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German Pages 240 [226] Year 2023
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20.07.2023
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Eine Million Menschen, schätzt man, lebten im 1. Jahrhundert n. Chr. in Rom. So viel wir über das Leben der Oberschicht in der antiken Metropole wissen, so wenig wissen wir über das Gros der Bevölkerung. Jene 85 %, die von der Hand in den Mund lebten. Um sie geht es Karl-Wilhelm Weeber in diesem Buch. Wie sah das Leben der Armen und Außenseiter in der Stadt der »goldenen Tempel« aus? Was wissen wir über ihre Lebensbedingungen, ihre Arbeit, ihre Freizeitbeschäftigungen? Weeber räumt mit hartnäckigen Legenden auf – wie etwa der, dass sich die armen Römer mit Sozialleistungen über Wasser halten konnten und ihr angebliches »Nichtstun« mit Gladiatorenkämpfen und Wagenrennen »versüßt« wurde: Brot und Spiele.
ISBN 978-3-8062-4513-4
€ 25,00 [D] € 25,70 [A]
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Weeber
Das Leben der anderen
Arm in Rom
Karl-Wilhelm Weeber
Arm in Rom Wie die kleinen Leute in der größten Stadt der Antike lebten
Karl-Wilhelm Weeber ARM IN ROM
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Karl-Wilhelm Weeber ARM IN ROM Wie die kleinen Leute in der größten Stadt der Antike lebten
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Theiss ist ein Imprint der wbg. © 2023 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Lektorat: Dr. Andreas Berger, Karlsruhe Satz: Arnold & Domnick, Leipzig Einbandabbildung: Die Wandmalerei im Grab des Trebius Justus an der Via Latina in Rom zeigt den Bau einer Villa. © Universal Art Archive / Alamy Stock Foto Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-4513-4 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-4638-4 eBook (epub): ISBN 978-3-8062-4639-1
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I N H A LT 1 quid mihi propositum sit – Einführung
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2 pauper – Wie eine lateinische Lernvokabel in die Irre führen kann
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3 panem et circenses – Die zynische Mär vom Sozialparadies Rom
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4 seditio – Versorgungskrisen, Hungerrevolten und ziviler Ungehorsam
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5 insula – Riskantes Leben und Wohnen in dunklen, lauten, stickigen Miniwohnungen
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6 puls – Brei, Öl und Wein als Grundnahrungsmittel
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7 tunica pulla – Die Kleidung der einfachen Leute
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8 labor – Die Berufswelt der kleinen Leute
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9 otiolum – Populäre Freizeitaktivitäten
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10 puticulus – Entsorgung statt Begräbnis
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11 meretrix – Zwangs- und Elendsprostitution armer
armer Frauen
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12 mendicus – Bettler und Obdachlose
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13 faex urbis? – Geringschätzung, Verachtung und Verhöhnung der Armen
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Anhang
Abkürzungsverzeichnis: Antike Autoren sowie Corpora 201 Anmerkungen 203 Literatur 215 Bildnachweis 223
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1 quid mihi propositum sit – Einführung
Wer Rom besucht und seine imposanten Überreste aus der Antike anschaut und bewundert – das Colosseum und das Trajansforum, das Pantheon und die Thermenpaläste –, stellt fest: Das muss eine prächtige Metropole gewesen sein. Tatsächlich gehörte das zum Herrschaftsprogramm römischer Kaiser: Vom Sitz des Weltenherrschers sollte eine architektonische Pracht ausstrahlen, die die maiestas imperii, „Größe und Erhabenheit des Reiches“, in unvergesslicher Weise veranschaulichte. Die Marmorfassaden und goldenen Tempeldächer waren eine Visitenkarte, die schon in der Antike alle Besucher beeindruckte. Aber nicht nur sie, sondern auch alle, die in der Ewigen Stadt ihr Zuhause hatten. „Mögest du nichts Größeres sehen als die Stadt Rom“, wünscht sich der Dichter Horaz von keinem Geringeren als dem Sonnengott Sol.1 Und die Chancen waren gut, dass Sol in der Tat bei seiner tagtäglichen Runde auf dem Sonnenwagen kein eindrucksvolleres urbanes Zentrum zu Gesicht bekam als die Stadt des Romulus am Tiber. Eine Million Menschen, schätzt man, lebten hier im 1. Jahrhundert. Über deren Lebensumstände wissen wir viel; archäologische und literarische Quellen informieren uns ebenso anschaulich wie eingehend – allerdings mit einer Einschränkung, die häufig übersehen wird: Wenn von „den“ Römern die Rede ist, dann bezieht sich das in Wirklichkeit vorrangig auf die Oberschicht. Wie die Angehörigen der
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quid mihi pr op o si tum si t – Einführung
„Prozession“ der Zimmerleute. Auf Stöcke gestützt, tragen Arbeiter mit hochgeschürzter T unica ein ferculum (T ragegestell) mit ihren Schutzgottheiten und Zimmerleuten bei der Arbeit. F resko einer Ladenfassade in Pompeji, 1 . Jh.
Elite die römische Welt sahen und erlebten, was sie unter Arbeit verstanden, wie sie sich vergnügten und wie sie tafelten, wie sich ihr Tagesablauf gestaltete, wie sie liebten, Freundschaften pflegten und mit ihren Gegnern umsprangen, welche religiösen Rituale ihnen wichtig waren, wie sich ihre Finanzen darstellten, welchen Lebensphilosophien sie anhingen und welcher Wertekanon sie leitete (oder eben auch nicht leitete) – das alles spiegelt die wunderbare lateinische Literatur, wenn auch mitunter herrlich satirisch gebrochen, wider. Aber sind das die Römer? Oder, um es in der Gendersprache korrekt zu formulieren, sind das die Römer und die Römerinnen? An der Repräsentativität dieses kulturellen Bildes kann man erhebliche Zwei-
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fel hegen, wenn man sich klarmacht, dass die städtische Oberschicht nur rund 10 bis 15 % der Bevölkerung ausmachte. Als Schätzung dürfte das nicht allzu weit von der Realität entfernt sein, die genaue „Quote“ lässt sich allerdings nicht ermitteln. Was ist mit den anderen? Über die Sklavinnen und Sklaven erfahren wir relativ viel, wenn auch ausschließlich aus der Perspektive der Herren. Das ermöglicht es aber durchaus, ein Bild mit deutlichen Konturen vom Leben der Unfreien in Rom zu gewinnen. Ihr Anteil an der Bevölkerung wird auf ungefähr 30 % geschätzt. Über den Rest der Römerinnen und Römer, immerhin mehr als die Hälfte – freie Bürger der Mittel- und Unterschicht sowie Freigelassene –, hören wir ziemlich wenig. Nur ein Teil von ihnen hat eigene Quellen hinterlassen.2 Das Gros bleibt anonym in der eigentlichen Bedeutung des Wortes: „namenlos“ – weil sich keinerlei Spuren ihrer Existenz finden. Kleine Leute, die gelebt haben und gestorben sind, ohne gewissermaßen zur Kenntnis genommen worden zu sein. Das Einzige, was wir mit ihnen zu assoziieren pflegen, verbindet sich mit der Parole panem et circenses, „Brot und Spiele“. In der Schlichtversion der historischen Legende heißt das, die Armen hätten sich vom Staat alimentieren lassen und ihr überaus großes Freizeitbudget im Circus Maximus, im Theater oder in den Thermen zugebracht – ohne Arbeit natürlich. Das ist eine nachgerade unverschämte Geschichtsklitterung, die diejenigen gleichsam auf die Anklagebank der Geschichte setzt, die eben jenes goldene GlamourRom mit ihrer Hände Arbeit aufgebaut haben, von dem gerade die Rede war. Das angebliche Sozialparadies Rom hat es nie gegeben, und es ist ein Anliegen dieses Buches, den Nachweis darüber zu führen (der im Übrigen in der althistorischen Forschung schon lange erbracht ist). Wenn ausgerechnet in einem – ansonsten höchst respektablen – Standardwerk über die römische Sozialgeschichte von einem „Lumpenproletariat“ und einer „breiten Schicht der parasitären Getreideempfänger“ die Rede ist,3 dann kann ich das nur als skandalös bezeichnen. Will man überhaupt von einem „parasitären“ Be-
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völkerungsteil sprechen, dann trifft das eher auf jene Rentiers der Oberschicht zu, die andere auf ihren Latifundien arbeiten ließen und sich von deren wirtschaftlichen Erträgen ein sorgloses Leben gönnten. Es ist wahrhaftig an der Zeit, finde ich, sich von dieser unsäglichen panem-et-circenses-Mär zu verabschieden, die das 19. Jahrhundert wohl aus Angst vor den „Begehrlichkeiten“ einer Arbeiterschaft erfunden hat, die sich nicht länger mit sozialen Brosamen abspeisen lassen wollte. Das Gros der Menschen im antiken Rom war arm – so arm, dass sehr viele Angst vor dem Morgen haben mussten. Sie lebten von der Hand in den Mund; ihre Lebensumstände waren, wie man heute sagt, prekär. Das ist ein von precarius abgeleitetes Fremdwort. Im Lateinischen bedeutet es „bittweise“, „von fremder Willkür abhängig“. Die Armen von Rom verlegten sich indes nicht auf Bitten oder gar Betteln; sie bemühten sich, ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu sichern – und wurden dafür von der Oberschicht verachtet: Wer auf bezahlte Arbeit angewiesen war, stand nach deren Meinung von Sklaven nicht mehr weit entfernt. Die Armen sind in den Quellen stumm und weitgehend unsichtbar; eigene Spuren haben sie nicht hinterlassen – es sei denn in den Denkmälern der materiellen Kultur, den Bauten, den Haushalts- und Kunstgegenständen und den infrastrukturellen Großtaten wie dem Straßenbau, die bis heute fortwirken. Ich werde auf den folgenden Seiten versuchen, die Armen Roms durch die Schilderung ihrer Lebensumstände, ihrer Arbeit und Freizeit gewissermaßen der Vergessenheit zu entreißen und ihnen, pathetisch formuliert, ein Stück Gerechtigkeit widerfahren zu lassen gegenüber dem üblen Vorwurf, eine apolitische, hedonistisch-schmarotzende Masse im Cäsarenstaat gewesen zu sein. Das wird, bedingt durch die Quellenlage, nicht immer ohne spekulative Elemente abgehen, aber dort, wo wir auf Mutmaßungen angewiesen sind, wird das zumindest deutlich gesagt werden. Entsprechend dem in den ersten Absätzen skizzierten Schauplatz beschränkt sich diese Darstellung auf die Hauptstadt Rom und auf deren Glanzzeit: die ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderte.
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quid mihi pr op o si tum si t – Einführung
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Manches ist auf andere Teile des Imperiums und andere Zeiten übertragbar, vieles aber auch nicht. Einige wenige Wiederholungen werden in Kauf genommen, damit die einzelnen Kapitel auch als abgeschlossene Leseeinheiten nutzbar sind. Die Darstellung versteht sich ausdrücklich nicht als Alternative zu herkömmlichen römischen Kulturgeschichten, sondern als Ergänzung und manchmal auch als Korrektiv. Wenn sie hier und da Anregungen für den schulischen Lateinunterricht bereithält, würde ich mich freuen. Dessen Bedeutung und großer Wert im curricularen Spektrum des Gymnasiums und der Gesamtschule sollen mit dem hier vorgeschlagenen erweiterten Blick auf Rom nicht geschmälert, sondern gestärkt werden.
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2 pauper – Wie eine lateinische Lernvokabel in die Irre führen kann
Er besitzt ein kleines Landgut rund 20 km nordöstlich von Rom, d. h. in bevorzugter suburbaner Lage, des Weiteren ein Haus in der Hauptstadt auf dem Quirinalshügel und selbstverständlich auch ein paar Sklaven.1 Und wie schätzt er seine wirtschaftliche Situation ein? Sum, fateor, semperque fui, Callistrate, pauper, „ich bin, ich geb’s zu, arm, und ich bin es, Callistratus, immer gewesen“.2 Man reibt sich die Augen: Das soll Armut sein? Es spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle, ob der, der das „bekennt“, der tatsächliche Dichter Martial (um 40 bis um 104) ist oder sein literarisches Ich, das nicht zwingend mit dem biographischen Ich identisch ist. Denn selbst, wenn „nur“ von Martials literarischer persona die Rede sein sollte, beziehen sich seine Aussagen doch auf sie. Der „Widerspruch“ zwischen tatsächlichem Besitz und behaupteter Armut wäre damit nicht aufgelöst. Tatsächlich ist der „Widerspruch“ deutlich geringer, wenn man Martials Aussage mit römischen Augen liest: pauper bezeichnet nämlich – anders, als es die Lernbedeutung in jedem Lateinbuch-Vokabular suggeriert – nicht den „Armen“ im heute üblichen Sinn. Und auch nicht das, was in den romanischen Sprachen und im Englischen da raus geworden ist. Das französische pauvre, das italienische povero, das spanische povre und das englische poor sind dem deutschen „arm“ semantisch viel näher als ihrem lateinischen Ursprungswort pauper.
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paup er es und eg en t es – Von vermög end en Arm en und von Ha benich t s en
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Das Adjektiv pauper bezeichnet im Lateinischen meist den „nicht Reichen“, jemanden, der „kein bedeutendes Vermögen, aber sein mäßiges Einkommen hat“.3 Wer pauper ist, muss auf seine Finanzen achten und kann mit dem Geld gewissermaßen nicht so um sich werfen. Sein Vermögen ist beschränkt; Seneca definiert paupertas als parvi possessio, „Besitz von wenigem“, und Ovid lässt einen „Unbegüterten“ sagen, zu seinen Charakteristika gehöre es, „sein Vieh noch zu zählen“ (pauperis est numerare pecus).4 Verglichen mit dem dives, dem „wirklich Reichen“, kann man bei paupertas von einer relativen Armut sprechen. Sie hat aber nichts mit Entbehrung, Not oder gar Hunger zu tun, sondern meint eine „standesbezogene Armut“, die einen erheblichen Abstand hat zu dem sorgenfreien Dasein des dives oder locuples, des „Begüterten“ (locus + plenus, „voll von Orten, Liegenschaften“). Das entspricht auch der Etymologie von pauper: Das Wort ist zusammengesetzt aus *pauo-pars, „wenig erwerbend“ (paucos + pario).5
pauperes und egentes – Von vermögenden Armen und von Habenichtsen In diesem Sinn ist Martial ein „Wenigverdiener“ – wenn er seinen Blick auf diejenigen richtet, die ihr Leben als Rentiers verbringen können. Das sind vor allem senatores und equites, „Senatoren und Ritter“. Sie bildeten die beiden höchsten Klassen in Roms timokratischer Gesellschaft. Wer einen Besitz von 400 000 Sesterzen sein Eigen nannte, zählte zu den equites. Senatoren mussten über mindestens eine Million Sesterze verfügen. Sank ein Senator unter dieses Limit ab, so „durfte“ er sich als pauper bezeichnen; denn er konnte finanziell gewissermaßen nicht mehr den Ansprüchen gerecht werden, die an ihn gestellt wurden. Ein sozialer Absturz – der Verlust der Senatorenwürde beim nächsten Census (Vermögensschätzung) – war die Folge; es sei denn, Standesgenossen oder der Kaiser griffen ein und stützten ihn finanziell; eine Solidarität unter Gutgestellten, die oft genug griff
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und den „Abstiegsgefährdeten“ damit vor paupertas, „relativer Armut“, bewahrte.6 Ein pauper musste sich indes keine Sorgen um das Morgen machen. Er hatte ein finanzielles Polster, auf das er zurückgreifen konnte, wenn sich seine Einkünfte reduzierten oder zeitweise ganz ausfielen. Überträgt man seine Situation auf den modernen Sozialstaat mit seinen Sicherungsmechanismen gegen Lebensrisiken, so kam er als Bezieher von Transferleistungen eher nicht infrage. Anders der absolut Arme. Er wird im Lateinischen als egens, egenus, indigens oder inops bezeichnet: einer, der „bedürftig“ ist, dem finanzielle Sicherheit „fehlt“ und der tagtäglich arbeiten muss, um über die Runden zu kommen. Wer egens ist, lebt meist von der Hand in den Mund. Sein Morgen ist materiell unsicher; wenn es in der Stadt zu Versorgungsengpässen und Teuerung von Lebensmitteln kommt, ist er unmittelbar betroffen und muss Sorge haben, dass er und seine Familie nicht satt werden. Besonders armutsgefährdet sind Lohnarbeiter, die zeitweise keinen Job finden, sowie Familienangehörige, bei denen der Ernährer wegfällt, d. h. Kinder, Witwen und Behinderte sowie alte Leute, die zu schwach sind, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Ein Rentensystem gab es nicht; das „Menschenrecht“ auf ein arbeitsfreies Alter war noch nicht erfunden. Viele Menschen waren arm, nicht wenige, die nur über ganz wenig Habe verfügten, sogar bitterarm (egentissimus). Wer kein Obdach hatte oder zum Überleben auf Almosen angewiesen war, wurde als mendicus, „Bettler“, bezeichnet. Der lateinische Begriff ist aus moderner Sicht noch unbarmherziger: Dem mendicus wird ein mendum unterstellt, ein „Fehler“ oder „Defizit“, der bzw. das ihn daran hindert, sich ohne fremde Hilfe über Wasser zu halten. Das Gros der Einwohner Roms gehörte zu den egentes; in moderner Diktion könnte man von Geringverdienern sprechen, die gerade einmal ihre Grundbedürfnisse – Nahrung, Kleidung, Obdach – erwirtschaften konnten und am Existenzminimum lebten – mal darunter, mal darüber, aber jedenfalls ohne nennenswerte Ressourcen. Die Römer kannten keine offizielle oder inoffiziell definierte Armuts-
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S timm en aus d em G r ab – Eine r ömisch e „Mit t elschich t“
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grenze; insofern sind Selbst- und Fremdeinstufungen als „arm“ stets subjektiv.
Stimmen aus dem Grab – Eine römische „Mittelschicht“ Ging man früher häufig davon aus, dass es in Rom zwischen Multimillionären oben und Habenichtsen unten so gut wie keine Mittelschicht gegeben habe, so ist diese Fehleinschätzung mittlerweile von der Forschung revidiert worden. Die plebs media selbst, das „Volk in der Mitte“, war keine homogene Masse, sondern setzte sich aus Menschen unterschiedlicher Einkommens- und Vermögensschichten zusammen. Das waren Handwerker (einschließlich der Ärzte, die als solche galten) und Gewerbetreibende, die ein paar Mitarbeiter hatten, Unternehmer mit größeren Betrieben, Soldaten und Angehörige anderer Sicherheitsorgane, Verwaltungsbedienstete im Regierungsapparat und Gut- bis Spitzenverdiener im Showbusiness. Für die meisten höheren Positionen, erst recht für Männer, die als Anwälte, Politiker und Intellektuelle in der Öffentlichkeit auftraten, war eine rhetorische Ausbildung selbstverständlich. Sie war mit dem heutigen Studium vergleichbar. Wer im mittleren Management etwa als unfreier oder freier dispensator, „Buchhalter“, „Kassierer“, tätig war, musste lesen und schreiben können. Wie hoch der Literalitätsgrad in Rom war, ist umstritten. Die Quote der Nicht-Analphabeten lag in der Hauptstadt bei vielleicht einem Drittel – wobei von sehr unterschiedlich ausgeprägten Kompetenzen zwischen flüssigem Lesen und „Wiedererkennen“ von Buchstaben auszugehen ist. Die Schulbildung war freiwillig und kostete Geld. Für die Kinder der egentes, der „wirklich Armen“, war sie kaum zu realisieren. Bei unfreien Kindern war es eine Frage der Investition, ob ihr Herr sie zur Schule schickte, um sie anschließend in anspruchsvolleren Tätigkeiten einzusetzen. Während die ganz Armen in den Quellen stumm bleiben, haben Angehörige der Mittelschicht eigene Spuren hinterlassen. Das sind
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vor allem Grabinschriften. Sie waren ein Statussymbol, zumal sie anzeigten, dass jemand über ein eigenes Grab oder jedenfalls eine Grabnische verfügte. Das alles kostete Geld und dürfte für einen Großteil der Mittellosen unerschwinglich gewesen sein. Sie gingen als Namenlose in die Ewigkeit ein. Um diesem Schicksal zu entgehen, fungierten manche Handwerker- und Kultvereine (collegia) auch als Sterbekassen: Mitglieder zahlten zusätzlich zu den üblichen Clubbeiträgen eine Art Versicherungsprämie ein, mit deren Aufkommen eine ordentliche Bestattung mit den üblichen Trauerritualen finanziert wurde. Die Aufnahmegebühr und die monatlichen Beiträge für die Mitgliedschaft in einem Berufs- oder Kultverein waren nicht besonders hoch. Angehörige der Mittel- und oberen Unterschicht konnten sich das leisten, die meisten Lohnarbeiter aber vermutlich nicht. Viele collegia verfügten über ein eigenes Vereinshaus (schola);7 sie waren für ihre Mitglieder, auch wenn man sich nur einmal im Monat zum gemeinsamen Speisen traf, ein wichtiger sozialer Anker, manchmal sogar ein zweites Zuhause. Aber sie waren eben weitgehend ein gesellschaftliches Phänomen der plebs media, nicht der ganz Armen. Das schließt nicht aus, dass der eine oder andere Verein auch Mittellose aufnahm, wenn ein Sponsor deren Beiträge übernahm – einen wohlhabenden Patron oder eine Patronin hatte jedes collegium.8
Armut und Sklaverei – Warum „Misere“ nicht nur die Finanzen betrifft Zu den Sklavinnen und Sklaven: Kann man sie pauschal mit den Armen gleichsetzen? Das liegt ja nahe, und tatsächlich wird Sklaverei/ Armut vielfach mit einem Gleichheitszeichen versehen. Aber das ist in dieser Verallgemeinerung falsch. In einer Hinsicht können alle Unfreien als „arm“ gelten: Sie waren dem Willen ihres Eigentümers ausgeliefert, weitgehend rechtlos und nicht selbstbestimmt. Dieses „arm“ im Sinne von „elend“, „unglücklich“, „bemitleidenswert“ oder „arm
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Armut und
S k laver ei – War um „ Mis er e“ nich t nur di e F in an zen b etriff t
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dran“ heißt auf Lateinisch miser, und sicherlich hätten die meisten Freien und Unfreien zugestimmt, das „Sklavenlos“ als misera fortuna, misera sors oder misera condicio zu bezeichnen, als eine „unglückliche Lage“, als ein „Unglück“.9 Das galt auch im übertragenen Sinn: Mit dem Antritt der Kaiserherrschaft sei Tiberius unter das Joch einer misera servitus geraten, stellt sein Biograph fest, einer „schlimmen Sklaverei“.10 Was jedoch die materielle Seite betrifft, so geht die Forschung davon aus, dass viele Sklaven „im Vergleich mit armen Freien häufig einen materiellen Vorteil gehabt haben“.11 Wie erklärt sich diese Diskrepanz? Zum einen damit, dass Sklaven auch als Repräsentanten ihrer Herren galten, ein schlecht gekleideter und am Hungertuch nagender Sklave also als Spiegel einer wirtschaftlich nicht gerade prosperierenden Situation seines Herrn wahrgenommen wurde. Zum anderen gab es vor allem bei städtischen Sklaven eine mehr oder minder einträgliche Möglichkeit, Rücklagen zu bilden. Die Rede ist vom peculium, dem „Sondervermögen“ eines Sklaven. Selbstverständlich stand das peculium de iure dem Herrn zu, aber de facto erlaubte er es, dass
„Arm und reich“ entsprach häufig auch „unten und oben“: der Villenbesitzer F ructus, flankiert von seinen Sklaven Myro und Victor, die ihm Wein reichen. Die Kleidung betont den U nterschied in der gesellschaftlichen Stellung stark. Bodenmosaik aus U thina, N ordafrika, 2./3. Jh.
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der Unfreie sich durch Trinkgelder und ähnliche Einkommensquellen finanzielle Ressourcen aufbaute, auf die der Herr, wollte er seinen Sklaven motiviert halten, keinen Einfluss nahm – es sei denn im Rahmen eines Freilassungs-Deals, bei dem der Unfreie sich mit „eigenem“ Geld aus der Sklaverei freikaufte. Da waren dann gelegentlich Summen im Spiel, die mercennarii, „Lohnarbeiter“, kaum hätten aufbringen können. Lebenshaltungskosten fielen für Unfreie ja nicht an; da waren die Herren gesetzlich verpflichtet, ihnen die menschlichen Grundbedürfnisse zu finanzieren. Anders bei den unter Armut leidenden Freien: Sie hatten keinen Rückhalt, keine familia, die ihrer Fürsorgepflicht nachkam. Und die Aussichten auf Freilassung standen in einem städtischen Haushalt überhaupt nicht schlecht – dort, wo Freie und Unfreie eng zusammenlebten und sich persönliche Nahverhältnisse herausbildeten, die die manumissio, „Freilassung“, in den Augen vieler Herren als fast selbstverständliches beneficium, „Wohltat“, nach einigen Jahren erwiesener Loyalität und widerstandsloser Dienstpflicht im Gefolge hatten. Entsprechend hoch war die Freilassungsquote in stadtrömischen Haushalten, sodass sich Augustus veranlasst sah, gesetzliche Höchstgrenzen festzuschreiben, um ein „Überborden“ der Freilassungen zu verhindern.12
„Nicht leicht kommen die Armen hoch …“ – Limitierte Aufstiegschancen Freigelassene (liberti) gehörten keineswegs ausschließlich, aber häufig zur Schicht der Armen, die hart arbeiten mussten, um sich und ihre Familien durchzubringen und vor Hunger zu schützen. Daneben gab es aber auch liberti, die es mit Leistungsbereitschaft, Talent, Glück und überdurchschnittlich guten Ausgangsbedingungen schafften, der Armut Lebewohl zu sagen und teilweise zu großem Wohlstand, manchmal sogar in höchste Positionen aufzusteigen.13 Dass die Freien – vor allem die Wohlhabenden – über solche Karrieren ehe-
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„N ich t leich t k omm en di e Arm en hoch …“ – Limiti er t e A uf s ti egsch anc en
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maliger Sklaven nicht besonders glücklich waren,14 kann man nachvollziehen. Aufstiegsgeschichten lassen aber auch erkennen, dass soziale Mobilität in der römischen Kaiserzeit kein Ding der Unmöglichkeit war, wenngleich die Chancen nicht besonders hoch standen. Grundsätzlich blieb es auch dem armen Freien, wenn er tüchtig war, besonderes Glück oder eine zündende Geschäftsidee hatte, nicht verwehrt, in den Kreis der Gut- und Höchstverdiener aufzusteigen. Mit Normalität hatte das indes nichts zu tun. Der Arme, der als Tellerwäscher zum Millionär aufstieg, war jedenfalls keine Leitfigur der römischen Gesellschaft – in der Praxis nicht und auch nicht in der Theorie und Utopie. Da galt eher die resignative „Einsicht“, die Juvenal seinem unzufriedenen „Helden“ Umbricius in den Mund legt: haut facile emergunt, quorum virtutibus obstat res angusta domi, „nicht leicht kommen die hoch, deren guten Anlagen knapper häuslicher Besitz im Wege steht“. Und er setzt noch, was objektiv nicht ganz so zutrifft, bitter hinzu: sed Romae durior illis conatus, „aber in Rom ist es für sie noch härter, das zu versuchen“.15
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3 panem et circenses – Die zynische Mär vom Sozialparadies R om
Schenkt man manchen modernen Darstellungen – und erst recht einem weitverbreiteten Image des alten Rom – Glauben, so war die Hauptstadt des Imperium Romanum ein wahres Sozialparadies. Darin tummelten sich Hunderttausende Menschen, deren Hauptbeschäftigung ein mehr oder minder anstrengender, auf jeden Fall aber arbeitsfreier Müßiggang war. Arbeiten mussten sie nicht, weil sie vom Kaiser alimentiert wurden. Aber was war, wenn sie angesichts ihres hohen Freizeitbudgets auf „dumme Gedanken“ kamen und mehr politische Mitsprache einforderten? Dieser Gefahr einer „Aktivierung“ beugte eine Unterhaltungsindustrie vor, die die Menschen geradezu pausenlos zu Shows im Theater, Amphitheater und Circus einlud. Eine Ablenkungs-„Masche“, die auf eine totale Entpolitisierung setzte und die materiell verwöhnte Plebs auch noch mit ebenso üppiger wie einschläfernder Berieselung bei Laune hielt. Viele Zeitgenossen glauben tatsächlich an dieses Narrativ, wenn auch vielleicht in etwas „abgespeckten“ Variationen, bei denen aber der Kern präsent bleibt: soziale Wohlfahrt und Massenunterhaltung als wirksames Gift zur Verhinderung politischer Partizipation. Und natürlich gibt es dafür einen griffigen Slogan: panem et circenses, „Brot und Spiele“. Dieses geflügelte Wort hat eine unglaubliche Karriere hingelegt; es gilt noch heute als Chiffre für eine Herrschaftsstrategie, die
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Vo lk sguns t g eg en Ge sch enk e
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keineswegs auf autoritäre Regimes oder Diktaturen beschränkt ist. Wenn es darum geht, soziale Standards ohne möglichst großes Aufsehen abzusenken, nutzen auch demokratische Politiker, so ein häufig gehörter Vorwurf, Fußballweltmeisterschaften, Olympische Spiele oder andere ablenkende „circensische“ Großereignisse, um entsprechende Gesetze zu beschließen. Umgekehrt werden nicht selten „Wahlgeschenke“ kritisiert, Vergünstigungen für viele Bürgerinnen und Bürger, die sie kurz vor einem wichtigen Urnengang geneigt machen sollen, für die „Wohltäter“ zu stimmen: Bestechung mit panis in anderer Form, wenn man so will.
Volksgunst gegen Geschenke – Der Satiriker und seine Erfolgsformel für Herrschaftssicherung Natürlich gibt es dieses „Rezept“, und natürlich waren und sind politische Akteure zu allen Zeiten bestrebt, sich mithilfe von „Geschenken“ das zu verschaffen, was die Römer favor populi nannten, die „Gunst des Volkes“. Wer „Geschenke“ ans Volk allerdings immer nur kritisch unter dem Blickwinkel des Machterhalts oder der Machterringung beurteilt, übersieht leicht, dass gerade auch in demokratischen Gemeinwesen der favor populi eine zentrale Legitimationsgrundlage für weiteres politisches Handeln darstellt. Wahlergebnisse sind ja nicht zuletzt Ausdruck dieser „Gunst“, und ohne diesen „Gunsterweis“ geht die politische Gestaltungsmöglichkeit schnell auf die Konkurrenz über. „Bestechung“ und Erfüllung politisch-ökonomischer Interessen sind insofern nicht unbedingt Polaritäten, sondern auch unterschiedliche Interpretationen von Politik und ihr zugrunde liegenden Motiven. Die panem-et-circenses-Formel bringt zweifellos eine Erwartung, eine Intention und einen Effekt auf den Punkt, die sich mit interessengeleiteter Politik stets verbinden – und zwar nicht nur aus der Sicht der „Schenkenden“, sondern auch aus der Sicht der „Beschenkten“. Ein zusätzlicher Vorzug der prägnanten Formel liegt in ihrer Anschaulichkeit und Konkretheit. Da werden zwei Dinge genannt, von
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denen das Erste für ein Grundbedürfnis des Lebens steht und das Zweite für Lebensqualität. Nimmt man Kultur im weiteren Sinne auch unter die menschlichen Grundbedürfnisse auf, so erfüllen die circenses auch diesen Anspruch. Ob der Urheber mit diesem grandiosen Rezeptionserfolg seiner zum Sprichwort avancierten panem-et-circenses-Kreation gerechnet hat? Daran darf man begründete Zweifel hegen, schon aus einem ganz äußerlichen Grund: In der „Originalfassung“ wird aus metrischen Gründen eine Silbe phonetisch verschluckt. Ein nasaliertes End-m wurde in der Dichtung mit dem nachfolgenden Vokal verschliffen, d. h., die Formel hieß pan et circenses. Strebt man eine solche akustische Reduktion an, wenn man einen effektvollen „Slogan“ kreieren will? Eher nicht. Aber gut, das kann man auch anders sehen. Nicht anders sehen kann man dagegen die Tatsache, dass der Urheber bestimmte historische Bezüge herstellt und seine „Formel“ damit in einen geschichtlichen Kontext einflicht. Der betrifft die Geschichte Roms vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis zum 1. Jahrhundert n. Chr. Der Schöpfer des berühmten Wortes ist Juvenal (67 bis nach 127), ein bissiger, schonungsloser Satiriker, der mit derben Worten kritisierte, was er als Entfernung der römischen Gesellschaft von ihren früheren moralischen Werten, geradezu als Dekadenz und Perversion wahrnahm. Wenn man Juvenals politischen Standort mit anachronistischer Begrifflichkeit verorten will, so handelt es sich da eher um „rechte“, rückwärtsgewandte, als um „linke“, progressive Kritik.1 In seiner um 120 veröffentlichten zehnten Satire greift er das römische Volk wegen seines politischen Opportunismus an. Es drehe sein Fähnchen zuverlässig nach dem Wind; das sehe man an der Reaktion der Leute auf den dramatischen Sturz des einst übermächtigen Prätorianerpräfekten Sejan. Kaiser Tiberius verdächtigte ihn des Hochverrats und ließ ihn im Jahr 31 kurzerhand umbringen. „Und wie verhält sich die Masse des Remus2? Sie hängt sich an Fortuna ran3 und hasst wie immer die Verurteilten.“4 So kommentiert der Dichter die Reaktion der Bürger auf die plötzliche Wende und den Fall eines Mächtigen, den sie kurze Zeit
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zuvor sogar noch als neuen Kaiser bejubelt hätte. Niemand protestiert, niemand fragt nach, alle ducken sich; ein einziger Brief des Tiberius aus seinem geliebten Refugium Capri reicht dafür aus, dass alle die neue fortuna akzeptieren. Und dann folgt das bittere Fazit mit der panem-et-circenses-„These“: … iam pridem, ex quo suffragia nulli vendimus, effudit curas (scil. populus), nam qui dabat olim imperium, fasces, legiones, omnia, nunc se continet atque duas tantum res anxius optat: panem et circenses.5 „Längst schon, nachdem wir unsere Stimmen an keinen mehr verkaufen, hat (das Volk) die früheren Gegenstände seiner Sorge weggeworfen. Denn (das Volk), das einst Befehlsgewalt, Rutenbündel, Legionen, kurz alles zu verleihen pflegte, schränkt sich jetzt ein und wünscht sich nur noch in Sorge zwei Sachen: Brot und Circusspiele.“ Juvenals politische Diagnose ist eindeutig. Das römische Volk ist desinteressiert an politischer Macht. Es übt sozusagen Verzicht, es schränkt sich ein, nimmt sich zusammen – das ist die Grundbedeutung von se continere. Diese Einschränkung erweist sich in einem Wunsch, auf den es sich konzentriert in der Furcht, dass er nicht erfüllt werden könnte (anxius): unentgeltliches „Brot“ und Spiele im Circus. Dabei stehen die circenses offensichtlich für die beliebten Massenveranstaltungen, d. h. neben Wagenrennen auch Gladiatorenshows und Theateraufführungen.
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Stimmenverkauf in einer „lupenreinen“ Demokratie? – „Brot und Spiele“ als Quelle von Fake News Um die Wahlen zu politischen Ämtern und militärischen Kommanden – die Rutenbündel sind Insignien magistratischer Gewalt – kümmert sich das Volk dagegen nicht mehr; das sind keine Gegenstände seiner cura, „Sorge“. Diese „Entpolitisierung“ wird häufig als Kritik Juvenals an der kaiserlichen Alleinherrschaft gedeutet: Mit dem Übergang von der Republik zur Monarchie sei das Volk entmachtet worden. Bei genauerem Hinsehen greift diese Interpretation allerdings zu kurz. Wie war es Juvenal zufolge vorher? Suffragia vendimus, sagt er klipp und klar, da „haben wir unser Stimmrecht verkauft“ – und zwar gewissermaßen meistbietend an Politiker, die im Gegenzug was boten und versprachen? Üppige „Spiele“ und nicht selten auch eine bessere und billigere Versorgung mit dem Grundnahrungsmittel Getreide. Juvenal legt da den Finger in eine böse Wunde der späten römischen Republik. Im 1. Jahrhundert v. Chr. war es eingerissen, dass sich ehrgeizige Kandidaten die Unterstützung des Volkes nicht nur durch Wahlversprechen, sondern auch durch Bestechung und pompöse Shows zu sichern suchten. Entsprechende Anklagen und Prozesse de ambitu, „wegen Wahlerschleichung“, waren damals an der Tagesordnung. Suffragia vendere, „Stimmen verkaufen“, macht klar, dass die vermeintliche Souveränität der „wetterwendischen Schar des Remus“ bereits damals pervertierenden Einflüssen unterlag, die eine freie politische Willensbildung verhinderten. Dieser Verlust an Freiheit war also dem Satiriker zufolge nicht erst ein Ergebnis der „bösen“ Monarchie; auf panem et circenses richteten sich die Wünsche des Volkes auch vorher schon. Denn auch das gilt es zu beachten: Subjekt des beklagten Wandels ist nicht der „manipulierende“ Kaiser, sondern das Volk selbst bzw. ein kollektives „Wir“, die römischen Bürger. Merke: It takes two to tango, die „Verführer“ und die, die sich „verführen“ lassen … Dieser Verlust von politischer Macht aufseiten des Volkes war ein Prozess und nicht ein plötzliches Ereignis, das erst mit der Begründung des Principats durch Augustus eingetreten wäre. Damit hat
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Juvenal ohne Zweifel recht. Und insofern sind die Verkürzung der panem-et-circenses-These und ihre Beschränkung auf die Kaiserzeit selbst im Kontext von Juvenals eigener „Diagnose“ falsch. Das ist das Erste, was viele moderne Interpreten in ihrer Verallgemeinerung und Dekontextualisierung des Juvenal-Zitats übersehen. Ein zweiter wichtiger Aspekt wird von der Geschichtswissenschaft beigesteuert. Sie weist unmissverständlich darauf hin, dass Rom auch in republikanischer Zeit alles andere als eine lupenreine Demokratie gewesen ist. Roms Geschicke wurden stets von einem relativ kleinen Führungszirkel gesteuert: dem Senat. Dessen Mitglieder waren zwar irgendwann im Zuge von Beamtenwahlen vom Volk gewählt worden, aber sie unterlagen, sobald sie nach dem Ende ihrer einjährigen Amtszeit automatisch in den Senat aufgenommen wurden, keinerlei politischer Kontrolle mehr, sondern bildeten ein autonomes Entscheidungsorgan. Es unterliegt keinem Zweifel, dass der Senat jahrhundertelang die entscheidenden Weichen der römischen Politik gestellt hat – ein Gremium, das allenfalls indirekt aus suffragia, „Wahlentscheidungen“, des Volkes hervorgegangen war. Und dass dieser Senat der eigentliche Verlierer des Übergangs zur Monarchie gewesen ist – auch daran herrscht in der althistorischen Wissenschaft kein Zweifel. Eben diese Instanz überspringt Juvenal jedoch in seiner Analyse. Er tut so, als wäre in den Zeiten vor dem „längst schon“ das Volk der unumschränkte Souverän gewesen, und vermittelt damit einen unzutreffenden Eindruck vom politischen System der römischen Republik, in dem der „Volkswille“ in aller Regel vom Willen der Elite gelenkt oder sogar bestimmt war. Über die Besetzung von Ämtern, Befehlsgewalten und das von Juvenal zusammenfassend als omnia, „alles“, Bezeichnete wurde in comitia, „Wahlveranstaltungen“, abgestimmt. Die aber waren, wie nicht nur Egon Flaig herausgearbeitet hat, „ein Konsensorgan, in welchem das römische Volk seinen Konsens mit der Politik der Aristokratie ausdrückte“. Das spiegelte sich in einem bezeichnenden Detail sehr anschaulich: „Die versammelten Bürger standen (anders als in Hellas), die Magistrate saßen.“6
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Die „Spiele“ als hochpolitischer Ort – Wie die Beherrschten mit ihrem Herrscher kommunizierten Mit modernen Vorstellungen von Volkssouveränität lässt sich dieses politische System Roms nicht vergleichen; ein schlichter Transfer der Juvenal’schen panem-et-circenses-„Diagnose“ ist deshalb mindestens unhistorisch. Ihre gnomische Generalisierung erscheint höchst problematisch, wenn sie aus ihrem geschichtlichen Kontext gerissen und zu einem allgemein gültigen historisch-empirischen Dogma aufgewertet wird. Hinzu kommt, dass die Kritik des Satirikers nicht wirklich evidenzbasiert ist. Das mag viele überraschen, die den römischen Principat als ein fast diktatorisches politisches System wahrnehmen, in dem so gut wie keine Partizipation des Volkes zugelassen war. Tatsächlich aber bildeten sich, ob es dem Kaiser passte oder nicht, neue Formen geradezu basisdemokratischer Mitsprache heraus – und zwar gerade dort, wo die Quelle der vermeintlichen politischen Kaltstellung lag: bei den circenses. Die Spiele galten schon in der Republik als Barometer, das die aktuelle Popularität eines Spielgebers anzeigte: In welcher Lautstärke brandete der Applaus der Zuschauer auf, wenn er seine Loge betrat? Nicht anders, ja verstärkt in der Kaiserzeit: Beifallskundgebungen und Buhrufe, intensives Klatschen und Zwischenrufe, eisiges Schweigen und Pfeifen, Schmäh- und Hochrufe entwickelten sich zu üblichen Artikulationsformen in der Kommunikation mit dem Kaiser, einem Mitglied der kaiserlichen Familie, den Vertrauten des Kaisers und Angehörigen seiner Entourage. Es gab Publikumsdemonstrationen für und gegen ein bestimmtes Vorhaben, Proteste gegen gestiegene Lebenshaltungskosten, Unmuts- und Beifallsäußerungen verschiedener Art. Gewiss, der Kaiser musste sich in seinen Entscheidungen nicht davon beeinflussen lassen – obwohl er es oft genug tat. Aber er musste diesen „Volkswillen“ wenigstens zur Kenntnis nehmen, denn es wurde erwartet, dass er bei möglichst vielen Veranstaltungen persönlich anwesend war. Und zweifellos waren diese Publikumsdemonstrationen
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für Manipulationen anfällig – von Drahtziehern für oder gegen bestimmte Projekte auf der einen und kaiserlichen „Influencern“ auf der anderen Seite – und sie waren natürlich auch kein reguläres Verfassungsorgan, zudem stark zufallsabhängig und emotionsgeladen. De facto aber waren das Demonstrationen und Willensäußerungen eines einigermaßen repräsentativen Teils des stadtrömischen populus Romanus, die die circenses zu einem hochpolitischen Ort machten. Da war eine außerinstitutionelle neue Praxis der politischen Willensbildung und Kommunikation entstanden, in der der Kaiser einer vieltausendköpfigen Menschenmenge gewissermaßen Auge in Auge begegnete. Die circenses als pure Ablenkung von der Politik? So simpel war es offenbar nicht. Die von Juvenal behauptete circensische Einbahnstraße in Richtung Politikentwöhnung hat es nicht gegeben. Die circenses waren vielmehr, stellt Paul Veyne in seiner bahnbrechenden Untersuchung über „Brot und Spiele“ fest, „eine Arena der Politik“: Damit gewannen „der Circus und das Amphitheater im politischen Leben Roms eine unverhältnismäßig große Bedeutung“.7
Vom Getreide zum Brot – Oder: weniger Netto vom Brutto Schauen wir uns die Inhalte der panem-et-circenses-Formel genauer an, die viele für den „Beweis“ eines üppig verwöhnenden Sozialstaats und/oder „kollektiven Freizeitparks“ halten. Beginnen wir mit einer scheinbar etwas besserwisserisch klingenden Anmerkung zum „Brot“. Tatsächlich holten sich die Empfänger an den Ausgabestellen kein „Brot“ ab, sondern Getreide (weshalb die kostenlosen Lieferungen eben auch frumentationes, das damit beglückte Volk plebs frumentaria und die Berechtigungsmarken tesserae frumentariae hießen; alles von frumentum, „Getreide“, abgeleitet). Gebackenes Brot führte erst Kaiser Aurelian gegen Ende des 3. Jahrhunderts ein. Eine Petitesse oder eben doch nur eine pedantische Besserwisserei? Wohl nicht. Denn der Unterschied zeigt schon einmal eines:
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Der Satiriker ist kein Historiker. Er muss es mit den Fakten auch nicht so genau nehmen. Aber man darf ihn eben auch nicht als eine Art 1:1-Reporter von Tatsachen ansehen. Hinzu kommt ein materieller Aspekt: Wer Brot bekommt, kann direkt hineinbeißen. Wer Getreide bezieht, muss es erst zu Brot verarbeiten (lassen). Diesen Verarbeitungsprozess konnten indes die allerwenigsten Menschen in ihren kleinen Wohnungen leisten. Sie mussten sich also an den Bäcker ihres Vertrauens wenden, und der wollte für seine Dienstleistung bezahlt werden. Fazit: Brutto- und Netto-„Erlös“ der frumentationes waren nicht identisch. Die Metamorphose von frumentum zu panis schmälerte die kostenlose Sozialleistung – in welchem Umfang, wissen wir nicht. Die Abgabe von kostenlosem Getreide diente – neben der Ausrichtung prächtiger Spiele – sicherlich der Herrschaftssicherung. Das war den Kaisern und allen politischen Beobachtern bewusst. Die frumentationes waren jedoch keine Erfindung der römischen Kaiser und insofern von ihrer Genese her letztlich keine repressive Methode. So wird es indes in einem historisch kontextlosen Verständnis des Brotund-Spiele-Slogans gern interpretiert und dargestellt. Wie verfehlt diese Sicht der Dinge mit der „Schuldzuweisung“ an die „Caesaren“ – der Begriff hört sich noch ein bisschen machtgieriger und skrupelloser an – ist, zeigt ein Blick auf die Geschichte der römischen Republik.
„Volksfreundliche“ Getreideverteilungen – Der Kaiser als Erfüller einer historischen „Erblast“ Es war der Sozialreformer Gaius Gracchus, der im Jahr 123 v. Chr. das erste „Getreidegesetz“ (lex frumentaria) auf den Weg brachte. Es stellte den Bürgern noch kein Getreide zum Nulltarif, wohl aber eine bestimmte Menge zu einem verbilligten Preis zur Verfügung. Das galt gewissermaßen als Rendite für die Weltherrschaft Roms.8 In der scharfen politischen Auseinandersetzung der folgenden Jahrzehnte zwischen Popularen und Optimaten waren weitere Gesetzesinitiativen
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zu den frumentationes ein ständiger Zankapfel. Im Jahr 58 v. Chr. gelang aus „volksfreundlicher“ Sicht der Durchbruch: Publius Clodius Pulcher, Ciceros Erzfeind, „köderte das Volk“ – so ein antiker Historiker –, indem er einen erfolgreichen Antrag auf kostenlose Getreideverteilung stellte und wohl auch die Zahl der Bezugsberechtigten kräftig erhöhte.9 Hinter diese Sozialleistung kam man nicht mehr zurück, erst recht nicht in Bürgerkriegszeiten, in denen sich die jeweiligen Kontrahenten intensiv um den favor populi bemühten. In diesen chaotischen Jahrzehnten scheint sich auch ein „Wildwuchs“ breitgemacht zu haben, der zu einer immer größeren Zahl von Anspruchsberechtigten führte, darunter auch Nichtbürger und Fremde, die von dieser auf römische Bürger beschränkten Leistung traditionell (und einvernehmlich unter den „Parteien“) ausgeschlossen waren. Angeblich war die Zahl der Getreidebezieher zu Anfang der 40er-Jahre v. Chr. auf 320 000 hochgeschnellt. Eine Riesenlast für die Staatskasse, fand Caesar und setzte eine mutige Reform durch: Er beschränkte die Höchstzahl der frumentum-Bezieher auf 150 000.10 Es scheint so, dass er diese unpopuläre Maßnahme mit der Schaffung von 80 000 Siedlerstellen in Kolonien abgefedert hat, die das Heer der Getreideempfänger in Rom entsprechend reduzierten.11 Aber eine Minderung seiner sonst auf Großzügigkeit und liberalitas, „Freigebigkeit“, aufbauenden Popularität nahm er damit durchaus in Kauf. Der Begriff war noch nicht erfunden, aber „Sozialabbau“ kommt bei den Betroffenen und ihren „Interessenvertretern“ nie gut an. Für Augustus, der sich nach einem blutigen Bürgerkrieg die Alleinherrschaft gesichert und de facto eine Monarchie begründet hatte, wäre es politischer Selbstmord gewesen, sich von dem mittlerweile etablierten System der frumentationes abzuwenden. Erstaunlicherweise hat er einmal sogar ernsthaft erwogen, die kostenlosen Getreidespenden zur Gänze abzuschaffen. Aber das Risiko schien ihm doch zu hoch: Irgendwann werde sie jemand aus Ehrgeiz (ambitio) wieder einführen, vermutete er.12 Und da zog er es vor, sich den
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Popularitätseffekt selbst zu sichern. Aber er war fest entschlossen, das System nicht weiter ausufern zu lassen. Im Laufe seiner langen Regierungszeit deckelte er die Höchstzahl der Getreideempfänger im Jahr 6 n. Chr. auf 150 000.13 Die Quellen sind nicht ganz eindeutig;14 deshalb könnte die Obergrenze auch bei 200 000 gelegen haben. Dabei blieb es aber in der gesamten Kaiserzeit. Wie in vielen anderen Bereichen hatte Augustus auch in Sachen frumentationes dauerhafte Strukturen geschaffen (und dazu, wie bereits skizziert, eine effiziente Verwaltung der gesamten annona, „Getreideversorgung“, aufgebaut). Die Berechtigten wurden in Listen geführt und erhielten Marken, die sie beim monatlichen Bezug ihres Getreidekontingents vorweisen mussten. Daneben gab es Nachrückerlisten mit „Anwärtern“, die je nach Platzierung die Stelle von Verstorbenen einnahmen. Eine Dringlichkeitsliste für Notfälle existierte wohl nicht. Petenten hatten nur die Chance, über andere liberalitas-Akte des Kaisers Zuwendungen zu erhalten. Oder der Kaiser öffnete in Krisenzeiten seine persönliche Schatulle, subventionierte größere Mengen an Grundnahrungsmitteln – neben Getreide waren das Öl und Wein – oder verteilte sie als Geschenk an die Bevölkerung, manchmal wohl auch unabhängig davon, ob die Empfänger zur plebs frumentaria gehörten.
Status, nicht Bedürftigkeit! – Wer in den Genuss staatlichen Getreides kam Das genaue Prozedere der Auswahl „normaler“ frumentum-Bezieher kennen wir nicht, wohl aber die notwendigen Kriterien, die zu einer Bewerbung berechtigten: Es kamen nur freie, in Rom ansässige römische Bürger im Alter über zehn Jahre infrage. Ob auch Freigelassene oder nur frei geborene Männer grundsätzlich anspruchsberechtigt waren, ist unklar. Die Bedingungen machen deutlich, dass das entscheidende Kriterium der Status, nicht der Bedarf oder die Bedürftigkeit war. Insofern handelte es sich streng genommen nicht um eine Sozialleistung, sondern um eine Art Bürgersold oder wie schon in der
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Republik um eine Macht- und Herrschaftsrendite. Lieferanten waren im Wesentlichen unterworfene Provinzen: Die Bewohner Ägyptens, Nordafrikas und Siziliens zahlten gewissermaßen Naturalsteuern an ihre „Herren“ in der Hauptstadt. Selbstverständlich profitierten auch viele Arme von den frumentationes; aber eben nur dann, wenn sie die Statusvoraussetzungen erfüllten – und nicht, weil sie arm waren. Die plebs frumentaria war eine privilegierte Statusgruppe; Peregrine (Nichtbürger), Frauen, Sklaven und wohl auch Freigelassene hatten, selbst wenn sie bitterarm waren, keinen Zugang dazu. Das führte zu zahlreichen sozialen Härten, wie wir heute sagen würden. Starb der Ernährer einer Familie, der anspruchsberechtigt gewesen war, so fielen die Getreidelieferungen für seine Witwe und seine Kinder fort. Bei einer Scheidung ging die Frau ebenfalls leer aus; da nahm der Ehemann seinen Anspruch sozusagen mit, und es gab ganz im Unterschied zum modernen Sozialstaat kein Ersatzprogramm für die geschiedene Frau. Eine Frau hatte keinen Anspruch auf diese Zuwendung – und auch auf keine andere staatliche Fürsorgeleistung. Bis auf eine einzige, die allen Menschen zustand, die aber in modernen Darstellungen häufig übersehen wird, obwohl sie, verglichen mit anderen historischen Perioden, alles andere als selbstverständlich war: Sauberes Quellwasser stand in der Kaiserzeit allen Römerinnen und Römern kostenlos und in unbegrenztem Umfang zur Verfügung. Viele Hundert Schöpfstellen im ganzen Stadtgebiet garantierten, dass niemand mehr als ein paar Hundert Meter von einer „Bezugsquelle“ für Trink- und Brauchwasser entfernt war. Abundantia aquae, „Überfluss an Wasser“, war ein programmatisches Versprechen des Staates, das mit großer Konsequenz eingelöst wurde. Ein Senatsbeschluss aus dem Jahr 11 v. Chr., der sicher nicht ohne Billigung des Augustus ergangen war, verpflichtete die verantwortliche Wasserbehörde, dafür zu sorgen, dass Tag und Nacht beständig aus öffentlichen Laufbrunnen Wasser floss in usum populi, „zum Nutzen des Volkes“.15 Die Gesamtkapazität der elf stadtrömischen Aquädukte summierte sich auf eine Wassermenge, die jedem Bewohner nach moder-
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nen Berechnungen statistisch 600 l pro Tag zur Verfügung stellte. Da die Wasserleitungen stark reparaturanfällig waren, war diese Kapazität nicht wirklich sichergestellt; wohl aber, dass niemand in Rom Mangel an dem lebenswichtigen Nahrungsmittel Wasser haben musste.
Pro Tag 3500 Kilokalorien – Eine Überlebensration für die Familie? Wie stand es um die Quantität der frumentatio? Man geht allgemein davon aus, dass die im Jahr 73 v. Chr. verabschiedete lex Terentia Cassia auch in der Folgezeit das Maß aller Dinge blieb.16 Danach standen jedem Bezieher fünf modii Getreide pro Monat zu. Das entspricht 32,5 kg monatlich und 390 kg jährlich. Auf die tägliche Kilokalorienmenge umgerechnet, ergibt das 3500. Dieser Wert wird häufig als ausreichend für zwei Erwachsene erachtet. Das trifft aber nur dann zu, wenn der Begünstigte selbst einem physisch weniger fordernden Beruf nachging, etwa als im Wesentlichen im Sitzen arbeitender Handwerker, als Lehrer oder Verkäufer. In einer überwiegend auf Muskelkraft beruhenden Zivilisation wurden indes viele Berufstätige benötigt, die schwere körperliche Arbeit leisteten: Lastenträger und Bauarbeiter beispielsweise. Deren täglicher Bedarf lag nicht selten zwischen 4000 und 5000 Kalorien, d. h., die fünf modii pro Monat reichten nicht einmal für viele einzelne Bezugsberechtigte aus, geschweige denn konnten sie eine Familie mit Frau und Kindern ernähren. Die Getreidezuteilung war mithin eine Basisversorgung, mehr nicht. Alle anderen Lebensmittel mussten gekauft werden, die in Rom besonders hohe Miete17 musste aufgebracht und Kleidung musste finanziert werden, um nur die wichtigsten Ausgaben zu nennen. Und es gingen von dem „Sockelbetrag“ in Getreide noch die Kosten für den Bäcker ab. Damit zerplatzt das Klischee vom Sozialparadies Rom, in dem es sich ohne eigene Erwerbsarbeit prima hätte leben lassen, wie eine Blase. Um zu überleben, waren auch die Bezieher öffentli-
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chen Getreides gezwungen, einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Zeit dazu hatten sie trotz der zahlreichen verlockenden circenses-Angebote reichlich. Auch dieser Mythos vom vermeintlich dauernden Besuch von Massenunterhaltungen lässt sich leicht widerlegen.18 Die hier aufgestellte Rechnung stimmt grundsätzlich auch dann, wenn man gelegentliche Lebensmittelspenden der Kaiser ins Kalkül einbezieht. Mal lud der Herrscher Tausende Menschen zu einem öffentlichen Festmahl ein, mal wurden im Theater oder im Circus Geschenke in die Menge geworfen, darunter auch Lebensmittel oder Lose mit entsprechendem Gegenwert. Das war für alle, die davon profitierten, eine momentane Erleichterung ihrer Situation, aber es war weder eine dauerhafte noch eine kalkulierbare Größe. Und die Empfänger gingen zahlenmäßig allenfalls in die Hunderte oder manchmal Tausende. Das Gros der Menschen aber ging bei diesen auf Popularität abzielenden liberalitas-Aktionen der Kaiser leer aus. Die grundsätzliche Situation – die Notwendigkeit, den eigenen Lebensunterhalt und den der Familie mit eigener Anstrengung verdienen zu müssen – änderte sich auch im 3. Jahrhundert nicht, als weitere Lebensmittel unentgeltlich an das Volk – wahrscheinlich die frumentum-Bezieher – verteilt wurden: Olivenöl seit Septimius Severus sowie Schweinefleisch und Wein unter Aurelian.19 Über die Größenordnung der jeweiligen Rationen liegen keine Nachrichten vor – und auch nicht darüber, ob sie mit der gleichen Regelmäßigkeit verteilt wurden wie das Getreide (bzw. in späterer Zeit das Brot). Besonders wahrscheinlich ist das nicht. Wer diese zusätzlichen Leistungen als eine Art game changer in der „Sozialpolitik“ des kaiserzeitlichen Rom missversteht, geht, um es hart zu formulieren, der SelbstdarstellungsPR des kaiserlichen patronus plebis, „Schutzherrn der Plebs“, auf den Leim. Eine Einladung zum unbeschwerten arbeitsfreien Müßiggang verband sich damit nicht.
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Kaiserliche Geldspenden – Kein dauerhafter Weg aus der Armut Das trifft auch auf die congiaria zu, Geldzuwendungen des Kaisers an das Volk. Der Kreis der Empfänger war wohl weitgehend identisch mit der plebs frumentaria. Das bot sich schon aus verwaltungstechnischen Gründen an, weil dabei die vorhandenen frumentatio-Listen abgearbeitet werden konnten. Der Begriff congiarium leitet sich ab von congius, einem Hohlmaß von gut drei Litern. In der Zeit der Republik bestand das congiarium aus einer Öl- oder Weinspende, die von Beamten oder Amtsbewerbern als privater Akt der Großzügigkeit verteilt wurde. In der Kaiserzeit verwandelte sich diese Natural- in eine Geldspende. Sie wurde zu besonderen Gelegenheiten ausgegeben: beim Regierungsantritt eines neuen Kaisers, bei einem Thronjubiläum, anlässlich eines bedeutenden militärischen Triumphes, aufgrund einer testamentarischen Verfügung des verstorbenen Herrschers und bei herausragenden Ereignissen in der kaiserlichen Familie. Die Ausgabe der congiaria wurde nicht selten öffentlichkeitswirksam inszeniert: Der Kaiser sitzt auf einem Podium, und die Empfänger des Geschenks steigen einige Stufen zu ihm hoch. Bedienstete bzw. die personifizierte Liberalitas mit Zählbrett und Füllhorn runden die Schenkszene ab. Das Ganze wird auf Münzdarstellungen und Reliefs für die Um- und Nachwelt festgehalten.20 Bei den congiaria knauserte der Kaiser keineswegs – im Gegenteil: Mit 200, 300, 400 und manchmal mehr Sesterzen waren sie durchaus üppig. Augustus als erster Kaiser begründete eine großzügige Tradition, an der sich seine Nachfolger messen lassen mussten. Die Summe seiner congiaria ist beeindruckend: Sie liegt bei 2280 Sesterzen pro Empfänger.21. Ein energisches Aber folgt dieser Angabe jedoch auf dem Fuß. Diese Summe verteilte sich auf 57 Jahre, d. h., pro Jahr gab es im Durchschnitt eine „Ausschüttung“ von 40 Sesterzen. Das entspricht, wenn man den Tagesverdienst eines Lohnarbeiters von 12 Assen (= 3 Sesterzen)22 zugrunde legt, ungefähr einem halben Monatslohn.
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Liberalitas, „F reigebigkeit“, galt als H errschertugend. Auf dieser Münze G ordians III . wird sie mit F üllhorn in der linken und R echentafel in der rechten H and personifiziert dargestellt. Am R and die Legende „Liberalitas Aug(usti)“, „F reigebigkeit des Kaisers“.
Man kann das Glücksgefühl armer Menschen nachempfinden in dem Moment, da sie den „Batzen“ von zwei Wochen Lohnarbeit bar auf die Hand erhielten – und auf eben diese spontane Überwältigung und Dankbarkeit war das congiarium berechnet gemäß dem umgangssprachlichen Slogan „Nicht kleckern, sondern klotzen“. Aber es war kein Lottogewinn, der die finanzielle Situation des Einzelnen nachhaltig verändert hätte. Von der Größenordnung und Kaufkraft her bleiben die congiaria in den nächsten Jahrhunderten ungefähr auf dem gleichen Niveau
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wie zur Zeit des Augustus. Der eine Kaiser war freigebiger als der andere;23 aber eine nennenswerte Erhöhung des Lebensstandards ging mit den Geldgeschenken zu keiner Zeit einher. Zudem waren sie eine freiwillige Leistung des Kaisers, auf die kein Anspruch bestand und die kaum berechenbar war. Daher konnte niemand sie in sein Haushaltsbudget einplanen. Im Unterschied zu den frumentationes waren congiaria keine kontinuierliche Sozialleistung, sondern stets anlassbezogen. Nur umgekehrt konnte der Jüngere Plinius formulieren, dass „die überreiche Getreideversorgung einer ständigen Geldspende (perpetuum congiarium) gleichkommt“.24 Die Abgrenzung vom „eigentlichen“ congiarium wird in der Formulierung deutlich: Die Geldspende „floss“ eben nicht regelmäßig, d. h., zum Überleben reichten diese okkasionellen „Wohltaten“ des Kaisers in keiner Weise aus. Ohne andere Einkünfte wäre auch die „privilegierte“ plebs frumentria an den Bettelstab gekommen. Die meisten Menschen konnten diese anderen Einkünfte aber nur durch Arbeitsleistung generieren.
Parasitärer Mob im Sozialparadies? – Wie der Faktencheck eine üble historische Legende entlarvt Das vermeintliche Faulenzer-Proletariat Roms, das vom Kaiser alimentiert wurde und durch circenses gewissermaßen pausenlos „bespaßt“ werden musste, hat es nie gegeben. Es ist eine Chimäre und eine ziemlich üble historische Legende, die kaum auszurotten ist. Sie beruft sich auf einen Satiriker, der ähnlich wie moderne Kabarettisten nicht antritt, um historische Realität abzubilden. Und der übrigens mit keinem Wort behauptet, dass das römische Volk in dem heute vielfach postulierten Nichtstuer- und Freizeitparadies gelebt hätte. Duas tantum res optat: panem et circenses, sagt Juvenal, „es wünscht sich nur zwei Dinge: Brot und Circusspiele“.25 Wünschen kann man sich viel, die Erfüllung des Wunsches ist bekanntlich etwas anderes als der Wunsch. Das war zu Juvenals Zeit nicht anders. Und der Satiriker
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deutet mit keiner Silbe an, dass Wunsch und Wirklichkeit deckungsgleich gewesen wären. Um das zu erkennen, bedarf es eigentlich keines besonders intensiven philologischen Hinschauens und keiner ausgefeilten Interpretation. Man braucht nur zur Kenntnis zu nehmen, dass Juvenal von optare spricht. Und das, lernen alle Lateineleven in einer der ersten Stunden, heißt schlicht „wünschen“. Dass „ich wünsche dir gute Gesundheit“ nicht gleichbedeutend ist mit „du bist gesund“, ist von derart schlichter Logik, dass man es kaum hinzuschreiben wagt. Juvenal ist, liest man seine Verse vorurteilsfrei, kein brauchbarer Zeuge26 für das angebliche Proletarierparadies Rom, in dem – so die Fortführung der Legende – praktisch nur die Sklaven gearbeitet hätten. Und dass der Mensch nicht vom panis respektive frumentum allein leben kann – auch nicht der Stadtrömer der Kaiserzeit –, macht ein einfacher Faktencheck deutlich, der die tatsächlichen „Sozialleistungen“ unter die Lupe nimmt. Wie aber erklärt sich dann das hartnäckige Weiterleben der panem-et-circenses-Legende? Man hat nicht selten den Eindruck, dass da eine historische Chimäre als vermeintlich abschreckendes Beispiel ganz willkommen ist, um vor einem „ausufernden Sozialstaat“ mit „Fördern ohne Fordern“ zu warnen. Wollen wir Zustände wie im alten Rom? Einen „kollektiven Freizeitpark“, vor dem einst Kanzler Kohl gewarnt hat? „An strengungslosen Wohlstand“ und die Einladung zu „spätrömischer Dekadenz“, wie der ehemalige Außenminister Westerwelle im Jahr 2010 befürchtete? Keine Angst, kann man da mit Blick auf die historische Wirklichkeit nur antworten: Von sozialistischen Ideen und Verhältnissen war zumindest das alte Rom weit entfernt. Und es ist eine ziemliche Infamie, ausgerechnet diejenigen als parasitären Mob zu diskreditieren und als fröhlich-dreiste Müßiggänger sozusagen auf die Anklagebank der Geschichte zu setzen, die in z. T. äußerst prekären Verhältnissen lebten und nur mit ständiger Erwerbsarbeit – ohne Anspruch auf bezahlte Feier- und Urlaubstage, auf Kranken- und Rentenversicherung – mehr schlecht als recht über die Runden kamen. Von dieser wohl
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pan em et cir c ens es – D ie zynisch e Mär vom S o zialpar adi es R om
mehr ahnungs- als gewissenlosen Instrumentalisierung der römischen Plebs im heutigen politischen Meinungsstreit um die Grenzen des modernen Sozial- und Wohlfahrtsstaates sollten wir uns endlich verabschieden.
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4 seditio – Versorgungskrisen, H ungerrevolten und ziviler U ngehorsam
Im Herbst des Jahres 51 drohte eine akute Verknappung von Grundnahrungsmitteln. Durch die Stadt waberte das Gerücht, dass nur noch für 15 Tage Lebensmittel vorrätig seien. Viele Römer – vermutlich gerade die Ärmsten – waren alarmiert. Und sie machten ihrem Unmut mit einer spektakulären Aktion Luft: Als Kaiser Claudius auf dem Forum Romanum Recht sprach, umringte ihn eine Menge aufgebrachter Bürger. Die Leute schrien ihn erregt an. Ja, mehr noch, wie Tacitus berichtet: „Sie trieben ihn in die äußerste Ecke des Forums und bedrängten ihn mit Gewalt, bis es ihm gelang, mit einer Schar Soldaten die feindselige Menge zu durchbrechen.“1 Claudius’ Biograph Sueton bestätigt den gefährlichen Vorfall. Der Kaiser habe sich nur mit Mühe in einen hinteren Teil des Palastes retten können. Zudem erwähnt Sueton ein weiteres interessantes Detail: Die Protestierer hätten sich nicht mit Schimpfwörtern begnügt, sondern den Kaiser auch mit Brotkrusten beworfen.2 Die Stimmung war damals offensichtlich geladen. Die Leute hatten Angst vor einer Verknappung und Teuerung. Aber von einer echten Hungersnot kann sicher nicht die Rede sein: Hungernde Menschen hätten den Kaiser vielleicht mit Steinen beworfen, aber doch schwerlich mit bereits kaum noch erhältlichen, kostbaren Nahrungsmitteln.
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Claudius reagierte besonnen auf den Aufruhr. Er schuf für Kaufleute und Reeder Anreize, zusätzliches Getreide auch in den Wintermonaten nach Rom zu schaffen, wenn die Schifffahrt im Mittelmeer eigentlich ruhte. Sollten Getreideschiffe durch Stürme untergehen, so werde der Staat die Reeder entschädigen. Die Maßnahme stand im Einklang mit Claudius’ langfristiger annona-Politik. Um die Versorgung Roms mit Getreide habe er sich stets „sehr engagiert gekümmert“, lobt ihn Sueton.3 Im Übrigen kam man Tacitus zufolge „dank der großen Güte der Götter und einem milden Winter“ gut durch die Versorgungskrise.4
Übergriffiger Protest – Ein rechtzeitiges Warnsignal Ein gutes Jahrzehnt später stand Nero vor einem ähnlichen Problem. Wieder ging die Angst vor Getreideengpässen um: Angeblich waren 300 Schiffe – sicher nicht nur Getreidefrachter – im Hafen von Rom und auf der Fahrt dorthin durch Sturm und Feuer vernichtet worden. Nero kam möglichen Unruhen zuvor. Er beruhigte die Menschen, indem er in einer aufsehenerregenden Aktion eine größere Menge Getreide in den Tiber kippen ließ. Ob der Kaiser durchsickern ließ, dass es sich bei diesem „Opfer“ um durch lange Lagerung verdorbenes Getreide handelte, ist unklar.5 Jedenfalls gewannen die Leute den Eindruck, dass genügend Vorräte vorhanden seien. Für solche präventiven Schritte war es schon zu spät, als eine gewaltsame Demonstration den Kaiser Antoninus Pius (138–161) in Schwierigkeiten brachte. Er wurde mit einem Steinhagel von Wutbürgern angegriffen, die den „Verdacht“ hatten, ein Getreideengpass könne unmittelbar bevorstehen. Auch er reagierte ausgesprochen mitis, „sanft“, auf die Aggression: Er legte den aufgewühlten Protestierern die Sachlage ruhig dar und besänftigte sie auf diese Weise.6 Drei Kaiser, drei weitgehend identische Reaktionen. Die Herrscher äußerten Verständnis, bestraften die „Aufrührer“ nicht, sondern ergriffen Maßnahmen, um die befürchtete Hungersnot abzu-
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wenden. Das gelang – auch weil es „nur“ um die Befürchtung und nicht um eine tatsächlich existierende Hungersnot ging. Es gab zwischen Herrschern und Beherrschten offensichtlich eine stillschweigende Vereinbarung, dass die Leute ihre Ängste und Sorgen auch einmal in übergriffiger Weise artikulierten, um dem Kaiser die Chance zu geben, der gefühlten oder tatsächlichen Notlage wirkungsvoll gegenzusteuern – mit dem Ergebnis, dass es in aller Regel nicht zu einer wirklichen fames, „Hungersnot“, kam. Der Einzige, der sich diesem eingespielten Warnmechanismus entzog, war Tiberius, der Nachfolger des Augustus. Als es im Jahr 32 zu erheblichen Unmutsäußerungen kam, ließ er sich davon kaum beeindrucken: Mehrere Tage lang hörte er sich derbe Sprechchöre im Theater an, die sich über exzessive Getreidepreise echauffierten und den Kaiser „zügelloser als üblich“ verbal attackierten, ohne dass er öffentlich darauf reagierte.7 Intern regte er sich über die zuständigen Magistrate auf, dass sie nicht energischer gegen die Theaterdemonstrationen einschritten, und erläuterte ihnen, was er persönlich alles getan habe, um den Getreideimport zu sichern. Gegenüber dem Volk aber schwieg er – und das wurde ihm als superbia, „Hochmut“, ausgelegt. Damit hatte er überhaupt nicht gerechnet.8 Sicherlich sollte man die Existenznöte der kleinen Leute nicht verharmlosen. Wer ohnehin in der Armutsfalle saß, musste sich große Sorgen machen, sobald das Gerücht über eine Verknappung von Grundnahrungsmitteln umging. Denn der erste Effekt einer heraufziehenden Krisensituation war meist eine Teuerungswelle. Und da drohte tatsächlich Hunger bei allen, die ihr Leben nahe am Existenzminimum fristeten. In diesen Momenten von Schwarzmalerei oder gar Panik zu sprechen, wird der Lage armer Menschen ohne Ersparnisse nicht gerecht. Sie hatten, wenn Krisenstimmungen auch nur im Anmarsch waren, keinen Grund zu Optimismus und wenig Substanz für ein „cooles“ Abwarten. „Einem hungrigen Volk braucht man nicht mit Vernunft zu kommen“, stellt Seneca fest, „es lässt sich nicht durch Gerechtigkeit besänftigen und durch keine Bitte umstimmen.“
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Logistik und Krisenmanagement – Das annona-System der Hauptstadt Diese Beobachtung treffe auch schon auf Vorstadien des Hungerns zu – wenn nur noch für sieben oder acht Tage Nahrungsmittel vorhanden seien. Für alle, die mit der Getreideversorgung (annona) Roms betraut seien, heiße es dann, „sehr diskret vorzugehen und mit größter Verstellung ein so großes geheimes Übel zu überstehen“, um weitere Verunsicherung und panische Reaktionen bis hin zu Volksaufständen zu vermeiden.9 Tatsächlich aber ist das antike Rom von Hungerskatastrophen weitgehend verschont geblieben. Wohlgemerkt: nicht von Versorgungsengpässen und nicht von Sorgen, dass der Hunger direkt vor der Tür stehe. Insofern war nach den Wirren der Bürgerkriege des 1. Jahrhunderts v. Chr., die manche tatsächlichen Hungermonate im Gefolge hatten, das 1. Jahrhundert n. Chr. „alles andere als eine goldene Ära für Verbraucher in der Hauptstadt“ – so Peter Garnsey in seiner einschlägigen Studie.10 Und trotzdem war eine deutliche Entspannung zu registrieren. Das 2. Jahrhundert verlief, aufs Ganze gesehen, ruhiger; die Zahl der tatsächlichen oder befürchteten Nachschubengpässe war signifikant geringer. Insgesamt verzeichnete die Hauptstadt Garnsey zufolge bis zum Anfang des 3. Jahrhunderts 23 food crises von sehr unterschiedlicher Tragweite, wobei die entsprechende Verletzbarkeit im Laufe der Zeit deutlich reduziert wurde. Dass die Stabilität der neuen monarchischen Herrschaftsform in erheblichem Maße auf der Versorgungssicherheit der Kapitale beruhte und Hungerdemonstrationen deshalb nach Möglichkeit verhindert werden mussten, hatte Augustus mit klarem Blick erkannt. Er verstand und inszenierte sich als patronus plebis, „Schutzherr der Plebs“. In dieser Eigenschaft oblag ihm auch die cura annonae, die „Verantwortung für die Getreideversorgung“. Es war nur folgerichtig, dass er diese Aufgabe aus dem bisherigen Amtsbereich der Aedilen herausnahm und zunächst im Jahr 22 v. Chr. die curatio annonae persönlich übernahm, um sie drei Jahrzehnte später einer neuen Be-
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hörde unter der Leitung des praefectus annonae (Präfekten für die Getreideversorgung) zu übertragen. Der praefectus annonae bekleidete einen überaus verantwortungsvollen Posten. Er war für den Transport, die Lagerung und die Verteilung des Getreides und anderer Grundnahrungsmittel zuständig und arbeitete eng mit Reedern und Importeuren zusammen – ein kurzer Draht, der in Notzeiten für schnellen, wenn auch teuren Nachschub sorgen konnte. Im Laufe der Kaiserzeit wurden die granaria (Kornspeicher) in Rom und Ostia kontinuierlich ausgebaut; die annona-Verwaltung sah zu, dass eher zu viel Getreide in den Speichern lagerte als zu wenig, d. h., sie sorgte für Notzeiten vor und stand dazu in ständigem Kontakt mit den Hauptlieferprovinzen Ägypten, Nordafrika und Sizilien. Das waren die Kornkammern Roms, deren Lieferungen die Basis dafür bildeten, dass die Bewohner der Hauptstadt in aller Regel keinen Hunger leiden mussten. Dass diese Versorgung bis auf die erwähnten Notzeiten, die aber eben keine schlimmen Hungersnöte im Gefolge hatten, funktionierte, war alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Für die antiken Verhältnisse – einschließlich der Schifffahrtsruhe in den Wintermonaten – war es eine grandiose Leistung, dass eine so exorbitant bevölkerungsreiche Metropole die meiste Zeit über versorgt wurde, ohne dass die Lieferketten zusammenbrachen. Mit derartigen Dimensionen – eine Million Einwohner gegenüber maximal der Hälfte in den nächst größeren Städten Alexandria und einem Drittel in Antiochia und Karthago – hatte man keinerlei Erfahrungen, und angesichts der langen Verkehrs- wie Kommunikationswege grenzte es an ein Wunder, dass die Logistik so erfolgreich war. Das System „operierte mit einem hohen Grad an technischer Raffinesse und Organisation“, stellen Greg Aldrete und David Mattingly mit bewunderndem Unterton fest und bestätigen, „dass es über Jahrhunderte keine Fälle von weitverbreiteter Hungersnot gegeben“ habe.11
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Subventionen, Boni und Preisdeckel – Markteingriffe zur Sicherung der Getreideversorgung Dafür mussten sich die Verantwortlichen des annona-Systems einschließlich des Kaisers selbst allerdings hart ins Zeug legen. Denn Störungen traten immer wieder auf; Ursachen dafür waren Missernten, Stürme, Managementfehler in der Lagerung des Getreides, Kriege, Epidemien und Marktmechanismen, die die Preise bei realen oder befürchteten Versorgungsengpässen hochschnellen ließen. Spekulanten, die ihre Geschäfte mit der Angst machten, heizten auch schon in römischer Zeit die Nachfrage an, indem sie lebenswichtige Güter künstlich verknappten oder es jedenfalls versuchten. Die kaiserliche Verwaltung nutzte verschiedene Strategien, um einem Engpass zu begegnen. Langfristig bemühte sie sich, weitere Ressourcen unter Kontrolle zu bringen und Vorräte anzulegen, die den voraussichtlichen Bedarf deutlich überstiegen. Auch kurzfristig streckte man die Fühler aus, ob nicht auch aus weiteren Gebieten – etwa dem nordgriechischen Raum – Getreide importiert werden könne. Der Aufkauf von Getreidevorräten, die in privaten Kornspeichern lagerten, zu sogar überhöhten Preisen und ihre Abgabe an die Verbraucher zu verbilligten Konditionen waren in der Regel wirksamer als ein von Amts wegen verfügter Preisdeckel. Mit solchen Eingriffen in den Markt erhöhte man nämlich die Gefahr der Verknappung, weil Waren dann bewusst zurückgehalten wurden. Größere Aufkaufaktionen wurden mitunter aus der Privatschatulle des Kaisers finanziert12 – und mit entsprechenden liberalitas-Parolen propagandistisch begleitet –, wie auch ganz allgemein Münzprägungen mit der Legende annona und/oder der Abbildung von Ähren den Kaiser als Garanten einer sicheren Versorgung feierten. Ein weiteres effizientes Instrument waren Anreize für Großkaufleute und Reeder: Boni, staatliche Garantien und andere Subventionen sorgten in sich abzeichnenden Notlagen für Nachschub. Repressive Maßnahmen blieben dagegen auf stärkere Kontrollen, eine bessere Bewachung der Lagerhäuser und die Einsetzung von Taskforces be-
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schränkt, die dem System gewissermaßen Beine machen und korrupte oder ineffiziente Stellen offenlegen sollten. Von Rationierungen hören wir nur ganz selten. Eine äußerst unpopuläre Kürzung oder Unterbrechung der kostenlosen frumentationes wurde als ultima ratio wohl nur nach dem großen Brand Roms im Jahr 64 notwendig. Damals war auch eine große Zahl von Kornspeichern niedergebrannt; Nero bemühte sich, aus Ostia und anderen Landstädten Ersatz herbeizuschaffen, und setzte einen Höchstpreis für Getreide fest.13 Als „Wiedergutmachung“ ließ er in den folgenden Jahren auffällige S esterze mit den programmatischen Legenden annona und Ceres (Göttin des
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Getreides) prägen. Ein zweischneidiges Schwert: Denn indem die Münzen sozusagen mit vollen Getreidespeichern warben, erinnerten sie gleichzeitig an das Versorgungsdesaster des Jahres 64.14 Wenn es mit der Versorgung wirklich ungemütlich zu werden drohte, meldeten die Römer ihre Sorgen an, und zwar unüberhörbar mit weitverbreitetem Murren und Grummeln bis hin zu lautstarken Protesten, Demonstrationen, in seltenen Fällen auch zu offenen, von Gewalt begleiteten Aufruhraktionen, die lateinisch als seditiones bezeichnet werden. Die seditio – eigentlich das „Abseitsgehen“; se + itio – drückt den Aufstand, Aufruhr, die Empörung und „Meuterei“ gegen die Obrigkeit aus. Rom galt eine Stadt, die „dem Aufruhr besonders zugeneigt war“.15 Die wesentlichen Gründe dafür waren die große Bevölkerungszahl und die Stellung als Hauptstadt. Das machte die Probleme eher größer und die Bürger eher mutiger – und die Mächtigen eher geneigt, den Protesten zuzuhören. Die Geschichte der stadtrömischen seditiones ist lang und durchaus nicht unblutig. In den mindestens 154 Fällen „zivilen Ungehorsams“ in der Zeit von 200 v. Chr. bis 375 n. Chr. waren 72 % von physischer Gewalt begleitet, und bei immerhin 25 % waren Tote zu beklagen.16 Die schlimmsten Unruhen mit den höchsten Opferzahlen fielen in die teilweise chaotische Spätphase der römischen Republik. Das waren politische Auseinandersetzungen, hinter denen meist Angehörige der Elite als Drahtzieher standen – wenig skrupulöse Akteure, die die plebs Romana zur Durchsetzung ihrer persönlichen Machtansprüche instrumentalisierten. Der Thematik und Schwerpunktsetzung dieses Buches entsprechend können wir auf diese seditiones nicht näher eingehen.
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Publikumsdemonstrationen bei den „Spielen“ – Die Stimme des kleinen Mannes In der Kaiserzeit blieb die Nahrungsmittelknappheit neben der Empörung über neue Steuern und punktuell empfundenes Unrecht ein wiederkehrender Grund für Unmut, der sich in seditiones entlud. Häufig entzündete sich der Aufstandsfunke im Circus, im Theater oder (seltener) in der Arena. Dort war der Kaiser bei den „Spielen“ meist präsent, dort ließ sich Unzufriedenheit sichtbar und hörbar bei demjenigen „abladen“, in dessen Gewalt es lag, Abhilfe zu schaffen. Natürlich gab es auch da Manipulatoren im Hintergrund, die Ängste schürten und entsprechende Publikumsdemonstrationen zu orchestrieren verstanden. Spontan brachen dort nur wenige Proteststürme los. Zu den „Unruhestiftern“ zählten ausgesprochene Profis, die eine Kerntruppe zur Verfügung hatten und sehr wohl wussten, mit welchen Parolen sie weitere Sympathisanten und Aktivisten mobilisieren konnten.17 Das dürfte aber nur dann Erfolg versprechend gewesen sein, wenn sich wirklich Ärger und Ängste im Volk aufgestaut hatten. Der Unmut äußerte sich in Buhrufen gegen einflussreiche Politiker und Berater des Kaisers, Sprechchören, die „volksfreundliche“ Parolen skandierten, und Forderungen gegenüber dem Kaiser. Als Erfolg sahen die Protestierer es schon an, wenn der Herrscher ihre Anliegen ernst nahm und signalisierte, dass er sich um eine Lösung des Problems oder zumindest eine Beruhigung der Lage kümmern werde. Das betraf nicht nur, aber vornehmlich die Sorge, dass die Bevölkerung gestiegene Lebenshaltungskosten nicht mehr „stemmen“ könne. In aller Regel nahmen die Kaiser diese Sorgen nicht nur entgegen, sondern bemühten sich auch aktiv darum, die Situation zu entspannen. Aber selbst da, wo sie den Klagen des „Volkes“ nicht abhelfen konnten oder wollten, gehörte es zur Balance der Macht, dass sie sich den Anliegen der Protestierer nicht verschlossen. Insofern gehörten die Publikumsdemonstrationen bei den öffentlichen Spielen gewissermaßen zum System der Kaiserzeit: Die Plebs hatte in dem autoritären Staat nicht nur eine Stimme, sondern wurde auch gehört.
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Daneben gab es andere, drastischere Formen der Unmutsäußerung, z. B. Märsche empörter Bürger, die durch die Hauptstadt zogen und wenig staatstragende Parolen riefen. Mit solchen Aktionen überschritten sie zwar eine (inoffizielle) rote Linie, doch schritten Ordnungskräfte selten gegen diese Manifestationen der Unzufriedenheit ein. Anders, wenn sich die Unruhen mit Vandalismus, Plünderung von Läden, Einbrüchen in Kornspeicher und andere Lagerhäuser oder sogar mit angedrohter und tatsächlicher Brandstiftung verbanden. Hatte es in der Republik so gut wie keine Polizeikräfte gegeben, die man gegen die „Aufrührer“ in Marsch hätte setzen können, so verfügten die Kaiser über 15 000 bis 20 000 Mann paramilitärischer „Sicherheitskräfte“ – vigiles, cohortes urbanae und Prätorianer –, um den Randalierern Einhalt zu gebieten.
Hassfigur Cleander – Wie man Hungerproteste kanalisiert Beliebte Ziele gewaltsamen Aufruhrs waren die Statuen missliebiger Personen. Im Zusammenhang mit dem Sturz des verhassten Machthabers Sejan begnügte sich das „Volk“ nicht damit, ihn zu beschimpfen und zu verhöhnen. „Sie warfen auch all seine Standbilder um, schlugen sie kaputt und schleiften sie weg“, berichtet ein Chronist.18 Ähnliches passierte, als sich die Nachricht verbreitete, Nero wolle sich von seiner Gattin Octavia trennen und seine langjährige Mätresse Poppaea zur Frau nehmen. Eine wütende Menschenmenge zog durch die Straßen Roms und stürzte sämtliche Poppaea-Statuen um. Die seditio wurde erst durch den Einsatz von Soldaten beendet, die „die Aufrührer mit Schlägen und gezücktem Schwert auseinandertrieben“.19 Im Fall von Hungerrevolten dürften sich ähnliche Szenen abgespielt haben, ohne dass sie von unseren Quellen im Einzelnen geschildert werden. Angriffe auf Vertraute des Kaisers kamen vor, Straßenschlachten mit Verletzten und Toten waren dagegen seltene Ausnahmen. Der gefährlichste Hungeraufstand der ersten beiden Jahrhunderte ereignete sich im Jahr 189. Eine schwere Versorgungs-
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Cleand er – Wie man H ung erpr o t es t e k an alisi er t
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krise scheint damals tatsächlich eine Hungersnot im Gefolge gehabt zu haben. Die hungrigen Menschen waren zornig und suchten ein Ventil für ihre Wut. Sie fanden es in einem Günstling des Kaisers Commodus namens Cleander. Er war durch Korruption zu einem riesigen Vermögen und einer einflussreichen Stellung gekommen, die er nutzte, um in einem einzigen Jahr 25 Konsuln zu ernennen – gegen klingende Münze, versteht sich.20 Da er sich ohnehin schon als „Hassobjekt“ etabliert hatte, stellte der zuständige Präfekt für die Getreideversorgung ihn als Schuldigen an der annona-Misere dar, um auf diese Weise von seinen eigenen Versäumnissen abzulenken. Das Volk nahm das „Angebot“ nur zu gern an. Ausgehend von einer Circusveranstaltung, kam es zu einem riesigen Tumult. Mit wüsten Flüchen gegen Cleander auf den Lippen strömte die Masse aus dem Circus und stürmte auf den Kaiser zu. Der schickte Soldaten gegen die „Schreihälse“ – so unsere Quelle; einige von ihnen wurden verletzt, andere sogar getötet. Aber die Leute ließen sich nicht aufhalten. Als sie in der Nähe des Kaisers erschienen, brachte er ein Bauernopfer: Er ließ Cleander und dessen kleinen Sohn töten. Damit gelang es ihm, den Mob auf eine andere Fährte zu locken. Die Aufständischen wandten sich von ihm ab, packten die Leiche des Cleander, „schleiften sie weg, schändeten sie und trugen das Haupt auf einer Stange durch die ganze Stadt“.21 Wie gesagt: Derartige Eskalationen waren selten (wenngleich sie im 4. Jahrhundert des Öfteren vorkamen). Aber sie zeigen, wie gut die Kaiser beraten waren, sich intensiv um die Nahrungsversorgung der Hauptstadt zu kümmern und zu einem schnellen, umsichtigen und PR-geschulten Notlagenmanagement zu greifen, wenn der Geheimdienst eine wachsende Unruhe, Besorgnis und Verärgerung in der Bevölkerung meldete. Und wenn es wirklich zu einer seditio oder in den Stätten der Massenunterhaltung zu einer Vorstufe dazu kam, möglichst professionell, eher nachgiebig und verständnisvoll als repressiv und „bockig“ zu reagieren – und die Herrschertugend der liberalitas in besonderer Weise zu praktizieren und zu propagieren. „Tue Gutes und sprich darüber“ war ein (fiktiver) Slogan, an dem sich alle römi-
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schen Euergeten, „Wohltäter“, „Sponsoren“, orientierten. Auch die Empfänger der „Wohltaten“ sahen in dieser Selbstbelohnung großzügiger Spender nichts Anstößiges. Der politische Druck sorgte für eine im Ganzen zuverlässige Versorgung Roms mit Grundnahrungsmitteln. Die Stabilität des Herrschaftssystems – in der späten Republik ebenso wie in der Kaiserzeit – war wesentlich davon abhängig, und so entwickelte sich die annona zu einer bedeutenden logistischen und zivilisatorischen Leistung, ja geradezu zu einem Erfolgsmodell. Es war alles andere als eine Selbstverständlichkeit, dass eine, an vorindustriellen Rahmenbedingungen gemessen, Megacity wie Rom im Großen und Ganzen satt wurde.22 Was nicht heißt, dass dort niemand gehungert oder die arme Bevölkerung nicht zeitweise in der Angst vor Hungersnöten gelebt hätte. Auf den letzten Seiten dürfte deutlich geworden sein, dass es bei diesen Ausführungen nicht um eine Verharmlosung der Sorgen, Nöte und Entbehrungen der kleinen Leute ging. Individuell wurde ganz sicher Hunger gelitten, kollektiv aber hatte das antike Rom die Versorgung seiner Bevölkerung erstaunlich gut im Griff.
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5 insula – R iskantes Leben und Wohnen in dunklen, lauten, stickigen Miniwohnungen
Einer der vielen Tempel auf dem Capitol war der Felicitas geweiht, der Göttin des Glücks und der glücklichen Umstände. Gründungsdatum – und damit Geburtstag – des Heiligtums war ausgerechnet der 1. Juli. Auf zahllose Mieter in Rom musste das wie ein Hohn wirken. Denn für viele von ihnen war der 1. Juli eher ein Schreckens- und Unglückstag – der Tag, an dem sie aus ihren Mietwohnungen mehr oder minder unsanft hinausgeworfen wurden; entweder weil der Mietvertrag auslief und nicht erneuert wurde oder weil sie ihre Miete nicht bezahlen konnten. So wie ein (fiktiver) Vacerra, dessen erzwungenen Auszug Martial mit seinem Spott begleitet. Iuliarum dedecus Kalendarum, den „schändlichen Anblick des 1. Juli“, nennt er das, was sich da vor seinen Augen abspielt: Vacerra, seine Frau, seine Schwester und seine Mutter – sie alle „ausgemergelt von Frost und Hunger“ – tragen ihre wenigen Habseligkeiten aus der Wohnung: ein Liegebett mit drei Füßen, einen zweifüßigen Tisch, eine Lampe, ein Kohlebecken, ein paar Krüge und Töpfe und einen gesprungenen Nachttopf, aus dem an der Seite Urin tropft. Einen Umzugsunternehmer benötigt dieses Quartett nicht, wohl aber eine neue Wohnung. Aber da ist Vacerra ohne Chance: Er ist pleite und wird keinen Hausverwalter finden, dem er etwas vormachen kann. Wohin sollte diese „Prozession der Habseligkeiten“
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(sarcinarum pompa), spottet Martial, also steuern? Geradewegs auf die Brücke zu, empfiehlt der Dichter ohne Empathie – dorthin, wo auch andere Obdachlose ihr Lager aufgeschlagen haben.1 Die Schilderung mag in einigen Details satirisch überspitzt sein. Aber in ihren Grundzügen gibt sie Szenen wieder, die sich oft genug im Rom der prächtigen Monumente abgespielt haben: Arme Menschen verloren ihre Wohnungen und mussten verzweifelt zusehen, wie sie eine neue Bleibe bekamen. Umzüge dürften das Straßenbild der Hauptstadt stärker geprägt haben, als unsere Quellen das dokumentieren. Denn zum einen war die Mobilität ziemlich hoch, zum anderen waren das auch die Mieten, sodass nicht wenige zugriffen, wenn sie anderswo günstigeren Wohnraum ergattern konnten. Und dann gab es eben auch Familien wie die des Vacerra, denen schlicht das Geld ausgegangen war und die ihre Wohnung zwangsweise räumen mussten. Vielleicht fanden sie bei Verwandten vorübergehend Unterschlupf, vielleicht kampierten sie einige Tage in einer Säulenhalle, vielleicht machten sie sich, wenn sie noch einigermaßen fit waren, auf, um in eine andere Stadt zu ziehen. Der Staat kümmerte sich jedenfalls nicht um sie; Unterkünfte für Obdachlose oder irgendeine Art von Sozialwohnungen, Armenhäusern und dergleichen gab rücke.2 es nicht. Manchmal blieb wirklich nur der „Umzug“ unter die B
Megametropole Rom – teuer, aber attraktiv Der freiwillige Wegzug aus Rom war für die meisten Menschen keine Option. Sicher, in Landstädten war das Leben deutlich preiswerter, und für die Miete zahlte man nur ein Viertel des in Rom üblichen Preises – „was du hier für ein finsteres Loch an Mietzins hinblätterst, dafür kriegst du in 50 Meilen entfernten Provinznestern ein ganzes Haus zu kaufen“, lässt Juvenal einen zum Umzug entschlossenen Kleinbürger schimpfen.3 Aber die Chancen, Arbeit zu finden, standen in der Großstadt viel besser, und die öffentlichen Unterhaltungsangebote – Wagen-
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Meg ametr op o le R om – teu er , aber at tr akti v
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rennen, Theaterspiel, Gladiatorenshows – waren durchaus ein Magnet, der umgekehrt sogar manche Neubürger nach Rom ziehen ließ. Und selbst der Glanz der öffentlichen Prachtbauten, die verschwenderische luxuria publica, an der auch der kleine Mann in den Stätten der Massenunterhaltung, in den Thermen und angesichts „goldener“ Tempel und marmorner Säulenhallen zumindest optisch teilhatte, trugen zur Attraktivität dieses „Molochs“ Rom erheblich bei. „Das römische Volk liebt Prachtentfaltung im öffentlichen Raum“, stellt schon Cicero fest.4 Und die Kaiser taten in den nächsten Jahrhunderten alles, um ihr Volk mit architektonischem Prunk zu beeindrucken. Magnificentia steht da bei Cicero, „Großtun“, „Prunkliebe“, „Großartigkeit“, „kostbare Ausstattung“: All das bewirkte, dass man römische maiestas vor Augen hatte und visuell und haptisch erfahren konnte. Es gab also gute Gründe, warum sich so viele Hunderttausend Menschen den notorisch angespannten Mietwohnungsmarkt, die „chronische Wohnkrise“,5 antaten und wohl oder übel mit den hohen Preisen, dem fehlenden Komfort und den vielen Risiken lebten, die das Wohnen in den mehrstöckigen Mietshäusern (insulae) mit sich brachte. Dass das ein Dauerzustand – oder besser: -missstand – war, ergab sich im Wesentlichen aus der Stellung Roms als Hauptstadt eines Weltreiches und als einer Metropole, wie es sie im gesamten Imperium kein zweites Mal gab. Mit rund einer Million Einwohnern im 1. Jahrhundert war Rom eine für vorindustrielle Zeiten geradezu gigantische Stadt – ein Alleinstellungsmerkmal, das umso klarer heraussticht, wenn man die Einwohnerzahlen der nächst größeren Städte danebenhält: Im ägyptischen Alexandria lebten halb so viele Menschen (ca. 500 000), Antiochia in Syrien und Karthago in Nordafrika nahmen mit 300 000 Einwohnern die Plätze drei und vier ein. Dass dieses für antike Verhältnisse urbane Megazentrum Rom überhaupt funktioniert hat, war bei allen Einschränkungen, die vor allem die ärmere Bevölkerung zu tragen hatte, eine gewaltige Leistung; angesichts der Dimensionen fast ein Wunder.
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R ekonstruktion der einzigen z. T . erhaltenen insula in R om am N ordabhang des C apitols. Die meisten Wohnungen sind klein, daneben gab es mit Wandmalereien geschmückte größere Apartments; unten ein Schnellimbiss mit T resen. Aquarell von P. C onnolly.
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Landsitze am Stadtrand, Platzmangel in der City – Als suburbium noch kein Vorort war Dieses Wunder musste hinsichtlich des benötigten Wohnraums auf einem beengten und für große Ansiedlungen nicht gerade günstigen Terrain vollbracht werden. Die heute naheliegende Lösung, auf die Stadtränder und das Umland auszuweichen und dort Schlafvororte anzulegen, kam für das alte Rom nicht infrage. Zum einen legten sich stadtnahe villae, Landsitze mit ausgedehnten Parks und landwirtschaftlich genutzten Arealen, wie ein Ring um die City. Das waren begehrte Wohnlagen für die Reichen, die nicht jeden Tag das Zentrum aufsuchen mussten, aber so dicht am „Geschehen“ wohnten, dass sie jederzeit über alles Wichtige unterrichtet wurden und persönlich eingreifen konnten. Die villa suburbana wurde so zu einem Refugium, in dem man die landschaftliche Schönheit, das gesunde Klima und die Ungebundenheit des Landlebens mit der vicinitas urbis Romae, „Nähe zur Stadt Rom“, optimal kombinieren konnte.6 Das englische suburb, „Vorstadt“, hat sich aus suburbium entwickelt, wobei es sich geographisch näher mit dem Zentrum verbindet als das entfernungsmäßig „großzügigere“ römische suburbium. Aber der Unterschied in der Nutzung ist frappant: Sind suburbs heute ein willkommenes Ventil, um Bevölkerungsüberdruck an die Ränder von Großstädten abzuleiten, so wirkte das römische suburbium gewissermaßen als eine aristokratisch besetzte Barriere gegen eine Expansion von Wohnraum für einfache Bürger. Zum anderen gab es im Unterschied zur Moderne keine Massenverkehrsmittel, die zahllose Menschen in kurzer Zeit in die City hätten bringen können. Dort aber konzentrierte sich das wirtschaftliche, kulturelle, politische und gesellschaftliche Leben einschließlich der allermeisten Arbeitsplätze, aber auch der Verpflichtungen, die die vielen Klienten gegenüber ihren patroni hatten. Die morgendliche Begrüßung (salutatio) war lästig genug, wenn man ein paar Kilometer per pedes zum Haus des Patrons zurücklegen musste. Von einem an der Peripherie gelegenen Vorort wäre das alles gar nicht zu schaffen gewesen.
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Die Bevölkerungsdichte im Zentrum war entsprechend sehr hoch; sie lag nach modernen Berechnungen bei 110 000 Einwohnern pro km2.7 Das ist alles andere als ein verlässlicher exakter Wert, wohl aber eine Größenordnung für das zur Verfügung stehende Wohnareal. Die Verknappung war auch das Ergebnis der vielen öffentlichen Gebäude – Thermen, Foren, Tempel, Getreidespeicher, Kasernen usw. – sowie der Einfamilienhäuser mit z. T. ausgedehnten Parks, die als domus bezeichnet wurden. Das deutsche Wort „Haus“ dafür ist ein ziemlich irreführender Begriff. Die domus war ein Stadtpalais, geradezu ein Palast oder zumindest eine Villa (im Lateinischen bezeichnet villa nur ein repräsentatives Landhaus) mit einer Grundfläche von oft mehreren Hundert Quadratmetern. Das deutsche Lehnwort „Dom“ hält die Erinnerung an diese Dimensionen wach.
„Hilfsweise Häuser in die Höhe bauen …“ – Warum insulae Roms Skyline prägten Angesichts des Platzmangels war es kein Wunder, dass mit wachsender Bevölkerung auch die Zahl der Geschosse in den insulae stieg. „Die Umstände selbst zwangen dazu“, stellt Vitruv in augusteischer Zeit fest, „hilfsweise die Häuser in die Höhe zu bauen, weil die Häuser, die nur ein Erdgeschoss haben, eine so große Menge Menschen zum Wohnen in der Stadt nicht aufnehmen können.“ Auf diese Weise gelang es, so Vitruv weiter, das Fassungsvermögen der Stadtmauern durch verschiedene Stockwerke der Höhe entsprechend zu vervielfältigen. Für den Architekturschriftsteller eine geniale Idee, denn das Ergebnis seien „hervorragende Wohnungen ohne Hindernis“ (egregias … sine inpeditione habitationes).8 Auch der Ältere Plinius stellt nicht ohne Bewunderung fest, dass die Höhe der Häuser ein Beleg dafür sei, „dass die Größe keiner anderen Stadt auf der Welt mit Rom verglichen werden könne“.9 Ganz so hervorragend stellte sich das Wohnen für sehr viele Mieter indes nicht dar. Das bezeugt Vitruv üb-
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rigens an anderer Stelle, wir werden es später sehen, durchaus selbst. Sein positives Urteil an dieser Stelle bezieht sich wohl vor allem auf die grundsätzlich gelungene Lösung des Wohnungsmangels in einer überbevölkerten Citylage. Hochhäuser waren ja in der Tat eine technisch anspruchsvolle Innovation, die es in dieser Größenordnung nirgendwo in der antiken Welt gab. Insulae dürften – neben prächtigen öffentlichen Gebäuden und Monumenten – das Stadtbild Roms in der Kaiserzeit geprägt haben. Sie gehörten zur Skyline der antiken Metropole. Wie viele Stockwerke sie umfassten, darüber gehen die Meinungen auseinander. Manche modernen Gelehrten rechnen bis zu acht Etagen, aber das sind Einzelstimmen. Realistisch erscheinen fünf bis sechs Etagen. Wegen der kontinuierlichen Überbauung haben in Rom archäologisch fast nur die Grundstrukturen einiger insulae überlebt; insgesamt weniger als zwei Dutzend. Die einzige nennenswert erhaltene insula liegt in der Nähe von S. Maria in Aracoeli. Sie schmiegt sich an den Capitolshügel an und hatte fünf Stockwerke. Mehr als sechs Etagen waren im Rahmen der Bauvorschriften nicht denkbar. In augusteischer Zeit wurde die Bauhöhe auf 70 Fuß (ca. 21 m) begrenzt, einige Jahrzehnte später in trajanischer Zeit um 10 Fuß auf maximal 60 Fuß (ca. 18 m) abgesenkt.10 Allerdings bezogen sich die Vorschriften nur auf die Dachhöhe an öffentlichen Straßen. Dass im weiter hinten gelegenen Teil manche insula durch Holzbauten, Verschläge, vielleicht sogar aus Stein gebaute Dachwohnungen aufgestockt wurde, ist wahrscheinlich11 – und dass man es nicht überall mit der Befolgung geltender Bauvorschriften ganz so genau nahm. Eine stark kontrollierende staatliche Bauaufsicht ist jedenfalls, wie auch die Verletzung anderer Schutzregeln zeigt, nicht zu erkennen. Insofern gilt für die Bauhöhe der gleiche Vorbehalt wie in anderen Bereichen. Dass es Vorschriften gab, ist keine Gewähr dafür, dass sie überall eingehalten wurden. Soll und Ist sind selten deckungsgleich – erst recht da, wo das Soll dem Profit im Wege steht.
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Überbevölkerung und Immobilienspekulation – Ein Vermietermarkt zum Nachteil der Geringverdiener Das war in Rom beim Grundbesitz deutlich der Fall. Die Immobilienspekulation wurde durch die jahrhundertelang ständige Nachfrage nach Wohnraum und außerdem nach Flächen, auf denen sich repräsentative öffentliche maiestas-Bauten zur Selbstdarstellung des großzügigen Sponsors errichten ließen, stark angeheizt. So ließ Caesar im Herzen Roms Grundstücke von Privatleuten für sagenhafte 100 Millionen Sesterze ankaufen, um sein Forum Iulium bauen zu können.12 Sein Adoptivsohn Augustus nahm bei der Konzeption „seines“ Forums angeblich Rücksicht. Weil er Hauseigentümer nicht enteignen wollte, fiel der Komplex um den Mars-Ultor-Tempel bescheidener aus als ursprünglich geplant.13 Trotzdem gingen bei all den Verschönerungsmaßnahmen auch späterer Kaiser Areale für den Wohnungsbau verloren, und die Grundstückspreise in der City stiegen weiter an. Diese Blase ist zu keinem Zeitpunkt in aufsehenerregender Weise geplatzt. Allerdings ging der Bedarf in der Spätantike mit deutlich fallender Bevölkerungszahl erheblich zurück. Begonnen hatte der Boom spätestens im frühen 2. Jahrhundert v. Chr., als viele Kleinbauern ihre Höfe aufgaben und nach Rom zogen. Die ersten mehrgeschossigen Wohnhäuser sind aber bereits für das 3. Jahrhundert v. Chr. bezeugt.14 Einer der durch Bauspekulation richtig reich gewordenen Römer war Marcus Licinius Crassus, Caesars enger politischer Weggefährte im Ersten Triumvirat. Seine Methoden grenzten allerdings ans Kriminelle. Crassus’ Geschäftsmodell war der Erwerb niedergebrannter bzw. vom Feuer in Nachbargebäuden bedrohter Häuser. Die kaufte er den Eigentümern ab – bevor er seine mehrere Hundert Köpfe umfassende Truppe von Feuerwehrleuten und Handwerkern zum Löschen der Flammen schickte. Eine Schande, findet sein Biograph Plutarch, dass Unglücksfälle zu seiner größten Einnahmequelle wurden und dank dieser fragwürdigen Methoden „aus Habgier ein Großteil Roms in seinen Besitz gelangte“.15 Der Erfolg von Crassus’ erpresserischem Vorgehen grün-
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dete im Übrigen darauf, dass Rom bis in augusteische Zeit über keine professionelle staatliche Feuerwehr verfügte. Nicht alle Eigentümer von insulae kamen auf derart skrupellosen Wegen zu ihrem Immobilienbesitz. Und doch lag die Versuchung nahe, den ausgesprochenen Vermietermarkt mit mehr oder minder rabiatem Vorgehen auszunutzen und die ziemlich hilflosen Opfer des überheizten Mietwohnungsmarktes kräftig auszunehmen. Die beliebteste Methode war es, beim Baumaterial zu sparen. Rom sei „zum Großteil gestützt mit dünnen Pfeilern“, lässt Juvenal seinen „Wutbürger“ Umbricius klagen.16 Und das ist nicht nur dahingesagt, wie die zahlreichen Einstürze von Mietshäusern zeigen: incendium, „Brand“, und ruina, „Einsturz“, werden meist in einem Atemzug genannt, wenn es um realistische Gefahren im Wohnungs-„Dschungel“ der Hauptstadt geht, und zwar als alltägliche Unglücke, mit denen man jederzeit rechnen müsse.17
Feuer- und Einsturzgefahr – Bausünden als Alltagshorror Ein beträchtlicher Teil dieser Katastrophen hätte vermieden werden können, wenn bei Statik und Material mehr das Wohl der insula-Bewohner als der Spareffekt im Blick gewesen wäre. Die Fundamentierung war mitunter nicht stabil genug, die Wände waren nicht dick genug; zu viel Sand und zu wenig Kalk – das war Plinius zufolge „der Hauptgrund für den Einsturz von Häusern in Rom“.18 Hinzu kam die häufige Verwendung von Tanne als Bauholz; Lärchenholz war weniger leicht entflammbar, aber teurer.19 Und was das zweite Krebsübel bei den Bausünden in Rom anging – die Vernachlässigung der hohen Brandgefahr –, regierten auch hier oft Schlamperei und kriminelle Sparsamkeit. In den oberen Stockwerken wurde sehr viel Holz verbaut. Das belastete die tragenden Wände zwar weniger stark, führte aber zu ausgesprochenen Feuerfallen für die Bewohner der höheren Etagen. Außerdem griff man gern zu preiswertem Fachwerk, dessen Vorteile seine Nachteile
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aus Sicherheitssicht indes nicht aufwogen. Die Warnung, die Vitruv niederschrieb, dürfte auch seinen aktiven Architekturkollegen nicht entgangen sein: „Ich wünschte, Fachwerk wäre nie erfunden worden. Denn so sehr es durch die Schnelligkeit der Ausführung und durch die Erweiterung des Wohnraumes Vorzüge hat, umso größer und allgemeiner ist der Riesennachteil, dass es bereit ist zu brennen wie Fackeln.“20 Wer aus Kostengründen beim Bau mehrgeschossiger Häuser sparte, neigte auch dazu, bei Erhaltungsarbeiten den Rotstift anzusetzen. Kein Wunder, dass nicht wenige Wände von insulae „hohl, rissig und schief “ waren, wie Seneca geradezu selbstverständlich feststellt.21 Und was taten die Eigentümer, wenn ihre Mieter von Rissen in den Wänden alarmiert waren? Sie schickten ihre insularii (Hausmeister) zum notdürftigen Ausbessern und Übertünchen der schadhaften Stellen. Mancher Hausmeister leistete da „mit unglaublicher Sachkenntnis“22 gute Dienste, andere verputzten auf Geheiß des Eigentümers die Risse nur oberflächlich und beruhigten die Mieter: „Schlaft ohne Sorge! – während in Wirklichkeit der Einsturz ihres Hauses kurz bevorsteht.“23 Und was, wenn Häuser tatsächlich zusammenkrachten? Dann verloren die Mieter all ihr Hab und Gut, wobei es auch nicht gerade tröstlich ist, dass das bei vielen aus wenig mehr als nichts bestand. Und der Eigentümer? Hat halt Pech gehabt und seine Investition eingebüßt – weshalb es ihm möglicherweise nach wie vor richtig erscheint, eben nicht so viel investiert zu haben. Ein Teufelskreis, aus dem auch keine Versicherung heraushalf. Denn die gab es nicht: Wurde ein Gebäude zum Raub der Flammen oder endete es als gewaltiger Schutthaufen, dann war sein Wert dahin. Immerhin blieb der Grund und Boden, sodass ein Neubau mit vielleicht einem oder zwei Stockwerken mehr und höheren Mieterträgen hochgezogen werden konnte. Es gab Eigentümer, bei denen das nicht mehr als ein Achselzucken auslöste. „Zwei meiner tabernae“ – wohl bescheiden dimensionierte einstöckige Häuser – „sind mir zusammengekracht, und die übrigen haben Risse, sodass nicht nur die Mieter, sondern auch die
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Mäuse ausgezogen sind. Alle Welt nennt so etwas ein Unglück; ich nenne es nicht einmal eine Unannehmlichkeit. Sokrates und den unsterblichen Göttern sei Dank, dass ich das als nichts erachte!“ Der Weise, der so entspannt über den Einsturz seiner Mietshäuser urteilt, ist kein Geringerer als der auf humanitas eingeschworene Cicero.24 Ob seine Mieter ähnlich cool auf das vermeintliche Nicht-Unglück reagiert haben? Eine unzureichende Fundamentierung der Mietshäuser machte sie auch für ein weiteres Unglück anfällig: die Unterspülung durch periodisch auftretende Tiberüberschwemmungen und die darauffolgende ruina. Zwar gab es in Rom keine ausgesprochenen Armenund Reichenviertel, sondern im Allgemeinen eine Mischbebauung mit domus und insulae nebeneinander – selbst in der dicht bevölkerten Subura –, aber tendenziell lagen die domus eher auf den Anhöhen und die Mietshäuser eher in den plana, den eben gelegenen Bereichen der Stadt. Damit wurden die insulae öfter zu Opfern von Tiberfluten. Die überschwemmten das antike Rom im Schnitt alle 30 Jahre mit großer Zerstörungskraft – manchmal mit solch einem Hochwasser, dass man in der City Boot fahren konnte bzw. musste. „Gebäude wurden teils wie durch die Gewalt eines Sturzbaches niedergerissen“, beschreibt Augustin die Flutkatastrophe des Jahres 241 v. Chr., „teils brachen sie, durch längeres Hochwasser aufgeweicht, in sich zusammen.“25
„Schon qualmt bei dir das dritte Geschoss …“ – Brandkatastrophen als „Pest“ der Großstadt Während diese Gefahr nur selten drohte, waren Brände geradezu an der Tagesordnung. Nach modernen Schätzungen brannte es in Rom täglich an die hundertmal; dabei waren 20 dieser Brände „beachtlich“ und zwei „gravierend“.26 Die Zahlen sind spekulativ, aber sie zeigen die Größenordnung dieser „Pest“ an, die das antike Rom kontinuierlich heimsuchte – und eben nicht nur bei den gewaltigen Brandkatastrophen etwa der Jahre 27, 36 und vor allem 64. Da konnte selbst
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renditehungrigen Vermietern schon einmal die Lust aufs Investieren vergehen. Das lässt ein Augenzeugenbericht aus dem 2. Jahrhundert erkennen: „Als wir von dort zum Cispius-Hügel hochgehen, sehen wir ein mit vielen Stockwerken steil aufragendes Mietshaus in hellen Flammen stehen. Auch die Nachbargebäude brennen schon alle in einer riesigen Feuersbrunst. Da sagt jemand von den Begleitern Julians: ‚Die Renditen aus Grundstücken in der Stadt sind hoch, aber die Risiken sind enorm groß. Gäbe es irgendein Mittel dagegen, dass nicht so häufig Häuser in Rom ein Raub der Flammen werden, dann hätte ich wahrhaftig meine Besitzungen auf dem Land verkauft und Grundstücke in der Stadt erworben.‘“27 Die Szene spielt wohlgemerkt in einer Zeit, in der Rom schon längst über eine gut funktionierende Feuerwehr verfügte und Brandschutzbestimmungen dafür sorgten, dass Eigentümer und Mieter der Brandprävention größere Aufmerksamkeit schenkten. Nach dem Brand Roms unter Kaiser Nero legte der Gesetzgeber fest, dass sie Löschwasser, Essig, Leitern, Lumpen und andere Hilfsmittel zur Feuerbekämpfung bereithalten mussten. Wer sich nicht daran hielt, dem drohten harte Strafen vonseiten der vigiles, die in ihrem jeweiligen Stadtteil Kontrollgänge unternahmen und alle ihre „Kunden“ berieten und ermahnten. „Und weil die Brände meist durch Nachlässigkeit der Bewohner ausbrechen, lässt der Präfekt der Feuerwehr diejenigen mit Stockschlägen züchtigen, die unvorsichtig mit Feuer umgegangen sind.“28 So bestimmte es das Gesetz klipp und klar. Wie verantwortungsvoll alle Beteiligten die Vorschriften befolgt haben, wissen wir nicht. Tatsache ist, dass die Brandgefahr nach wie vor oft hoch blieb. Das erklärt sich auch mit den vielen offenen Feuerstellen. Zur Beleuchtung benötigte man sie ebenso wie zum Kochen (wenn das räumlich überhaupt möglich war) und zum Heizen. Holzkohlebecken waren dabei nicht besonders stabil; fielen sie um, etwa wenn Kinder herumtobten, so stand schnell die ganze Wohnung in Flammen. Leidtragende waren dann vor allem die Bewohner der oberen Stockwerke. Sie erfuhren oft als Letzte, wenn es irgendwo brannte, und sobald die Holztreppen von den Flammen erfasst wurden, war
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ihnen der Fluchtweg abgeschnitten. „Schon qualmt bei dir das dritte Geschoss, aber du weißt von nichts. Denn wenn von den untersten Treppenstufen her Chaos sich breitmacht, brennt der als Letzter ab, den nur die Dachziegel vor Regen schützen.“29 Konnten die Bewohner der unteren Stockwerke vielleicht noch die eine oder andere Habe retten, so mussten alle, die weiter oben wohnten, froh sein, wenn sie ihr nacktes Leben in Sicherheit brachten. Im Unterschied zu wohlhabenden Bürgern hatten sie wenig Aussicht auf materielle Hilfe. Anders bei den Reichen. Da gab es, schenkt man Juvenal Glauben, eine breite Solidarität: „Noch brennt es, und schon kommt einer gelaufen, der ihm Marmor schenkt und sich an den Kosten beteiligt. (…) Der eine wird Bücher spenden, der andere einen Scheffel Silber.“ Und das auch dann, wenn der Verdacht besteht, dass heiß saniert worden ist, dass der feine Herr Persicus „Brandstifter beauftragt hat, einen begehrten Bauplatz zu schaffen“.30 Oder man hatte so viele finanzstarke und wohlmeinende Freunde, dass man wie Tongilianus mit dem Verlust des eigenen Hauses sogar ein Geschäft machen konnte: „200 000 bezahlt und eine Million Hilfsgelder eingenommen: Könnte es sein, dass du dein eigenes Haus in Brand gesteckt hast, Tongilianus?“31 Bei aller dem satirischen Genus geschuldeten Übertreibung dürfte diese Schilderung nicht völlig aus der Luft gegriffen sein; Satire ohne Verankerung in der Realität wirkt fade und zahnlos. Für Habenichtse rollte keine ähnliche Hilfswelle an. Wie auch? – da die potenziellen Helfer selbst nur über einen sehr elementaren Hausrat und kein Geld verfügten. Die biblische Weisheit gilt auch für die pagan-römische Welt: „Denn wer da hat, dem wird gegeben, wer aber nicht hat, dem wird noch genommen, was er hat.“32
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Kein nennenswerter Mieterschutz – eicere heißt „zwangsräumen“, „hinauswerfen“ Vom Staat bzw. vom Kaiser war bei Notlagen der kleinen Leute kaum Hilfe zu erwarten. Ein einziges Mal zeigte sich ein Herrscher großzügig. Nachdem einige Mietshäuser auf dem Caelius abgebrannt waren, ersetzte Tiberius den Eigentümern den Wert. Wohlgemerkt: den Eigentümern (domini insularum), nicht den Bewohnern. Ob sich damit Auflagen für einen zügigen Wiederaufbau zahlreicher Mietwohnungen verbanden, ist nicht überliefert, aber nicht unwahrscheinlich.33 Was Subventionen für Mieter angeht, so hielt sich der römische Staat sehr zurück, von einzelnen Aktionen abgesehen: So beglückte Caesar seine Landsleute mit einer einjährigen Mietpreisbremse, die für Rom auf 2000 Sesterze, für das übrige Italien auf 500 Sesterze als maximale Jahresmiete festgelegt wurde.34 Das war eine Sozialleistung auf Kosten der Vermieter, über die ein Eigentümer wie Cicero schäumte, ohne Caesar direkt als Urheber dieser Vermögenseinbuße anzuprangern.35 Dass ihm diese Maßnahme wehtat, kann man angesichts der 80 000 Sesterzen, die ihm jährlich aus Mieten zuflossen,36 gut verstehen. Andererseits war die populäre – um nicht zu sagen: populistische – Maßnahme auf ein Jahr beschränkt, sodass sich seine Einbußen in Grenzen hielten und auf der anderen Seite eine Menge verschuldeter Mieter eine Zeit lang aufatmen konnten. Ein ähnliches Mietmoratorium führte Oktavian, der spätere Augustus, 41 v. Chr. durch, um in der Auseinandersetzung mit seinem Konkurrenten Marc Anton in der Volksgunst zu punkten.37 Mag sein, dass es vergleichbare Mietstoppaktionen später noch einmal gegeben hat: An dem grundsätzlichen Problem, dass die hohen Mieten viele Menschen in Bedrängnis brachten und zum Verlust der Wohnung durch rigide Praktiken der Vermieter führten – Fachbegriffe waren expellere und eicere, „hinauswerfen“38 –, änderte sich nichts. Zu einem Entgegenkommen gegenüber säumigen Mietern waren die „Herren“ der insulae umso weniger bereit, als wegen des knappen Angebots stets genügend neue Mietinteressenten bereitstanden.
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Von einem nennenswerten Mieterschutz war das antike Rom weit entfernt. Gelegentlich wird in diesem Zusammenhang auf die gesetzlich verbriefte Pflicht des Vermieters hingewiesen, im Falle von ruina und incendium im Voraus bezahlte Miete zurückzuerstatten.39 Aber das war eine Selbstverständlichkeit, da die vereinbarte Leistung nicht erbracht wurde. Und außerdem waren die von dieser Regelung Begünstigten meist nicht Mieter, sondern Investoren, die Teile der insula angemietet und untervermietet hatten. Der normale Mieter zahlte seinen Mietzins am Monatsersten, wenn der insularius als Bevollmächtigter des Eigentümers seinen Rundgang antrat. Mehrmonatige Mietvorschüsse hätten das Budget der allermeisten Menschen überstrapaziert. Wechselte eine insula den Eigentümer, so verlängerte sich der alte Mietvertrag nicht automatisch. Dem neuen Eigentümer stand es frei, seinen Mietern neue Verträge „anzubieten“ – und die sahen in aller Regel keine Ermäßigung der Miete vor. Gerieten Mieter in Zahlungsverzug, so konnten sie mit sofortiger Wirkung zur Räumung der Wohnung gezwungen werden. Das römische Gesetz stellte sich – wie in den meisten anderen Situationen auch – klar auf die Seite des Eigentümers. Soziale Aspekte spielten, wenn überhaupt, dann eine untergeordnete Rolle. Insofern kann man, auch wenn unsere Quellen das nicht widerspiegeln, weil sie die Perspektive der Oberschicht einnehmen, von einem erheblichen Maß an Elend und Verzweiflung aufseiten insolvenzbedrohter Mieter ausgehen. Warum der Tod auch als Tag der Befreiung, ja Erlösung angesehen werden konnte? Eine Grabinschrift gibt uns die beklemmende Antwort darauf: „Ich bin frei von Alltagssorgen – keine Angst mehr vor Hunger, Arthritis und Schulden wegen der Miete!“40
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Kleinstwohnungen, aber keine Slums – Zur Soziologie der insula Wie konnten sich Normalverdiener – für das antike Rom ein Euphemismus für „Arme“ – die hohen Mieten in der Hauptstadt überhaupt leisten? Indem sie, wie es in neoliberalem Empfehlungsdeutsch so schön heißt, „den Gürtel enger schnallten“. Bei den allermeisten saß er indes so eng, dass ein weiteres Abschnüren kaum möglich war. Konkret hieß das: Sie nahmen mit kleinen, oft winzigen Wohnungen vorlieb, sie reduzierten ihren Mietanteil durch Untervermietung und lebten mit zahlreichen Personen in einer Ein- oder Zweiraumwohnung mit wenig, oft keinerlei Komfort. In modernen Darstellungen ist gelegentlich von Slums die Rede. Das erweckt einen falschen Eindruck. Denn es handelte sich beim Gros der „Armenwohnungen“ nicht um informelle, wild entstandene Baracken- und Hüttensiedlungen oder um Elendsquartiere, die von Kriminalität, Massenarbeitslosigkeit, Alkoholismus und allgemeiner Perspektivlosigkeit geprägt gewesen wären – und schon gar nicht um sozial segregierte, ghettoartige Viertel mit hohen Integrationsdefiziten. Die Wohnungen der plebs urbana lagen vielmehr in regulären Steinbauten, wenn auch mit all den Gefahren, Unvollkommenheiten und Einschränkungen, von denen schon die Rede war und noch die Rede sein wird. Und sie lagen durchweg in einer sozial durchmischten Umgebung mit Werkstätten, Läden, Fast-Food-Imbissen, die als tabernae die Erdgeschosse vieler insulae prägten, und das mit funktionierenden Nachbarschaftsstrukturen, die sich z. B. in gemeinsamen Kulthandlungen und Festen der einzelnen vici, „Kieze“, erwiesen.41 Zudem wohnten in den insulae keineswegs nur „sozial Schwache“. Vielmehr hing die Qualität der Wohnungen stark von ihrem Zuschnitt ab. Im ersten Stock lagen nicht selten elegante oder jedenfalls geräumige Wohnungen, die oft als cenacula bezeichnet werden42 – die Beletage, wenn man so will, in der auch wohlhabende Bürger mit ihren Familien lebten. Die cenacula verfügten nicht selten über etliche Zimmer; das größte cenaculum in Ostia umfasste zwölf Räume. Als Mieter dieser Wohnungen kamen auch Angehörige der Ober-
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schicht infrage, die als Politiker oder Geschäftsleute in Rom einen Zweitwohnsitz benötigten, aber eben auch „Gutverdiener“, die sich keine domus leisten konnten oder wollten oder noch nicht leisten konnten. Bezeichnend für diesen „Zwischenschritt“ ist die Annonce, die ein reich gewordener Freigelassener in Petrons Roman Satyrica eines Tages aufgibt: „Gaius Pompejus Diogenes vermietet ab 1. Juli sein cenaculum; er selbst hat sich nämlich eine domus gekauft.“43 Und in der realen Welt stößt man in Pompeji auf die an eine Hausfront geschriebene Anzeige eines Gnaeus Alleius Nigidus Maius: Er bietet u. a. tabernae, „Ladenlokale“, und cenacula equestria zur Vermietung an, „ritterliche cenacula“, offenkundig ein Synonym für elegante Wohnungen für eine sozial gehobene Klientel.44 Je höher das Stockwerk, umso kleiner wurden die Wohnungen, und umso mehr Menschen lebten auf engem Raum zusammen. Mit einer Ausnahme: Das waren die winzigen Schlafstellen im Rückraum einer taberna bzw. im Halbgeschoss, das über eine Treppe erreicht wurde und nicht selten aus einem überdachten Balkon direkt über einem Laden oder einer Werkstatt bestand. Diese Miniwohnung nannte man pergula, „Vorsprung“, „Vorbau“. Dort konnte der Handwerker oder Krämer, der die taberna betrieb, übernachten – entweder allein oder mit einer Kleinfamilie. Die pergula war ein Synonym für eine äußerst prekäre Wohnsituation. „Wer in einer pergula geboren ist, kann sich ein richtiges Haus kaum im Traum vorstellen“, fährt der neureiche Ex-Sklave Trimalchio seine Frau im Ehestreit an, um anschaulich werden zu lassen, dass erst er es gewesen sei, „der sie zum Menschen unter Menschen gemacht“ habe.45
Wohnen auf engem Raum – aber nicht ohne meine matella! Die Zimmer in den oberen Stockwerken werden häufig als cellae bezeichnet. Die Assoziation zum deutschen Lehnwort „Zelle“ liegt nahe, und in der Tat waren die Zimmer häufig nur wenige Quadratmeter groß. Mit 20 m2 war eine cella schon überdurchschnittlich geräumig.
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Wie viele Personen sich in den Ein- oder Zweiraumwohnungen drängten, ist ungewiss. Vier oder fünf waren es sicher oft genug – und manchmal auch mehr. Wer die Miete nicht finanzieren konnte, nahm auch noch einen oder mehrere Bekannte auf und lebte mit ihnen gewissermaßen in einer WG. Für Möbel war wenig Platz. Ein Bett, Schlafstellen auf dem Boden, ein, zwei Truhen für Kleidung und andere Habseligkeiten, ein Kohlebecken und ein darüber gelegter Rost zum „Kochen“, einige Vorratsgefäße für Nahrungsmittel, vielleicht ein Tisch mit zwei, drei Stühlen – mehr dürfte der Haushalt der Armen kaum umfasst haben. Und natürlich eine matella: Der „Nachttopf “ war in allen römischen Wohnungen ein unabdingbares Requisit. Er ersetzte die Toiletten, von denen es in den allermeisten insulae keine einzige gab – auch in den unten gelegenen tabernae und den cenacula waren sie selten zu finden. Ebenso wenig waren Latrinen in die Treppenhäuser eingebaut. Die Mieter mussten ihre matellae in öffentliche Latrinen entleeren, sodass man sicher häufig Menschen in den Treppenhäusern und auf den Straßen begegnete, die mit ihrer matella unterwegs waren – Szenen, die trotz ihrer Alltäglichkeit in modernen bildlichen Rekonstruktionen des alten Rom nie zu sehen sind. Sicher war es ebenso unappetitlich wie mühselig für die Mieter, ihre Hinterlassenschaften drei, vier oder fünf Stockwerke hinunterzutragen. Da riet der innere Schweinehund schon mal dazu, die Dunkelheit abzuwarten und die matella in hohem Bogen durchs Fenster auszukippen. In Juvenals dritter Satire gibt es eine – für die Leser! – köstliche, literarisch wunderbar ausgefeilte Passage, in der ein solcher Guss beschrieben und offene Fenster als nächtliche Gefahrenquelle für Passanten geradezu dämonisiert werden.46 Und sicher deutet die ausführliche juristische „Würdigung“ allgemeiner Entsorgungs-„Lösungen“ durchs Fenster an, dass da gelegentlich schon Fluggeschosse der einen oder anderen Art unterwegs waren.47 Aber der Normalfall war das gewiss nicht. Dagegen spricht nicht nur die spärliche literarische Bezeugung dieser Ferkelei, sondern auch eine allgemein funktionierende Sozial-
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Straßenszene. Manche G assen waren sehr eng; im Parterre der insulae lagen häufig G eschäfte; Laufbrunnen waren nie weit von den Wohnungen entfernt. Die Entsorgung von F äkalien aus dem F enster war sicher nicht die R egel. Aquarell von P. C onnolly.
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kontrolle und vor allem das Bewusstsein, sehr schnell und sehr oft selbst Opfer solcher Güsse oder Würfe werden zu können, wenn diese Praktiken „einreißen“ sollten.
Kein Wasseranschluss, keine Fensterscheiben, kein Licht – „Düstere Kammern“ ohne Komfort Der – mit heutigen Verhältnissen verglichen – umständlichen Entsorgung von Abfällen einschließlich Urin und Exkrementen entsprach eine ähnlich aufwendige Besorgung von Wasser. Direkte Wasseranschlüsse waren ein kaiserliches Privileg, das nur wenigen Römern zuteilwurde. Es war nicht einmal vererbbar; man schätzt den erlauchten Kreis der Besitzer eines Privatanschlusses auf 1000 bis 2000 Personen in ganz Rom.48 „Diese Wohltat wird von den Kaisern üblicherweise nur sehr spärlich gewährt“, bestätigt Frontin, eine Zeit lang Generaldirektor der römischen Wasserversorgung, die restriktive Praxis ausdrücklich. Deshalb hatte kaum eine insula einen eigenen Wasseranschluss – wenn überhaupt, dann allenfalls im Erdgeschoss. Auch die Besitzer größerer Wohnungen mussten sich das Wasser an öffentlichen Brunnen holen oder holen lassen. Von denen gab es im Stadtgebiet so viele, dass niemand länger als ein paar Minuten dahin unterwegs war. Wohlhabende schickten eine Sklavin oder einen Sklaven oder gaben ihre Bestellung bei einem aquarius, „Wasserträger“, in Auftrag. Ärmere konnten sich diesen Service kaum leisten. Sie hatten zudem zu ihren Wohnungen in den oberen Etagen einen weiteren und beschwerlicheren Weg. Die Grundversorgung mit Wasser war für alle kostenlos – das war eine der wenigen Sozialleistungen des römischen Staates und als abundantia aquae, „Überfluss an Wasser“, auch konzeptionell eine gefeierte Errungenschaft.49 Aber schleppen musste man die Wassereimer schon selbst … Auch auf Heizungen mussten die Mieter fast überall verzichten; Hypokausten-Hohlziegel für Fußbodenheizungen sind auch in den
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insulae Ostias nur im Erdgeschoss selten zu finden. Als Heizquelle dienten die schon erwähnten Kohlebecken. Sie erhöhten nicht nur das Brandrisiko, sondern waren auch wegen der Rauch- und Gasentwicklung nicht unproblematisch. Allerdings wurde diese Gefahr teilweise durch einen anderen Komfortmangel aufgewogen: Die Fenster hatten meist keine Glasscheiben. Man verhängte sie mit Vorhängen oder Fellen oder schloss die Schlagläden. Das schützte zwar vor Sonne und Kälte, verdunkelte den Raum aber so stark, dass man auf künstliche Lichtquellen angewiesen war. Kerzen und Öllämpchen spendeten nicht gerade üppiges Licht – und neigten überdies zum Rußen, was der Raumatmosphäre auch nicht gerade guttat. Insofern erstaunt es nicht, wenn die Wohnungen der ärmeren Mieter oft als stickige, halbdunkle „Löcher“ beschrieben werden: Von der fusca cella, „düsteren Kammer“, spricht Martial, mit tenebrae, „Finsternis“, setzt Juvenal noch eins darauf.50 Und das war eher die Beschreibung der Realität als eine satirische Spitze. Dicht waren die Fenster auch dann nicht, wenn die Schlagläden geschlossen waren. Nicht einmal Boreas, der Nordwind, habe seine Freude daran, länger in einer solch kalten Wohnung zu verweilen, spottet Martial.51 Durch die Risse in der Außenwand mancher cellae pfiff so mancher Wind. Nässe und Schimmelbildung waren in vielen Armenwohnungen nichts Besonderes – und auch nicht Risse in der „Außenhaut“ des Gebäudes. Licht und Luft – sie fehlten in vielen Kleinwohnungen –, und wer direkt unter dem Dach wohnte, war aufgrund der schlechten Isolierung der Gluthitze des römischen Sommers ebenso ausgesetzt wie manchen durchaus eiskalten Tagen des römischen Winters. Die Mansarde sub tegulis, „unter den Dachziegeln“, war so ziemlich die schlimmste Behausung, die sich denken ließ. Manch ein Schüler, der von ihm gnadenlos verprügelt worden war, mochte es dem „schlagreichen Orbilius“ gönnen, dass er als mittelloser Greis zu einer solchen Wohnlage Zuflucht nehmen musste. Orbilius selbst führte beredt über die „Ungerechtigkeiten“ Klage, „die Lehrer durch die Geringschätzung seitens der Eltern hinnehmen müssten“.52 Dazu
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zählte er sicher auch die schlechte Zahlungsmoral, die ihn in diese Wohnungsmisere getrieben hatte. Besaß ein Eigentümer mehrere insulae, so stand es ihm frei, die Bau- und damit Wohnsituation nach Kräften zu „verdichten“. Will sagen: Auf seinem eigenen Grund und Boden war er nicht an die staatlich fixierten Bauabstandsregeln gebunden. Manch ein Immobilienspekulant nutzte diesen Freiraum und ließ nur sehr knappe Zwischenräume zwischen zwei insulae. Ein Zuviel an sozialer Nähe, befindet Martial, wenn er mit einem Nachbarn in der nächsten insula mühelos shake hands veranstalten kann: „Mein Nachbar ist Novius; von unseren Fenstern aus kann man ihn mit der Hand berühren.“ Aber leider stimmt die Chemie zwischen den beiden nicht so recht: „In der ganzen Stadt gibt es keinen, der mir so nah und so fern zugleich ist.“53
„Schlafen kann in Rom nur der Reiche“ – Krach am Tag, Krach in der Nacht Wo Menschen dicht zusammenwohnen, ist es gemeinhin ziemlich laut. Angesichts der dünnen Wände, die die Wohnungen voneinander trennten, und der vielen Bewohner, die dem Stress enger Wohnverhältnisse ausgesetzt waren, wurden viele Geräusche vonseiten der Nachbarn übertragen. Das war besonders der Fall, wenn sich ein geräuschintensives Handwerk wie eine Schmiede in der taberna im Parterre etabliert hatte. Damit konnte man aber noch leben. Deutlich nervenzermürbender war der ständige Krach, der von den Straßen hochstieg. Rom war eine clamosa urbs, eine „lärmerfüllte Stadt“; der strepitus Romae, „Lärm von Rom“, war geradezu legendär.54 Über die Straßen wälzten sich Ströme von Menschen, aus dem Chaos schallte ein vieltausendfaches Stimmengewirr heraus, verstärkt durch den Lärm, den Ausrufer und fliegende Händler, Schulmeister und Streithammel verursachten. Nicht zu unterschätzen waren auch die Zänkereien von Kutschern, Lastenträgern und Treibern, die sich um den Vorrang im römischen Verkehrsgewühl in die Haare gerieten. Und
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dann noch die Prozessionen und Leichenzüge, beide mit intensiver Instrumentalbegleitung, die nicht unbedingt melodisch, aber auf jeden Fall laut war. Nachts waren nicht nur lärmende Zecher unterwegs, sondern da rumpelten auch Wagen und Karren über das Basaltpflaster und holten sozusagen den Krach nach, den ihnen das weitgehende Tagesfahrverbot verwehrt hatte.55 Kurzum: Es gab zahllose Lärmquellen am Tage und Lärmquellen in der Nacht: strepitus nocturnus atque diurnus, „Lärm nachts und am Tage“, nennt Horaz diese Großstadtgeißel,56 die ja auch das moderne Rom zur Genüge kennt. Das alles dröhnte in den engen, verwinkelten Straßen und Gassen in die Wohnungen hoch, von denen ja die wenigsten durch Glasfenster akustisch geschützt waren. Die Lärmbelastung war enorm, und es gab auch keine Perspektive auf eine Verbesserung der Situation. „Wer kann all die Störungen des Schlafes aufzählen, der sich nicht einstellen will?“, fragt Martial und schildert die Situation vieler insulaBewohner mit vier Worten: ad cubile est Roma, „dicht an meinem Lager ist Rom“ – und zwar dieses lärmende, nie zur Ruhe kommende Rom, in dem das Lachen, Rufen und Fluchen der Passanten die nach Schlaf ringenden Mieter in ihren stickigen, winzigen Wohnungen ständig begleiteten.57 Da kann man schon einmal die Wut kriegen und die „donnernden“ Schulmeister und ihre deklamierenden und weinenden Schüler gewissermaßen als pars-pro-toto-Lärmquelle verfluchen: negant vitam, sagt Martial,58 „sie verneinen das Leben“, d. h., sie machen das Leben unerträglich, erweisen sich als lebensfeindlich. Wie soll man ein solches Leben im Krach aushalten? Lärm macht krank. Das weiß man heute und das ist wissenschaftlich erwiesen. Aber auch schon in der Antike machte man entsprechende Beobachtungen. „Sehr viele Kranke sterben durch Schlaflosigkeit“, weiß Juvenal und er kennt auch das caput morbi, den „Ausgangspunkt der Krankheit“: den römischen Krach. Und der entfaltete seine pathogene Wirkung vor allem bei den Bewohnern der insulae: „Denn welche Mietwohnungen lassen Schlaf zu? Schlafen kann man in Rom nur, wenn man reich ist (magnis opibus dormitur in Urbe).“59
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Das ist natürlich eine holzschnittartige, undifferenzierte Diagnose, denn Juvenal ist nicht Mediziner, sondern Satiriker. Aber er erkennt die Zusammenhänge durchaus klar und bringt sie auf den Punkt. Die Reichen können sich den Lärm jedenfalls teilweise vom Hals halten, indem sie ihre Domizile mit Gärten und Parks umgeben, in ihre Fenster Glasscheiben einsetzen lassen und sich, wenn alles nicht hilft, in ihre suburbane oder weiter entfernt gelegene villa zurückziehen: Umweltflucht à la romaine. „Der Arme aber findet in der Stadt kein Plätzchen zum Ruhen“, bestätigt Martial die Diagnose des „Umweltarztes“ Juvenal. Er kann sich diesem krank machenden Lärm und Trubel der Millionenmetropole nicht entziehen: „So oft ich schlafen will“, sagt dagegen der besser gestellte Dichter, „mache ich mich auf zum Landhaus.“60 Diese Option hatten die allermeisten Römerinnen und Römer nicht. Arme waren den Umweltbelastungen Roms in ihren Wohnungen viel stärker ausgesetzt als Wohlhabende. Im Unterschied zu den Mietern der größeren cenacula im ersten Geschoss vieler insulae hatten sie keine Chance, sich den krank machenden Schlafstörungen durch zeitweilige Abwesenheit von Rom zu entziehen, sich ein paar Wochen auf dem Land oder am Meer von Rom zu erholen. Wohl dem, der sich wie der Jüngere Plinius auf sein Laurentinum zurückziehen konnte: „Es liegt nur 17 Meilen von der Stadt entfernt, sodass du da, wenn alles, was zu tun war, erledigt ist und des Tages Mühe und Arbeit hinter dir liegt, übernachten kannst.“61 War es für die Armen ein „Albtraum“, in den beengten Mietwohnungen der insulae leben zu müssen? So liest man es in manchen modernen Darstellungen, und andere „erhöhen“ sie gewissermaßen noch zu „Slums“. Wie wenig römische insulae mit Slums der heutigen sogenannten Dritten Welt vergleichbar sind, konnte bereits gezeigt werden. Geht man von modernen westlichen Vorstellungen menschenwürdigen Wohnens aus, so mag man von albtraumartigen Bedingungen des Wohnens im alten Rom sprechen – auch wenn die Situation nicht in allen insulae die gleiche war. Es gibt Indizien dafür, dass die etwa entlang der Via Lata – dem heutigen Corso – gebauten
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sowie die in Trans Tiberim (auf der rechten Tiberseite) angelegten insulae bessere Standards hatten als die in der Subura und in anderen Quartieren der City. Wie gesagt: albtraumartig, verglichen mit dem, was die heutige westliche Welt unter „lebenswert“ definiert. Das ist jedoch ein Standard, von dem man in vielen Gegenden unseres Planeten noch sehr weit entfernt ist. Es gibt eine Reihe harter, belastender, ja auch krank machender Faktoren, unter denen die plebs urbana in ihren Wohnungen litt. Mit Komfort hatte das alles nichts zu tun. Von egregiae habitationes kann man anders als Vitruv daher sicher nicht sprechen. Egregium, „hervorragend“, da „aus der Herde (e grege) hervorstechend“ – so die Etymologie des Adjektivs –, war da wenig. Eher war das Gegenteil der Fall: Es waren eben Bauten für das elementare Grundbedürfnis des grex, der „Herde“, des Gros der Bevölkerung. Der Thematik dieses Buches entsprechend haben wir uns um eine detaillierte und differenzierte Darstellung bemüht, die die Schattenseiten des insula-Wohnens nicht verschweigt. Das scheint gerade angesichts zahlreicher Darstellungen zu „römischem Wohnen“ bzw. Roman housing notwendig, die mit wunderbaren bunten Abbildungen von Malereien, Stuckverzierungen und edlem Hausrat ein ganz anderes Bild vermitteln. Auch das ist ein Spiegel der Realität. Einer Realität indes, von der mehr als 80 % der Bevölkerung Roms nur träumen konnten. Zu ihren Wohnverhältnissen und ihrem Hausrat finden sich in den coffeetable books zum Wohnen „der“ Römer allenfalls ein bis zwei Seiten. Das entspricht zwar der Quellensituation, ist aber ein ebenso irreführender wie übler Zerrspiegel der römischen Realität.
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6 puls – Brei, Ö l und Wein als G rundnahrungsmittel
Pultiphagi! „Brei(fr)esser!“ Mag sein, dass den Römern das als Schmähung in ähnlicher Weise vorgeworfen wurde, wie Italiener mitunter im Deutschen als „Spaghettifresser“ diskreditiert wurden. Die Diskreditierung besteht im einen wie im anderen Fall in der Verabsolutierung einer „Nationalspeise“ und der entsprechenden Reduktion eines Volkes darauf. Ob pultiphagus tatsächlich als Beleidigung eingesetzt und empfunden wurde, wissen wir allerdings nicht so genau. Denn der Begriff ist – mit einer Variante – nur zweimal in der lateinischen Literatur belegt, und das ausgerechnet im komischen „Fach“ beim Lustspieldichter Plautus.1 An einer Stelle wird ein „barbarischer Handwerker“ als „Breifresser“ verunglimpft, an der zweiten Stelle bezeichnet sich Plautus, der Dichter selbst, als Pultiphagonides, „Sohn eines Puls(fr)essers“. Diese Selbstironie lässt darauf schließen, dass pultiphagus jedenfalls nicht als gravierende ehrverletzende Verbalinjurie wahrgenommen worden ist. Das Wort ist eine lateinisch-griechische Hybridbildung. Puls ist der „Getreidebrei“, eine Art Porridge, und phageín heißt auf Griechisch „essen“, „fressen“. Wenn man mit pultiphagi aus griechischer Sicht Römer identifizieren konnte, so ist das ein Indiz dafür, dass puls tatsächlich eine Art Nationalspeise der Römer war. Ursprünglich traf das ohne Zweifel zu. „Es ist offensichtlich, dass sich die Römer über lange Zeit nicht von Brot, sondern von puls ernährt haben“, stellt der
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Ältere Plinius fest.2 Der Brei entstand aus Speltweizengraupen (far), die in Wasser eingeweicht, gesalzen und gekocht wurden. Später wurde Gerste als Getreidegrundlage beliebter; als kalorische Anreicherung diente häufig Öl.
Hart, schwarz und „schmutzig“ – Römisches Armeleutebrot Auch als das Brot seinen Siegeszug in der römischen Küche angetreten hatte, blieb puls die wichtigste Armeleutespeise. „Dinkelspelt aus Clusium fülle in plebejische Töpfe“, empfiehlt Martial,3 und plebeius macht deutlich, von welchem „sozialen“ Segment der Küche er spricht. In einem weiteren Epigramm stellt er seinem Gast ein „bescheidenes Mahl“ (cenula) in Aussicht,4 bei dem u. a. eine puls nivea serviert wird, ein „schneeweißer Brei“ – allerdings aufgewertet durch Würstchen, die sich in ihn eindrücken.5 In ähnlicher Weise spricht Juvenal von „guten alten Zeiten“, in denen „mächtige Töpfe mit Brei dampften“.6 Im 4. Jahrhundert galt puls immer noch als Nahrung der einfachen Menschen, für die sich mancher Soldat allerdings zu schade wähnte.7 Für die Bedeutung der puls als zentrale Speise der Ärmeren spricht auch die Tatsache, dass bereits Plautus seinen pultiphagus als artifex näher charakterisiert: Die meisten „Handwerker“ in Rom gehörten der Unterschicht an. Der Mensch lebte aber nicht von der puls allein. Zusätzliche Speisen wurden als pulmentarium bezeichnet, „das zur puls Hinzukommende“, die „Zukost“ – ein Begriff, der auch von der puls gewissermaßen als Ernährungsbasis ausgeht. Bei den armen Leuten bestand das pulmentarium häufig aus Hülsenfrüchten: Erbsen, Bohnen und Linsen waren billig,8 ebenso der aus ihnen hergestellte Brei.9 Beim Gemüse war vor allem der Kohl ein preisgünstiger Sattmacher; außerdem waren Rüben, Zwiebeln, Lauch, Karotten, Rettich, Sellerie, Kapern, Bete und Knoblauch eine beliebte Zukost.10 Bohnen mit Schweinespeck waren für die kleinen Leute schon eine Delikatesse.11 Wichtigster Energieträger waren Oliven und das daraus gewonnene Öl.
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Bei der Qualität des Brotes gab es große Unterschiede: Die Armen mussten sich meist mit dunklem, fast schwarzem Brot aus grobem Mehl begnügen. Es wird als hart (durus), schmutzig (sordidus) oder schwarz (niger) beschrieben.12 Oder ehrlicherweise auch als panis plebeius, „gewöhnliches Plebejerbrot“ – für die natürlichen Bedürfnisse völlig ausreichend, wenn man Hunger hat, stellt Seneca fest –, aber an den Tafeln der Reichen kaum anzutreffen. Sie zogen panis siligneus vor, das aus feinem Weizenmehl gebackene Brot.13 Von noch schlechterer Qualität als der panis plebeius war das „Hundsbrot“ (panis caninus). Es wurde mit Kleie ordentlich verlängert, füllte aber nicht nur Hunden, sondern auch Bettlern und besonders Bedürftigen den Magen.14 Dass Klienten beim Gastmahl „schon schimmlige Brocken Brot aus grobkörnigem Mehl“ zugemutet wurden, „die den Backenzahn quälen und festes Zubeißen nicht zulassen“,15 dürfte eine satirische Überspitzung der Zwei- oder Dreiklassengesellschaft sein, die manche Patrone einrichteten. Dem Alltag vieler armer Menschen dagegen war solches kaum genießbare Brot nicht fremd; sie mussten froh sein, überhaupt etwas zum Beißen zu haben – auch wenn es sich nur schwer beißen ließ.
„Modische Kombination von Luxus und Geiz“ – Die Party als Klassengesellschaft Wie häufig Klienten und andere „niedrige Freunde“ bei den convivia, „Partys“, der Reichen mit minderwertigen Gerichten und billigem Wein abgespeist wurden, während der Hausherr und seine Vertrauten sich mit kulinarischen Leckerbissen und Spitzenweinen verwöhnen ließen, wissen wir nicht, wohl aber, dass diese „modische Kombination von Luxus und Geiz“16 im 1. Jahrhundert in so manche Villa Einzug gehalten hat. So skandalös wie der Jüngere Plinius fanden das keineswegs alle Angehörigen der Oberschicht, und in der Tat war es ja eine konsequente Ausformung der römischen Klassengesellschaft,
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die sich auch sonst keine Mühe gab, die Standesunterschiede mit egalitären Feigenblättern zuzudecken. Die Satiriker prangerten diese – eigentlich systemimmanente – Ungleichbehandlung bei convivia allerdings ähnlich wie Plinius an und malten sie mit kräftigen Pinselstrichen aus. Viele Klienten und Freigelassene ertrugen die Zumutungen, wie Juvenal sie beispielsweise in seiner fünften Satire schildert, gleichwohl – und mussten sich obendrein noch die Schelte der Moralisten anhören: „Ist die Entehrung so viel wert, ist der Hunger so schlimm?“, fährt Juvenal sie an.17 Freilich: Wer sonst an noch geringeren kulinarischen Standard gewöhnt war, konnte selbst über reduzierte Großzügigkeit froh sein. Ein starker Charakter macht bekanntlich nicht satt. Warum sollte man einfachen Menschen beim convivium erlesene Speisen anbieten? Wer als Gastgeber rein ökonomisch dachte, konnte seinen Geiz damit bemänteln, dass im „Normalleben“ zwischen Armen und Reichen ohnehin eine tiefe Kluft lag – auch und gerade beim Essen. Das wusste jeder, und man sah es oft genug auch, wenn man etwas genauer hinschaute: Viele arme Menschen waren unterernährt. Auch in den Essgewohnheiten gab es ausgeprägte Klassenunterschiede. Was für hart arbeitende Feldarbeiter und andere Arbeitskräfte in der Landwirtschaft galt, traf auch auf Bauarbeiter, Lastenträger und andere körperlich geforderte Berufstätige in der Stadt zu: Sie hatten nicht die Muße, sich nach dem Essen auszuruhen, und strapazierten auf diese Weise u. a. ihren Verdauungstrakt. „Das schaffen wir nicht“, stellt Galen, der berühmteste Arzt der römischen Kaiserzeit, fest. Mit „wir“ meint er die Elite. „Wir gratulieren ihnen zu dieser körperlichen Stärke“, fährt er fort, „und sind erstaunt, dass sie von schädlicher Nahrung viel weniger Schaden haben.“ Doch sei das nur eine Art „Etappensieg“. Am Ende räche sich der ungesunde Lebenswandel: „Diese Leute leiden dann unter beschwerlichen Krankheiten und sterben, bevor sie alt sind.“18
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Fleischverzicht aus Not – Arme als „Zwangsvegetarier“ In anderer Hinsicht lebten arme Römer allerdings gesünder als Angehörige der Oberschicht, die sich ständig auf den Partys der Reichen mit edelsten, aber zu vielen Leckereien den Bauch vollschlugen, die Weine tranken, die in Bleigefäßen erhitzt und mit Most „veredelt“ waren, und die vor allem Mengen von Fleisch aßen; ein ausgesprochenes Luxusnahrungsmittel, das den einfachen Leuten – auch auf dem Lande – nur sehr selten zur Verfügung stand. Dass Gicht eine Geißel war, die Menschen vor allem aus den „besseren“ Kreisen quälte, ist offenkundig – und war auch schon in der Antike bekannt: podagra, die Fußgicht, galt als „Armut hassende Göttin, die stets die nicht erzbeschlagene Schwelle der Armut flieht“.19 Insofern wirkte sich die zu üppige Ernährung auf die Gesundheit der Reichen ähnlich negativ aus wie die Mangelernährung und hastige Verdauung auf die der Armen. Während sich die Tische der Reichen unter Fleischspeisen, darunter tatsächliche und vermeintliche Leckerbissen aus der ganzen Welt, geradezu bogen, waren die meisten Menschen der unteren Schichten gewissermaßen Zwangsvegetarier. Fleisch war teuer, und es gab keine Kühlsysteme, die es auf längere Zeit haltbar machten. Allenfalls diente Salz als Konservierungsmittel. Insofern attestieren Ernährungsspezialisten der armen Bevölkerung einen signifikanten Proteinmangel. Wenn überhaupt, dann kam bei den einfachen Leuten zu seltenen Gelegenheiten Geflügel auf den Tisch. Schweinefleisch war ebenfalls sehr begehrt – gerade weil es viel Fett hatte. Schon in republikanischer Zeit richteten Sponsoren bei Triumphfeiern oder anderen bedeutenden Ereignissen Volksspeisungen aus, bei denen Tausende Bürger bewirtet wurden – auch mit für sie sonst unerschwinglichen Fleischgerichten.20 Die Kaiser setzten diese Tradition fort. Aber das waren – ebenso wie das bei Opfern für die Menschen reservierte Fleisch – außergewöhnliche Ereignisse, die zudem nur einem relativ kleinen Teil der Hauptstadtbevölkerung zuteilwurden. Von einem regelmäßigen, auf die Masse bezogenen Fleischverzehr waren diese „Sonderzuteilungen“ weit entfernt.
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„Arena-Fleisch“ für die Mittellosen? – Donald Kyles umstrittene These Aber gab es da nicht ein anderes erheblich größeres Potenzial, um mittellose Römerinnen und Römer des Öfteren mit Fleisch zu versorgen? Die Rede ist von den vielen Zehntausend Arena-Tieren, die bei den sogenannten Jagden (venationes) im Amphitheater ums Leben kamen. Dass da eine riesige Menge Fleisch anfiel, ist unstrittig, auch wenn die von den Historikern genannten Zahlen von Tieren zum größeren Ruhm der Spielgeber übertrieben sein mögen. Im Unterschied zu den Gladiatoren und Tierkämpfern (bestiarii) hatten die zum Vergnügen der Zuschauer über weite Strecken nach Rom gebrachten wilden und zahmen animalischen Arena-Kämpfer keine Überlebenschance. Sie waren dem Tod geweiht. Was geschah mit den zahllosen Tierkadavern? Die Wissenschaft macht in der Regel einen großen Bogen um die Antwort auf diese Frage. Das liegt vor allem an einer dürftigen Quellenlage; über die Entsorgung der Tierkörper schweigen die antiken Historiker sich aus. Auch die Archäologie hilft nicht weiter. Zwar wurden im Boden des Colosseums Mengen tierischer Knochenreste gefunden, aber keineswegs in der Masse, dass ein Verscharren der Kadaver im Erdreich unter der Arena-Fläche das übliche Verfahren der Beseitigung gewesen sein kann. Es braucht ja auch nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, zu welchen unhaltbaren Zuständen diese „Lösung“ in kürzester Zeit geführt hätte. Die große Masse der Kadaver muss daher aus der Arena hinausgeschafft und vernichtet worden sein. Es liegt nahe, dass ein Teil des Fleisches an die Tiere verfüttert wurde, die an der Peripherie der City auf ihren „Einsatz“ im Colosseum warteten: ein doppelt effektives Verfahren, insofern man die „Reste“ der venationes nutzte und die Entsorgungsprobleme verringerte. Lag es ebenso nahe, dieses Fleisch zum menschlichen Verzehr freizugeben? Ja, sagt der amerikanische Althistoriker Donald J. Kyle. Er bezieht in heiklen Fragen mit einer bemerkenswerten Klarheit Stel-
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lung: Das einfache Volk von Rom war „pragmatisch und fordernd und häufig hungrig“.21 Und deshalb sei es üblich gewesen, dass es Zugang zu den „Fleischvorräten“ der Arena bekommen habe. Mindestens ein Teil dieses – in der Tat ja frischen – Fleisches sei an Bedürftige verteilt worden, schlussfolgert Kyle; möglicherweise sei auch die kaiserliche Garde der Prätorianer aus dieser Quelle mit Fleisch versorgt worden.22 Wer Hunger hat, kann nicht besonders wählerisch sein: So begründet es Apuleius in seinem Metamorphosen-Roman, dass sich das einfache Volk (vulgus ignobile) über die Kadaver wilder Tiere hergemacht habe, die zur Jagd in der Arena bestimmt, aber zuvor infolge einer Seuche umgekommen seien. „Überall auf den Straßen lagen die Körper toter und halb toter Tiere – für das Volk geradezu ein überall daliegender Festschmaus“, zudem kostenlos und für einen abgemagerten Bauch eine große Verlockung. Alles andere als ein appetitlicher Leckerbissen, räumt der Romanautor ein, aber hungrige, „ziemlich verwilderte arme Leute“ (inculta pauperies) hätten darauf einen anderen Blick.23 Zu den fragwürdigen Leckerbissen, die da auf der Straße herumlagen, gehörten auch Bären. Tatsächlich wurde Bärenfleisch auch in „besseren“ Kreisen aufgetischt, wenngleich die Geschmäcker sehr unterschiedlich darauf reagierten: Einer kann kaum genug davon kriegen – „es schmeckte genauso wie Wildschwein“ –, seine Frau dagegen habe „unvorsichtigerweise davon gekostet und fast ihre eigenen Eingeweide ausgekotzt“.24 Die von Apuleius beschriebene Szene spielt in Griechenland; die Umstände, unter denen sich die Leute über die Tierkadaver hermachen, werden nicht näher beschrieben. Allerdings herrscht dort keine akute Hungersnot; wohl aber scheinen viele Menschen ebenso ganz „normal“ hungrig zu sein, wie Kyle die große Masse der Stadtrömer beschreibt. Wenn ein Romanautor das – aus Sicht der Oberschicht ekelerregende – Verhalten einfacher Menschen geradezu als normal schildert, ohne es zu skandalisieren oder zu kritisieren, ja sogar mit einem gewissen Verständnis, dann spricht das dafür, dass seine Leser es nicht für völlig abnormal hielten.
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Andererseits neigten Romanautoren der Antike zu Übertreibungen. Im Bereich der Kriminalität z. B. verdichteten sie – bei Apuleius ist das offenkundig25 – potenzielle Gefahren zu allgegenwärtigen, geradezu unvermeidlichen Risiken; ähnlich wie auch in modernen Kriminalromanen und -filmen die tatsächliche Kriminalität zumindest quantitativ verzerrt dargestellt wird.
„Ausgerülpst wird Menschenfleisch von Menschen“ – Tertullians indirekter Kannibalismusvorwurf Was den Westen des Reiches und Rom angeht, so sind es vor allem christliche Autoren, die den Verzehr von Arena-Tieren durch Menschen bestätigen – oder besser: es ihren „heidnischen“ Mitbürgern vorwerfen. „Vorwerfen“ deshalb, weil die bei den venationes am Ende getöteten Tiere zuvor noch den einen oder anderen zum Kampf mit ihnen verurteilten Verbrecher angefallen und gefressen hätten. Nicht nur, „dass Eber und Hirsche zuvor noch im Blut eines Gladiators gelegen“ hätten, „sogar nach den Bäuchen der Bären hat man Verlangen, die ihren Fraß von menschlichen Eingeweiden noch nicht verdaut haben“. Die Konsequenz: „Ausgerülpst wird also von Menschen Fleisch, das sich von Menschen genährt hat.“26 Von Kannibalismus ist das nicht weit entfernt, heißt die gravierende Anschuldigung. Andere christliche Autoren greifen das Argument – wesentlich in der Nachfolge Tertullians – auf.27 Es ist nicht anzunehmen, dass Tertullian den Vorwurf zur Gänze erfunden hat. Andererseits war er ein begnadeter Polemiker, der vor Übertreibungen und Generalisierungen nicht zurückschreckte. Und der eine zentrale apologetische Agenda verfolgte: Er wollte den Nachweis erbringen, dass all die Gerüchte über christliche Kindermorde und thyesteische Mahlzeiten (das Essen der „getöteten“ Kinder), die vor allem wegen der geheimen Gottesdienste der Christen umherwaberten, erlogen und völlig substanzlos seien.28 Angriff ist die beste Verteidigung: Zu seinen argumentativen Trümpfen gehörte es da, den
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Spieß sozusagen umzudrehen. Nicht die Christen seien die Kannibalen, sondern die „Heiden“ vollzögen und duldeten quasi kannibalische Praktiken, indem sie das von Menschenblut getränkte Fleisch getöteter Arena-Tiere verspeisten. Ein echter Beweis sieht anders aus; aber als Indiz für eine entsprechende zumindest gelegentliche Verwertung des „Arena-Fleisches“ lässt sich Tertullians Gegenvorwurf durchaus deuten. Zumal auch hin und wieder Notizen in weniger interessengeleiteten Texten auftauchen, die in die gleiche Richtung gehen. So veranstaltete Kaiser Probus im Jahr 281 eine venatio mit einer großen Zahl von Straußen, Hirschen, Ebern, Gazellen, Steinböcken und Wildschafen. „Daraufhin erhielt das Volk Zugang zur Arena“, berichtet sein Biograph, „und ein jeder griff hastig zu dem, was er wollte“, fährt er fort.29 Das hört sich eher nach einer „Jagd“ auf Fleisch an als auf lebende Tiere. Selbst wenn die Objekte der Begierde noch lebende Tiere waren, „krallte sich“ (rapuit) die ja niemand, um sie als Haustier zu halten, sondern um sie zu schlachten und zu essen. Die spärlichen Quellenhinweise deuten darauf, dass arme ArenaBesucher ab und zu – vielleicht auch im Zusammenhang mit Losen und Wurfgeschenken (missilia), die als „Bons“ in den Zuschauerraum geworfen wurden – die Möglichkeit bekamen, sich „Arena-Fleisch“ mitzunehmen oder abzuholen. Von festen Verteilungsstrukturen, etwa einer parallelen Organisation zur frumentatio, kann aber keine Rede sein. Eher mögen manche Konsumenten über inoffizielle Kanäle in den „Genuss“ dieses Fleisches gekommen sein, etwa indem sie einen „guten Draht“ zu den mit der Tierfütterung beauftragten Angestellten nutzten. Als reguläres und regelmäßiges Nahrungsmittel für die mittellose Masse lässt sich das Fleisch der „erlegten“ Tiere jedoch nicht nachweisen. Insofern ist Kyles These verfehlt, dass die „Versorgungsdevise“ für das Volk statt panem et circenses auch carnem et venationes, „Fleisch und Tierhetzen“, hätte heißen können.30 Sie suggeriert eine Parallelität, die es so nicht gab. Wenn „Arena-Fleisch“ wirklich in vergleichbarem Umfang zur Lebensmittelversorgung armer Römer beigetragen hätte, müsste auch das Rätsel gelöst werden,
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wo diese Menge gebraten und gekocht worden sein soll. Die allermeisten Mittellosen hatten in ihrer Wohnung keinen Herd und keine Zubereitungsmöglichkeit für Fleischgerichte.
Fast Food von der Snackbar – Ersatz für die fehlende Küche Mag sein, dass diejenigen, die eine Portion „Arena-Fleisch“, aus welcher Quelle auch immer, ergattert hatten, damit zu einer der zahlreichen Snackbars und Gaststätten gingen, um es dort zubereiten zu lassen. Es ist sicher auch nicht auszuschließen, dass Billigkneipen sich solches Fleisch aus dunklen Kanälen besorgten und es ihrer Kundschaft zum Verzehr anboten. Aber das alles ist spekulativ; es gibt keine gesicherte Quelle dazu. Bedeutend sicherer ist dagegen die Tatsache, dass Angehörige der Unterschichten sich ein warmes Essen dann und wann aus einer Garküche holten. Von diesen popinae muss es in Rom viele Tausende gegeben haben, wenn man die entsprechende Zahl aus dem ausgegrabenen Teil Pompejis als Basis zugrunde legt. Dort sind bislang rund 160 solcher schlichten Restaurants entdeckt worden; in Ostia sind es 38, in Herculaneum 12.31 Diese Gaststätten waren von sehr unterschiedlicher Größe. Manche hatten einen einzigen Gastraum, manche zwei, andere drei oder vier – und nicht wenige verfügten lediglich über den charakteristischen L-förmigen Tresen, über den die Kunden bedient wurden. Handwerker und Arbeiter holten sich da einen schnellen Pausensnack, wenn sie sich nicht direkt an einen der fliegenden Händler wandten, die auf den Straßen Getränke, Erbsenbrei, Salzfisch, dampfende Würstchen und anderes Fast Food feilboten.32 Das Speisenangebot der meisten tabernae war übersichtlich und preiswert und auf ihre weitgehend arme Klientel zugeschnitten: Eintöpfe aus Gemüse und Hülsenfrüchten, Brot, Käse, Zwiebeln, Oliven, Eier und als Obst Äpfel, Datteln und andere Früchte der Saison. Fisch und Fleisch waren teurer und wurden entsprechend seltener geordert und angeboten.
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Allerdings gab es durchaus bemerkenswerte Unterschiede in der Qualität und entsprechend auch im Preisniveau zwischen den einzelnen tabernae so, wie das auch bei ihren modernen „Nachfolgern“, den italienischen bar, der Fall ist. Ob es in der Antike so wie heute kostengünstiger war, seinen Wein und seinen Snack im Stehen einzunehmen, als sich in den Gastraum zu setzen, ist nicht bekannt. Allerdings hatten die tabernae auch unterschiedliche Funktionen und „Schwerpunkte“. Zum einen dienten sie der schnellen (Warm-)Verpflegung von Passanten, Nachbarn und in der Nähe tätigen Arbeitern, zum anderen waren sie Geselligkeitstreffpunkte der kleinen Leute,33 die sich dort länger aufhielten und mutmaßlich mehr konsumierten. Man erkennt das auch an der unterschiedlichen Ausstattung: Von den tabernae, die nur einen einzigen Gastraum hatten, verfügte lediglich ein Viertel über eine Latrine, bei drei- und vierräumigen tabernae stieg die „Toilettenquote“ auf 87 bzw. 100 %.34
Gaststätten als Keimzellen der „Revolution“? – Kaiserliche Psychosen Konnten sich diese bescheidenen Leuchttürme der Alltagsverpflegung einfacher Römer zu umstürzlerischen Keimzellen entwickeln, die die römische Gesellschaft revolutionär zu unterminieren drohten? Nichts, aber auch gar nichts spricht dafür – außer einer irrationalen, geradezu pathologischen Angst der Herrschenden, dass sich rund um die Wirtshäuser Zirkel bilden könnten, die die bestehende Ordnung infrage stellten. Nur so lassen sich jedenfalls die restriktiven Maßnahmen erklären, mit denen die Kaiser sich anstrengten, diesen vermeintlichen Sumpf möglicher Insurrektion trockenzulegen. Mehrere Herrscher haben jedenfalls im 1. Jahrhundert versucht, den Gastronomen ihr Geschäft mithilfe gesetzlicher Verbote zu verderben. Tiberius schränkte den Verkauf von Speisen massiv ein; nicht einmal Backwerk durfte über den Tresen verkauft werden.35 Sein zweiter Nachfolger Claudius ging noch einen
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Schritt weiter: Er untersagte den Verkauf gekochter Speisen36 einschließlich aller Fleischgerichte und sogar kochenden Wassers – und „eine Zeit lang ließ er die Schenken schließen, wo die Leute zusammenkamen und zu trinken pflegten“.37 Allzu nachhaltig, wie man heute sagt, war dieses Verbot offenkundig nicht, denn schon sein Nachfolger Nero fühlte sich bemüßigt, die restriktive taberna-Politik zu erneuern: „Er untersagte den Garküchen alle gekochten Gerichte außer Gemüse und Erbsensuppe.“38 Ein paar Jahrzehnte später erweiterte Vespasian das Verbot: Nur Bohnen und Erbsen waren als Eintopfverkauf erlaubt.39 Die Sorge des kaiserlichen Geheimdienstes war offensichtlich groß, es könnten aus solchen Ansammlungen um die Snackbartheken herum Verschwörergruppen hervorgehen, die schwer zu kontrollieren seien.40 Die ständigen legislatorischen Neuauflagen zeigen allerdings auch, wie grandios die Staatsmacht mit diesen ziemlich hysterischen Verbotsoffensiven scheiterte. Die Leute scherten sich wenig darum – so wenig, wie sich auf der anderen Seite die „feine“ Gesellschaft um Anti-Luxus-Gesetze kümmerte. Die kaiserlichen Anordnungen waren von der Wirklichkeit offenkundig so weit entfernt, dass sie regelmäßig ins Leere liefen. „Sie wurden einfach durch Nichtbeachtung außer Kraft gesetzt“41, ohne dass im unteren wie im oberen gesellschaftlichen Segment irgendeine Gefährdung eintrat. Und von rigiden polizeilichen Maßnahmen zur Durchsetzung der Verbote nahm man wohlweislich Abstand.
„Spender von Fröhlichkeit“ – Wein als Grundnahrungsmittel der einfachen Menschen Hätte man die „Gastroszene“ wirklich ernsthaft austrocknen wollen, dann wäre ein Weinverbot viel konsequenter gewesen, um das Aufbegehren erhitzter Gemüter im Keim zu ersticken. Von einer derartigen Maßnahme hören wir allerdings nichts. Sie wäre vermutlich auch kontraproduktiv gewesen und hätte auch ohne Wein eine gefähr-
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liche Empörungswelle ausgelöst. Denn Wein war auch und gerade bei den unteren Schichten ein wirksames Mittel gegen Alltagsfrust und Misere. Der griechische Beiname Lyaeus weist den Weingott Dionysos/Bacchus als „Sorgenlöser“ aus: „Nagende Sorgen zerstreut uns Bacchus“, stellt Horaz fest, und Vergil rühmt ihn als laetitiae dator, „Spender von Fröhlichkeit“.42 Wein gehörte zu den Grundnahrungsmitteln der Römer. Getreide, Öl und eben Wein bildeten die Basis ihrer Nahrung, und entsprechend groß war das Importvolumen der Hauptstadt. Ein erheblicher Vorteil lag darin, dass sich alle drei Produkte sehr gut in Speichern lagern ließen. In Ostia und Rom gab es daher ausgedehnte Lagerkapazitäten; für die Versorgung Roms mit Wein waren nach modernen Berechnungen mindestens 640 Schiffsladungen jährlich – auf der Basis von 250-Tonnen-Frachtern – vonnöten.43 Wein wurde in der Regel verdünnt getrunken; Wasser und Wein jeweils zur Hälfte galt als eher kräftiger Trank.44 Anlass und persönliche Präferenzen bestimmten das Mischungsverhältnis – und bei vielen quantitativen Angaben aus der Antike bleibt unklar (wenngleich wahrscheinlich), ob es sich um merum, „unvermischten Wein“, handelt. Wein wurde zu allen Tageszeiten getrunken, in hoher Verdünnung auch schon zum Frühstück. Er war omnipräsent, aber er galt nicht als „Menschenrecht“. Das machte Augustus einst deutlich, als er Klagen des Volkes über zu hohe Weinpreise mit den Worten beschied: „Sein Schwiegersohn Agrippa habe mehrere Wasserleitungen in die Stadt geführt. So sei Vorsorge getroffen worden, dass die Menschen keinen Durst leiden müssten.“45 Eine gewisse Korrektur dieses Statements zum „Grundrecht“ auf Wein erfolgte erst rund 300 Jahre später. Da führte Aurelian zusätzlich auch Weinspenden für alle Getreideempfänger ein46 – in welchem Umfang, ist allerdings nicht überliefert. Das „Weinverbot“ für Frauen47 wurde spätestens in der Kaiserzeit de facto außer Kraft gesetzt. Dass Frauen allerdings „ebenso viel trinken und die Männer sogar an … Weinkonsum übertreffen“, ist eine ziemlich polemische Bemerkung Senecas, die auf einige Frauen zu-
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treffen mochte, aber sicher nicht generalisierbar war.48 Erwachsene Männer waren und blieben die wichtigste Konsumentengruppe für Alkohol. „Harte“, hochprozentige Alkoholika kannten die Römer nicht.
Ein Liter oder deutlich weniger am Tag? – Mutmaßungen über den Weinkonsum der Unterschicht Sofern es ihre Herrschaften erlaubten, tranken auch Sklaven Wein – oder auch ohne Erlaubnis, wenn sie sich nicht erwischen ließen. Auf vielen Landgütern erhielten unfreie Arbeitskräfte regelmäßige Weinrationen, die zu hohen Festtagen aufgestockt wurden. Der alte Cato ließ an die am härtesten arbeitenden Sklaven seiner Güter umgerechnet 260 l Wein im Jahr ausschenken, d. h. rund 0,7 l pro Tag. Die Aufseher erhielten weniger.49 Ob andere Großgrundbesitzer – vor allem diejenigen, die nicht wie Cato eigenen Weinbau betrieben – ähnlich „großzügig“ waren wie der ansonsten allerdings nicht für Großzügigkeit bekannte Cato, wissen wir nicht. „Natürlich“ erhielten unfreie Arbeitskräfte keinen Qualitätswein. Wie heutzutage gab es auch bei römischen Weinen Güteklassen, die weit auseinanderlagen. Die Wirtin Hedone in Pompeji bot drei Qualitäten an: Normalwein zu 1 As, „besseren“ Wein zu 2 As und den berühmten Falerner, den besten Tropfen Italiens, zu 4 As.50 Das Preisedikt Diokletians aus dem Jahr 301 kennt eine ähnlich breite Spreizung: Preiswerter Tafelwein kostete nur ein Drittel so viel wie „guter“ Wein, und Spitzenweine lagen preislich noch deutlich darüber.51 Die arme Bevölkerung musste sich mit Billigweinen begnügen. Das war vielfach ziemlich saurer Rotwein z. B. aus dem nahe Rom gelegenen Veji52 oder auch von qualitativ minderwertiger italischer und überseeischer Provenienz. Kalorisch waren diese Weine deutlich weniger nahrhaft als die edlen Tropfen. Das gilt erst recht für Tresterwein (lora), der bezeichnenderweise auch als vinum operarium bekannt war, als „Arbeiterwein“.53
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Aber auch billiger Landwein hatte seinen Preis, und der musste von den kargen Löhnen abgezwackt werden. Mit Mengenrabatt für größere Gebinde konnten die meisten Leute nicht rechnen. Wenn der Lohn täglich ausgezahlt wurde, waren Wocheneinkäufe illusorisch. Nicht beim Wein, aber bei anderen Lebensmitteln stand zudem die geringe Haltbarkeit Groß- und Vorratseinkäufen im Weg. „Die große Menge pflegt ihre Lebensmittel von Tag zu Tag einzukaufen“, stellt Tacitus deshalb wenig überraschend fest54 – und kleine Mengen haben „große“ Preise im Gefolge. Der Weinkonsum der Unterschichten lässt sich deshalb nicht mit der Elle messen, die man an die convivia der Wohlhabenden anlegen darf und muss. Auch bei einem Horaz floss, wenn er zu Hause speiste, der Wein nicht in Strömen; der (gut situierte) Dichter veranschlagt umgerechnet einen halben Liter zur cena55 – allerdings wohl auf die „Grundmenge“ des merum, „unvermischten Weins“, bezogen. Mit einem ähnlich hohen Pro-Kopf-Konsum im Hinblick auf männliche erwachsene Stadtrömer rechnet André Tchernia: Er geht von durchschnittlich 182 l im Jahr aus;56 andere Schätzungen liegen noch darüber. Neuere Forschungen raten allerdings zur Vorsicht gegenüber solchen vielfach spekulativ anmutenden Zahlen. Wim Broekaert hält einen Wert von 0,2 l pro Tag für gelernte Arbeiter für realistisch, für ungelernte Tagelöhner eher noch weniger. Wein sei „nicht jederzeit für jedermann verfügbar“ 57 gewesen, resümiert er – und liegt damit am unteren Limit der einschlägigen Schätzungen. Vinum vita est, „Wein ist Leben“, lässt Petron einen Protagonisten seines Romans, den neureichen Gastgeber Trimalchio, sagen und den Icherzähler ergänzen: „Wasser bot hier niemand an.“58 Gleichwohl: Auch Wasser ist Leben – und sogar lebenswichtiger als Wein. Daran mangelte es auch den Armen in Rom nicht. Die Wasserversorgung der Hauptstadt war dank mehrerer Aquädukte exzellent, sowohl qualitativ – reines Quellwasser – als auch quantitativ – rechnerisch standen jedem Einwohner mehrere Hundert Liter pro Tag zur Verfügung. Und was nicht minder wichtig war: Es war kostenlos, wenngleich es für die allermeisten Menschen nicht direkt aus dem Kran floss. Aber
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die Laufbrunnen waren so zahlreich über das gesamte Stadtgebiet verteilt, dass sie für jedermann in wenigen Minuten erreichbar waren. „Die curatores aquarum (Leiter der Wasserversorgung) sollen dafür Sorge tragen, dass die öffentlichen Brunnen möglichst ohne Unterbrechung Tag und Nacht zum Nutzen des Volkes fließen.“59 Diese Vorgabe des Senats wurde in vorbildlicher Weise umgesetzt, auch zum Nutzen des einfachen Volkes.
Das Klientendasein als materielle Chance? – Mit Geringverdienern war kein Staat zu machen Hatten arme Schlucker mit oft hungrigen Mägen die Chance, sich als Klienten ein Zubrot im eigentlichen Sinn des Wortes zu verdienen? Dieses „Zubrot“ hieß sportula, „Körbchen“, das ursprünglich mit Lebensmitteln gefüllt war und dem Klienten ab und zu als beneficium, „Gefallen“, überreicht wurde. Alternativ wurden die „geringen Freunde“ auch schon einmal zur cena im Kreise der Familie des patronus oder zum convivium eingeladen. In der Kaiserzeit entwickelte sich die sportula, von wenigen Jahren abgesehen, von einem Natural- zu einem Geldgeschenk, das literarisch häufig mit 100 Quadranten beziffert wird.60 Das entspricht 6 ¼ Sesterzen oder 25 As – für Geringverdiener eine beachtliche Summe. Sie war sicher nicht standardisiert und weder nach unten noch nach oben für patroni verbindlich – eher eine Chiffre für eine kleine Summe Geld.61 Eben daran zeigt sich der Fehlschluss, dem Teile der älteren historischen Forschung erlegen sind: Aus Sicht eines reichen Senators waren das „Peanuts“, aber aus der Sicht eines völlig mittellosen Römers war das eine gewaltige Summe. Daher spricht einiges dafür, die jeweilige Perspektive nicht gar so weit voneinander zu entfernen, sondern bei den mit der sportula „Beglückten“ von einer (unteren) Mittelschicht auszugehen: Für sie waren 100 Quadranten eine sehr ordentliche, aber eben nicht derart unvorstellbare Summe, wie es bei den „armen Teufeln“ am untersten Ende der sozialen Pyramide der Fall war. Der nor-
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male „Klientenlohn“ orientierte sich damit an den Erwartungen und Ansprüchen einer (unteren) Mittelschicht, die diesen Betrag bzw. sein Äquivalent in Naturalien gut gebrauchen konnte, die aber nicht Hunger leiden musste, wenn das beneficium des Patrons ausblieb. Lateinisch gesprochen, gehörten viele Klienten zu den homines tenues oder auch vulgares,62 den „einfachen Leuten“, aber nicht zur plebs sordida, der „armseligen“, „mittellosen“ Plebs.63 Mit der war nämlich für die patroni vor allem beim Statussymbol der morgendlichen Aufwartung (salutatio) kein Staat zu machen: Offensichtliche Hungerleider als „niedere Freunde“ waren nicht geeignet, das gesellschaftliche Renommee der hohen Herren zu fördern. War ein cliens-Kandidat überhaupt römischer Bürger? Sklaven und Nichtbürger Roms waren von der Klientenposition ohnehin ausgeschlossen. Und wenn er römischer Bürger war: Hatte er dann eine passable Toga, in der er zur Morgenbegrüßung im Haus seines Patrons erscheinen konnte? Bei vielen Armen war das nicht der Fall; sie trugen nie im Leben das „Staatskleid“ der Römer. Keine Toga – keine „Freundschaft“ mit einem Angehörigen der Oberschicht: Das war ein ehernes Gesetz der römischen clientela.
sportulae und lukullische Genüsse – Für „unten“ glatte Fehlanzeigen Und damit entschwanden auch sportulae ganz schnell aus dem Blick und dem Erwartungshorizont der wirklich armen Römer. Gelegentlich eine sportula, ob im Gegenwert von 25 As oder weniger oder mehr – das hätte die Ernährungssituation vieler Mittelloser und ihrer Familien deutlich entspannen können. Aber wer sollte sich in der auf Statussymbole und äußere Repräsentation bedachten römischen Welt mit ihnen schmücken? Die ohnehin sehr asymmetrische „Freundschaft“ zwischen ganz oben und ganz unten scheiterte einfach daran, dass Arme schlicht keine Gegenleistung zu bieten hatten. Der clientela-Rettungsanker gegen Hunger und Verzicht blieb so für die meisten, die ihn dringend hätten brauchen können, unerreichbar.
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„Lukullische Genüsse“ – das ist eine Chiffre für römische Tafelfreuden. Lucullus, der Namensgeber, war Politiker und Feldherr (117– 56 v. Chr.). Berühmt wurde er aber vor allem als Feinschmecker, der seine Gäste und sich selbst mit üppigen Banketten verwöhnte und seine Köche zu kulinarischen Höchstleistungen anspornte. Kosten spielten dabei keine Rolle – ebenso wenig wie bei seinen zahlreichen „Jüngern“, die römische Haute Cuisine zelebrierten und sich durch luxuriöse Gastmähler Nachruhm sicherten. Sowohl in der althistorischen Forschung als auch im populären Sachbuch ist die Tafelkultur „der“ alten Römer Gegenstand vieler moderner Darstellungen. Mit Werken über „Kochen wie die Römer“ lassen sich ordentliche Auflagen erzielen. Der Buchmarkt scheint mit den zahlreichen einschlägigen Titeln noch keineswegs gesättigt. Das einzig Missliche an den Titelformulierungen ist die Generalisierung, die in dem bestimmten Artikel „die“ zum Ausdruck kommt. Versteht man unter „den“ Römern die große Mehrheit von ihnen, so reduziert sich deren kulinarische Erfahrung und Expertise auf weniges und wenig Spektakuläres. Mit der Metapher „Lucullus“ können heute nicht mehr allzu viele etwas anfangen; im alten Rom waren es allerdings noch viel weniger.
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7 tunica pulla – Die Kleidung der einfachen Leute
Haben Sie schon einmal darauf geachtet, wie uns die Menschen in vielen Rekonstruktionen des antiken Rom vorgeführt werden? Wenn sie denn überhaupt vor lauter beeindruckenden Gebäuden, Säulen und Monumenten vorkommen und die Stadt überhaupt als lebendiger Organismus, nicht nur als architektonisch-archäologisches Museum erscheint, in dem Menschen nur von der rekonstruierten Pracht abzulenken scheinen.1 Die wenigen Gestalten, die das Bild – nun ja – beleben, erscheinen in der Regel in reich drapierte Togen gehüllt und mit ernster, jedenfalls gravitas, „würdevolle Haltung“, ausstrahlender Miene. Das Ganze wirkt wie ein später Rezeptionstriumph des ersten römischen Kaisers Augustus. Der hatte von „seinen“ Römern einen angemessenen Dresscode verlangt – und zusätzlich vorsichtshalber die Aedilen beauftragt, von Amts wegen darauf zu achten. Das Schlüsselerlebnis, das Augustus’ Bemühungen um die traditionelle Kleiderordnung2 auslöste, beschreibt sein Biograph Sueton folgendermaßen: „Als er einst in einer Versammlung eine Menge dunkel gekleideter Männer sah, entrüstete er sich und rief laut aus: ‚Da, seht euch die Römer an, die Herren der Welt, das Volk in der Toga (gens togata)!‘“3 Mit der gens togata nahm er Bezug auf das kurz zuvor erschienene Nationalepos „Aeneis“ aus der Feder Vergils, der die Römer in einem berühmten Vers so charakterisiert hatte.4 Und was sah der Kaiser zu
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seiner großen Empörung auf dem Forum Romanum? Togen? Fehlanzeige. Stattdessen offenbar viele in dunkle Überwürfe und Mäntel gehüllte Landsleute. Die Toga darunter hatten die meisten wahrscheinlich ganz weggelassen; das „Ehrenkleid“ der Römer war ausgesprochen hinderlich und engte die Bewegungsfreiheit seines Trägers ein. Schluss damit!, dekretierte Augustus und wies die Beamten an, künftig niemand mehr auf das Forum und in seine Umgebung zu lassen, der nicht den Mantel (lacerna) ab- und die Toga angelegt habe.5
„Togaanlegungsgebot“ – Ein exklusiver Zwang Womit die oben skizzierten Rekonstruktionen im Hinblick auf die Bevölkerung doch richtig sind! Oder etwa nicht? Von wegen. Denn dieses „niemand“ bezieht sich ausschließlich auf die zuvor genannten römischen Bürger. Sie allein waren berechtigt, überhaupt eine Toga zu tragen. Dieses Kleidungsstück war ein Statussymbol – das unverwechselbare Erkennungszeichen für einen männlichen civis Romanus – und in soziologischer Diktion ein vestitäres Identitätsmedium. Sklaven durften keine Toga anlegen, Peregrine, „Fremde“, ebenfalls nicht; Freigelassene allerdings sehr wohl, denn durch den Akt der Freilassung wurden sie, wenn auch mit eingeschränkten Rechten, römische Bürger und formell anerkannte Togaträger. Die Nichtbürger, die Unfreien und die Frauen erhielten aber kein „Platzverbot“; sie bevölkerten das Forum Romanum, das teilweise ja auch ein hochpreisiges Einkaufsviertel war, weiterhin. Zudem hat es sicher keine rigiden Einlasskontrollen, sondern allenfalls stichprobenartige Überprüfungen gegeben, ob sich da nicht ein „togapflichtiger“ Bürger inkognito auf das Forum einschlich. Wahrscheinlich hatte sich der Unmut des Kaisers auch anlässlich einer offiziellen Versammlung, einer Wahlveranstaltung etwa,6 entzündet, bei der viele die Kleiderordnung für derartige offizielle Anlässe außer Acht gelassen hatten, sodass sich seine Initiative nur auf vergleichbare staatsbürgerliche „Akte“ bezog. Auch die Ausweitung
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des Gebots auf die Gegend circa (forum), die „nähere Umgebung“ des Forum Romanum, wirft Fragen auf. War beispielsweise auch der vicus Tuscus, ein Stadtviertel nur wenige Schritte vom Forum entfernt, von dem Togagebot betroffen? Und damit alle Zuhälter, Stricher und „Freier“ der dort regen Prostitutionsszene, sofern sie römische Bürger waren?7 Das darf man wohl ausschließen. Fazit: Der von Augustus verfügte Toga-„Zwang“ war durch und durch löchrig. Auf dem Forum Romanum begegnete man keineswegs nur in weiße Togen gehüllten viri vere Romani („echten Römern“); es ging dort vielmehr in Sachen Kleidung gewissermaßen gleichermaßen dunkel wie bunt zu: Die Damen trugen farbige Tunicen,8 viele andere Besucher nach wie vor dunkle Kleidung wie Bauarbeiter, Lastenträger, fliegende Händler und andere, die dort beruflich zu tun hatten. Sie alle legten ihre braune oder schwarze Arbeitskleidung auch dort nicht ab. Der einzige bekannte Handwerker, der (künstlerische) Malerarbeiten auf einem Gerüst stehend in voller Togamontur ausführte, war ein gewisser Famulus, als er die Wände von Neros größenwahnsinnigem Palast, der Domus aurea, verzierte.9 Stilbildend war das sicher nicht, und seine dem Genius loci geschuldete gravitas ist wohl vornehmlich wegen ihrer Skurrilität in Erinnerung geblieben.
pullati – heute ein Fall für Diskriminierungsbeauftragte
Arbeitende und arme Menschen erkannte man an der dunklen Tunica. Sie war ohne Färbung preiswerter und unempfindlicher gegen sichtbare Verschmutzungen, die bei vielen Arbeiten nicht zu vermeiden waren – und auch nicht auf den Straßen Roms, die keineswegs alle gepflastert waren. Lutum, „Straßendreck“, konnte durchaus bis über die Knie hochspritzen; per medium lutum ire, „mitten durch den Dreck gehen“, musste man auch im „goldenen Rom“ öfter, als es einem lieb war.10 Die Masse der einfachen Menschen wurde von den „feinen“ Herrschaften ebenso anschaulich wie verächtlich als pullati oder pullata turba bezeichnet, als „die Menge der dunkel Gekleideten“.11
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Gerichtsverhandlungen waren häufig Showveranstaltungen, die auch Neugierige aus den unteren Schichten anzogen. Auf diese pullati müssten sich Anwälte auch einstellen, raten die Rhetoriklehrer: „Die Hände zusammenschlagen, mit dem Fuß aufstampfen und … sich an die Stirn schlagen – das macht auf den pullatus circulus erstaunlich großen Eindruck“, stellt Quintilian fest.12 Circulus ist der „Kreis“ der Zuhörenden, pullatus stellt ihre soziale Identität klar. Auch der Jüngere Plinius mahnt dazu, die pullati „ernst zu nehmen“ (vereri), wenn sie als Zuschauer einen Prozess verfolgen – was ihn aber nicht daran hindert, sie im gleichen Atemzug als sordidi zu bezeichnen, „Schmutzige“, „Armselige“, „Unbedeutende“, „Gemeine“.13 Auch bei den öffentlichen Schauspielen machte Augustus mit dem Dresscode Ernst. Wer im Theater und im Amphitheater nicht in der Toga erschien – dazu zählten eben auch arme Bürger, die gar keine Toga besaßen –, musste mit den oberen Sitzreihen vorliebnehmen; dort, wo auch Frauen, Kinder und Unfreie saßen. Die mittleren Sitzreihen – oberhalb der für Senatoren und Ritter reservierten Plätze – waren für pullati tabu14 – eine Diskriminierung im eigentlichen Wortsinn der „Unterscheidung“, die deutlich machte, wo ein jeder hingehörte, und die römische Gesellschaft nachgerade abbildete. Aber natürlich auch eine Diskriminierung im heutigen Sinn: Die pullati wurden mittels der Farbe ihrer Kleidung nicht nur optisch ausgegrenzt. Zwischen Weiß und Dunkel verlief im Theater eine deutliche Trennlinie, die dem Spötter Martial zufolge nur durch ein plötzliches dichtes Schneetreiben verwischt wurde: Ein Horatius, der durch seinen schwarzen Mantel von den Togaträgern in Weiß absticht, „schaut nun auch im weißen Gewand zu“.15 Auch der Hirte Corydon, der die große Stadt besucht und aus dem Staunen gar nicht mehr herauskommt – „so erschütterte mich der Glanz ringsum“ –, weiß, wo er im Amphitheater Platz zu nehmen hat: oben, „dort, wo die Menge der Armen in dunkler Kleidung zwischen den Sitzen der Frauen zuschaute“.16 Den strahlenden, göttergleichen Herrscher über Rom kann Corydon nur aus der Ferne bewundern: Seine pulla paupertas, „dunkle Armut“, hält ihn gewissermaßen oben
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im Zuschauerraum fest und hindert ihn daran, einen nahen Blick auf den Kaiser in seiner Loge zu werfen.17 So lässt Calpurnius Siculus seinen Protagonisten in einem Hirtengedicht aus neronischer Zeit seine Erfahrungen mit der Kleiderordnung der Metropole schildern.
„Tunicaträger“ – Sklaven ohne vestitäre Stigmatisierung Sklaven erwähnt der Hirte nicht eigens, obwohl sie in der Realität geradezu um ihn herum gesessen hätten. Vermutlich zählen sie für ihn zur sordida turba, der „Masse der Unbedeutenden“, „Armen“. In der Tat waren Unfreie an ihrer Kleidung nicht zu erkennen. Auf diese Stigmatisierung verzichtete die römische Ständegesellschaft – wenn es sich nicht um fugitivi, der Flucht verdächtige Sklaven, handelte, die durch Halsbänder und -marken (collaria) oder Brandzeichen auf der Stirn oder an den Beinen als solche gekennzeichnet wurden.18 Ansonsten gehörten die Unfreien zum großen Heer der tunicati, „Tunicaträger“. Glaubt man Seneca, so erklärt sich der Verzicht auf eine spezifische Sklavenkleidung mit der Angst der Freien vor Sklavenaufständen. Ein entsprechender Beschluss des Senats, „die Kleidung von Sklaven solle sich von der der Freien unterscheiden“, sei schnell wieder aufgehoben worden, als man sich klarmachte, „welch große Gefahr drohe, wenn unsere Sklaven uns zu zählen begonnen hätten“.19 Besonders voll war die Kleidertruhe der meisten Sklavinnen und Sklaven nicht, auch wenn nicht jeder Herr so sparsam war wie der Alte Cato. Der empfiehlt seinen Großgrundbesitzerkollegen, jedem Unfreien pro Jahr eine Tunica, ein sagum, „wollenen Mantel“, sowie ein Paar Schuhe zukommen zu lassen – aber erst, nachdem sie die alte Kleidung zurückgegeben hätten.20 Man mag sich kaum vorstellen, welche Lumpen da noch übrig waren – selbst wenn die Kleidung bei schwerer Arbeit und warmer Witterung dadurch „geschont“ wurde, dass die Sklaven, nur mit einem Lendenschurz (subligar) bekleidet, auf den Feldern oder in der Mühle schufteten.21 Was Sklaven in Stadthaushalten angeht, so waren nicht wenige z. T. deutlich besser mit
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Kleidung ausgestattet, weil sie ihre Herrschaft ja auch gewissermaßen repräsentierten. Aber es gab gewaltige Unterschiede, die jede Verallgemeinerung fragwürdig erscheinen lassen. Natürlich war da auch der eine oder andere geizige Sklavenbesitzer, der selbst am Spieltisch riesige Summen verliert, „seinem vor Kälte zitternden Sklaven aber keine neue Tunica spendiert“ – jedenfalls aus der satirischen Sicht Juvenals.22
Dunkle Kleidung und Second-hand-market – Chiffren für Armut Hinsichtlich armer freier Menschen war die Kleidersituation deutlich einheitlicher, und zwar einheitlich bescheiden bis schlecht. Als Basiskleidung mochten Männer wie Frauen über zwei oder drei Tunicen verfügen, die an kalten Tagen auch übereinander getragen wurden, außerdem über ein Paar Sandalen und ein Paar feste Arbeitsstiefel und eine paenula, den ponchoartigen Umhang, oder auch einen Mantel mit Kapuze. Viele trugen geflickte oder sogar aus Flicken zusammengenähte Kleidung. Manche Tunica war verschlissen und schmutzig, an manchem Schuh war das Leder aufgeplatzt – für Wohlhabende wenig schön anzusehen (weshalb viele gar nicht erst hinschauten) und jedenfalls Gelegenheit zu arrogantem Spott. An der Kleidung ablesbare Armut als materia causaque iocorum, „Stoff und Anlass für Witze“, war sicher nicht nur eine Erfindung des Satirikers.23 In der oft ziemlich schlichten Erklärungswelt der Traumdeuter droht jemandem, der von einem dunklen Gewand träumt, Unheil – „außer Leuten, die dunkle Geschäfte machen“.24 Die typische dunkle Kleidung der Unterschicht wird so – nicht nur für Traumdeutungsexperten – zur Chiffre für Armut. Es dürfte einen sehr intensiven Second-hand- und auch Thirdhand-market gegeben haben, auf dem u. a. von reichen Leuten abgelegte Kleidung vertrieben wurde. Um sich bei der Masse Liebkind zu machen, verschenkten manche Angehörigen der Oberschicht ihre getragene Kleidung ab und zu; dieses wenig altruistische Motiv unter-
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stellt jedenfalls Horaz den nicht ganz so edlen Spendern.25 Bei den Altkleiderhändlern scheinen sogar die durchlöcherten roten Togen der Dummys gelandet zu sein, die den Stieren in der Arena vorgeworfen wurden, um sie für den eigentlichen Kampf wütender zu machen.26 Mancher Verkäufer von Gebrauchtkleidung wird wohl auch als Hehler für die Kriminellen tätig gewesen sein, die sich auf das Stehlen von Bekleidung und Schuhen spezialisiert hatten. Die fures balnearii, „Thermen-Diebe“, waren nicht nur in Rom für ihre Dreistigkeit berüchtigt;27 u. a. aus dem spanischen Mérida und dem englischen Bath haben es einige der „schönsten“ Fluchtafeln auf diejenigen
Schreiner mit H ammer und Beitel bei der Arbeit. Die T unica lässt die rechte Schulter für größere Bewegungsfreiheit unbedeckt; der H andwerker ist barfuß. Ausschnitt aus dem F resko „Daedalus überreicht Pasiphaë den hölzernen Stier“, C asa dei Vettii, Pompeji, 1 . Jh.
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abgesehen, die Tunicen, Umhänge, Stiefel und „meinen Mantel geklaut“ hatten.28 Die Qualität der Kleidung hing natürlich wesentlich vom Stoff ab. Angehörige der Unterschicht trugen Tunicen und Mäntel aus meist grober Wolle. Kleidungsstücke aus Leinen, Seide oder gar Leder konnten sich die Armen nicht leisten. Billigkleidung im unteren Qualitätssegment wird im Höchstpreisedikt Diokletians bezeichnenderweise als „passend für das einfache Volk und für Sklaven“ ausgewiesen.29 Gegenüber der normalen hemdartigen Tunica war die Exomis eine Alternative. Sie wurde auf der linken Schulter von einer Fibel gehalten und ließ die rechte Schulter und Teile der Brust frei, sodass ihr Träger beweglicher war. Tunicen wurden gegürtet oder ungegürtet getragen; die langärmlige tunica manicata fand in der Kaiserzeit zunehmend Anhänger. Bei Männern endete die Tunica meist über dem Knie, bei Frauen darunter. Nur „feine“ Damen trugen Tunicen, die bis zu den Knöcheln reichten.
Unterwäsche, Büstenhalter, Toga – Eine weitgehende Liste von Fehlanzeigen In der Regel wurde die Tunica auf der Haut getragen; manchmal zogen Männer wie Frauen eine Art Untertunica, die subucula, gewissermaßen als Unterhemd darunter an. Unterwäsche im modernen Sinn trugen Römerinnen und Römer nicht. Das subligar (subligaculum), der Lendenschurz, kam keineswegs regelmäßig zum Einsatz, sondern allenfalls dann, wenn starke Bewegungen bei der Arbeit oder beim Sport befürchten ließen, dass die Tunica zu weit hochrutschte. Das war beispielsweise bei tanzenden Schauspielern der Fall.30 Frauen scheinen noch seltener ein subligar getragen zu haben als Männer; eine erotische Ausstrahlung ging von diesem Schurz nicht aus.31 Anders die Brustbinde (fascia pectoralis; capitium): Dieses römische Gegenstück zum modernen BH diente nicht so sehr dem Komfort, sondern betonte als einziges römisches Kleidungsstück die Figur,
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indem es die Büste hob – ein modisch-erotisches Accessoire, das anscheinend auch von manchen jüngeren Frauen der Unterschicht getragen wurde, ohne dass man es als „Standard“ ansehen könnte.32 Gegen Wind und Wetter schützten Umhänge und Mäntel wie die paenula, ein aus dicker Wolle gefertigtes Cape, und die lacerna, ein Kapuzenmantel für Männer und Frauen. Ein rascher Blick auf die Farbe und Stoffqualität verriet, welcher Gesellschaftsschicht der Träger oder die Trägerin angehörte. Strümpfe waren im alten Rom unbekannt. Wer schnell fror, griff zu fasciae, „Wickeln“, für Schienbeine und/oder Oberschenkel. Zur Standardbekleidung gehörten diese Wickel aber auf keinen Fall. Wie häufig sie im Winter im Straßenbild auftauchten, lässt sich nicht rekonstruieren. Kehren wir am Ende des Kapitels noch einmal zur Toga, dem Repräsentationskleid der Römer, zurück. Es war keine Freude, die Toga anzulegen, und auch keine, sie zu tragen. Und sie kostete mit ihrer gewaltigen Stofffülle eine Menge Geld. Geld, das die meisten armen Bürger nicht hatten. War es der Erwerb des stolzen „Ehrenkleides“ wert, dafür monate- oder jahrelang Rücklagen zu bilden oder sich bei Alltagsausgaben noch stärker einzuschränken, als es ohnehin nötig war? Es scheint so, als hätten viele Arme diese Frage verneint und ganz gut auf eine Toga verzichten können. Zumal es ihnen an der ultimativen repräsentativen Gelegenheit fehlte, zu der dem Spötter Juvenal zufolge die meisten Bewohner Italiens das erste und einzige Mal ihre Toga anlegten: „Wenn wir ehrlich sein wollen, gibt es einen großen Teil Italiens, in dem niemand die Toga anlegt außer als Toter.“33
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8 labor – Die Berufswelt der kleinen Leute
Über 90 Jahre war er alt, etliche Jahrzehnte unermüdlicher Arbeit lagen hinter ihm, aber das ökonomische Resultat war sehr bescheiden: Er sei arm (pauper) und „lebe unter den Ziegeln des Daches“,1 der sommerlichen Hitze und winterlichen Kälte fast schutzlos preisgegeben – so Lucius Orbilius über seine materiell kümmerliche Existenz. Einem Berufskollegen von ihm, Publius Valerius Cato, erging es noch schlimmer. Auch er erreichte ein sehr hohes Alter, fristete sein Leben aber „in höchster Armut und fast sogar Mittellosigkeit“ (summa pauperie et paene inopia), und zwar „abgeschieden und bescheiden in einer erbärmlichen Hütte“. Ernährt habe er sich lediglich von drei Kohlstängelchen, einem halben Pfund Brot und zwei Beeren pro Tag, beschreibt ein Bekannter von ihm die erzwungene kulinarische Genügsamkeit.2 Der dritte arme Schlucker im Bunde dieser Berufskollegen war Gaius Iulius Hyginus, ein Freigelassener des Augustus und enger Freund Ovids. Auch er soll trotz seiner prominenten Kontakte in Armut (admodum pauperem) gestorben sein.3 Schließlich noch Marcus Pompilius Andronicus: Er konnte sich ebenfalls mit seiner Arbeit nur mit Mühe über Wasser halten, ja er drohte sogar, wenn man unserer Quelle Glauben schenken darf, unter das Existenzminimum abzurutschen: inops atque egens, heißt es, sei er gewesen, „mittellos und bedürftig“.4
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Alle diese von (Alters-)Armut Betroffenen übten einen Beruf aus, den man zumindest in unserer Zeit nicht mit bitterer Armut verbindet: Sie waren Lehrer. Genauer gesagt grammatici, vergleichbar mit heutigen Sekundarstufenlehrern. Zudem waren sie prominent, weil sie neben ihrer Lehrtätigkeit auch als Philologen und Autoren gelehrter Traktate hervorgetreten waren. Als Schriftsteller freilich verdienten sie nichts – es sei denn, sie wurden von Sponsoren unterstützt (die aber lieber interessante Literaten als „langweilige“ Grammatiker förderten). Ein Copyright gab es im Altertum nicht; jeder konnte die Abschrift eines Werks von Kopisten herstellen lassen und vertreiben.
Ein Hoch auf die Bildung – und eine harte Landung in der Realität Und im Brotberuf des Lehrers war man als Freiberufler tätig. Man musste Schüler (und auch ein paar Schülerinnen) akquirieren; am besten 25–30, um auf den Lohn eines Handwerkers zu kommen,5 und war auf eine ordentliche Zahlungsmoral der Eltern beim Schulgeld angewiesen. Die war, wie sich zahlreichen Klagen entnehmen lässt, oft nicht gegeben, sodass Ovid hinsichtlich der Schulmeister von einer „fast immer um ihren Lohn geprellten Schar“ spricht.6 Es gibt zwar Gegenbeispiele von ökonomisch erfolgreichen Lehrern,7 aber für viele grammatici und erst recht magistri, Grundschullehrer, entpuppte sich ihre Berufstätigkeit als Armutsfalle. Allerdings war die Qualifikation auch sehr unterschiedlich. Es gab keinen vorgeschriebenen Studiengang, keine staatliche Prüfung, keinen behördlichen Lehrplan und keine Schulaufsicht. Lehrer war, wer sich so nannte. So ganz stimmt es also nicht, was die Paideia, die Personifikation der Bildung und Erziehung, dem späteren Schriftsteller Lukian einst im Traum in Aussicht gestellt hatte. Er stand nach dem Schulabschluss als junger Mann vor der Frage, welchen Beruf er ergreifen solle: Sollte er das Handwerk der Bildhauerkunst erlernen, zumal sein Großvater schon Steinmetz gewesen war, oder sollte er – in moderner Diktion – studieren und sich in Rhetorik und Wissenschaft vervollkommnen
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und so die Achtung und Bewunderung seiner Mitmenschen erwerben? Das Angebot der Techne als Vertreterin des Handwerks – sie sprach stotternd und in einem barbarischen Dialekt und kam kaum zum Ende8 – konterte die Paideia mit einer drastischen Beschreibung seiner künftigen sozialen Stellung als Steinmetz: „Da wirst du nichts sein als ein Handarbeiter, der seine ganze Lebenshoffnung auf körperliche Mühen gründet … und wenig mehr verdient als ein einfacher Arbeiter; einer von der großen Volksmenge, der sich vor jedem Bessergestellten ducken und nett sein muss zu jedem, der etwas zu sagen hat.“9 So gut es klingt, was die Paideia da ihren „Jüngern“ verspricht – ihre pädagogischen Gefolgsleute kamen selten über den Status des armen Schluckers hinaus und standen wirtschaftlich kaum besser, oft sogar schlechter da als ebenfalls selbstständige Handwerker. Und ihr Sozialprestige war auch nicht gerade beneidenswert: Viele Lehrer waren Sklaven und Nichtbürger; und mochten sie auch gebildeter sein
Viele arme Leute verdienten ihren Lebensunterhalt als Lastenträger. H ier schleppt ein Mann Marmor, der von einem anderen bearbeitet wird. G rabrelief aus O stia, um 250.
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als manche Angehörigen der Elite, so wurden sie von denen doch mit Verachtung gestraft. Warum? Weil sie für Geld arbeiteten und damit von ihren Auftraggebern abhängig waren. Dadurch rückten sie in den Augen der finanziell unabhängigen Rentiers auch als Freie und Freigelassene in die Nähe von Sklaven: Wer Lohn bezog, war nicht selbstbestimmt und erbrachte ein ministerium servile, eine „sklavische Dienstleistung“.10
Schmutzige Jobs? – Von der Verachtung der Handarbeit Noch stärker von dieser Arroganz der Oberschicht betroffen waren, das lassen ja auch die Ausführungen der Paideia erkennen, kleine Handwerker und Lohnarbeiter. Sie haben sich unterzuordnen, sich dem Bessergestellten anzupassen, ihn zu hofieren und, umgangssprachlich formuliert, kleine Brötchen zu backen. Wer einer solchen Arbeit nachgeht, ist ein Underdog, „einer aus der großen Masse“. Der locus classicus für die Geringschätzung (vor allem) der Handarbeit ist eine Cicero-Passage in seinem Werk de officiis, „Über die Pflichten“. Auf der untersten Stufe stehen Cicero zufolge die mercennarii, „Lohnarbeiter“, „Tagelöhner“: „Diese Erwerbsart gilt als schmutzig und eines freien Mannes unwürdig …; denn bei ihr ist gerade der Lohn das Handgeld für die Sklaverei.“11 Mercennarius leitet sich von merces, „Lohn“, ab – und dafür verdingt man sich an den Arbeitgeber wie ein Sklave. Handwerker (opifices) kommen bei Cicero (und anderen) nicht viel besser weg: „Sie alle befassen sich mit einer schmutzigen Tätigkeit (sordida ars), denn eine Werkstatt kann nichts an sich haben, das eines freien Mannes würdig ist.“12 Und auch die kleinen Krämer und Ladenbesitzer gehen einem „schmutzigen“ Gewerbe nach – anders als die ehrenwerten Großhändler. Das sind ja oft Angehörige des Ritterstandes. Am besten ist natürlich landwirtschaftliches Engagement – nicht als Kleinbauer, sondern als Agrarunternehmer, der seinen Lebensunterhalt damit verdient, dass er andere auf seinen Besitzungen arbeiten lässt.13
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In ähnlicher Weise urteilt Seneca über die vulgares et sordidae artes, „die gemeinen und schmutzigen Tätigkeiten“ des Handwerks. „Sie gehören zwar zu den Voraussetzungen und Notwendigkeiten des Lebens, tragen aber zur sittlichen Vollkommenheit nicht bei und sind deshalb als Hand- und körperliche Arbeit moralphilosophisch nicht ernst zu nehmen.“14 Die Verachtung der Handarbeit zieht sich wie ein roter Faden durch die Mentalitätsgeschichte der Antike. In diesem von der Oberschicht gesetzten Normenkonstrukt verwundert es nicht, dass Handwerks- und Lohnarbeit schlecht bezahlt werden. Man räumt ein, dass sie zu den Lebensgrundlagen gehören, aber man versagt ihnen die Anerkennung – auch die finanzielle. Labor, „Arbeit“, genießt keine Wertschätzung an sich. Es sei denn, der Begriff labor bezieht sich auf die „Mühe“ der Angehörigen der Oberschicht, die sich als Politiker, Rhetoren, Anwälte und hohe Verwaltungsbeamte in den Dienst der Allgemeinheit stellen. Diese „Mühen“ sind aller Ehren wert, und man weist gern darauf hin, dass man sie gewissermaßen altruistisch auf sich nehme. In ähnlicher Weise ist der labor der Soldaten geschätzt. Er gilt als militärische Tugend, weil auch er eine gesellschaftliche Dienstleistung ist. Ansonsten erscheint der labor in der aristokratischen Ideologie, wie Vergil an einer berühmten (und oft missverstandenen) Stelle sagt,15 als improbus, „ungut“, „unpassend“, ja „unanständig“. Und er wird, was den labor der kleinen Leute angeht, aus heutiger Sicht entsprechend „unanständig“ bezahlt. Es war, auch das aus heutiger Sicht beurteilt, schon eine überhebliche Dreistigkeit, wie da die Normen setzende Oberschicht die Lebensleistung arbeitender Menschen schlechtredete und ihnen das Selbstbewusstsein und den Stolz auf ihre tagtäglich erbrachte Leistung wegzunehmen bemüht war. Die meisten der so „Heruntergeputzten“ waren einfache Menschen ohne Bildung, die nicht oder nur sehr eingeschränkt lesen und schreiben konnten. Wie hätten sie in diesen Diskurs eingreifen sollen, der zudem kein echter Diskurs war, weil sich diejenigen, die sich da zu Wort meldeten, sehr einig waren?
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Grabsteine als Social Media – Wie man eine arbeitsfeindliche Ideologie untertunnelt Umso überraschender war das, was dann in augusteischer Zeit geschah und sich in den nächsten Jahrhunderten fort- und festsetzte: Handwerker fanden ein verblüffendes Medium, um diese gesellschaftliche Abwertung von Handarbeit infrage zu stellen, ja die herrschende Meinung in geradezu Schwejk’scher Weise zu untertunneln. Dieses Medium war zudem ein spezifisch römisches: der Grabstein. Ob Fleischer oder Schmied, Bäcker oder Schiffbauer, Töpfer oder Walker – sie ließen nicht nur ihre Berufsbezeichnung zu ihrem Namen auf die Grabplatte schreiben, sondern dort auch für ihre Tätigkeit typische Arbeitsgeräte abbilden.16 Sie bekannten sich zu ihrer Tätigkeit – und sie machten klar, dass sie ihnen Zufriedenheit oder sogar Erfüllung verschafft hatte. Von wegen sordida ars, „schmutziges Handwerk“! Von wegen negotium servile, „sklavische Tätigkeit“! Mit eben jener Handarbeit, die angeblich nichts wert war, hatten sie Werte geschaffen und eine
Schmiedewerkstatt mit Arbeitern sowie typischen Arbeitsgeräten; Ausdruck eines selbstbewussten „Bekenntnisses“ zum H andwerkerberuf, den die O berschicht verachtete. G rabrelief aus O stia, 1 . Jh.
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Lebensleistung vollbracht, derer sie sich nicht schämen mussten. Von wegen sich wegducken! Da wurde ganz offensiv illustriert, dass man eben nicht zu den Losern gehörte, nicht nur einer von vielen war, die im doppelten Sinn des Wortes nichts zu sagen hatten. Diese Handwerker hatten etwas zu sagen und etwas vorzuweisen – und ihr Grabstein war Dokument und Beweis dafür zugleich. Natürlich waren die, die sich da so präsentierten, nicht die Habenichtse der Unterschicht; diese mentalitätsgeschichtlichen „Revolutionäre“ gehörten einer arrivierten unteren Mittelschicht an, die nicht ganz arm war. Denn Gräber und Grabdenkmäler waren ziemlich teuer. Die wirklich mittellosen Römer hatten auch dafür keinerlei Mittel,17 wohl aber die Besitzer kleiner Betriebe und Werkstätten, die den einen oder anderen freien oder unfreien Mitarbeiter beschäftigten. Nicht wenige von ihnen – und auch Inhaber „normaler“ Gräber und schmuckloser Grabsteine – geben sich freimütig als liberti, „Freigelassene“, zu erkennen. Dazu waren sie nicht verpflichtet. Taten sie es doch, dann spricht daraus auch ein gewisser Stolz, es vom Sklaven zum „Besitzer“ eines Grabes geschafft zu haben: Die Grabinschrift dokumentiert einen sozialen Aufstieg, der von den Passanten, die direkt oder indirekt zum Lesen der Inschrift aufgefordert werden, anerkannt werden soll. Das Neue besteht darin, dass dieser Aufstieg einer Arbeitsleistung zugeschrieben wird, über die die Elite die Nase rümpft. Darin spiegelt sich ein Könnensbewusstsein, das sich von den herrschenden Normen und dem „Snobismus gegen Arbeiter und Arbeit“ der Oberschicht18 nicht mehr einschüchtern lässt, jedenfalls nicht in diesem Bereich des labor. Grabinschriften sind auch eine wesentliche Quelle dafür, wie breit gefächert und spezialisiert die römische Arbeitswelt bei der ebenso gering geschätzten wie wichtigen Handarbeit war: Die Liste umfasst allein für die Hauptstadt 160 Tätigkeiten.19 Das waren in vielen Fällen Facharbeiter, die ihren Beruf bei einem Lehrherrn mit oder ohne Ausbildungsvertrag erlernt hatten, aber auch Ungelernte – die Grenzen waren überdies in einem „deregulierten“ System wie dem römischen fließend. Wie hoch war dabei der jeweilige Anteil der Freien, der Frei-
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gelassenen und der Sklaven? Wer auch nur annähernde Prozentsätze vorschlägt, begibt sich gefährlich weit ins Reich der Spekulation. Auch ohne diese intensiv diskutierte Frage zu beantworten, lassen sich einige Feststellungen treffen, über die sich die althistorische Forschung im Wesentlichen einig ist.
Freigelassene mit Dienstleistungspflichten – Eine Belastung des Arbeitsmarktes Eine deutliche Trennlinie verläuft zwischen freier und unfreier Arbeit. Freigeborene und Freigelassene gehörten insoweit der gleichen Kategorie auf dem Arbeitsmarkt an, als sie für sich selbst verantwortlich, gleichzeitig aber auch berechtigt waren, Arbeitsverträge auszuhandeln und zu kündigen. Diese grundsätzlichen Arbeitnehmerrechte standen Sklaven nicht zu. Allerdings fielen für sie, modern ausgedrückt, Fix- und Lohnnebenkosten bei ihren Eigentümern an: Unfreie hatten – auch gesetzlich festgelegte – Ansprüche, dass ihre Grundbedürfnisse – Nahrung, Kleidung und Obdach – von ihren Herren erfüllt wurden. Dass nicht alle domini ihren Pflichten gewissenhaft nachgekommen sind, ist offensichtlich. Andererseits legte schon ein rein ökonomisches Kalkül den Herren nahe, einen Mindeststandard einzuhalten: Wer hungert, arbeitet schlechter, wer friert, büßt an Arbeitswillen ein. Anders als Sklaven mussten Freigelassene ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten. Im Prinzip waren sie ihre eigenen Herren. Allerdings wirkte das Nahverhältnis zu ihren ehemaligen Herren nicht nur moralisch, sondern auch juristisch nach. Liberti schuldeten ihrem Freilasser und nunmehrigen patronus Ehrerbietung und Loyalität. Dazu gehörte, dass sie nicht in direkte wirtschaftliche Konkurrenz zu ihm traten, indem sie z. B. das bei ihm erlernte Gewerbe in räumlicher Nähe zum Betrieb des einstigen Herrn ausübten. Nicht unerheblich für den Arbeitsmarkt waren die im Freilassungsvertrag niedergelegten operae libertorum. Das waren „Arbeitsleistungen“, die tägliche Dienste
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oder mehrere Arbeitstage im Jahr bis hin zu insgesamt 1000 Tagewerken in der weiteren Lebenszeit umfassen konnten. Eine für den patronus willkommene Flexibilität: Herrschte etwa in seinem Handwerksbetrieb eine hohe Nachfrage, so konnte er die Beschäftigtenlücke gegebenenfalls mit liberti füllen. Einem Missbrauch mit klarer Ausbeutungstendenz schob der Gesetzgeber allerdings einen Riegel vor, nachdem Patrone „sich angewöhnt hatten, überaus harte Forderungen als Gegenleistung für die so große Wohltat (der Freilassung) zu stellen“.20 Wie hoch die durchschnittliche Belastung von Freigelassenen durch Arbeitsleistungen für ihre patroni war, lässt sich nicht sagen. Die Bandbreite der „Abmachungen“, die natürlich eher einem Diktat des Freilassers nahekamen, war enorm. Entsprechend unterschiedlich waren die Auswirkungen auf das Einkommen der einzelnen liberti; ihre operae mussten sie ja unentgeltlich erbringen und den Verdienstausfall selbst tragen. Mit diesen Einschränkungen des Arbeitsmarktes hatten sich die freien Lohnarbeiter, ob gelernte oder ungelernte, schlicht abzufinden. Eine Konkurrenz stellten die operae libertorum in jedem Fall dar, auch wenn der Umfang nicht rekonstruierbar ist. Und natürlich waren auch Sklaven eine weitere Konkurrenz für sie. Stellen, die mit Sklaven besetzt waren, standen freien Lohnarbeitern nicht zur Verfügung – diese „Gleichung“ lässt sich nicht leugnen. Allerdings waren viele Sklaven in den Haushalten der Reichen tätig. Sie dienten dort vor allem dem Komfort und Luxus ihrer Besitzerfamilie und hatten mit der Produktion von Waren nichts zu tun.
Löhne am Existenzminimum – Der Arbeiter als „freier Unternehmer“ Aber es gab auch andere Unfreie, die in sämtlichen Berufen tätig waren, und zwar Seite an Seite mit freien Arbeitern. Gut ausgebildete Sklaven, die ihre Herren zum Schulunterricht geschickt hatten, waren auch für gehobene Positionen als Geschäftsführer, Verwalter und
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Buchhalter im Management kleinerer und größerer Betriebe tätig. Es war selbstverständlich, dass sie in diesen Funktionen Vorgesetzte auch freier Mitarbeiter waren. Das hat, soweit wir sehen, nicht für böses Blut gesorgt, sofern die Qualifikation der Vorgesetzten in Ordnung war. Die häufig von der amerikanischen auf die antike Sklaverei übertragene Vorstellung, dass Sklavenarbeit auf eng begrenzte, meist inferiore Tätigkeitsfelder beschränkt gewesen sei, ist irrig. Ebenso falsch ist die Annahme, dass die antike Wirtschaft auf Sklavenarbeit gegründet gewesen sei. Das war bis auf den Sonderfall des Kriegerstaates Sparta nirgendwo der Fall. Und auch eine starke Rivalität zwischen freier und unfreier Arbeit lässt sich nicht feststellen. Die Sklaven arbeiteten nicht für Dumpinglöhne, die die freien Arbeiter ständig zu finanziellen Zugeständnissen gedrängt hätten. Wer auf Tagesbasis angeheuert wurde, bekam, ob frei oder unfrei, denselben Lohn, und auch bei der zweiten Entlohnungsvariante, dem fertigen Werkstück, war die Bezahlung identisch – nur eben mit dem Unterschied, dass der Herr der unfreien Arbeitskräfte deren Lohn bekam. Einen Mangel an Arbeitskräften hat es im Rom des 1. und 2. Jahrhunderts offensichtlich nicht gegeben. Eher war das Gegenteil der Fall: Unterbeschäftigung und Arbeitslosigkeit in einem nicht näher definierbaren Umfang – allerdings weit entfernt von Massenarbeitslosigkeit – machten den Arbeitssuchenden zu schaffen und drückten tendenziell die Löhne. Es liegen nur wenige konkrete Angaben zu den Löhnen vor. Aber deutlich ist, dass die Schere zwischen Entlohnung und Lebenshaltungskosten im Laufe der Zeit auseinanderging, auch wenn die Inflation zunächst ziemlich niedrig war. Der Tagesverdienst eines Lohnarbeiters lag in der Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. wohl bei 3 Sesterzen (12 Assen), in der Kaiserzeit etwas höher.21 Bei den wenigen konkreten Angaben zu Löhnen und Preisen lassen sich generalisierbare quantitative Angaben kaum machen, zumal eine wesentliche Variable die Anzahl der Familienangehörigen ist, die ernährt werden mussten. Als Single hatte ein mercennarius es leichter, mit seinem Lohn auszukommen, für einen Familienvater mit mehreren Kindern wurde es dagegen sehr schnell eng. Es ist sicher realis-
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tisch, im Durchschnitt von einem Kind oder zwei Kindern auszugehen. Dabei war die „Fluktuation“ angesichts hoher Säuglings- und Kindersterblichkeit hoch; die Stabilität römischer Familienverhältnisse im Hinblick auf Geschwister und auch Eltern war gegenüber heutigen Verhältnissen stark reduziert. In Notzeiten wussten sich viele Menschen nicht anders zu helfen, als Säuglinge und kleine Kinder auszusetzen. Dass es diese Methode der Familienplanung gab, ist ebenso wenig strittig wie die juristische Ermächtigung des pater familias, „Familienoberhaupts“, sie anzuwenden. Aber wie häufig die emotional außerordentlich belastende Entscheidung tatsächlich getroffen worden ist, wissen wir schlicht nicht. Das war kein Thema, über das jemand gern sprach – einschließlich der Person, die sich des Findlings annahm und ihn rechtmäßig zum Sklaven hatte, solange dessen freie Geburt nicht nachgewiesen wurde.22 Trotz der schlechten Quellenlage und der individuell unterschiedlichen Lebensverhältnisse hat sich die Wissenschaft intensiv zu erforschen bemüht, inwieweit die Erwerbsarbeit einfacher Arbeiter zum Leben ausgereicht hat.23 Die Forscher kommen weitgehend übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass die große Masse der Arbeiter am oder unter dem Existenzminimum gelegen hat – einschließlich der Getreiderationen, die (ausschließlich) Bürgern in Rom zustanden.24 Verglichen mit frühneuzeitlichen Standards, waren die Löhne römischer Lohnarbeiter eher bescheiden. Sie lagen im Bereich der bare bone subsistence, d. h. einer gerade einmal ausreichenden Basis-Subsistenz.25 Dabei trugen Frauen- und Kinderarbeit in etlichen Familien dazu bei, den Lebensunterhalt einigermaßen zu sichern. Gleichwohl waren die Arbeitsverhältnisse vieler operarii und mercennarii ausgesprochen prekär. Sicherungssysteme gab es überhaupt nicht; jeder musste sich aktiv um eine Arbeit bemühen oder, wenn er Glück hatte und eine Fachausbildung besaß, um einen mehr oder weniger dauerhaften Arbeitsplatz. Die juristische Form der Vertragsschließung war bei Lohnarbeitern die locatio conductio operarum, „Vermietung und Anmietung von Dienstleistungen“. Der Arbeiter trat dabei gewissermaßen als freier Unternehmer auf; sein „Angebot“
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spiegelt sich im Begriff operarius, „Anbieter von opera, Arbeitsleistung“. Manchmal wird er auch als in diem locans manus bezeichnet, „einer, der seine Hände tageweise vermietet“. Solche kurzfristigen Arbeitsverhältnisse wurden an allgemein bekannten Plätzen geschlossen, an denen die Tagelöhner auf ihre „Mieter“ warteten. Das war in der Regel in kleineren Städten der Marktplatz.26 In Rom hat es vermutlich mehrere einschlägige Örtlichkeiten gegeben. Der Lohn war frei verhandelbar; Tarife gab es nicht, geschweige denn eine Tarifbindung. Da aber das Angebot an Arbeit die Nachfrage überstieg, bestimmten die Arbeitgeber (im heutigen Sprachgebrauch) die Konditionen. „Sie behielten die Kontrolle über die Arbeitsbedingungen“, bringt William V. Harris seine einschlägigen Untersuchungen auf den Punkt, „und es gab absolut keine Initiative, die Löhne der ungelernten oder angelernten Arbeiter über den Grenzbereich anzuheben, der Hungern und Kindesaussetzung von bloßer Subsistenz trennte“.27
Unterbeschäftigung, Konjunkturflauten, jahreszeitliche Schwankungen – Ein Arbeitsmarkt ohne Sicherheit und Stabilität Arbeitsverhältnisse von Lohnarbeitern wurden meist auf kurzfristiger Basis – oft nur für einen einzigen Tag – geschlossen und dann je nach Auftragslage und Bedarf verlängert: ein System des hire and fire, dessen gnadenlose Unsicherheit einen Druck auf die operarii ausübte, den man sich in modernen Sozialsystemen kaum vorstellen kann. Saisonale Schwankungen waren an der Tagesordnung. Während der Schifffahrtssaison von Frühling bis Herbst wurde eine große Menge von Transportarbeitern benötigt; in der restlichen Zeit des Jahres fiel zwar noch die Distribution von Waren zwischen dem Hafen Ostia und Rom sowie in der Hauptstadt selbst an, aber das „maritime“ Warenvolumen fiel weg – und damit auch Tausende Arbeitsplätze. Im Sommer und Herbst zog es viele Angehörige der einkommensstarken Oberschicht aus der heißen und ungesunden Hauptstadt fort;
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das dürfte vor allem Ladeninhaber und Handwerksbetriebe betroffen haben, die mit Gütern für den gehobenen und den Luxuskonsum ihr Dasein fristeten. Die Beschäftigung am Bau ging dagegen in den Wintermonaten zurück, wenn Betonarbeiten wegen der Frostgefahr reduziert wurden. Gleichzeitig stieg die Zahl der Arbeitsuchenden, die aus dem ländlichen Umfeld nach Rom strömten, weil in der Landwirtschaft weniger zu tun war. Mit einer umgekehrten Fluktuation muss man in der Erntezeit rechnen. Da waren Arbeiter aus der Stadt als Erntehelfer willkommen. Von einer entsprechenden Mobilität in beide Richtungen ist auszugehen, auch wenn sie sich in den Quellen nicht niederschlägt. Überhaupt war nach neueren Forschungen die Mobilität im Römischen Reich relativ hoch, wobei die meisten Menschen per pedes unterwegs waren. Die Hauptstadt war und blieb auch in der Kaiserzeit ein Magnet für Immigranten aus dem gesamten Imperium. Man rechnet mit einer jährlichen Quote von 5 % Neueinwohnern, die nicht aus Italien stammten.28 Darunter waren überproportional viele Fachkräfte, die weniger Probleme hatten, eine Anstellung zu finden als Ungelernte. Gleichwohl hatte dieser Zuzug von Menschen erhebliche Auswirkungen auf den stadtrömischen Arbeitsmarkt, insofern er die Konkurrenzsituation verschärfte. Über diese allgemeinen Tendenzen kommt man in der Skizzierung des römischen Arbeitsmarktes für Lohnarbeiter kaum hinaus. Sie alle machen indes deutlich, dass von Stabilität und Verlässlichkeit der Arbeitsverhältnisse keine Rede sein kann. Hunderttausende lebten – einschließlich ihrer Familien – von einer Hand-in-den-Mund-Beschäftigung, bei der das Morgen ungewiss war. Sämtliche Branchen waren konjunkturellen Schwankungen unterworfen, aber es gab bestimmte Inseln relativer Sicherheit, die dauerhaft eine große Zahl von Jobs garantierten. Das waren zum einen Arbeitsplätze in der Grundversorgung der Einwohner Roms: Nahrung, Kleidung und andere Waren des täglichen Bedarfs mussten produziert und verteilt werden. Für die Lieferung der Basislebensmittel – Getreide, Wein, Öl, Gemüse und Früchte – waren das itali-
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sche Umland der Hauptstadt sowie die Provinzen – vorrangig Ägypten, Sizilien, Nordafrika und Spanien – zuständig. Die Distribution aber lag in den Händen Zehntausender Transportarbeiter und Fuhrleute; menschliche und tierische Muskeln waren – abgesehen vom Wind, der die Segelschiffe antrieb – die entscheidenden Kräfte, um die Waren von A nach B zu schaffen. Geruli und saccarii, „Lasten- und Sackträger“, sorgten mit ihrem aufreibenden Knochenjob dafür, dass die Versorgung der Millionenmetropole funktionierte. Der Warenverkauf lief weitgehend über den Kleinhandel. Große Ketten, Verbrauchermärkte und Einkaufszentren kannte das antike Rom nicht. Viele Handwerker vertrieben ihre Produkte selbst; ihre taberna war Handwerksbetrieb und Verkaufsraum in einem. Fliegende Händler (ambulatores, circulatores), die als Angestellte oder auf Kommissionsbasis tätig waren, prägten das Geschehen auf Roms Straßen; das waren vielfach wenig beneidenswerte Jobs mit kargen Löhnen und Margen.29 Die Läden und Werkstätten waren während der hellen Tagesstunden durchgehend geöffnet; die Arbeitszeit war entsprechend lang.30 Es gibt keine exakten Informationen darüber, aber die heute üblichen acht Stunden – und auch die mitunter vermuteten neun Stunden abzüglich Pausen31 – dürften bei Weitem übertroffen worden sein. Vom Tagesablauf eines Angehörigen der Oberschicht, für den am Mittag mit der „Arbeit“ Schluss war,32 konnten Lohnarbeiter, Kleinhändler und auch Handwerker nur träumen. Auf dem Land arbeiteten die abhängig Beschäftigten von morgens bis abends;33 in der Stadt dürfte das kaum anders gewesen sein, wobei die effektive Arbeitszeit in den Wintermonaten natürlich kürzer war als im Sommer. Gesetzliche Schutzbestimmungen oder Einschränkungen gab es dazu nicht – außer der Bestimmung, dass Freigelassene bei ihren Dienstleistungen für ihre Patrone „ausreichend Zeit“ zum Essen, zur Beschaffung von Nahrung und zur Körperpflege erhalten sollten.34 Das war ein Gummiparagraph, der zudem nicht unbedingt auf „normale“ Erwerbstätige übertragbar ist.
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Das Baugewerbe als Boombranche – Schmuck für die Stadt, Einkommen für Zehntausende Ein weiterer Bereich mit vielen Tausend einigermaßen sicheren Arbeitsplätzen für Fachkräfte wie für ungelernte Arbeiter war das Baugewerbe. Für private Investoren war es lukrativ, in Rom Mietwohnungen bauen zu lassen, auch wenn das hohe Brand- und Einsturzrisiko die Rendite verringerte.35 Für den Arbeitsmarkt stellte eben dieses Risiko allerdings einen belebenden Faktor dar; das Neubauvolumen erhöhte sich durch die Unglücksfälle erheblich.
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Auch die öffentliche Hand steckte sehr viel Geld in Bauprojekte. Das Bestreben der Kaiser, die maiestas imperii mittels ebenso repräsentativer wie aufwendiger Bauten in der Hauptstadt zu visualisieren, wirkte sich als Turbo für die Baubranche aus. Im 1. und 2. Jahrhundert wurden zahlreiche Großprojekte geplant und binnen relativ kurzer Zeit realisiert: Foren, Thermen, Aquädukte, Massenunterhaltungsstätten wie das Colosseum, Heiligtümer und Kaiserpaläste. Das von Augustus auch als Werbung für die neue Staatsform initiierte und von seinen Nachfolgern weitergeführte Programm des Urbem adornare, „Schmückens der Stadt“,36 wurde mit Milliarden und Abermilliarden Denaren realisiert und trug zu Roms Image als Ewiger Stadt erheblich bei. Bauten wie das Colosseum und das Pantheon, das Trajansforum und die Obelisken, die Triumphsäulen und Badepaläste wurden als Mirabilia Urbis Romae, „Wunder der Stadt Rom“ – so der Titel des bekanntesten Rompilgerführers im Mittelalter – gefeiert und gelten bis heute als touristische Antiken-Highlights eines Rombesuchs. Sie alle wurden von Legionen freier und unfreier Bauarbeiter und Bauhandwerker errichtet, die mit dieser Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienten – wobei diese Arbeit selbst verachtet, ihr Ergebnis aber gefeiert wurde. Ein Missverhältnis, das in gewisser Weise bis in die Moderne andauert. Viele bewundern das Colosseum, verwenden aber keinen Gedanken auf diejenigen, die es, sozusagen im architektonischen Maschinenraum schuftend, mit ihrer Hände Arbeit erschaffen haben. Zu den noch heute in jeder Hinsicht spektakulären Ruinen des antiken Rom zählen auch die Caracalla-Thermen, ein Touristenmagnet und in der Sommersaison wegen der Open-Air-Aufführungen ein Dorado für Opernliebhaber. Janet DeLaine hat in einer minutiösen Studie analysiert, wie viele Arbeitskräfte an diesem Riesenbau beteiligt waren,37 der in der sensationell kurzen Bauzeit von 212 bis 216 fertiggestellt worden ist. Die wichtigsten materiellen Zeitzeugen sind die Ziegelstempel mit der Angabe des Herstellungsjahres. Selbstverständlich enthalten DeLaines Berechnungen spekulative Elemente, aber von der Größenordnung her erweisen sie sich als solide. Danach
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waren in Spitzenzeiten 10 000 Menschen an dem Bau beschäftigt, im Durchschnitt 6000 Mann für zwölf Stunden am Tag bei 300 Arbeitstagen pro Jahr. 2500 bis 3000 Ochsenkarren sorgten für kontinuierlichen Nachschub von Baumaterialien. Vergleichszahlen liegen aus dem 16. Jahrhundert vor, als der 500 Tonnen schwere Vatikanische Obelisk über wenige Hundert Meter an seinen neuen Standplatz vor San Pietro überführt wurde. Die Operation Obelisk erstreckte sich damals über vier Monate und benötigte die Arbeitskraft von 800 Mann und 120 Pferden.38 Für das Colosseum liegt eine interessante Teilberechnung vor, die auf der Grundlage quantifizierbarer Daten ziemlich genau sein dürfte: Dort wurden rund 300 000 Tonnen Travertin verbaut, die aus den 24 km entfernten Steinbrüchen nach Rom geschafft wurden. Die Ochsenkarren hatten eine Kapazität von zwei Tonnen und benötigten zwei Tage Fahrzeit. Veranschlagt man acht Mann pro Fracht, so fielen allein für den Transport des Travertins 2,4 Millionen Arbeitstage an. Bei 300 Arbeitstagen im Jahr hatten so in diesem Teilbereich 800 Mann zehn Jahre lang Arbeit.39 Für die Bauarbeiten selbst ist ein Vielfaches dieser Zahl von Beschäftigten anzunehmen, in der Größenordnung vielleicht vergleichbar mit dem ambitionierten Infrastrukturprojekt des Claudius: An dem Entwässerungskanal des Fuciner Sees sollen elf Jahre lang „ohne Unterbrechung 30 000 Menschen gearbeitet“ haben.40
„Lass mich mein Völkchen ernähren!“ – Eine gezielte Arbeitsmarktpolitik der Kaiser? Der öffentliche Bauboom des 1. und 2. Jahrhunderts hat den römischen Arbeitsmarkt gewiss entspannt – wenngleich der Einzelne auch mit Phasen von Arbeitslosigkeit oder „Kurzarbeit“ rechnen musste, da die Großprojekte nicht immer nahtlos ineinandergriffen. Das, was man heute eine Jobmaschine nennt, war er gleichwohl. DeLaine schätzt, dass 15 % der gesamten männlichen Bevölkerung Roms auf dem Bausektor
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Arbeit gefunden hätten. Frank Kolb geht von 100 000 bis 150 000 Stadtbewohnern aus, die – einschließlich der Familienangehörigen – „ihren Lebensunterhalt aus dem Baugewerbe bezogen haben“.41 War das gezielte Arbeitsmarktpolitik der römischen Kaiser? Darüber herrscht in der Wissenschaft kein Konsens. Vielleicht kann man die divergierenden Ansichten so zusammenführen: In erster Linie ging es den großzügigen Bauherren um Prestigebauten, die dem Ruhm und der Stabilität ihrer Herrschaft zugutekamen und zugleich eine nützliche Investition für die Allgemeinheit bedeuteten. Das schloss aber mindestens als Nebenüberlegung nicht den bewussten Blick auf den Arbeitsmarkteffekt und die Versorgung eines erheblichen Teils der ärmeren Bevölkerung aus – im Gegenteil: Hier ließ sich ein zweites Ziel mit dem ersten kombinieren, das sozialen Frieden mit sich brachte und insofern ebenfalls zur Legitimation und Anerkennung einer „segensreichen Herrschaft“ beitrug. Die „Zeche“ zahlten die Steuerpflichtigen in den Provinzen; insofern war nie mit einer Klage der kleinen Leute in Rom zu rechnen, dass sie das alles bezahlen müssten. Wie gesagt: Eine programmatische Lenkung der Wirtschaftspolitik oder das Bemühen, konjunkturelle Dellen durch gewaltige Bau- und Infrastrukturprojekte auszugleichen, sind nicht erkennbar. Aber die Kaiser hätten schon ziemlich blind sein müssen, hätten sie die positiven Folgen ihrer ambitionierten Baupolitik für die Beschäftigungssituation im „Billiglohnbereich“ nicht registriert. Es gibt auch eine Äußerung Vespasians, die in diese Richtung geht, wenn man denn plebicula sinnvollerweise als Verkleinerungsform von plebs ansieht und mit den „kleinen Leuten“ gleichsetzt (und nicht als „Sklaven“ missversteht).42 Als ihm ein Ingenieur eine mechanische Methode anbot, hohe Säulen zu geringeren Kosten auf das Capitol zu schaffen, ließ der Kaiser ihm ein hohes Honorar zukommen. Die Erfindung aber schickte er zurück mit der Bemerkung, „er solle es ihm (weiter) ermöglichen, die kleinen Leute zu ernähren“.43 Das Honorar war offenbar eine Art Schweigegeld. Oder man könnte sagen: Der Kaiser kaufte dem Ingenieur damit gleichsam das
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Patent – und seine Nichtnutzung – ab. Die Innovation würde, wie man heute sagt, Arbeitsplätze kosten – das wäre, wenn man die Anekdote als Indiz für eine Art Arbeitsmarktlenkung interpretiert, die Überlegung hinter dem remittere, „zurückschicken“, „verzichten“, gewesen: Der kaiserliche patronus schützte sein „Völkchen“ vor dem Verlust von Arbeitsplätzen, indem er den technischen Fortschritt blockierte.
Überwindung von Armut durch Arbeit – Das „innovative“ Modell eines „Goldmundes“ Es ist indes nicht erkennbar, dass Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der öffentlichen Hand als grundsätzliches Konzept zur Bekämpfung von Armut erwogen und praktiziert worden wären. Dieser eigentlich naheliegenden und in der modernen Ökonomie selbstverständlichen Idee stand die negative Einschätzung der Handarbeit im Denken der römischen Oberschicht im Weg. Wieso sollte man etwas so „Verachtenswertes“ wie den labor der Unterschichten auch noch mit öffentlichen Programmen fördern? Eine bemerkenswerte Durchbrechung dieser Denkblockade gelang dem griechischen Philosophen Dion von Prusa, der seiner Redekunst den posthumen Beinamen Chrysostomos, „Goldmund“, verdankte. Er lebte von ca. 40 bis ca. 120. Seine „Euböische Rede“ orientiert sich allerdings an den griechischen Verhältnissen des 1. Jahrhunderts – obwohl er Rom und die schwierigen Lebensbedingungen der kleinen Leute in der Hauptstadt aus eigener Anschauung kannte. Für die Armen in den Städten gebe es zu wenige Arbeitsmöglichkeiten, stellt Dion fest, und „deshalb ist es schwer für sie, mit ihren Lebensbedingungen zurechtzukommen, da sie über keinen anderen Besitz verfügen als ihre körperliche Arbeitskraft“.44 Die traditionelle Methode, sie dadurch gewissermaßen aus den Städten zu schaffen, dass man ihnen Landlose als Kleinbauern zuweise, sei zwar keineswegs obsolet, aber man könne das Problem auch lösen, indem man sie als Lohnarbeiter in der Stadt lasse.45
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Bauarbeiter auf der Spitze eines Einmastkrans. R echts ist das tempelartige G rab der H aterier dargestellt; darüber eine Leichenbahre. R elief aus dem G rab der H aterier, R om, Ende 1 . Jh.
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Aber wie? Dions positive Antwort darauf bleibt ziemlich nebulös: Die Armen bräuchten „Unterstützung von außen“.46 Er denkt dabei offenbar an städtische Förderprogramme und an Arbeiten, die private Auftraggeber ausschreiben sollten. Das Neue daran ist die aus heutiger Sicht nicht gerade überwältigende Erkenntnis, dass (Hand-)Arbeit dabei helfen kann, Armut zu überwinden, dass sie also von den Angehörigen der Elite nicht wie üblich negativ, sondern positiv beurteilt werde. Elisabeth Herrmann-Otto bewertet es entsprechend als „eine große Leistung des Dion von Prusa, den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und absoluter Armut erkannt zu haben“.47 In Kreisen der von Armut betroffenen Menschen dürfte diese Einsicht nicht als ganz so revolutionär empfunden worden sein. Ausgesprochen menschenfreundlich und für seine Zeit fortschrittlich sind Dions Überlegungen, welche Arbeiten zur Überwindung der Armut zumutbar sind. Kriterien sind die Menschenwürde, die Gesundheit von Seele und Körper, ein Mindestlohnniveau über dem Existenzminimum und die Arbeitszufriedenheit48 – theoretische Hürden, die für die Antike nachgerade utopisch anmuten und die auch in unseren Tagen keineswegs von allen Arbeiten überwunden werden. Über Frauenarbeit verliert Dion kaum ein Wort. Bei seiner Suche nach im Sinne seiner Kriterien anständigen Berufen kommt er auch auf Bordellbetreiber zu sprechen. Dieses Gewerbe dürfe keiner ausüben, weder ein Reicher noch ein Armer, verlangt er und streicht die Tätigkeit des Zuhälters von der Liste der für Arbeitsuchende infrage kommenden Berufe.49 Natürlich will Dion damit auch den gesamten Prostitutions„Sumpf “ mitsamt seines „Personals“ trockenlegen, aber sein Augenmerk gilt eben nur „richtigen“ Berufen – und das heißt den von Männern ausgeübten. An diesem Punkt bleibt er ganz der aristokratischen Norm verhaftet. Die sah eine Berufstätigkeit der Frau schlicht nicht vor. Als Hüterin des Hauses und Erzieherin der Kinder sei sie gewissermaßen voll ausgelastet, meinte man, und in der Öffentlichkeit sah eine konservative Moral sie ohnehin nicht so gern.
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Unerwünscht, aber viel praktiziert – Roms „unsichtbare“ Frauenarbeit Dieses tradierte Rollenbild hatte in der gesellschaftlichen Realität auch der Elite so manchen Kratzer bekommen, aber diese partiell neue Wirklichkeit wurde in den Quellen nur sehr zögerlich dokumentiert. Bei der Berufstätigkeit von Frauen zeigt sich das in besonders auffälliger Weise. Arbeitende Frauen zählen zu den „unsichtbarsten Gruppen der römischen Welt“, bringt Lena Larsson Lovén den erstaunlichen Befund auf den Punkt.50 Erstaunlich ist der Befund deshalb, weil sich aus Streuquellen und zufälligen Notizen sehr wohl rekonstruieren lässt, dass nicht wenige Frauen einer Berufstätigkeit nachgegangen sind. Bei den Sklavinnen ist das geradezu selbstverständlich. Sie wurden vor allem für Haushaltstätigkeiten im weiteren Sinne eingesetzt einschließlich der Bereiche Körperpflege und Kosmetik. Ornatrices, „Haarschmückerinnen“ oder schlichter „Friseurinnen“, stellten ein Fünftel der auf stadtrömischen Inschriften bezeugten weiblichen Berufsbezeichnungen.51 Insgesamt sind Frauen jedoch auf den thematisch einschlägigen Inschriften unterrepräsentiert: Von 1470 in Rom entdeckten Inschriften mit Berufsangabe entfallen nur 208, d. h. 14 % auf Frauentätigkeiten.52 Das entspricht sicher nicht ihrem tatsächlichen Anteil am Arbeitsleben und lässt sich wohl auch damit erklären, dass Männer es nicht so gern „zugaben“, wenn ihre Frau das Familieneinkommen aufbesserte oder aufbessern musste. Das traf auf die freie Unterschicht in besonderer Weise zu, auch wenn es dafür aus finanziellen Gründen kaum epigraphische Zeugnisse gibt. Dort war ein zusätzliches Einkommen aus Frauenarbeit häufig dringend notwendig, um das Existenzminimum der Familie zu sichern. Die wichtigsten weiblichen Berufsfelder lagen in der Textilproduktion und im Kleinhandel. Auch im Handwerk arbeiteten Frauen nicht selten mit ihrem Mann zusammen als Verkäuferin der von ihm hergestellten Waren oder auch als Buchhalterin. Wo es wie im Transportwesen und auf dem Bau auf besondere Muskelkraft an-
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kam, waren Frauen nicht anzutreffen. Das gilt indes nicht für Tätigkeiten in der Landwirtschaft. In Kleinbauernfamilien war es selbstverständlich, dass Frauen und Kinder nicht nur während der Erntezeiten mit anpackten.53 Weitere Jobs für Frauen – freie wie unfreie – fielen in der Gastronomie bei der Zubereitung und beim Servieren von Speisen und Getränken an, in der Unterhaltungsbranche als Musikantinnen, Tänzerinnen und Schauspielerinnen sowie im Pflege- und medizinischen Bereich als Ammen, Hebammen und – eher selten – als medicae, „Ärztinnen“. Prozentangaben zur Berufstätigkeit römischer Frauen wären höchst spekulativ. Aber sicher ist, dass Frauenarbeit „eine vitale Rolle bei der Ernährung, Kleidung, Unterhaltung und Versorgung spielte“.54 Dass auch die Prostitution von Frauen in der stadtrömischen Arbeitswelt von nachgerade zentraler Bedeutung war, wird in einem eigenen Kapitel aufgezeigt.55 In diesem Gewerbe wurden nicht selten auch heranwachsende Sklavenmädchen und -jungen eingesetzt. Unfreie und freie Kinderarbeit gab es auch in anderen Sparten: im Showbusiness, im Handwerk, in der Hausarbeit sowie außerhalb der Stadt im Bergwerk und in der Landwirtschaft. Welchen Umfang sie hatte, ist unklar. Was heutzutage normal ist, wurde in römischer Zeit nur einer Minderheit ermöglicht: der reguläre Schulbesuch. Eine Schulpflicht gab es nicht; das Gesetz erlaubte unfreie Kinderarbeit ab dem fünften Lebensjahr.56 Man kann sicher sein, dass freie Kinder in nicht wenigen armen Familien auch in der Stadt durch Arbeit zum Unterhalt beitragen mussten. Auf dem Land war das selbstverständlich. Dort wurden Kinder zum Hüten von Schafen und Ziegen, zum Sammeln von Brennholz und bei Erntearbeiten eingesetzt. Wenn Eltern ihre Kinder aus wirtschaftlicher Not dazu brachten, die Familie durch ihre Tätigkeit zu unterstützen, so war das, von sexueller Ausbeutung abgesehen, eine meist erträglichere „Lösung“ als die Aussetzung Neugeborener oder schon älterer Kinder. Oder als ihr de-facto-Verkauf in die Sklaverei. Der „reguläre“ Verkauf von Kindern war dem Vater gesetzlich verboten; das galt als illegaler Menschenhandel.57 Nicht so dagegen
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das Verdingen von Kinderdiensten an Dritte.58 Diese Bestimmung dürfte von manch einem Vater als ultima ratio genutzt worden sein, sich eines Kindes zu entledigen. Es wurde damit einer wenig rosigen Zukunft mit ausbeuterischer Kinderarbeit überantwortet.
Lieber Sklave als Lohnarbeiter? – Mutmaßungen über eine „verkehrte Welt“ Juristische Bestimmungen sind gerade dort, wo Armut und Elend das Leben der Menschen bestimmen oder bedrohen, kein besonders verlässlicher Spiegel der Wirklichkeit. Sie zeigen Grenzen auf, die aus purer Not oft genug überschritten werden. Es gibt Hinweise darauf, dass Kinderarbeit in größerem Umfang praktiziert worden ist, als es durch die Quellen eindeutig belegt wird. Anstoß hat daran niemand genommen; schon gar nicht eine Oberschicht, die das, was heute als Missstand gilt, entweder nicht als solchen wahrgenommen oder „vorsichtshalber“ gar nicht hingeschaut hat. Viele der gerade skizzierten Arbeiten waren Gelegenheits- und Aushilfsjobs, die keine Gewähr für ein verlässliches, stabiles Einkommen boten. Das trifft auch auf einen erheblichen Teil der Arbeitsleistungen zu, die von Männern als „Haupternährern“ ihrer Familien erbracht wurden. Die Länge dieses Kapitels darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass über vielen Römern und Römerinnen stets das Damoklesschwert eines abrupten Endes ihrer Arbeit und damit ihres für das Überleben notwendigen Erwerbseinkommens schwebte. Für eine relativ arrivierte untere Mittelschicht, die sich in Grabinschriften artikulieren konnte und deshalb für die Nachwelt überhaupt „fassbar“ ist, war das nicht so ein großes Problem wie für das große Heer der Namenlosen, die als Sklaven und Lohnarbeiter ganz unten in der Einkommenspyramide standen. Dabei waren Unfreie prinzipiell besser vor extremer Not und vor Hunger geschützt. Sie waren in das Netzwerk einer familia eingebunden, die sie gewissermaßen vor dem Totalabsturz bewahrte.
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Damit sollen nicht das Leid und die Erniedrigungen geleugnet oder verharmlost werden, denen unzählige unfreie Existenzen ausgesetzt waren. Aber sie hatten bei aller Unfreiheit und Drangsalierung doch noch jemanden, der sich um sie kümmern musste und sich tatsächlich auch kümmerte. Die Gemeinschaft der Sklavenhalter sah es nicht gern, wenn Einzelne in ihren Reihen ihr „Herrenrecht“ zu brutal und exzessiv wahrnahmen. Denn das beschädigte die Institution der Sklaverei und drohte sie infrage zu stellen. Insofern gab es durchaus eine weitgehend funktionierende Sozialkontrolle, die verhinderte, dass Sklaven verelendeten oder gar verhungerten. Viele freie Lohnarbeiter dagegen genossen diesen „Schutz“ nicht. Freiheit bedeutete eben auch, dass sie für sich selbst verantwortlich waren. Der Sozialstaatsgedanke, man muss es sich immer wieder klarmachen, war der antiken Gesellschaft fremd; staatliche Institutionen, die Saisonarbeitern, Arbeitslosen und prekär Beschäftigten im Notfall Unterstützung zukommen ließen, gab es nicht. Und Privatleute waren im vorherrschenden Klima des do, ut des („ich gebe, damit du gibst“) wenig geneigt, demjenigen etwas zu geben, von dem sie keine Gegenleistung zu erwarten hatten. Deshalb kommt die althistorische Forschung ziemlich einhellig zu dem Ergebnis, dass die materielle Situation vieler freier Lohnarbeiter vor allem in Krisen- und wirtschaftlich unsicheren Zeiten schlechter war als die der Unfreien,59 ja, dass „Sklaven weniger als Freie von Armut bedroht“ gewesen seien.60 Immerhin ließen sich nicht alle Lohnarbeiter den Schneid abkaufen, auch wenn ihre wirtschaftliche Lage miserabel war und sie mit der Verachtung der „feinen“ Leute zurechtkommen mussten. Geradezu proletarisches Selbstbewusstsein lässt jedenfalls der Lastenträger Corax in Petrons Roman Satyrica erkennen. Er war von einer Gruppe Reisender angemietet worden und ächzte unter der Last ihres Gepäcks. Die Reisenden kümmerten sich nicht weiter darum, sondern gingen forschen Schritts weiter. Da platzte Corax der Kragen: „‚Was glaubt ihr‘, rief er, ‚bin ich ein Tragetier oder ein Steintransportschiff? Ich habe mich als Mensch vermietet, nicht als Gaul. Ich bin nicht weniger frei als ihr, auch wenn mein Vater mich arm zurück-
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gelassen hat!‘ Und nicht zufrieden mit seinen Schimpftiraden, hob er immer wieder das Bein und erfüllte den Weg mit unanständigen Geräuschen und Gestank gleichermaßen.“61 Ein wenig appetitliches Aufbegehren, gewiss. Zugleich hatte Corax polternd mit Arbeitsverweigerung gedroht. Das konnte er offenbar wagen, weil dort im ländlichen Italien weit und breit kein anderer da war, der seinen Job hätte übernehmen können. Das war jedoch in Rom nie der Fall. Arbeitskräfte gab es dort genug und eher zu viele, Solidarität dagegen wenig – wobei man nicht gerade von den Ärmsten erwarten sollte, dass sie eine entsprechende Mentalität entwickelten und praktizierten. Streiks als organisierte Arbeitsniederlegung waren im gesamten Imperium äußerst selten,62 in Rom bis auf Aktionen einzelner Gruppen unbekannt.63 Das Selbstbewusstsein eines Corax, ein freier Mann zu sein und deshalb den Dienst auch einmal versagen zu können,64 konnten sich die wenigsten leisten.
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„Die Stadt zählte 150 000 Arbeitslose. Sie brauchten nicht zu arbeiten, weil sie aus öffentlichen Mitteln unterstützt wurden. Etwa ebenso viele Arbeiter konnten ab Mittag die Hände in den Schoß legen. Beiden Gruppen war die Beschäftigung mit Politik verwehrt. Die Spiele aber füllten die Freizeit.“1 So liest man es in einer der einflussreichsten Darstellungen zur römischen Kulturgeschichte aus dem 20. Jahrhundert. Sie stammt aus der Feder des französischen Althistorikers Jérôme Carcopino. Erstmals im Jahr 1938 publiziert, erlebte das Buch zahlreiche Auflagen und Übersetzungen, u. a. ins Deutsche. Umso größer war der Schaden, den Carcopino mit seinen kühnen panem-et-circenses-Thesen angerichtet hat. Dass die „öffentlichen Mittel“ in keinem Fall ausreichten, um ansonsten „Arbeitslose“ überleben zu lassen, haben wir schon nachgewiesen.2 Carcopino „irrt“ hier nicht, er schreibt förmlich Unfug. Wie er auf nochmals 150 000 Römer kommt, die nur bis zum Mittag arbeiteten, bleibt sein Geheimnis. Dieses Privileg der Oberschicht ist keineswegs auf eine so große Zahl zu beziehen. Nun aber der zweite, in sich stimmige Teil: Was tun mit dem riesigen Freizeitbudget? Carcopinos Antwort sind die „Spiele“: „Die Cäsaren … boten dem Volk … Zerstreuung“, sagt er, und in dieser Formulierung ist nichts dagegen einzuwenden. Die nächste Feststellung aber ist bereits wieder fragwürdig: „Niemals in der Geschichte hat irgendein Volk so viele Feste gefeiert.“3
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Carcopino spielt damit auf die hohe Zahl der Einzelfeiertage und der ludi-Perioden an. Für das Jahr 354 verzeichnet der römische Kalender tatsächlich 176 Festtage mit ludi. Fast die Hälfte des Jahres für Spiele „reserviert“ – das hört sich in der Tat nach Freizeitgesellschaft an, nach Carcopinos Volk, das gewissermaßen in Permanenz feiert. Mit dieser Zahl scheint sich der häufig geäußerte Verdacht vom kollektiven Freizeitpark Rom zu bestätigen.
Freies Wochenende und Spielstätten ohne Zugangsrestriktionen? – Träumereien der Moderne Es lohnt sich indes, genau hinzuschauen, die „magischen“ 176 Spieltage in ihrem römischen Kontext zu belassen und auf ihre Freizeitrelevanz hin abzuklopfen. Zunächst einmal: Diese Spieltage waren keine gesetzlichen Feiertage im heutigen Sinn, mit denen sich eine allgemeine Arbeitsruhe verbunden hätte. Während andere ins Theater oder in die Arena gingen, wurde niemand daran gehindert, seinem Arbeitsalltag nachzugehen und Geld zu verdienen. Bezahlte Feiertage gab es im alten Rom ebenso wenig wie bezahlte Urlaubstage (wenn man von allerdings nur in Ägypten bezeugten Ausbildungsverträgen absieht).4 Und es gab auch kein arbeitsfreies Wochenende. Diese 104 Tage im Jahr, die die meisten Menschen heute als selbstverständliche Arbeitspause empfinden, konnten die Römer nicht auf ihrem Freizeitkonto verbuchen. Die Vorstellung des Wochenendes mit dem christlichen „Tag des Herrn“ existierte im paganen Rom überhaupt nicht. Im klassischen Latein hätte man niemandem ein „schönes Wochenende“ wünschen können. Wenn Arbeitnehmern im Prinzip keine bezahlten Urlaubs- und Feiertage zustanden, heißt das im Umkehrschluss: Wer sich freinahm, um bei den Spielen zuzuschauen, nahm damit eine Lohneinbuße in Kauf. Er verdiente in diesen Stunden nichts – weshalb er es sich gut überlegen und nachrechnen musste, ob er sich das Vergnügen leisten konnte. Der Eintritt zu den Spielen war frei, aber die Folgekosten durch den Arbeitsausfall musste jeder Erwerbstätige selbst tragen.
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Und Erwerbstätigkeit war jedenfalls bei Männern, um das noch einmal zu betonen, der Standard. Von den 176 Spieltagen des Jahres 354 entfiel der Löwenanteil auf ludi scaenici, d. h. Theateraufführungen. Römische Freilufttheater waren schon ausgesprochen groß; sie boten mehreren Tausend Zuschauern Platz. Aber auch der war, was niemanden erstaunen dürfte, endlich. Die drei Theater Roms – Theatrum Balbi, Marcelli und Pompeii – verfügten insgesamt über rund 32 000 Sitzplätze. Wenn an ludiscaenici-Tagen alle drei Theater bespielt wurden (was keineswegs sicher ist), konnten sich dort gerade einmal gut 3 % der Bevölkerung Roms versammeln.
750 000 Menschen im Normalmodus – Eine „ausgestorbene Stadt“? Das Amphitheatrum Flavium, besser bekannt unter seinem Spitznamen Colosseum, war mit 45 000 Sitzplätzen eine gewaltige Freiluftarena, die noch heute in ruinösem Zustand wahrhaft kolossal wirkt und nicht zufällig den Rang der führenden architektonischen Chiffre der Ewigen Stadt einnimmt. Wenn sie gefüllt war, waren allerdings rund 950 000 Römerinnen und Römer nicht im Colosseum. Und selbst wenn Wagenrennen rund eine Viertelmillion Menschen in den Circus Maximus lockten, blieben drei von vier Bewohnern der Stadt draußen. Sicher, wenn sich die Massen am frühen Morgen lärmend auf den Weg machten, um möglichst gute Plätze im Circus zu ergattern,5 dann konnte man den Eindruck gewinnen, die Stadt entleere sich geradezu. Tatsächlich nahm das übliche Gedränge in der City an Circustagen spürbar ab. Es ging ruhiger zu in Rom, aber wenn der Jüngere Plinius von iucundissima quies, „köstlichster Ruhe“, spricht,6 dann ist das schon eine starke Übertreibung. In modernen Darstellungen wird manchmal der Eindruck erweckt, die Hauptstadt sei geradezu ausgestorben gewesen, sobald der berüchtigte furor circensis, „die Raserei des Circus“, tobte.7 Das entspricht natürlich nicht den Tatsachen. Eine Dreiviertelmillion Men-
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schen gingen ihren Geschäften wie jeden Tag nach. Bei der Rechnung haben wir die zahlreichen „Schlachtenbummler“ unberücksichtigt gelassen, die aus dem Umland Roms in die Kapitale drängten, um die Spiele zu sehen – eine ausgesprochen städtische Attraktion, für die viele auch lange Anmarschwege in Kauf nahmen.8 Auch das hatte einen gewissen Einfluss auf die Zahl der Stadtrömer, die in den Stätten der Massenunterhaltung saßen, sowie auf die Zahl derjenigen, die – in Carcopinos Diktion – nicht „mitfeierten“. Eigentlich selbstverständlich, aber eine notwendige Feststellung angesichts der häufig verfehlten Rezeption des panem-et-circenses-„Slogans“: Es war nicht das ganze Volk, das da an den Spieltagen „feierte“. Was taten die anderen? Sie gingen ihrer Arbeit oder sonstigen Beschäftigungen nach. Wenn man unter Römern unbedingt „Feierbiester“ finden will, dann muss man sich schon in der Oberschicht umschauen. Die gesellschaftliche Elite pflegte sich und ihren Reichtum vor allem in Form luxuriöser Gastmähler zu „feiern“. Für die einfachen Leute gilt: Mehr als 15 Besuche von „Spielen“ pro Jahr waren im Durchschnitt allein aus kapazitären Gründen nicht möglich. Bei der Obergrenze sind auch schon die „Spiele“ außer der Reihe berücksichtigt, die nicht im offiziellen Kalender standen, sondern ad hoc zu bestimmten Gelegenheiten – Thronjubiläen, militärischen Triumphen u. Ä. – ausgerichtet wurden. Angesichts des oben erwähnten Verdienstausfalls lässt sich vermuten, dass Ärmere die circenses tendenziell seltener besuchen konnten als wohlhabende Bürger. Es sei denn, dass sie arbeitslos oder unterbeschäftigt waren – dann erlitten sie solche Einbußen ja nicht.
Nur ein plebejisches Vergnügen? – „Auch wir finden Gefallen an den Spielen“, sagt Cicero Der Besuch der ludi gehörte sicher zu den beliebtesten Freizeitvergnügen mittelloser Römer. Sie bekamen dort zum Nulltarif spannende Unterhaltung in prachtvollem Ambiente geboten. Die Massenunterhaltungsstätten waren Orte des Prunks; dort wurde luxuria publica,
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„öffentliche Prunkliebe“, geradezu zelebriert. Die Zuschauer sollten beeindruckt werden – und sie ließen sich beeindrucken. „Der Glanz auf allen Seiten hat mich umgehauen. Ich stand wie gebannt da und bewunderte alles mit offenem Mund“, lässt Calpurnius Siculus einen Arena-Besucher vom Land schwärmen, der „angesichts solch gewaltiger Pracht völlig baff “ ist.9 Allerdings waren die spectacula, „Augenweiden“, der Spiele nicht nur ein Vergnügen für die „niederen Stände“. So wird es jedoch manchmal dargestellt: als „Bespaßung“ von Menschen mit vermeintlich plebejischem Geschmack. Die „feine“ Gesellschaft dagegen habe ihr otium, ihre „Freizeit“, „edleren“ und „gehobenen“ Formen des Müßiggangs gewidmet, wird da behauptet oder zumindest insinuiert. Gewiss, da gab es spezifische Formen elaborierter Freizeitkultur wie das otium litteratum, die „gelehrte Muße“, die Analphabeten nicht zugänglich war, oder Schlemmerpartys mit riesigem kulinarischen Aufwand und z. T. sehr anspruchsvollem Kulturprogramm. Aber das bedeutet nicht, dass die Elite den öffentlichen Spielen abgeneigt gewesen wäre – im Gegenteil: Rittern und Senatoren standen in der Regel eigene privilegierte Zuschauerreihen zur Verfügung, und Cicero bekennt frank und frei, dass auch „wir an den Spielen Gefallen finden und uns von ihnen fesseln lassen“. – „Was willst du dich da“, fragt er weiter, „über die ungebildete Masse wundern?“10 Ein gutes Jahrhundert später ärgert sich Tacitus darüber, dass die „Spiele“ zu den beliebtesten Gesprächsthemen auch bei Schülern und Studenten und ihren Lehrern gehören. Und er diagnostiziert als „eigentümliche und spezifische Laster dieser Stadt, die fast im Mutterleib empfangen wurden, die Vorliebe für Schauspieler sowie die Begeisterung für Gladiatoren und Pferde“.11 Ludi, das lassen nicht nur diese Stimmen erkennen, waren ein nachgerade klassenloses Vergnügen. Sie vornehmlich der Vorliebe der kleinen Leute zuzurechnen, entspringt meist dem Bemühen, „aristokratisches“ otium gleichsam für die Aristokratie zu retten. Mit der Realität des in allen Schichten des Volkes ziemlich gleichartigen Enthusiasmus für ludi hat das nichts zu tun. Und Plinius’ berühmter
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Brief, in dem er sich von der vermeintlich langweiligen Unterhaltung durch „auf so kindliche Art immer wieder rennende Pferde und auf Wagen stehende Männer“ distanziert, ist kein Gegenbeweis, sondern eher ein Zeugnis intellektuellen Hochmuts. Worüber wundert sich der Verächter der „langweiligen“, angeblich „keinerlei“ Abwechslung bietenden Wagenrennen am meisten? Dass sich mit den Wettkämpfen des Circus „so große Gunst auch ernst zu nehmender Männer verbindet“.12 Wie selbstverständlich ein Circus- oder Theaterbesuch auch für Angehörige der Oberschicht und oberen Mittelschicht war, zeigt sich anschaulich an Ovids erotischen Ratschlägen. Vor allem den Circus schildert er als lohnendes Jagdrevier für beziehungshungrige Männer, aber auch die Arena und das Spektakel einer künstlichen Seeschlacht – „die ganze riesige Welt war damals in der Stadt“.13 Und wer alles nimmt im weiten Rund des Theaters Platz? Auch hier stammt eine soziologische Kurzanalyse aus der Feder Ovids: „Heiratsfähige Frauen, Matronen, Männer und Knaben, und auch ein großer Teil des Senats ist dort.“14
Wagenrennen im C ircus Maximus waren bei Zuschauern und Zuschauerinnen aus allen G esellschaftsschichten beliebt.
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Viel Emotion, wenig Randale – Vier Rennparteien wetteifern um die Gunst der Zuschauer In den Schilderungen dessen, was auf den Zuschauerrängen der Massenspektakel „abging“, lassen sich keine großen Unterschiede zwischen den sozialen Schichten erkennen. Arm und reich, hoch und niedrig, Senator oder Sklave: Die Faszination der „Spiele“ erfasste sie alle. Trotz der Leidenschaft, mit der die Zuschauerinnen und Zuschauer das Geschehen verfolgten, kam es selten zu Randaleszenen oder gar zu Exzessen. Im Vergleich mit heute erstaunlich: Am meisten auf Krawall gebürstet waren häufig die Theater-Besucher. Das lag wesentlich an der Primadonnenhaftigkeit und Rivalität der führenden Stars unter den Pantomimen, die regelrechte Fanclubs um sich scharten und die Stimmung ziemlich aggressiv anheizten.15 Im Amphitheater dagegen kam es nur sehr selten zu Ausschreitungen. Der in einem Fresko sowie literarisch überlieferte Aufruhr mit Toten und Verletzten im Amphitheater von Pompeji war ein ungewöhnlicher Streit zwischen Einwohnern von Nachbarstädten16 und keineswegs repräsentativ für eine gewissermaßen militante Stimmung in römischen Arenen. Natürlich gab es in der riesigen Menschenmenge auch Randalierer und „Chaoten“, aber sie prägten weder das Bild noch die Atmosphäre. Als entspannt lässt sich die Atmosphäre vor allem im Circus freilich nicht bezeichnen. Schon wenn die Zuschauer im Morgengrauen zum Circus Maximus strömten, ging es laut, erregt und hitzig zu. Man diskutierte über die bevorstehenden Duelle beim Wagenrennen – und man wettete auf den Ausgang einzelner Umläufe. Die Wetteinsätze waren gering; sie wurden direkt unter den Zuschauern getätigt, denn allem Anschein nach gab es weder Wettbüros noch Buchmacher. Aber weil die meisten Menschen arm waren, ging es auch bei einem Wetteinsatz von wenigen As um viel – und das erhöhte die Anspannung und Spannung gleichermaßen. Vor allem aber war es die erbitterte Konkurrenz der vier Rennparteien (factiones), die die Emotionen befeuerte. Fast alle Zuschauerinnen und Zuschauer waren Fans der Wei-
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ßen, Roten, Blauen oder Grünen, manche von ihnen in der Mentalität und im Verhalten heutigen Fußball-„Verrückten“ vergleichbar. Sie jubelten ihren Idolen zu und trauerten mit ihnen, wenn sie den Sieg verfehlten oder in einen der vielen Unfälle verwickelt waren. Diese naufragia, „Schiffbrüche“, waren, auch wenn es zynisch klingt, das Salz in der Suppe des Rennbetriebs. Kaum eine bildliche Darstellung eines Wagenrennens verzichtet auf eine Crashszene, mochte es in der Realität des Rennbetriebs auch nicht ganz so regelmäßig zu Zusammenstößen, Stürzen von Wagenlenkern oder Massenkarambolagen kommen. Die Gefahr war indes stets präsent – und eben auch die entsprechenden Reaktionen: Schreckensrufe, Verwünschungen und Freudengebrüll. Wenn die zwölf Viergespanne – drei von jeder Farbe – über die Sandbahn rasten, hatte das nichts mit der modernen Vorstellung von Fairplay zu tun. Die einzige „Ethik“, die zählte, war die des Erfolges. Halsbrecherische Manöver, das Abdrängen gegnerischer Gespanne, Ausbremsen, in die Zange nehmen, nach Überholvorgängen die „Tür zumachen“ – all das war gang und gäbe: Ein wahrhaftes spektakuläres spectaculum, bei dem kein Zuschauer ruhig blieb. Man brüllte und feuerte die „eigenen“ Wagenlenker leidenschaftlich an, man schimpfte über die Konkurrenz und wünschte sie mit vergleichbarer Lautstärke in den Orkus. Der Circus Maximus tobte, und noch in großer Entfernung war das Getöse des clamosus circus, „lärmerfüllten Circus“, zu hören.17 Bei einem Reisenden auf einer der großen Ausfallstraßen Roms stellt sich Wehmut ein: „Immer wieder dröhnt der Lärm der Circusspiele an unsere verzückten Ohren …“18 Da die circenses im paganen Kult wurzelten, sollten sich Christen von ihnen fernhalten – auch wenn das nicht wenigen schwerfiel. Entsprechend gerät der Blick von außen: „Die Zuschauer bieten schon selbst ein größeres Schauspiel“, stellt ein christlicher Beobachter befremdet fest.19
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luxuria publica – Verführungspotenzial für die kleinen Leute
Kein Zweifel: Für arme Menschen, die sonst von luxuriösen Unterhaltungsgenüssen ausgeschlossen waren, war es ein überwältigendes Erlebnis, ausgelassen diese dramatischen Spiele im einmaligen Flair des Circus Maximus mitzuerleben – und sich als Teil eines Herrschervolkes fühlen zu können, das sich einen solchen zivilisatorischen Standard leisten konnte. Das betraf auch die üppige Ausstattung des Circus und anderer Stätten der Massenunterhaltung. Die gewaltige Architektur glänzte in Marmor und anderen edlen Materialien, die aus allen Teilen der römischen Welt in die Hauptstadt geschafft worden waren – gewissermaßen zu Ehren jedes Einzelnen, der die Chance hatte, diese grandiose Umgebung auf sich einwirken zu lassen. Die maiestas populi Romani, „Größe und Erhabenheit des römischen Volkes“, von der die führenden Leute immerzu schwärmten – hier wurde sie sinnlich erfahrbar und eben auch für die vielen Illiteraten, die davon nichts in Geschichtswerken lesen konnten und keine Zeit hatten, sich Prunkreden wohlbestallter Rhetoren anzuhören. Der gesamte apparatus der Circusspiele zeigte einem, wo man war und welcher bewundernswerten Gemeinschaft man angehörte. Da konnten sich auch weitgehend rechtlose Sklaven, der Lohnarbeiter und die Verkäuferin, die im Beruf wie im Privatleben häufig genug die Erfahrung machten, anderen ausgeliefert zu sein, als Privilegierte empfinden und in die Wunderwelt der luxuria publica eintauchen. Und außerdem ihren Emotionen freien Lauf lassen – durchaus eine Kompensation für die miseria, das Elend, das ihren Alltag über weite Strecken prägte. Es ist naheliegend, von einer Ventilfunktion zu sprechen: Zuschauer brauchten bei diesen Massenveranstaltungen nicht kontrolliert an sich zu halten; sie konnten sich emotional gehen lassen – bis hin zur Verausgabung – und eine Zeit lang den Druck abschütteln und abbauen, der ihren Alltag sonst bestimmte. Und das in einem Ambiente, das, auch wenn sie es mit vielen anderen teilen mussten, ihrem Selbstwertgefühl schmeichelte und sie für ein paar Stunden dem alltäglichen Stress mitsamt seinen Ohnmachtsgefühlen entriss.
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Der Ohnmächtige als „Herrscher“ – Vermutungen zur „ Arena-Psychologie“ Das trifft auch auf das Geschehen im Amphitheater zu. Dort zerfleischten sich bei den zynisch venationes, „Jagden“, genannten Kämpfen wilde Tiere gegenseitig. Das Besondere daran war, dass sie in höchst aufwendigen (und verlustreichen) Transporten aus den entlegensten Winkeln der römischen Welt und des angrenzenden „Barbaricums“ in die Amphitheater geschafft wurden zu dem einzigen Zweck, dort getötet zu werden:20 „Das Blut unserer Beutetiere soll allein für die Arena aufgespart werden!“, warnt der spätantike Dichter Claudian die Tierfänger davor, ihre Opfer schon bei der Jagd zu verletzen oder gar zu töten.21 Im Colosseum wurden die Zuschauer dann Zeugen einer blutigen „Jagd“, bei der die Tiere teilweise gegeneinandergehetzt, teilweise von bestiarii, „Tierkämpfern“, in dramatischen Kämpfen zur Strecke gebracht wurden: Löwen und Bären, Giraffen und Leoparden, Elefanten und Krokodile, Stiere und Eber und dazu unzählige „zahme“ Tiere. Wer diese Schlächtereien von der 20. oder 30. Reihe aus verfolgte, konnte sich als Teilhaber einer weltumspannenden Macht fühlen, die ihre Überlegenheit über die Natur in Gestalt von Tieren aus noch so exotischen Ländern demonstrierte und als „Spiele“ zelebrierte. Tatsächlich bezeichnete man das, was da weit unten auf dem Sandboden des Colosseums vor sich ging, als ludere, „spielen“:22 „Der Herrscher stellte seinem Volk (dieses Spielmaterial) zum Zerfleischen zur Verfügung“, urteilt ein antiker Historiker.23 Wer diese „Unterhaltung“, dieses „Schauvergnügen“ intensiv verfolgte, konnte sich als eine Art Mit-Herrscher über eine Tierwelt fühlen, die das große Rom sich untertan gemacht hatte. Die Ausübung dieser Macht wurde visualisiert, und das diente nicht nur als – aus heutiger Sicht perverse – Augenweide, sondern auch als Vergegenwärtigung eines zivilisatorischen Standards, der die Herren der Welt mit Stolz erfüllte. Ganz schlicht ausgedrückt: Es lohnte sich, Römer zu sein – auch wenn man im juristischen Sinn vielleicht gar keiner war
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Gladi at or enk ämpf e mi t T hri ll – aber ohn e Zusch au er im „ Blutr ausch“
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und außerhalb der prächtigen Arena zu den vielen armen Teufeln gehörte, die nur mit Müh und Not satt wurden. Zugegeben: Diese Arena-Psychologie ist das Konstrukt einer Ideologie, für die es keine überzeugenden Quellenbelege gibt – einfach deshalb, weil es authentische Stimmen der kleinen Leute nicht in die literarische Überlieferung und damit in eine Verschriftlichung geschafft haben. Aber es spricht schon einiges dafür, dass ein Zuschauertag im Colosseum eine Art psychische Tankstelle für ein Selbstwertgefühl war, das die meisten Habenichtse im Alltag kaum entwickeln konnten – zumal ihnen die Elite den Eindruck vermittelte, nichts wert zu sein.24
Gladiatorenkämpfe mit Thrill – aber ohne Zuschauer im „Blutrausch“ Ein ähnliches Gefühl der „Machtausübung“ durch Zuschauen mag sich bei vielen auch eingestellt haben, wenn sie Gladiatoren bei ihrem blutigen, potenziell mörderischen Handwerk verfolgten. Auch da war die Stimmung aufgewühlt, und man genoss das Schauerlebnis, das sich mit einem besonderen Thrill verband. Aber von einem „Blutrausch“, wie er Arena-Besuchern gern unterstellt wird, war das Publikum weit entfernt. Die wenigen Reaktionen der Zuschauer, die literarisch überliefert sind, lassen kein Mitleid mit den Akteuren – verurteilten Verbrechern und gesellschaftlichen Outlaws, die sich z. T. als Freiwillige verdungen hatten – erkennen, aber auch keinerlei Verlangen danach, dass möglichst viele Tote oder Schwerverletzte auf dem Arena-Boden liegen blieben. Die meisten sahen das aufregende Spektakel als sportlich-spannendes Event an – samt dem, was man heute euphemistisch als Kollateralschäden bezeichnet. Die Menschen verfolgten die Kämpfe laut und leidenschaftlich,25 aber insgesamt war das Arena-Publikum das friedlichste.26 Man wollte tapfere, gut ausgebildete und auf hohem technischen Niveau kämpfende Gladiatoren sehen,27 spannende, fintenreiche Duelle und überraschende, dramatische Wendungen im Kampfgeschehen. Aber
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man war nicht erpicht auf Leichenberge. Gewiss, es war eine grausame, inhumane Show, wie Menschen da um ihr Leben kämpften, doch waren nicht Ströme von Blut und hohe Verlustzahlen die Kriterien für „gelungene“ Spiele. Das zeigt sich vor allem an der „Nachsicht“ des Publikums gegenüber dem unterlegenen, am Boden liegenden Gladiator. Hatte er todesmutig gekämpft und eine gute Show abgeliefert, so sprachen sich die Zuschauer in aller Regel für eine Begnadigung (missio) des Unterlegenen aus. Sie galt auch nicht als Schande; die Fans, die Statistiken ihrer Lieblingsgladiatoren führten und sie per Graffiti öffentlich machten, unterschlugen Begnadigungen keineswegs.28 Von einer „entfesselten“ plebejischen Meute, die ihre niedersten Instinkte im Amphitheater ausgelebt hätte, kann sicher nicht die Rede sein, ohne dass der menschenverachtende Charakter der ArenaKämpfe hier geleugnet oder verharmlost werden soll. Es gab gewiss auch den einen oder anderen kleinen Mann, der sadistisch veranlagt war und an den Brutalitäten und Grausamkeiten der Duelle Gefallen fand. Aber es gehört in den Kontext dieses Buches, dass nicht die Armen, die unterprivilegierten Massen auf eine imaginäre Anklagebank der Geschichte versetzt werden, jedenfalls nicht sie allein. Die ethischen Maßstäbe der römischen Gesellschaft setzte die Aristokratie, und ihre Angehörigen mieden das Colosseum keineswegs. Blickt man auf die Frühzeit der Gladiatorenkämpfe zurück, so waren diese munera genannten Zweikämpfe „Totengaben“ für prominente Verstorbene an deren Grab. So war die Tradition der Gladiatur im Jahr 274 v. Chr. als private Schauveranstaltung von Aristokraten begründet worden.29 Und es waren Angehörige derselben aristokratischen Elite, die sie auch in den nächsten Jahrzehnten und Jahrhunderten im politischen Kampf um die Gunst des Volkes systematisch zum „berühmtesten und beliebtesten Schauspiel“ ausbauten.30
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Komödi en und „ g et an zt e Ge schich t en“
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Komödien und „getanzte Geschichten“ – Schauspiele mit Klamauk und Bildungserlebnissen Auch das Schauspiel zog viele Menschen an – keineswegs nur „bürgerliche“ Schichten mit überdurchschnittlichem Bildungshintergrund, sondern auch viele einfache Römer, die nicht lesen und schreiben konnten. Im Zentrum des Theaterwesens stand die Unterhaltung, aber in gewisser Weise war das Theater auch eine Bildungseinrichtung. Nicholas Horsfall bezeichnet es sogar als „Brennpunkt für die kulturelle Erziehung der Plebs“.31 Selbst die intellektuell bescheidenen, überaus populären mimi, derbe Komödien, deren Erfolgsgeheimnis auf sex-and-crime-Stoffen beruhte, vermittelten mythologische Basiskenntnisse bzw. setzten sie – vor allem bei Mythentravestien („Die ausgepeitschte Diana“; „Die drei verlachten Herculesse“) – voraus. Bei aller Flach- und Plumpheit vieler Mimendialoge sind aber auch manche moralischen Grundsätze und ethischen Mahnungen mit philosophischem Hintergrund nicht zu übersehen. Die einzigen Text fragmente, die die riesige Mimenproduktion hinterlassen hat, sind die immerhin nachdenklichen, ja nach Senecas Aussage sogar „gewichtigen“32 „Sprüche“ des Publilius Syrus aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. „Seine Sentenzen sind in aller Munde“, stellt der Literat Gellius noch im 2. Jahrhundert fest; „sie sind espritvoll und auch im Small Talk sehr beliebt.“33 Und sie verhallten auch im Theater selbst nicht ungehört, sondern ernteten größten Beifall.34 Die Schaulust römischer Augenmenschen wurde im Theater vor allem von den pantomimischen Stücken befriedigt; fabulae salticae, „getanzte Geschichten“, hießen sie auf Lateinisch. Sie waren ganz auf den Hauptdarsteller zugeschnitten, der zur Musikbegleitung oft in mehrere Rollen hintereinander schlüpfte – auch das kein intellektueller, aber ein höchst ästhetischer Leckerbissen. Das Erfolgsgeheimnis des Pantomimus lag in der harmonischen Verbindung von begeisternder schauspielerischer Kunst und üppiger Dekoration mit prächtigen Bühnenbildern, Spezialeffekten und einem riesigen Aufwand, der auch den Theaterbesuchern demonstrierte, dass man sie
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und ihr Unterhaltungsbedürfnis ernst nahm. Der Starrummel, der sich um die Protagonisten entfaltete, war das eine, die künstlerische Leistung der Pantomimen und die ästhetische Ästimierungsleistung des Publikums das andere. Bei allem abstoßenden Showklimbim war das – auch nach dem weitgehenden Verschwinden der klassischen Komödie und Tragödie – große Kunst, was da in den Pantomimenvorstellungen römischer Theater zu sehen war, und vom künstlerischen Anspruch deutlich mehr als das, was viele heutige TV-Shows zu bieten haben. Über die scheinbar anspruchs- und geistlose römische Theater-Plebs die Nase zu rümpfen, ist insofern Ausdruck ziemlich arroganter Bigotterie. Eine weitere Massenunterhaltung stand deutlich im Schatten der bereits erwähnten spectacula. Das war die Schauathletik griechischen Ursprungs. In Nero und Domitian hatten die certamina Graeca, die „griechischen Wettkämpfe“, starke Fürsprecher, und nach dem Bau des Stadium Domitiani im späten 1. Jahrhundert – die heutige Piazza Navona spiegelt noch seine Grundfläche wider – entwickelte sich auch die Hauptstadt zu einem Zentrum der Agonistik, bei der vor allem die Schwerathleten – Ringer, Boxer und Pankratiasten („Allkämpfer“) – größere Fangemeinden hatten. Das erklärt sich wohl auch mit der großen Zahl der aus dem griechischsprachigen Osten eingewanderten Einwohner Roms. Sie fanden an den Wettkämpfen der Athletik traditionell mehr Gefallen als die „Lateiner“ – auch wenn das sportliche Element stark von Showeinlagen und Clownerien überlagert wurde: Die führenden Schwerathleten zeichneten sich durch Großmäuligkeit und uriges Personality-Gehabe aus, wie sie etwa der heutigen Catcherszene nicht fremd sind.
Badeparadies fürs Volk – Roms gewaltige Thermen Von der Massenunterhaltung zum Thermenbesuch. Auch er gehörte zu den beliebten Freizeitaktivitäten der kleinen Leute. Der Eintritt in die riesigen Kaiserthermen der Hauptstadt war frei. Er stand allen
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offen – auch Sklaven, wenn sie dazu das Einverständnis ihrer Herren hatten (was aber bei dem Gros zumindest der Haussklaven fast selbstverständlich war). Entscheidend war, ob sich Arme den Verdienstausfall leisten konnten, der mit einem in der Regel stundenlangen Wellnessaufenthalt in einer der „Badekathedralen“ einherging, und ob der Andrang nicht zu groß war, um jedem Gast Zutritt zu gewähren. Trotz der Kapazität von vielen Tausend Badegästen, die sich dort nach dem Bau der meisten Thermen gleichzeitig aufhalten konnten, dürfte mancher Besucher abgewiesen worden sein: Überfüllung! Nach modernen Schätzungen konnten sich in Roms sieben Thermenpalästen 10 000 bis 20 000 Badegäste zur gleichen Zeit vergnügen. Geht man von einer mehrstündigen Verweildauer aus und legt als Öffnungszeit die Stunden des Tageslichts zugrunde, so kommt man auf insgesamt 20 000 bis 25 000 Thermenbesucher pro Tag,35 d. h. auf 2 bis 3 % der Gesamtbevölkerung. Hier gilt demnach das Gleiche wie für die Massenunterhaltungsstätten: Schon aus kapazitären Gründen war es unmöglich, dass jeder Römer jenen vermeintlich selbstverständlichen mittäglichen Thermenbesuch absolvierte, der in vielen modernen Darstellungen als typisch für den Tagesablauf „des“ Römers beschrieben wird. „Du wirst dir die achte Stunde freihalten können, da baden wir dann zusammen“, schlägt der Dichter Martial einem Freund vor, den er danach zur cena einladen will.36 Und an anderer Stelle empfiehlt er die Mittagszeit, „die achte bis in die neunte Stunde für die vom Salböl glänzende Ringkampfhalle (in den Thermen)“.37 Aber dieser beneidenswerte Tagesablauf, bei dem die Arbeit am Mittag zu Ende ist, orientiert sich an den Gewohnheiten der Elite. Die einfachen Menschen konnten davon nur träumen. Für die meisten endete die Arbeit bei Sonnenuntergang. „Arm in Rom“ hieß eben auch, dass man vom normalen Tagesrhythmus der Oberschicht weit, weit entfernt war. Bisher war stets von „Besuchern“ die Rede. Das ist in Zeiten des Genderns ungewöhnlich. Nutzten Frauen die Thermen nicht? Doch, aber überall da, wo es keine eigenen Frauentrakte gab, nur in sehr eingeschränktem Umfang. Üblicherweise waren Badegäste nackt; das
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machte balnea mixta, „gemeinsames Baden“, in den Augen vieler Frauen zu einer heiklen, moralisch anstößigen Sache. Man musste als Frau schon ziemlich mutig sein, um sich auf die Männerdomäne Thermen einzulassen – auch wenn das Risiko körperlicher Übergriffe gering war und weibliche Thermengäste nicht automatisch ihren guten Ruf aufs Spiel setzten. Zwar gibt es darüber keine Nachrichten, doch man darf vermuten, dass die Hemmschwelle für Frauen aus einfachen Verhältnissen niedriger war als für Matronen aus „gutbürgerlichen“ oder sogar aristokratischen Kreisen.
Keine „Demokratie der Nacktheit“ – aber kultivierte Wellness auch für kleine Leute Waren die Thermen im sonst so standesbewussten Rom eine Art Paradies der Gleichheit? Der Eindruck wird mitunter in modernen Publikationen erweckt. Gewiss, Nacktheit bringt eine gewisse Klassenlosigkeit mit sich; da ist der Senator vom Lastenträger kaum zu unterscheiden. Aber der Senator hat andere Möglichkeiten, seinen Status zu demonstrieren: Er bringt beispielsweise Sklaven als Hilfspersonal mit. Vor allem aber hat er das Privileg, seine Siesta in einer eigenen Thermenanlage zu verbringen, die zu seinem Stadt- oder Landsitz gehört. Sich in den scheinbar klassenlosen Thermenpalästen mit „gemeinen“ Besuchern „gemein“ zu machen, widerstrebte vielen Angehörigen der Elite. Nicht jeder hatte da so wenige Berührungsängste wie der Jüngere Plinius.38 Allerdings kam es beim kleinen Mann gut an, wenn es sich gesellschaftlich deutlich Höhergestellte ab und zu in demselben Warmwasserbecken bequem machten wie er selbst. Und so ließen sich gelegentlich sogar Kaiser in den Thermen der Hauptstadt sehen wie Titus, der manchmal „das einfache Volk zuließ und gemeinsam mit ihm badete“. Sein Biograph notiert das unter der Rubrik comitas, „Leutseligkeit“.39 Von Hadrian ist die Anekdote bekannt, dass er einem mit ihm badenden Veteranen Geld schenkte, damit der sich den Rücken schrub-
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luxuria publica für die kleinen Leute: Ein paar Mal im Jahr konnten auch die Bewohner winziger Mietwohnungen in die G lamourwelt der Kaiserthermen eintauchen. Kupferstich (1 890) von Auguste Alexandre G uillaumot nach einer Zeichnung von Edmond Jean Baptist Paulin.
ben lassen konnte, andere aufmerksam gewordene Soldaten aber beschied, sie sollten sich doch einfach gegenseitig schrubben.40 Solche Histörchen sollten nicht dazu verleiten, den Mythos von der „Demokratie der Nacktheit“ in römischen Thermen zu verfestigen. Aber eines machen sie schon deutlich: dass hier nicht die Wohlsituierten unter sich waren, sondern auch Arme sich ab und zu in den Oasen der Wellness und Lebensfreude tummeln konnten. Auch ihnen wurde das cultus-Programm der Badepaläste geboten, das die Römer der Kaiserzeit als Ausdruck wahrer humanitas, wirklichen „Menschseins“, rühmten. Cultus, „Raffinesse“, und Ausstattungsprunk, edelste Materialien, erlesene Kunstwerke – Originale, keine Repliken! –, weite, hohe Badehallen und nicht zuletzt die technische Perfektion, mit der zwei widerstrebende Elemente – Wasser und Feuer – hier beherrscht wurden: Das alles gehörte überall im Römischen Reich, be-
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sonders ausgeprägt aber in seiner Hauptstadt Rom, zum legendären splendor thermarum.41 Das Reinigungsbedürfnis der Menschen wurde hier zu einem kulturellen Event nobilitiert, der alltägliche Akt der Säuberung zu einem Wellnesserlebnis aufgewertet. Für ein paar Stunden konnte auch der Inhaber einer schäbigen kleinen insula-Wohnung42 in die Glitzer- und Glamourwelt der Thermen eintauchen. Ein kurzes Erlebnis, gewiss, aber eben doch auch ein „Beweis“ für die Teilhabe an luxuria publica und maiestas: In den Riesenbauten und ihrer Ausstattungspracht spiegelte sich die Größe Roms, und auch die Unterprivilegierten durften diesen Luxus nicht nur anschauen, sondern ihn auch selbst nutzen. Natürlich verband sich damit auch die Legitimation von Herrschaft, die man je nach Standort als Partizipation oder als Korrumpierung der großen Masse beurteilen kann. Die „Masse“ selbst hat das, soweit es in den Quellen überhaupt fassbar ist, als beneficium, „Wohltat“, wahrgenommen. Aber selbstverständlich muss man hinzufügen, dass die Deutungshoheit und Normensetzung damals ausschließlich bei der Elite lagen. Ein kritisches Bewusstsein, warum dieser „Glanz“ für breite Volksschichten nur eine außergewöhnliche, ausgesprochen nicht alltägliche Erfahrung blieb, hat sich unter diesen Umständen nicht entwickelt und wohl auch nicht entwickeln können. Die besondere Attraktion der Thermen zeigte sich in ihrem Namen. Thermós heißt auf Griechisch „warm“, und tatsächlich war das ständig nachfließende warme und lauwarme Wasser der entscheidende Wellnessfaktor: Die Menschen genossen es, sich in großen Becken und Wannen darin zu vergnügen. Baden war ihnen wichtiger als schwimmen; die natatio, das „Schwimmbecken“, im Kaltwasserbereich der Thermen, bot nicht allzu vielen Gästen Platz. Wer schwitzen wollte, suchte das sudatorium, die „Sauna“, auf. Für Körperhygiene wie Massage, aber auch Depilierungen standen Servicekräfte zur Verfügung; ambulante Händler verkauften Snacks und Getränke.
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Vor dem Baden nutzten viele die Freiflächen zum Ballspiel, dem Lieblingssport der Römer, die aktivem sportlichen Treiben sonst nicht besonders zugetan waren. Das erklärt sich bei vielen einfachen Menschen auch mit den physischen Anstrengungen ihres Berufs. Muskelkraft wurde in ganz anderem Umfang benötigt als heute, sodass der sportliche Ausgleich insofern weniger gefragt war. Kulturell Interessierte hörten sich Vorträge von Schriftstellern und Philosophen an; sexuelle Dienste wurden – anders als häufig dargestellt – in den Thermen nicht angeboten, was entsprechende Kontaktanbahnungen natürlich nicht ausschloss. Ansonsten genossen es viele Badegäste ganz einfach, ein paar entspannte Stunden in einem luxuriösen Ambiente zu verbringen, dessen imperialer Glanz ihnen auch schmeicheln mochte: Thermen waren Oasen der Lebensfreude und des kulturellen Genusses. Dieser Genuss war für die meisten Besucherinnen und Besucher umso intensiver, als er ihnen allenfalls ein paar Mal im Jahr zur Verfügung stand. Thermenbesuche waren seltene Höhepunkte der Freizeitgestaltung im Leben der kleinen Leute – kein alltägliches oder gar tagtägliches Erlebnis.
Gaststätten, Kneipen, Bars – „Plebejische“ Treffpunkte für entspannte Stunden Sehr viel alltäglicher war es für die arme Bevölkerung, einige freie Stunden in einer Weinschenke oder Kneipe zu verbringen. Die lateinischen Begriffe dafür sind terminologisch nicht klar voneinander abgegrenzt: taberna (vinaria), popina und caupona bezeichnen alle ein Wirtshaus. Thermopolium dagegen, „Warmverkauf “, ein Wort aus dem Griechischen, das immer noch für die vielen Snacklokale und „Bars“ verwendet wird, denen Touristen im ausgegrabenen Pompeji auf den Hauptstraßen fast auf jedem Schritt begegnen, ist ein Begriff, der nur ein paar Mal in den Komödien des Plautus vorkommt. Ob Römer der Kaiserzeit, danach befragt, einem den Weg zum nächsten „Getränkewarmverkauf “ hätten weisen können, ist zu bezweifeln.
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Aber auch Archäologen fällt es offenbar schwer, alte Zöpfe abzuschneiden: Die vor wenigen Jahren in Pompeji neu entdeckte Snackbar mit schönen Malereien wurde der Presse selbstverständlich als thermopolium angepriesen. Wirtshäuser spielten im sozialen Leben der einfachen Leute eine wichtige Rolle. In ihre kleinen Wohnungen konnten sie kaum Besuch einladen. Da lag es nahe, sich am Feierabend in einer caupona auf einen Wein oder auch eine Mahlzeit zu treffen, sich mit Bekannten und Freunden zu unterhalten, zu scherzen, zu singen, zu würfeln oder sich von Sängerinnen und Musikanten unterhalten zu lassen – oder auch einmal mit einer Kellnerin im Separee zu verschwinden. Dabei waren wahrhaftig nicht alle Lokale „Lasterhöhlen“ der Prostitution, auch wenn der Gesetzgeber die Wirtin und ihre Bediensteten unter entsprechenden Generalverdacht stellte.43 Dass die eine oder andere salax taberna, „aufreizende“ (oder sogar „aufgeilende“) „Kneipe“44, sexuelle Freuden versprach, wenn sogar die Wirtin draußen mit Kastagnetten- und Flötenmusik „willige Mädchen“ und neben Bacchus und Ceres auch Amor als Gastgeber anpries,45 ist nicht zu bezweifeln. Das wäre jedoch kein ausreichender Grund gewesen, jedes Wirtshaus als locus inhonestus, „unanständigen Ort“, zu verunglimpfen – so eine weitere gesetzliche „Norm“.46 Der tiefere Grund für diese juristische Verunglimpfung hatte mit der Soziologie der Gaststätten zu tun. Sie waren tatsächlich „plebejische“ Treffpunkte. Arbeiter und Handwerker verkehrten dort, Pferdeknechte und Maultiertreiber47 und, wenn man es negativ zuspitzte, „Matrosen und entlaufene Sklaven, Diebe, Henker und Sargschreiner“.48 Unbehagen über die aus seiner Sicht wenig gesellschaftsfähige Klientel der tabernae spricht aus Senecas Distanzierung: „Ebenso wenig, wie ich unter Henkern wohnen möchte, möchte ich in der Nähe von Kneipen wohnen.“49 Kein Wunder, wenn Kneipen sich in den Augen der Angehörigen der Oberschicht als Kaschemmen darstellten, die man als honoriger Mann nicht aufsuchte. Die anderen Gäste waren nicht das Publikum, mit dem man sich umgeben wollte. Eine Diskriminierung im eigent-
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Imbissstube der Asellina in Pompeji. In den Ö ffnungen des T resens lagerten G etränke und Speisen. Im H intergrund ein Larenaltar mit F resken, 1 . Jh.
Würfelspiel gehörte zu den Lieblingsbeschäftigungen in der F reizeit auch der armen Menschen. In der ersten Szene entbrennt ein Streit: „N icht drei, sondern zwei!“, sagt der eine Spieler. In der rechten Szene schiebt der Wirt die Streithähne hinaus: „G eht nach draußen, wenn ihr streiten wollt!“ Lithographie des 1 9. Jh.s nach einem pompejanischen F resko, 1 . Jh.
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lichen Sinn des Wortes. Eine „Unterscheidung“, die erhebliche Konsequenzen hatte und eine geradezu fatale Eigendynamik im Gefolge hatte: Weil Wirtshäuser ein No-Go für die „besseren“ Stände waren, konnte sich auch keine gehobene Restaurantkultur entwickeln. Die Oberschicht feierte dort, wo sie ihren Gästen zugleich auch weitere Distinktionsmerkmale vor Augen führen konnte: in ihren eleganten Privathäusern. Wer es gewagt hätte, seine Freunde in ein Lokal einzuladen, wäre gesellschaftlich erledigt gewesen. Gerade auf manche jungen Adligen wirkte das plebejische Milieu indes schon ganz faszinierend. Sprösslinge aus „gutem Hause“ tobten sich mitunter in der Welt der Billigtavernen aus. Der prominenteste Jüngling, der inkognito und im Schutz der Dunkelheit durch Kneipen zog und ordentlich für Randale sorgte, war der gerade ernannte Kaiser Nero.50 Anderen „bösen“ Kaisern wurden ähnliche unschickliche Kneipentouren und Rowdyeskapaden nachgesagt bzw. angedichtet. Ob das historisch ist oder Geschichtsschreiber hier ein Klischee bedienten, sei dahingestellt.
„Raus hier!“ – Wenn sich die Gemüter beim Glücksspiel erhitzen Wichtiger in unserem Zusammenhang ist es, dass popino, „Kneipengänger“, schon in republikanischer Zeit als Schimpfwort galt, das man politischen Gegnern in rhetorischen Schlammschlachten gern an den Kopf warf.51 Latitare per popinas, „sich im Dunkel von Kneipen herumdrücken“,52 war ebenso ein Vorwurf unziemlichen Lebenswandels wie der angeprangerte – tatsächliche oder vermeintliche – „Kaschemmenmief “, den Säufer „aus stinkendem Maul ausdünsteten“.53 Da wurden Leute von Stand fertiggemacht, die es gewagt oder genossen hatten, sich gewissermaßen standeswidrig in schlechter Gesellschaft aufgehalten zu haben. „Schlechte Gesellschaft“ – das waren Bauarbeiter und Lastenträger, Fuhrleute und Trödler, Haussklaven und Handwerker. Für sie waren die Wirtshäuser Orte unbeschwerter Geselligkeit, für manch einen auch so etwas wie ein zweites Zuhause.54
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Weibliche Gäste traf man dort allerdings nur in Ausnahmefällen an. Bis auf das Servicepersonal waren es Männerrunden, die dort ihre Freizeit verbrachten. Zu den populärsten Unterhaltungen gehörte – auch und gerade im Wirtshaus – das Würfelspiel (alea). Solange nicht um Geld gespielt wurde, war das für alle Beteiligten in Ordnung. Aber dann fehlte sozusagen das Salz in der Suppe – und darauf wollte kaum jemand verzichten. Also setzte sich alle Welt über das gesetzliche Verbot – das nur an den „tollen Tagen“ der Saturnalien aufgehoben war55 – hinweg und ließ den Würfelbecher munter kreisen. Das war in anderen Schichten der Gesellschaft nicht anders; auch auf den Partys der Reichen war illegales Glücksspiel an der Tagesordnung, und das natürlich mit ganz anderen Einsätzen als bei den Wirtshausbesuchern. Das Glücksspiel machte auch vor dem Kaiserthron nicht halt; einer der berühmtesten Zocker war Augustus, der Begründer der Monarchie.56 Die einschlägigen Kontrollen scheinen dementsprechend lax gewesen zu sein. Dass die Aedilen tatsächlich einmal nach Ablauf der Saturnalien-Lizenz „betrunkene, um Gnade bittende Spieler aus versteckter Kneipe“ herausgeführt haben, ist wohl selten vorgekommen.57 Und wenn sich einfache Leute beim Würfelspiel stritten, wobei sie „mit schrecklichem Laut durch die schnaubenden Nüstern den Atem einzogen und laut brüllten“?58 So lautet eine herablassende Schilderung aus der Feder des spätantiken Historikers und erklärten PlebsFeindes Ammianus Marcellinus. Dann musste der Wirt in ureigenem Interesse zu schlichten versuchen. Denn wer illegales Glücksspiel unter seinem Dach erlaubte, galt als illegaler Glücksspielunternehmer und brauchte sich beim zuständigen Praetor gar nicht erst um Rechtsschutz zu bemühen, wenn Zocker ihm, vom Wein erhitzt, seine Einrichtung zerlegt hatten oder gegen ihn selbst handgreiflich geworden waren: Selbst schuld, konterte das Rechtssystem und verweigerte dem „Profiteur“ des tolerierten Glücksspiels den Rechtsbeistand.59 Das Einzige, was in einer solchen Situation half, war, die Unruhestifter in hohem Bogen aus dem Wirtshaus zu werfen: „Raus hier! Tragt euren
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Streit draußen aus!“, lautet die Beischrift zu einer einschlägigen Wandmalerei in einem pompejanischen Gasthaus.60
Astrologen, Schwertschlucker, Akrobaten – Straßenentertainment zum Nulltarif Während der Wirtshausbesuch etwas kostete, waren die Freizeitvergnügen, die die Straßen boten, weitgehend umsonst – es sei denn, man hatte ein paar Münzen locker, um sich bei Straßenentertainern für ihre Vorführungen zu bedanken. Circulatores nannte man diese Unterhalter, „Leute, die einen Kreis (circulus) um sich bilden“. Auch wenn viele Straßen in der City überfüllt und Fußgängerstaus keine Seltenheit waren, fand sich irgendwo vor einem Tempel, in einer Säulenhalle oder bei einem Laufbrunnen ein Plätzchen, wo sich Zuschauerinnen und Zuschauer um einen Akrobaten, einen Schwertschlucker, einen Taschenspieler, Puppenspieler, Geschichtenerzähler oder Jongleur scharen und seine Kunststücke bewundern konnten. Spaßmacher, Bauchredner, Artisten, die durch Feuerkreise sprangen, sowie Dresseure von Affen und anderen Tieren gehörten ebenfalls zum Straßenbild und verlockten die Passanten dazu, stehen zu bleiben und zuzuschauen; ebenso gelegentlich Seiltänzer oder auch Amateurboxer, deren Prügeleien interessierte Beobachter fanden.61 Im weiteren Sinn zählten auch die Anbieter mantischer Dienstleistungen dazu, die Astrologen, Traumdeuter, Geisterbeschwörer, Handleser und Schicksalsdeuter, die die Zukunft aus Losen oder aus den Eingeweiden von Tieren vorherzusagen versprachen. Alle diese Männer und Frauen fanden gerade auch unter den einfachen Leuten (wenngleich nicht nur dort!) viele Kundinnen und Kunden. In einer Gesellschaft, die mit guten Gründen der Schicksalsgöttin Fortuna mit zahlreichen Tempeln huldigte, war die Suche nach zumindest einigen Gewissheiten nur zu verständlich. Das Leben war viel weniger planbar als heutzutage, Fortunas Einfluss daher umso größer. Die Profis der Mantik geizten auch nicht mit Showelementen, sodass es auch für
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„Nichtgläubige“ unterhaltsam war, ihnen und ihrer Klientel zuzusehen und sich über den fallax circus, den „trügerischen Circus“, zu amüsieren, wo besonders viele Astrologen ihre Dienste anboten. Der Dichter Horaz machte sich jedenfalls auf abendlichen Spaziergängen einen Spaß daraus, dort vorbeizuschauen und die „Szene“ zu beäugen.62 Er war sicher nicht der Einzige, der an solchen Alltags-spectacula Freude fand. Auf solchen Spaziergängen betrieb Horaz auch das, was neuerdings gern als window shopping bezeichnet wird: Er schaute sich die Auslagen der Läden an und erkundigte sich hier und da auch nach Preisen: Was kostet das Mehl, was das Gemüse?63 Was bei ihm purer Neugierde entsprang – er hatte die Mittel, um alles Mögliche zu kaufen, ohne auf den Preis achten zu müssen –, war für andere ein bloßes Schauvergnügen, oft genug aber auch ein bitteres, weil sie im Traum nicht daran denken konnten, die Waren ihres Schaufensterbummels erstehen zu können. Für einen gewissen (fiktiven) Mamurra ist das offensichtlich ein unterhaltsamer Zeitvertreib. Einen Tag lang durchstreift er die Luxusgeschäfte der Saepta, führt Fachgespräche mit Verkäufern, lässt sich dieses und jenes zurücklegen – um dann am Ende des Tages zwei billige Becher für einen As einzukaufen.64 Die vom Spötter Martial geschaffene Kunstfigur des Mamurra dürfte in der Realität manche „Kollegin“ und manchen „Kollegen“ gehabt haben, wenngleich die meisten von ihnen nicht über ein so üppiges Zeitbudget verfügten wie Mamurra und sich nicht so eingehend über die Objekte ihrer Begierde erkundigten. Armen Leuten sah man meist schon an ihrer Kleidung an, dass sie im Shoppingparadies der Saepta fehl am Platz waren – jedenfalls aus Sicht der Händler, die sich auf solche Möchtegernkunden gar nicht erst einließen. Immerhin – Mamurra erstand wenigstens noch ein kleines Souvenir an seinen Schaufensterbummel; ein „Kollege“ namens Eros dagegen, der „am liebsten die ganzen Saepta aufkaufen und mit nach Hause nehmen würde“, reagiert deutlich frustrierter darauf, dass er viel zu knapp bei Kasse ist: Er bricht jedes Mal in Tränen aus, wenn er der schönen Auslagen ansichtig wird.65
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Auch wenn es häufig als „unangenehmes“ Thema verschwiegen oder versteckt wird, muss man doch auch Ausflüge in die Welt des käuflichen Sex zu den Freizeitaktivitäten männlicher Römer zählen. Als Kunden von Prostituierten traten auch arme Bürger einschließlich Freigelassener und Sklaven in Erscheinung. Das wird durch die Allgegenwart der Prostitution und die ausgesprochen billigen „Grundtarife“ nahegelegt.66 „Die Hauptmasse der Besucher der schmuddeligen Stadtbordelle stammte aus den unteren Schichten“, stellt Bettina Stumpp fest.67 Auch wenn die Quellenbasis für die generelle Aussage schmal ist, trifft sie im Ganzen sicher zu.
Fröhliche Ausgelassenheit – Kiezfeste, Frühlingsfeiern und Saturns „feuchte Tage“ Eine ganz andere Art, Freizeit zu verbringen, war die – allerdings nicht ganz freiwillige – Teilnahme an Familienfesten. Geburtstage wurden mit einer Feier und Gaben ebenso begangen wie Hochzeiten und manchmal auch Verlöbnisse. Natürlich fand die Familie auch bei Begräbnissen und den sich anschließenden Riten zusammen. Das neue Jahr wurde mit strenae, einer Art Glückszweige, eingeleitet, die man sich gegenseitig schenkte. In der Kaiserzeit waren das häufig Palmzweige. Auch materielle Geschenke wurden im Familien- und Freundeskreis getauscht. Beliebt waren möglichst alte Münzen und Behältnisse, in denen man sie sammelte, vulgo Spardosen genannt. Wein und Würfelspiel begleiteten das „heidnische“ Fest, wie Augustin später stirnrunzelnd feststellen wird.68 Dem Weingott wurde selbstverständlich auch in den nächsten Tagen anlässlich der Compitalia gehuldigt. Der Termin war flexibel; er lag meist in der Zeit vom 3. bis 5. Januar. Die Compitalia waren ein Nachbarschaftsfest, in dessen Zentrum die Larenaltäre des jeweiligen vicus standen. Im modernen Sprachgebrauch hat sich „Kiez“ als Begriff für ein solches Stadtviertel eingebürgert. Die Compitalia waren ein Fest der kleinen Leute, bei dem auch die Sklaven gern gesehen
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waren. Man hängte Wollbälle und Puppen an die Larenschreine sowie an und vor die Haustüren – Bälle für Unfreie, Puppen für Freie. Damit sollten Gefahren abgewendet werden.69 Ferner schmückte man die Altäre mit Blumen und Girlanden: Die Laren als Schutzgötter des Hauses und des Viertels erhielten Kuchen, Knoblauch und Mohnköpfe dargebracht – die sich die Menschen dann beim Straßenfest gut schmecken ließen.70 Den Opfern folgte ein allgemeiner Schmaus; bei gutem Wetter versammelten sich Hunderte Bewohner des Viertels zu einem zünftigen Kiezfest auf den Straßen. Man machte ausgelassen Musik, tanzte, prostete sich zu und becherte kräftig. Der entsprechende Weinkonsum brachte einen Philologen sogar auf die abstruse Idee, compita von compotare abzuleiten,71 „gemeinsam trinken“. Tatsächlich ist compitum die „Kreuzung“. Weil dort der Larenaltar des Viertels und oft auch ein Wasserbecken standen, scharten sich die Menschen um diesen Platz – und nutzten ihn zu einem ausgelassenen Kiezfest, das manchmal auch mit Schauspielen, Athletenwettbewerben, Boxkämpfen und sogar Gladiatorenshows in kleinerem Rahmen verbunden war. Die Stimmung unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern war prächtig; „die Straßen hallten von Fröhlichkeit, Spielen und Beifall wider“, kommentiert ein Beobachter mit einem Vergil-Zitat.72 Ein weiterer ausgesprochen volkstümlicher Event war das Frühlingsfest der Anna Perenna am 15. März. Da zogen viele einfache Römerinnen und Römer, häufig als Liebespaar, zum zweiten Meilenstein der Via Flaminia. Sie lagerten sich dort im Gras der Tiberauen, manche errichteten Zelte und Laubhütten. Es wurde getanzt und gesungen – u. a. die Hits aus dem Theater. Aber auch manches unanständige Lied erklang aus dem Mund junger Frauen73 – einer von mehreren Belegen dafür, dass dieses Fest auch Frauen ausnahmsweise erlaubte, die bürgerlichen Konventionen ein Stück weit zu verlassen. Dabei spielte die Bacchusgabe eine wesentliche Rolle; zumindest Ovid schildert das Fest der Anna Perenna als fröhliches Besäufnis: „Auf dem Heimweg schwanken sie und sind ein Schauspiel für das Volk, und die Menge, die ihnen begegnet, nennt sie glücklich.“74
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An lascivia, „Ausgelassenheit“ mit Tendenz zur „Unanständigkeit“, wurde das Fest der Anna Perenna noch deutlich übertroffen von einem weiteren Frühlingsfest: Die mehrtägigen Floralia fanden Ende April/Anfang Mai statt und galten ebenfalls als „plebejisches“ Fest: „Die Göttin will, dass ihre Feier dem einfachen Volk zugänglich ist.“75 Tanzen, Flirten und Pokulieren ermöglichten es den Menschen, für ein paar Stunden aus ihrem harten Alltag auszubrechen. Als Höhepunkt des Blütenfestes galt die erzwungene „Entblätterung“ von Prostituierten im Theater – ein öffentlicher Massenstriptease, den „das Volk einforderte“ und kräftig beklatschte.76 Mehrtägige Feste dürften die meisten Menschen nicht „genutzt“ haben, weil sie sich den damit verbundenen Lohnausfall nicht leisten konnten. Eine Ausnahme davon mag manch einer für das bekannteste Fest der Römer gemacht haben: die Saturnalien, die in der frühen Kaiserzeit vom 17. bis zum 23. Dezember begangen wurden. In gewisser Weise waren das Roms „tolle Tage“ mit karnevalesken Zügen. Das Fest erinnerte an die Zeit der Herrschaft Saturns, als noch alle Menschen gleich waren und es keine Sklaven gab. Entsprechende Lockerungen gingen mit den Saturnalien einher: Die Sklaven bekamen „Redefreiheit“,77 allerdings nur auf Zeit, womit der Ventilcharakter des Festes deutlich wird. Gerichte und Schulen blieben an diesen madidi dies, „feuchten Tagen“,78 geschlossen. Man beschenkte einander, tafelte ausgiebig und sprach noch ausgiebiger dem Wein zu. Freilich: Irgendjemand musste die Speisen kochen und servieren, irgendjemand das Triclinium, „Speisezimmer“, von Speise- und noch unappetitlicheren Resten säubern, bevor die nächste „Sause“ anstand. Da war es dann mit der gefeierten „Gleichheit“ schnell wieder zu Ende und mit der Freizeit der Sklaven und der kleinen Leute ebenfalls. Boten die Berufs- und Kultvereine ärmeren Römern die Möglichkeit, ihre Freizeit im Kreise von Bekannten zu verbringen? Vermutlich waren die Beiträge, die man für die Aufnahme in ein collegium und für das regelmäßige, allerdings recht frugale gemeinsame Essen sowie z. T. für Sterbevorsorge zahlte, für mittellose Menschen zu hoch. Es gibt in der Wissenschaft nur wenige Stimmen, die das anders se-
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hen.79 Es war eher eine einigermaßen arrivierte (untere) Mittelschicht, die sich in diesen Verbänden organisierte. Da solche „Clubs“ grundsätzlich unter der kritischen Beobachtung der staatlichen Organe und Geheimdienste standen, mussten sie ihre Aktivitäten zudem auf einige kultische Gelegenheiten und ein einziges gemeinsames Mahl im Monat beschränken.80 Als bemerkenswertes Freizeitphänomen ist die Mitgliedschaft in einem Verein daher nicht einzuschätzen. Abschließend noch eine kurze Erläuterung zu dem lateinischen Begriff in der Überschrift dieses Kapitels. Otiolum ist die Verkleinerungsform von otium, „Muße“, auf Deutsch: „das bisschen Freizeit“. Der Begriff ist nur einmal bei einem Briefpartner Ciceros belegt.81 In unserem Zusammenhang soll damit deutlich werden, dass die einfachen Menschen in Rom keineswegs über das üppige Freizeitbudget verfügten, das ihnen im Rahmen einer verfehlten panem-etcircenses-Rezeption häufig zugesprochen wird. Die meisten armen Leute mussten von morgens bis abends arbeiten;82 ihr „Problem“ war nicht zu viel, sondern eher zu wenig Freizeit – jedenfalls verglichen mit dem otium, das der Oberschicht zur Verfügung stand. Otiolum eben.
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10 puticulus – Entsorgung statt Begräbnis
Den Anwohnern, auch denen in größerer Entfernung, muss es wie eine Erlösung vorgekommen sein, als Maecenas um das Jahr 40 v. Chr. seinen berühmten Park, die horti Maecenatis, am Esquilin-Hügel anlegen ließ und man nach dessen Fertigstellung „auf dem gesunden Esquilin“ wohnen und „auf sonnigem Wall spazieren gehen“ konnte.1 Mit der Schaffung des weitläufigen Parkgeländes verband sich die Sanierung des Areals, das zuvor als Armenfriedhof genutzt worden war. Der war mit seinen offenen Gruben nicht nur ein übler Anblick gewesen, sondern muss auch gewaltig gestunken haben: Tausende menschliche Leichname gingen dort in Verwesung über. Hunde, Geier und andere Tiere machten sich über die verfaulenden Überreste her, allenfalls Diebsgesindel trieb sich dort herum – und natürlich Hexen, „die mit Zaubersprüchen und Zaubermitteln die Seelen der Menschen stören“. Kurzum: „ein grauenvolles Feld mit bleichen Gebeinen“.2 Trotz einiger Gegenargumente spricht einiges dafür, dass diese Gräbergruben mit den von Varro ebenfalls nahe dem Esquilin angesiedelten puticuli identisch sind, „kleinen Brunnen“ oder „Brunnenlöchern“, in die Leichen abgelegt wurden. Puticulus sei die Verkleinerungsform zu puteus, „Brunnen“, erläutert Varro etymologisch korrekt, gibt aber auch eine andere Deutung wieder, der zufolge der Begriff von putrescere abgeleitet sei, „zu faulen beginnen“.3 Dass man
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überhaupt auf diese sprachwissenschaftlich abwegige Erklärung kommen konnte, weist deutlich auf den Gestank hin, der von den Leichengruben ausging. Ob die puticuli eine letzte „Ruhestätte“ armer Menschen waren, zu der sie von ihren nächsten Angehörigen begleitet wurden, oder eher eine „Deponie“ für herrenlose Leichname, ist unklar. Über Rituale, die sich mit der Bestattung mittelloser Römerinnen und Römer verbanden, sind keine Nachrichten überliefert; die Umstände ihrer Beisetzung oder Verbrennung sind für uns ebenso unbekannt wie ihre Namen. Das erstaunt auf den ersten Blick, ist doch das Bestattungswesen ansonsten eine wichtige Quelle für unser Wissen über die römische Zivilisation. Zehntausende Grabinschriften sind erhalten und verraten uns trotz aller Formelhaftigkeit vieles über Einzelpersonen, die römische Gesellschaft und ihre Mentalität. Römer waren auf eine möglichst sichtbare Fortexistenz über den Tod hinaus geradezu fixiert: Die vielen z. T. höchst aufwendigen Grabbauten überall im Römischen Reich zeigen das ebenso anschaulich wie schlichte Namenstafeln vor Urnennischen in den Katakomben. Die Familien der Oberschicht feierten ihre Verstorbenen und sich selbst in spektakulären Inszenierungen, die man mit Fug als Bestattungsshows bezeichnen darf: Was könnte für den heranwachsenden Spross einer Adelsfamilie „ein schöneres Schauspiel (kállion théama) sein als dieses?“, fragt der griechische Historiker Polybios tief beeindruckt.4 Und ein neureicher Ex-Sklave, der die Werte der Aristokratie verinnerlicht hat und zur Überkompensation neigt, kümmert sich besonders intensiv um die Gestaltung seiner Grabstätte als des „Hauses, wo wir länger wohnen müssen“ – einschließlich eines Wächters, „damit die Leute nicht zum Kacken an mein Grabmal laufen“.5 Zahllose Tote sprechen die Passanten per Grabinschrift an, bitten sie, einen Moment innezuhalten und ihrer zu gedenken: „Wanderer, wer du auch sein magst, lenke deinen Blick kurz hierhin und lies, welchen Namen die Inschrift trägt!“6 Das Fortleben des Namens als Beweis der einstigen Existenz und als Garant für das Nachleben – das war in der römischen Memorialkultur ein zentrales Anliegen. Dafür setzte man in der aristokratischen
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und „gutbürgerlichen“ Welt einen erheblichen Teil der finanziellen Mittel ein, über die man verfügte, und deshalb gedieh an den viel frequentierten Ausfallstraßen der Städte eine ähnliche Immobilienspekulation wie in der City: Die Plätze für die Grabbauten in der ersten Reihe, ganz dicht bei den viatores, „Wanderern“, und anderen Straßenbenutzern, waren besonders begehrt und kosteten besonders viel Geld. Die zweite „Reihe“ war etwas preiswerter, die nächsten „Reihen“ erschwinglicher. „Reihe“ ist dabei ein missverständlicher Begriff, weil er schnell mit heutigen Friedhöfen assoziiert wird. Solche zentralen und zentral verwalteten Friedhöfe kannten die Römer nicht; Tote durften überall auf privatem Grund und Boden bestattet werden – nur nicht innerhalb der Stadtmauern und an religiös geschützten Orten. Entscheidend war der Grundbesitz; er schloss die Verfügungsberechtigung für diese Nutzung ein. Mit dem Anwachsen der Bevölkerung Roms wurden die Grabplätze in der Nähe der Stadt knapper und teurer. Das führte zur Entstehung der Katakomben, wo Grabnischen für viele Tausend Verstorbene in mehreren Stockwerken unter der Erde angelegt werden konnten – nicht nur, aber auch für Menschen mit kleinem Geldbeutel. Katakomben waren anders, als oft angenommen wird, keine spezifisch christlichen Erfindungen. Wer über ein individuelles Grab verfügte, konnte einigermaßen sicher sein, dass man sich seiner auch bei Gedenkanlässen und Erinnerungsfeiern noch Jahre nach seiner Bestattung erinnerte. Für Menschen mit geringem Einkommen gab es in Rom zwei Möglichkeiten, eine entsprechende Vorsorge zu treffen: Manche Berufs- und Kult-collegia boten eine Sterbekasse, in die man Beiträge (funeratica) für einen ordentlichen Grabplatz, ein angemessenes Begräbnis und die Anteilnahme der Vereinsmitglieder einzahlte.7 Wer sich allerdings nur mühsam an der Existenzschwelle über Wasser hielt, hatte für diese und andere Vereinsbeiträge kein Geld übrig. Nur wenige Arme fanden überhaupt in den collegia ein soziales Zuhause. Die zweite Chance bot die Zugehörigkeit zur familia, „Hausgemeinschaft“, einer wohlhabenden oder sogar aristokratischen gens.
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Auch Sklaven und Freigelassene wurden häufig in die Familiengräber mit aufgenommen. Eine besondere, allerdings weitgehend auf die augusteische Zeit beschränkte Variante waren die columbaria („Taubenschläge“). Das waren große Grabbauten mit zahlreichen Nischen für Ascheurnen, in denen die Überreste Hunderter Angehöriger einer familia beigesetzt wurden. Sie waren mit kleinen Namenstafeln verschlossen. Man muss sich dieses Bemühen um eine postmortale Fortexistenz des Namens in der römischen Gesellschaft klarmachen, um ermessen zu können, wie stark die Namenlosen hier abgehängt waren. Wer anonym – und das heißt: „namenlos“ – bestattet oder gar verscharrt wurde, war auch im Tod das, was ihm im Leben oft genug gespiegelt wurde: ein Nobody, eine jedenfalls gesellschaftlich flüchtige Existenz, deren Dasein nicht wirklich zählte und deren körperliche Hülle im Tod vor allem ein Problem der Entsorgung darstellte. 8 Dieses Problem hatte sich mit der Umwandlung des Armenfriedhofs auf dem Esquilin in eine schicke Parkanlage nicht gelöst. Wohin mit den vielen Leichnamen der „Namenlosen“? Es scheint, dass die Tradition der puticuli durch ein öffentliches Areal im Umland Roms namens culinae fortgeführt wurde – „eine Örtlichkeit für die Bestattung der Mittellosen“.9 Bestattet wurden vermutlich hauptsächlich die Asche und die aufgrund niedriger Temperaturen verbliebenen Überreste, die bei der Massenverbrennung in öffentlichen Krematorien anfielen. Diese Krematorien sind zwar „nur erschlossen und nicht exakt nachweisbar“.10 Es liegt aber nahe, dass die in großer Zahl anfallenden Leichname derer, die sich kein Grab leisten konnten oder gänzlich „herrenlos“ waren, auf diese Weise entsorgt wurden. Pietätvoll ging es dabei nicht zu; das Ziel sei, so Stefan Schrumpf, eine „reine Reduzierung von menschlichen und tierischen Kadavern zu Asche“ gewesen. Diese Toten seien auf ein „logistisches Problem“ reduziert worden.11 Ob es dabei eine irgendwie geartete „Begleitung“ durch nahe Verwandte oder Bekannte gegeben hat, wissen wir nicht, wohl aber, dass das „wilde“ Entsorgen von Leichnamen auf privatem oder öffentli-
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chem Grund kein geringes Problem war. Inschriften auf zwei in der Nähe der Porta Esquilina gefundenen Grenzsteinen warnen vor einem „Verbrennen von Leichen diesseits dieses Grenzsteins in Richtung Stadt“ und vor einem Ablegen von „Unrat und Leichnamen“: „Schaff diesen Mist (stercus) weit weg von hier, wenn du keinen Stress kriegen willst!“12 Bedenkt man, dass in der Nekropole von Isola Santa bei Ostia Amphoren mit Leichenbrand zwischen „regulären“ Gräbern gefunden worden sind, so muss man wohl damit rechnen, dass Leichname oder Leichenbrand aus finanziellen Gründen nicht selten ohne Erlaubnis der Grundstückseigentümer „entsorgt“ worden sind – „Wildbestattungen“ gleichsam. Legal war das natürlich nicht; in Puteoli wurde bei Zuwiderhandlung eine Geldbuße von 60 Sesterzen fällig.13 Die Bestimmung an sich lässt darauf schließen, dass dieses Vergehen kein Ausnahmetatbestand war. Noch gravierender war das Liegenlassen oder sogar das bewusste Ablegen von Leichen auf den Straßen Roms. John Bodel rechnet mit rund 30 000 Toten pro Jahr zur Zeit des Augustus. Davon seien rund 1500 herrenlos gewesen, schätzt er.14 Gewiss, das sind spekulative Zahlen, aber die Größenordnung dürfte – auch im Vergleich mit anderen Städten der Vormoderne – zutreffend sein. Dass dem Tod geweihte Bettler Angst hatten, es werde sich niemand um sie kümmern, sodass Hunde und Vögel über ihren Leichnam herfallen würden, ist ebenso belegt15 wie das Herumschleppen von irgendwo im Zentrum Roms im wahrsten Sinne aufgeschnappten Leichenteilen durch Hunde.16 Die Forschung ist sich jedenfalls einig, dass die Hauptstadt hier ein „Entsorgungsproblem“ hatte. Wer kümmerte sich darum? Eine klare Antwort darauf gibt es nicht. Denkbar wäre, dass es in Rom eine ähnliche Praxis wie im süditalischen Puteoli gegeben hat: Dort musste der konzessionierte Bestattungsunternehmer im Rahmen seines Monopols für die Beseitigung von Exekutierten, Selbstmördern und herrenlosen Leichnamen sorgen.17 Dass nicht nur tote Obdachlose dieses Schicksal ereilte, sondern auch die Leichen armer Menschen im Schutz der Nacht auf eine Straße oder einen Platz gelegt wurden, lässt eine Bemerkung Martials vermuten.18
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Dem Elend der Lebenden entsprach das Elend der Toten. Den „Namenlosen“ wurden Ehrerbietung und Respekt, die das aristokratische und bürgerliche Rom seinen Toten in hohem, ja höchstem Maß zollte, nicht zuteil. Mors laborum ac miseriarum quies est, sagt Cicero, „der Tod ist Ruhe von Mühsal und Elend“.19 Wohl wahr. Aber diesen Elenden blieb auch der so typische römische Hoffnungshorizont der memoria, eines namhaften Weiterlebens, verschlossen. Ihr Los war – ganz ohne den Theaterdonner angeordneter damnatio memoriae – Namenlosigkeit.
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11 meretrix – Zwangs- und Elendsprostitution armer armer F rauen
Als der alte Cato einmal einen Jüngling aus einem Bordell kommen sah, lobte er ihn ausdrücklich. Diese Form der „Triebabfuhr“ sei unanstößig: „Es ist in Ordnung, dass junge Männer hier absteigen und nicht fremde Ehefrauen durchwalken.“1 Als er den Bordellgänger allerdings des Öfteren bei seinen Besuchen erwischte, wurde eine Zurechtweisung fällig: „Ich habe dich dafür gelobt, dass du gelegentlich hierhin kommst, aber nicht dafür, dass du hier wohnst!“2 Die Pointe passte natürlich gut zu Catos Image als strengem Verfechter des mos maiorum, der „Sitte der Vorfahren“, in dem das Maß (modus) eine zentrale Rolle spielte. Aber die Anekdote gibt mehr preis, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Und sie ist bei genauerer Betrachtung auch weniger witzig, als die Oberfläche vermuten lässt. Zum einen wird deutlich, dass Prostitution im alten Rom gesellschaftlich akzeptiert war – auch schon zu Lebzeiten des Älteren Cato (234– 149 v. Chr.) und auch bei Vertretern sonst eher rigider Moralvorstellungen. Dieser Befund wird von Cicero bestätigt. Sicher, räumt er ein, sei es höchst sittenstreng, jungen Männern den Umgang mit Dirnen zu untersagen. „Aber wer so argumentiert“, fährt er fort, „entfernt sich nicht nur von der Großzügigkeit unserer eigenen Zeit, sondern auch von dem, was bei unseren Vorfahren üblich und gestattet war. Denn wann wurde das nicht intensiv praktiziert, wann wurde es ge-
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tadelt, wann nicht gestattet, wann schließlich war es nicht erlaubt, was jetzt erlaubt ist?“3 Damit hat Cicero recht, und das gilt für die gesamte römische Antike. Es gab keine rechtlichen Bestimmungen, die für Römer den Umgang mit Prostituierten unter Strafe gestellt hätten. Prostitution war moralisch geächtet, aber sie war als solche niemals illegal. Allenfalls waren einzelne Gruppen von der Erlaubnis zur Prostitution ausgenommen: Im Jahr 19 beschloss der Senat, dass Frauen aus einer Ritterfamilie, wie es dann juristisch korrekt hieß, „mit ihrem Körper keinen Erwerb ausüben dürften“.4 Dieses Verbot traf sicher auch auf Frauen zu, deren Mann, Vater oder Großvater einen senatorischen Rang innehatten.5
Außenseiterinnen innerhalb der Gesellschaft – Omnipräsenz der Prostitution Warum Rom gegenüber einem „unmoralischen“ Gewerbe so liberal und legislatorisch nachsichtig war, erhellt ebenfalls aus der Anekdote. Es ging darum, ehrbare Mädchen und Frauen vor dem männlichen Sexualtrieb zu schützen. Indem der sich bei Huren gewissermaßen austobte, fielen ihm die schützenswerten Frauen nicht zum Opfer. Und gleichzeitig wurde eine sehr deutliche Grenze zwischen meretrices, „Prostituierten“, und matronae, „ehrbaren Ehefrauen“, gezogen: Was der Dirne an pudicitia, „Schamgefühl“, fehlte, gehörte auf der anderen Seite zur Verhaltensweise, ja zur Definition der Matrone: „Böse“ und „gut“ verliefen auf unterschiedlichen Seiten der Grenze, jedenfalls in moralischer Hinsicht. Die meretrix war eine „öffentliche“, die matrona eine „private“ Frau. Eine wichtige Funktion der Prostitution bestand damit darin, ehrbaren Ehefrauen vor allem der Oberschicht zu zeigen, wie sie sich nicht verhalten sollten – die Hure als lebendige Warntafel, wenn man so will, vor moralischer „Verwahrlosung“. Meretrices waren sozusagen Außenseiterinnen innerhalb der Gesellschaft,6 moralisch, aber nicht physisch marginalisiert im ursprüng-
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lichen Sinn, d. h. nicht an den Rand gedrängt, sondern ständig vor aller Augen. Dass sie sich vor allem in dunklen Nebenstraßen herumgetrieben hätten und die cellae meretriciae, Einliegerwohnungen für die Ausübung der Prostitution, möglichst vor den Blicken der Frauen und Kinder geschützt angelegt gewesen wären, wie man es von Pompeji einige Zeit geglaubt hat, ist mittlerweile als urbanistische Fehlinterpretation erkannt worden. So verschämt waren die Römer keineswegs, dass sie das „anrüchige“ Gewerbe an den Stadtrand oder in, anachronistisch gesprochen, Rotlichtviertel verbannt oder „Sperrbezirke“ eingerichtet hätten.7 Ebenso wenig, wie Rom in ausgesprochene Armen- und Reichenviertel unterteilt war, gab es dort eine Unterscheidung in „bürgerliche“ und tendenziell „unanständige“ Stadtteile – und schon gar keine NoGo-Areas. In vielen modernen Darstellungen wird die nordöstlich des Forum Romanum gelegene Subura als eine Art sündige Meile dargestellt und gelegentlich sogar dämonisiert. Richtig ist, dass dort eine Reihe von Bordellen und cellae meretriciae bezeugt ist.8 Man muss diese Häufung aber in Beziehung setzen zu der dichten Besiedlung dieses Viertels und der entsprechend großen Nachfrage. Nur in diesem Sinn lässt sich vielleicht von einem „Hotspot“ des römischen Nachtlebens sprechen, aber Vergleiche wie das „St. Pauli des antiken Roms“ sind sicher fehl am Platz. Die „Dichte“ der „Mädchen mit nicht allzu gutem Ruf “9 dürfte in der Subura in relativen Zahlen nicht signifikant größer gewesen sein als in anderen Vierteln. Tatsächlich waren Prostituierte im Stadtgebiet Roms omnipräsent. Viele beschränkten sich nicht darauf, in ihren Kammern und Bordellen auf „Freier“ zu warten – wobei sie durchaus auch leicht bekleidet vor den entsprechenden Etablissements saßen –, sondern sie nutzten auch Straßen und Plätze zur Kontaktanbahnung, darüber hinaus Säulenhallen10 und die Orte der Massenunterhaltung wie Circusse, Theater, Amphitheater und Thermen.11 Nicht wenige gingen in Gewölben und unter den Bögen (fornices) monumentaler Großbauten ihrem Gewerbe nach und wurden deshalb als fornicatrices bezeichnet, „Gewölbehuren“.12 Zum „Straßenstrich“ zählten aber auch belebte Vor-
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plätze von Tempeln. Am Heiligtum der Venus Erycina hielten sich wohl nicht nur am „Geburtstag“ der Göttin volgares puellae auf.13 Auch im Umfeld von Isis-Tempeln suchten Prostituierte nach Kunden.14 Und mit satirischer Übertreibung versteigt sich Juvenal zu der rhetorischen Frage, „vor welchem Tempel sich denn keine Frau prostituiere“.15 Auch das ehrwürdige Forum Romanum diente als „Kontakthof “ – einschließlich der Sacra via, der „Heiligen Straße“, auf der leichte Mädchen gern zum Kundenfang flanierten16 – und erst recht der im Südwesten angrenzende Vicus Tuscus, der wegen seiner turba impia, „unkeuschen Schar“, ziemlich verrufen war. Horaz meint damit hauptsächlich die Zuhälter (lenones), die dort unbarmherzig gegenüber ihren „Mädels“ ihr Geschäft betrieben.17 Schon im 3. Jahrhundert v. Chr. verortet Plautus dort Menschen, „die sich selbst verkaufen“.18
„Aufgeilende Kaschemmen“, Bordelle und „Gräberdirnen“ – Zur Topographie der stadtrömischen Prostitution Dass es direkt auf dem Forum Romanum auch die eine oder andere salax taberna, „aufgeilende Kaschemme mit Sexbetrieb“, gab,19 ist eher unwahrscheinlich. Dazu war die Lage zu teuer; es waren vor allem Luxusgeschäfte, die die obere Sacra via säumten. Aber in den nahen Seitenstraßen lagen wie überall in der City Roms zahlreiche Gaststätten, Fast-Food-Lokale, Weinstuben und andere gastronomische Betriebe. Sie alle standen – ebenso wie Gasthöfe und Hotels – unter dem Generalverdacht, der Prostitution Vorschub zu leisten. Viele Etablissements verfügten tatsächlich über chambres séparées, in die Kellnerinnen auf die Schnelle mit einem Gast verschwanden, aber es gab durchaus auch Lokale, denen zu Unrecht unterstellt wurde, dass sie auch käuflichen Sex im Angebot hatten. Vor dem Gesetz half ihnen das aber nicht; da galten alle Gastronomiebetriebe als loci inhonesti, „unschickliche Orte“. Und wer dort als Bedienung, Wirt oder Wirtin tätig war, wurde als infamis, „ehrlos“, eingestuft und hatte dadurch in rechtlicher Hinsicht manche Nachteile.20
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Für Angehörige der Oberschicht war es nicht ratsam, sich in diesem Milieu blicken zu lassen – erst recht nicht, wenn sie politisch Karriere machen wollten und deshalb auf ihren guten Ruf bedacht waren. Eine gehobene Gastronomie und Hotellerie konnte sich daher in Rom nicht entwickeln; die „bessere“ Gesellschaft lud sich stattdessen gegenseitig zu Partys in ihre Privathäuser ein. Und wer auf Reisen war, sah zu, dass er möglichst bei einem Gastfreund seines Standes unterkam. Entsprechende Netzwerke wurden umsichtig aufgebaut und sorgfältig gepflegt. Regelrechte Bordelle, die ausschließlich auf Sexbetrieb eingestellt waren, gab es selbstverständlich auch. Sie wurden abschätzig als lupanar, lustrum oder fornix bezeichnet, „Wolfshöhle“, „Morast“ oder „Suhlstelle“ und „Gewölbe“. Manche hatten Kundschaft aus allen Schichten der Bevölkerung, auch von Angehörigen der Elite,21 und es lauerten überall in der Stadt „Verbindungsleute“, die den Kontakt zu Prostituierten herstellten oder Interessenten zu einem Bordell oder einer cella meretricia führten.22 Als unterste Stufe der Prostitution galt wohl die Sexarbeit im Umfeld der außerhalb des Stadtzentrums gelegenen Gräber; Martial spricht in diesem Kontext von spurcae lupae, „dreckigen Huren“, bzw. bustuariae moechae, „Gräberdirnen“.23 Besonders pietätvoll mochte es nicht sein, dort „anzuschaffen“, aber die dort stehenden, oft großen Grabbauten boten immerhin einen guten Schutz vor neugierigen Blicken. Das Fazit unseres „Rundgangs“ ist offensichtlich: Prostitution war in Rom – ebenso wie in anderen römischen Städten – ein Alltagsphänomen, das weder versteckt noch verdrängt wurde. Es war im gesamten Stadtgebiet präsent, und es gab ein sehr großes Angebot, wobei ein Teil der lebhaften „Szene“ von sich aus auch aktiv dazu beitrug, die Nachfrage anzukurbeln.
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„Herrenrecht“ über den Körper – Sklavinnen als Zwangsprostituierte Ein großer Teil der Prostituierten waren Sklavinnen – vielleicht sogar der größere, ohne dass es dafür belastbare Quellenzeugnisse gibt. In moderner Terminologie war das mithin Zwangsprostitution. Unfreie Frauen hatten keine Chance, sich vor dieser sexuellen Ausbeutung zu schützen. Sie waren Eigentum ihres Herrn bzw. ihrer Herrin und konnten als solches beruflich nach deren Gutdünken eingesetzt werden. Die einzige Verpflichtung der Eigentümer bestand wie bei allen anderen Unfreien darin, Grundbedürfnisse ihrer Unfreien zu erfüllen, d. h., sie zu ernähren, zu kleiden und unterzubringen. Die Unterbringung erfolgte vielfach in Bordellen, die die Frauen nur selten verlassen durften.24 Allerdings fließen die Quellen auch in dieser Hinsicht spärlich; es gibt auch Hinweise auf eine größere Freizügigkeit, die allerdings möglicherweise nur freien Dirnen gewährt wurde.25 Die sexuelle Verfügbarkeit weiblicher und männlicher Unfreier für ihre Eigentümer war eine Selbstverständlichkeit des Herren„Rechts“, aus heutiger Sicht sicher eine der hässlichsten Fratzen der antiken Sklaverei. Aus diesem „Recht“ leitete sich auch die Überlassung von Sklavinnen und Sklaven an andere Personen – mit oder ohne Bezahlung – ab. Den „Liebeslohn“ strich der Eigentümer ein. Als Motivationsanreiz erhielt die eine oder andere Frau vielleicht ein kleines Taschengeld für ihr peculium (persönliche Sparrücklage von Unfreien), aber das ist spekulativ. Der humorvolle Plot in manchen Komödien des Plautus und des Terenz – ein junger Mann aus wohlhabendem Haus verliebt sich in ein Bordellmädchen, und der verhasste leno, „Bordellwirt“, zieht am Ende den Kürzeren – darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch dort regelmäßig um Zwangsprostitution geht. Der deus ex machina, der das arme Mädchen und den verliebten Jüngling am Ende zusammenführt, ist ein juristischer Grundsatz: Wenn die Sklavin nachweisen kann, dass sie von freier Geburt ist, muss der leno sie aus seinen Fängen bedingungslos in die Freiheit entlassen. Dieser Nachweis war freilich in der Antike aufgrund fehlender Geburtsregister und anderer
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bürokratischer Defizite nur sehr schwer zu führen. Man brauchte schon Zeugen, die die freie Abstammung glaubwürdig darlegten. Nicht selten waren Zwangsprostituierte Findelkinder, die jemand aus Mitleid aufgenommen hatte. Der „Ersatzvater“ durfte das ausgesetzte Kind – gewissermaßen als Belohnung für seine „Investition“ in dessen Aufzucht – versklaven; aber eben nur so lange, bis sich dessen Geburt als freier Mensch nachweisen ließ. In der Lebenswirklichkeit kam es sehr viel seltener als in der Komödie vor, dass Zwangsprostituierte auf diese Weise von ihrem Leid erlöst wurden. Daneben gab es eine privatrechtliche Regelung, die der Zwangsprostitution einer Sklavin einen Riegel vorschieben konnte: Wenn der Herr bei ihrem Verkauf die Klausel in den Vertrag aufnahm, ne prostituatur, „sie dürfe nicht zur Prostitution veranlasst werden“. Es gibt eine ganze Reihe erhaltener Kaufverträge vor allem aus dem 2. und 3. Jahrhundert, in die diese Bedingung aufgenommen worden ist. Im Fall der Zuwiderhandlung hatte die Sklavin ein Recht auf Freilassung; sie wurde dann zur Freigelassenen ihres ersten Eigentümers.26 Juristisch war das eine starke Position; in der Praxis dürfte es allerdings schwierig für eine Betroffene gewesen sein, ihr Recht durchzusetzen. Die gleiche Einschränkung trifft auf ein weiteres Verbot zu, das Kaiser Hadrian erließ. Er untersagte es, eine Sklavin an einen Bordellbetreiber und einen Sklaven an den Besitzer einer Gladiatorenschule zu verkaufen, „wenn es dafür keinen hinreichenden Grund gibt“.27 Mit anderen Worten: Unfreie durften zur Prostitution und Gladiatur nur zu Strafzwecken gezwungen werden. Mehr als ein moralischer Appell dürfte diese Bestimmung nicht gewesen sein – ein typischer „Gummiparagraph“, der es weitgehend im Gutdünken der Sklavenbesitzer ließ, wie sie einen „hinreichenden Grund“ und „eine verdiente Strafe“ interpretierten. Als humanitären Fortschritt muss man die vom Kaiser errichteten Hürden anerkennen, aber mit einem echten Verbot der Zwangsprostitution hatten sie nichts zu tun. Das betraf auch andere Fälle der Zwangsprostitution, wenn Väter ihre Töchter gegen Honorar „vermieteten“, was aufgrund der starken patria potestas, „väterlichen Gewalt“, im Prinzip straflos blieb,28 oder
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„Ansch aff en“ , um nich t zu verhung ern
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Ehemänner sich als Zuhälter ihrer Frauen betätigten. Diese Form der sexuellen Ausbeutung wurde allerdings seit augusteischer Zeit strafrechtlich verfolgt.29 Wie alltäglich indes dieser Missbrauch familiär bedingter Abhängigkeiten war, lässt sich auch nicht annähernd quantifizieren.
„Anschaffen“, um nicht zu verhungern – Sexuelle Ausbeutung aus Not Ähnlich sieht es bei etwas anders gelagerten Fällen der „Anstiftung“ zur Prostitution aus: Alleinerziehende Mütter, die aus dem Milieu kamen und als Freigelassene auf eigene Rechnung weiter als Dirnen arbeiteten – weil sie nichts anderes gelernt hatten und der Arbeitsmarkt ihnen wenig Alternativen bot –, brachten ihre Töchter wohl nicht selten dazu, den gleichen Beruf zu ergreifen. Diese Entscheidung war aber eher von Not und Armut diktiert als von Profitinteresse oder gar Habgier. Nicht untypisch scheint die in einer Plautus-Komödie geschilderte Situation zu sein: Zwei Prostituierte, ehemalige Sklavinnen, haben ihre Töchter erzogen; „eure Väter kennt man nicht“. Und warum haben sie sie zu Dirnen ausgebildet? „Nicht aus Härte, sondern um nicht hungern zu müssen.“30 Mit ähnlichen Worten redet eine Mutter ihrer Tochter ins Gewissen, die einen zahlungsschwachen jungen Mann einem spendablen Kunden vorzieht. Wenn die junge Frau ihre Präferenzen nicht ändere, „werden wir Hungers sterben“, so die Warnung einer Zuhälterin, deren Überleben – tatsächlich oder vermeintlich – vom Dirnenlohn ihrer Tochter abhängt.31 Vergleichbar ist eine Szene aus den „Hetärengesprächen“ Lukians. Krobyle weist ihre Tochter Korinna in ein vermeintlich (materiell) sorgenfreies Hetärenleben ein. Auch hier ist Not der Auslöser für diese von der Mutter empfohlenen „Laufbahn“. Solange ihr Mann, ein Schmied, am Leben gewesen sei, habe es der kleinen Familie an nichts gefehlt. In den zwei Jahren nach seinem Tod habe sie alle Werkzeuge verkauft und sich und die Tochter damit über Wasser gehalten. Mit Web- und Spinnarbeiten aber sei der Unterhalt nicht zu schaffen.
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Nunmehr sei es an der Tochter, „Geld zu verdienen und uns beide zu ernähren“.32 Alle diese Sorgen weisen eher auf eine Armuts- als auf eine Zwangsprostitution hin. Das deckt sich mit anderen Quellen. Die entscheidende Triebfeder, sexuelle Dienste zu verkaufen, war dort, wo kein direkter Zwang herrschte, eine prekäre ökonomische Situation. Das betraf Frauen, die in Not gerieten, weil der Vater oder Ehemann als Ernährer starb bzw. sich scheiden ließ, und ehemalige Sklavinnen, die als Freigelassene keinen Anspruch mehr auf Deckung ihrer Grundbedürfnisse hatten. Viele von ihnen machten da weiter, wo sie unter Zwang angefangen hatten, andere fanden – auch wegen fehlender Ausbildung – keine Arbeitsstelle und griffen zum „Strohhalm“ Prostitution.
„Verdienerinnen“ mit kargem Verdienst – instant sex für zwei As Tatsächlich hatten Frauen auf dem Arbeitsmarkt deutlich schlechtere Chancen als Männer – selbst in den großen Haushalten waren die männlichen Sklaven den weiblichen zahlenmäßig weit überlegen.33 Frauen arbeiteten vorrangig im sozialen Bereich als Kindermädchen und Amme, im Haushalt als Küchenhilfe, Friseurin oder Masseuse, außerdem als Näherin und Weberin sowie im Einzelhandel als Verkäuferin. In der Produktion, in der Logistik, auf dem Bau und im Handwerk war nur für wenige Frauen Platz. Angesichts dieser eingeschränkten Beschäftigungsaussichten erstaunt es weniger, dass auch viele freie Frauen die Sexarbeit auf sich nahmen. Dem sprachlichen Befund nach zu urteilen, war das gewissermaßen eine „genuine“ Frauenarbeit: Ein – nicht besonders abschätziger – Begriff für „Prostituierte“ im Lateinischen ist meretrix, „die Verdienerin“. Allerdings hielt sich dieser Verdienst in sehr engen Grenzen. Zu kaum einer anderen Zeit waren die Dienstleistungen einer Prostituierten so erschwinglich wie im Rom der späten Republik und der Kaiserzeit. Zwar liegen für die Hauptstadt nur einige wenige litera-
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„Verdi en erinn en“ mi t k ar g em Verdi ens t – inst an t s ex für zwei As 173
risch überlieferte Angaben vor – ein Preisspiegel zwischen 1 und 16 As –, für Pompeji jedoch gibt es viel reicheres und sogar primäres Quellenmaterial. Trotz der höheren Lebenshaltungskosten entsprachen die Tarife in Rom wohl im Wesentlichen den pompejanischen;34 die starke Konkurrenz drückte hier wie dort auf die Preise. Der am häufigsten erwähnte Standardtarif lag bei 2 As, manchmal sogar einschließlich Fellatio.35 Das entsprach dem Kaufpreis für zwei Laibe Brot oder einen halben Liter Wein gehobener Qualität. Weitere Tarife lagen bei 2 ½, 3, 5 und 6 As; außergewöhnlich war der „Liebeslohn“, den man an eine Drauca und eine Attice entrichten musste: Er lag bei 16 As. Fortunata, die „Glückliche“, verlangte sogar 23 As. Das waren indes deutliche Ausreißer nach oben, die sich möglicherweise auf einen längeren escort service bezogen. Die normale Prostituierte konnte von solchen Spitzengagen nur träumen.36
Bordell in Pompeji. F resko mit einer Sexszene über der T ür einer cella. Dem Besucher werden sexuelle F reuden versprochen, die mit dem „H aurucksex“ in den kleinen Kammern der Prostituierten wenig gemein hatten, 1 . Jh.
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Ob die Straßenprostitution billiger war als die Bordellprostitution, lässt sich nicht sagen. Die Fresken in dem berühmten pompejanischen Bordell (VII 12.18) – heute ein gewaltiger Touristenmagnet – sind trügerisch. Über den Eingängen zu den Kammern gaukeln vielfarbige obszöne Abbildungen erotische Genüsse vor, die die Kunden drinnen angeblich erwarteten. Sobald sich die Tür jedoch öffnet, ist die Enttäuschung groß – jedenfalls was das Mobiliar angeht. Eine steinerne Liege ist alles in den nur wenige Quadratmeter großen cellae, daneben ein schmaler Gang. Selbst mit Decken und Kissen ausgestattet, war das kein aphrodisierendes Ambiente. Und die meisten „Freier“ blieben auch nur kurze Zeit: Einkerbungen in der Wand zeigen die Stelle, wo sie sich mit den Füßen abgestützt haben. Die Schuhe ließen sie an. Mehr als instant sex für ein paar Minuten durfte man offenbar nicht erwarten. Draußen warteten vor dem occupata-Schild („besetzt“)37 schon die nächsten Kunden. Von einem verführerischen Liebesspiel, wie es die Fresken suggerieren, war der auf schnelle Triebbefriedigung abgestellte Hauruckbetrieb sicher weit entfernt.
„Betrunkenen, übergriffigen Kerlen ausgesetzt“ – Miese Arbeitsbedingungen und gesellschaftliche Verachtung Das wirft auch ein Schlaglicht auf die miesen Arbeitsbedingungen. Den Investoren von Bordellen war ebenso wie den männlichen und weiblichen Zuhältern an einer dichten Taktung gelegen. Pausen ergaben sich vermutlich nur, wenn keine Kundschaft da war. Ob die Frauen sich bestimmten Sexualpraktiken verweigern konnten, wissen wir nicht, soweit es die Zwangs- und die Bordellprostitution betrifft. Sex mit zwei oder sogar mehreren Männern dürfte nicht selten vorgekommen sein; in einem Epigramm der Anthologia Palatina „bedient“ eine Hure gleich drei „Freier“ auf einmal.38 Auch wenn Wasserträger einzelnen Frauen zur Verfügung standen, waren die sanitären und hygienischen Umstände in der Regel ebenso schlecht wie der Wohnstandard. Der Beruf war zweifellos gesundheitsschädigend; un-
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gewollte Schwangerschaften stellten angesichts wenig wirksamer Verhütungspraktiken ein hohes Berufsrisiko dar und wurden häufig durch gefährliche Abtreibungen beendet. Das alles senkte die Lebenserwartung von Frauen, die jahre- und jahrzehntelang in diesem gesundheitlich belastenden Gewerbe tätig waren. Hinzu kam die gesellschaftliche Stigmatisierung. Man „brauchte“ sie zwar, und ungezählte Männer nahmen ihre Dienste mit größter Selbstverständlichkeit in Anspruch; gleichwohl schlug den einfachen Huren – nicht unbedingt den „gesellschaftsfähigen“ Damen des gehobenen demi monde – die Verachtung von Bürgerinnen und Bürgern entgegen. Das Milieu wird charakterisiert als „dreckig, betrunkenen und übergriffigen Kerlen ausgesetzt sowie“ – die unterste Schublade von allem – „an die Nächte und an jeden, der will, abgetreten“.39 Verachtung und diskreditierende Respektlosigkeit sprechen auch aus zwei üblichen lateinischen Begriffen für Prostituierte: scortum, „(gefühlloses) Fell“, „Leder“, ist der eine, lupa der andere, die „(reißerische, räuberische) Wölfin“.40 Beide Ausdrücke wirken entmenschlichend; in ihnen spiegeln sich die vielen Erniedrigungen, denen die Frauen in diesem Beruf ausgesetzt waren. Es gibt nur wenige Streunachrichten über den „Job“ und seine Zumutungen aus Sicht der Prostituierten. Zu den größten Demütigungen, die die Weichen des Lebens in entsprechender Weise stellten, gehörte der Verkauf eines Mädchens oder einer jungen Frau auf dem Sklavenmarkt. „Nackt stand sie da am Ufer zur Krittelei des Käufers. Alle Teile ihres Körpers wurden begutachtet und abgetastet. Wollt ihr das Ergebnis der Versteigerung hören? Der Pirat verkauft sie, der Bordellwirt kauft sie, Einwände werden nicht erhoben.“41 Vielleicht ja doch, wenn man die betroffene „Ware“ angehört hätte?
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„Eine unerhörte neue Steuer“ – Wie der Staat am käuflichen Sex mitverdiente und ihn förderte Die allermeisten Prostituierten, das zeigen die wenigen verlässlichen Nachrichten, waren arme Frauen, die eben auch materiell in prekären Verhältnissen lebten. Viele führten ein Hungerdasein. Bei der freiwilligen Prostitution wird häufig paupertas, „Armut“, als Motiv genannt.42 Das hinderte den römischen Staat freilich nicht daran, an dem Gewerbe mit der „Unzucht“ kräftig mitzuverdienen. Kaiser Caligula führte in seiner kurzen Regierungszeit um das Jahr 40 eine Prostituiertensteuer ein; die Aufnahme der Frauen in ein Dirnenregister ging wohl damit einher.43 Auch wenn der Wortlaut bei Sueton nicht ganz eindeutig ist, spricht doch alles dafür, dass die Steuer beim Wert eines concubitus („Beischlafs“) pro Tag (und nicht pro Monat) lag, und zwar vermutlich nicht nur in Rom, sondern auch im ganzen Imperium.44 Die Abgabe wurde zunächst von den publicani, privaten Steuerpächtern, erhoben, später dann, wohl um Steuervermeidung und -hinterziehung zu verhindern, von den Prätorianern kassiert. Das Motiv für die neue Abgabe war rein fiskalisch: Es ging darum, dem Staat eine neue Einkommensquelle zu erschließen. Und die sprudelte kräftig. Als wesentlichen Grund dafür, dass die privaten Steuerpächter bald ausgebootet wurden, gibt Sueton an, dass „deren Gewinn geradezu durch die Decke ging“. Erst im Jahr 498 trennte sich der – schon längst christlich gewordene – Staat von dieser fragwürdigen Abgabe, und zwar nur im Ostteil des Römischen Reiches. Historikerinnen und Historiker, die sich intensiv mit dieser Prostituiertensteuer beschäftigt haben, sind sich einig: Für die betroffenen Frauen war die Steuer ein harter Schlag. Wenn man von vier bis sechs concubitus pro Tag ausgeht, liegt die einschlägige Steuerlast bei 17 bis 25 %. Angesichts des notorisch niedrigen Preisniveaus führte das tendenziell zu dem Druck, mehr concubitus zu „schaffen“, d. h. zu einem deutlichen Mehr an Arbeit für die dauerhaft in der Branche tätigen Frauen. Teilzeitprostitution dagegen lohnte sich nicht, weil bei
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wenigen Kontakten ein noch höherer Anteil des Verdienstes wegbesteuert wurde. Das Kontrollnetz in Sachen Prostitution wurde durch die „unerhörte neue Steuer“45 natürlich engmaschiger. Doch war das nicht das eigentliche Ziel, sondern ein willkommener Nebeneffekt. Als „Sittenapostel“ trat der römische Staat jedoch nicht auf – im Gegenteil: Bis zu einem gewissen Grad legitimierte er die Prostitution sogar, indem er damit nicht unerhebliche Staatseinnahmen generierte. Und indirekt förderte er die Prostitution sogar durch Erhöhung des „Arbeitsdrucks“, weil die Frauen mehr „Begegnungen“ brauchten, um nicht noch weiter zu verarmen. Der ohnehin starke Konkurrenzdruck wurde dadurch erhöht und das niedrige Preisniveau zementiert, sodass sich das Elend der meisten Prostituierten durch die de-facto-Anerkennung ihres Gewerbes mittels Sexsteuer eher noch vergrößert haben dürfte. Die romantisierenden Vorstellungen jedenfalls, die sich mit den käuflichen Mädchen mancher Plautus-Komödie verbinden, sind bestimmt fehl am Platz. Einschlägige Liebesgeschichten mit Happy End und „Erlösung“ aus der Sexsklaverei waren so selten, dass sie mit der weithin deplorablen Realität der Prostituierten nichts zu tun hatten. Was uns bei der Rekonstruktion des Milieus zur Gänze fehlt, sind die Stimmen der Betroffenen. Die „Opfer“ bleiben stumm. Auch das sagt einiges über eine Szene aus, die wesentlich von Zwang, Unterdrückung, Ausbeutung und Not geprägt war.
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Was wurde aus den „Opfern“ des 1. Juli? Wie ging es mit einem Vacerra und seiner Familie weiter, die Martial zufolge ihre Mietwohnung mit den paar Habseligkeiten verlassen mussten? Würde es Vacerra gelingen, den Vermieter einer anderen Wohnung herumzukriegen und ihm trotz der Insolvenzgefahr ein neues Zuhause zur Verfügung zu stellen? Die Chancen standen schlecht, da Vacerra offensichtlich pleite war. Die weiteren deprimierenden Aussichten waren sehr realistisch: Sie verbanden sich mit der „Brücke“1 – und das war gleichbedeutend mit Obdachlosigkeit und einem katastrophalen sozialen Abstieg, ja geradezu mit dem Verlust der bürgerlichen Existenz. Wie groß die Zahl der Römerinnen und Römer war, die kein Dach über dem Kopf hatten, wissen wir nicht. Es gibt keinerlei Quellenbelege dazu. Sicher aber ist, dass viele moderne Rekonstruktionen des Alltagslebens im antiken Rom – vor allem die Bilder produzierenden – von der Realität sehr weit entfernt sind. In dem Rom der luxuriösen öffentlichen Gebäude, der „goldenen Tempel“ und wunderbaren Säulenhallen kommen sie so gut wie gar nicht vor: die Obdachlosen und die Bettler, die ein prekäres Leben jenseits der „normalen“ Armutsschwelle führten. Dass sie im modernen Bild des antiken Rom nicht präsent sind, hängt auch mit dem „Ästhetikfaktor“ zusammen. Sie beschädigen das Image einer glanzvollen „Hauptstadt der Welt“, eines caput mundi mit seinen architektonischen Reich-
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tümern (das es zweifellos gab), und werden deshalb meist ausgeklammert. Tatsächlich aber dürfte es kaum Hauptstraßen, Plätze und Areale architektonischer Superlative gegeben haben, an denen entwurzelte Menschen nicht um ein Almosen gebettelt hätten. Bettler, mendici, gehörten überall in der aurea Roma, dem „goldenen Rom“, zum Straßenbild. Ganz allgemein stellt Cicero fest, dass „viele Menschen mendacitas, ein Bettlerdasein, eine Bettelarmut, ertragen“.2 Die Beobachtung ist nicht speziell auf Rom bezogen, trifft aber sicher auch auf die Hauptstadt zu.
Eine vornehme F rau reicht einem Bettler ein Almosen. F resko aus der C asa dei Dioscuri, Pompeji, 1 . Jh.
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„Lang soll ihm der Dezember werden“ – Frieren und Hungern als Bettlerlos Obdachlose suchten sich zum Schlafen einen Platz in Hauseingängen, unter Bögen, in Säulenhallen, unter dem Schutz von Bäumen in Parks, vor allem aber unter den Tiberbrücken.3 Als Unterlage dienten ihnen eine Matte, eine Handvoll Heu oder ein Strohsack.4 Sie waren den Unbilden der Witterung fast schutzlos ausgesetzt, wobei römische Sommer zeitweise sehr heiß und stickig, manche Wintertage von mindestens nächtlichem und morgendlichem Frost bestimmt sind und sich das ganze Jahr über infolge der Nähe zum Meer sehr heftige Regenfälle entwickeln können. Vom „ewigen Frühling“ ist das mediterrane Klima trotz mancher teutonischen Schwärmerei weit entfernt. Wie unbarmherzig das Wetter gegenüber Obdachlosen sein konnte, zeigen einige gehässige Verse Martials auf ebenso drastische wie anschauliche Weise. Einem angeblich verleumderischen Dichterkollegen wünscht er ein schlimmes Bettlerleben an den Hals: „Umherirren soll er durch die Stadt, verbannt von Brücken und Hängen. … Lang soll ihm der Dezember werden und die nasse Kälte des Winters, und das verschlossene Gewölbe soll ihm den elenden Frost ordentlich ausdehnen.“ Eine gewissermaßen persönliche Wetterkatastrophe, die den armen Kerl dazu bringen soll, dass „er diejenigen glücklich preist, die auf der Totenbahre weggetragen werden“.5 Das Frieren gehört auch bei Juvenal zum Bettlerlos, und es ist reichlich zynisch, wenn der Satiriker dieses tremere, „Zittern“, und „Nagen am Hundebrot“ für „ehrenhafter“ erklärt, als Einladungen an reiche Tafeln anzunehmen, bei denen man sich gegenüber dem „königlichen“ Gastgeber servil verhalten müsse.6 So spricht nur einer, der sicher sein konnte, selbst nie Hunger, Frost und Obdachlosigkeit ertragen zu müssen. Die Soziologie der stadtrömischen Bettler lässt sich nur im Groben rekonstruieren: Man sah bettelnde Frauen, bettelnde Kinder und bettelnde Männer, die Letzteren wohl deutlich in der Mehrheit. Frauen sanken wohl zumeist auf dieses unterste Niveau hinab, wenn
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sie Witwen geworden waren, keinen männlichen Vormund hatten, der sich ihrer erbarmte, und sie nicht arbeitsfähig und auch nicht bereit waren, ihren Lebensunterhalt durch Armutsprostitution zu bestreiten.7 Kinder wurden mitunter von ihren Eltern zum Betteln geschickt; Martial spricht von einem „Judenkind, das von seiner Mutter zum Betteln angeleitet wurde“.8 Auch andere Quellen deuten an, dass ein gewisser Teil der in Rom lebenden Juden sich auf gewerbsmäßige Bettelei bzw. mit ihr vermeintlich verwandte Traumdeutung verlegt habe.9 Da mögen auch ethnische Vorurteile gegen die bewusst andere Lebensweise der jüdischen Immigranten und ihren monotheistischen Glauben mitschwingen, doch gab es offenbar ein reales Fundament dafür, Juden und Bettelei in der Hauptstadt gedanklich miteinander zu verknüpfen.
Bettler als „Defizitmenschen“ – Drastisches Latein Unter den Männern, die ihr Leben als Bettler fristeten, waren viele Alte, Kranke, Behinderte und durch einen Unglücksfall aus der Bahn Geworfene. Aus römischer Sicht hatten sie alle ein mendum, ein „Defizit“, „Gebrechen“, einen „Fehler“. Diesem „Mangel“ verdankten sie ihre lateinische Bezeichnung; mendicus, „Bettler“, ist abgeleitet von mendum. Manche dokumentierten ihren Schicksalsschlag durch ein Bild, das sie hochhielten und dadurch besondere Aufmerksamkeit und vielleicht auch größeres Mitleid auf sich lenkten. Schiffbrüchige, die bei dem Unglück all ihre Habe verloren und nur ihr nacktes Leben gerettet hatten, „schützten sich durch das Gemälde eines Sturms vor dem Verhungern“.10 Das konnte natürlich auch nur eine Masche sein, um aus der grauen Schar der Bettler herauszuragen oder, ganz zynisch formuliert, ein Geschäftsmodell, um aus Mitleid Profit zu schlagen. Aber welcher Passant sollte unterscheiden können, was echte Armut war und was gespielte? Für wirklich Bedürftige war der Verlust an Glaubwürdigkeit, der durch einen falschen (und überführten) Bettler entstand, ein herber
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Schlag. Da misericordia, „Barmherzigkeit“, nicht zu den ethischen Idealen der Oberschicht zählte, war die Enttäuschung über einschlägige Betrügereien umso größer und konnte dazu führen, dass man das soziale „Strandgut“ am Straßenrand vollends übersah. „Wer einmal getäuscht worden ist, kümmert sich nicht mehr darum, an Kreuzungen einem Bettler mit (scheinbar) gebrochenem Bein aufzuhelfen, mag der auch viele Tränen vergießen und beim heiligen Osiris schwören: ‚Glaubt mir, ich spiele euch nichts vor! Ihr Grausamen, helft mir Lahmem doch auf!‘“ Die harte Konsequenz, die manch einer aus einer Täuschung zog, schildert Horaz so: „‚Such dir einen Fremden!‘, ruft da die Nachbarschaft schrill zurück.“11 In Einzelfällen scheinen Menschen auch absichtlich verstümmelt worden sein, damit sie als Bettler mehr Mitleid erregten. In seinen Controversiae beschreibt der Ältere Seneca einen besonders skandalösen Fall grausamer Ausbeutung von Bettelkindern. Ein skrupelloser Geschäftemacher nahm ausgesetzte Kinder bei sich auf. Damit wurden sie juristisch zu Sklaven und er zu ihrem Herrn. Der „Lebensretter“ handelte allerdings nicht aus karitativen Motiven, sondern wollte im Gegenteil Profit aus diesen armen Kreaturen schlagen. Er schickte sie zum Betteln auf die Straßen – aber erst, nachdem er sie zu Schwerstbehinderten gemacht hatte. Die einen wurden geblendet, anderen wurde die Zunge herausgeschnitten, wieder anderen die Füße oder Schenkel gebrochen, eine Hand oder ein Arm amputiert. Diese „halb tote, zitternde, schwache, blinde, verkrüppelte, halb verhungerte Sklaventruppe“ von Bettelkindern war sein „Startkapital“: „So viele Knochen wurden gebrochen, damit sie einen einzigen Magen füllten“, so ein scharfer Kritiker dieses furchtbaren „Geschäftsmodells“.12 An jedem Abend wurde abgerechnet. Wer zu wenig Almosen erbettelt hatte, wurde ausgepeitscht. Der Mann war wahrhaftig ein saeviens ossifragus, „grausamer Knochenbrecher“, ein carnifex, „Fleischmacher“, „Henker“, ein sadistischer Menschenquäler.13 Durfte er das als Sklavenbesitzer? Stand er ethisch gleichwohl über den Vätern, die ihre Kinder ausgesetzt und damit dem fast sicheren Tod überantwortet hatten? Schädigte und verhöhnte dieser Aus-
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beuter mit seinem Verhalten die Gesamtheit der Bürger Roms? Das waren Fragen, über die römische Juristen unabhängig von der moralischen Dimension des Falles stritten. Seneca zeichnet die Kontroverse auf mehreren Seiten nach. Allerdings ist das keine Gewähr dafür, dass es sich um einen echten Streitfall handelt und es diesen zynischen Geschäftemacher wirklich gegeben hat. Es ist gut möglich, dass Seneca eine der in Rhetorenschulen sensationell aufgebauschten theoretischen Konstruktionen referiert. Gleichwohl ist dieser Realitätscheck in unserem Zusammenhang von untergeordneter Bedeutung. Denn die – denkbare – Causa zeigt auf jeden Fall, dass es zum einen Bettler gab, die miteinander konkurrierten, und dass zum anderen gut sichtbare, gewissermaßen glaubwürdige körperliche Beeinträchtigungen einen erheblichen Vorteil in diesem Konkurrenzkampf mit sich brachten. Spektakuläre, d. h. im doppelten Sinn des Wortes auffällige „Begründungen“ für Bettelarmut machte die Passanten geneigter für eine Spende.14
Elende Gestalten mit ausgestreckter Hand – Ein alltäglicher Anblick auf Roms Straßen Als typische Haltung des am Straßenrand kauernden Bettlers galt die ausgestreckte Hand, in die Passanten eine milde Gabe legen sollten: eine Münze, ein Stück Brot, ein anderes Lebensmittel oder auch einen Becher Wein.15 Lautes Wehklagen, erbarmungswürdiges Stöhnen, manchmal auch ausführliche Schilderungen des eigenen Elends – der „geschwätzige Schiffbrüchige mit bandagiertem Oberkörper“ trägt Martial zufolge zum berüchtigten Lärmpegel Roms kräftig bei16 – erregten zusätzliche Aufmerksamkeit. Viele Bettler waren in Lumpen gehüllt, manche halb nackt, einige wenige sogar völlig unbekleidet.17 Schmutz, mangelnde Hygiene, Ekzeme, von Hunger und Kälte entstellte kranke Körper – so wurden etliche Bettler von den Bürgern wahrgenommen. Manche verlegten sich auf clowneske Einlagen, auf übertriebene Schmeicheleien, auf das Erzählen derber Witze, auf
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Flötenmusik oder wenig melodischen Gesang.18 Sie bedankten sich, wenn sie ein Almosen erhalten hatten, überschwänglich bei ihren „Wohltätern“ oder warfen ihnen sogar Kusshände hinterher.19 Blinde, die sich zögernd, auf einen Stock gestützt, fortbewegen, Hinkende mit gebrochenem Knie, Einbeinige mit dem Stumpf einer Gliedmaße, von eitrigen Geschwüren überdeckte Menschen, Krüppel, deren rechte Hand „verdorrt“ ist – das waren den Bewohnern Roms vertraute jämmerliche Gestalten, die auf die Barmherzigkeit ihrer Mitbürger angewiesen waren und keinerlei Hoffnung auf staatliche Unterstützung hatten. Diese Liste ist dem Märtyrerpreis des heiligen Laurentius aus der Feder des Dichters Prudentius entnommen. Laurentius wurde im Jahr 258 unter Kaiser Valerian angeblich auf einem glühenden Rost zu Tode gefoltert. Zuvor hatte er dem Stadtpräfekten Roms oder dem Kaiser selbst – die Überlieferung ist sich da nicht einig – auf dessen Verlangen die „Schätze der Kirche“ präsentiert. Während sich die Staatsautorität eine Mehrung ihrer Finanzen durch Gold, Silber und Edelsteine erhoffte, zog Laurentius drei Tage lang durch die Hauptstadt, verteilte Almosen und stellte eine „Armada“ von Bettlern zusammen, die er seinem Auftraggeber mit den Worten vorstellte: „Unsere Leute sind körperlich schwach, aber in ihrem Inneren tragen sie eine unvergleichliche Schönheit. (…) Bald werden sie nicht schmutzig und schwach, wie sie jetzt erscheinen, sondern in purpurnen Stolen und goldenen Kränzen prangen“ – sie, „auf die du hochmütig hinabschaust, die du als fluchwürdige Menschen ansiehst“.20 Ob es diesen Aufmarsch der Bettler im Rom des Jahres 258 tatsächlich gegeben hat, lässt sich nicht sicher nachweisen. Wie Prudentius ihn beschreibt, ist dagegen gewiss als Abbild einer historischen Realität anzusehen, die das Image des kaiserzeitlichen Rom stets mitgeprägt hat: „Scharen von Bettlern, unschön anzusehende Schwärme“21 haben das antike Rom zu allen Zeiten bevölkert – auch wenn sich keine zuverlässigen quantitativen Angaben machen lassen.
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Wo bleibt die Gegenleistung? – Mitleidsethik auf niedrigem Niveau Wie „erfolgreich“ waren Bettler? Welche Chancen hatten sie, sich dank der Spendenfreudigkeit ihrer Mitbürger einigermaßen über Wasser zu halten – oder besser: auf sehr niedrigem Niveau überleben zu können? Die Aussichten waren grundsätzlich nicht gerade rosig. Wer auf Betteln angewiesen war, führte einen harten Überlebenskampf. Er musste sich gegen eine nicht geringe Konkurrenz behaupten, von der er keine Solidarität erwarten konnte. Zudem lebte das Gros der Menschen selbst so nah am Existenzminimum, dass es von dem eigenen Wenigen kaum etwas abgeben konnte oder wollte, von einem gelegentlichen Stück „Hundsbrot“ vielleicht abgesehen. Als panis caninus wurde hartes, aus grobem Mehl gebackenes, minderwertiges Brot bezeichnet; es galt als „typisches“ Almosen für Bettler.22 Was die einigermaßen wohlhabende Mittel- und die reiche Oberschicht angeht, so stand Mildtätigkeit in der paganen, noch nicht von christlicher Armenfürsorge geprägten römischen Gesellschaft nicht besonders hoch im Kurs. „Christliche Ethik wurde von wenigen antizipiert“, stellt Arthur R. Hands in seiner einschlägigen Studie fest.23 Bürgerlicher Euergetismus („Wohltätigkeit“), den man von Angehörigen der Elite erwartete, investierte eher in die architektonische Verschönerung der Stadt, in die Infrastruktur und in großzügige Bewirtungsevents für „normale“ Mitbürger zu bestimmten Anlässen. Die Menschen am untersten Ende der Sozialpyramide waren keine relevante Zielgruppe dieses Sponsorings, zumal sie auf die öffentliche Meinung wenig Einfluss hatten. Hinzu kam die römische Mentalität, die bei beneficia, „Wohltaten“, „Gefälligkeiten“, stark auf Reziprozität setzte. Von Obdachlosen und Bettlern waren Gegenleistungen aber kaum zu erwarten – entsprechend gering war die Neigung, ihnen gewissermaßen umsonst etwas zukommen zu lassen. Gewiss, die Stoiker, die das geistige Klima in der römischen Kaiserzeit stark mitprägten, traten grundsätzlich für Mitmenschlichkeit und humanitäre Hilfe ein. „Menschen zu helfen, befiehlt mir die Natur“, erklärt Seneca programmatisch. Und fügt hinzu: „Wo immer
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ein Mensch ist, da ist auch Gelegenheit für eine Wohltat.“24 Wenn es indes konkret wird, verknüpft Seneca dieses soziale Engagement doch ganz gern mit Bedingungen. Schenken sei keine einfache Sache, doziert er, denn man müsse sehr gut überlegen und auswählen, wer milde Gaben am ehesten verdiene.25 Diese dignissimi, „besonders Würdigen“, sollten eines von zwei Kriterien erfüllen: Sie sollen entweder boni, moralisch gute Menschen, sein, oder solche, die der schenkende stoische Weise „wird gutmachen können“.26 Dem Schenken geht somit zumindest vom Grundsatz her eine Art ethische Bonitätsprüfung des Beschenkten voraus. An anderer Stelle schaut Seneca stärker auf die Bedürftigkeit als auf die moralische Qualifikation von Armen und Bettlern. Der Stoiker „wird dem Bedürftigen eine Spende geben“,27 erklärt er und setzt sich scharf von scheinbar Mitleidigen ab, die solche Almosen mit herabsetzenden Worten, mit verächtlicher Miene und auf erniedrigende Weise austeilen. Offensichtlich gab es manche „Gönner“, die im Akt des Schenkens ihre Verachtung gegenüber dem Beschenkten deutlich zum Ausdruck brachten – ein widerlicher Hochmut, der sich Seneca zufolge mit der Angst verband, von diesen „Kreaturen“ berührt zu werden, denen man ein Almosen hinwarf.28 Allerdings müsse sich der Stoiker in dieser Situation vor misericordia, „Mitleid“, hüten. Das sei eine falsche Motivation, Menschen in Not zu helfen, betont er. Erstaunlich, aber innerhalb des stoischen Lehrgebäudes konsequent: Denn Mitleid zählt zu den Affekten, und von denen wollen sich die Stoiker möglichst fernhalten, weil sie vernunftgeleitetes Handeln beeinträchtigen. „Mitleid ist eine Fehlhaltung (vitium) derer, die sich durch (den Anblick von) Leid allzu sehr in Schrecken versetzen lassen“,29 begründet Seneca die „Mitleidlosigkeit“ auch großzügiger stoischer Almosengeber. Bei Cicero liest sich das, was man einseitige Spendenbereitschaft nennen könnte, noch deutlich pragmatischer, insofern er sich stark an der Erhaltung des eigenen Vermögens orientiert. Wenn man schon einmal das Prinzip der Gegenseitigkeit beim Geben und Empfangen von Wohltaten30 außer Kraft setzt, dann ist umso sorgfältiger zu prü-
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fen, ob die Empfänger einer Zuwendung idonei, „geeignet“, sind. Damit wird der reziproke Aspekt doch wieder durch die Hintertür eingeführt – und außerdem sind solche Zuwendungen nur moderate, „mit Maß“, zu tätigen. Nicht umsonst gebe es schließlich das Sprichwort „Gebefreudigkeit hat keinen Boden“.31
Hoffnungs- und Trostlosigkeit – und ein würdeloses Sterben Zwar bezieht sich diese Warnung nicht primär auf Almosen für Bettler, sondern auf Schenkungen an Freunde und gute Bekannte, aber sie beschreibt doch ein allgemeines Klima, in dem Bettler um Geschenke ohne Gegenseitigkeit kämpfen mussten. Die fast zweitausendjährige christliche Tradition der Armenfürsorge und der moderne Sozialstaatsgedanke sollten heutigen Betrachtern nicht den Blick auf die sehr restriktive römische Einstellung gegenüber einer Randgruppe verstellen, die zu keinerlei Gegenleistung imstande war. Dagegen ist das gelegentlich in diesem Zusammenhang angeführte Plautus-Zitat wenig aussagekräftig: „Um einen Bettler macht sich schlecht verdient, wer ihm zu essen und zu trinken gibt, denn er verliert zum einen das, was er gibt, und verlängert dem anderen das Leben zu weiterem Elend.“32 Belässt man die Verse in ihrem Kontext, so ist klar, dass sich diese Warnung auf einen „Bürgerlichen“ bezieht, der ordentlich geerbt und dieses Erbe mit Prasserei rasch durchgebracht hat. Verschwendungssucht und Charakterlosigkeit dieser Art solle man nicht unterstützen, meint Plautus; solche „Typen“ müssten durch die Härte vorübergehender Armut von ihrem falschen Weg abgebracht werden. Als generelle Einstellung gegenüber Bettlern taugt das scheinbar sprichwortartige Zitat aber keineswegs. Die allermeisten, die im kaiserzeitlichen Rom obdach- und arbeitslos waren und ihren Lebensunterhalt mit Betteln verdienen mussten, waren arme Teufel. Sie hatten wenig Chancen auf Resozialisierung und mussten sich in ihrem Elend auf Dauer einrichten. Das erhöhte ihre Anfälligkeit für Krankheiten, besonders in den kal-
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ten Wintermonaten des tremere, „Zitterns vor Kälte“. Von medizinischer Versorgung waren sie weitgehend ausgeschlossen. Es gab keine Form der Krankenversicherung; jeder Besuch beim Arzt musste von den Patienten selbst bezahlt werden. Eine staatliche Sozialfürsorge oder Auffang- und Betreuungsstationen irgendeiner Art kannte das antike Rom nicht. Das harte Leben auf der Straße endete für viele mit dem baldigen Tod. Und auch der verband sich noch mit Schrecken und Leid. Wenn sie ihre letzte Stunde nahen spürten, wurden manche Obdachlosen von regelrechtem Horror heimgesucht: Streunende Hunde und gierige Vögel brachten sich frühzeitig in Stellung, um sich auf ihre wehrund bald leblosen Opfer zu stürzen.33 Die Verachtung, der sie als Bettler ausgesetzt waren, wurde nicht wenigen auch noch nach ihrem Tod zuteil: Ihre Leichname blieben nicht selten stunden- und manchmal sogar tagelang liegen. Die Anzahl der „unversorgten“ Leichen wird für das Rom der Kaiserzeit pro Jahr auf 1500–2000 geschätzt.34 Wie deren „Entsorgung“ vor sich ging, ist unklar. Sicher ist nur, dass sie letztlich pietätlos in puticuli, „kleine Gruben“, vor der Stadtmauer geworfen wurden. Die etymologische Erklärung von puticulus durch den römischen Universalgelehrten Varro mag problematisch sein, aber sie verweist auf das Elend der dort „abgeladenen“ Menschen in ihrem Leben: Varro stellt einen sprachlichen Zusammenhang mit putidus, „stinkend“, und putescere her, „zu verrotten beginnen“.35
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Als Wahlkämpfer sollte man auf der Hut sein: sich leutselig geben, den Wählern schmeicheln, ihnen alles Mögliche versprechen – und nur nicht jemandem auf den Schlips treten. So steht es im Handbuch des Quintus Cicero mit Tipps für den erfolgreichen Wahlkämpfer zur Zeit der späten Republik.1 Man könnte das Büchlein auch als Traktat eines klassischen Politopportunismus bezeichnen. Mit Witzen dagegen sollte man vorsichtig sein, erst recht, wenn sie auf Kosten von Wählern gehen. Das musste Publius Scipio Nasica leidvoll erfahren. Bei seiner Bewerbung um das Amt eines Aedils wohl im Jahr 145 v. Chr. ergriff er die schwielige Hand eines Wählers, hielt sie, „wie es Kandidaten gern tun“, eine Zeit lang fest und fragte sein Gegenüber dann im Scherz, ob er eigentlich gewöhnlich auf den Händen laufe. Damit spielte er natürlich auf dessen schwielige Hand an. Ein Scherz, der gar nicht gut ankam, sondern sich in Windeseile – auch ganz ohne soziale Medien – beim Wahlvolk verbreitete und für helle Empörung sorgte. Wollte da ein arroganter Aristokrat die schwer schuftenden Menschen vom Lande verhöhnen? Die Leute aus den ländlichen Wahlbezirken beschlossen, Scipio einen Denkzettel zu verpassen. Sie ließen ihn bei der Wahl durchfallen. Als Grund gaben sie an, der junge Schnösel aus adligem Haus habe ihnen mit seinem Joke über schwielige Hände ihre Armut (paupertas) vorgeworfen.2
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Man darf annehmen, dass die bittere repulsa, „Zurückweisung“, in ähnlicher Weise durch einen „medialen“ Feldzug von Konkurrenten des Scipio orchestriert worden ist, wie das heutzutage von Empörungswellen unter „Hashtag paupertas/Armut“ in den sozialen Medien propagandistisch ausgeschlachtet würde: der Fauxpas eines jungen Adligen, der die Wirkung seiner Worte bzw. das, was daraus gemacht werden konnte, zu wenig bedacht hatte.
Armut als Schande … – … aber Verzicht als Tugend Denn im Grunde war das, was Scipio sich da erlaubt hatte, ein ziemlich harmloser ironischer Schlenker gewesen, der allenfalls angedeutet hatte, was seine Standesgenossen über Menschen dachten, die sich durch Handarbeit schwielige Hände holten. Sie verachteten sie – wenn auch etwas weniger, wenn sie sich die raue Haut im agrarischen Bereich zugezogen hatten. Aber dass man über paupertas die Stirn runzelte und mit „solchen“ Leuten eigentlich nichts zu tun haben wollte – das war in der Oberschicht Konsens. Dabei war paupertas nicht einmal die bittere Armut, die Bedürftigkeit, die die mehr oder minder ausgesprochene Bitte um Hilfe signalisierte,3 sondern einfach eine materielle Situation, die eine Erwerbstätigkeit erforderte, um über die Runden zu kommen. Dass der Beruf des (Klein-)Bauern dementsprechend Schwielen an den Händen verursachte, war klar. Und darüber machte man bitte keine Späße. Zumindest nicht öffentlich und zumindest nicht in einer Wahlkampagne. Da forderten auch die kleinen Leute das ein, was ihnen von der Oberschicht sonst nicht entgegengebracht wurde: Respekt. Ansonsten war ihnen schon klar, wie die „feinen Herrschaften“ über sie und ganz besonders über arme Leute dachten. Armut galt als schändlich und unehrenhaft, als selbst verschuldet und fast als Ausdruck von Charakterlosigkeit, stets nah an moralisch fragwürdigem oder gar kriminellem Handeln. (Hand-)Arbeit wurde keineswegs als Lösung angesehen, sondern geradezu als Inbegriff des Problems. Wer
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Armut als S ch and e … – … aber V er zich t als T ug end
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seinen Lebensunterhalt mit seiner Hände Arbeit verdienen musste, galt als arm und insofern in gewisser Weise als minderwertig. Das war die arrogante Einstellung von Menschen, die über Grundbesitz verfügten, Einkommen als Rentiers bezogen und andere, Unfreie wie Freie, für sich arbeiten ließen.4 Es gab eine Ausnahme von der Verachtung und Geringschätzung der Armut: wenn sie selbst auferlegt war, wenn sich jemand, der sich anderes leisten konnte, bewusst beschied und in (relativer) Armut lebte. Das praktizierten die Kyniker, die offensiv die Philosophie der Genügsamkeit propagierten und sich Bettelei geradezu programmatisch auf ihre Fahnen schrieben. Die Stoiker als die bürgerliche, weniger radikale Variante des Kynismus predigten ebenfalls die Bedürfnislosigkeit und den Verzicht, aber es war ihnen dabei schon wohler, wenn im Notfall Rücklagen vorhanden waren, die einen Absturz in tatsächliche Armut verhinderten. Da gab es „philosophisch“ Gebildete, die sich einer Art Armutskur unterzogen und sich für einige Zeit in die pauperum cella, „Armenkammer“, ihrer Paläste zurückzogen. Auch Seneca, einer der reichsten Männer des 1. Jahrhunderts, erwägt solche Armutsexerzitien, die einem klarmachten, dass man auch mit ein paar Münzen „satt und glücklich“ sein könne.5 Natürlich sei Armut kein malum, „Übel“, verkündeten die Stoiker vollmundig, sondern gehöre ebenso wie der Reichtum zu den Adiaphora, den „Dingen, die keinen Unterschied machten“, ob jemand glücklich sei oder nicht – einfach deshalb, weil materieller Besitz dem Einzelnen letztlich nicht verfügbar sei und die Fortuna ihn binnen Kurzem dieser „Glücksgüter“ berauben könne. Aber das war Theorie. In der Lebenspraxis stellten Stoiker solche Erwägungen lieber aus der behaglichen Sicherheit eines luxuriösen Zuhauses an als aus der beengten, lauten Einzimmerwohnung einer stadtrömischen insula. Im philosophischen Sinne traten sie auch für die Gleichheit aller Menschen ein. Jeder könne unabhängig von seinem sozialen Status das Ideal des Weisen erreichen, versprachen sie, auch Sklaven und die Ärmsten der Gesellschaft – weil der vollendete sapiens, „Weise“, die fortuita, „Glücksgüter“ der Fortuna, in seinen Wünschen hinter sich
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gelassen habe. Aber natürlich stünden Wohlstand und Reichtum dem Ziel, wahrhaft weise zu sein, nicht im Weg, betont Seneca: „Hör auf, den Philosophen das Geld zu verbieten! Niemand hat die Weisheit zur Armut verurteilt.“6 Was die Bewertung von Armut in Rom angeht, darf man sich auch nicht von scheinbar positiven Urteilen wortgewaltiger Moralisten täuschen lassen, die sie als nachgerade vorbildlich darstellen. Valerius Maximus hat ein ganzes Buch seiner „Denkwürdigen Taten und Worte“ den exempla von paupertas gewidmet. Darin geht es jedoch um die Ablehnung des Luxus, um Selbstbescheidung, freiwilligen Verzicht, vergleichsweise geringen Besitz und „trotzdem“ hervorragende Leistungen dieser „Armen“, die manchmal nur wenige Sklaven ihr Eigen nannten.7 „Was ziehen wir da also Tag und Nacht heftig über bescheidenen Besitz her, als wäre er das größte Übel der Menschheit?“, schließt Valerius Maximus seine einschlägige Beispielsammlung ab und macht ganz klar, wie er paupertas definiert: als modica fortuna, „mäßiges, nicht allzu großes Vermögen“.8 Mit absoluter Armut hat das alles nichts zu tun. Das Gleiche trifft auf den Exkurs zum vermeintlichen Sittenverfall aus der Feder Sallusts zu – eine Passage, die zumindest früher auch zu den Standardtexten des schulischen Lateinunterrichts gehörte und eine Menge Missverständnisse ausgelöst hat. Im Rahmen ihrer Expansion seien die Römer Opfer eines tiefgreifenden Wertewandels geworden, beklagt Sallust die Begleitumstände des Aufstiegs Roms zur Weltmacht. Als ein Symptom für den „Werteverlust“ führt er an, dass man angefangen habe, „Armut als Schande zu betrachten“ (paupertas probro haberi).9 Auch da geht es um paupertas, „überschaubares Vermögen“, im Gegensatz zu luxuria. Außerdem schreibt da einer, der selbst die Taschen nicht voll genug kriegte und als Statthalter seine Provinz Africa nach Kräften ausgeplündert hat. Das spricht zwar nicht eo ipso gegen seine historische Analyse, lässt aber zumindest deutlich werden, dass er bei seinen Überlegungen zur moralischen „Dekadenz“ weit von den Existenzsorgen des kleinen Mannes entfernt war. Paupertas ist eben beileibe nicht dasselbe wie egestas.
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„Bodensatz und Jauche des Staates“? – Die Mehrheit im tugend ethischen Abseits Und wer für paupertas schwärmt, der drückt noch lange nicht seinen Respekt für eine Mehrheit der Bevölkerung aus, die unter absoluter Armut litt. In einem philosophischen Traktat mag Cicero beispielsweise die bescheidene Lebensführung rühmen und sich im Lob der „Armut“ nicht genug ergehen – „der Tag ginge wohl zu Ende, wollte ich die Sache der Armut bis zum Ende verteidigen“ (paupertatis causam).10 Aber wenn es um die wirklich Bedürftigen geht, dann ändert er den Ton bemerkenswert drastisch (sofern er sie nicht als politische Unterstützer benötigt).11 Da spricht er durchaus so abfällig wie die meisten seiner Standesgenossen über die Armen als faex urbis, „Bodensatz der Stadt“,12 oder sentina rei publicae, „Jauche des Staates“.13 Auch wenn es sich dabei um die Abqualifizierung der Anhängerschaft seiner politischen Gegner handelte und nicht um eine pauschale Verunglimpfung der Unterschicht, schwingt doch eine grundsätzliche Verachtung der „niederen“ Volksmasse mit. In solchen Kontexten werden Arme von Cicero nicht selten geradezu zu Outlaws der Gesellschaft herabgestuft und in einem Atemzug mit aufrührerischen Sklaven, Kriminellen und Banditen genannt: egentes, „(wirklich) Arme“, „Habenichtse“, erscheinen da ebenso wie Meuchelmörder und verantwortungslose Bürger, die sich von „Unruhestiftern“ gegen klingende Münze „mieten“ lassen, als Desperados. Sie haben nichts zu verlieren und stellen sich deshalb gegen die „Guten“.14 So ganz falsch ist Ciceros Analyse ja nicht, was „Arme“ angeht, die von „stabilen“ Verhältnissen nichts zu erwarten haben, da die ihre Lage eher zementieren. Aber im Wesentlichen geht es um die übliche tugendethische Verortung der Besitzlosen: Sie sind als vollwertige Bürger nicht ernst zu nehmen, weil sie arm sind. Und das gilt auch im Hinblick auf ihre Menschenwürde – ein Konzept, das die Antike so nicht kannte; wohl aber attestierte man der Oberschicht dignitas, „Würde“, „Ehrenhaftigkeit“ und „gehobenen gesellschaftlichen Rang“. Wenn es in der Zeit
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der Republik nicht gerade um wahltaktische Manöver und die emotionale Instrumentalisierung der eigenen Wählerklientel ging, war sich die Elite mit Cicero einig: Arbeiter und taberna-Besitzer, d. h. Handwerker und Kleinhändler, gehörten zu „dem ganzen berüchtigten Bodensatz des Staates“.15 „Armut schändet nicht“? Für das deutsche Sprichwort hätten alle die, die im antiken Rom die Normen vorgaben, wenig Verständnis aufgebracht. Für sie war Armut eine Schande – und irgendwie auch eine Zumutung, dass man mit diesem „Bodensatz“ gemeinsam in einer Bürgerschaft leben musste. Andererseits: Der Begriff „Plebejer“ – die allerdings nicht mit den „Armen“ gleichzusetzen sind – machte ja auch in seiner Etymologie hinreichend deutlich, dass die Oberschicht in gewisser Weise auf eine solche „Füllmenge“ (plere, „anfüllen“; plenus, „voll“) angewiesen war: Ohne „die da unten“ machte es weniger Spaß, zu denen „da oben“ zu gehören …
Schmutzig, abgewetzt, besitzlos – Die Armen als Witzvorlage Zynisch formuliert, waren die Armen aus Sicht der Vermögenden immerhin zu einem gut: Man konnte sich über sie lustig machen. Sie dienten so manchen Snobs aus der Oberschicht als Zielscheibe des Spotts. Juvenals (fiktiver) Umbricius bringt es auf den Punkt: nil habet infelix paupertas durius in se quam quod ridiculos homines faciat, „nichts Härteres wohnt der unglücklichen Armut inne, als dass sie die Menschen der Lächerlichkeit preisgibt“.16 Die Rede ist wohlgemerkt „nur“ von der paupertas, der relativen Armut. Schon sie wird belächelt und dient als materia iocorum, „Witzvorlage“, wenn jemand aus finanziellen Gründen z. B. bei stylischer Kleidung nicht so recht mithalten kann, „wenn seine Toga ein bisschen angeschmuddelt und das Leder an einem Schuh geplatzt ist“.17 Die von Juvenal angeführten Beispiele passen gut zu der Assoziation Schmutz/Armut. Sie kommt sehr deutlich im Substantiv sordes und im Adjektiv sordidus zum Ausdruck: sordes ist der „Schmutz“, der „Unrat“, im übertragenen Sinn dann aber
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auch die „niedrige Herkunft“ und als Schimpfwort der „verachtenswerte Mensch“. Sordidus ist „schmutzig“, „unsauber“, aber eben auch „armselig“, „niedrig“, „verächtlich“. Mit einem Synonym von sordidus charakterisiert Horaz die pauperies, „Armut“: Sie sei immunda, „unsauber“.18 Und er weiß, wie ein Entgegenkommender reagiert, wenn die Tunica ein wenig abgeschabt aussieht und die Toga nicht richtig sitzt: rides, „du lachst“. Oder wenn die Frisur nicht den üblichen Erwartungen entspricht: rides, „du lächelst“.19 Die Satiriker machen sich über (fast) alles lustig. Da erstaunt es nicht, dass auch der Arme in den Fokus satirischen Spotts gerät. Er ist bisweilen regelrecht ätzend, verletzend, ja zynisch – jedenfalls nach heutigen Begriffen. Martial verschont und schont die Habenichtse keineswegs; in einem bitterbösen Epigramm versagt er einem gewissen Nestor den „Ehrentitel“ des Armen: „Keine Toga besitzt du, keinen Herd und auch kein von Wanzen heimgesuchtes Bett, keine geflickte Matratze aus Feuchtigkeit liebendem Schilfrohr, auch keinen jungen oder älteren Sklaven, keine Magd und auch kein Kind, keinen Riegel und keinen Schlüssel, keinen Hund und keinen Becher. Trotzdem willst du, Nestor, unbedingt arm (pauper) genannt werden und so erscheinen und versuchst, deinen Platz im Volk zu haben. Du lügst und schmeichelst dir selbst mit einem falschen Ehrentitel: Denn das ist keine Armut, Nestor: nichts zu besitzen.“20 Nestor nennt überhaupt nichts sein Eigen, nicht einmal ein Bett oder eine Matratze. Wer nichts hat, der braucht auch kein Schloss und keinen Schlüssel, um seine Habe zu schützen. Aber Nestor „beansprucht“,
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als pauper angesehen zu werden – und damit noch einen gewissen Rang im Volk zu haben – so wie viele Zehntausende pauperes der Unter- und unteren Mittelschicht. Doch das ist in Nestors Fall pure Hochstapelei: Wer absolut bedürftig ist, muss sich als egens einordnen lassen – und darf sich nicht den „Ehrentitel“ eines pauper anmaßen.
Behinderte als Spottobjekt? – Kunst ohne Hemmschwelle Sofern sie nicht Angehörige der Oberschicht waren, zählten Behinderte zu den besonders hart von Armut Betroffenen. Wer kein familiäres „Netzwerk“ hatte, das ihn versorgte, stieß auf dem Arbeitsmarkt, von einigen wenigen Berufen abgesehen, auf größte Widerstände. Viele Behinderte mussten sich als Bettler durchschlagen.21 Mitleid und Empathie wurden ihnen nicht häufig entgegengebracht, wohl aber Spott in Form von Kleinplastiken, die vielfach in der „guten Stube“ der Begüterten standen. Ein seltsam anmutender Schmuck: Figurinen mit ausgemergelten, offensichtlich chronisch kranken, ge-
Pygmäe als Lastenträger. Kleinwüchsige waren beliebte Bildmotive. Manche reichen H erren hielten sie sich als „U nterhaltungssklaven“. Mosaik aus Silin, Libyen, um 200.
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Behind er t e als S po t t ob jekt ? – K uns t ohn e He mmsch welle 197
quälten, manchmal zahnlosen Körpern, Kleinwüchsige von abnormer Hässlichkeit, mit Missbildungen, riesengroßen Köpfen und überdimensioniertem Phallus, Greisinnen vom Typus „trunkene Alte“, die sich an eine Weinflasche klammern, Deformierte und auch psychisch gebrochene Existenzen. Warum stellte man sich diese künstlerisch oft hervorragend gearbeiteten Kleinskulpturen aus teurem Material – Marmor oder sogar Bronze – in das Triclinium? Offenbar hatten sie eine apotropäische, d. h. Unheil abwendende Funktion – „so wollen wir nicht werden“. Darüber hinaus aber erzeugten diese Karikaturen Gelächter – je höher der Weinkonsum, umso größer das Amüsement der Partygäste. Es fällt schwer, das nicht als Ausdruck von Spott und Hohn über elende Kreaturen zu interpretieren. So wird die Motivlage derer, die so etwas kauften und aufstellten, in der Regel gedeutet. Anastasia Meintani legt nun eine neue Deutung vor: Es gehe den Künstlern und Käufern nicht um die Verspottung Marginalisierter, sie seien vielmehr ein Spiegel der Vergänglichkeit des menschlichen Körpers und sollten die Teilnehmer des Gastmahls darin bestärken, das Hier und Heute zu genießen. Ja, man lache beim Anblick dieser Ärmsten, aber man lache sie nicht aus, sondern man lache mit ihnen – ein Lachen, das auch die Angst vor dem Tod verringere.22 Selbst wenn man Meintanis Neuinterpretation akzeptiert, bleibt doch Unbehagen zurück. Denn eine Instrumentalisierung der bedauernswertesten und nicht nur materiell ärmsten Kreaturen war und bleibt es, ausgerechnet sie als visualisierte Mahnungen zum Lebensgenuss im Kreise fröhlicher Zecher auszustellen und zu nutzen. Was natürlich auch für ihre Unheil abwehrende Funktion gilt. Auch da werden die Schwächsten der Gesellschaft instrumentalisiert, und zwar ohne dass diese Gesellschaft eine wie auch immer geartete solidarische Verpflichtung empfunden hätte, sich um diese Mitmenschen im wahren Leben besonders zu kümmern. Das Herabschauen auf Arme zeigt sich auch im juristischen Bereich. Dass der Arme vor Gericht geringere Chancen hatte, sein Recht durchzusetzen und gerecht behandelt zu werden, hatte in Rom eine
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Plastiken, die gesellschaftliche Außenseiter wenig vorteilhaft darstellten, gehörten zum Wohnungsdekor vieler wohlhabender R ömer. Zu diesen Motiven zählt auch die „trunkene Alte“, die eine riesige Weinkanne umklammert. Sie ist offensichtlich berauscht. Der abgemagerte, faltige Körper steht im G egensatz zu der ziemlich aufwendigen Kleidung. R ömische Marmorkopie eines hellenistischen O riginals, 2. Jh. v. C hr., heute in der G lyptothek München.
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lange Tradition. Ein wichtiger Ausgleich dazu war das Klientelsystem, bei dem sich gesellschaftlich Schwächere gewissermaßen in die Obhut eines starken patronus begaben, der sich u. a. bei Prozessen für sie verwandte. Wer civis Romanus war, d. h. das römische Bürgerrecht besaß, war in politischer und juristischer Hinsicht privilegiert; da hatte selbst der arme römische Bürger einen „Startvorteil“ vor dem reichen Peregrinen (Ausländer). Sklaven dagegen waren in jeder Hinsicht benachteiligt. Sie galten juristisch weitgehend als Sachen – obwohl ihr Menschsein dafür sorgte, dass auch der Eigentümer nicht alles mit ihnen machen durfte, was er wollte.
Höhere und Niedere – Keine Gleichheit vor Recht und Gericht Die scharfe juristische Trennlinie zwischen Bürger und Nichtbürger verschob sich indes im Laufe des 1. Jahrhunderts, und zwar zugunsten einer neuen Diskriminierung, die am Ende des 2. Jahrhunderts zu einem etablierten System führte: der Unterscheidung zwischen humiliores und honestiores. Zu den honestiores, „Ehrenhafteren“, „Vornehmeren“, zählten Senatoren, Ritter, Dekurionen (Mitglieder von Stadträten), ein Teil der Offiziere und Veteranen. Alle anderen galten als „Niedere“, für die auch die Begriffe tenuiores, „Schwächere“, mediocres, „Mittelmäßige“, „Unbedeutende“, oder plebei, „Plebejer“, verwendet wurden. Die Begriffe zeigen sehr deutlich, dass die Menschen nicht als gleich galten. Die semantische Botschaft war eindeutig: Es gibt einige, die mehr wert sind als die große Masse. Für die Moderne, die von der Gleichheit und Gleichberechtigung aller Menschen ausgeht, ist dieses offene Bekenntnis zur Ungleichheit ausgesprochen gewöhnungsbedürftig – zumal wenn die Ungleichheit im Wesentlichen an den materiellen Besitz gekoppelt ist. Dabei schottete sich die römische Klassengesellschaft allerdings nicht gegen Aufsteiger ab. Wer über entsprechendes Vermögen verfügte, konnte in den Kreis der honestiores gelangen – selbst Abkömmlinge von Sklaven und Freigelassenen. Auch ein Abstieg war möglich.
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Allerdings gab es in Fällen relativer Armut von Senatoren eine recht große Bereitschaft von Standesgenossen, den „Abstiegsgefährdeten“ mit erheblichen Geldsummen zu unterstützen. Auch die Kaiser halfen in vielen Fällen großzügig aus einer „Notlage“ auf hohem Niveau.23 Eine exakte juristische Definition von honestiores und humiliores gab es nicht. Das hinderte den Gesetzgeber aber nicht daran, unterschiedliche Strafen für das gleiche Delikt festzusetzen. Erniedrigende körperliche Strafen wurden den „Ehrenhaften“ erspart. Sie wurden stattdessen zu Geldbußen oder zum Exil verurteilt. Bei schweren Straftaten mussten humiliores dagegen mit der Todesstrafe rechnen – ein Doppelstandard bei der Verfolgung von Rechtsverstößen, die modernes Rechtsempfinden als skandalöse Klassenjustiz brandmarken würde. Die Römer dagegen sahen das als normal an, und die kleinen Leute wurden so sozialisiert, dass sie sich tatsächlich als „niederes Volk“ fühlten, als Menschen zweiter Klasse, würde man heute vielleicht eher sagen. pauper ubique iacet, legt Ovid dem Gott Ianus als gesellschaftskritisches Bonmot in den Mund, „der Arme liegt überall am Boden“.24 Das galt auch vor Gericht. Und es war Ausdruck mangelnden Respekts vor den ärmeren Menschen, keineswegs nur vor den Ärmsten. Das ist eine Tradition, die bei aller Wertschätzung des römischen Rechts auch zum Erbe der Römer gehört: „Arm“ war gleichbedeutend mit „weniger wert“. Ein pompejanischer Graffitischreiber bringt eine in der Oberschicht weitverbreitete Ansicht auf den Punkt: abomino paupero(s), „ich verabscheue die Armen“.25
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Anhang Abkürzungsverzeichnis: Antike Autoren sowie Corpora 1. Autoren Amm. Marc. Apul. Athen. August. Augustin. Aur. Vict.
Ammianus Marcellinus Apuleius Athenaios Augustus Augustinus Aurelius Victor
C alp. Sic. C alpurnius Siculus C ass. Dio C assius Dio C at. C atull C ic. C icero C laud. C laudian C olum. C olumella
H ist. Aug. Scriptores H istoriae Augustae H or. H oraz Isid. Isidor von Sevilla Joh. C hrys. Juv.
Johannes C hrysostomos Juvenal
Lakt. Liv. Luk.
Laktanz Livius Lukian
Dion C hrys. Dion C hrysostomos Dion. H al. Dionys von H alikarnass
Macrob. Macrobius Mart. Martial Minuc. F elix Minucius F elix
Ed. Diocl.
N ovum T est. N ovum T estamentum
Edictum Diocletiani
F est. F estus F lor. F lorus F rontin. F rontinus G ell. G ellius
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O v. O vid Paul. Paulus Pers. Persius Petr. Petron Plaut. Plautus
19.07.23 14:56
202 Anh ang
Plin. Plinius Plut. Plutarch Porph. Porphyrius Priap. C armina Priapea Prop. Properz Prudent. Prudentius Q u. C ic. Q uintus C icero Q uint. Q uintilian R ut. N am. R utilius N amatianus
Sall. Sallust Schol. Scholien Sen. Seneca Stat. Statius Suet. Sueton T ac. T acitus T er. T erenz T ert. T ertullian Val. Max. Vell. Pat. Verg. Vitr.
Valerius Maximus Velleius Paterculus Vergil Vitruv
2. C orpora AE Année Épigraphique AP Anthologia Palatina CI L C orpus Inscriptionum Latinarum C LE C armina Latina Epigraphica C od. Iust. C odex Iustinianus C od. T heod. C odex T heodosianus Dig. Digesten ILS Dessau, Inscriptiones Latinae Selectae Lexicon Iconographicum Mythologiae C lassicae LIMC PG Patrologia G raeca PL Patrologia Latina
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Anmerkungen 1 quid mihi propositum sit – Einführung
14 T ac. ann. XII 53; Plin. ep. VIII 6 15 Juv. III 1 64ff.
1 H or. carm. saec. 9f. 2 Dazu Kap. 2 (pauper) 3 Alföldy 2011 , 1 83
3 panem et circenses – Die zynische Mär vom Sozialparadies R om 1 Veyne 1 992; differenzierter
2 pauper – Wie eine lateinische Lernvokabel in die Irre führen kann 1 Mart. VIII 61 , 6; XIII 42 und 11 9; IX 1 8, 2: parvi in urbe lares, aber als domus in V. 5 bezeichnet; IX 97, 7f.; XI 1 08, 3; II 90, 9 2 Mart. V 1 3, 1; v gl. II 90, 3
Schmitz 2019 2 Der Bruder des Stadtgründers R omulus 3 So die ansprechende Ü bersetzung von Lorenz 2017, 291 4 Juv. X 66ff. 5 Juv. X 77ff.
3 G eorges 2013, 3534
6 F laig 1 995, 89
4 Sen. ep. 87, 40; O v. Met. XIII 823f.
7 Veyne 1 992, 606. In Kap. 4 (sedi-
5 Walde/H ofmann 2007, 268
tio) wird dieser Befund konkret am
6 Weitere Details und Literatur dazu
Beispiel von „H ungeraufständen“
in Kap. 1 3 (faex urbis?) 7 Bollmann 1 998 8 Diosono 2007, 20ff. Beitragsfreie, immunes, sind inschriftlich be-
beleuchtet. 8 F lor. II 1 , 1f f. 9 C ass. Dio XXX VIII 1 3; C ic. Sest. 55 10 C ass. Dio X LIII 21 , 3: Be-
zeugt; z. B. CI L XI V 367 = ILS 61 64,
schneidung von „Wildwuchs“;
1 ff.
Suet. C al. 41 , 3
9 Vgl. Sall. hist. IV 69, 8: miserrimum servorum 10 Suet. T ib. 24, 2 11 Bradley 1 994, 92; ähnlich H errmann-O tto 2017, I 208, s. v. ‚Armut‘ 12 Suet. Aug. 40, 3f.; G aius inst. I 1 8ff.; 35ff.; 42f. 13 Plin. NH XXXIII 1 34f.; Petr. 53; Suet. C laud. 28
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11 Suet. C aes. 42, 1 12 Suet. Aug. 42, 3 13 C ass. Dio LV 25. Im Jahr 2 v. C hr. waren es noch rund 200 000; ob sich die Zahl 320 000 für das Jahr 5 v. C hr. auch auf die G etreideempfänger oder nur auf die Begünstigten der G eldzahlung bezieht, ist unklar; August. R es g. 1 5
19.07.23 14:56
204 Anh ang
14 Vgl. C ass. Dio LV 1 0 15 F rontin. aqu. 1 04, 2; vgl. Plin. NH XXX VI 1 21
spricht mit R echt von „karikierenden Kurzskizzen“; R ees 1 999, 1 41f f. von „Ammianus satiricus“.
16 Erdkamp 2013, 265 18 Dazu Kap. 9 (otiolum)
4 seditio – Versorgungskrisen, H ungerrevolten und ziviler U ngehorsam
19 H ist. Aug. Sept. Sev. 1 8, 3; Aurel.
1 T ac. ann. XII 43, 1
17 Dazu Kap. 5 (insula)
35, 2; 48, 1 20 LIMC VI 1 , s. v. ‚Liberalitas‘, 1 992, 274ff.; VI 2, 1 41f f. 21 Kloft 1 987, 386; auch für das F olgende 22 non amplius … duodecim aeris, C ic.
2 Suet. C laud. 1 8, 2 3 Suet. C laud. 1 8, 2 und 1 4 T ac. ann. XII 43, 2 5 T ac. ann. X V 1 8 6 Aur. Vict. Epit. C aes. 1 5, 9 7 T ac. ann. VI 1 3
R osc. com. 28; aes ist gleich-
8 T ac. ann. VI 1 3, 2
bedeutend mit as; so auch Prell
9 Sen. brev. vit. 1 8, 5
1 997, 172 und de Martino 1 985.
10 G arnsey 1 988, 217
F alsch: Kloft 1 987, 387: „1 2 Ses-
11 Aldrete/Mattingly 1 999, 203
terze pro T ag“; vgl. auch N ovum
12 C ass. Dio LV 26, 1–3; 27, 1
T est. Mt. 20,1f so wie CI L IV 6877
13 T ac. ann. X V 39, 3; Suet. N ero 38, 1
23 Ü bersicht bei Szaivert/Wolters 2005, 292ff.
14 G arnsey 1 988, 224 15 Aldrete 2013, 428
24 Plin. Pan. 29, 1
16 Aldrete 2013, 425
25 Juv. X 79f.
17 Aldrete 2013, 434ff.
26 Der Einzige, der tatsächlich gene-
18 C ass. Dio LVIII 11 , 3
ralisierend von einer freizeit-
19 T ac. ann. XI V 61 , 1
orientierten und arbeitsscheuen
20 C ass. Dio LXXIII 1 2, 4
Plebs spricht (otiosa et deses) und
21 C ass. Dio LXXIII 1 3, 5ff.
ihr ein hedonistisches Lotterleben
22 Aldrete/Mattingly 2000, 1 57, be-
unterstellt, ist der spätantike H is-
scheinigen dem Versorgungs-
toriker Ammianus Marcellinus (XI V
system „a high degree of sophisti-
6, 25). Als ernst zu nehmender Be-
cation and organization“.
richterstatter gilt er indes in dieser H insicht in der G eschichtswissenschaft nicht. R osen 1 982, 26
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19.07.23 14:56
Anm erk ung en 205
5 insula – R iskantes Leben und Wohnen in dunklen, lauten, stickigen Miniwohnungen
26 Kolb 2002, 557
1 Mart. XII 32, 1
27 G ell. X V 1 , 2
2 Dazu Kap. 1 2 (mendicus)
28 Dig. I 1 5
3 Juv. III 223ff.
29 Juv. III 1 99ff.
4 C ic. Mur. 76
30 Juv. III 21 5ff.
Marc. XXIX 6, 17ff.; dazu Aldrete 2007
5 Kolb 2002, 443
31 Mart. III 52
6 Mayer 2005, 1 58ff.
32 N ovum T est. Mt. 25,29
7 Kolb 2002, 427
33 Suet. T ib. 48, 1
8 Vitr. II 8, 17
34 Suet. C aes. 38, 2
9 Plin. NH III 67; vgl. Stat. silv. IV 4,
35 C ic. off. II 83f.
14 10 Strabo V 3, 7; Aur. Vict. Epit. C aes. 1 3, 1 3
36 C ic. Att. X VI 1 , 5 37 C ic. Att. X VI 1 , 5 38 Yavetz 1 976, 1 20
11 Priester 2002, 1 41
39 Dig. XIX 2, 1 9, 6
12 Suet. C aes. 26, 2; Plin. NH XXX VI
40 CI L VI 71 93a
1 03; vgl. C ic. Att. IV 1 6, 8
41 Dazu Weeber 2021 , 1 9ff.
13 Suet. Aug. 56, 2
42 Varro LL V 1 02
14 Liv. XXI 62, 3; XXX VI 37, 2
43 Petr. 38, 1 0
15 Plut. C rass. 2, 4f.
44 CI L IV 1 38
16 Juv. III 1 93f.
45 Petr. 74, 1 3f.
17 Sen. ep. 1 03, 1; ben. V 1 8; tr. an. 11 ,
46 Juv. III 275ff.
7; Sen. contr. II 1 , 1 2; vgl. auch Sen.
47 Dig. IX 3
NQ VI 32, 5
48 F rontin. aqu. 11 0, 1; zur Z ahl der
18 Plin. NH XXX VI 176 19 Vitr. II 9, 6; 1 4ff. 20 Vitr. II 8, 20
Begünstigten: C . Bruun, in: Lo C ascio 2010, 1 37ff. 49 F rontin. aqu. 97 (Senatsbeschluss);
21 Sen. ira III 35, 5
Plin. NH XXX VI 1 21; F rontin. aqu.
22 Sen. ben. VI 1 5, 7
88
23 Juv. III 1 95ff. 24 C ic. Att. XI V 9, 1 25 Augustin. CD III 1 8; vgl. auch Liv. XXXI V 21 , 5f.; T ac. ann. I 76; Amm.
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50 Mart. III 30, 3; Juv. III 225; angustae cellae, „enge Kammern“: H or. sat. I 8, 8f. 51 Mart. VIII 1 4, 5f.
19.07.23 14:56
206 Anh ang
52 Suet. gramm. 9, 2f.
15 Juv. V 68f.
53 Mart. I 86, 1f.; 9f.
16 Plin. ep. II 6, 7
54 H or. c. III 29, 1 2
17 Juv. V 9f.; vgl. auch Mart. I 1 8; 20;
55 CI L I2
593 = ILS 6085, Z. 56ff.
56 H or. epist. II 2, 79 57 Mart. II 57; Zitate V. 1 5 und 26; vgl. auch Prop. IV 8, 55ff.; Juv. VI 309ff. 58 Mart. II 57, 4 59 Juv. III 232ff. 60 Mart. XII 57; Zitate V. 3f. und 28 61 Plin. ep. II 17, 2 (Ü bers. in Anlehnung an Kasten)
III 1 2; 49 18 G alen aliment. I 2; vgl. auch I 7 und grundsätzlich G arnsey 1 999 19 AP XI 403, 1 und 7 20 Ü bersicht bei F riedländer 1 921/23 II 1 6f. 21 Kyle 1 998, 1 90; ausführlich dazu auch ders. 1 994, 1 81f f. 22 Kyle 1 998, 1 90f. 23 Apul. Met. IV 1 4, 2f.
6 puls – Brei, Ö l und Wein als G rundnahrungsmittel 1 Plaut. Most. 818; dazu Plaut. Poen. prol. 54
24 Petr. 66, 5f. 25 Zur Ambivalenz von F iktionalität und R ealität bei Apuleius siehe R iess 2001, 349ff.
2 Plin. NH X VIII 83
26 T ert. Apol. 9, 11
3 Mart. XIII 8, 1
27 Minuc. F elix O ct. 30, 6; Arnob. ad
4 Mart. V 78, 31; v gl. V. 2: esurire, „hungern“, als hyperbolischer Ausdruck für ein eher karges Mahl. 5 Mart. V 78, 9
nat. II 39ff. 28 T ert. Apol. 7 29 H ist. Aug. Prob. 1 9, 4: rapuit quisque quod voluit
6 Juv. XI V 171
30 Kyle 1 998, 1 94
7 Amm. Marc. XX V 2, 2
31 Ellis 2012, 1 03
8 Mart. X 48, 1 6; VII 78, 2; C at. 23, 21
32 Mart. I 41
9 Mart. I 1 03, 9f.; I 41 , 6
33 Dazu Kap. 9 (otiolum)
10 H or. epist. I 5, 2; Plin. NH XIX 1 36ff.; Mart. XIII 1 3
34 Ellis 2012, 1 06f. 35 Suet. T ib. 34
11 Prell 1 997, 85
36 Suet. C laud. 38, 2
12 Juv. V 68; Sen. ep. 1 8, 7; Mart. XI
37 C ass. Dio LX 6, 7
56, 8; T er. Eun. 939 13 Sen. ep. 11 9, 3 14 Juv. V 11; G ell. XI 7, 3
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38 Suet. N ero 1 6; vgl. C ass. Dio LXII 14, 2 39 C ass. Dio LX V 1 0, 3
19.07.23 14:56
Anm erk ung en 207
40 Vgl. Plin. ep. X 34, 1 41 T ac. ann. III 54, 2f.
2 Suet. Aug. 40, 5: habitum vestitumque pristinum reducere studuit
42 H or. c. II 11 , 17f.; Verg. Aen. I 734
3 Suet. Aug. 40, 5
43 Aldrete/ Mattingly 2000, 1 54
4 Verg. Aen. I 282
44 Athen. X 426 b ff.; Mart. XI 6, 9f.
5 Suet. Aug. 40, 5: ne quem … pate-
45 Suet. Aug. 42, 1
rentur, „nicht irgendjemanden zu
46 H ist. Aug. Aurel. 35, 2; 48, 1
lassen …“.
47 Plin. NH XI V 89
6 So Wardle 2014, ad loc. 308
48 Sen. ep. 95, 20f.
7 Plaut. C urc. 471; 4 82; Porph. comm.
49 C ato r. r. 56f.
ad H or. sat. II 3, 228; dazu Weeber
50 CI L IV 1 679
2021 , 94
51 Ed. Diocl. II, 1f f.
8 O vid ars am. III 1 69ff.
52 Mart. I 1 03, 9
9 Plin. NH XX V 1 20; der N ame ist un-
53 Plin. NH XI V 86 54 T ac. hist. IV 38, 2 55 H or. sat. I 1 , 74
sicher. 10 Mart. X 1 0, 8; Juv. III 247; dazu Weeber 2021 , 67ff.
56 T chernia 1 986, 26
11 Q uint. inst. or. VI 4, 6
57 Broekaert 2019, 1 43
12 Q uint. inst. or. II 1 2, 1 0
58 Petr. 34, 7 und 4
13 Plin. ep. VII 17, 9
59 F rontin. aqu. 1 04, 2
14 Suet. Aug. 44, 2
60 Z. B. Mart. I 59, 1; III 7, 1; IV 58, 1;
15 Mart. IV 2, 6
Juv. I 1 20 61 Verboeven 2002, 98 62 C ic. Mur. 70f.; Q u. C ic. comm. pet. 35 63 T ac. hist. I 4, 1
16 C alp. Sic. VII 36f.; 26f.: pulla sordida veste … turba 17 C alp. Sic. VII 79ff. 18 Mart. III 21 , 1; V III 75, 9; Petr. 1 09, 8; collaria: CI L X V 7171f f. 29 der 38 bekannten collaria stammen aus
7 tunica pulla – Die Kleidung der einfachen Leute 1 So in vielen C omputersimulationen
R om. 19 Sen. clem. I 24, 1 20 C ato r. r. 59
des F orum R omanum von G orski/
21 Apul. Met. IX 1 2, 3f.
Packer 2022. Auf dem F rontispiz
22 Juv. I 92f.; ähnliches Motiv: Mart. II
blicken die beiden H erausgeber auf eine nahezu tote Stadt herab.
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46 23 Juv. III 1 47ff.
19.07.23 14:56
208 Anh ang
24 Artemidor II 3
15 Verg. georg. I 1 45f.
25 H or. epist. I 1 9, 38
16 Dazu Zimmer 1 982; F erris 2020
26 Mart. II 43, 5
17 Vgl. Kap. 1 0 (puticulus)
27 Sen. ep. 55, 2; Dig. X LVII 17
18 F erris 2020, 26
28 Beispiele bei Weeber 2022, 64f.
19 T reggiari 1 980, 61f f.
29 Ed. Diocl. XX VI 1 0; 31; 75
20 Dig. XXX VIII 2, 1pr.; vgl. auch
30 C ic. off. I 1 29. Die Probleme einer korpulenten F rau mit ihrer hochrutschenden T unica schildert Martial XI 99. 31 R adicke 2023, 517ff. 32 Apul. Met. II 7; O v. ars am. III 622; Mart. XI V 1 34; erschöpfend jetzt dazu R adicke 2023, 505ff.
XXX VIII 1 , 17 21 C ic. R osc. com. 28; vgl. N ovum T est. Mt. 20,1f.: 1 2 Asse; CI L IV 6877 22 Eyben 1 980, 5ff.; H arris 1 994, 1f f.; C orbier 2001, 52ff.; wichtige Q uelle: Plin. ep. X 65f. 23 Prell 1 997, 1 44ff.
33 Juv. II 171f.
24 Vgl. Kap. 3 (panem et circenses)
8 labor – Die Berufswelt der kleinen Leute
26 N ovum T est. Mt. 20,1f f.
1 Suet. gramm. 9, 2
28 N oy 2000, 286
2 Suet. gramm. 11 , 4
29 Mart. I 41 , 2ff.; dazu Weeber 2021 ,
25 Kehoe 2012, 1 25ff.
3 Suet. gramm. 20, 2
27 H arris 2011 , 51
97ff.
4 Suet. gramm. 8, 2
30 Mart. IX 59, 21; Petr. 1 2, 1
5 Jedenfalls nach den T arifen des
31 Aldrete/Mattingly 1 999, 1 97
Edictum Diocletiani VII 66
32 Mart. IV 8, 4; Sen. tr. an. 17, 7
6 O v. fast. III 829; vgl. CI L IV 8562 und Juv. VII 21 9ff.
33 C olum. XI 1 , 1 4ff. 34 Dig. XXX VIII 1 , 50
7 Suet. gramm. 23, 4
35 Dazu Kap. 5 (insula)
8 Luk. somn. 8
36 Suet. Aug. 28, 3 und 29, 4; Vell. Pat.
9 Luk. somn. 9
II 89, 4; Strabo V 3, 837; DeLaine
10 C ic. off. I 1 50
1 997; dies. 2000, 11 9ff.
11 Ebd.
37 DeLaine 2018, 482
12 Ebd.
38 Kolb 2002
13 C ic. off. I 1 51
39 Bauausschreibung nach heutigem
14 Sen. ep. 88, 21–23
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Muster bei H opkins/Beard 2010,
19.07.23 14:56
Anm erk ung en 209
1 84f. Die Baukostenschätzung von
59 Prell 1 997, 1 50
32,5 Millionen € dürfte selbst für
60 H errmann-O tto 2017, 220
das Jahr 2005 ganz erheblich zu
61 Petr. 11 7, 1 2
niedrig sein.
62 MacMullen 1 963, 269ff., kommt
40 Suet. C laud. 20, 2; Plin. NH XXX VI
auf acht bezeugte F älle städti-
1 24 bestätigt die „nicht zu be-
scher Streikaktionen im gesamten
ziffernden Ausgaben“ und „eine
R eich.
R iesenmenge von Arbeitern“. 41 Kolb 2002, 485 42 So aber Polverini 1 964, 271
63 G ute Ü bersicht bei F ezzi 2016, 204ff. 64 Petr. 11 7, 11
43 Suet. Vesp. 1 8: operam remisit praefatus sineret se plebiculam pascere.
9 otiolum – Populäre F reizeitaktivitäten
44 Dion C hrys. Eub. 1 06
1 C arcopino 1 977, 289
45 Dion C hrys. Eub. 1 08
2 Dazu Kap. 3 (panem et circenses)
46 Dion C hrys. Eub. 1 05
3 C arcopino 1 977, 280f.
47 H errmann-O tto 2017, 232
4 Allerdings nur für Ä gypten
48 Zusammenstellung nach H errmann-O tto 2017, 231 49 Dion C hrys. Eub. 1 33f.
bezeugt: Weeber 2011 , 50 5 Amm. Marc. XX VIII 4, 31; v gl. Suet. C al. 26, 4; H ist. Aug. Elag. 23, 2
50 Larsson Lovén 2016, 200
6 Plin. ep. IX 6, 1
51 Becker 2016, 926
7 T ert. spect. 1 6; Apul. Met. X 29; vgl.
52 Joshel 1 992, 69 53 Scheidel 1 990, 405ff. 54 Becker 2016, 927; vgl. auch G ünther 1 987; Eichenauer 1 988
R ut. N am. I 201f. 8 Suet. C aes. 39, 4; C ass. Dio LXXIX 26, 1; H or. epist. I 1 4, 1 5 9 C alp. Sic. VII 35ff.
55 Dazu Kap. 11 ( meretrix)
10 C ic. Mur. 39
56 Dig. VII 7, 6, 1; dazu H errmann-
11 T ac. dial. 29, 3
O tto 2012, 171f f. 57 C od. Iust. III 1 5, 2; Paul. sent. 5, 1 , 1 . R evision des Verbots durch Konstantin: C od. Iust. IV 43, 2 58 Paul. sent. 5, 1 , 1: operae tamen eorum locari possunt.
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12 Plin. ep. IX 6, 3 13 O v. ars am. I 1 35ff.; 1 64ff.; 171f f.; vgl. auch am. III 2 14 O v. trist. 501f. 15 Vgl. z. B. T ac. ann. I 1 6, 3; I 54; I 77, 1; XIII 25, 4; Suet. T ib. 37, 2; C ass.
19.07.23 14:56
210 Anh ang
Dio LIV 17, 4; Suet. N ero 26, 2; dazu F agan 2011 , 1 48ff. 16 T ac. ann. XI V 17 17 Juv. IX 1 44
39 Suet. T it. 8, 2 40 H ist. Aug. H adr. 17, 6f. 41 ILS 5480; ausführlich dazu Weeber 2006, 102ff.
18 R util. N am. I 201
42 Dazu Kap. 5 (insula)
19 Lakt. div. inst. VI 20, 32
43 Dig. XXIII 2, 43, 9
20 H ist. Aug. Ant. Pius 1 0, 8; C ass.
44 C at. 37, 1
Dio IX L 38, 1f.
45 Ps.-Verg. C opa 20; 31f f.
21 C laud. cons. Stil. 262ff.
46 Dig. IV 8, 21 , 11
22 Liv. X LIV 1 8, 8
47 Suet. Vit. 7, 3
23 H ist. Aug. T res G ord. 3, 6f.
48 Juv. VIII 1 63ff.
24 Dazu Kap. 1 3 (faex urbis?)
49 Sen. ep. 51 , 4
25 Die Alypius-Erzählung Augustins
50 Suet. N ero 26; T ac. ann. XIII 25;
(conf. VI 8) zeigt das deutlich, aber
C ass. Dio LXI 9, 1
sie taugt nicht als Dokument für
51 Suet. gramm. 1 5; C ic. C at. II 4
einen „Blutrausch“ der Zuschauer.
52 H ist. Aug. H adr. 1 6, 3f.
26 F agan 2011 , 1 21f f.; 1 50ff.
53 C ic. Pis. 1 3
27 War das nicht der F all, so fielen
54 H or. epist. I 1 4, 21f.
Bemerkungen, die aus heutiger
55 Mart. V 84; XIII 1 , 3ff.; ausführlich
Sicht an Zynismus nicht zu über-
zum Würfelspiel Weeber 2016,
bieten sind: Petr. 45, 11; v gl. C ic.
43ff.
T usc. II 41; Plin. Pan. 33, 1 28 Z. B. CI L IV 1 0236; 10238
56 Suet. Aug. 71 , 1f.; Aur. Vict. Epit. C aes. 1 , 4
29 Liv. per. 1 6; Val. Max. ext. II 4, 7
57 Mart. V 84, 1–6
30 T ert. spect. 1 2
58 Amm. Marc. XI V 7, 25
31 H orsfall 2013, 54
59 Dig. XI 5, 1f.
32 Sen. ep. 94, 43: multum ponderis
60 CI L IV 3494 i
33 G ell. X VII 1 4, 3
61 Ausführlich mit Q uellen dazu Wee-
34 Sen. ep. 1 08,8
ber 2021 , 84ff.
35 Dazu Weeber 2006, 11 0f.
62 H or. sat. I 6, 11 3ff.
36 Mart. XI 52, 3
63 H or. sat. I 6, 11 2
37 Mart. IV 8, 7f.
64 Mart. IX 59
38 Plin. ep. II 17, 26
65 Mart. X 80; window shopping in
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Anm erk ung en
auch von Angehörigen der O ber-
10 puticulus – Entsorgung statt Begräbnis
schicht: Stat. silv. IV 6, 2.
1 H or. sat. I 8, 1 4f.
den Saepta als F reizeitvergnügen
66 Dazu ausführlich Kap. 11 ( meretrix); Sklaven: C olum. r. r. I 8, 2 67 Stumpp 2001, 1 44 68 Augustin. serm. 1 98, 2
2 H or. sat. I 8, 1 6ff. 3 Varro LL V 25 4 Plb. VI 53; dazu Weeber 2019, 1 97ff.
69 F est. 273 L.
5 Petr. 71; Zita te § 7f.
70 Dion. H al. IV 1 4, 3; Macrob. Sat. I 7,
6 C LE 1 21 8
34f. 71 Schol. ad Pers. IV 28 72 Verg. Aen. VIII 717 und Servius, comm. ad loc.
7 Z. B. CI L XI V 211 2 = ILS 721 2; dazu Schrumpf 2006, 173ff. 8 Schrumpf 2006, 1 23 9 Aggenius U rbicus ed. B. C ampbell,
73 O v. fast. III 535; 675
R oman land surveyors, 42–44:
74 O v. fast. III 539f.; „fröhliches
loca suburbana: inopum funeribus
F est“: festum geniale, V. 523
destinata
75 O v. fast. V 352
10 Schrumpf 2006, 1 36
76 Lakt. div. inst. I 20; vgl. die C ato-
11 Schrumpf 2006, 1 37f.
Anekdote bei Val. Max. II 1 0, 8;
12 CI L I2 839 = ILS 8208
Sen. ep. 97, 8
13 AE 1 971 , 88
77 H or. sat. II 7, 4f.: libertas Decembris 78 Mart. XI V 1 , 9; vgl. H or. sat. II 3, 5 79 Z. B. F ellmeth 1 990, 50ff. 80 Allgemein dazu Ausbüttel 1 982 sowie neuerdings Eckhardt 2021 81 C ic. fam. VIII 3
211
14 Bodel 2000, 1 29 15 Mart. X 5, 9ff. 16 Suet. Vesp. 55; Dom. 1 5; vgl. auch N ero 48 17 AE 1 971 , 88, II 1–23 18 Mart. VIII 75, 9ff. 19 C ic. C at. IV 7
82 Vgl. Kap. 8 (labor)
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212 Anh ang
11 meretrix – Zwangs- und Elendsprostitution armer armer F rauen
23 Mart. I 34, 8; III 93, 1 5; vgl. Juv. VI
1 H or. sat. I 2, 33f.
24 Sen. contr. 1 , 2
2 Porph. comm. und Ps.-Acro ad H or.
25 Juv. VI 1 27
365, 16
sat. I 2, 31f f.
26 Dig. XXX VII 1 4, 7pr.; 21 , 2, 34pr.
3 C ic. pro C ael. 48
27 H ist. Aug. H adr. 1 8, 8; vgl. C od.
4 T ac. ann. II 85, 1 5 Ü berzeugend F ayer 2013, 584f. 6 McG inn 2004, 1 86f.; ders. 2011 , 656, spricht von deviant insiders. 7 McG inn 2011 , 649; Stumpp 2001, 1 42 8 Z. B. Mart. II 17; VI 66, 1f.; XI 51; XI 78, 11; Pers. V 30ff.; Priap. 40, 1
Iust. 4, 56, 1 28 Sen. ep. 1 01 , 1 5 (allerdings bezogen auf den Extremfall, das eigene Leben zu retten) 29 Dig. X LVIII 5, 30, 3f. 30 Plaut. C ist. 38ff. 31 Plaut. Asin. 531 32 Luk. dial. meretr. 6
9 Mart. VI 60, 1
33 McG inn 2004, 63
10 C at. 55, 1 0ff.; Mart. XI 47, 3f.
34 McG inn 2004, 1 84
11 H ist. Aug. Elag. 26, 3; Juv. III 64f.
35 Z. B. CI L IV 1 669; 2028; 8185
12 Isid. Etym. X 11 0
36 CI L IV 21 93; 1751; 8034
13 O v. fast. IV 865ff.
37 Plaut. Asin. 760; vgl. Juv. VI 1 22f.
14 Juv. VI 489; Mart. XI 47, 4 15 Juv. IX 24 16 Plaut. C urc. 482; T ruc. 64f.; Mart. II 63, 1f.; Prop. II 23, 1 3ff. 17 Porph. comm. ad H or. sat. II 3, 228
(N ame der H ure über der T ür) 38 AP V 49; vgl. auch im „höherwertigen“ escort service Prop. IV 8 39 Q uint. decl. mai. 1 4, 7 40 Varro LL VII 84; Isid. Etym. X VIII 42,
18 Plaut. C urc. 482
2; ausführlich dazu F ayer 2013,
19 Das könnte man aus C at. 37, 2
389ff.
schließen. 20 Dig. IV 8, 21 , 11; 3, 2, 4; v gl. auch CI L IX 2689
41 Sen. contr. I 2, 3 42 Lakt. inst. div. V 8, 7; Joh. C hrys. PG 63, 1 20f.; C od. T heod. X V 8, 2
21 Plaut. Pseud. 1 88f.
43 Suet. C al. 40; T ac. ann. II 85
22 Petr. 7; F est. 22 L.; T ert. Apol. 43,
44 McG inn 1 998, 250; auch für das
1; v gl. Suet. C al. 41 , 1
F olgende 45 Suet. C al. 40
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12 mendicus – Bettler und O bdachlose
16 Mart. XII 57, 1 2; ebenso dort das
1 Mart. XII 32, 24ff.
17 Mart. XI V 81 über einen k ynischen
2 C ic. fin. V 32 3 Juv. XI V 1 34 (aliquis de ponte); V 1 0f.; Mart. X 5, 2; Sen. vita b. 25, 1 (in Sublicium pontem … inter egentes) 4 Sen. vita b. 25, 2 5 Mart. X 5, 3f.; 6ff. 6 Juv. V 9ff.
laut bettelnde jüdische Kind Bettelphilosophen 18 Joh. C hrys. PG 61 , 176ff. 19 So jedenfalls in der „Bettlerkolonie“ von Aricia an der Via Appia; Juv. IV 11 9f. 20 Prudent. Perist. II 225f.; 272ff.; 265f. 21 Prudent. Perist. II 179f. U nter pau-
7 Siehe Kap. 11 ( meretrix)
peres, „Mittellosen“, sind hier dem
8 Mart. XII 57, 1 3
Kontext entsprechend Bettler zu
9 Juv. VI 542ff.; III 296; Artemidor 1 pr. 10 Juv. XI V 298ff.; Seneca listet
verstehen. 22 Q uint. decl. 9, 1 0 und 18; Mart. X 5, 5
Schiffbrüchige zusammen mit G e-
23 H ands 1 968, 76
fangenen, Kranken und armen
24 Sen. vita b. 24, 3
Schluckern als H ilfsbedürftige auf;
25 Sen. vita b. 23, 5: cum summo con-
ep. 48, 8. 11 H or. epist. I 17, 58ff. F ür „Bettler“ steht im Lateinischen planus. Das kann auch der „Landstreicher“ oder der „G aukler“ sein.
silio dignissimos eligens 26 Sen. vita b. 23, 5 27 Sen. clem. II 6, 2: dabit … egenti stipem 28 Sen. clem. II 6, 2
12 Sen. contr. X 4, 2f.
29 Sen. clem. II 6, 4
13 Ebd.
30 C ic. off. I 56
14 Dass Eltern ihre Kinder blendeten,
31 C ic. off. II 54f.
um aus ihnen „aussichtsreiche“
32 Plaut. T rin. 339f.
Bettler zu machen, berichtet Jo-
33 Mart. X 5, 1 0ff.
hannes C hrysostomus aus dem
34 Bodel 2000, 1 29
Antiochia des 4. Jahrhunderts (PG
35 Varro LL V 25; N äheres zu den
61 , 176ff.). 15 Augustin. conf. VI 6, 9
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herrenlosen Leichnamen: Weeber 2021 , 74ff.
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13 faex urbis? – G eringschätzung, Verachtung und Verhöhnung der Armen
19 H or. epist. I 1 , 94ff.
1 Q u. C ic. comm. pet. 42ff.
21 Dazu Kap. 1 2 (mendicus)
2 Val. Max. VII 5, 2
22 Meintani 2022
3 Vgl. Kap. 1 ( quid mihi propositum
23 Ü bersicht bei Klingenberg 2011 ,
sit) 4 Dazu Kap. 8 (labor)
20 Mart. XI 32; vgl. auch IV 53; XI 56; XII 32
1 92f. Zu weiteren „Wegen aus der N ot“: ebd., 83ff.
5 Sen. ep. 1 8, 7ff.
24 O v. fast. I 21 8
6 Sen. vita b. 23, 1
25 CI L IV 9839b; N r. 954 bei Wachter
7 Val. Max. IV 11
2019; N r. XI 21 bei Weeber 2019.
8 Ebd.
Der T ext geht weiter: „Wer etwas
9 Sall. C at. 1 2, 1
umsonst haben will, ist ein N arr.
10 C ic. T usc. V 1 02
Er soll G eld geben, dann kriegt er
11 Allgemein zu blandimenta plebis,
die Sache.“
„Schmeicheleien für das Volk“: Laser 1 997, 225ff. 12 C ic. Pis. 9; Q u. fr. II 5, 3; Att. I 1 6, 11 13 C ic. C at. II 7; Verr. II 1 , 99; Brut. 244; dazu Kühnert 1 989, 432ff. 14 C ic. dom. 45; 79; 89; Mil. 36. Auch T acitus stellt „gerade die Ärmsten aus dem gemeinen Volk“ moralisch auf eine Stufe mit dem „übelsten Sklavenpack“: egentissimus quisque e plebe et pessimi servitiorum, hist. IV 1 , 2. 15 C ic. F lacc. 1 8: opifices et tabernarios atque illam omnem faecem civitatum 16 Juv. III 1 52f. 17 Juv. III 1 49ff. 18 H or. epist. II 2, 1 99
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Bildnachweis nach Seitenzahlen 8: akg-images / Erich Lessing; 17: akg-images / André H eld; 35: Philippe Maillard / akg-images; 45: akg-images / Werner F orman; 54: akg-images / Peter C onnolly; 69: akg-images / Peter C onnolly; 1 00: akg-images / Bildarchiv Steffens; 1 05: akg-images / Erich Lessing; 1 08: akg-images / Erich Lessing; 11 7: akg-images / C ameraphoto; 1 22: akg-images / N imatallah; 1 34: akg / N orth Wind Picture Archives; 1 45: bpk; 1 49 oben: akg-images / Album / Prisma; 1 45 unten: akg-images / F lorilegius; 173: akg-images / Bildarchiv Steffens; 179: akg-images / André H eld; 1 96: akg-images / G erard Degeorge; 1 98: akg-images
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Karl-Wilhelm Weeber, ehem. Direktor des Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasiums Wuppertal, ist Honorarprofessor für Alte Geschichte an der Universität Wuppertal sowie Lehrbeauftragter für die Didaktik der Alten Sprachen an der Ruhr-Universität Bochum. Er hat zahlreiche Bücher zur römischen Kulturgeschichte verfasst. Bei wbg Theiss sind von ihm zuletzt erschienen: Couchsurfing im alten Rom. Zu Besuch bei Wagenlenkern, Philosophen, Tänzerinnen u. v. a.; Die Straßen von Rom. Lebensadern einer antiken Großstadt.
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Eine Million Menschen, schätzt man, lebten im 1. Jahrhundert n. Chr. in Rom. So viel wir über das Leben der Oberschicht in der antiken Metropole wissen, so wenig wissen wir über das Gros der Bevölkerung. Jene 85 %, die von der Hand in den Mund lebten. Um sie geht es Karl-Wilhelm Weeber in diesem Buch. Wie sah das Leben der Armen und Außenseiter in der Stadt der »goldenen Tempel« aus? Was wissen wir über ihre Lebensbedingungen, ihre Arbeit, ihre Freizeitbeschäftigungen? Weeber räumt mit hartnäckigen Legenden auf – wie etwa der, dass sich die armen Römer mit Sozialleistungen über Wasser halten konnten und ihr angebliches »Nichtstun« mit Gladiatorenkämpfen und Wagenrennen »versüßt« wurde: Brot und Spiele.
ISBN 978-3-8062-4513-4
€ 25,00 [D] € 25,70 [A]
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Weeber
Das Leben der anderen
Arm in Rom
Karl-Wilhelm Weeber
Arm in Rom Wie die kleinen Leute in der größten Stadt der Antike lebten