anhang: Programme und Aufrufe rc.

(Zentrum; Sozialisten).

Darum allseitige und ausdauernde Thätigkeit: bei den Wählern, daß sie die Mühe der Wahl nicht scheuen; bei den Gewählten, daß sie das Opfer auf sich nehmen, in den Reichstag einzutreten und auf ihrem Posten auszuharren. Thun wir Alle unsere Schuldigkeit voll und ganz! Mit Gott für Wahrheit, Recht und Freiheit! Berlin im December 1876.

Die Centrums-Fraktion. Im Auftrage:

Vrr Vorstand. Karl Frhr. v. Aretin. Graf Ballestrem. Graf v. Bissingen-Nippenburg. Freiherr zu Frankenstein. Dr. Jörg. Lender. Peter Reichensperger. Freiherr v. Schorlemer-Alst. Dr. Windthorst.

II. SoziaNsteu. Programm drr Sozialistischen Arbeiterpartei Nrutschlands. (Gotha, Mai 1875).

I. Die Arbeit ist die Quelle alles Reichthums und aller Kultur, und da all­ gemein nutzbringende Arbeit nur durch die Gesellschaft möglich ist, so gehört der Ge­ sellschaft, daß heißt allen ihren Gliedern, das gesammte Arbeitsprodukt, bei allgemeiner Arbeitspflicht, nach gleichem Recht, Jedem nach seinen vernunftgemäßen Bedürfnissen. In der heutigen Gesellschaft sind die Arbeitsmittel Monopol der Kapitalisten­ klasse; die hierdurch bedingte Abhängigkeit der Arbeiterklasse ist die Ursache des Elends und der Knechtschaft in allen Formen. Die Befreiung der Arbeit erfordert die Verwandlung der Arbeitsmittel in Gemein­ gut der Gesellschaft und die genossenschaftliche Regelung der Gesammtarbeit mit gemeinnütziger Verwendung und gerechter Vertheilung des Arbeitsertrages. Die Befreiung der Arbeit muß das Werk der Arbeiterklasse sein, der gegenüber alle anderen Klassen nur eine reaktionäre Masse sind. II. Von diesen Grundsätzen ausgehend, erstrebt die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands mit allen gesetzlichen Mitteln den freien Staat und die sozialistische Gesellschaft, die Zerbrechung des ehernen Lohngesetzes durch Abschaffung des Systems der Lohnarbeit, die Aufhebung der Ausbeutung in jeder Gestalt; die Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit. Die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands, obgleich zunächst im nationalen Rahmen wirkend, ist sich des internationalen Charakters der Arbeiterbewegung bewußt und entschlossen, alle Pflichten, welche derselbe den Arbeitern auferlegt, zu erfüllen, um die Verbrüderung aller Menschen zur Wahrheit zu machen.

Die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands fordert um die Lösung der sozialen Frage anzubahnen, die Errichtung von sozialistischen Produktivgenossenschasten mit Staatshülfe unter der demokratischen Kontrole des arbeitenden Volkes. Die Produktivgenossen­ schaften sind für Industrie und Ackerbau in solchem Umfange in's Leben zu rufen,

daß aus ihnen die sozialistische Organisation der Gesammtarbeit entsteht. Die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands fordert als Grundlagen des Staates:

Anhang: Programme und Aufrufe re.

(Sozialisten; Konservative).

215

1. Allgemeines, gleiches, direktes Wahl- und Stimmrecht, mit geheimer und obligatorischer Stimmabgabe, aller Staatsangehörigen vom zwanzigsten Lebens­ jahre an für alle Wahlen und Abstimmungen in Staat und Gemeinde. Der Wahl- oder Abstimmungstag muß ein Sonntag oder Feiertag sein. 2. Direkte Gesetzgebung durch das Volk. Entscheidung über Krieg und Frieden durch das Volk. 3. Allgemeine Wehrhaftigkeit. Volkswehr an Stelle der stehenden Heere. 4. Abschaffung aller Ausnahmegesetze, namentlich der Preß-, Vereins- und Versammlungsgesetze; überhaupt aller Gesetze, welche die freie Meinungs­ äußerung, das freie Denken und Forschen beschränken. 5. Rechtsprechung durch das Volk. Unentgeltliche Rechtspflege. 6. Allgemeine und gleiche Volkserziehung durch den Staat. Allgemeine Schul­ pflicht. Unentgeltlicher Unterricht in allen Bildungsanstalten. Erklärung der Religion zur Privatsache. Die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands fordert innerhalb der heutigen Gesellschaft: 1. Möglichste Ausdehnung der politischen Rechte und Freiheiten im Sinne der obigen Forderungen. 2. Eine einzige progressiive Einkommensteuer für Staat und Gemeinde, anstatt aller bestehenden, insbesondere der das Volk belastenden indirekten Steuern. 3. Unbeschränktes Coalitionsrecht. 4. Ein den Gesellschaftsbedürfnissen entsprechender Normalarbeitstag. Verbot der Sonntagsarbeit. 5. Verbot der Kinderarbeit, und aller die Gesundheit und Sittlichkeit schä­ digenden Frauenarbeit. 6. Schutzgesetze für Leben und Gesundheit der Arbeiter. Sanitätliche Kontrole der Arbeiterwohnungen. Ueberwachung der Bergwerke, der Fabrik-, Werk­ statt- und Hausindustrie durch von den Arbeitern gewählte Beamte. Ein wirksames Hastpflichtgesetz. 7. Regelung der Gefängnißarbeit. 8. Volle Selbstverwaltung für alle Arbsiterhülfs- und'Unterstützungskaffen..

III. Äonsrrvative Partei. 1) vir Vereinigung der Steuer- und Wirthichastsreformer (Agrarier) konstituirte sich unter diesen Namen am 22. Februar 1876, indem sie das nachfolgende Statut annahmen, und einen Ausschuß wählten, der seiner Seits wieder ein engeres Komite wählte. Die Vereinigung hat ihre erste Jahresversammlung am 15., 16. und 17. Februar 1877 gehalten und hier den Ausschuß zum Theil erneuert. Gegen­ wärtig zählt die Vereinigung 683 Mtglieder (420 von Adel und 263 andere). Der Ausschuß besieht zur Zeit aus 66 Mitgliedern, unter denen als ftühere oder jetzige deutsche Reichstags- oder Landtagsabgeordnete oder wegen sonstiger Leistungen her­ vorzuheben sind: 1) Udo Graf zu Stolberg-Wernigerode auf Kreppelhof bei Landshut, deutschkons. Reichstagsabgeordneter, Herrenhausmitglied, Vorsitzender des Ausschusses. 2) Graf v. d. Schulenburg-Beetzendorf, erster Stellvertreter des Vorsitzenden, Herrenhausmitglied, stüher kons. Reichstagsabgeordneter. 3) Freiherr v. Thüngen-Roßdorf (Bayern), zweiter Vorsitzender. 4) Buffe in Zschortau, früher

216

Anhang: Programme und Aufrufe rc.

(Konservative).

kons. Reichstagsabgeordneter. 5) M. Elsner von Gronow-Kalinowitz, früher freikons. Abgeordneter. 6) Freiherr v. Hammerstein-Loxten, konstit. Reichstagsabg., Welfe. 7) Freih. v. Hammerstein - Schwartow, Abg., altkons. 8) Graf v. Hoverden - Hänern, klerik. Abg. 9) Erbjägermeister v. Jagow-Rühstädt, früher altkons. Abg. 10) Graf zu Jena und Knyphausen-Lützburg, Herrenhausmitglied. 11) von Ludwig-Neuwaltersdorf, klerik. Reichstags- und Landtagsabg. 12) v. Nathusius - Ludom, deutschkons. Reichstagsabg., vom Herbst 1872 bis Sommer 1876 Kreuzzeitungsredakteur, Re­ dakteur des Reichsboten. 13) M. Ant. Niendorf, einige Wochen 1870 Mitglied der Fortschrittsfraktion des Reichstags. 14) Dr. Fr. Perrot, Hauptmann a. D. in Dresden, Verfasser der berüchtigten Kreuzzeitungsartikel: „Die Aera BleichröderDelbrück-Camphausen und die deutsche Wirthschaftspolitik*), Generalsekretär des Kon­ gresses deutscher Landwirthe. 15) Oekonomierath Schütze-Heinsdorf, früher altkons. Abgeordneter, Vorsitzender des Kongresses deutscher Landwirthe. 16) Reichsgraf zu Solms-Baruth auf Golßen, Herrenhausmitglied. 17) v. Watzdorf-Wiesenburg, früher kons. Reichstagsabgeordneter. 18) Stadtgerichtsrath Wilmanns, ftüher Ions. Reichs­ tagsabgeordneter. 19) v. Zehmen-Stauchitz, Präsident der sächs. ersten Kammer. Das engere Konnte besteht zur Zeit aus folgenden 8 Personen: Graf Wilamowitz-Gadow, Freih. v. Friesen-Rotha, Gras Schulenburg-Beetzendorf, Schütze-Heins­ dorf, Freih. v. Thüngen-Roßbach, v. Tresckow-Grocholin, Wilmanns und Mendorf. Die Geschäftsführung ist dem Herausgeber der Deutschen Landeszeitung M. Ant. Niendorf übertragen. Unter den Mitgliedern der Vereinigung sind außerdem noch zu nennen die Reichstagsabgeordneten v. Batocki, v. Brand, Heinrich, v. Kleist-Retzow, Landes­ direktor v. Levetzow, Wichmann, sämmtl. deutschkons.; ferner die Herrenhäusler v. Knebel-Döberitz, Graf Krassow, v. Rochow, v. Simpson-Georgenberg (im Ganzen gehören dem Agrarierbunde 22 kons. Herrenhäusler an), die preußischen Abgeord­ neten v. Bandemer-Selasen, v. Brand, v. Bethe, v. Schierstädt, altkons.; v. Gau­ decker, v. Rauchhaupt, v. Roy, neukons.; Graf Königsdorf, freikons.

Statut drr Strurr- und Wirthschasts-Neformrr. Definitiv angenommen von der konstituirenden Versammlung des 22. bis 24. Febr. 1876. § 1. Sitz der Vereinigung. Die „Vereinigung der Steuer- und Wirthschafts-Reformer" erwählt zu ihrem Vorort Berlin, doch kann dieselbe je nach Beschluß des Ausschusses in jedem Orte Deutschlands Versammlungen abhalten. § 2. Zweck der Vereinigung. Die Vereinigung hat den Zweck, die Ideen und Grundsätze einer gemeinnützigen, auf christlichen Grundlagen beruhenden Volkswirthschaft im Volke zu verbreiten und in der Gesetzgebung zum Ausdruck zu bringen. Diese Ideen und Grundsätze find in dem folgenden Programm zusammengefaßt. 1. Es ist auf eine gleichmäßige Vertheilung aller Steuern hinzuwirken, damit der bis jetzt überbürdete Grundbesitz und die redliche Arbeit in allen Berufs­ zweigen entlastet werde.

*) Dies waren die Artikel, die den Fürst Bismarck am 9. Februar 1875 ver­ anlaßten, im Reichstage die Kreuzzeitung der schändlichsten, lügenhaftesten, ehrlosen Verleumdungen zu beschuldigen und zu erklären, daß Niemand sich mit einem Abonne­ ment daran betheiligen solle, da er fich sonst indirekt an der Lüge und Verleumdung betheilige.

Anhang: Programme und Aufrufe re.

(Konservative).

217

2. Die Doppelbesteuerung, welche in der Grund-, Gebäude- und Gewerbe­ steuer liegt, ist zu beseitigen. Das Renten-Einkommen ist höher zu besteuern als das Arbeits-Einkommen. Gegen die Steuerumgehungen des Geldkapitals sind wirksame Sicherheitsmaßregeln zu schaffen. 3. Auf der Grundlage des Freihandels stehend, sind wir Gegner der Schutz­ zölle, behandeln jedoch die Eingangszölle und Konsumtionssteuern als eine offene Frage. Bei allen Finanzzöllen und indirekten Steuern ist stets darauf Bedacht zu nehmen, daß sie nicht besonders schädlich auf einzelne Distrikte und Bevölke­ rungsschichten einwirken. Die Einführung einer Börsenumsatz-Steuer nach dem Werthe, sowie eine Besteuerung der ausländischen Werthpapiere sind dringend geboten. Die Stempel- und Tax-Gesetzgebung ist einer Revision zu unterziehen behufs Lasten-Ausgleichung zwischen Grundbesitz und beweglicher Habe. 4. Zm Eisenbahnwesen ist es nothwendig, daß an Stelle des Aktienbetriebes ein billiger, lebenssicherer Staatsbetrieb mit Beseitigung aller Differenzialtarife tritt, ohne daß der Besitzstand der einzelnen Staaten berührt wird. 5. Papiergeld auszugeben gebührt allein den gesetzgebenden Faktoren des Reiches. Die Banknoten-Privilegien sind zu beseitigen. 6. Das Aktiengesetz vom 11. Zuni 1870 bedarf einer durchgreifenden Reform. Insbesondere sind Schutzmaßregeln zu treffen gegen die sittlichen und wirthschastlichen Gefahren, welche die unzureichende Verantwortlichkeit der Gründer und Vor­ stände nach sich zieht. 7. Die Gewerbeordnung und das Unterstützungswohnsitz-Gesetz bedürfen dringend der Revision. 8. Den Verträgen zwischen ländlichen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist durch Gesetz eine Form anzuweisen, welche für beide Theile einen wirksamen Rechts­ schutz im beschleunigten Verfahren mit vorläufiger ortspolizeilicher Entscheidung gewährt. 9. Bezüglich der Gerichtsorganisation ist die Einführung von Schöffen.gerjcht?n in tzrwggung ziehen. Der ländliche Grundbesitz ist von dem Zwange des Römischen Rechtes zu befreien. Insbesondere ist ihm eine ferner Natur ent­ sprechende Verschuldungsform und ein den deutschen Sitten entsprechendes Erbrecht zu gewähren. § 3. Mitgliedschaft.

Jedes Mitglied kann Personen, welche im wesentlichen die Grundsätze des Pro­ gramms anerkennen, zur Aufnahme vorschlagen. Der Vereinigungs-Ausschuß (§ 4) beschließt und entscheidet ihre Aufnahme. Die Aufnahme von Ehrenmitgliedern kann der Ausschuß mit zwei Drittel Ma­ jorität beschließen. § 4. Leitung der Vereinigung. Die Leitung der Vereinigung besorgt ein jährlich zu wählender Ausschuß von 20 Mitgliedern, denen das Recht der Kooptation je nach Ermessen zusteht. Die konstituirende und später jede Jahres-Versammlung wählt diese nach Stimmenmehr­ heit. Von dem Ausschuß scheidet jedes Jahr die Hälfte (das erste Mal durchs Loos) aus. Der Ausschuß entscheidet über Aufnahme der Mitglieder, und jedes Ausschußmitglied kann, wenn verhindert oder auswärts wohnend, schriftlich votiren. Zur Führung der laufenden Geschäfte wählt der Ausschuß ein aus 5 Mitgliedern bestehendes und geschäftsführendes Konnte, welches in Berlin seinen Sitz hat.

218

Anhang: Programme und Aufrufe rc.

(Konservative).

§ 5. Geschäftsordnung. Zur Geschäftsordnung der Vereinigung wird die Geschäftsordnung des Reichs­ tags angenommen. § 6. Außerordentliche und regelmäßige Versammlungen. Außerordentliche Versammlungen können */4 der Mitglieder beim Vorstand bean­ tragen; solche muß mit Angabe der Tages-Ordnung in der „Deutschen LandesZeitung" und „Deutschen Landwirtschaftlichen Zeitung" (von Sievert) 14 Tage vorher bekannt gegeben werden. Auch der Ausschuß kann solche Versammlungen ausschreiben. Mindestens einmal in jedem Jahr und zwar im Februar muß der Ausschuß der Vereinigung in Berlin eine Versammlung berufen; diese Versammlung bestimmt selbstständig ihren nächsten Versammlungsort.

§ 7. Beitrag. Zur Bestreitung der Vereinigungs-Ausgaben zahlt jedes ordentliche Mitglied jährlich zehn Reichsmark; das Jahr beginnt mit dem Jahr des Eintritts. Ueber die Verwendung der Mittel beschließt der Ausschuß, der auch die Geschäfts- und Kassenführung beaufsichtigt. Die Rechnungslegung des Rendanten schließt mit dem Kalenderjahr ab. Das Organ der Vereinigung ist die „Deutsche Landes-Zeitung".

§ 8. Abänderung. Abänderungen dieser Statuten können mit Ausschluß des unabänderlichen § 4 in einer eigens dazu anberaumten oder der Jahres-Versammlung unter vorher be­ kannt gemachter Tages-Ordnung nach § 6 mit Zweidrittel-Mehrheit der anwesenden Mitglieder beschlossen werden. § 9. Ausschlußbestimmung. Wer freiwillig aus dem Verein tritt oder, als in seinen Handlungen nicht congruent den §§ 2 und 3 befunden, ausgeschloffen wird, verliert sein Antheilsrecht am Vermögen des Vereins. Ein Ausschluß kann nur auf Beschluß des Ausschuffes und eingeholter Genehmigung der Versammlung stattfinden. Kein Mitglied hat das Recht, auf Theilung des gemeinschaftlichen Vermögens anzutragen. § 10. Auflösung des Vereins. Die Auflösung des Vereins kann nur erfolgen durch einen, in zwei GeneralVersammlungen, zwischen denen ein Zeitraum von 4 Wochen liegt, mit zwei Drittel Majorität der anwesenden Mitglieder gefaßten Beschluß. Dieser Beschluß bestimmt dann zugleich über den etwa angesammelten Ver­ mögensbestand des Vereins.

2) Nir deutsch-konservative Partei. Die Vereinigung der gesammten konservativen Partei mit Ausnahme der Frei­ konservativen, ist erfolgt, nachdem — bereits im Sommer 1875 — „eine Anzahl konservativer Männer" beschlossen hatte, „die Sammlung der konservativen Elemente aller verschiedenen Schattirungen zunächst in Preußen, dann weiter im ganzen Reiche zu versuchen. Es fand dann im Frühjahr 1876 eine Versammlung in Berlin und am 7. Juni 1876 eine zweite in Frankfurt a. M. statt. Hier, wo der damalige Kreuzzeitungsredakteur vonNathusius-Ludom „die Kreuzzeitungspartei vertreten hat", kam es zur Annahme eines Parteiprogrammes in der Form des nachfolgenden Aufrufs. Derselbe ist mit dem Statut des Wahlvereins in dem ersten „Flugblatt

Anhang: Programme und Aufrufe rc.

(Konservative).

219

des Wahlvereins der deutschen Konservativen" ohne Datum im Sommer 1876 ver­ öffentlicht. Die deutschkonservative Partei hat im Reichstage eine aus 40 Mitgliedern bestehende Fraktion, unter deren Mitgliedern sich 8 Agrarier befinden. Sie unter­ hält in Berlin ein ständiges Bureau, welches zuerst von dem Agrarier Stadtgerichts­ rath Wilm an ns geleitet wurde, jetzt aber der Oberleitung des Reichstags- und Landtagsabgeordneten Landrath a. D. von Busse zu Berlin unterstellt ist.

a) Aufruf zur Lil-nng einer deutschen konservativen Partei. Wir wenden uns an die konservativen Elemente des Deutschen Reiches mit dem Aufrufe zu vereinter Arbeit für die großen, gemeinsamen Ziele: 1. Wir wollen die für unser Vaterland gewonnene Einheit auf dem Boden der Reichs-Verfassung in nationalem Sinne stärken und ausbauen. Wir wollen, daß innerhalb dieser Einheit die berechtigte Selbständigkeit und Eigenart der einzelnen Staaten, Provinzen und Stämme gewahrt werde. 2. Wir können nur eine solche Weiterbildung unseres öffentlichen und privaten Rechtes als segensreich anerkennen, welche auf den realen und geschichtlich gegebenen Grundlagen fußend den Bedürfnissen der Gegenwart gerecht wird und damit die Stätigkeit unserer gesammten politischen, sozialen und geistigen Entwickelung fichert. 3. Wir legen auf politischem Gebiete entscheidendes Gewicht auf die monarchischen Grundlagen unseres Staatslebens und eine kräftige obrigkeitliche Gewalt. Wir wollen ein volles, gesetzlich gesichertes Maß bürgerlicher Freiheit für Alle und eine wirksame Beiheiligung der Nation an der Gesetzgebung. Wir wollen in Provinz, Kreis und Gemeinde eine Selbstverwaltung, gegründet nicht auf das allgemeine Wahlrecht, sondern auf die natürlichen Gruppen und or­ ganischen Gliederungen des Volkes. 4. Das religiöse Leben unseres Volkes, die Erhaltung und Wiedererstarkung der christlichen und kirchlichen Einrichtungen, die seine Träger sind, — vor allem die konfessionelle, christliche Volksschule erachten wir für die Grundlage jeder gesunden Entwickelung. und fstr die wichtigste Bürgschaft gegen die zunehmende Verwilderung der Massen und die fortschreitende Auflösung aller gesellschaftlichen Bande. Wir betrachten den kirchenpolitischen Streit, der als Kulturkampf vom Liberalismus zum Kampfe gegen das Christenthum ausgebeutet wird, als ein Unglück für Reich und Volk und sind bereit zu dessen Beendigung mitzuwirken. Wir erkennen einerseits dem Staate das Recht zu, kraft seiner Souveränetät, sein Verhältniß zur Kirche zu ordnen und werden die Staatsgewalt den entgegen­ stehenden Ansprüchen der römischen Kurie gegenüber unterstützen. Andererseits wollen wir keinen Gewissenszwang und deshalb kein Uebergreifen der staatlichen Gesetzgebung auf das Gebiet des inneren kirchlichen Lebens. Zn diesem Sinne sind wir zu einer Revision der im Laufe des Kampfes erlassenen Gesetze bereit. In diesem Sinne werden wir auch für das gute Recht der evangelischen Kirche auf selbständige Re­ gelung ihrer inneren Einrichtungen eintreten. 5. Gegenüber der schrankenlosen Freiheit nach liberaler Theorie wollen wir im Erwerbs- und Verkehrsleben eine geordnete wirthschaftliche Freiheit. Wir verlangen von der wirthschaftlichen Gesetzgebung gleichmäßige Berücksichtigung aller Erwerbs­ thätigkeiten und gerechte Würdigung der zur Zeit nicht ausreichend berücksichtigten Interessen von Grundbesitz, Industrie und Handwerk. Wir fordern demgemäß die schrittweise Beseitigung der Bevorzugungen des großen Geldkapitals. Wir fordern

220

Anhang: Programme und Aufrufe rc.

(Konservative).

die Heilung der schweren Schäden, welche die übertriebene wirthschaftliche Zentra­ lisation und der Mangel fester Ordnungen für Landwirthschaft und Kleingewerbe zur Folge gehabt hat. Insbesondere fordern wir die durch Erfahrung gebotene Revision des Gesetzes über den Unterstützungwohnsitz und der Gewerbe-Ordnung. 6. Mr erachten es für Pflicht, den Ausschreitungen der sozialistischen Irrlehren entgegenzutreten, welche einen wachsenden Theil unseres Volkes in feindseligen Gegen­ satz zu der gesammten bestehenden Ordnung bringen. Wir sind überzeugt, daß die bloße Entfesselung der individuellen Kräfte zu einer gesunden wirthschaftlichen Ent­ wickelung nicht führen kann, daß der Staat vielmehr die Aufgabe nicht abweisen darf, die redliche Erwerbsarbeit gegen das Ueberwuchern der Spekulation und des Aktienunwesen zu schützen und durch eine wirksame Fabrikgesetzgebung die sittliche und wirthschaftliche Lage der Lohnarbeiter, sowie das friedliche Zusammenwirken von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu sichern und zu fördern. Alle, welche diesen Grundsätzen zustimmen und gewillt sind, dieselben, unabhängig nach oben wie nach unten, zu vertreten, fordern wir auf, sich zu einer festgeschlossenen Partei der Deutschen Konservativen zu vereinigen.

v. Below-Saleske (Pommern); Freih. v. Burgk-Rosenthal (Sachsen); F. A. Bier­ ling-Dresden; W. Curtmann, Hofgerichts-Advokat, Friedberg (Wetterau), Dreykorn, Gymn.-Dir. (Landau); Graf Finckenstein-Ziebingen (Brandenburg); Freih. E. A v. Göler-Karlsruhe; v. Haas, Bezirksger.-Rath, Ansbach; v. Helldorff-Bedra (Pr. Sachsen); Freih. v. d. Horst-Hollwinkel (Westfalen); E. KatzGernsbach (Baden); Graf Kleist-Tschernowitz (Lausitz); Graf Krassow, Regierungs­ Präsident a. D., Pansewitz (Rügen); Lut Hard, Regierungsrath, Augsburg; Freih. v. Maltzahn-Gültz (Vorpommern); Freih. v. Minnigerode-Rosttten (Preußen); Dr. Mühlhäußer, Oberlirchenrath, Wilferdingen (Baden); C. Ott-Fürth; E. Graf Rantzow-Rastorf (Holstein); v. Rauchhaupt, Landrath, Delitzsch; Erbgraf Reinhardt v. Rechtern-Limpurg (Bayern); Dr. M. Rieger-Darmstadt; Fr. Graf zu S o l m s - Laubach (Hessen); U d o Graf Stolberg-Wernigerode (Schlesien); Bernh. Stroedel, Advokat, Dresden; Uh den, Amtsrath, Sorge (Neumark); Wey­ rauch, Landrath, Kassel.

b) Statut drs Wahlurrrins der deutschen konservativen. § 1. Der Wahlverein der deutschen Konservativen hat seinen Sitz in Berlin. § 2. Der Zweck des Vereins ist Einwirkung auf die politischen Wahlen im Sinne des veröffentlichten Programms. Behufs Erreichung dieses Zweckes wird er bestrebt sein, alle konservativen Kräfte im Reiche zu sammeln und einheitlich zu­ sammenzufassen, unabhängig sowohl von der jeweiligen Stellung der Regierung zu der konservativen Partei, als von den verschiedenen Partei - Schattirungen und den augenblicklichen Fraktionsbildungen. § 3. Mitglied des Vereins kann jeder unbescholtene Deutsche werden, welcher den Bestimmungen dieses Statutes sich unterwirft. Bestehende Vereine als solche werden im Hinblick auf die bestehende Vereinsgesetzgebung zur Mitgliedschaft nicht

zugelaffen. § 4. Jedes Mitglied des Vereins zahlt einen Jahresbeitrag von 2 Mark. Von Mitgliedern, deren Vermögensverhältnisse es gestatten, wird erwartet, daß sie frei­

willig einen Jahresbeitrag von 10 Mark leisten.

Anhang: Programme und Aufrufe re. (Konservative; Nationalliberale).

221

§ 5. Die Leitung des Vereins und die Verwendung der Vereinsmittel steht dem Vorstande zu, welcher durch Kooptation sich zu ergänzen hat. Der Vorstand hat seinen Sitz in Berlin. Doch können Sitzungen desselben an jedem Orte des deutschen Reiches stattfinden. § 6. Die erste Bildung des Vorstandes wird den Unterzeichnern des Aufrufes übertragen. § 7. Zur Führung der laufenden Geschäfte wählt der Vorstand aus seiner Mitte einen geschäftsführenden Ausschuß, welcher in Berlin seinen Sitz hat. § 8. General - Versammlungen finden nicht statt. Ein periodisch erscheinendes Flugblatt, welches den Vereinsmitgliedern unent­ geltlich zu liefern ist, vermittelt die Verbindung zwischen dem Vorstände und den Vereinsmitgliedern.

IV. NattonaUiberale Partei. Die nationalliberale Partei erließ am 28. Dezember 1876 den nachfolgenden „Wahlaufruf der nationalliberalen Partei" — abgedruckt in Nr. 665 der National­ zeitung vom 29. Dezember. Am Tage zuvor war an derselben Stelle (National­ zeitung Nr. 604 vom 28. Dezember) mit der Ueberschrift „Die deutschen Zustizgesetze. Eine Ansprache des nationalliberalen Zentral-Wahlkomite's an das deutsche Volk" und mit der Unterschrift „Das Zentral - Wahlkomite der nationalliberalen Partei" jenes Schriftstück veröffentlicht, von welchem in dem seiner Zeit vielfach nachgedruckten Artikel der Nr. 17 der fortschrittlichen Reichstags-Wahlkorrespondenz (ausgegeben den 30. Dezember 1876) „Wer gehört zum nationalliberalen Zentral -Wahlkomitö?" gesagt ist, daß es „in denjenigen Theilen, die sich mit der deutschen Fortschritts­ partei beschäftigen, an Lüge und Verleumdung nahezu Unglaubliches leistet." Da ein Mitglied des nationalliberalen Zentral-Wahlkomite's dem Verfasser mündlich erklärt hat, daß die Ansprache ohne die vorherige Kenntniß der meisten Mitglieder jenes Komito's erlassen sei, so dürfte sie.doch kaum al.s Parteimgnifest anzusehen sein. Wir unterlassen daher hier den Abdruck und behalten uns denselben zum zweiten Theil dieses Buches vor.

Wahlaufruf -rr nationattiberalen Partei. Erst ein Jahrzehnt ist seit der Begründung des Norddeutschen Bundes, der ersten unerschütterlichen Grundlage für die Wiederaufrichtung des deutschen Reiches, verfloffen, und heute umschlingt ein gemeinsames Verfassungsband alle Glieder der Nation. Von Jahr zu Jahr ist die Macht und das Ansehen des deutschen Reiches ge­ wachsen. Je weiter sich in Europa das Bewußtsein von der Stärke des deutschen Staates verbreitete, desto mehr hob sich zugleich das Vertrauen zu dem friedlichen Beruf der deutschen Nation. Nach Außen stark und geachtet, hat das deutsche Reich zugleich nach Innen seine reformatorische und befreiende Thätigkeit bewährt. Gewaltige Umgestaltungen der inneren Verhältnisse waren erforderlich, um dem neuen Staatswesen Raum zu schaffen innerhalb der seit Jahrhunderten zerrissenen Nation.

222

Anhang: Programme und Aufrufe rc.

(Nationalliberale).

Es galt Eine Vertretung nach Außen, Ein Heerwesen, Ein Verkehrsgebiet, gleiche Bedingungen für die freie Bewegung und die freie Arbeit herzustellen. Es gatt, Gewicht, Maaß und Münze gleichmäßig zu ordnen. Es galt die bürgerliche Ehe nach denselben Normen zu regeln. Es galt, die zur Erleichterung des Verkehrs und zur Förderung des Handels nothwendige Institutionen zu entwickeln und zu gemeinsamen Einrichtungen des Reiches umzugestalten. Solche tiefgreifende Aenderungen führten selbstverständlich auch Unzuträglichkeiten und schwierige Uebergänge herbei. Noch sind nicht alle Früchte der Arbeit reif. Lücken sind auszufüllen, Mängel, welche die Erfahrung gezeigt hat, sind zu be­ seitigen. Viele Aufgaben bleiben dem nächsten Reichstag vorbehalten. Neben den noth­ wendigen Ergänzungen der Justizgesetze, wird auf dem Gebiet des Verkehrs lebens unser Verhältniß zu anderen Nationen durch Erneuerung von Handelsverträgen zu ordnen sein. Die Revision des Aktien- und Genossenschafts-Rechts wird den Reichstag beschäftigen. Der in den Gesetzen der letzten Legislaturperiode der Kunst und den Gewerben gewährte Schutz ist durch den Erlaß eines Patentgesetzes zu vervollständigen. Die Organisation der Behörden des Reiches muß vollendet werden. Mit dem wachsenden Umfang und der steigenden Ausdehnung der Reichs­ gewalt wird das Bedürfniß nach Einsetzung verantwortlicher Träger der einzelnen Zweige der Gesetzgebung und Verwaltung des Reiches immer dringender.

Mit den Erfolgen wachsen die Pflichten. minder muß es auch ihre Vertretung sein.

Die Nation ist dessen eingedenk, nicht

Unsere Partei hat einen guten Theil an den, unter schwierigen Verhältnissen errungenen Erfolgen. Sie hat die Verfassung des Norddeutschen Bundes mitbe­ gründet, fruchtbare Keime freiheitlicher Entwickelung in sie hineingetragen und sie gegen die vereinten Angriffe der Gegner geschützt. Sie hat mit ihrer Initiative ein­ gegriffen und die Reichsregierung unterstützt, wo es darauf ankam, unerläßliche einheitliche Institutionen zu begründen und den inneren Ausbau des Reiches zu fördern. Ueberall strebte sie nach den Bedingungen der einheitlichen Neugestaltung die freiheitlichen Forderungen zu wahren.

In voller Freiheit prüfte sie alle Maßregeln der Reichsregierung. Sie suchte nicht muthwillig Konflikte, wo eine die Volksrechte wahrende Verständigung möglich war, sie widerstand aber ebenso entschieden den nach ihrer Ueberzeugung unberechtigten Anforderungen der Regierungen. Dies Verhalten unserer Partei hat, wie die Wahlen der Vergangenheit beweisen, im deutschen Volke wachsende Zustimmung gefunden, und hat dem Vaterlande zum Heil gereicht. Auch die eben abgelaufene Legislaturperiode legt hiervon Zeugniß ab. Als im Beginn derselben ein Konflikt mit der Reichsregierung über das Militärgesetz drohte, haben wir die Rechte der Volksvertretung bei der Feststellung der Militärausgaben und gleichzeitig den Frieden mit der Regierung zu wahren gewußt gegen ein Opfer, welches im Verhältniß zu dem erzielten Preis nicht zu hoch bemessen war. Der viel­ jährige Streit um die Organisation des Heeres und die verfassungsmäßige Behandlung des Militärbudgets wurde endgültig beigelegt und als erstem unter allen Staaten des Kontinents wurde Deutschland eine vollständige Kriegsverfassung zu Theil, in welcher die Pflichten und Leistungen jedes Bürgers gesetzlich geregelt sind.

Bei der Revision des Strafgesetzbuches haben wir das anerkannte Bedürfniß

Anhang: Programme und Aufrufe rc. (Nationalliberale; Fortschrittspartei).

2*23

befriedigt, weitergehende Ansprüche aber abgelehnt. — Die Forderung neuer Steuern haben wir als durch die Lage der Finanzen nicht gerechtfertigt abgewiesen. Am Schluß der Legislaturperiode war es uns beschieden, durch eine unter den schwierigsten Verhältnissen erreichte Verständigung über die Justizgesetze die Rechtseinheit, die unerläßlichste Bedingung unseres nationalen Lebens, zu sichern, und damit dem Volk das idealste Gut der Einheit sowohl wie der Freiheit zu schaffen. Ein verständiges Eingehen auf den Kern und Inhalt der Justizgesehe wird die Wahrheit dieser Behauptungen darthun und wird dem Volke zeigen, daß die, mit Rücksicht auf die verfassungsmäßige Stellung der Regierungen gebotene Vertagung einzelner Forderungen bezüglich der Presse, die hohe Bedeutung der nationalen und freiheitlichen Errungenschaft nicht abzuschwächen vermag. Das junge deutsche Reich bedarf der Anspannung aller Kräfte, des Zusammen­ wirkens der Reichsregierung und des Reichstags. Es widerspricht der Würde des Reichstags nicht, dies Einverständniß auf den, der Einheit und Freiheit günstigen Grundlagen zu suchen und zu fördern Noch hat das deutsche Reich der äußeren Feinde und der inneren Hindernisse genug! Noch bedarf das deutsche Reich mehr als ein anderer Staat Europas der aus der gegenseitigen Verständigung aller seiner Freunde erwachsenden Kräftigung! So war unser bisheriges Verhalten, so wird es auch in Zukunft sein. Unserer Pflicht und unserer Verantwortlichkeit, für das Reich schaffend zu wirken, waren und bleiben wir uns bewußt. Wir erwarten mit Ruhe den Spruch des deutschen Volkes zwischen uns und unseren Gegnern!

L. Bamberger, von Benda, v. Bennigsen. Dr. K- Braun. Fr. Dernburg. v. Forkenbeck. Dr. Fr. Kapp. Eduard Lasker. Miquel. H. B. Oppenheim. H. Rickert. Freiherr Schenk von Stauffenberg. Dr. Techow. von Unruh. Dr. Wehrenpfennig. Dr. Weigel.

V. Deutsche Fortschrittspartei. Wir theilen zwei Schriftstücke schlossen von sämmtlichen dazumal Abgeordneten, vom 23 Dezember veröffentlicht zuerst in der am 28. Korrespondenz.

mit, den Wahlaufruf der Partei, einstimmig be­ in Berlin anwesenden Reichstags- und Landtags1876 und die Erklärung vom 24. März 1877, März ausgegebenen Nr. 2 der Parlamentarischen

1) Aufruf -er deutschen Fortschrittspartei zur Nrichstagswahl 1877. Die am 10. Januar bevorstehende Neuwahl des deutschen Reichstages vollzieht sich unter einer ungewöhnlichen Erregung der Parteien. Sowohl auf dem politischen als auf dem wirthschaftlichen Gebiete haben sich seit den letzten Wahlen die Gegen­ sätze verschärft. Vergeblich hat die Nation gehofft, das einzige Mittel innern Frie­ dens und äußerer Stärke: die Einigung in der Freiheit von den Reichsgewalten er­ kannt und von der Gesetzgebung verwirklicht zu sehen. Statt dessen ist Beginn und Schluß der abgelaufenen Legislaturperiode durch den Zusammenstoß der ReichsregierUng und der Volksvertretung bezeichnet worden, und jedesmal ist es der Reichstag gewesen, der in der verhüllenden Form der Kompromisse sich dem Willen der Regie­ rungen gebeugt hat.

Anhang: Programme und Aufrufe rc.

224

(Fortschrittspartei).

Die deutsche Fortschrittspartei hat sich diesen Kompromissen mit Entschiedmheit

widersetzt.

Bei der Berathung des Militärgesetzes hat sie sich geweigert, auch nur zeitweilig Verzicht darauf zu leisten, die Friedenspräsenzstärke des Heeres, innerhalb seiner gesetzlichen Organisation

und

unbeschadet seiner vollen Kriegsstärke, budgetmäßig

festzustellen, wie solches ohne diesen Verzicht verfassungsmäßiges Recht des Reichs­

tages wurde. Jetzt hat die deutsche Fortschrittspartei dem Bundesrathe entschiedenen Wider­ stand entgegengestellt, als derselbe das Zustandekommen eines Theiles der Zustizgesetze

an Bedingungen knüpfte, die nicht nur mit ausdrücklichen Sätzen der von allen libe­

ralen Parteien aufgestellten Programme, sondern auch mit dem Rechtsbewußtsein der Nation im Gegensatz stehen.

Die deutsche Fortschrittspartei hat sich einem Kom­

promisse nicht anschließen können, welcher im Widerspruch mit soeben in zweiter Le­ sung fast einmüthig gefaßten Beschlüssen des Reichstages wesentliche Garantien der Preßfreiheit und

in dritter Lesung auf

auf die geforderte Zuständigkeit der

Schwurgerichte verzichtet, die Reste einer den ordentlichen Rechtsgang hemmenden

Gesetzgebung in Preußen erhält und innerhalb des deutschen Reiches landschaftliche

Verschiedenheiten des öffentlichen Rechts begründet.

Es war ein Kompromiß, ge­

eignet, nach allem, was vorausgegangen, das Ansehn der deutschen Volksvertretung herabzusetzen und auch in Zukunft die Berechnung der leitenden Staatsmänner auf

die Schwäche des Reichstages anzuweisen. Die Fortschrittspartei hat sich durch die Erfolglosigkeit ihres Widerstandes gegen diese Kompromisse nicht entmuthigen lassen.

Sie vermag auch zu ihrem Theile auf

eine arbeitsvolle und fruchtbringende Thätigkeit in der ablaufenden Legislaturperiode

hinzuweisen.

Die Abwehr einer größeren Steuerbelastung des Volkes und der durch

die Strafgesetznovelle auf Preß- und Redefreiheit gerichteten Angriffe, die durch das Preß- und Hülfskaffengesetz gemachten Fortschritte, die Ordnung unseres Geld- und

Bankwesens und nicht zum mindesten die Einzelbestimmungen des Militärgesetzes und der Zustizgesetze — sie alle weisen die Spuren der Arbeit und des Einflusses auch

unserer Partei auf.

Zn allen wesentlichen Richtungen ihrer Thätigkeit

hat sich die deutsche Fort­

schrittspartei durch ihr Programm vom 9. Juni 1861 leiten lassen.

Auch den Auf­

gaben der nächsten Legislaturperiode gegenüber hat sie ein neues Programm nicht

aufzustellen. Zn den wirthschaftlichen und sozialen Nothständen der Zeit wird sie eben so sehr

den sozialdemokratischen Ausschreitungen, als denjenigen Bestrebungen entgegentreten, welche die Bevölkerung in Interessengruppen zersplittern und die bewährten Grund­

sätze unserer Handels- und Gewerbepolitik verlassen.

Aber jede Förderung wird sie

den staatlichen Maßregeln angedeihen lassen, welche dazu bestimmt sind, die allge­ meine und technische Bildung der arbeitenden Klassen zu heben, den auf Selbsthülfe

begründeten Organisationen derselben gesetzliche Sicherheit zu verleihen, eine gerechte Vertheilung der Steuerlast zu bewirken und den sozialen Frieden auf der Grundlage

voller Gleichberechtigung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, der Groß- und der

Kleinindustrie zu fördern.

Nach wie vor bleibt die Erfüllung wichtiger staatsbürgerlicher und konstitutioneller Forderungen zu erstreben, insbesondere in der gesetzlichen Regelung des Ver­

einswesens, in der Gewährung von Diäten an die Reichstagsmitglieder, in der ge­

setzlichen Sicherung der Rechte des Reichstages im Budget- und Rechnungswesen.

Anhang: Programme und Aufrufe rc. (Fortschrittspartei).

225

Vor allen Dingen — es gilt nicht nur der Abwehr hierarchischer Uebergriffe und partikularistischer Zersetzung, — das deutsche Reich kann die letzten Bürgschaften seines Bestandes und seiner Vollendung nur finden durch die Organisation der Reichsgewalten im Geiste des konstitutionellen Systemes. Das Reich bedarf des vollen Nachdruckes einer selbständigen Exekutive, der Beschränkung der in die Ver­ waltung übergreifenden Befugniffe des Bundesrathes, und Hand in Hand hiermit eines dem Reichstage politisch und rechtlich für den Gang der Gesetzgebung und Verwaltung verantwortlichen Reichsministeriums. Erst dann wird die Vertretung des deutschen Volkes die ihr gebührende Stellung einnehmen. Erst dann wird die politische Entwickelung der Nation nicht mehr auf Konflikte und Kompromisse, sondern auf das einträchtige Zusammenwirken der Reichsregierung mit der Volksvertretung gestellt sein. Wir, — die deutsche Fortschrittspartei — wir sehen die Einheit des Vaterlandes nicht verwirklicht in der Person eines allgewaltigen Einzelbeamten an der Spitze der Reichsregierung. Uns genügt nicht auch die reichste Fülle technischer Gesetze. Wir verlangen vor allem den organischen Ausbau der Reichsverfaffung, welcher nicht durch das Opfer, sondern durch die volle Anerkennung der Grundrechte der Bürger und der Volksvertretung die nationale Einheit ficherstellt. Das ist die Hauptaufgabe unserer politischen Thätigkeit. Dafür rufen wir das deutsche Volk auf. Dafür hoffen wir, daß es Männer in den Reichstag sende, stark genug, um der Verführung der Macht Widerstand zu leisten, einsichtig genug, um jeden Vortheil des Augenblickes für des Volkes Wohl und Freiheit wahrzunehmen.

Berlin, 23. Dezember 1876. Namens der deutschen Fortschrittspartei: Franz Duncker. vr. Hänel. Herz. Klotz, vr. Minckwitz. Eugen Richter, von Saucken-Tarputschen. Virchow.

2) Erklärung vom 24. März 1877»

Durch gemeinschaftlichen Beschluß der beiden Fraktionen der deutschen Fortschritts­ partei im Reichstage und im preußischen' Abgeotdnttenhause vom 28.'Februar d. J-. find die Unterzeichneten beauftragt worden, in Anlehnung an das Programm vom 9. Juni 1861 und an den Aufruf vom 23. Dezember 1876 die Hauptzielpunkte der deutschen Fortschrittspartei zusammenzustellen.*)

*) Der erwähnte Beschluß vom 28. Februar lautet: 1) Die Fraktionen beschließen, eine aus beiden Fraktionen gewählte Kommission niederzusetzen, welche die wesentlichen Grundsätze der deutschen Fortschrittspartei in Anlehnung an das Programm von 1861 und den Aufruf von 1876 kurz formulirt, damit sie als Basis für die Konstituirung, insbesondere Statutenformulirung der Vereine den Parteigenossen in den verschiedenen Ländern Deutschlands dienen. 2) Die Fraktionen nehmen in Aussicht, einen Parteitag durch Delegirte der Vereine der Parteigenoffen und der parlamentarischen Fraktionen behufs definitiver Organisation der Partei zu berufen. — In die sub 1 genannte Kommission wählten die Fraktionen die zehn Unter­ zeichner der obenstehenden Formulirung der Parteigrundsätze, nämlich: Büchner, Reichstagsabgeordneten für Darmstadt-Gr. Gerau; Duncker, Reichstags- und Land­ tagsabgeordneten für Berlin IV.; Eysoldt, Reichstagsabgeordneten für Pirna in Sachsen (Wahlkreis Nr. 8); Hänel, Reichstagsabgeordneten für Kiel-Rendsburg und Landtagsabgeordneten für Segeberg; Herz, Reichstagsabgeordneten für AnsbachSchwabach in Baiern; Klotz, Reichstagsabgeordneten für Berlin II. und LandtagsParisius.

15

226

Anhang: Programme und Aufrufe re.

(Fortschrittspartei).

Die Zusammenstellung hat lediglich den Zweck, als Anhalt für die Aufftellung der Statuten der Vereine unserer Parteigenossen in den verschiedenen Gegenden Deutschlands zu dienen. Die förmliche Feststellung eines Programms ist einem allgemeinen Parteitage vorbehalten. Die Ergänzung der vorliegenden Grundzüge in Rücksicht auf die Anforderungen der politischen Lage in den Einzelstaaten bleibt den Parteigenossen selbstverständlich überlassen. —

Die deutsche Fortschrittspartei erstrebt: I. Auf bundesstaatlicher Grundlage die Kräftigung der Reichsgewalt und der parlamentarischen Rechte des Reichstages; ein für die Gesetzgebung und Verwaltung verantwortliches Reichsministerium; die Sicherung des Vollzuges der Reichsgesetze; ein Reichsgericht zur Schlichtung zwischenstaatlicher Streitigkeiten und zum Schutze der konstitutionellen Rechte im Reiche und in den Einzelstaaten. II Erhaltung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts für die Reichstagswahlen; Gewährung von Diäten an die Reichstagsmitglieder; Reichsgesetzlicher Schutz der Versammlungs- und Vereinsfreiheit. III. Verminderung und gleichmäßigere Vertheilung der Militärlast durch Abkür­ zung der Dienstzeit, durch volle Ausführung der allgemeinen Wehrpflicht und durch Erleichterung der Bedingungen des Einjährigen Freiwilligendienstes für die technische Berufsbildung; Jährliche Feststellung der Friedenspräsenzstärke durch das Etatsgesetz. IV. Vertheilung der Steuerlast nach Maßgabe der Steuerkraft, daher möglichste Einschränkung der indirekten Steuern, insbesondere Aufhebung der Salzsteuer; Vereinfachung des Zolltarifs; fortschreitende Verminderung der die in­ ländische Konsumtion und Produktion schädigenden Grenzzölle unter Berück­ sichtigung unserer industriellen Verhältnisse; Jährliche Steuerbewilligung durch den Reichstag, deshalb vorläufige Bei­ behaltung der Matrikularbeiträge unter Annahme eines gerechteren Vertheilungsmaßstabes und bis zum Ersätze derselben durch eine direkte quotifirte Reichssteuer. V. Aufrechterhaltung der Freizügigkeit, der Gewerbefreiheit, der Koalitionsfreiheit; Förderung der allgemeinen und technischen Bildung der arbeitenden Klassen, insbesondere der Lehrlinge; Gesetzliche Anerkennung der auf Selbsthülfe begründeten Vereinigungen; Weiterer Ausbau der wirthschastlichen Gesetzgebung, insbesondere bezüglich des Schutzes für das Leben und die Gesundheit der Arbeiter, der Frauen und Kinder, der Arbeitszeit der Letzteren, der Fabrikordnung, der gewerb­ lichen Schiedsgerichte und Einigungsämter;

abgeordneten für Teltow-Beeskow-Storkow; Eugen Richter, Reichstags- und Land­ tagsabgeordneten für Hagen; von Saucken-Tarputschen, Reichstagsabgeordneten für Berlin III. und Landtagsabgeordneten für Angerburg-Lötzen in Ostpreußen; Virchow, Landtagsabgeordneten für Berlin III.; Windthorst, Landtagsabgeord­ neten für Bielefeld-Halle-Herford.

Anhang: Programme und Aufrufe re.

VI.

VII.

VIII.

IX.

(Fortschrittspartei).

227

Reform der Aktiengesetzgebung im Sinne einer strengeren Verantwortlich­ keit der Gründer und Gesellschaftsorgane, sowie einer wirksameren Kontrole Seitens der Aktionaire. Ablehnung des Reichseisenbahnprojektes. Festsetzung der im öffentlichen Inter­ esse für die Anlage und den Betrieb der Eisenbahnen nothwendigen Bedin­ gungen durch Reichsgesetze und Handhabung derselben durch Reichsbehörden mit unmittelbarer Exekutivgewalt. Verbesserung der Reichsjustizgesetze in Bezug auf die Aburtheilung der poli­ tischen und Preßvergehen durch Geschworene, den Zeugnißzwang und Gerichts­ stand in Preßsachen, die gerichtliche Verfolgbarkeit der Beamten, die Entklei­ dung des Eides von konfessionellen Formen und in Bezug auf die Ausdeh­ nung des Beschwerderechts gegen Versagung der Strafverfolgung durch die Staatsanwaltschaft; Freiheit der Advokatur. Individuelle Gewissens- und Glaubensfreiheit. Abgrenzung des Rechtsgebietes der Kirchen- und Religionsgesellschaften gegenüber dem Staat durch Staats­ gesetz. Daher allgemeine Gesetzgebung über die Religionsgesellschaften ohne Rücksicht auf einzelne Konfessionen und ohne Bevorzugung bestimmter Kirchen, namentlich Feststellung der Bedingungen, unter welchen Religionsgesellschaften staatlich anerkannt werden und Korporationsrechte erhalten müssen; Allgemeiner obligatorischer und unentgeltlicher Volksunterricht; Trennung der Schule von der Kirche. Volle Durchführung des konstitutionellen Systems in den Einzelstaaten.

Berlin, 24. März 1877. Büchner. Franz Duncker. Eysoldt. Hänel. Herz. Klotz. Eugen Richter, von Saucken (Tarputschen). Virchow. Windthorst (Bielefeld).

Lrrrchttgnngen- ErgSnzuugen und Druckfehler. Seite 7. Der damalige Abgeordnete Oberlandesgerichtsaffeflor Pape ist nicht der jetzige Präsident des Oberhandelsgerichts. Seite 15 Anmerkung Zeile 12 von unten lies: „1875" statt 1872. Seite 17 Zeile 4 von oben lies: „Historiker" statt „Hystoriker". „20 „ 4 „ „ lies: „Theilnahme" statt „Theilmahne". „22 „ 14 „ „ lies: „v. Henmg-Plonchott" statt „v. Hennig-Plonchett". „23 „ 12 „ unten lies: „der Allerhöchste" statt „den Allerhöchsten". Zu Seite 35. Die neue Fraktion nannte sich selbst zunächst „Parlamentarischer Verein", und verlangte von ihren Mitgliedern nur Vollziehung der Geschäfts­ ordnung. Diese liegt mir mit allen 19 Unterschriften im Original vor, ge­ schrieben von der festen treuen Hand Hoverbecks. Sie ist vom 2. März 1861 datirt und lautet:

Geschäftsordnung für den parlamentarischen Verein. § 1. Die Unterzeichneten treten zu einem parlamentarischen Verein zusammen. §2. Der Verein stellt sich auf den Boden freisinniger durch Rücksichten keiner Art beirrter Wirksamkeit für das Wohl des preußischen und des davon untrennbaren deutschen Vaterlandes. § 3. Der Verein unterwirft die zur Verhandlung im Abgeordnetenhause ge­ langenden Angelegenheiten einer Vorbesprechung, unterzieht die durch seine Mit­ glieder zu stellenden Anträge einer Prüfung, und gewährt denselben die durch die Geschäftsordnung des Hauses vorgeschnebene Unterstützung. § 4. Vor jeder Plenarsitzung findet eine ordentliche Versammlung des Ver­ eins statt. § 5. Jedes Mitglied ist verpflichtet, sobald die alphabetische Reihenfolge es trifft, den Vorfitz in der Versammlung zu führen. § 6. Der Vorsitzende der letzten Versammlung ist verpflichtet, auf Antrag dreier Mitglieder eine außerordentliche Versammlung zu berufen. § 7. Der Eintritt erfolgt durch Unterschrift dieser Geschäftsordnung, der Austritt durch schriftliche Anzeige. Seite 35 Zeile 16 von unten ist das f hinter Schenkel zu löschen, da derselbe noch lebt. Ebenso das t hinter Thiel, der ebenfalls noch am Leben ist. Seite 45 Zeile 7 von oben ist hinter „Generalversammlung" einzuschieben: „des Nationalvereins". Seite 52 Zeile 10 u 12, 30 u. 31, und Seite 53 Zeile 8 muß es jedesmal statt „Schmelzers Hotel" oder „Fraktion bei Schmelzer" — „Kellners Hotel" oder „Fraktion bei Kellner" und umgekehrt heißen. Die sogen, stille Fortschritts­ partei hatte ihr Fraktionslokal eben in Schmelzers Hotel und die eigentliche Fortschrittspartei m dieser kurzen Session bei Kellner, fiedelte aber in der folgen­ den Session nach der Auflösung des Hauses nach Schmelzer's Hotel in der Heiligengeiststraße über. Zur stillen Fortschrittspartei gehörten folgende 21 Mitglieder: Aßmann (später nat.-lib.), Baffenge-Lüben, Baffenge-Lauban, Berger-Posen (später nat.-lib. f), Förster, Gerlich (nat.-lib.), Hinrichs-Grimmen (später nat.-lib. f), Jmmermann (t), Krause-Züllichau (s), Larz, Meibauer, Mühlenbeck, MüllerArnswalde, Müller-Demmin (nat.-lrb), Reichenheim (nat.-lib. +), v. SauckenGerdauen (|), Schiebler, Schmidt-Beuthen (f), Techow (nat.-lib.), Baron von Vaerst (später nat.-lib. f), Wachsmuth. Nach der Auflösung des Hauses und Wiederwahl sämmtlicher Mitglieder traten Aßmann, Baffenge-Lüben und HinrichsGrimmen zum linken Zentrum, die übrigen 18 in die nunmehr einzige Fraktion der deutschen Fortschrittspartei. Die gesperrt gedruckten gehören noch dem Ab­ geordnetenhause an.

Berichtigungen, Ergänzungen und Druckfehler.

229

Seite 65 Zeile 9 von oben. Die Oktroirung der Preßordonnanz reizte sogar die der Fortschrittspartei grollenden Altliberalen Berlins zur Opposition. Es wurde ein „Verein für Wahrung der verfassungsmäßigen Preßfreiheit in Preußen" begründet, dessen Ausschuß aus folgenden Männern bestand: G. Reimer, Buch­ händler (altlib.), Vorsitzender, Dr. Gneist, Stellvertreter des Vorsitzenden, Kommerzienrath L. Reichenheim, Rendant, Stadtrath Runge, Schriftführer, Dr. Löwe, dessen Stellvertreter, Fabrikbes. Benj. Liebermann, Professor Dr. Mommsen, Schulze-Delitzsch, Buchhändler Dr. Veit (altlib.). Seite 71 Zeile 28 von oben lies: „dem" statt „den". Seite 74 zu Zeile 22 u. ff. von oben: Die von Vincke mit Behagen im konstituirenden Reichstage kritrfirte und von Schulze-Delitzsch und Duncker vertheidigte Erklärung (mcht Auftuf) „an die liberalen Wähler in Preußen" datirt vom 8. Juni 1866 und hatte nur sieben Unterschriften: Schulze-Delitzsch. ParistusGardelegen. Dr. Löwe-Calbe. Julius von Hennig. Dr. Langerhans. Franz Duncker. Dr. Siemens. Seite 87 Zeile 20 von oben lies: „1867" statt „1866". Seite 87 Zeile 33 von oben lieS: „avancirt" statt „avaneirte". Seite 88 in Anmerkung *) Zeile 1 lies: „Simon" statt „Simson". Seite 108 Zeile 4 von oben lies: „I" statt „V". Seite 123 Zeile 1 von unten lies: „Rednern" statt „Redner". Seite 165 Zeile 30 von oben lies: „als sie nur nehmen konnte" statt „als es nur nehmm konnte". Seite 172 Zeile 2 von oben lies: „Oldenburg-Plön" statt „Oldenburg-Flör". Seite 172 Zeile 14 von unten lies: „zwar" statt „zuvor". Seite 178 in Anmerkung *) fehlt nach Zeile 9 eine Reihe — es mutz heißen: „gaben sich hierauf die erdenklichste Mühe, den großen Patrioten bei jeder Gelegenheit mit Schmutz zu bewerfen. Man vgl. nur den Leitartikel der Nationalzeitung" u. s. w.

Inhaltsverzeichnis. Seite Vorwort: Die Kanzlerkrisis.......................................................................... III —XL

Erstes Kapitel. Die politischen Parteien in Preußen von 1848 bis 1858

.................................

Zweites Kapitel. Die neue Aera und die Entstehung der deutschen Fortschrittspartei

1

....

23

Drittes Kapitel. Die deutsche Fortschrittspartei von 1861 bis zum Kriege von 1866 ....

40

Viertes Kapitel. Die Entstehung der nationalliberalen Partei; der Landtag von 1866 bis 1867 und der konstituirende norddeutsche Reichstag....................................................... 74 Fünftes Kapitel. Die konservativen und die liberalen Parteien von Mitte 1867 bis zum fran­ zösischen Kriege............................................................................................................ 98 Sechstes Kapitel. Kulturkampf und Militärgesetz von 1870 bis 1874 ................................................

135

Siebentes Kapitel. Fürst Bismarck und seine Stellung zu den politischen Parteien im April 1874

200

Anhang.

Programme und Aufrufe der politischen Parteien von 1875 bis 1877: I. Zentrum: 1) Aufruf und Programm vom 20. Zuli 1876 ................................ 2) Aufruf vom Dezember 1876 ........................................................... II. Sozialisten: Programm, Gotha Mai 1875

...........................................

211 212

214

HI. Konservative: 1) Steuer- und Wirthschaftsreformer (Agrarier).....................................215 2) Die deutsch-konservative Partei ................................................ ' . 218 IV. Nationalliberale Partei: Wahlaufruf vom 28. Dezember 1876

V. Deutsche Fortschrittspartei: 1) Aufruf vom 23. Dezember 1876 2) Erklärung vom 24. März 1877

.

.

221

..................................................... .....................................

223 225

Berichtigungen, Ergänzungen und Druckfehler.....................................228

Verlag von I. Gnttentag (D. Collin) in Berlin. (Zu beziehen durch alle Buchhandlungen.)

Von dem Verfasser dieses Buches sind ferner erschienen:

Die Grnoffenschaftsgesetze im Deutschen Reiche. Mit Einleitung und Er­ läuterungen zum praktischen Gebrauch für Juristen u. Genossenschafter. 1876. gr. 8. M. 10. [3a3 Werk enthält nicht blos eine unter gewissenhafter Berücksichtigung der neueren Literatur über die wirthschaftliche und juristische Seite der Genossenschaften erfolgte Umarbeitung der von dem Verfasser zu dem Preußischen und zu dem aus diesem hervorgegangenen Deutschen Genossenschaft-gesetze (vom 4. Juli 1868) veröffentlichten Kommentare, sondern auch eine Sammlung sämmtlicher in den einzelnen Deutschen Staaten er lasten en, von dem Sers, auch kritisch beleuchteten Einführungs-Gesetze und Berordnungen, sowie einen Abdruck des Oesterr. GenofsenschastsgesetzeS vom 9. April 1873. — Das Werk bietet somit den vollständigen Apparat zur Handhabung des Genostenschaftsrechtes.)

— Vas preußische Gesetz - betreffend dir privatrechtlichr Stellung der Erwerbs- und Wirthschastsgenoffenschaften vom 27. März 1867 nebst den Einführungsverordnungen vom 12. Juli, 12. August und 22. September 1867 und den Ministerin! - Instruktionen vom 2. Mai, 10. August, 25. September und 26. Oktober 1867. Mit Einleitung und Erläuterungen zum praktischen Gebrauche für Juristen und Genossenschafter. 1868. M. 3.

Deutsche Neichsgesetze. —

Text-Ausgabe mit Anmerkungen, Taschen­

format; cartonnirt. Diese Taschenausgabe der wichtigsten Reichsgesetze ist bei dem Deutschen Zuristenstande ungemein schnell beliebt 'geworden. Sie bietet in handlicher Form den korrekten Text der Gesetze und kutze ^rläüternve Anmerkungen von' kompetenten Fachmännern. Das. Bequeme Format und der billige Preis haben die Verbreitung der Sammlung wesentlich unterstützt.

1) Die Verfassung des Deutsche« Reiches von Dr. L. von Rönne, Appellations­ gerichts-Vicepräsident, Mitglied des Reichstags. Zweite vermehrte Auflage. Cartonnirt M. 0,75. 2) Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich. Nebst dem Reichsgesetz über die Presse. Von H. Rüdorff, Geh. Ober-Finanzrath in Berlin. Neunte Auflage. Cartonnirt M. 1. 3) Militär - Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich von Rüdorff, Geh. OberFinanzrath. Cartonnirt M. 0,60.

4) Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch unter Ausschluß des Seerechts nebst Einführungs- und Ergänzungs-Gesetzen. Von F. Litthauer, Rechtsanwalt und Notar. Dritte Auftage. Cartonnirt M. 2. 5) Allgemeine Deutsche Wechselordnung von Dr. S. Borchardt, MinisterResident, Geh. Justizrath re., Dritte Auflage, und Wrchselstemprlsteuergrsrtz nebst Wrchselstrmprltarifvon Hoyer, Regierungsrath und Provinzial-Stempelfiscal. Zweite Auflage. Cartonnirt in Einem Bändchen. M. 1,50

Verlag von I. Gnttentag (D. Collin) in Berlin. (Zu beziehen durch alle Buchhandlungen.)

Deutsche Neichsgesehr. —

Text-Ausgabe mit Anmerkungen.

6) Deutsche Gewerbeordnung nebst den vom Bundesrath beschlossenen Ausführungs­ bestimmungen. Von T. PH. Berger, Regierungsrath. Zweite Auflage. Cartonnirt M. 1.

7) Dir Deutsche post- und Telrgraphen-Grsetzgrbung. Geh. Ober-Postrath. Zweite vermehrte Auflage.

Von Dr. P. D. Fischer, Cartonnirt M. 2.

8) Sir Gesetze über den Anterstützungsmohnfltz, über Bundes- und Staats­ angehörigkeit und Freizügigkeit. Von C. Hahn, Ober-Tribunalsrath. Cartonnirt M. 1,20. 9) Sammlung Kleinerer Drichsgesrtze. Ergänzung der im Z. Guttentag'schen Verlage erschienenen Einzelausgaben deutscher Reichsgesetze. Von F. Litthauer, Rechtsanwalt. Zweite Auflage. Cartonnirt M. 2.

10) Das Drichsbeamtengesetz vom 31. März 1873 mit dem Gesetze über die Kau­ tionen der Reichsbeamten vom 2. Zuni 1869 und den dazu ergangenen Ver­ ordnungen. Nebst einer Zusammenstellung der besonderen Vorschriften für einzelne Beamtenklassen. Von O. Grandke, Regierungsassessor. M. 1. 11) Livilprozeßordnung nebst Gerichtsurrsassungsgeseh sür das Deutsche Deich. Von R. Sydow, Kreisrichter in Halle a. d. S. Cartonnirt in Einem Bändchen. M. 2.

12) Strafprozeßordnung vom 1. Februar 1877 und Grrichtsverfastungsgrsetz vom 27. Zanuar 1877 mit den Einführungsgesetzen. Von C. Hahn, OberTribunalsrath. Cartonnirt in Einem Bändchen. M. 1,60.

13) Konkursordnung.

Von R. Sydow, Kreisrichter in Halle a. d. S. (in Vor­

bereitung).

Neichsjusttzgesetze, Deutsche.

Textausgaben ohne Anmerkungen.

Civilprozeßordnung nebst Gerichtsverfaffnugsgesetz für das Deutsche Reich. Mit Sachregister.

M. 1,60.

Cartonnirt in Einem Bändchen.

Strafprozeßordnung nebst Gerichtsverfaffnugsgesetz für das Deutsche Reich. Mit Sachregister.

Cartonnirt in Einem Bändchen.

Koukursordnung sür das Deutsche Deich. Drichs-Iuftizgrsetzr.

M. 1,20.

Mit Sachregister.

M. 0,60.

Textausgaben ohne Anmerkungen.

(Gerichtsverfaffnugsgesetz. Strafprozeßordnung. Konkursordnung.) In Einem Leinenbande.

Druck von Lroitzsch & Ostertag in Berlin.

Civilprozeßordnung. M. 3,50.